Integration und Ausgrenzung: Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart 9783484971486, 9783484620063

This collected volume is dedicated to Prof Hans Otto Horch on the occasion of his 65th birthday. Prof. Horch has done mu

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German Pages 561 [564] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels
Bovo d’Antona (Bovo-bukh) und Paris un Wiene
Ein ›Palästina‹ mitten in Hessen? Die Juden des Buseckertals zwischen Reich und Landesherrschaft
Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts als Teil der europäischen Literatur
Literarischer Antisemitismus am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Brautwahl
Preliminary Impressions and Observations concerning »Jewish« Advertisements in the Leipziger Allgemeine Zeitung in 1840
»Gedelöcke«. Der christlich-jüdische Skandalfall von 1729 in Wilhelm Raabes Novellentransposition
»Mendele Lohengrin« und der koschere Wagner
Die ›Deutschen Briefe‹ von Leopold Zunz
Unterwelten
»Versöhnung! Wann? – wann?« – Ein Exkurs zu Walther Rathenaus Briefen
›Mut und Möglichkeit‹: Sigmund Freud liest Theodor Lipps
The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism: An »Umlaut« over the »Vav«
»... immer wieder Goethe« – Zu Gustav Landauers anarchistischer Goethe-Lektüre
»...wie eine schaurige Sage der Vorzeit« – Die Ritualmordbeschuldigung in der jüdischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts
Der Künstlerprinz im Kaiserreich
Literatur und Gesetz
»So sind wir vielleicht doch als Juden in den Krieg gezogen.«
»In welcher Gemeinschaft lebe ich? –«
Die messianische Sendung der Selbstaufhebung
Die NS-Zeit in Breslau im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur
Ein Schatten auf dem »Unbestechlichen«
Schweizer Freiheitskämpfer als hebräische Helden: Wilhelm Tell in der Habimah, 1936
»Wir sitzen alle auf dem Pulverfass«
Arnold Zweigs »Politische Physik«
Erich Fromm und der Holocaust
Biographie und Remigration – Die Rückkehr Julius Poseners nach Berlin
»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«
Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk
Ludwig Greves erste Ode »Mein Vater« und Rudolf Borchardts »Villa«
Eddi Amsel, Walter Matern und ihrer beider Abkunft
›An Edom!‹ Die Figur des Abdias bei Heine, Stifter, Susman und Celan
Hans Sahls Dramen. Die Suche nach dem unbekannten jüdischen Ich
Deutsch-Jüdische Literatur im Nachkriegsdeutschland: Das Ende der Fremdbestimmung?
»Abendlied«. Über ein Gedicht Tuvia Rübners
Deutscher Erzähler, jüdische Geschichte
What’s in a Name? What is Jewishness?
Auf eine finstere Zeit bezogen
Die Belletristikabteilung der »Germania Judaica«
Kleine Leute, große Leute: Versuche einer Annäherung an deutsch-jüdische Literatur und Geschichte in der Schule
Arche Noah der Erinnerung – Jüdisches Kulturerbe online
›Schlesisch-Mähren‹. Landschaft als Text
Backmatter
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Integration und Ausgrenzung: Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
 9783484971486, 9783484620063

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Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag

Integration und Ausgrenzung Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Mark H. Gelber, Jakob Hessing und Robert Jütte in Verbindung mit Dominic Bitzer, Doris Vogel und Michaela Wirtz

Max Niemeyer Verlag 2009

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-62006-3 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Doris Vogel, Baesweiler Druck und Einband: Hubert & Co, Göttingen

Inhalt

Vorwort ........................................................................................................

1

Markus Wenninger Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels ..................

2

Edith Wenzel Bovo d’Antona (Bovo-bukh) und Paris un Wiene. Ein Beitrag zur jiddischen Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts .... 19 J. Friedrich Battenberg Ein ›Palästina‹ mitten in Hessen? Die Juden des Buseckertals zwischen Reich und Landesherrschaft .................................................. 35 Karl E. Grözinger Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts als Teil der europäischen Literatur ........................................................ 47 Gunnar Och Literarischer Antisemitismus am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Brautwahl ...................................................................... 57 Henry Wassermann Preliminary Impressions and Observations concerning »Jewish« Advertisements in the Leipziger Allgemeine Zeitung in 1840 ............... 73 Hans-Jürgen Schrader »Gedelöcke«. Der christlich-jüdische Skandalfall von 1729 in Wilhelm Raabes Novellentransposition ................................................ 87 Daniel Jütte »Mendele Lohengrin« und der koschere Wagner. Unorthodoxes zur jüdischen Wagner-Rezeption ................................... 115 Manfred Voigts Die ›Deutschen Briefe‹ von Leopold Zunz ........................................... 131

VI

Inhalt

Dieter Breuer Unterwelten. Heines Proserpine und Fontanes Effi Briest .......................................... 139 Thomas Sparr »Versöhnung! Wann? – wann?« – Ein Exkurs zu Walther Rathenaus Briefen ................................................................................................... 153 Liliane Weissberg ›Mut und Möglichkeit‹: Sigmund Freud liest Theodor Lipps ............... 159 Mark H. Gelber The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism: An »Umlaut« over the »Vav« ...................................................................................... 171 Hanna Delf von Wolzogen »... immer wieder Goethe« – Zu Gustav Landauers anarchistischer Goethe-Lektüre ...................................................................................... 181 Gabriele von Glasenapp »...wie eine schaurige Sage der Vorzeit« – Die Ritualmordbeschuldigung in der jüdischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts .............. 193 Sigrid Bauschinger Der Künstlerprinz im Kaiserreich. Die Hofkultur Wilhelms II. und Else Lasker-Schülers Jussuf von Theben ................................................................................. 207 Andreas B. Kilcher Literatur und Gesetz. Kafkas Schreibtisch ............................................ 221 Michaela Wirtz »So sind wir vielleicht doch als Juden in den Krieg gezogen.« Die Deutung des Ersten Weltkriegs in den Zeitschriften deutsch-jüdischer Studentenverbindungen ............................................ 231 Florian Krobb »In welcher Gemeinschaft lebe ich? –« Judenbild zwischen Liminalität und Zugehörigkeit in Joseph Roths Hotel Savoy ..................................................................... 243

Inhalt

VII

Jürgen Egyptien Die messianische Sendung der Selbstaufhebung. Margarete Susmans Reflexionen über das Wesen und Schicksal des Judentums – mit einem Exkurs zu ihrer Konzeption von Weiblichkeit .......................................................................................... 257 Arno Herzig Die NS-Zeit in Breslau im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur .... 269 Hans-Peter Bayerdörfer Ein Schatten auf dem »Unbestechlichen«. Die Judengestalt in Gertrud Kolmars Drama Cécile Renault ....................... 283 Anat Feinberg Schweizer Freiheitskämpfer als hebräische Helden: Wilhelm Tell in der Habimah, 1936 ....................................................... 297 Ingrid Belke »Wir sitzen alle auf dem Pulverfass«. Zur späten Emigration des Publizisten Kurt Pinthus 1937/38 ............... 305 Alfred Bodenheimer Arnold Zweigs »Politische Physik«. »Dialektik der Alpen« – eine europäische Kulturgeschichte aus dem Exil .......................................................................................... 317 Rainer Funk Erich Fromm und der Holocaust. Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte ............................. 323 Monika Richarz Biographie und Remigration – Die Rückkehr Julius Poseners nach Berlin ............................................................................................ 335 Hermann Simon »Ihnen und der Gemeinde alles Gute«. Der Dichter Arnold Zweig – Ein prominentes Mitglied der (Ost)Berliner Jüdischen Gemeinde ........................................................ 351 Daniel Hoffmann Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk .................................................................. 367

VIII

Inhalt

Holger Gehle Ludwig Greves erste Ode »Mein Vater« und Rudolf Borchardts »Villa« .................................................................... 379 Hauke Stroszeck Eddi Amsel, Walter Matern und ihrer beider Abkunft. Glossen zum Doppel-Roman Hundejahre von Günter Grass ................ 391 Axel Gellhaus ›An Edom!‹ Die Figur des Abdias bei Heine, Stifter, Susman und Celan .............................................................................................. 403 Bernhard Spies Hans Sahls Dramen. Die Suche nach dem unbekannten jüdischen Ich ......................................................................................... 415 Hanni Mittelmann Deutsch-Jüdische Literatur im Nachkriegsdeutschland: Das Ende der Fremdbestimmung? ......................................................... 429 Georg-Michael Schulz »Abendlied«. Über ein Gedicht Tuvia Rübners .................................... 443 Jakob Hessing Deutscher Erzähler, jüdische Geschichte Zu W. G. Sebalds Roman Austerlitz ...................................................... 455 Deborah Vietor-Engländer What’s in a Name? What is Jewishness? New Definitions for Two Generations: Elsa Bernstein, Anna Gmeyner, Ruth Rewald and Others ............................................. 467 Joseph A. Kruse Auf eine finstere Zeit bezogen. Die Shoah in autobiographischen und literarischen Heine-Verweisen bei den Franzosen Ernest Weill und Gilles Rozier ................................ 483 Annette Haller Die Belletristikabteilung der »Germania Judaica« ................................ 493 Achim Jaeger Kleine Leute, große Leute: Versuche einer Annäherung an deutsch-jüdische Literatur und Geschichte in der Schule ......................499

Inhalt

IX

Rachel Heuberger Arche Noah der Erinnerung – Jüdisches Kulturerbe online .................. 511 Klaus Werner ›Schlesisch-Mähren‹. Landschaft als Text ............................................ 519 Liste der Beiträger ........................................................................................ 537 Personenregister ........................................................................................... 541

Vorwort

Als die RWTH Aachen im Jahr 1992 daran ging, die Ludwig-Strauß-Professur zu besetzen und das Neuland der deutsch-jüdischen Literatur als eigenständigen Fachbereich zu betreten (worin ihr bisher keine weitere deutsche Universität gefolgt ist), war Hans Otto Horch der richtige Mann am richtigen Ort. Die Idee zu diesem Lehrstuhl war zunächst von Israel ausgegangen, wo er schon früh ein angesehener Gast war. Dort schlug man ihn als Kandidaten vor, und er hat den Plan dann konsequent in die Tat umgesetzt. Heute, in dem Jahr, in dem er als akademischer Lehrer offiziell in den Ruhestand tritt, ist es uns eine Ehre, ihm diese Festschrift zu überreichen. In umfangreicher Tätigkeit hat er das Fach weithin sichtbar etabliert, zukunftssicher darf er es seinen Nachfolgern anvertrauen, und das Geheimnis dieses Erfolges liegt vielleicht schon im Datum seiner Geburt: 1944 ist das Grenzjahr, in dem die deutsche Hybris an ihrem katastrophalen Ende war, und Hans ist in der Latenzzeit aufgewachsen, die ihrem Sturz notwendig folgen musste. Das hat er mit seinen Altersgenossen gemein, aber dem Aufstand gegen die Älteren, den diese Generation vollzogen hat, gab er seine eigene Note – er holte ins Licht, was der Nationalsozialismus in den Abgrund gerissen hat. Auch andere Germanisten seiner Generation haben das getan, doch für Hans ging es dabei nie um eine Ideologiekritik, sondern immer um ein verwundetes Gedächtnis. Es ging ihm um Deutschlands Kultur, die betrauern musste, was ihr verloren gegangen war, und es ging ihm darum, diesen Verlust in den Grenzen des Möglichen ein wenig auszugleichen. »Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte?« nannte er seine Antrittsvorlesung im Jahr 1994. Er bezog sich dabei nicht nur auf Friedrich Schiller und das Jahr 1789, sondern mehr noch auf den jüdischen Völkerpsychologen Moritz Lazarus, der 1894, genau hundert Jahre zuvor, diese Frage schon einmal aufgeworfen hatte: Bewusst stellte er sich in eine doppelte Tradition, reflektierte ihren deutschen und ihren jüdischen Anteil. Zwischen Schiller und Lazarus liegt das 19. Jahrhundert der deutsch-jüdischen Geschichte und ihrer tiefen Ambivalenz. Schon in der folgenden Generation erfuhr sie ein apokalyptisches Ende, und ihren literarischen Spuren widmet Hans seine enorme Arbeitskraft. In zahllosen Einzeluntersuchungen und umsichtigen Gesamtdarstellungen sucht er wieder anzunähern, was einmal hätte zusammenwachsen sollen, aber tragisch auseinandergerissen wurde, und er geht dabei auf eine Weise vor, die alles andere als selbstverständlich ist.

2

Vorwort

An seinen Gegenstand, die deutsch-jüdische Literatur, tritt er mit dem Wissen des Germanisten heran und macht die Interaktionen sichtbar, die zwischen zwei gleichberechtigten Seiten einer einst reicheren deutschen Kultur bestanden haben. Das ist deshalb ungewöhnlich, weil in Bindestrichdisziplinen wie der deutsch-jüdischen Literatur der eine Teil zumeist ein Übergewicht behält. Germanisten neigen dazu, ihrem Hauptgeschäft, der deutschen Literatur, nur einen jüdischen »Beitrag« zu subsumieren; wo das Jüdische den Fokus bildet, spricht man heute eher von »German-Jewish Studies«, in denen die Germanistik als Disziplin kaum noch wiederzuerkennen ist. Hans dagegen hält beides noch im Gleichgewicht, und er erfüllt damit vielleicht, wenn auch zu spät, die Hoffnungen, mit denen viele dieser jüdischen Autoren und Autorinnen ihre Arbeit geleistet haben. Die Liebe zur Musik hat seinen Blick auch über die Grenzen des Faches hinaus gelenkt und ihn zu gelegentlichen Ausflügen in die Musikgeschichte inspiriert. Dass er zudem ein begabter Geiger ist und konzertiert, wissen nicht nur seine Freunde, denen er mit Konzertmitschnitten auf höchstem Niveau Freude bereitet. Für seine große Aufgabe bringt er die Sensibilität des Künstlers mit, den Spürsinn des Forschers und die Begabung des Organisators. Viele der von ihm entwickelten Projekte gehören heute zu den unverzichtbaren Hilfsmitteln, die es seinen Kollegen und Studenten erlauben, fortzusetzen, was er begonnen hat. In diesem Buch kommt einiges davon ausführlich zur Sprache, aber zwei der Projekte sollen schon im Vorwort Erwähnung finden: Unter seiner Federführung entstand Compact Memory, die retrospektive Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum – eine Sammlung, die Forschern auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte unentbehrlich geworden ist und ebenso von Vertretern anderer Disziplinen dankbar und häufig genutzt wird; daneben sind inzwischen auch die blauen Bände der Conditio Judaica zu einer bedeutenden Schriftenreihe angewachsen, in der der Forscher nicht selten mehr findet, als er zu finden hoffte. Unser Buch will einen Teil der reichen Ernte zeigen, die das von Hans bestellte Feld getragen hat. Chronologisch geordnet bringen hier viele, Kollegen und Schüler, Facetten dieses Reichtums ein, vor allem aber wollen sie einen Freund beschenken, mit dem sie mehr verbindet als nur eine Wissenschaft. Hans hat nicht nur eine Professur mit Inhalt erfüllt, er hat auch ihren Namensgeber wieder in sein Land und seine Stadt zurückgeholt, er hat das Werk von Ludwig Strauß herausgegeben, der am Ende seines Lebens ein deutscher und ein hebräischer Dichter im Land der Juden war. Es verwundert daher nicht, dass auch unsere Festschrift Beiträge aus aller Welt versammelt, aus Deutschland und aus Israel, aus Europa und Amerika: Grüße, die über Grenzen und Meere hinweg aus dem Herzen kommen. Die Herausgeber

Markus J. Wenninger

Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels

Von den zahlreichen deutschen Rechtsbüchern des Mittelalters ist der Sachsenspiegel sicher das bekannteste. Verfasst vom ostfälischen Ministerialen Eike von Repgow (um 1180 - nach 1233) auf Veranlassung seines Lehnsherrn, des Grafen Hoyer von Falkenstein, fand er noch im 13., vor allem aber im 14. Jahrhundert weite Verbreitung und erlangte in verschiedenen Bearbeitungen und als Grundlage anderer Rechtsbücher im gesamten deutschen Sprachraum eine Geltung und Autorität, die derjenigen des Kanonischen oder Römischen Rechts kaum nachstand.1 Dazu trugen auch zahlreiche Glossen bei, die seit dem 14. Jahrhundert meist von Rechtsgelehrten zum Sachsenspiegel verfasst wurden und eine Verbindung zwischen ihm und dem Gelehrten Recht herstellten, die der Akzeptanz beider zugute kam. Die früheste und zugleich erfolgreichste dieser Glossen wurde um oder bald nach 1325 von Johannes von Buch wohl im Raum Sachsen-Braunschweig angefertigt.2 Schon einige Jahrzehnte früher  zwischen 1292 und 1295  war im nordöstlichen Harzgebiet die vermutlich erste, aber heute verlorene Bilderhandschrift des Sachsenspiegels entstanden, die als Grundlage sowohl der noch erhaltenen vier Bilderhandschriften wie auch einiger weiterer Fragmente anzusehen ist. Diese Bilderhandschriften sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Bilder häufig nicht bloß den Text illustrieren, sondern als »textüberschreitende Bilder« über diesen hinausgehen und damit sachliche Ergänzungen, die in der Regel der Lebenswirklichkeit des Illustrators (oder seines Anweisers) entstammen, bringen, oder auch eine spezifische Art von Kommentar darstellen.3 Das ist auch bei einem beträchtlichen Teil der Judenartikel und 1

2 3

Zur Zusammenfassung dieser Entwicklung und den entsprechenden Literaturhinweisen s. Christine Magin: »Wie es umb der iuden recht stet«. Der Status der Juden in den spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern. Göttingen: Wallstein 1999, S. 50f. Ebd., S. 71-74. Vgl. Gernot Kocher: Sachsenspiegel, Institutionen, Digesten, Codex. Zum Aussagewert mittelalterlicher Rechtsillustrationen. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde 3 (1980), S. 5-34; ders.: Die Rechtsikonographie. In: Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift. Kommentarband. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 107117, hier bes. S. 111; dies.: Text und Bild in den Codices picturati des ›Sachsenspie-

4

Markus J. Wenninger

Judendarstellungen der Fall. Von diesen wurden zwar einzelne in der einschlägigen Literatur immer wieder zitiert und kommentiert, gelegentlich auch abgebildet, aber sie wurden bisher noch nie zusammenfassend untersucht.4 Da nunmehr alle vier Bilderhandschriften in modernen Faksimile-Editionen vorliegen und/oder über Internet-Editionen einsehbar sind, möchte ich hier diese Lücke schließen, einerseits im Sinn der Autoren von »Sachsenspiegel-online«, die mit Recht ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben haben, dass diese neue Art der Erschließung und Vergleichbarkeit der Sachsenspiegelforschung neue Impulse geben könne, andererseits im Sinn der Arbeiten des Jubilars, das geschriebene Wort mit der Kultur der Juden und ihrer Umwelt – drei Faktoren, die in einer untrennbaren Wechselwirkung zu sehen sind – zu verbinden. Dazu kommt, dass auch zu den in den aktuellsten Kommentaren vertretenen Ansichten zur Rolle und Darstellung der Juden in den illuminierten SachsenspiegelHandschriften einige kleine, aber wesentliche Korrekturen anzubringen sind. Hinsichtlich der Beschreibung der erhaltenen vier Bilderhandschriften, die die Basis dieser Untersuchung bilden, und der aktuellen Literatur verweise ich auf die im Folgenden genannten aktuellen Editionen samt ihren Kommentarbänden.5 Einige Eckdaten müssen hier aber doch festgehalten werden. Die nicht erhaltene Urschrift entstand, wie schon gesagt, zwischen 1292 und 1295 im nordöstlichen Harzraum, vielleicht im Bistum Halberstadt. Über eine ebenfalls nicht erhaltene Zwischenstufe entstand um 1300 (1295/1304) in Thüringen der Heidelberger Sachsenspiegel6 (weiterhin: H), und irgendwann zwischen 1295 und 1363  eher gegen das letztere Datum zu  im Raum Meißen

4

5 6

gels‹. Überlegungen zur Funktion der Illustration. In: Text-Bild-Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand. München: Fink 1986 (Münstersche Mittelalterschriften; 55), S. 11-31; dies.: Die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels als Quelle der Kulturgeschichte. In: Der Sachsenspiegel als Buch. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand und Dagmar Hüpper. Frankfurt am Main [u. a.]: Peter Lang 1991 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte; 1), S. 219-260. Magin hat die Bilderhandschriften nicht in ihre Untersuchung mit einbezogen. Andererseits finden die Juden auch in Publikationen, in denen man dies eigentlich erwarten würde, keinerlei Berücksichtigung, z. B. in: Der Sachsenspiegel. Aus dem Leben gegriffen. Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit. Katalog zur Wanderausstellung. Redaktion: Frank Both. Oldenburg: Isensee 1996. Wenn im Folgenden von Bildbeschreibungen die Rede ist, sind, wo nicht anders zitiert, immer die in diesen Editionen enthaltenen Beschreibungen gemeint. Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 164; im Internet unter http:// www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/hs_hd_cpg164/hs_hd_cpg164.htm oder http:// diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg164 (März 2009). Dazu Der Sachsenspiegel. Die Heidelberger Bilderhandschrift Cod. Pal. Germ. 164. Kommentar und Übersetzung von Walter Koschorreck (†), neu eingel. von Wilfried Werner. Frankfurt am Main: Insel 1989.

Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels

5

die Dresdner Handschrift7 (weiterhin: D), die im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts  wahrscheinlich vor 1365  nach gängiger Auffassung die Vorlage für den im selben Raum entstandenen Wolfenbütteler Sachsenspiegel8 (weiterhin: W) bildete. Die auf eine andere Zwischenstufe zurückzuführende Oldenburger Handschrift9 (weiterhin: O) entstand 1336 in Rastede.10 Keine der vier Bilderhandschriften ist vollständig erhalten,11 aber trotz der teilweise großen Lücken sind die Fehlstellen im Zusammenhang mit dem hier bearbeiteten Thema marginal, wie eine Synopse aller einschlägigen Stellen zeigt, und betreffen nur einige Blätter von H. In der Tabelle bedeutet T das Vorkommen des Wortes Jude(n) im Text, B die bildliche Darstellung eines oder mehrerer Juden. Die Ziffern bezeichnen die Stelle (Folio-Angabe) für die jeweilige Handschrift. Zwei Striche bedeuten, dass in dieser Handschrift ein Bild zur genannten Textstelle existiert, dass es aber – im Gegensatz zu den anderen Handschriften – keine Judendarstellung enthält. Da das Lehenrecht für die spezifische Stellung der Juden in der christlichen Gesellschaft im wesentlichen irrelevant war, so dass sie dort weder im Wort noch im Bild vorkommen, beziehen sich alle Angaben über Textstellen auf das Landrecht. 7

8

9

10

11

Heiner Lück (Hg.): Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Die Dresdner Bilderhandschrift Mscr. Dresd. M 32. Faksimile und Interimskommentar 2002, Textband 2006 (beide Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt); daneben immer noch von Bedeutung Karl v. Amira: Die Dresdner Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Bd. 1: Facsimile der Handschrift. Leipzig: Hiersemann 1902; Bd. 2 u. 3: Erläuterungen, Teil I u. II, Leipzig: Hiersemann 1925/26; im Internet unter http://digital.slubdresden.de/sammlungen/titeldaten/272362328/ (März 2009). Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.): Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2 o. Faksimileband, Textband und Kommentarband. Berlin: Akademie-Verlag 1993 (Ndr. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 2006). Im Internet unter http://www.sachsenspiegel-online.de/cms/ (März 2009). Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.): Der Oldenburger Sachsenspiegel. Vollständige Faksimileausgabe im Originalformat des Codex picturatus Oldenburgensis CIM 410 der Landesbibliothek Oldenburg. Faksimile, Textband und Kommentarband. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1995/96. Der Oldenburger Sachsenspiegel. Codex picturatus Oldenburgensis CIM 410 der Landesbibliothek Oldenburg [verkleinerte Wiedergabe], mit Kommentar von Ruth Schmidt-Wiegand und Wolfgang Milde sowie Text und Übersetzung von Werner Peters und Wolfgang Wallbraun. 2 Bde. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 2006 (Glanzlichter der Buchkunst; 15, 1 u. 2). Keine Internet-Ausgabe. Ruth Schmidt-Wiegand: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift im Kreis der Codices picturati des Sachsenspiegels. In: Eike von Repgow: Sachsenspiegel (wie Anm. 8), S. 1-24, hier S. 5f.; zu Argumenten, die für die Annahme sprechen, dass W eine andere Vorlage als D hatte, s. ebd., S. 11f. Vgl. dazu Rolf Lieberwirth: Synopse. Überblick über die in den Bilderhandschriften illustrierten Textstellen des Sachsenspiegels. In: Eike von Repgow: Sachsenspiegel (wie Anm. 8), S. 333-355. Details s. in der Literatur zu den jeweiligen Handschriften.

6

Markus J. Wenninger

Textstelle

Sachbetreff

H

O

D

W

I 3 § 1+2

Abraham

fehlt

B 7v

B 4v

B 10v

I 70 § 2

Pfandverkauf

fehlt

B 37v

B 21v

B 27v

II 66 § 1

Personen unter Königsschutz

BT 11r

BT 61v

BT 35r

BT 41r

II 66 § 2

jüdischer Wächter am Grab

--

B 62r

B 35r

B 41r

II 71 § 3

Gerüftsfolge

--

--

B 35v

B 41v

III 2

Königsschutz gilt nicht BT 12v

BT 64v

BT 36v

BT 42v

III 7 § 1

Gewere

BT 13v

T 66r

BT 37v

BT 43v

III 7 § 2

Jude schlägt Christen

T 13v

T 66r

T 37v

T 43v

III 7 § 3

Christ schlägt Juden

BT 13v

BT 66r

BT 37v

BT 43v

III 7 § 4

Kirchengeräte als Pfand

BT 13v

BT 66r

BT 37v

BT 43v

III 42 § 4

Gott gibt Gebote

B 19r

B 75r

B 43r

B 47r

III 57 § 1

wann der Kaiser gebannt werden kann

fehlt

B 80v

B 46v

B 50v

III 70 § 1

Rechtsfindung

B 24r

B 84v

B 50r

B 54r

Dem Nichtspezialisten mag sich die Frage stellen, woran man auf einem mittelalterlichen Bild einen Juden erkennt, und eventuell auch, wie eindeutig diese Kennzeichen sind. Zunächst handelte es sich um bestimmte Kleidungsstücke als spezifische Bestandteile der üblichen jüdischen Tracht, wozu seit dem 13. Jahrhundert auf Druck der Kirche allmählich auch unterschiedliche verordnete Kennzeichen traten, die als spezifisch jüdisch ebenfalls bald in bildliche Darstellungen Eingang fanden. In Deutschland und den angrenzenden Regionen war bis ins 15. Jahrhundert der »Judenhut« als üblicher Trachtbestandteil – im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung aber nicht als verordnetes Kennzeichen!12 – das wichtigste Erkennungszeichen und ist es auch in den 12

Die von der Kirche seit dem 4. Laterankonzil 1215 in allgemeiner Form geforderte Kennzeichnung sollte je nach den regionalen Gegebenheiten von den weltlichen Obrigkeiten umgesetzt werden. In Deutschland war das erst im 15. Jahrhundert der Fall, sodass es für die Zeit der Sachsenspiegel-Handschriften eindeutig verfehlt ist, von einer »Kennzeichnungspflicht« (so Horst Dubois: Die Darstellung des Judenhutes im Hochmittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 74 [1992], S. 277-301,

Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels

7

Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Dazu kamen häufig, aber keineswegs immer, ein spezifisches langes Obergewand und ein langer Bart, wie ihn orthodoxe Juden heute noch tragen. Freilich war die mittelalterliche »Kleiderordnung«  verstanden nicht als verordnetes Gebot, sondern als Usus, der in dieser stark ständisch orientierten Gesellschaft die einzelnen Bevölkerungsgruppen über regionale und berufsmäßige Spezifika hinaus auch in ständischer Hinsicht voneinander unterschied  keine festgefügte und unveränderbare Konstante, sondern unterlag einem durch Mode und andere Einflüsse bedingten Wandel, der sich auch in den Sachsenspiegelhandschriften zeigt.13 Aber auch abgesehen davon darf man sich diese spezifischen Kleidungsstücke, unter denen Hüte und andere Kopfbedeckungen die wichtigste Rolle spielen, und vor allem die Situation, in der ihr Träger jeweils dargestellt wird, nicht unbedingt als reales Abbild der jeweiligen Wirklichkeit vorstellen. Denn wichtig war vor allem, dass sie ihren Träger möglichst eindeutig hinsichtlich seiner Gruppenzugehörigkeit charakterisierten, nicht dagegen, ob sie in der Realität genau so aussahen, und schon gar nicht, ob sie in der jeweiligen Situation tatsächlich getragen wurden.14 Diese Einschränkungen gelten natürlich auch für die Juden. Auch der Judenhut unterlag in seiner Gestaltung einem zeitlichen Wandel, und offenbar gab es auch verschiedene als typisch empfundene Formen nebeneinander im selben Raum.15 Im späteren 13. und im 14. Jahrhundert konnte der Hut bei unterschiedlichen Krempenformen kalotten- oder flach- bis spitzkegelförmig sein; sein wichtigstes Merkmal war jedoch sein charakteristisches Horn, nach dem er auch als »gehörnter Hut« (pileus cornutus) bezeichnet wurde, ein röhren- oder fingerförmig vom Scheitelpunkt des Hutes senkrecht und gerade nach oben gehender Aufsatz, der im 13. Jahrhundert gelegentlich, im 14.

13

14 15

hier S. 280f., und ihm folgend Dagmar Hüpper: Kleidung. In: Eike von Repgow: Sachsenspiegel [wie Anm. 8], S. 163-183, hier S. 178) zu sprechen. Vgl. dazu Ruth Schmidt-Wiegand: Kleidung, Tracht und Ornat nach den Bilderhandschriften des ›Sachsenspiegels‹. In: Terminologie und Typologie mittelalterlicher Sachgüter: Das Beispiel der Kleidung. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau, 6. Oktober 1986. Wien: Verlag d. Österr. Akad. d. Wiss. 1988 (Phil.-Hist. Sitzungsberichte Wien; 511 – Veröff. d. Inst. f. mittelalterliche Realienkunde Österreichs; 10), S. 143-175, hier S. 146. Vgl. ebd., S. 170-175, sowie Hüpper, Kleidung (wie Anm. 12), S. 163-165 und bes. S. 177. Eine befriedigende Geschichte des Judenhutes und seiner Entwicklung ist (trotz der Untersuchung von Dubois, Darstellung des Judenhutes [wie Anm. 12]) noch nicht geschrieben. Reiches Material, aus dem sich auch die Grundzüge seiner Entwicklung herauslesen lassen, findet sich bei Heinz Schreckenberg: Christliche AdversusJudaeos-Bilder. Das Alte und Neue Testament im Spiegel der christlichen Kunst. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1999 (Europäische Hochschulschriften, R. XXIII; 650). Zum Variantenreichtum gleichzeitiger Judenhüte vgl. z. B. die einschlägigen Abbildungen aus einem Heilsspiegel des Stiftes Kremsmünster von 1324, ebd., Abb. 104 a) - l), S. 199-204.

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Markus J. Wenninger

mehrheitlich von einem Knauf abgeschlossen wurde.16 Um die Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich – anscheinend in einem Parallelvorgang zu deutlichen Änderungen in den allgemeinen Kleidungsgewohnheiten in dieser Zeit17 – aus den früher runderen Formen eine neue Variante mit Kanten, die im wesentlichen aus übereinandergestellten Kegelstümpfen mit unterschiedlichem Steigungswinkel bestand. Während nun in O, H und D durchwegs die ältere Form verwendet wird, gelangt in W  als einem der frühesten Beispiele überhaupt  teilweise die neue abgetreppte Form zum Einsatz. Manche Formen des Judenhuts sind übrigens nur schwer vom Richter- oder Schultheißenhut zu unterscheiden, denn der einzige wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Hüten besteht beim älteren, knauflosen Judenhut darin, dass sein Horn gerade, jenes des Richterhuts jedoch gekrümmt ist (vgl. Abb.), und dieser Unterschied ist auf manchen Bildern nur schwer auszumachen. Die Farbgebung der Judenhüte folgt, so sie überhaupt durchgeführt wurde (in O fehlt sie durchgängig, sonst teilweise; in D ist sie kaum mehr zu erkennen), keinen erkennbaren Regeln. In W sind die Hüte ebenso wie das Gewand der Juden überwiegend rot, einmal (fol. 50v) aber auch beides blau. In H (dessen Judenhüte in der Abb. unten mangels mir zur Verfügung stehender ausreichend qualitätvoller Vorlagen fehlen), sind sie meist hellgelb gehalten (wie übrigens auch der Schultheißenhut fol. 28r), aber auch grünlich (fol. 19r) oder farblos (fol. 13v unten, wo die Farbgebung wohl nur übersehen wurde). Ob bzw. wie weit diese Farbgestaltung auf realen Vorbildern beruht, ist nicht zu sagen. Von den oben genannten Sachsenspiegel-Stellen,18 in denen Juden genannt oder abgebildet werden, möchte ich nicht alle gleich intensiv behandeln. Denn man könnte sich bei S I 3 zwar fragen, warum wohl Abraham, aber nicht Moses mit einem Judenhut dargestellt wird, bei S II 66 § 2, wieso hier am Grab Jesu nur ein jüdischer Wächter sitzt (dessen Jude-Sein in O sogar noch durch die Anbringung eines Wappens mit drei Judenhüten auf seinem Schild besonders betont wird),19 aber kein römischer, oder bei S III 42 § 4, warum Gott das 16

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Vgl. dazu auch die Beschreibung der allgemeinen Charakteristika des Judenhuts bei Heinz Schreckenberg: Die Juden in der Kunst Europas. Ein historischer Bildatlas. Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 15. Zu diesen s. Hüpper, Kleidung (wie Anm. 12), S. 169f. Weiterhin zitiert nur mit dem Kürzel S plus Buch, Kapitel und, falls vorhanden, § nach der immer noch maßgeblichen Ausgabe von Karl August Eckhardt: Sachsenspiegel Landrecht. 2. neubearb. Ausg. Göttingen u. a.: Musterschmidt 1955 (MGH Fontes iuris Germanici antiqui; 1, 1). Abb. s. unten. Ein oder mehrere Judenhüte in unterschiedlichen Anordnungen auf Wappenschilden waren in dieser Zeit bei der jüdischen Oberschicht tatsächlich ein beliebtes Mittel der Selbstcharakterisierung (vgl. dazu zahlreiche einschlägige Siegelbilder bei Daniel M. Friedenberg: Medieval Jewish Seals from Europe. Detroit: Wayne State Univ. Press 1987, besonders S. 156, 158, 161, 167, 190 [Judenhüte auf Wappenschilden]; 171 u. 184f. [Judenhüte ohne Wappen]. Zur Sache vgl. Markus J. Wenninger: Von jüdischen Rittern und anderen waffentragenden Juden im mittelalterlichen Deutschland. In: Aschkenas 13 [2003], S. 44f.). Bemerkenswerterweise

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Gebot zur Feier des Jubeljahres hier nicht Moses, sondern irgend einem nicht näher definierten Juden gibt. Aber grundsätzlich ist die Kennzeichnung bibelzeitlicher Juden durch spezifische mittelalterliche Kleidungsstücke im Mittelalter nicht ungewöhnlich und erlaubt auch bei den Sachsenspiegel-Darstellungen keine weiter gehende Aussage hinsichtlich der Stellung der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft. Anders ist es freilich dort, wo zeitgenössische Rechtsverhältnisse der Juden oder im Zusammenhang mit Juden behandelt werden. Diese Stellen können wir in zwei Gruppen teilen: Zunächst gibt es eine, in der Juden im Text des Sachsenspiegels genannt werden, weil für sie in irgendeiner Hinsicht ein spezifisches Recht gilt. Die meisten dieser Textstellen werden auch in dazugehörigen Bildleisten dargestellt bzw. kommentiert. Daneben gibt es noch eine zweite Gruppe von Bildern, in denen Juden vorkommen, obwohl im dazugehörigen Text nicht von Juden die Rede ist, und die uns damit eine spezifische Interpretation des jeweiligen Textes durch den Zeichner/Illuminator20 oder seinen Anweiser geben. Als erstes möchte ich auf die beiden im Zusammenhang mit Juden wohl am häufigsten zitierten Bestimmungen und Bilder des Sachsenspiegels eingehen, die sich auf das Verhältnis von Juden, Königsschutz und Waffen beziehen. S II 66 § 1 nennt jene Personen (und Orte, die aber hier nicht zu berücksichtigen sind), die unter dem erweiterten Königsschutz stehen: Priester und [andere] geistliche Leute (d. h. Mönche u. a. Kleriker), Mädchen und Frauen und Juden. In untrennbarer Verbindung zu dieser Festlegung ist S III 2 zu sehen, wo definiert wird, unter welchen Bedingungen dieser erweiterte Königsschutz nicht gilt, wann also Übergriffe gegen definiertermaßen unter Königsschutz stehende Personen nicht verschärft, sondern nur wie andere Übergriffe auch geahndet werden: Geistliche, wenn sie nicht geschoren sind (also keine Tonsur tragen und damit nicht als Geistliche zu erkennen sind), Geistliche und Juden, wenn sie Waffen tragen, »weil die keine Waffen führen sollen, die im täglichen Frieden des Königs stehen.«21 Diese letztere Bestimmung hat zur früher allgemein anerkannten und auch heute noch weit verbreiteten Ansicht von einem für die Juden seit ihrer expliziten Aufnahme in den Königsschutz existierenden »Waffenverbot« geführt.22

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gehören alle diese Siegel mit Judenhüten der Zeit vor der Mitte des 14. Jahrhunderts an. Wir können daraus schließen, dass der Judenhut bis dahin mit keiner negativen Konnotation verbunden war. In D waren das eindeutig zwei verschiedene Personen, da der Zeichner dem Illuminator durch Kürzel Anweisungen zur Farbgebung gab (vgl. Hüpper, Kleidung [wie Anm. 12], S. 181f.). In anderen Fällen mögen diese beiden Funktionen in einer Person zusammengefallen sein. Nach der Übersetzung von O durch Peters und Wallbraun. Noch die aktuellen Kommentare zu den o. g. Faksimile- bzw. Internetausgaben sprechen davon, dass der zu III 2 gezeigte waffentragende Priester und der ebenso waffentragende Jude damit gegen S II 66 § 1 verstoßen, weil sie, da sie unter dem täglichen Frieden des Königs stehen, eigentlich keine Waffen tragen dürfen.

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Dem ist entgegenzuhalten, dass man mittelalterliche Rechtssätze, vor allem, wenn sie dem deutschen Rechtskreis angehören, nicht jener absoluten Wortgültigkeit unterwerfen darf, wie wir das von heutigen Rechtsauslegungen und – in schon abgeschwächter Form – auch von den römischrechtlichen Grundsätzen her gewohnt sind, sondern man muss mehr von der hinter der Formulierung stehenden Absicht, also vom Sinn oder Geist des Gesetzes, ausgehen. Wir müssen also zunächst den Sinn hinter diesem angeblichen Waffenverbot suchen, und der bedeutet einfach: Wer sich auf den Königsschutz berufen will, hat das zu zeigen, indem er keine Waffen führt, bzw. umgekehrt: Wer, obwohl eigentlich einer unter Königsschutz stehenden Personengruppe zugehörig, Waffen führt, zeigt damit, dass er sich nicht auf den Königsschutz, sondern auf seine eigene Wehrhaftigkeit verlässt (und verliert damit die Vorteile des Königsschutzes). Tatsächlich zeigt sich bei einer Untersuchung des real existierenden Waffengebrauchs, dass sich die mittelalterlichen Juden hierin nicht grundsätzlich von den Christen unterschieden haben: Angehörige der jüdischen Oberschicht kämpften rittermäßig zu Pferde, als Stadtbürger waren sie üblicherweise in die Verteidigung der Städte mit eingebunden, und jüdische Söldner gab es auch.23 In einem engen Zusammenhang zu diesen beiden Bestimmungen steht S II 71 § 3, wo festgehalten wird, dass man Waffen zu führen hat, wenn man dem Gerüft (dem Aufruf zur Verfolgung eines Friedensbrechers) folgt, und zwar auch dann – wie aus dem Zusammenhang mit dem vorhergehenden Artikel II 71 § 2 hervorgeht –, wenn zu dieser Zeit eigentlich ein »geschworener Friede« gelten würde. Diesem Gerüft müssen alle folgen, die alt genug sind, ein Schwert zu führen, außer Priester, Frauen, Kirchendiener und Hirten. H und O zeigen zu diesem Text jeweils auf der einen Seite je einen Vertreter der von der Pflicht zur Gerüftsfolge ausgenommenen Personengruppen, auf der anderen eine Schar weiters nicht differenzierter bewaffneter Bauern, die dem Gerüft gefolgt sind. Anders dagegen D und W, bei denen sich unter den Bewaffneten jeweils auch ein Jude befindet. Hier haben wir es also klar mit einer eigenständigen Interpretation des Textes zu tun; nur: Was genau soll damit ausgedrückt werden? Ohne Juden zu nennen – allerdings können mit dieser Formulierung und mit Bezug auf W fol. 41v, Bildstreifen 6, nur Juden gemeint sein – meint Schmidt-Wiegand, die Bilder würden ausdrücken, dass man dem Gerüft »ohne Rücksicht auf Waffenverbote oder Friedenstage« zu folgen habe.24 Da es aber, wie gezeigt, ein Waffenverbot für Juden nicht gab, kann es – zumindest in dieser Formulierung – auch nicht der Anlass für die Aufnahme eines Juden unter die Bewaffneten gewesen sein. 23

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Ausführlich zu diesem ganzen Komplex Christine Magin: ›Waffenrecht‹ und ›Waffenverbot‹ für Juden im Mittelalter – zu einem Mythos der Forschungsgeschichte. In: Aschkenas 13 (2003), S. 17-33, und Wenninger, Jüdische Ritter (wie Anm. 19), S. 35-82. Ruth Schmidt-Wiegand: Mord und Totschlag in der älteren deutschen Rechtssprache. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 10 (1988), S. 47-84, hier Text S. 80 u. Abb. 11.

Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels

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Ich sehe zwei Möglichkeiten einer Interpretation. Die wahrscheinlichere scheint mir, dass damit die Pflicht der gesamten erreichbaren Nachbarschaft – abgesehen nur von den genannten ausdrücklich ausgenommenen Personengruppen – zur Teilnahme am Aufgebot betont werden sollte. Das hätte Parallelen in etwa zeitgleichen Texten, in denen von der Beteiligung von Christen und Juden die Rede ist, wenn betont werden soll, dass sich die gesamte (Stadt-)Bevölkerung an einer bestimmten Aktion beteiligt hat.25 Eine weitere Möglichkeit – die der eben genannten nicht widerspricht, sondern sie eher ergänzt – wäre, ebenfalls in Betonung der Beteiligungspflicht aller, aufzuzeigen, dass sich niemand unter Hinweis auf irgendwelche Privilegien (wie z. B. die Aufnahme in den besonderen Königsschutz) der Pflicht zur Teilnahme am Gerüft entziehen kann. Spezifisches Judenrecht, das im Fall verschiedener für Juden ausgestellter Privilegien Dutzende Bestimmungen umfassen kann, ist im Sachsenspiegel im Grunde nur in den vier Paragraphen des siebten Kapitels von Buch III enthalten. Nach § 1 braucht ein Jude nicht Gewährsmann eines Christen zu sein, wenn er das nicht will.26 Nach § 2 wird ein Jude, wenn er eine Gewalttat gegen einen Christen begeht, abgeurteilt wie ein Christ (d. h. wie ein Christ, der einen anderen Christen verwundet oder getötet hat), während umgekehrt nach § 3 ein Christ nach Gewalttat an einem Juden als Brecher des Königsfriedens verurteilt wird. § 4 betrifft das Marktschutzrecht, also die Frage, unter welchen Umständen ein jüdischer Händler oder Pfandleiher als Hehler (der gleich abgeurteilt wird wie der Dieb) betrachtet wird, bzw. welche Regeln er einhalten muss, um nicht in einen solchen Verdacht zu kommen. Inhaltlich hat diese Bestimmungen Magin umfassend abgehandelt;27 hier geht es daher nur um ihre Umsetzung in die bildliche Darstellung. § 1 scheint auf den ersten Blick in keinem Bildstreifen enthalten zu sein und wird auch in den Bildbeschreibungen nicht berücksichtigt. Tatsächlich ist er in H, D und W in den zu § 3 gehörenden Bildstreifen integriert, indem der dort dargestellte von einem Christen angegriffene Jude eine Wendung von diesem weg und anscheinend aus dem Bild hinaus macht (diese Wendung fehlt bei O, wo der Jude in Frontalsicht steht). Das steht in Einklang mit der im Mittelalter häufigen Integration von zwei oder mehreren unterschiedlichen oder zeitlich nacheinander liegenden Ereignissen in ein einziges Bild, oft sogar in eine einzige Szene eines Bildes. Denn als Fluchtversuch kann die Abwendung vom christlichen Angreifer, die vor allem bei W den Eindruck eines betont gemes25

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Vgl. etwa das bei Wenninger, Jüdische Ritter (wie Anm. 19), S. 58, Anm. 106, genannte Beispiel von Erfurt 1309. Auch literarisch ist diese Kombination bekannt, wenn es darum geht, die Gesamtheit einer Bevölkerung zu betonen. Diese Gewähre (Gewere) betrifft die Haftung bei verkauften Gegenständen, hat also mit dem Marktschutzrecht zu tun (vgl. Magin, »Wie es umb der iuden recht stet« [wie Anm. 1], S. 258). Magin, »Wie es umb der iuden recht stet« (wie Anm. 1), passim (s. Inhaltsverzeichnis und Register).

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senen Weggehens macht, kaum interpretiert werden. Vielmehr drückt diese Abwendung die Ablehnung der Gewährsübernahme aus. Was dagegen tatsächlich durchwegs fehlt, ist ein zu § 2 gehöriges Bild.28 Der Grund ist sicher darin zu suchen, dass der Jude nach verübter Gewalttat gegen einen Christen in der für eine solche Gewalttat üblichen Weise bestraft wurde, im Gegensatz zum Christen, der einen Juden verwundete oder tötete, der strenger bestraft wurde und bei dem daher Tat und Strafe in einen deutlich sichtbaren Zusammenhang gebracht wurden. Das Bild zu § 4 zeigt in allen Handschriften einen des unrechtmäßigen Erwerbs von Kirchengeräten (und damit der Hehlerei) bezichtigten Juden und seine Bestrafung durch Hängen, d. h. durch die übliche Diebesstrafe. Hier fallen zwei Dinge auf. Zum einen geht es um das Hängen des verurteilten Juden, das (noch) in genau derselben Weise erfolgt wie das Hängen des Diebes.29 Bemerkenswert ist das insofern, als sich seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert für jüdische Diebe die besonders grausame und entehrende Strafe des Hängens an den Füßen neben einem oder zwischen zwei ebenfalls aufgehängten Hunden durchsetzte.30 Die Sachsenspiegel-Illustratoren sahen also offenbar noch keinen Anlass für die Anwendung verschärfter Strafformen gegenüber Juden. Zum anderen ist der der Hehlerei bezichtigte Jude der einzige von all den dargestellten, der – zumindest in H, D und W – nicht das sonst übliche lange Judengewand trägt, sondern ein davon deutlich unterschiedenes, das in gleicher Form nur noch ein weiteres Mal vorkommt: bei einem zu S III 9 (W fol. 44r) dargestellten Transport eines Gefangenen, bei dem der Gefangene ein gleiches hemdartiges Gewand wie der gefangene Jude trägt. Es scheint sich dabei um eine Art von Arme-Sünder-Hemd zu handeln, auch wenn es hier nicht die Kleidung eines bereits Verurteilten ist, sondern die eines Beschuldigten, der erst zum Gericht gebracht wird. Möglicherweise soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich bei dem jeweiligen Gefangenen um einen zu Recht Beschuldigten, also um einen tatsächlichen Missetäter handelt. Erstaunlicherweise kommt ein Jude auch in S III 57 § 1 vor, wo es um die Frage geht, unter welchen Umständen der Kaiser vom Papst gebannt werden kann, nämlich nur in drei Fällen: Wenn er am rechten Glauben zweifelt, wenn er seine rechtmäßige Gattin verstößt, oder wenn er »Gotteshäuser«31 zerstört. 28 29

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Die Beschreibungen zu den Bilderhandschriften lassen dagegen § 1 weg, während sie unzutreffenderweise die §§ 2 und 3 zu einer Bildbeschreibung kombinieren. Vgl. die Bilder zu S II 13, wo Leib- und Lebensstrafen für verschiedene Vergehen abgehandelt werden, darunter in § 1 mit der lapidaren Forderung »Den Dieb soll man hängen«. Dazu Guido Kisch: The ›Jewish Execution‹ in Medieval Germany. In: Historica Judaica 5 (1943), S. 103-132 (auch in: Guido Kisch: Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Juden. Sigmaringen: Thorbecke 1979 [Guido Kisch: Ausgewählte Schriften; 2], S. 165-193), hier bes. S. 107-111. Damit sind zunächst Kirchengebäude gemeint, und in diesem wörtlichen Sinn wird es auch in den zugehörigen Bildern dargestellt. Der Begriff »Gotteshaus« bezieht sich im Mittelalter aber auch auf Gebäude im übertragenen Sinn, auf kirchliche Institutionen

Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels

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Der Zweifel am rechten Glauben wird in O, D und W (in H fehlt dieses Blatt) durch eine Wechselbeziehung zwischen dem Kaiser und einem zusammen mit ihm stehenden Juden ausgedrückt, wobei die Gesten einerseits auf eine Unterweisung des Kaisers durch den Juden schließen lassen, andererseits darauf, dass der Kaiser diese Unterweisungen annimmt. In der gesellschaftlichen Realität der Zeit hätte es neben den Juden zwar auch noch Häretiker im Land gegeben, die man als Sinnbilder für Glaubenszweifel heranziehen hätte können. Aber für die Häretiker gab es im Gegensatz zum Judenhut und anderen typisch jüdischen Accessoirs keinen eindeutigen Code, kein Kleidungsstück oder einen anderen Gegenstand, mit dem man sie zweifelsfrei und für jeden kenntlich charakterisieren hätte können, so dass der Jude in diesem Zusammenhang möglicherweise nur eine Art Notlösung darstellt, obwohl eine Hinwendung zum Judentum natürlich auch einen Zweifel am rechten christlichen Glauben bedeutete. In sämtlichen Handschriften ist auch zu S III 70 § 1 ein Jude dargestellt, obwohl auch hier im Text keiner erwähnt wird. Es geht um Gericht und Urteilsfindung, und festgehalten wird, dass, wo nicht unter Königsbann Gericht gehalten wird, jedermann zur Urteilsfindung über den anderen berechtigt ist, der nicht als rechtlos gescholten werden kann, außer der Wende gegen den Sachsen und umgekehrt. Zu diesem Text stehen vor dem Richter in einer Gruppe vier Männer, von denen in jeder Handschrift ein Jude und ein Sachse eindeutig kenntlich sind, in W darüber hinaus ein Franke, abseits von diesen vieren ein ebenfalls kenntlicher Wende. Die vier Männer symbolisieren den so genannten Umstand, d. h. alle Anwesenden, die in diesem Fall an der Urteilsfindung beteiligt sind, während dieser Kreis sonst auf die Schöffen beschränkt ist. Im Gegensatz zum Wenden, der – wohl um möglichen Sprachproblemen aus dem Weg zu gehen; es mögen hier aber auch unterschiedliche Rechtsordnungen von Bedeutung gewesen sein – von der Rechtsfindung über den Sachsen ausgeschlossen bleibt, ist der Jude also, ebenso wie die Angehörigen anderer deutscher Stämme und Eigenleute, dazu berechtigt.32 Dieser Umstand verdient vor allem deshalb Beachtung, weil die einschlägigen kirchlichen Vorschriften den Juden seit der Spätantike sogar das Klagsrecht und das Zeugnisrecht gegen Christen absprachen, und um so mehr natürlich jede richterliche Funktion. Im weltlichen Recht finden sich solche Ausschließungen zwar nicht,33 aber indem die Sachsenspiegelbilder die Juden ausdrücklich unter die Rechtsfinder aufnehmen, beziehen sie eindeutig gegen die entsprechenden Bestimmungen des Kanonischen Rechts Stellung. Sieht man die Bilder auch als Abbild der gelebten (Rechts-)Realität, dann zeigen sich die Juden in wesentlich höherem Maß

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wie Klöster oder Bistümer mit ihren jeweiligen Herrschaftsbereichen, und es ist keineswegs auszuschließen, dass auch diese Bedeutung mit einbezogen ist. Vgl. Schmidt-Wiegand, Die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels als Quelle der Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 244-248, die aber nur auf die Wenden und die sich im Zusammenhang mit ihnen ergebenden sprachlichen Probleme näher eingeht. Ausführlich dazu Magin, »Wie es umb der iuden recht stet« (wie Anm. 1), S. 210-275.

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in die christliche Gesellschaft des 13. und zumindest der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts integriert, als das aus den kirchlichen oder kirchlich beeinflussten Quellen hervorzugehen scheint. Zuletzt soll noch jene  einzige  Darstellung zur Sprache kommen, die nicht mit der Rechtsstellung, sondern ausschließlich mit der wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden zu tun hat, und damit etwas aus dem sonstigen Rahmen fällt. Ein Jude kommt hier nur im Bild vor, nicht in dem diesem zugrundeliegenden Rechtstext, und er ist dort ganz offensichtlich ein Element der realen Umwelt der Illustratoren, als das er bei bestimmten Geschäften wie selbstverständlich in Erscheinung tritt. S I 70 § 2 handelt von jemandem, der aufgrund eines Gerichtsurteils zahlungspflichtig geworden ist, aber  wie zu ergänzen wäre  seinen Verpflichtungen nicht nachkommt und deshalb gepfändet wird. Nach dem Text soll man das von ihm genommene Pfand versetzen oder, wenn das nicht möglich ist, verkaufen, und aus dem Erlös die Forderungen des Gläubigers begleichen. Die Bilder dazu zeigen übereinstimmend als Pfand ein Pferd, das gerade aus dem Haus des Schuldners gezogen und einem Juden, der dem Gläubiger dafür Geld bezahlt, übergeben wird. Nach den Bildbeschreibungen zu O und W würde das Pferd dabei dem Juden verkauft. Das ist zwar nicht unmöglich, weil dieser Jude ja Pferdehändler gewesen sein könnte, aber doch aus mehreren Gründen sehr unwahrscheinlich. Zunächst sagt der Text ausdrücklich, dass das Pfand nur verkauft werden soll, wenn man es nicht versetzen kann. Das Versetzen war also die in erster Linie geforderte Handlung und ist deshalb auch ziemlich sicher dargestellt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die häufigste Geschäftstätigkeit von Juden im deutschen Spätmittelalter die Geld- und Pfandleihe war, die für die Juden als typisch gelten konnte (und umgekehrt), so dass man mit der Einführung eines Juden wohl einen Verpfändungsvorgang signalisieren konnte, aber keinen Pferdehandel. Und wenn wir uns schließlich den im Text geschilderten Geschäftsvorgang näher ansehen, dann haben wir es dabei mit einer Verpfändung zu Lasten eines Dritten zu tun. Dabei verpfändete der eigentliche Gläubiger dem Juden einen dem Schuldner gehörenden Gegenstand und konnte mit dem Erlös seine eigenen Forderungen befriedigen, während auf der anderen Seite dem Schuldner immer noch die Möglichkeit blieb, sein Pfand wieder auszulösen, wenn er seiner nicht endgültig verlustig gehen wollte. Anders gesagt: Es handelt sich bei diesem Geschäft um eine bestimmte Art des »Schadennehmens« oder des »Judenschadens«, das wir seit dem 13. Jahrhundert in vielen Schuldurkunden als Zugeständnis an den Gläubiger finden, wenn er nach Ablauf des Zahlungstermins nicht länger auf die Erfüllung seiner Forderungen warten will.34 Es spricht also alles dafür, dass hier nicht ein Verkaufs-, sondern ein Verpfändungsvorgang dargestellt ist. 34

Näheres und einschlägige Literatur dazu in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bd. 6. Weimar: Hermann Böhlaus Nach-

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Hinsichtlich einer eventuellen Wertung sind die Judendarstellungen in den illuminierten Sachsenspiegel-Handschriften neutral gehalten. Die Juden werden als eine durchaus in die Gesellschaft integrierte Bevölkerungsgruppe gezeigt. Zwar sind sie keine Christen, sie ermangeln damit des rechten Glaubens und sind geeignet, als Symbol für mögliche Glaubenszweifel des Kaisers zu dienen, aber andererseits haben sie ihre Gebote direkt von jenem Gott, der auch der Gott der Christen ist und auf den sich auch der Sachsenspiegel zurückführt. Sie gehen der für sie typischen geschäftlichen Tätigkeit der Geldund Pfandleihe nach  die aber im Sachsenspiegel im Gegensatz zum Kirchenrecht in keiner Weise negativ gesehen wird , und sie stehen aufgrund eines legendär auf den römischen Kaiser Vespasian zurückgeführten Privilegs unter dem besonderen Schutz des Königs, aber an gesellschaftlichen Vorgängen wie Gerüftsfolge oder Rechtsprechung können/dürfen/müssen sie sich beteiligen wie alle anderen auch. Von der Verschlechterung des christlich-jüdischen Verhältnisses, die im 14. Jahrhundert deutlich zunahm, und dem ebenfalls in dieser Zeit beginnenden Hinausdrängen der Juden aus der christlichen Gesellschaft ist hier noch nichts zu spüren.

Verschiedene Formen von Judenhüten und ein Richterhut aus O. Obere Zeile: Judenhüte, fol. 7v, 37v und 61v; untere Zeile: links drei Judenhüte, fol. 64v, 75r und 80v, rechts ein Richterhut, fol. 30v. Ganz rechts der jüdische Wächter beim Grab Jesu mit Judenhut über dem Hersenier auf dem Kopf und drei Judenhüten im Wappen.

folger 1961-1972, Sp. 561, s. v. »Judenschaden«; Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin: Erich Schmidt 1971, Sp. 1455f., s. v. »Geld auf Schaden nehmen«.

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Markus J. Wenninger

Verschiedene Formen von Judenhüten und Richter- bzw. Schultheißenhüten aus W. Erste Zeile: Judenhüte, fol. 10v, 27v, zweimal 41r; zweite Zeile: Judenhüte, fol. 41v, 42v, zweimal 43v; dritte Zeile: Judenhüte, fol. 43v, 50v und 54r; vierte Zeile: Richterhüte, fol. 10v und dreimal 23r.

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Verschiedene Formen von Judenhüten und Richter- bzw. Schultheißenhüten aus D (Helligkeit und Kontrast teilweise geändert). Obere Zeile: Judenhüte, fol. 4v, 21v, 35r, 35v, 36v, 37v; untere Zeile: links drei Judenhüte, fol. 43r, 46v, 50r, rechts drei Richterhüte, fol. 4v, 50r und 54r.

Edith Wenzel

Bovo d’Antona (Bovo-bukh) und Paris un Wiene Ein Beitrag zur jiddischen Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts

Die Anfänge der jiddischen Literatur liegen in Italien, so erstaunlich dies auch klingen mag; hier – und nicht etwa in den deutschsprachigen Gebieten, wie man es erwarten würde – entstanden die ersten großen Werke jiddischer Literatur.1 Zahlreiche jüdische Texte wurden im nördlichen Italien verfasst und publiziert, neben religiösen (hebräischen) Schriften auch weltliche (jiddische) Prosatexte und sogar zwei Vers-Romane, die – auf den ersten Blick zumindest – gar nicht in den Kontext jüdischer Diaspora zu passen scheinen: Es handelt sich dabei um das Bovo-bukh bzw. Bovo d’Antona von Elia Levita und den Roman Paris un Wiene, der anonym überliefert ist. Das nördliche Italien hatte sich im 15. Jahrhundert zu einem wichtigen religiösen und intellektuellen Zentrum für Juden entwickelt, hier war der Einfluss der aschkenasischen Kultur besonders prägend. Die Entstehung zahlreicher Druckereien, insbesondere in Padua, Cremona, Verona, Venedig und Mantua, zog viele Spezialisten aus den deutschsprachigen Gebieten nach Italien und führte zu einer erstaunlichen Anzahl jüdischer Publikationen, darunter auch jiddischer Texte,2 die sich an ein Publikum wandten, das sich trotz der Vertreibungen aus den deutschsprachigen Gebieten immer noch der jiddischen Sprache als Kommunikationssprache bediente, auch wenn die sie umgebende Kultur italienisch geprägt war. Wir wissen, dass allein in der Zeit von 1545 bis 1609 mindestens 33 jiddische Titel publiziert wurden – für die damalige Zeit eine erstaunlich hohe Zahl, denn Bücher waren auch im 16. Jahrhundert noch keine ›Massenware‹, da ihre Herstellung und Distribution mit hohen Kosten verbunden waren. Dies gilt umso mehr, wenn wir bedenken, dass jiddische Texte in Italien sich an eine sprachliche Minderheit innerhalb der jüdischen Minderheit richteten. Umso erstaunlicher ist daher die Vielfalt jiddischer Publikationen und auch deren z. T. aufwendige Publikationsform. Mit Recht spricht Erika Timm, der wir eine Vielzahl von einschlägigen Untersuchungen 1

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Chava Turniansky/Erika Timm (Hg.): Yiddish in Italia: Yiddish Manuscripts and Printed Books From the 15th to the 17th Century. Mailand: Associazione Italiana Amici dell’ Università di Gerusalemme 2003. Jean Baumgarten: Introduction to Old Yiddish Literature. Hg. und übersetzt von Jerold C. Frakes. Oxford: University Press 2005, S. 42ff. (Originalausgabe: Introduction à la littérature Yiddish ancienne. Paris: Les Éditions du cerf 1993). Chava Turniansky: La letteratura Yiddish nell’ Italia del cinquecento. In: Rassegna Mensile di Israel 62 (1996), S. 63-92, hier S. 68.

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Edith Wenzel

verdanken,3 von dem »italienischen Zeitalter« der älteren jiddischen Literatur, »das in mancher Hinsicht zugleich ihr goldenes Zeitalter genannt zu werden verdient.«4 Zu den literarisch interessantesten und aufschlussreichsten Beispielen jiddischer (fiktionaler) Literatur zählen das Bovo-bukh und Paris un Wiene, die im Zentrum unserer Ausführungen stehen sollen.

Elia Levita und sein Bovo-bukh Die Fachwelt ist sich einig darin, dass das Bovo-bukh (Bovo d’Antona) den frühen Meisterwerken der jiddischen Literatur zuzurechnen ist.5 Der Verfasser nennt sich selbst in seinem Prolog und gibt detaillierte Angaben, warum er dieses Buch publizieren will: Ir, Eliye Levi der shreyber, diner aler frumn weyber mit irn un mit tsukhtn un ikh los mikh alzo bedukhtn un steyt öukh vol tsu globn dos mir etlikhe vrauen vor ibl hobn worum ikh nit oükh vor zi druk meyner töutsher bikher eyn shtuk dos zi zikh mögn dinen der meyen un shabasos un yemin tovim dinen leyen nun mit warheyt zogn wil ikh es dukht mikh oykh zeyn rekht un bilikh da weyl ikh in der heylign geshrift ekht odr nayn bikher hon geshtift un mit der druk in di welt hon makhn kumen za hon ikh mir oukh vor genumen di veyl ikh halt an end maynr tagn un höut odr morgn kir ikh ouf di gagn do wern al meyne bikher un meyne lidr var gessen un geligt der nidr 3

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Erika Timm: Wie Elia Levita sein Bovobuch für den Druck überarbeitete. Ein Kapitel aus der italo-jiddischen Literatur der Renaissancezeit. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 72 [NF 41] (1991), S. 61-81; dies.: Die jiddische Literatur und die italienische Renaissance. In: Alte Welten – neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG). Bd. 1: Plenarvorträge. Hg. von Michael S. Batts. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 60-75; dies.: Paris un Wiene: ein jiddischer Stanzenroman des 16. Jahrhunderts von (oder aus dem Umkreis von) Elia Levita. Eingeleitet, in Transkription hg. und kommentiert von E. T. unter Mitarb. von Gustav Adolf Beckmann. Tübingen: Niemeyer 1996. Timm, Wie Elia Levita (wie Anm. 3), S. 61. Timm, Die jiddische Literatur (wie Anm. 3), S. 65ff.; Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 175ff.

›Bovo d’Antona (Bovo-bukh)‹ und ›Paris un Wiene‹

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drum zol mit keyns der vun rukn ikh will zi al nokh anandr drukn un wern ir halt nokh alzo vil wert mikh anders nit tsu kurts der tsil un will on heybn beshoe tove an dem dozign bukh dos da heyst BOVE.6 Ich, Elye Levi, der Schreiber, Diener aller frommen Frauen mit Ehre und Anstand, habe bemerkt – und das könnt ihr mir glauben – dass es mir viele Frauen übelnehmen, dass ich für sie noch keines meiner jiddischen Bücher (töutsher bikher) veröffentlicht habe, so dass sie sie zu ihrer Unterhaltung am Sabbath und an Feiertagen lesen könnten. Nun will ich euch die Wahrheit sagen: Es erscheint mir richtig und angemessen, denn ich habe bereits acht oder neun Bücher in der Heiligen Sprache geschrieben und als gedruckte Bücher in die Welt geschickt. Und so habe ich vor [meine jiddischen Bücher zu drucken], weil ich mich dem Ende meiner Tage nähere und ich heute oder morgen schon sterben könnte; dann würden alle meine Bücher und Lieder vergessen und beiseite gelegt werden. Und damit mir keines davon verloren geht, möchte ich alle publizieren, eines nach dem andern. Selbst wenn es zweimal so viele gäbe, kann mich nichts von diesem Ziel abhalten. Und ich will damit zu diesem glücklichen Zeitpunkt beginnen mit dem Buch, das Bovo genannt wird.

Dieses Vorwort liefert wichtige Daten zum Werk, zum Autor selbst und seiner Quelle: Elia Levita (Elye Bokher / Elia Levita Bachur), ein berühmter Verfasser hebräischer Schriften, bekannt als Hebräisch-Lehrer für hochrangige Diplomaten, Kleriker und Humanisten, nennt sich selbstbewusst als Autor dieses jiddischen Buches, das er über seinen Tod hinaus vor dem Vergessen bewahren und deshalb drucken lassen will. Der uns überlieferte Druck des Buches datiert auf das Jahr 1541, eine erste Version des Bovo-bukh hat der Autor nach eigenen Angaben 1507 fertig gestellt. Diese erste Fassung ist nicht überliefert, zwei spätere Handschriften sind uns zwar bezeugt, doch nur eine davon ist bis heute als Fragment erhalten.7 Gedruckt wurde das Buch in Isny von Paulus Fagius, einem bekannten christlichen Hebraisten, der Elia Levita nach Deutschland eingeladen hatte.8 6

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Das Bovo-bukh liegt in einem Faksimiledruck der Ausgabe von 1541 (Elia Levita [Elje Boher]: Bovobuch. Hg. von Juda A. Joffe, 1949) und in einer englischen Übersetzung vor (Elia Levita Bachur’s Bovo-Buch. A Translation of the Old Yiddish Edition of 1541 by Jerry C. Smith. Tucson: Fenestra Books 2003). Eine lateinschriftliche Edition fehlt bis heute. Ich zitiere an dieser Stelle die Transkription von Jean Baumgarten aus der Originalausgabe von 1993 (wie Anm. 1), S. 218. In der englischen Bearbeitung hat J. C. Frakes alle Zitate in hebräischen Lettern ausgedruckt und die Transkriptionen von Baumgarten eliminiert, vgl. das Vorwort von Frakes, S. XVII. Die Übertragung des Textes stammt von mir. Timm, Wie Elia Levita (wie Anm. 3), S. 65-72. Hier wurden auch einige der hebräischen Werke von Elia Levita gedruckt, u. a. das Meturgemon (Lexikon zu den aramäischen Bibelübersetzungen, Isny 1541), das Seyfer ha-bokhur (grammatisches Handbuch, Isny 1542) und das Schmous devorim (ein jiddisch-hebräisches Lexikon mit deutschen und lateinischen Erläuterungen von

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Elia teilt seinen Lesern weiter mit, dass er ein italienisches Buch ›übersetzt‹ habe. Neuere Forschungen haben ergeben, dass er einen italienischen Druck des Buovo d’Antona aus dem Jahre 1497 als Grundlage für seine jiddische Version benutzte.9 Diese italienische Quelle war in Stanzenform abgefasst. Die Stanze – in ottava rima (8 Verse im Reimschema AB AB AB CC) – war die beliebteste Form für italienische Versepen; Boccacio verwendete sie als Erster, aber auch die nachfolgenden Meister der italienischen Epik, Pulci, Boiardo und Ariost, verfassten ihre Epen in dieser anspruchsvollen Strophenform. In Deutschland wird die Stanze erst im 17. Jahrhundert übernommen. Elia Levita geht also ganz neue Wege: Er bricht mit der Tradition der altjiddischen Literatur, bezieht sich nicht länger auf deutschsprachige Quellen, die noch für die ersten altjiddischen Werke (Dukus Horant z. B.) prägend waren, und er bleibt auch nicht länger dem in der deutschsprachigen Epik vorherrschenden Paarreim verpflichtet, sondern überträgt die komplizierte Stanzenform aus dem Italienischen auf die jiddische Sprache – eine Erfindung, die die jiddische Dichtung fortan maßgeblich beeinflusste.10 Inhaltlich verbleibt Elia dem Modell des italienischen Romanzo Cavalleresco verpflichtet. Im Zentrum steht der männlich starke Held Bovo, dessen Lebensweg von Katastrophen, Hinterhalten, Lug und Trug gesäumt ist. Bovo ist der Sohn eines hochstehenden Grafen und einer Grafentochter, doch er muss schon früh seine Heimat verlassen, weil seine Mutter ihn nach dem Tod seines Vaters aus dem Wege räumen will. Mühselig schlägt er sich als Stalljunge durch, bis sich die Königstochter leidenschaftlich in ihn verliebt: ein wiederkehrendes Muster, denn Bovo übt auf die Frauen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Aber das Paar kann (zunächst) nicht zueinander kommen, wie es im Rahmen dieser ›Abenteuer‹-Romane nicht anders zu erwarten ist. Eine Reihe spannender Episoden, die von Reisen, Fluchten, Turnieren und Kriegen erzählen, werden nun zwischengeschaltet, bevor am Ende der Held, dank seiner unglaublichen Körperkraft und seiner Attraktivität, als Sieger dasteht, der seine gesellschaftliche Stellung wiedergewinnen und schließlich auch seine Geliebte, die Mutter seiner beiden Kinder, heiraten kann. Der Held Bovo entspricht dem Modell des Ritters, wie er in zahlreichen (christlichen) Epen vorgeprägt ist. Im Zentrum des Erzählgeschehens stehen seine körperliche Attraktivität und seine aristokratische Herkunft, die selbst in den Situationen äußerster Erniedrigung ihre Strahlkraft nicht verlieren. Der

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Paulus Fabius, Isny 1542); zu seiner umfangreichen Publikationstätigkeit siehe Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 168-174. Der Bovostoff war seit dem 13. Jh. europaweit bekannt, im anglonormannischen Bereich unter dem Titel Beuve de Hantone überliefert und in zahlreiche andere europäische Sprachen übernommen und überarbeitet. Zur Stoffgeschichte vgl. Timm, Wie Elia Levita (wie Anm. 3), S. 68 und Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 176. Timm, Die jiddische Literatur (wie Anm. 3), S. 66f. und Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 175.

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Erzähler konzentriert sich auf diesen Helden und seine öffentlichen Handlungen, innere Monologe gehören nicht zu diesem Heldenbild (›eindimensionaler Held‹), und auch die Erzählerkommentare halten sich durchaus im Rahmen dessen, was aus der mittelalterlichen epischen Literatur vertraut ist (etwa bei Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach). Mit der jüdischen Lebenswirklichkeit hat dieser Held nichts gemein: Wir bewegen uns im Ambiente der christlich-höfischen Kultur, in einer (Traum-) Welt männlicher Helden und schöner Frauen. Und doch hat Elia Levita an einigen Stellen dieses Ambiente durchbrochen und für seine jüdischen Rezipienten ›akzeptabel‹ gemacht: Die kleinen Söhne von Drusiana und Bovo sollen beschnitten – und nicht etwa getauft – werden, und auch die Hochzeiten werden dem traditionellen jüdischen Ritus entsprechend vorbereitet und gefeiert. Selbstverständlich sind alle Anrufe an Jesus, Maria usw. getilgt und durch die Anrufe an Adonai ersetzt; darüber hinaus verwendet Elia Levita eine Anzahl von Hebraismen, insbesondere solche, die sich auf das Alltagsleben beziehen. Vom shabes ist die Rede, von kale und khosn (Braut und Bräutigam) usw., masel tov darf nicht fehlen.11 Neben diesen hebräischen Termini zeigt das Bovo-bukh eine Reihe von Italianismen, Zeugnis für den Einfluss der Sprache der Majorität auf die Sprache der in Italien lebenden Juden. Elia Levita, der Sprachwissenschaftler, fügt seinem Druck ein kleines Glossar italienischer Wörter mit Erklärungen in Jiddisch bei für alle jene Rezipienten außerhalb Italiens, die er mit dem Druck seines Buches erreichen wollte.12 Die ›Mehrsprachigkeit‹ des Buches, seine Verankerung in der italienischen und der jüdischen Kultur ist ein mustergültiges Beispiel für die engen Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts. Elia Levitas Lebensweg steht als Exempel für diesen interkulturellen Austausch und seine Möglichkeiten, wenngleich er als Jude stets gefährdet war: »His was a precarious life on the margin, as a result both of the economic difficulties that confronted him, particularly in so far as his livelihood depended on the good will of the princes and patrons for whom he worked, and of the limits of his Christian hosts’ tolerance.«13 Geboren wurde er 1469 in Ipsheim bei Neustadt an der Aisch (in Franken).14 Um 1495 wanderte er nach Italien aus, verdiente seinen Unterhalt als Handschriftenkopist und Hebräischlehrer, 1506 bis 1507 verfasste er in Padua sein Bovo-bukh; 1509 verlor er in kriegerischen Wirren sein Hab und Gut, konnte sich aber nach Venedig retten. Seine nächste Station war Rom, wo er als Hebräisch-Experte in Diensten des Kardinals Egidio da Viterbo stand. Erneut verlor er seinen Besitz, als beim 11 12 13 14

Weitere Beispiele bei Smith, Bovo-Buch (wie Anm. 6), S. XXIVff. Timm, Wie Elia Levita (wie Anm. 3), S. 72-76. Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 167. Ich muss mich hier auf die bloßen Lebensdaten beschränken, eine ausführlichere Würdigung des Lebens und Werkes bietet Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 166-206.

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Sacco di Roma (1527) Söldnerheere die Stadt plünderten. Danach lebte und wirkte er erneut in Venedig als Hebräischlehrer berühmter Humanisten. In dieser Zeit entstand eine Vielzahl sprachwissenschaftlicher Arbeiten, die sein hohes Ansehen in den Kreisen italienischer und deutscher Humanisten stärkten. 1541 kehrte er – auf Einladung von Paulus Fagius – nach Deutschland zurück, um bei der Drucklegung seiner eigenen hebräischen und jiddischen Bücher präsent zu sein. 1543 war er wieder zurück in Venedig, wo er 1549 starb. Schon zu Lebzeiten galt er für jüdische und christliche Intellektuelle als Experte auf sprachwissenschaftlichem Gebiet, bekannt durch seine lexikalischen und grammatikalischen Werke, und er war zugleich als Dichter jiddischer Bücher anerkannt. Sein Bovo-bukh hat eine erstaunlich große und lang anhaltende Rezeption erfahren: Nach der editio princeps von 1541 sind uns Drucke aus Prag (1660), Amsterdam (1661), Frankfurt am Main (1691), Prag (1767), Frankfurt an der Oder (1796) überliefert, 10 weitere Editionen erschienen von 1824-1909 in Vilnius. Sie alle bezeugen die große und lang andauernde Popularität bis in das 20. Jahrhundert hinein.15 Ganz anders verläuft dagegen die Rezeption des zweiten großen jiddischen Romans, der ebenfalls in Italien entstanden ist, es handelt sich um das Buch von Paris un Wiene.16

Paris un Wiene Erst 1986 wurde in Italien ein vollständiges Druck-Exemplar dieses jiddischen Romans aufgefunden. Der Romanistin Anna Maria Babbi war bei ihrer Suche nach romanischen Fassungen des Stoffes von Paris und Vienna in der Biblioteca del Seminario Vescovile in Verona ein in hebräischen Lettern gedrucktes Exemplar von 1594 in die Hände geraten.17 Bis zu diesem Zeitpunkt war der Fachwelt zwar bekannt, dass die Geschichte dieses Liebespaares, die zu den erfolgreichsten Stoffen des 16. Jahrhunderts zählt,18 auch in einer jiddischen 15 16

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Alle Daten nach Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature (wie Anm. 1), S. 177. Teile der nachfolgenden Ausführungen wurden bereits veröffentlicht, vgl. Edith Wenzel: Von schönen Frauen, von Liebe und Abenteuer in der jiddischen Literatur des 16. Jahrhunderts: Zu »Paris un Wiene«. In: Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit. Hg. von Eveline Brugger und Birgit Wiedl. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2007, S. 287-306. Anna Maria Babbi: In margine alla fortuna del ›Paris un Vienna‹ (Appendice bibliografica). In: Quaderni di lingue e letterature 11 (1986), S. 393-397; und dies.: A proposito del ›Paris un Viene‹ di Elia Bahur Levita (Verona, Francesco Dalle Donne, 1594). In: Le Forme e la Storia 2 (1989), S. 129-137. Die Geschichte des Liebespaares war in vielen europäischen Sprachen verbreitet, u. a. in französischen, italienischen, russischen, schwedischen Versionen und in ei-

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Version existierte, man kannte aber nur einige Fragmente und den Titel des Werkes.19 Babbis Fund erwies sich als literarische Sensation; 1988 erschien eine Faksimileausgabe des neu aufgefundenen Druckes,20 und 1995 veröffentlichte Chone Shmeruk, einer der renommiertesten Kenner der jiddischen Literatur, eine Edition des jiddischen Textes in moderner hebräischer Schrift.21 Seit 1996 liegt eine vorbildlich kommentierte lateinschriftliche Edition von Erika Timm vor, die dieses einmalige literarische Werk einem Publikum öffnet, das bislang an den hebräischen Graphemen scheiterte.22 Im Zentrum des Romans steht die Liebesgeschichte des schönen Paris und der ebenso schönen Wiene. Paris ist der Sohn eines Grafen, und er verliebt sich unsterblich in Wiene, die Tochter des Königs. Die Liebenden können aber nur nach vielen Irrungen und Wirrungen zueinander kommen, denn der König verweigert die Eheschließung, weil der Grafensohn nicht ebenbürtig ist. Er will seine wunderschöne Tochter nur mit einem standesadäquaten Bewerber vermählen. Die beiden Liebenden entschließen sich deshalb zur Flucht, werden verfolgt und müssen sich trennen. Wiene muss zu ihrem Vater zurückkehren, Paris kann sich nach Genua retten und irrt dann ruhe- und ziellos durch die Welt. Der König plant erneut die Verheiratung seiner Tochter, doch sie weigert sich standhaft und beteuert immer wieder, dass sie nur einen Mann lieben könne und das sei Paris. Voll Zorn lässt der Vater die eigene Tochter in ein Verließ sperren. Während Paris zahllose Länder durchreist und Wiene im Kerker dahinvegetiert, reist der König in das Reich des Sultans, gerät in Ge-

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ner (nieder)deutschen Fassung. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts sind 13 Handschriften und 63 Drucke in 9 verschiedenen Sprachen überliefert. Vgl. Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler. Fortgeführt von Karl Langosch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil u. a. Völlig neu bearb. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 1978ff., Bd. 7, Sp. 306ff. Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. XIVff. Valerio Marchetti in Zusammenarbeit mit Jean Baumgarten und Antonella Salomoni (Hg.): Elia Bahur Levita: Paris un’ Viene, Francesco Dalle Donne, Verona 1594 [Faksimileausgabe]. Bologna: Arnaldo Forni Editore 1988. Chone Shmeruk/Erika Timm (Hg.): Paris un’ Wiene. Jerusalem: The Israel Academy of Science and Humanities 1995. Erika Timm spricht zwar von einer »lateinschriftlichen Verfremdung« des jiddischen Textes (Paris un Wiene, VIII) und verweist damit auf das oft diskutierte Problem der Edition altjiddischer Texte (vgl. Gerold C. Frakes: Accessibility, Audience and Ideology: On Editing Old Yiddish Texts. In: German Quarterly 59 [1986], S. 187-202), doch sie entscheidet sich für eine lateinschriftliche Version, um die ›Lesbarkeit‹ des Textes zu erleichtern: »Wo bereits eine Faksimile-Ausgabe und eine Ausgabe in heutiger hebräischer Quadratschrift vorliegen, musste es unser Ziel sein, eine möglichst große Leserschaft zu erreichen, die die hebräische Schrift nicht – oder nicht flüssig genug für die angemessene Rezeption eines literarischen Kunstwerks – beherrscht, doch dank ihres sprachlichen und kulturellen Hintergrundes zu einem intensiveren Verständnis als durch eine bloße Übersetzung fähig ist.« Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. XII.

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fangenschaft, wird dort von Paris gefunden und befreit. Zum Lohn erhält er nun die (immer noch) schöne Wiene zur Gattin. Die Geschichte ist hübsch erzählt und enthält alle Ingredienzien für einen literarischen Erfolg: die Liebe zwischen zwei jungen (adeligen) Menschen, deren Realisierung durch widrige Umstände verzögert wird, was die Spannung erhöht. Ritterliche Turniere, gefährliche Fluchten, unfreiwillige Reisen in fremde Länder und allerlei Listen geben dem Verfasser viele Möglichkeiten, die Liebesgeschichte auszuschmücken, um das Publikum zu unterhalten. Der Plot folgt dem in der europäischen Literatur verbreiteten Erzählmodell vom Verlieben, von Trennung und schließlicher Vereinigung der Liebenden.23 Es ist die äußere Welt, die die Liebesvereinigung stets bedroht; ungetreue Menschen, Schicksalsschläge, Todesgefahren stellen das Glück der Liebe, das sich die beiden Protagonisten, aber auch das Publikum, so sehr wünschen, immer wieder vor neue Hürden. Die erzwungenen Trennungen der Liebenden, ihre grenzenlose Liebe zueinander, führen im Liebes- und Reiseroman des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zur intensiven Darstellung der Gefühlswelt. Liebesaffekte, Liebesglück und Liebesleid werden in einer ausdifferenzierten Sprache der Liebe erzählt, die Emotionen und körperbetonten Gefühlsäußerungen rücken ins Zentrum des Erzählens.24 Das gilt erstaunlicherweise auch für den jiddischen Roman Paris un Wiene, der auf keinerlei Vorbilder in der hebräischen oder jiddischen Literatur zurückgreifen konnte, der sich auch in dieser Hinsicht deutlich vom Bovo-bukh unterscheidet. Neben diesen strukturellen und stilistischen Bezügen zur zeitgenössischen europäischen Romanliteratur lassen sich zahlreiche intertextuelle Bezüge zur italienischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts nachweisen. Offenbar war der Verfasser von Paris und Wiene im Italienischen gut bewandert und kannte die italienische Literatur seiner Zeit, wie etwa den Orlando Furioso von Ariost (1516), den Orlando Innamorato von Boiardo (1483), vermutlich auch Pulcis Morgante (1483);25 vor allem aber war er vertraut mit der spezifisch italienischen Versform der Großepik, der Stanze. Seine Vorlage war in Prosaform abgefasst, er selbst aber habe sein Buch in Reimen verfasst, wie er mit einigem Stolz anmerkt: Der es gÙmaʢcht hot in latein, der hǰt kain reim nit weleʢn schmekeʢn. 23

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Armin Schulz: Die Zeichen des Körpers und der Liebe. »Paris und Vienna« in der jiddischen Fassung des Elia Levita . Hamburg: Verlag Dr. Kovaþ 2000 (Poetica; 50), S. 13ff. Ingrid Bennewitz: ›Du bist mir Apollo‹ / ›Du bist mir Helena‹. ›Figuren‹ der Liebe im frühneuhochdeutschen Prosaroman. In: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Hans-Jürgen Bachorski. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1991 (LIR 1), S. 185-210. Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. LV-LXXIII mit zahlreichen Nachweisen.

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nun hab ich mut, ich will das mein reimeʢn durch-ous in aleʢn ekeʢn. (11, 1-4) Derjenige, der es in Latein (= d.h. italienisch) verfasst hat, der hat keinen Geschmack am Reim gefunden. Ich aber habe Mut und will mein Buch durch und durch an allen Enden reimen.

Der Druckversion von 1594 ist ein Titelblatt26 beigegeben, dem wir interessante Informationen entnehmen können: Gedruckt wurde das sefer (das Buch) in Beren (Verona) im Jahr 5354 im Monat Schewat (= Januar 1594). Wir erfahren ferner, dass das Buch »ous kriĝteʢn-šprǰch wordeʢn gÙnumeʢn un’ in töutscheʢn šprǰch gÙmacht wordeʢn, un` is andeʢrÙ mǰlt wordeʢn gÙdrükt, abeʢr niɸ in sölcheʢn gÙštaʢlt noch in sölchÙ letrÙs, hüpsch un’ bÙschaidlich mit al seinÙ gÙmölz, as ir wert wol seheʢn.«27 Wir entnehmen dem Titelblatt also das Jahr des Druckes, den Verlagsort und wir lesen ferner, dass es das Buch bereits vorher gegeben hat, allerdings nie in dieser Form und nie in hebräischen Lettern. Das Buch ist also kein »Original«, sondern eine Art von Übersetzung. Was aber bedeutet kristen-sproch? In der Einleitung zu seinem Werk erklärt der Verfasser selbst den Sachverhalt wie folgt: Wen ich gÙdenk an die hertÙ saʢch, dǰ muĝ ich gleich sifzeʢn un` hischteʢn. nun will ich eich mÙn saʢgeʢn ach – das ir nit maint, ich gÙɸ mit lišteʢn – ich sag, das buch daʢĝ ich do mach, daʢĝ fint maʢn for in šprǰch der krišteʢn, un` fil habeʢn es gÙlait un` wereʢn es keneʵ: es haiĝt, un’ ich haiĝ es ach, ›Paʢris un’ Wieneʵ‹. (10, 1-8) Wenn ich an diese schwere Aufgabe denke, so muss ich gleich seufzen und schluchzen. Und ich muss euch noch mehr sagen, damit ihr nicht meint, dass ich betrügen will – ich sage euch also, das Buch, das ich hier verfasse, das findet man in der Christensprache, und viele haben es gelesen und werden es kennen: es heißt – und so nenne ich es auch – »Paris und Wiene«.

Der Verfasser erklärt also vorweg, er habe für dieses Buch eine Vorlage besessen, deren Kenntnis er – erstaunlich genug – auch bei seinem Publikum voraussetzt. An späterer Stelle stellt der Autor selbst klar, dass seine Quelle in »welscher Sprache« vorliege (428, 1) und dass er davon ausgehe, dass einige dieses »welsche« Buch bereits gelesen hätten. Er fühlt sich deshalb bemüßigt, 26 27

Abbildung des Titelblattes bei Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. CLI und Transkription, S. 203. Es wurde aus der Christensprache übernommen und in deutscher Sprache verfasst, und ist [bereits] mehrmals gedruckt, aber nie in solcher Form oder solchen Buchstaben, hübsch / höfisch und belehrend mit all seinen Bildern, wie ihr wohl sehen werdet.

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sich diesem Publikum gegenüber abzusichern, wenn er von seiner Vorlage abweicht: Daʢĝ dǰsig buch in welscheʢn šprǰch, daʢĝ schreibt gar lang in aleʢn ekeʢn. ich will im nit mÙn schreibeʢn nǰch; vil übÙrigÙ wort lǰĝ ich nun štekeʢn. süĝt wurd mir mein büchleʢn zu hǰch, un’ diɸ zeit wurd mich daʢrzu nit klekeʢn. drum wer es hǰt gÙlait ࠥǰr-an in welscheʢn, mǨin nit, daʢĝ ich eĝ dǰheʢrum wil velscheʢn. (428, 1-8) Das Buch in welscher Sprache, das beschreibt alles sehr lang und in allen Details. Ich will aber nicht mehr davon schreiben und lasse alle weiteren Worte stecken, sonst wird mir mein Büchlein zu dick, und die Zeit würde mir dazu nicht reichen. Deshalb soll derjenige, der es vorher in welscher Sprache gelesen hat, nicht meinen, dass ich es hier verfälsche.

Der Begriff »welsch« kann sowohl die französische als auch die italienische Sprache umfassen. Aus dem vorliegenden Druck-Exemplar lässt sich jedoch zweifelsfrei erschließen, dass mit »welscher Sprache« die italienische gemeint ist; im Text selbst finden wir zahlreiche italienische Redewendungen, Höflichkeitsformeln und geographische Angaben, die sich vornehmlich auf Norditalien beziehen.28 Bei dem vom Verfasser anvisierten Publikum handelt es sich um Juden, die Italienisch verstehen und lesen können, die aber noch immer in der töutschen sproch beheimatet sind. Dass die Vorlage in italienischer Sprache verfasst war – auch wenn der Autor von latein (11, 1) spricht – steht nach eingehender Überprüfung der lateinischen, französischen und italienischen Überlieferung durch E. Timm fest. Ihr Fazit lautet: »Unser Dichter benutzt als Quelle die italienische Prosa-Drucktradition und nur diese; seine unmittelbare Vorlage war freilich kein einzelner der 18 heute textlich bekannten vor 1556 erschienenen Drucke, sondern entweder ein heute verschollener Druck wohl aus der Zeit um 1520 oder aber mehrere der genannten Drucke, darunter dann mindestens einer aus der Zeit nach 1520.«29 Die Welt, in der die Liebesgeschichte von Paris und Wiene spielt, ist eine höfische Welt, so wie sie uns aus den höfischen Versepen seit dem Mittelalter vertraut ist. Es ist eine Welt der Schönen und Reichen, mit höfischen Festen, Ritterspielen, eine Welt, in der man keine körperliche Arbeit leisten muss und Geld nur ausnahmsweise eine Rolle spielt. Ohne Zweifel ist diese Erzählwelt der jüdischen Alltagserfahrung fremd, Namen und Stand der handelnden Per28

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Dazu gehört die Invektive gegen die ungastlichen und arroganten venezianischen Juden (374-378), die selbst wenn man lange im get = im Ghetto von Venedig (1516 gegründet) herumspaziere, immer noch kein Zeichen von Gastfreundschaft erkennen lassen und die sich für die Herren von Venedig halten, alle anderen aber als lap, als Dummköpfe und Bauern ansehen. Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. XXXIII.

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sonen signalisieren die Zugehörigkeit zur Aristokratie – und diese ist christlich, was dem Publikum zweifellos klar sein musste. Deutlich zeigt sich dies in den Portraits der beiden Hauptdarsteller, in denen uns der Autor eingehend über die Jugend und den Bildungsweg von Paris und Wiene unterrichtet. Paris erhält die typische Ausbildung eines adeligen jungen Mannes, er wird eingewiesen in die Kunst der Musik, des Tanzes, in die Falkenzucht, in Jagd und Turnier, kurz, er wird erzogen im Sinne des huomo universale, des Idealbildes der Renaissance. Wienes Erziehung fällt etwas einseitiger aus: Sie lernt mit den »Nadeln« geschickt umzugehen, sie ist gebildet und kann lesen und schreiben, vor allen Dingen ist sie schön aber auch tatkräftig, denn in vielen Episoden trifft sie die Entscheidung über den weiteren Verlauf, sie widersetzt sich ihrem despotischen Vater, während Paris oft genug in einem passiven Klagegestus verbleibt. Der Autor war bei den Namen und dem sozialen Status an seine Vorlage gebunden, er hätte hier nichts ändern können, ohne die Struktur des Textes grundlegend zu verändern. Es gibt allerdings einige Passagen, wo er behutsam und sehr witzig seinen Text gegenüber der Vorlage ändert und ihn für ein jüdisches Publikum aufbereitet. Einige Beispiele möchte ich hier anführen. Wienes Vater, der König Dolfin, ist dazu ausersehen, in heimlicher Mission, als Pilger verkleidet, zum Heiligen Grab zu reisen. Nun ist die Bezeichnung »Heiliges Grab« für Juden verständlicherweise vorbelastet, und so ändert unser jüdischer Dichter den Text geschickt um: Nicht ans »Heilige Grab« will der König ziehen, sondern der eltern grab (504, 3) soll sein Reiseziel sein, die Gräber der jüdischen Vorväter aber liegen im Heiligen Land.30 An anderen Stellen verkürzt der Autor seine Vorlage, wenn sie sich allzu sehr an christlichen Motiven orientiert. Sein Held Paris begibt sich nicht als Pilger nach Rom und besucht nicht das »Heilige Grab« in Jerusalem, wie in der italienischen (christlichen) Vorlage zu lesen ist. Selbstverständlich sind auch jene Passagen ausgespart, in denen berichtet wird, dass dieser Paris nach seiner Hochzeit so vorbildlich nach den christlichen Gesetzen lebte, dass bei seinem Tode sogar Wunder geschahen. Hier sind die deutlichen Eingriffe des Autors zu erkennen, die der »Entchristlichung« des Textes dienen.31 An einigen Stellen aber »judaisiert« der Autor seinen Text in dem Sinne, dass seine Protagonisten sich wie Juden verhalten. Ein typisches Beispiel dafür ist die Schluss-Szene des Romans, die uns die Verheiratung der beiden Liebenden schildert. Der König, der Paris sein Leben verdankt, ordnet schnell – und ein wenig überstürzt – die Verheiratung seiner Tochter Wiene mit Paris an. Er lässt einen güldenen Ring kommen, in den er, jüdischem Brauch entsprechend, das masel tov einritzen lässt, während alle anderen sonst üblichen Hochzeitsvorbereitungen wegfal-

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Ebd., S. CXXIVf. Weitere Hinweise zur »partiellen Entchristlichung« des Textes bei Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. CXXIIIff.

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len.32 Anstelle aufwendiger Hochzeitsvorkehrungen lädt der König zu einem üppigen Fest – »zu eĝeʢn, trinkeʢn, špileʢn un` zu tanzeʢn« (697, 8), das einen ganzen Monat dauern soll. Währenddessen enteilen die beiden Liebenden in ihre Schlafkammer, wobei uns der Autor mit einem vertraulichen Augenzwickern zu verstehen gibt, dass das Glück es so wollte, dass die Braut »rein« – im Sinne des jüdischen Rituals – war: Her gәʜt, wiɸ war in das ain vraid, wiɸ war in diɸ kameʢr ain ǰšer! kain šǰmer durft diɸ Ùdel maid, daʢĝ masel wolt, daʢĝ siɸ was cǰšer. siɸ lÙgteʢn sich ǰt alÙ baid. un` sǰl ich öuch sageʢn den jǰšer – si traibeʢn sogaʢr vil der gÙberdeʢn im bet do siɸ lageʢn, diɸ buleʢr werden. (705, 1-8) Herrgott, was für eine Freude war es für die beiden, was für ein Reichtum war für sie die Kammer! Keinen Bewacher brauchte die edle Jungfrau, das Glück wollte es, dass sie rein war. Sie legten sich beide bald nieder. Und ich will euch die Sache ohne weitere Umschweife sagen: Sie, die ehrenwerten Geliebten, trieben so allerlei in dem Bett, in dem sie lagen.

Dergleichen behutsame Veränderungen können wir an vielen Stellen bemerken: Der Verfasser macht also keine Versuche, den Plot und die agierenden Personen grundlegend zu »judaisieren«, aber er gibt immer wieder zu verstehen, dass hier ein jüdischer Autor für ein jüdisches Publikum schreibt. Wer aber war dieser Autor? Im Prolog thematisiert das Sprecher-Ich die Frage nach dem Verfasser, allerdings mit einer überraschenden Pointe: Seinen Namen werde das Buch verschweigen, aber jeder, der es lese, werde den Verfasser erkennen: Drum saʢgt das buch ouf diseʢm štaʢnd, es wil mein nameʢn nirgeʢz neneʢn. kumt es aineʢm menscheʢn nöuɸeʢrt zu haʢnt, sǰ halt ich wol, es wert mich keneʢn. (8, 1-4) Darum sagt das Buch bei diesem Stand der Dinge, dass es meinen Namen nirgendwo nennen wird. Wenn es aber irgendwo einem Menschen in die Hand kommt, so bin ich sicher, dass er mich (er)kennen wird.

Anstelle des eigenen Namens taucht in der dritten Prologstrophe der Name Elje Beher (Elia Bahur) auf. Ihn feiert der Autor von Paris un Wiene als seinen weisen Lehrer und Verfasser zahlreicher Bücher, und das Sprecher-Ich betrauert, dass sein Meister das Land verlassen habe: 32

Zu den sonst üblichen Hochzeitsvorbereitungen siehe Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. 193, Anm. 1-5.

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ich man den alteʢn rabi Elje Beheʢr. sein naʢmeʢn lebt al zeit un` tut nit šterbeʢn; das sein diɸ bücheʢr, di er hot tun deʢrwerbeʢn. (3, 6-8) Ich meine den alten Lehrer Elija Boher. Sein Name lebt weiter fort und wird nicht sterben wegen der Bücher, die er verfasst hat.

Das Sprecher-Ich des Prologs stellt sich also in der Rolle des Meisterschülers dar, der noch einmal die vielen Schriften und Bücher des Elia Bahur in Erinnerung ruft, um ihn zu feiern und vor den Anfeindungen und Nachahmern zu schützen, die seinen Namen missbraucht hätten (6, 1-8). Dies sei ein Grund, warum das Buch von Paris und Wiene seinen – also den Namen des Verfassers – verschweigen werde. Diese Begründung ist außergewöhnlich, und sie hat zu einer intensiven Auseinandersetzung um die Frage geführt, ob sich hinter der Inszenierung einer anonymen Autorschaft nicht doch der berühmte Elia selbst verberge. In der Tat gibt es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Bovo-bukh des Elia Levita und dem Roman Paris un Wiene: Beide sind in Stanzen abgefasst, beide beruhen auf einer italienischen Vorlage. Auch in sprachlicher Hinsicht lassen sich deutliche Parallelen zwischen den beiden Werken nachweisen. Da der Roman Paris un Wiene in der Zeit vor 1556, »wahrscheinlich zwischen 1537 und 1550 entstanden«33 ist, könnte er durchaus von Elia Levita stammen. Erika Timm hält es deshalb für wahrscheinlich, dass Paris un Wiene tatsächlich von Elia Levita geschrieben wurde, dass er aber incognito bleiben wollte und deshalb seine Autorschaft hinter der Maske seines angeblichen Schülers verborgen halte. Als Grund führt sie u. a. an, dass Elia »sich in den Augen des Rabbinates zu einem Enfant terrible entwickelt [hatte]: er verfertigte, wie zumindest das Bovobuch erweist, aus nichtjüdischen Stoffen jiddische Liebesromane, die den Rabbinern schon prinzipiell (und auch speziell durch die unbefangene Handlungsweise der weiblichen Hauptperson) als frivole Lektüre erscheinen mussten.«34 Als stichhaltiges Gegenargument gilt, dass Elia Levita alle anderen seiner Bücher selbstbewusst mit seinem Namen versehen hat. Außerdem ist zu bedenken, dass das Bovo-bukh durchaus erfolgreich war. Chone Shmeruk vertritt deshalb die Gegenthese: Er geht davon aus, dass tatsächlich ein Schüler des Elia dieses kleine Kunstwerk verfasst habe, denn »non si conosce nessun altro caso di opere in ebraico o in yiddish di cui Elia Bahur non si fosse esplicitamente attribuito il merito. [...] Vi è allora la possibilità che l’autore di Paris un Viene sia un ammiratore e affezionato allievo di Elia Bahur.«35 Shmeruk geht deshalb davon aus, dass der Roman nach dem Tode des verehrten Meisters 33 34 35

Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), S. CXXXVII. Ebd., S. CXLII. Chone Shmeruk: Studi su Paris un Viene. In: Rassegna Mensile di Israel 62 (1996), S. 93-124, hier S. 122.

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entstanden sei: »L’interpretazione dei versi qui citati [3, 7-8, s. o.] è dunque univoca: il dolorosa annuncio dell’ abbandono da parte die Elia Bahur del mondo dei vivi. E se quindi – come io credo – l’autore dell’introduzione e quello del resto del libro sono la stessa persona, ciò significa che l’opera è stata composta dopo la morte dell’amato e venerato maestro.«36 Die Suche nach der Identität des Autors wird darüber hinaus durch den Text selbst erschwert, denn das Sprecher-Ich tritt in unterschiedlichen Rollen auf.37 Als text-externer Sprecher meldet sich der Autor an den Cantoeingängen mit auktorialen Reflexionen, Kommentaren zur Handlung selbst oder ganz allgemein zum Lauf der Welt zu Wort, an den Cantoschlüssen erklärt der Autor – wiederum in text-externer Position – dass er nun aufgrund seiner körperlichen Verfassung eine Pause benötige, weil er jetzt müde sei (104, 8, ähnlich 167, 8 u. ö.), oder weil seine Kehle nun so ausgetrocknet sei, dass er sie »schmieren« müsse, bevor er mit dem Erzählen fortfahren könne (248, 7-8). Das SprecherIch mischt sich aber auch auf der Erzählebene ein, behauptet also selbst Teil des Erzählten zu sein. So entscheidet der Sprecher darüber, ob ein Protagonist aus der Erzählung verschwindet und ob er ihn wieder einfügt, indem er sich selbst auf die Suche macht: In lǰĝ ich in der keich gar schwach, as er liĝ sein tǰchteʢr un` kindeʢn, un` Paʢris wil ich gÙn sucheʢn ach, Ù er mir ist ganz gar ࠥǰr-schwindeʢn. es ist as lang, daʢĝ ich in nit sach, daʢĝ ich in schir nit waiĝ zu vindeʢn. (538, 1-6) Ihn [den König Dolfin] will ich ganz geschwächt im Kerker zurücklassen, so wie er seine Tochter, sein Kind, zurückließ, und Paris will ich suchen gehen, ehe er mir ganz entschwunden ist. Es ist schon so lange her, dass ich ihn gesehen habe, sodass ich ihn kaum noch finden kann.

Der Erzähler »führt ostentativ Regie, zum einen über den Vorgang des Erzählens, zum anderen über die erzählte Geschichte«.38 Zwar fühlt sich das Sprecher-Ich immer wieder an seine Vorlage (»das Buch«) gebunden, als Autor aber distanziert sich dieses »Ich« wiederholt von seiner Quelle und teilt dem Publikum mit, warum es sich nicht an die Vorlage gebunden fühlt: Das buch, daʢĝ nent di riteʢr wol, abeʢr ich wil ir nemeʢn nit jeheʢn. ich sagÙtĝ ࠥǰr un` sagĝ nǰch ain mǰl: ir kent ir kain nǰch hot siɸ niɸ gÙseheʢn. (139, 1-4) 36 37

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Ebd., S. 121. Shmeruk (ebd., S. 118) hat als erster auf dieses Spiel aufmerksam gemacht. Eine eingehende Analyse liefert Schulz, Die Zeichen des Körpers und der Liebe (wie Anm. 23), S. 16-40. Schulz, Die Zeichen des Körpers und der Liebe (wie Anm. 23), S. 22.

›Bovo d’Antona (Bovo-bukh)‹ und ›Paris un Wiene‹

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Das Buch nennt die Ritter genau, aber ich will ihre Namen nicht sagen. Ich sagte es bereits und sage es noch einmal: ihr kennt keinen von ihnen und habt sie auch nie gesehen.

Der Erzähler reflektiert und ironisiert so seine Bindung an seine Quelle und an sein Publikum. Er selbst spielt die Rolle des allmächtigen Autors, der sein Spiel aber kontinuierlich reflektiert und kommentiert und somit die Fiktion des Erzählens offen legt. Dieses raffinierte Spiel mit unterschiedlichen Rollen, mit der Erzählung und mit dem Publikum durchzieht den gesamten Roman. Vielleicht gehört auch die Maskerade einer anonymen Autorschaft zu dieser raffinierten literarischen Selbstinszenierung, mit der sich der Erzähler leitend und kommentierend in die Erzählung einbringt, jegliche Auskunft über den Autor verweigernd aber zugleich davon ausgehend, dass ein kenntnisreiches Publikum die Identität des Autors erschließen könne. Angesichts dieses hochartifiziellen Spiels wird – vorerst zumindest – eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Identität des Autors noch offen bleiben müssen. Und eine weitere Frage muss in diesem Kontext gestellt werden: Warum war Elia Levitas Bovo-bukh bis in das 19. Jahrhundert hinein ein Erfolg, während Paris un Wiene nicht weiter tradiert wurde. Beide Bücher haben ganz ähnliche Entstehungsbedingungen: Sie präsentieren beliebte europäische Erzählstoffe, basieren auf italienischen Vorlagen und sind in der exquisiten Stanzenform abgefasst. Beide sind mit Bedacht »judaisiert«, verändern den Text der Vorlagen so, dass das Erzählte für ein jüdisches Publikum akzeptabel wird, ohne dass der Grundtenor der höfischen Erzählwelt grundlegend verändert würde. Beide Texte sind in hebräischen Lettern in jiddischer Sprache publiziert, wenden sich also ausschließlich an ein jüdisches Publikum, das der ›alten‹ deutschen Sprache der Juden verpflichtet ist; zugleich verweisen die zahlreichen Italianismen auf den Entstehungsort Italien und die dort ansässigen jüdischen Gemeinden, die Setzer und Drucker aus den deutschsprachigen Gebieten an sich binden konnten – Fachleute für Bücher und Literatur, die im Italien der Renaissance mit seinem ausgesprochenen Buchkult hoch angesehen waren.39 Im Fall von Paris un Wiene spricht vieles dafür, dass diese jiddische Romanversion sich in erster Linie an die bilingualen aschkenasischen Juden in Italien wendete, denn die zahlreichen Italianismen40 waren vermutlich nur für Juden verständlich, die in Italien selbst lebten. Und es sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, dass der Verfasser von Paris un Wiene sich nach eigenen Worten an ein Publikum wenden will, dem dieses Buch in seiner italienischen Fassung schon vertraut war. Elia Levita, der Autor des Bovo-bukh, hatte diese sprachliche Hürde erkannt und deshalb eine Umarbeitung seines Buches vorgenommen, in der er einen Teil der Italianismen tilgte und für die verbleibenden ›Fremdwörter‹ ein Glossar anfertigte, um sein Buch 39 40

Attilio Milano: Storia degli Ebrei in Italia. Torino: Giulio Einaudi editore 1992, S. 639ff. Siehe Timm, Paris un Wiene (wie Anm. 3), Glossar II, S. 212-217.

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auch außerhalb Italiens verbreiten zu können. Bei Paris un Wiene fehlen uns jegliche Hinweise auf dergleichen sprachliche Hilfen, die den Roman für ein Publikum außerhalb des italienischen Sprachraumes hätten verständlicher machen können. Und so bleibt uns – zumindest beim augenblicklichen Stand unseres Wissens – nur das Fazit, dass mit Paris un Wiene ein einzigartiges Zeugnis für eine literarische Symbiose vorliegt, deren Rezeptionsraum allerdings auf Italien beschränkt und der eine weitere literarische Wirkung verwehrt blieb.

J. Friedrich Battenberg

Ein ›Palästina‹ mitten in Hessen? Die Juden des Buseckertals zwischen Reich und Landesherrschaft*

I. Das Busecker Thal ist ein klein Palästina, wiewohl von der schmutzigsten Gattung. Mit diesen Worten kommentierte der ganz von Ideen der Aufklärung beeinflusste Staatsrechtslehrer und hessen-darmstädtische Leitende Minister Friedrich Carl von Moser1 1776 die Situation der Juden im Buseckertal östlich von Gießen.2 Der verfassungsrechtlich bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 nie ganz geklärte Status der vollkommen von hessischem Hoheitsgebiet umschlossenen Ganerbschaft Buseckertal, deren adelige Herren sich selbst als Mitglieder der Mittelrheinischen Reichsritterschaft – mit Sitz auf der nahegelegenen Reichsburg Friedberg – fühlten,3 die aber von den Landgrafen von Hessen als landsässige Mitglieder ihres Hoheitsgebiets in Anspruch genommen wurden.4 Die bis zum Reichshofrat in Wien mit wechselnden beiderseitigen Erfolgen geführten Prozesse, die u. a. den Schutz über *

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Ich möchte mit diesem kleinen Beitrag nicht nur dem Jubilar zu seinem 65. Geburtstag gratulieren, sondern ihm zugleich für die nun schon längere Zeit währende Kooperation in gemeinsamen Projekten – Juden in der Aufklärungszeit, Zeitschrift Aschkenas – danken. Die mir als Verfassungs- und Rechtshistoriker neue Zusammenarbeit mit einem so exzellenten Literaturhistoriker hat mich in Perspektiven der kulturorientierten Geschichtsbetrachtung eingeführt, die ich vorher eher verdrängt habe. Barbara Dölemeyer: Friedrich Carl von Mosers Reformprogramm für HessenDarmstadt. In: Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte. Hg. von Bernd Heidenreich. Wiesbaden: Hessische Landeszentrale für pol. Bildung 1999 (Kleine Schriftenreihe zur hessischen Landeskunde; 7), S. 151-162. Rosy Bodenheimer: Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberhessen von ihrer frühesten Erwähnung bis zur Emanzipation. Gießen 1931, S. 25, nach einem heute verlorenen Gutachten im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (im Folgenden: StAD). Hierzu J. Friedrich Battenberg: Zwischen Reich und Territorialstaat. Zur Situation der Reichsritterschaft im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 7 (1986), S. 29-59 (zu einer vergleichbaren Situation in der Herrschaft Schlitz in Oberhessen). Wilhelm Lindenstruth: Der Streit um das Busecker Tal. Ein Betrag zur Geschichte der Landeshoheit in Hessen. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 18 (1910), S. 85-132, und ebd. 19 (1911), S. 67-238 (im Folgenden als Teil 1 bzw. Teil 2 zitiert), hier insb. Teil 2, S. 100-143.

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die Judenschaft betrafen, hatten unmittelbare Auswirkungen auf die alltäglichen Lebensbedingungen der ganerbschaftlichen Juden. Wie so häufig in vergleichbaren Herrschaftsverhältnissen, die zumeist in Fiskalinteressen der Obrigkeit ihre Ursache hatten, konnten die Juden nicht unerheblich von einem verfassungsrechtlichen Schwebezustand profitieren. Erst mit einer 1797 erfolgten Belehnung der Busecker Ganerben durch Landgraf Ludwig X., die unter ausdrücklicher Berufung auf die commissio perpetua Kaiser Karls V. von 17255 erfolgte, trat der hessische Landesherr als Schutzherr der Busecker Juden faktisch an die Stelle des Kaisers.6 Mit Edikt des Großherzogs von Hessen vom 1. Dezember 1807 wurde das Recht zur Aufnahme von Juden (ius recipiendi iudaeos) durch adelige Gerichtsherren, auch die des Buseckertals, aufgehoben.7 War die Äußerung des Ministers Moser noch von einem aufklärerischen Impetus und dem Bestreben getragen, die damals 63 Familien umfassenden Juden des Buseckertals8 in die zu reformierende Landgrafschaft zu integrieren, um damit in kameralistischem Interesse eine intensivere Kontrolle über sie auszuüben,9 wurde mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus seit dem 19. Jh. der »Paradiescharakter« negativ konnotiert. Dafür steht eine in den Jahren 1928/29 entstandene Abhandlung des Verfassungshistorikers Wilhelm Arnold, der unter Berufung auf Klagen des im Buseckertal wirkenden Pfarrers Hermann Andreas Hoffmann10 über die Busecker Juden äußert:11 Man liebte einen billigen Prunk; es fand sich mehr Geflitterdärm als Ächtheit und Gediegenheit. Der Jude ist eben der morgenländischen Art treu geblieben, wie er auch gleich den stammesverwandten orientalischen Völkerschaften viel auf 5

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Urkunden von 1725 Januar 19 und Juli 3, bei: J. Friedrich Battenberg (Bearb.): Archiv der Familie von Buseck und der Ganerbschaft Buseckertal (Bestände B 14 und F 28), (1265) 1332-1913. Darmstadt: Historische Kommission 2000 (Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt; 46), S. 188 Nr. 532 und 533. Urkunde 1797 August 22, Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 211 Nr. 596. Hinsichtlich der gerichtsherrlichen Rechte über die Juden zog sich der Streit jedoch noch bis 1848 hin, s. Lindenstruth, Der Streit (wie Anm. 4), Teil 2, S. 138-143. Gutachten von ca. 1810, StAD, F 28 Nr. 29. Ich schreibe »Buseckertal« im Folgenden jeweils in einem Wort, da dies der regelmäßigen Schreibweise in den Quellen entspricht. Bodenheimer, Beitrag (wie Anm. 2), S. 25. Nach ihr (und den Aussagen des v. Moser’schen Gutachtens) lebten damals im gesamten Oberfürstentum Hessen (außer Gießen selbst) nur 53 jüdische Familien, so dass das kleinräumige Buseckertal für den hessischen Landesfürsten als fiskalisch außerordentlich interessant erscheinen musste. Hermann Andreas Hoffmann aus Gießen (1656-1742), 1668 an der Landesuniversität Gießen immatrikuliert, ab 1680 Pfarrer in Rödgen, Wilhelm Diehl (Hg.): HessenDarmstädtisches Pfarrer- und Schulmeisterbuch. Friedberg: Selbstverlag 1921 (Hassia Sacra; 1), S. 271. Wilhelm Arnold: Historisch-topographische Beschreibung des Buseckertals und seiner Bewohner. Ms. im StAD, C 1 C Nr. 68; dort Kapitel »Über die Juden im Buseckertal«, S. 57-66; Zitat S. 63 (= Bl. 35).

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Schmückung des Körpers hält [...]. Der Jude ist eben überall Jude. Für Arnold jedenfalls bestätigte der Wohlstand der ganerbschaftlichen Juden sein Bild vom »orientalischen Juden«, einem judenfeindlichen Stereotyp.12 Innerhalb der hier zur Verfügung stehenden wenigen Seiten können weder die Alltagsgeschichte der Juden des Buseckertals noch deren rechts- und verfassungsgeschichtliche Grundlagen analysiert werden.13 Nach einigen einleitenden Bemerkungen zur Ganerbschaft Buseckertal soll deshalb im Rahmen einer Fallstudie ein vor der landgräflich-hessischen Regierungskanzlei in Gießen geführter Prozess herausgegriffen werden, der als pars pro toto für die Einschätzung der Gesamtsituation stehen soll.

II. Das wohl erstmals 1265 erwähnte iudicium de Buchesekke14 befand sich spätestens 133715 als Reichslehen in Händen der miteinander verschwägerten oberhessischen Adelsfamilien v. Buseck und v. Trohe.16 Als sog. Ganerben waren sie Inhaber einer ritterlichen Gemeinschaft zur gesamten Hand, die nicht geteilt werden konnte.17 Zur Ganerbschaft zählten die neun Dorfschaften Großen- und Alten-Buseck, Beuern, Rödgen, Reiskirchen, Burkhardsfelden, Oppenrod, Albach und Bersrod, gelegen zwischen den beiden landgräflichen Städten Gießen und Grünberg.18

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Zur »Orientalisierung« der Juden s. Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 242-246. S. auch: Nicoline Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450-1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Heidelberg: Winter 2005 (Sprache – Literatur und Geschichte; 28), insb. S. 185-188. Der Autor plant dazu im Rahmen des Projekts »Jüdisches Heiliges Römisches Reich« (Stephan Wendehorst/Andreas Gotzmann/Karl Härter) eine umfassendere Analyse. Die einzige neuere Gesamtdarstellung stammt von Günter Hans: Juden im Busecker Tal. In: Ders.: Buseck – seine Dörfer und Burgen. Buseck: Gemeinde Buseck 1986, S. 44-68. Urkunde von 1265 Oktober 31, Abdruck bei: Lindenstruth, Der Streit (wie Anm. 4), S. 181, Nr. 2; Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 1, Nr. 1. Damit ist andernorts auf 1245 datierte Quelle gemeint: Ludwig Jung: Heimatbuch der Gemeinde GroßenBuseck. Heuchelheim-Gießen: Kreiling 1951, S. 120f. Lehnsbrief Kaiser Ludwigs des Bayern von 1337 April 28, Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 1f., Nr. 3. Stammtafeln zu den beiden Familien v. Buseck und v. Trohe (angefertigt von Elke Noppes) bei: Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), Tafeln I-VIII (nach S. 348). Werner Ogris: Art. »Ganerben«. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) 1, 2. Aufl. Berlin: Schmidt 2008, Sp. 1928-1930. Gutachten von ca. 1810, StAD, F 28 Nr. 29.

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Erstmals 1357 hatten sie sich in einem Burgfrieden organisiert,19 der 1430 dann seine endgültige Form erhielt, auf die alle späteren Mitglieder der Familie vereidigt wurden.20 Seither wurden jeweils 2 Mitglieder der Familien v. Buseck und v. Trohe aus ihrer Mitte als »Vierer« gewählt, die über die Einhaltung des Burgfriedens zu wachen hatten. Sie galten als niedere Obrigkeit, die über ihre Untertanen gerichtsherrliche Rechte des Banns, des Jagd- und Fischereiregals, aber auch des Judenregals inne hatten. In einigen Urteilen des Hofgerichts König Sigmunds von 1417 und 141821 wurde unter Bestätigung von 1398 erteilten und 1414 bestätigten Königsprivilegien22 die Reichsunmittelbarkeit der Ganerbschaft anerkannt. Kaiser Friedrich III. bezog sich darauf, als er 1467 in einem großen Privileg den Ganerben der Familien v. Buseck und v. Trohe bescheinigte, dass sie nur uns und dem heiligen Reiche on mittel underworfen sein und auch von uns und dem heiligen Reiche nimmermer geschiden werden dürfen.23 Seit 1544 wurden ihre Mitglieder in die neu gebildete Mittelrheinische Reichsritterschaft aufgenommen,24 nach weiteren Bedrängnissen durch die im Schmalkaldischen Krieg geschwächten hessischen Landgrafen von Karl V. 1547 erneut unter kaiserlichen Schutz gestellt.25 Juden gab es in der Ganerbschaft erst ab etwa 1560.26 1574 kam es erstmals zum Konflikt darüber mit der Landgrafschaft. Die Ganerben beschwerten sich bei der in Marburg befindlichen hessischen Regierung, dass die Beamten zu Gießen einen ohngewönlichen und des Ohrts unerhörten Judenzoll und Geleit angestellt und vorgenommen hätten, obwohl die Ganerbschaft Buseckertal kraft kaiserlicher Privilegien davon befreit sei.27 Eine Klärung unterblieb, und die Judenschutzrechte, die in keinem der Privilegien ausdrücklich erwähnt, von den Ganerben aber als Ausdruck ihrer reichsunmittelbaren Stellung in Anspruch genommen wurden, blieben umstritten.28 Dies mussten auch die Land19 20 21 22

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Urkunde von 1357 März 29, Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 3, Nr. 6. Abdruck bei Lindenstruth, Streit (wie Anm. 4), Teil 2, S. 186-190, Nr. 10. Urkunde von 1430 November 19, Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 27, Nr. 60; Abdruck bei Lindenstruth, Streit (wie Anm. 4), Teil 2, S. 204-206, Nr. 31. Urteile von 1417 Juni 23, Dezember 1, 1418 März 14, August 1 und August 7 bei: Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 17-23, Nr. 42-47. Urkunden König Wenzels von 1398 Januar 6, August 7 und November 6 sowie König Sigmunds von 1414 Juli 27, 1415 März 20 und März 26 bei: Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 6-8, Nr. 14, 17 und 18 und S. 12-16, Nr. 30, 36 u. 37. Privileg von 1478 Mai 16, Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 68-70, Nr. 171. Nachweise bei Lindenstruth, Streit (wie Anm. 4), Teil 2, S. 107f. Zum Archiv der Mittelrheinischen Reichsritterschaft im StAD: www.hadis.hessen.de. Urkunde Kaiser Karls V. von 1547 September 30, Battenberg, Archiv (wie Anm. 5), S. 111, Nr. 298. Erschlossen aus Zeugenaussagen von 1620, StAD, E 12 Nr. 21/2. StAD, E 12 Nr. 28/10 Bl. 53. Immerhin ließ Landgraf Ludwig VIII. im Rahmen von Verhandlungen mit den Ganerben um die Errichtung einer Synagoge in Großen-Buseck eine Erklärung von 1687 zu den Akten nehmen, die ein Gewohnheitsrecht zur Abgabenfreiheit der ga-

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grafen von Hessen so sehen, wenngleich sie es rechtlich niemals zugestanden.29 Als Landgraf Georg II. 1643 für die Juden des Oberfürstentums Hessen nach Gießen einen »Konvent« zur Missionierung aller ihm unterstehenden Juden einschließlich derer des Buseckertals einberief, musste ihm sein Amtmann Georg Heinrich Gerlach berichten, dass diese nicht erschienen seien, da deren sich die Ganerben angenommen hätten.30 Die Schutzgeldeinnahmen allein, zu denen noch Rezeptions- und Neujahrsgelder erhoben wurden, betrugen für die ganerbschaftliche Verwaltung in den letzten 10 Jahren ihres Bestands jährlich durchschnittlich 430 Gulden,31 was einen beträchtlichen Einnahmeposten ausmachte.

III. Im Jahre 1619 kam es zwischen der Gemeinde Großen-Buseck und ihrer Obrigkeit, den Vierern und Ganerben des Buseckertals, sowie dem dortigen Juden Salomon zu einem Appellationsprozess vor der landgräflich-hessischen Regierungskanzlei in Gießen um ein von den Juden in Anspruch genommenes und von den Ganerben gewährtes Nutzungsrecht an der gemeindlichen Allmende.32 Hintergrund war ein 1611 in einem Konflikt zwischen der Gemeinde und den Juden zu Großen-Buseck von den Vierern erlassener Bescheid, der einen modus vivendi zwischen den Parteien herstellen sollte. Hier heißt es u. a.: Sofern die Juden keine rotzige oder sonsten ohntrechtige Pferdte ahn die Weyde spannen, auch der Übermaß mit solcher Anspannung sich endthalten, dass ihnen zu vergönnen sey, nach Gelegenheit mit andern Nachbauren der Weydt, einer mit einem Pferdt, sich zu geprauchen haben. Man kann daraus entnehmen – was auch durch andere Quellen bestätigt wird –, dass die Juden des Buseckertals gleichberechtigt an der Allmendenutzung beteiligt waren und in diesem Zusammenhang ihre Pferde auf gemeindlicher Weide grasen ließen. Offensichtlich hatte sich seit dem späten 16. Jh. eine Gewohnheit herausgebil-

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nerbschaftlichen Untertanen einschließlich der Juden anerkannte: Vermöge uralter Buseckerthalischen Observance haben alle Underthanen, so aus dem Buseckerthal ins hochfürstlich-hessen-darmstädtische Landt sich begeben und ihr Vermögen darinnen transferiren, einen freyen Überzug [...]. Ein um 1810 entstandener Bericht spricht allerdings davon, dass die Ganerben auch das Jus Recipiendi Judaeos hatten, das 1807 aufgehoben wurde, StAD, F 28 Nr. 29. Leider zählt der Bericht zu den Kriegsverlusten des StAD. Zitiert bei: Wilhelm Diehl: Kirchenbehörden und Kirchendiener in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt von der Reformation bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Selbstverlag 1925 (Hassia sacra; II), S. 612. Einnahmeregister für die Jahre 1796 bis 1805 in: StAD, F 28 Nr. 213. Die Akten dazu im StAD, G 26 Anr. 493/2. Soweit im Folgenden keine Einzelnachweise gegeben werden, wird aus diesen Akten zitiert. Der Prozess ist kurz besprochen bei: Hans, Juden (wie Anm. 13), S. 48.

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det, mit der gemeindliche Rechte kaum verletzt wurden, da es eben noch kaum Juden in der Region gab. Dies änderte sich, als auf Initiative der ganerbschaftlichen Obrigkeit weitere Juden ins Buseckertal zogen, die günstige Siedlungsbedingungen erhielten33 und nun ebenfalls Anteil an der Dorfgemeinschaft erhalten wollten. Dies führte im Oktober 161934 zu einer Supplikation der von den Ganerben abgewiesenen Gemeinde Großen-Buseck bei der hessischen Regierung in Gießen. Sie beklagte sich darüber, dass inzwischen etliche Juden in der Gemeinde ansässig seien, die vorher niemals nicht geweßen; also ist ein gantz unerhört Werck, dass selbige dero Gemeinde Nutzbarkeiten iemals fähigen geweßen oder mit gebraucht haben sollten. Nun aber habe sich der Jude Salomon unterstanden, seine zwei Pferde in der Gemeindewiese weiden zu lassen, obwohl ihm dies verboten worden sei; trotz mehrmaliger Abmahnung ist er bey seinem Thun halsstarrigen verblieben. Deshalb habe die Gemeinde nun eines seiner Pferde gepfändet. Sie bittet nun darum, die Rechte der Gemeinde abzusichern. Weiter trägt die Gemeinde vor, dass Salomon wegen der Pfändung dem Ganerben Hans Georg v. Trohe d. Ä. nachgelaufen und Klage eingereicht habe. Dieser habe bei 20 Reichstaler Strafe die Freilassung des Pferdes angeordnet und darüber hinaus verfügt, dass die Gemeinde hinkünftigen undt zu allen Zeiten einem jeden Juden zwey Pferde auf gemeinen Gebrauch füren zu lassen gestatten sollten. Im Übrigen ist die Gemeinde der Ansicht, dass der v. Buseck damit eine newe Gerechtigkeit sich dardurch erzwingen will. Wasser und Weide ständen aber nicht den Vierern und Ganerben, sondern allein der Gemeinde zu. Nach Eingang der Beschwerde fordert die Regierung die Vierer zu einem Bericht auf.35 Erst danach veranlasste die Gemeinde eine förmliche, in einem Instrument des Gießener Ratsverwandten und Notars Konrad Weiß protokollierte Appellation36 gegen den ihrer Ansicht nach rechtswidrigen Bescheid 33

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Dies ergibt sich aus einem Bericht des Amtmanns Daniel Stamm an die Regierung Gießen vom 21. Februar 1620 (StAD, E 12 Nr. 21/12), in dem mitgeteilt wurde, dass sich inzwischen 5 Judenfamilien im Buseckertal befänden (Schmuel zu AltenBuseck sowie Hutz, Isaak, Salomon und Mosche zu Großen-Buseck), die aber den Landgrafen kein Schutzgeld entrichten müssten, wohl aber jährlich 10 Gulden an die Ganerben. Es hätten seit 60 undt mehr Jahren Juden darin sich ufgehalten. Dies stimmt mit den gleichzeitig aufgezeichneten Zeugenaussagen überein, wonach die Ansiedlung zwischen 1550 und 1560 begann (ebd.). Der aus Hallerndorf im Bamberger Land stammende Großen-Busecker Jude Isaak, Schwiegersohn ersten im Buseckertal siedelnden Juden Gerst (Gerson).gibt an, dass er anfangs nur ein Jahrgeld von 6 fl., danach von 8 fl. und schließlich von 10 fl. habe geben müssen, obwohl inzwischen auch 14 oder 16 fl. üblich seien. Die Supplikation ist nicht datiert, aber am 1. November 1619 bei der Regierung eingegangen, muss also im Oktober abgefasst worden sein. Reskript von 1619 November 1, mit dem Bemerken, daß die Pfändung an sich selbsten verboten. Appellation von 1619 November 4, beurkundet November 8, aufgesetzt auf Betreiben des gemeindlichen Syndikus Mag. Hedderich Staffenburger.

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ihrer Obrigkeit. Er führt hier aus, wie lenger dan einem Menschen uff dem ganzen weiten Erdtkreiß gedenket, Wasser, Weidt, Trifft undt alle andere zu dem gemeinem Gebrauchen gehörige Sachen vor unser [scil. der Gemeinde] selbst, proper und eigenthumbliches Gut geachtet und gehalten. Nur den Einwohnern selbst, keinen Fremden, sei nach ihrer Einfahrtsordnung die Nutzung gestattet. Der Jude Salomon sei aber kein Gemeiner. Der von den Ganerben erteilte Bescheid gereiche der Gemeinde zu grosem Praejudiz, Schaden und Nachtheil, so dass sie jetzt um Restitution ihrer Rechte bitte.37 Die Ganerben, die die Grundsatzbedeutung des Konflikts erkannt hatten und befürchten mussten, dass die Regierung der Gemeinde Recht geben würde, um damit auch die Judenschutzrechte des Landgrafen zu sichern, nahmen mit Schreiben vom 10. November zur Beschwerde Stellung. Sie argumentieren, dass sie seit langer Zeit, wie ihre Dokumente und Register besagen,38 in ihren Dorfschaften Alten- und Großen-Buseck jegen gewohnliches Schutzgeldt [...] Juden gehalten haben. Ihnen hätten sie erlaubt, Wasser undt Weydt, gleich andern umbliegenden und ahngrentzenden Obrigkeiten [...] zimblicher und gebührender Maßen zu gebrauchen. Bis zur Stunde seien die Busecker Juden in exercitio und Gebrauch solches Rechtens geblieben. Da aber die Aufnahme der Juden und die Verstattung deroselben zu Wasser und Weydten, welche negst andern von römischer kayserlicher Mayestät wir zu Lehen tragen, gleich wie bey andern Obrigkeyten zu unser freyen Willkühr stehet, wir auch darbey den Judten nie noch keine beschwerliche Übermaß verstattet, stehe ihnen als einer Obrigkeit auch das Recht zu, Maßnahmen der Pfändung zu verhindern. Sie seien allerdings bereit, dafür sorgen zu wollen, den Juden bey dem Gebrauch des Weydens keine Übermaß oder Missbrauch zu verstatten, sondern sie dahin anzuweißen, das keiner etwas über ein oder zwey gesundte, tüchtige Pferdt und der Weydt ohne Schaden halten darf. Um eine Klärung der Grundsatzfrage darüber, wem die Judenregalien im Buseckertal zustünden und damit über zugehörige Nutzungsrechte bestimmen könne, herbeizuführen, sandte im März des folgenden Jahres Daniel Stamm, Amtmann zu Gießen, eine gutachtliche Stellungnahme an Landgraf Ludwig V.39 Seit etwa 60 Jahren hätten, so führt er aus, die Vierer und Ganerben gegen Einzugs- und jährliches Schutzgeld Juden im Buseckertal aufgenommen. Da dort aber die landtsfürstliche Hoheit und das regale superioritatis territoralis unzweifelhaft zustehe und aus den Abschieden des Heiligen Reiches klar her37

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Die in der Appellationsschrift ausführlich beschriebenen Argumente werden in einem weiteren Schriftsatz der Gemeinde, der am 23. November 1619 bei der Regierung einging, wiederholt und teilweise erweitert. Wichtig ist der Gemeinde das Argument, dass der Jude Salomon doch bei uns kein Gemeiner ist und daher nicht der gemeinen Nutzungen und Gebäuchen theilhaftig sein könne. Einschlägige Akten haben sich im Archiv der Familien v. Buseck/v. Trohe nicht ermitteln lassen und konnten in diesem Prozess auch nicht vorgelegt werden. Bericht von 1620 März 7, in der landgräflichen Kanzlei in Darmstadt eingeg. Am 10. März, StAD, E 12 Nr. 21/12.

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vorgehe, dass niehmant Juden aufzunehmen Macht haben solle, dan welche vom Reich regalia haben oder sonderbar darumb befreyet seyen.40 Die Vierer und Ganerben seien aber nur Untergerichtsherren, und auch ihre vom Reich verliehene Civil- undt Criminal-Jurisdiction umfasse den Judenschutz nicht, da dieser vielmehr vom regali territorialis jure dependiret. Das regale recipiendi sive protegendi judaeos stehe folglich den Vierern und Ganerben nicht zu. Erst nach Abschluss des formlos verlaufenen Beschwerdeverfahrens und dem Eingang der angeforderten Berichte begann der eigentliche und förmlich nach den Regeln des Kameralprozesses41 geführte Appellationsprozess bei der Regierung Gießen als der Berufungsinstanz für das Oberfürstentum Hessen.42 Auf Seiten der Gemeinde Großen-Buseck wurde er von ihrem Syndikus Mag. Hedderich Staffenburger geführt, auf Seiten ihrer Gegner von dem Gießener Kanzleiprokurator Henning Kitzelius.43 Zu ihnen gesellte sich ein Mag. Konrad Vietor, der sich namens der übrigen Gemeinden des Buseckertals, nämlich Alten-Buseck, Beuern, Bersrod,, Reiskirchen, Burkhardsfelden, Ober-Albach, Oppenrod und Rödgen der Appellation anschloss und prozessrechtlich als Intervenient auftrat.44 Das nun folgende, als sog. Artikelprozess im Sinne der Reichskammergerichtsordnung von 1548/5545 geführte Verfahren, zog sich über zwei Jahre hin; es soll hier kurz paraphrasiert werden. Die Klagschrift Staffenburgers vom 11. Mai 1620 legt in 60 Artikeln dar, dass die Gemeinde Großen-Buseck eine eigene Einfardtsordtnung habe, des Inhalts u.a., dass diejenigen, welche in dero Gemeinde nicht begrieffen noch 40

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Daniel Stamm bezieht sich hier auf entsprechende Bestimmungen der 1548 und 1577 erlassenen Reichspoliceyordnungen; dazu: J. Friedrich Battenberg: Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlichen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 545-599, hier: S. 572; ders.: Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin: Akademie-Verlag 1995 (Colloquia Augustana; 2), S. 53-79, hier: S. 71. Hierzu Bettina Dick: Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. Köln, Wien: Böhlau 1981 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 10), insb. S. 198-208. Die einzelnen Prozessschritte sowie Entscheidung des Gerichts sind ausführlich in einem Protokoll am Beginn der Akte StAD, G 26 A Nr. 493/2 festgehalten. Prozessvollmacht von 1620 Mai 13 erhalten; Kitzelius trat die Nachfolge des verst. Anwalts Mag. Johann Stockhausen an, verstarb aber seinerseits laut Protokoll im März 1622. Undatierte Interventionsschrift, bei der Regierung eingegangen 1620 Mai 11. Dazu Dick, Entwicklung (wie Anm. 41), S. 205 u. a.; zur Übertragung der Grundsätze des Artikelverfahrens (artikulierte Klage, die so formuliert sein muss, dass auf jede Aussage nur mit ja oder nein reagiert werden kann) auf das landgräflichhessische Gerichtswesen s. Friedrich Battenberg: Der Streit um einen Sattelhof am ehemaligen Mühlturm zu Darmstadt. Ein Prozess des Landschreibers Hans Friedrich von Gernsheim vor dem Stadtgericht Darmstadt und dem Hofgericht Marburg 15481550. In: Archiv für hessische Geschichte NF 37 (1979), S. 187-213, hier: S. 192f.

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darunter gezehlet sein, solcher dero Dorfschaft zuständiger Gueter und Gebrauch in Wälden, Wiesen, Trieften, Wegen undt Weyden sich nicht underziehen noch dessen genießen sollen. Diese Ordnung sei auch von den Regierungskanzleien in Marburg und Gießen bestätigt worden. Da der Jude Salomon aber in die Gemeinde daselbst niemals recipiret noch uffgenommen worden sei, habe er auch kein Recht zur Nutzung der Gemeindeweide.46 Dem widersprach Kitzelius mit zwei Exzeptionsschriften vom 5. Oktober 1620. Er verweist hier auf die Bescheide vom 3. Juni 161147 und 1. November 1619, die den Ganerben vorläufig Recht gaben. Die acht intervenierenden Gemeinden hätten sich durch die Gemeindt zue Grossen-Buseck alß unruhge Appellanten uffwiegeln lassen. Klage samt Intervention seien daher mit dießem ihren zancksüchtigen Suchen zurückzuweißen. Brachte dieser Schriftsatz nichts wirklich Neues, so lässt eine Replikschrift Staffenburgers erkennen, dass der Streit tiefer ging und Fragen des nachbarschaftlichen Lebens im Dorf berührte. Es sei darauf deshalb etwas ausführlicher eingegangen. Staffenburger entgegnet hier, dass das Dorf Großen-Buseck keineswegs die andern Dörfer des Buseckertals aufgewiegelt habe; vielmehr seien sie ebenfalls betroffen. Die Pfändung und Bestrafung der die Weide nutzenden Juden sei keinesfalls eine unzulässige Neuerung; man habe daher auch den ebenfalls betroffenen Juden Isaak48 seines begangenen Frevels halben mit einer Buße von ½ fl. belegt. Die Gemeinde sei nicht verpflichtet, deme gottschendlichen Juden den halben Gulden zu restituiren. Ihm sei die Buße umb solches sein Verbrechtens willen auferlegt worden, daß er kein Gemeiner und gleichwohl der Gemeindte Nutzbarkeiten hat geniesen wöllen.49 Der Bescheid von 1611 sei widerrechtlich ergangen, ist demnach nicht die Gemeindte Grossenbußeck, sondern Vierer und Gahnerben selbstet dieses Strteits alleintzige Ursach. In seiner Antwort vom 15. März (Duplikschrift) geht Kitzelius nochmals auf die Rechtmäßigkeit des Bescheids, an den sich die Appellanten lange Zeit gehalten hätten, ein und betont erneut die Zuständigkeit der Ganerben für Wasser und Weide im Buseckertal; die Gemeinde Großen-Buseck sei in keiner Posession vel quasi der Weidegerechtigkeit und habe daher nicht gegen die Juden vorgehen können. In den »Schlussschriften« der beiden Anwälte, die am 6. September und am 6. Dezember bei der Regierung eingingen, wird nur noch um den Bestand der Weidegerechtigkeit gestritten. Staffenburger behauptet hier, es sei notori[sch] und clar, dass das Dorf dieses Recht habe: Dann je kein Dorfschaft, so klein im Fürstenthumb Hessen, deß Buseckerthals zu geschweigen, welches nicht seine 46 47 48 49

Klagschrift von 1620 Mai 11, Art. 7, 9, 12, 15. Lt. Protokoll wurde in der Sitzung vom 21. Februar 1622 festgestellt, dass dieser Bescheid nicht 1611, sondern 1613 ergangen sei. Es ist dies der erwähnte Isaak, Schwiegersohn des Gerst, aus Hallerndorf, s. Zeugenaussage von 1620 Februar 25, StAD, E 12 Nr. 21/12. Die Behauptung, Isaak sei kein Gemeiner (Gemeindemitglied) und habe daher unberechtigter Weise die Allmende genutzt, wird mehrfach wiederholt.

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J. Friedrich Battenberg

Gemeindteweydte und -trifft auch diejenige, so wider selbiger Willen, darauf mit ihrem Vieh hüeten und weiden wöllen, bestrafen könne. Ihnen könne also nicht befohlen werden, die gottlose Juden uff gemeinen Wiesen und Weyden mit ihren Pferden [...] zu leiden. Kitzelius erläutert in seiner Schlussschrift den gegenteiligen Standpunkt nochmals in aller Ausführlichkeit. Die von GroßenBuseck ad notorietatem totius Hassiae bestehende Gewohnheit gäbe es nicht. Als Obermärker des Buseckertals seien die Vierer und Ganerben vielmehr selbst Inhaber der Weidegerechtigkeit, und das Dorf habe nicht das Recht, dem Befehl und dem Dekret ihrer Obrigkeit entgegen die Juden von den gemeinen Weiden zu verstossen und die Pferde abzupfänden. Isaak, Salomon und die anderen Juden des Buseckertals hätten ihre Rechte auch nicht im Übermaß ausgeübt. Zu einer Entscheidung in der Sache kam es nicht mehr. Zwar wurde noch in einer Verhandlung vom 28. März 1622 ein Bescheid zur Beibringung weiterer Urkunden protokolliert; doch konnte dieser nicht mehr wegen Henning Kitzelii tödtlichen Abgang publicirt werden.50 Allem Anschein nach aber konnten sich die Dorfschaften des Buseckertals mit ihrem Ansinnen zum Ausschluss der bei ihnen wohnenden Juden aus der gemeindlichen Allmende nicht durchsetzen. Die rechtlich an dem sog. kleinen Hof zu Großen-Buseck haftende und den Ganerben zustehende Obermärkerschaft im Buseckertal51 bot Möglichkeit, die Grenzen der Gemeindenutzungen festzulegen und die ganerbschaftlichen Schutzjuden daran teilhaben zu lassen. Die Berufung der Gemeinden auf Gewohnheitsrechte in der Landgrafschaft Hessen blieb ohne Folgen.

IV. Der bei der landgräflich-hessischen Regierung in Gießen geführte Prozess, der mit hohem emotionalem Einsatz unter Nutzung aller gemeinrechtlichen Regeln verfolgt wurde, hat zugleich ein Schlaglicht auf die Lebensverhältnisse der Juden des Buseckertals werfen können. Die bis zum Ende des alten Reichs bestehende Unklarheit über die verfassungsrechtliche Zuordnung der Juden und das Bestreben der Ganerben, sich wo immer es ging als Obrigkeit kraft einer reichsunmittelbaren Stellung zu etablieren, schuf für die Juden einen gewissen Freiraum, den sie zu nutzen wussten. Die Busecker Gemeinden sahen sich seit dem späteren 16. Jh., als sich allenthalben die landesherrliche Obrigkeit zu etablieren begann, mit einer Bevölkerungsgruppe konfrontiert, deren Aufnahme in die Dorfgemeinschaften sie nicht steuern konnten. Insofern ist es zunächst verständlich, dass sie sich gegen die Nutzung der wichtigsten 50 51

Notiz im Gerichtsprotokoll vom 3. Oktober 1622, womit zugleich das Protokoll endet. So nach Gutachten vom 4. September 1767, StAD, E 12 Nr. 16/19; hierzu auch Hans, Juden (wie Anm. 13), S. 44.

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dörflichen Ressourcen, der Allmenden mit ihren Nutzungsmöglichkeiten für alle Dorfbewohner,52 wehrten. Sie sahen die Juden als Fremde an, die nicht die gleichen Teilhaberechte erhalten sollten wie die christlichen Bewohner. Für die Ganerben des Buseckertals mag der fiskalische Nutzen, aber auch die Chance, durch Ausübung von Judenschutzrechten ihre obrigkeitliche Stellung in Auseinandersetzung mit den Landgrafen von Hessen zu etablieren, Ausschlag gebend gewesen zu sein. Ihre Ansiedlungspolitik konnte nur erfolgreich sein, wenn sie »ihren« Juden auch günstige Lebensbedingungen boten. Dass die Ansiedlung von Juden im Buseckertal nicht das Ergebnis einer planmäßigen »Peuplierungspolitik« war, sondern die Folge von Erfahrungen, die die ersten Siedler im späten 16. Jh. gemacht hatten, ergibt sich aus einigen im Auftrag der landgräflichen Regierung 1620 erhobenen Zeugenaussagen.53 Danach konnten die ersten jüdische Siedler – der um 1614 verstorbene Gerst aus Langsdorf sowie der 1583 zugewanderte Hirtz aus Münzenberg – nach und nach weitere jüdische Familien zur Ansiedlung gewinnen, unter ihnen um 1600 Isaak, ein aus Hallerndorf zugezogener Schwiegersohn des Gerst, und Salomon, ein Sohn des Hirtz. Weitere Juden zogen aus angrenzenden Dörfern wie Staufenberg und Münzenberg zu. Auffallender Weise nahmen die Ganerben die zuerst angeworbenen Juden in dem nicht zu den Dorfschaften des Buseckertals zählenden Trohe auf, wo sich einer ihrer Herrenhöfe befand. Erst nach einer gewissen Wartezeit kam es zur Ansiedlung in Großen-Buseck, Beuern54 und Alten-Buseck, sehr viel später in den übrigen Dorfschaften des Buseckertals. Von diesem Zeitpunkt an, also dem Beginn des 17. Jahrhunderts, datieren die ersten Auseinandersetzungen um die Nutzung gemeindlichen Weidelands. Offensichtlich war es ganz selbstverständlich, dass die Juden des Buseckertals im Besitz von Pferden waren, die sie wohl zur Verrichtung ihrer geschäftlichen Reisen und sicher weniger zu landwirtschaftlichen Zwecken einsetzten. Anfangs genossen sie – mit Ausnahme der politischen Partizipationsrechte – aufgrund obrigkeitlicher Gestattung die gleichen Rechte wie alle anderen Gemeindsleute der Taldorfschaften. Man kann davon ausgehen, dass sie in diesem Umfang auch in die dörfliche Gemeinschaft integriert waren, zumal sie anfangs angesichts ihrer noch geringen Anzahl keine eigenständige Gemeinde bilden konnten. Erst die Zunahme auf fünf Familien, die insgesamt wohl mehr als 30 Köpfe umfassten,55 hat dazu geführt, dass die Gemeinden sich wehrten. Zu spät muss52

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S. Karl S. Bader/Gerhard Dilcher: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im Alten Europa. Berlin: Springer 1999, S. 59-61; Berndt Schild: Art. »Allmende«. In: HRG 1 (wie Anm. 17), Sp. 169-180. Zeugenprotokoll von 1620 Februar 2 bis März 1, StAD, E 12 Nr. 21/12. Harald Klaus: Jüdisches Leben im Schatten des Kirchturms. Beuern 2002, S. 2 (erster Nachweis 1594). Zur Größe jüdischer Haushalte in Oberhessen um 1650 s. J. Friedrich Battenberg: Strukturen jüdischer Bevölkerung in Oberhessen im 17. Jahrhundert. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 7 (1996), S. 267-298, hier: S. 278-281.

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ten sie feststellen, dass die von ihrer Obrigkeit den Juden eingeräumte Partizipationsrechte mit ihren alten Gewohnheiten nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. Jetzt plötzlich setzten sie das ganze ihnen bekannte judenfeindliche Vokabular ein, um die vermeintliche Verletzung dörflicher Allmenderechte wirksam vorbringen zu können. Letztlich konnten sie damit am status quo innerhalb der Ganerbeschaft Buseckertal nichts ändern. Für die am Schicksal der ländlichen Juden in Oberhessen interessierte Nachwelt aber hat dieser Konflikt deutlich machen können, dass bei vorhandenem Interesse einer Obrigkeit friedliche Nachbarschaft zwischen Juden und Christen auf der Ebene des Dorfes möglich war, aber auch nicht ohne Widerstände der alten Dorfgemeinschaft geduldet wurde.

Karl E. Grözinger

Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts als Teil der europäischen Literatur

Die ostjüdische Erzählung, hierzulande vor allem durch die Neugestaltungen Martin Bubers als »chassidische Erzählung« bekannt, wird meist nur als religiöse Erzählung wahrgenommen. Demgegenüber hat schon Franz Kafka diese Texte als Schriftsteller und nicht als Theologe gesehen und verwendet.1 Aber nicht nur in dieser Weise haben die ostjüdischen Erzählungen Teil an der europäischen Literatur, sie gehören von ihrem Anfang an zu deren Geschichte, was allerdings bisher kaum wahrgenommen wurde. Dies an einem besonderen Element der Literatur des 18./19. Jahrhunderts aufzuzeigen, will das Ziel dieses Beitrags sein, nämlich am Element des »Phantastischen« und »Romantischen«. Beginnen wir mit einigen Bemerkungen von Roger Caillois zum Genre der phantastischen Literatur, die hernach zur Einbettung der ostjüdischen Erzählung in diesen Kontext dienen können: Das Zeitalter der Aufklärung endet, wie man weiß, in einer richtigen Sturzflut des Wunderbaren. Jede Art von Aberglauben treibt üppige Blüten, und ihr Erfolg ist um so größer, je mehr sie einen wissenschaftlichen Anschein annimmt. […] Aus der französischen Literatur könnte man ›Le diable amoureux‹ von Cazolte und ›Rodrigue ou la Tour Enchantee‹ von Marquis de Sade zitieren, aus der englischen ›Vathek‹ von Beckford. In Deutschland schreibt Goethe mehrere allegorische Novellen […]. Die wirklich phantastische Erzählung entsteht erst langsam aus diesem Übermaß an Wundergeschichten und Gleichnissen. Trotzdem hat man selten eine solche Gleichzeitigkeit in der Mode eines so genau festgelegten literarischen Genres gesehen. Hoffmann wird 1778 geboren, das Geburtsjahr von Poe und Gogol ist 1809. Zwischen diesen beiden Daten werden William Austin (1778), Achim von Arnim (1781), Charles Robert Maturin (1782), Washington Irving (1785), Balzac (1799), Hawthorne (1803) und Prosper Merimee geboren, das heißt, die ersten Meister des Genres. Charles Dickens (1812), Sheridan Le Fanu (1814) und Alexis Tolstoi (1817) folgen kurz darauf.2

Fast gerade zur selben Zeit, zum Ende des 18., am Anfang des 19. und dann vor allem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht in dem Preußen und Sach1 2

Dazu vgl. Karl E. Grözinger: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka. Erweiterte Neuausgabe. Berlin, Wien: Philo 2003. Roger Caillois in seinem Aufsatz: Das Bild des. Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaicon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Hg. von R. A. Zondergeld. Frankfurt am Main: Insel 1974 (Insel Taschenbuch; 69), S. 580.

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sen benachbarten Polen, Russland und Galizien eine bislang nicht gekannte Fülle jiddischer und hebräischer Volkserzählungen und Novellen, eine Fülle, deren Ursache bis heute noch nicht befriedigend erklärt ist. Zunächst erschienen im Jahre 1815 die hebräische und jiddische Version der Legende von Baal Schem Tov3 sowie die wundersamen Erzählungen des Rabbi Nachman aus Bratzlaw.4 Dann folgte eine kurze Zeit lang eine verlegerische Windstille, der ab 1863 eine Sturzflut von Publikationen großer und kleiner Anthologien mit fast zahllosen Erzählungen folgte. Deren Themen waren die chasidischen Rebbes, deren Schüler, die einfachen Chasidim, aber darüber hinaus das gesamte ostjüdische Leben, mit allen Facetten seines persönlichen, religiösen und geschäftlichen Alltags. Außerdem Geschichten über die großen Männer der Diaspora, Maimonides, Raschi, Ibn Gabirol u.a. Da ein großer Teil dieser Literatur im chasidischen Milieu spielt, hat man bislang eben in diesem chasidischen Umkreis nach der Antwort für diese plötzliche erzählerische Explosion gesucht. Sei es, dass man die Ursache dieser Erzählflut in der schon dem Baal Schem zugeschriebenen Gleichsetzung des Geschichtenerzählens mit der mystischen Disziplin des Ma’ase Merkava suchte, sei es in der neuen HeldenMythologie vom Zaddik, wie sie die chasidische Kabbala entwickelte, oder sei es schließlich in der chasidischen Auffassung, dass man heilige Funken auch aus der volkstümlichen, ja sogar aus der nicht jüdischen Erzählung emporheben könne.5 Es ist jedoch in der Forschung eine communis opinio, dass diese sogenannten chasidischen Erzählungen nur sehr wenig typisches chasidisches Lehrgut verbreiten, sondern dass sie mit ihren Auffassungen eher in der allgemeinen Volksfrömmigkeit des Ostjudentums verankert sind. Es liegt meines Erachtens darum näher, das Stimulans für diese Literatur eben da zu suchen, womit sich diese Literatur am meisten befasst, nämlich in der allgemeinen Befindlichkeit der ostjüdischen Massen. Demnach scheint damals die ungekannte Fülle derartiger jüdischer Erzählungen als literarisches Ventil für die vielseitigen Nöte und Bedürfnisse der Ostjuden entdeckt worden zu sein. Die sozialen, materiellen und religiösen Bedürfnisse des einfachen Mannes oder der einfachen Frau erklären einen großen Teil der Themen der ostjüdischen Geschichten wie auch

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S. Karl E. Grözinger: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Schivche ha-Bescht. (Hebräisch und Jiddisch samt deutscher Übersetzung und Kommentaren). 2 Bände. Wiesbaden: Harrassowitz 1997. Zu ihnen s. Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw. Übersetzt von Michael Brocke. München, Wien: Hanser 1985. Dazu s. Karl E. Grözinger: Jüdisches Denken. Band II: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt am Main: Campus 2005, S. 683-695; ders.: Die Apotheose der Sprache – Literatur und Text als religiöses Handeln im Judentum. In: ders.: Literatur als religiöses Handeln? Berlin: Berlin-Verlag Spitz 1999 (Religion, Kultur, Gesellschaft; 2), S. 219-236.

Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts

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deren Fülle.6 Nicht erklärt wird durch sie aber ein Element dieser Literatur, das man füglich ein phantastisches nennen mag. Zunächst eine kleine Kostprobe einer solchen jiddischen Erzählung, deren sprachliches Niveau allerdings nicht an Hoffmann, Brentano, Tieck und den anderen deutschen Geschichtenerzählern gemessen werden darf: Eine fürchterliche Geschichte vom Ba’al Schem Tov: Aus der Stadt Satanov schickte man einmal zum heiligen Bescht,7 das Andenken des Gerechten sei zum Segen, mit dem Wunsche, er solle doch dafür beten, dass die in Stanov wütende Seuche von der Stadt genommen werde. Die Abgesandten spürten indessen bald, dass der Bescht ohnedies die Absicht hatte, von selbst zu ihnen zu kommen. Also kehrten sie nach Hause zurück – und in der Tat, der Bescht kam von selbst angereist. Der Bescht ließ in allen Stuben und Häusern der Stadt nachforschen, ob da nicht irgendwo ein Vergehen oder eine Sünde aufzufinden wäre – mit dem Ziel, solches sündiges Treiben aufzudecken und durch Bußverordnungen wieder gutzumachen, um so das Ende der Epidemie herbeizuführen. Also suchte man in der ganzen Stadt und fand nicht eine einzige Sünde, welche die Ursache der Pestilenz hätte sein können. Als der Bescht sah, dass die Stadt von jeder Sünde rein sei, sandte er einige Männer zum Friedhof, dass sie dort suchten und forschten. Vielleicht ist etwas mit den Gräbern und Grabsteinen nicht in Ordnung. Die Männer fanden auf dem Friedhof ein uraltes Grab mit einem ebenso alten Grabstein – den Namen konnte man kaum mehr entziffern. Als die Männer sich dem Grabstein näherten, fing der Stein plötzlich an zu zittern und zerbarst. Eilends liefen die Männer zum Bescht und berichteten von dem Geschehen. Der Bescht ging, begleitet von etlichen Männern, zu dem Grab, er schaute es lange Zeit an, dann befahl er, das Grab zu öffnen. Kaum war das Grab ausgehoben, da sah man dort einen Toten liegen, der aussah, als sei er eben erst begraben worden. Der Körper war noch gänzlich heil und die Kleider waren an keiner Stelle auch nur leicht zerrissen. Der Bescht schaute mehrere Augenblicke lang sinnend in das Grab. Da plötzlich richtete sich der Tote auf und fing mit dem Bescht an zu reden: ›Friede dir, mein Meister und Lehrer!‹ Die Anwesenden erschraken sehr und konnten sich vor Furcht und Staunen kaum mehr halten. Der Bescht aber sprach zu dem Toten: ›Ich weiß nicht, ob ich dein Lehrer bin, wohl bist du eher meiner.‹ Der Tote wehrte ab: ›Nein, deine Stufe ist höher als die meine – so bist du mein Lehrer!‹ Worauf der Bescht erwiderte: ›Nun, so hör auf mich: Bitte du für uns im himmlischen Gericht. Leg Fürsprache für uns ein, dass die Seuche schnell ein Ende nimmt!‹ Der Tote sagte: ›Wie kann ich bitten für die Stadt, auf die ich wütend und zornig bin?‹ ›Was ist der Grund?‹, wollte der Bescht von ihm erfahren. ›Zornig bin ich mit den Totengräbern, sie haben sich übel aufgeführt. Wenn sie jemand zu Grabe tragen, trinken und saufen sie Schnaps bis zur Trunkenheit und führen sich auf, wie es Totengräbern nicht geziemt. Nicht lange ist es her, da haben sie neben mir einen Toten begraben und sie achteten nicht auf mich. Mit der Schaufel stießen sie an 6

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Karl E. Grözinger: The Buber-Scholem Controversy About Hasidic Tale and Hasidism – Is There A Solution? In: G. Scholem’s Major Trends in Jewish Mysticism 50 Years After: proceedings of the Sixth International Conference on the History of Jewish Mysticism. Hg. von Peter Schäfer und Joseph Dan. Tübingen: Mohr 1993, S. 327-336. Akronym für Ba’al SCHem Tov.

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Karl E. Grözinger meine Füße und außerdem haben sie mir einen Zahn ausgebrochen. – Darum meine Wut!‹ Da sagte der Bescht zu ihm: ›Zeig mir den Zahn, ich geb ihn dir bestimmt wieder zurück!‹ Der Tote gab dem Bescht den Zahn. Der Bescht nahm den Zahn und sagte: ›Jetzt gleich will ich dir den Zahn nicht wiedergeben, erst in jener Welt! Und nun beschwöre ich dich, bei Gott für uns zu bitten, dass die Pestilenz in der Stadt zu Ende geht. An keinem Tag sollen zwei Menschen auf einmal sterben und nicht mehr als einer soll krank darniederliegen!‹ Der Bescht gebot sodann dem Toten, dass er sich wieder niederlegte. Der Tote gehorchte ohne Widerspruch, und man schaufelte das Grab wieder zu und stellte den Grabstein obenauf. Sofort war die Pest zu Ende. Und – auch der Bescht hielt sein Versprechen. Vor seinem Tod gebot er seinen Leuten, dass sie ihm den Zahn des Toten mit ins Grab geben. Sein Verdienst stehe uns bei und allen Juden Amen!8

Dies ist nicht die fromme und einfältige Erzählung oder der philosophische Tiefsinn, wie wir ihn von Bubers Geschichten kennen. Diese Geschichte von einer beleidigten, rachsüchtigen Leiche, die dann selbst betrogen wird, um einen Zahn – hebräisch schen – wie das Zahlwort für zwei, schenajim –, darum nicht zwei Tote und zwei Kranke an einem Tag –, sodann der skurrile Einfall, den Zahn ins Jenseits mitzunehmen, der berstende Grabstein, der »lebende Tote« – all dies ist pure phantastische Topik – trotz der Moral für die Totengräber, die die Erzählung natürlich auch vermittelt. In anderen Wundergeschichten hilft der Bescht einfach mit Gebeten, auch Almosen und dergleichen sind wirksame Mittel gegen die Not. Aber das, was uns hier aufgetischt wird, ist vor allem die Lust am Schauerlichen, nicht die einfache Geschichte einer Wunder-Rettung aus der Not. Nun mag man dennoch an dieser Stelle fragen, ob solche Geschichten wirklich dem Genre des Phantastischen entsprechen. Wenn etwa Louis Vax9 für die Phantastik fordert: »Das Phantastische im strengen Sinne erfordert den Einbruch eines übernatürlichen Ereignisses in einer von der Vernunft regierten Welt.« Trifft das in dem angeführten Beispiel zu? War denn die Welt der Ostjuden von der Vernunft regiert? So viel darf man immerhin sagen. Dass ein Grabstein plötzlich birst, ein seit langem Toter noch frisch erscheint und sich im Grab aufrichtet, gehörte auch im Osteuropa des 18./19. Jahrhunderts nicht gerade zu den alltäglichen Erwartungen. Gewiss, man hat dort noch vieles geglaubt und für möglich gehalten, was unser moderner, »gesunder« Menschenverstand nicht akzeptieren würde. Dennoch, auch für diese ostjüdische Welt gibt es einen Unterschied zwischen Dingen, die man aus dem Alltag kennt und solchen, die man kaum für möglich hält. Die vorgetragene Geschichte will nicht einfach zum sorgsamen Umgang mit Toten mahnen – sie ist weit mehr, man spürt die Lust und das sich Delektieren an der Angst und am Schrecken des Schauerlichen. Im Übrigen waren die ostjüdische Gesellschaft und deren Literaten vom »Bazillus der Aufklärung« nicht unberührt geblieben. 8 9

Nifle’ot Gedolim, Pietrkov 1924, S. 19f., Nr. 3. Zondergeld (Hg.), Phaicon 1 (wie Anm. 2), S. 17.

Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts

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Und nicht wenige Herausgeber solcher Geschichtenbücher haben sich mit ihren Sammlungen bewusst den Rationalisten und Aufklärern entgegengestemmt. Nicht selten sind in den Erzählungen gerade die Aufklärer und Gegner der Chasidim die Genarrten, die vom Schauder des Jenseits überwältigt werden. Der Autor der Legendensammlung Sippurim Noraim »Furchterregende Geschichten«,10 Jakob Kodoner, attackiert in seinem vor 1875 geschriebenen Vorwort gerade solche Rationalisten – zu denen er neben den Aufklärern auch die Talmudisten zählte. Auch die rabbinisch Gelehrten sind seiner Meinung nach solche, die nicht mit dem täglichen Einbrechen der geistigen Welt in die irdische Wirklichkeit rechnen. Den Aufklärern und rabbinischen Talmudisten wirft Jakob Kodoner in der Einleitung zu seiner Sammlung vor: Sie glauben nicht, dass auch in dieser natürlichen Welt geistige Dinge verborgen sind, hinter der Hülle der Natur, gerade so wie in den geistigen Welten [...]. Die wesentlichste Quelle für die Ausbreitung dieser verfluchten Pest ist der Mangel an Glauben an die Gegenwart der geistigen Wesenheiten in dieser Welt.11

Weiter unten fügt Kodoner noch hinzu, dass es in dieser Welt ja auch viele neue wissenschaftliche und technische Erkenntnisse gebe, die nur dem verständnislosen Nichtfachmann als Irrsinn und unmöglich erscheinen, aber dennoch existieren. Kodoners Angriffe auf die hyper-Rationalisten seiner Zeit klingen wie ein Programm phantastischen Erzählens, das er mit seiner Sammlung verfolgt: Furchterregende Geschichten, Sippurim noraim. Die furchterregende Macht des Jenseitigen oder Übernatürlichen wird in vielen ostjüdischen Geschichten mit einer Lust an bizarren und grusligen Details vorgeführt wie z. B. in einem anderen Beispiel von der Rache einer Leiche:12 In dem Flecken Pabilow bei Bobroisk ist ein frommer angesehener Mann am Erev Schabbat – d. h. kurz vor Schabbatanbruch – an einer Geschwulst gestorben. Da der Schabbat unmittelbar bevorstand, war keine Zeit mehr, den Toten zu begraben – also ließ man ihn den ganzen Schabbat über unbeerdigt liegen. Am Schabbatausgang begann aber sogleich das Fest Hoschana Rabba und es war damals bei den Chasidim Brauch, in dieser ganzen Nacht aufzubleiben und zu feiern. Man hat sich im Bet ha-Midrasch (Lehrhaus) versammelt, hat Schnaps getrunken und Freudentänze aufgeführt. Also hatte man wieder keine Zeit für den Toten und keiner wollte nach ihm schauen. Außerdem hat der Leichnam schon Geruch verbreitet und keiner wollte sich um ihn kümmern. Nolens volens hat man vier Opfer aus der BeerdigungsBruderschaft abkommandiert, sich mit dem Toten zu befassen, während die übrigen feiern gingen. Auch die vier Abkommandierten haben erst kräftig dem Schnaps zugesprochen, um den Toten zu ertragen. Sie begannen nun, den 10 11 12

Lemberg 1875. Sippurim Nora’im, S. 1. Sefer Nifle’ot ha- Schem, Lemberg 1912, S. 18-20, Nr. 171.

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Toten herzurichten und da geschah es: Als der Schammes (Diener) der Hevra Kaddischa (Heilige Beerdigungs-Bruderschaft) dem Toten die Hand öffnen wollte »Do hot ihm der Toiter zugehalten sein Hand un er hot nischt gekonnt oisreißen die Hand. Hot er angehoiben zu schreien. Hoben sich die Menschen sejer derschrocken.«13 Sofort hat man alle aus dem Bet Midrasch herbeigerufen und beraten, wie man den armen Schammes wieder befreien könnte. Zuerst hat man den festgeklemmten Schammes kräftig mit Schnaps gefüllt, damit er den Schrecken und den Schmerz ertragen könnte. Dann versuchte man seine Hand mit Gewalt loszureißen – ohne Erfolg. Vom Geschrei des Geplagten aufgeschreckt, eilten einige Ärzte herbei. Sie befahlen sogleich, dem Toten einige Adern zu öffnen, um zu sehen, ob der Tote vielleicht noch lebt. Aber es gab kein Blut und auch keine Regung des Toten. Nun verfiel man auf den Gedanken, dass die Hand des Toten vielleicht gefroren sei. Also goss man siedend heißes Wasser über die Hand des Toten – mit dem Erfolg, dass der verbrühte Schammes ohrenbetäubend aufbrüllte, aber die Hand des Toten sich nicht bewegen ließ. Man sieht, der Erzähler ist bemüht, die Nutzlosigkeit der menschlichen Ratio zu unterstreichen. Die medizinischen Fachleute sind da, der physikalische und gesunde Menschenverstand wird eingesetzt – alles ohne Erfolg. Schließlich kam ein Bote vom Stadtrabbiner und sagte zu dem Toten: »Der Rov hot gesagt as di west nischt nochlossn die Hand wet men dich macharim sein (in den Bann tun). Asoj hot er bald nochgelassn die Hand. Un ein Finger [des Schammes] is geblibn bei ihm obgeschtorben bis sejn toit.«14 Wo also alle natürlichen Mittel versagten, war es die Macht des Geistigen, die über die jenseitige Geistesmacht Gewalt hat. Diese und viele weitere Geschichten leben vom Frösteln und vom heimlichen Grauen im Umgang mit den Toten. Sie spielen – nicht ohne schwarzen Humor – in der Grauzone zwischen der vernünftigen Erfahrung, dass Tote nicht mehr schaden können, und der heimlichen Angst, es könnte doch anders sein. Die Leichen spielen noch andere furchterregende Rollen. Einmal lächelt ein Toter im Sarg und schüttelt das Haupt,15 eine irrtümlich exhumierte Leiche erscheint im Traum und beklagt sich über die Schändung,16 ein im Wald Ermordeter macht mit laut gerufenen Psalmversen auf sich aufmerksam, um ordentlich bestattet zu werden,17 ein weiterer, von einem Christen ermordeter Jude, erscheint seiner ehemaligen Herbergswirtin im Traum, um den Mord samt den Mörder aufzudecken,18 etc.

13 14 15 16 17 18

Ebd., S. 19 (jiddischer Teil der zweisprachigen Ausgabe). Ebd., S. 21. Ma’ase ha-Kedoschim, Lemberg 1895, S. 75. Nifle’ot ha-Schem, Lemberg 1912, S. 57. Nifle’ot ha-Schem, S. 41. Nifle’ot ha-Schem, S. 38f.; und die sogleich danach folgende Geschichte, S. 39-41.

Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts

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Neben dem Grauen spielt in der phantastischen Literatur19 wie auch in den ostjüdischen Geschichten häufig die Erotik eine nicht unbedeutende Rolle. Um nur einige Beispiele zu erwähnen, so erzählt eine Geschichte von einer polnischen Adligen der es nach einem jüdischen Händler, mit dem sie geschäftlich zu tun hat, gelüstet. Der Jude lässt sich von ihr verführen, bereut aber hernach seinen Fehltritt. Was tat er? Er verkaufte seine Schuld an seinen GeschäftsCompagnon und war damit von der Himmelsstrafe frei, die der andere – der Nebbich – umso härter büßen musste, unter anderem in einem Gerichtsverfahren zwischen dem toten Käufer und dem lebenden Verkäufer.20 So auch die Geschichte von dem hochgelehrten Chasid, der jahrelang auf Geschäftsreisen in Danzig darauf besteht, nicht mit seinem Geschäftspartner in einem Hotelzimmer zu schlafen. Dies – wie der andere später entdeckt – weil der fromme Chasid in dem separaten Zimmer seine Nächte mit Weibern zubringt!21 Von einem anderen jüdischen Hausvater wird erzählt, wie er sich in einer verriegelten Kammer seines Hauses mit weiblichen Dämonen paart und Dämonenkinder zeugt, die später die Hausbewohner in Angst und Schrecken versetzen.22 Auch von biederen jüdischen Hausmüttern wird berichtet, die es heimlich mit ihren Knechten treiben – ans Tageslicht kommt dies, weil die Seele des toten Knechtes keine Ruhe finden kann.23 Viele dieser Geschichten sind zunächst hagiographische und Moralgeschichten, die nach einfachen Erzählungsmustern gestrickt sind. Aber diese einfache Grundstruktur wird sodann durch gruslige, erotische und dämonologische Details so sehr überfrachtet, dass das Interesse an der Hagiographie und Moral deutlich verdrängt wird. Die hagiographische Grundstruktur der Erzählung dient da oft nur noch als Vorwand, um das Frivole und Schauerliche mit einem Schein des Heiligen zu umkleiden, was den Charakter des Absonderlichen nur noch herausstreicht. Novalis hat in seinen 1798 entstandenen Fragmenten zu »Glauben und Liebe« sich einmal darüber geäußert, was er als das Ziel des Romantischen betrachtet. Er sagt da: Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung [...]. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe […].24 19 20 21 22 23 24

S. Zondergeld (Hg.), Phaicon 1 (wie Anm. 2), S. 68. Adat Zaddikim, hg. von Gedalyah Nig’al. Jerusalem 1989, S. 53-56. Der Greidizer Rabbi Elijahu Guttmacher, Pietrkov o. D., S. 3ff. Ma’asijot me-Zaddike jesode ’Olam, o. O. 1903, S. 27-29. Di farborgene Liebe, Wilna 1910. Bei Eudo C. Mason: Deutsche und englische Romantik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966, S. 22f.

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Genau dies ist es, was eine andere stark verbreitete Gruppe der osteuropäischen Erzählungen tut. Und damit bin ich bei der Bedeutung der Kabbala für dieses Erzählen. Wie in den Erzählungen der deutschen Romantiker die Kabbala nur eines der Elemente ist, um phantastische Effekte zu erzielen – z. B. Achim von Arnims Bella-Golem, ein Topos, der dort ausdrücklich einem »gelehrten Juden aus Polen« zugeschrieben wird25 – so ist auch bei den ostjüdischen Erzählungen das wirklich Kabbalistische nur ein Element unter anderen, das zur Erzielung des Phantastischen dient. Es ist vor allem ein Topos der Kabbala, der in den ostjüdischen Erzählungen eine herausragende Rolle spielt, nämlich die lurianische Lehre von der Seelenwanderung, dem Gilgul.26 Mit Hilfe dieses Gilgul-Topos kann die ostjüdische Erzählung die Grenze von Raum und Zeit überspringen, Geschlechter und Personen aus völlig getrennten Räumen und Zeiten in die Gegenwart holen. Und auch dies geschieht wieder unter einer lustvollen Ausmalung schauerlicher und erotischer Motive. Die Gilgulgeschichte hat ihr erzählerisches Ziel in der hintergründigen Erklärung und Deutung eines beliebigen – oft traurigen – Ereignisses der Alltagswirklichkeit. Ein solches alltägliches Geschehen wird in dieser Deutung plötzlich zur Spitze eines Eisberges, dessen Fundamente in oft weit vorausgegangenen früheren Phasen der Seelenwanderung liegen. Damit ist die Erzählung der Vorgeschichte des kleinen Vorfalls aus der Gegenwart der eigentlich dramatische Teil der Erzählung. So etwa im folgenden Fall, der an Wundersamem kaum zu überbieten ist:27 Der Ba’al Schem Tov verheißt einer unfruchtbaren Frau ein Kind. Das Kind wird geboren, stirbt aber schon wieder nach zwei Jahren. Der verzweifelten Mutter erzählt der Baal Schem Tov nun die folgende erstaunliche Geschichte: Der Enkel des spanischen Königs Alphonso wird von einem Marrano, der Minister am Hofe ist, erzogen. Als das Enkelkind des Königs zufällig erfährt, dass der Minister ein getaufter Jude ist, bittet er den Erzieher, ihn in das Judentum einzuführen. Mit Zustimmung des nichts ahnenden Königs verlassen der Minister und sein Zögling Spanien. Der Prinz tritt zum Judentum über und wird schließlich ein Rabbi. Dem König hat man mitgeteilt, das Kind sei verstorben. Nach vielen Jahren, als der zum Judentum übergetretene Prinz dann wirklich stirbt, beschließt das himmlische Gericht, dass er sogleich in den Garten Eden kommen soll, dank seines Übertritts zum Judentum. Der himmlische Ankläger hält eine solche Belohnung jedoch wegen der nicht jüdischen Herkunft des Prinzen für unangebracht. Darum beschließt das Himmelsgericht, dass der Prinz zuvor von einer jüdischen Mutter geboren werden sollte – er 25 26

27

Achim von Arnim: Erzählungen. München: Goldmann 1963, S. 71. Dazu s. Grözinger, Jüdisches Denken II (wie Anm. 5), S. 670-675; ders., Kafka und die Kabbala (wie Anm. 1), S. 122-141; Gershom Scholem: Gilgul. Seelenwanderung und Sympathie der Seelen. In: ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 193-247. Ba’al Schem Tov, Lemberg 1876, S. 2-10.

Die ostjüdische Volkserzählung des 18. und 19. Jahrhunderts

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solle also nochmals in den Gilgul zurück – wenn auch nur für zwei Jahre. Und dies war das vom Baal Schem Tov verheißene Kind, das schon nach zwei Jahren wieder gestorben ist. Die Mutter, so meint der Baal Schem Tov, habe darum allen Grund zur Freude, dass sie eine so hohe Seele unter dem Herzen getragen habe. In anderen Geschichten wird z. B. ein frommer Jude vom Satan verführt, verfällt in Sünde und geht zu den Huren28 – oder ein Schüler der Chasidim wird schiffbrüchig und erlebt auf einer fremden Insel seltsame Dinge29 – all diese wunderlichen Geschehnisse wirken sich schließlich in einer Alltagsbegebenheit späterer Generationen aus – das Einfache und Platte des Alltags erhält so plötzlich eine wundersame Tiefendimension, die frösteln macht – gerade das, was Novalis für das »Romantische« forderte. Es ist die Lehre von der Beseeltheit aller Dinge, die Lehre von den uralten Seelen aus fernen Zeiten und Räumen, die sich für die Dramaturgie der phantastischen Erzählung so gut eignet, mit der die vor Augen liegende Oberfläche des Weltgeschehens unerwartete Transzendenzbezüge erhält.30 Außer dem Topos der Seelenwanderung ist der Topos der Himmelsreisen weit verbreitet. Sei es, dass die Seelen bei Nacht zum himmlischen Gericht aufsteigen, sei es der Aufstieg des Rebben, mitten im öffentlichen Gottesdienst, oder sei es, dass ein Mensch ganz unvermittelt aus seiner Alltagswelt vor höchst wundersame Gerichte zitiert wird, wie wir das ja aus Kafkas Prozess-Roman kennen.31 Die Legenden von der Erschaffung eines Golem reichen zwar bis in das 13. Jh. zurück, erhalten aber erst mit Judel Rosenbergs Prager Golemsagen eine eigentliche literarische Qualität.32 Außerdem spielt natürlich die Dämonologie eine wichtige Rolle, wie auch die Träume, deren Realität von der Wirklichkeit kaum zu unterscheiden ist.33 28 29 30

31 32

33

Magdil Jeschu’ot Malko, Jerusalem 1955, S. 8-10. Sifte Zaddik, Przemysl 1840, S. 3 und 5-7. Dazu s. Karl E. Grözinger: Jüdische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Moderne – eine Verortung. In: Zeitenwenden. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag. Hg. von Jörg Deventer, Susanne Rau und Anne Conrad. Münster, Hamburg, London: Lit 2002. Vgl. Grözinger, Kafka und die Kabbala (wie Anm. 1), S. 100-110; ders., Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov (wie Anm. 3), Bd. I, S. 50-53. Zu ihm s. Moshe Idel: Golem. Jewish Magical and Mystical Traditions on the Artifical Anthropoid. Albany: State University of New York Press 1990; Gershom Scholem: Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen. In: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich: Rhein-Verlag 1960; Karl E. Grözinger: Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie der Figur des Ba’al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen. In: Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen. Hg. von Anthony Grafton und Moshe Idel. Berlin: Akademie-Verlag 2001. Vgl. Grözinger, Kafka und die Kabbala (wie Anm. 1), S. 87-93.

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Karl E. Grözinger

Die deutsche und europäische Romantik mit ihren phantastischen Erzählungen hatte offenbar in der hebräisch-jiddischen Volksliteratur Osteuropas eine jüdische Schwester, die noch im 19. Jh. und dann im 20. Jh. die Mutter der neuen jiddischen Literatur und der Neoromantik eines Judel Rosenberg, Chaim Bloch und Martin Buber wurde. Auch diese ostjüdische Romantik war – wie die westliche – in ihrer Weise eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung und einem talmudisch-rabbinischen Rationalismus. Sie war, wie im Westen, der Versuch, die älteren Traditionen des Volkes, oder was man als solche ausgab, gegen die bedrohlich vorandringende Moderne als Bollwerk zu errichten. Der osteuropäische Chasidismus, der diese Romantik gefördert hat und der dem Volkstümlichen neben dem elitären Rabbinismus eine neue Würde zu schaffen suchte, wird darum nicht umsonst als Hort einer traditionellen Jiddischkeit empfunden – und dies trotz seiner damals revolutionären Umgestaltung der ostjüdischen Gesellschaft.

Gunnar Och

Literarischer Antisemitismus am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Brautwahl

Der Verdacht, Hoffmanns Erzählung Die Brautwahl sei antisemitisch oder verfolge doch zumindest eine antisemitische Tendenz, ist unter wechselnden Vorzeichen, anklagend, neutral oder sogar im Einverständnis, immer wieder geäußert worden und will bis heute nicht verstummen.1 Andere Stimmen wiederum haben diese Zuschreibung bezweifelt oder strikt negiert,2 wobei neben Argumenten biographischer, psychologischer oder historischer Faktur vor allem auch ästhetische Gesichtspunkte ins Feld geführt wurden. Man dürfe Hoffmanns vielschichtige Erzählung nicht wie einen diskursiven Text lesen, es gelte seine »Literarizität« zu beachten und damit auch die Mittelbarkeit der Darstellung, die schon per se vermeintlich judenfeindliche Stereotype und Klischees relativiert, ihnen einen »Zitatcharakter« verleiht.3 Der Tenor der Rede ist nicht unvertraut, man kennt ihn aus der Diskussion vergleichbarer Fälle, von Texten, die ebenfalls im Ruf stehen, antisemitisch geprägt zu sein, wie Brentanos Gockel-Märchen, Wälsungenblut von Thomas Mann oder Mar-

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So spricht Holtze missbilligend von einem »stark antisemitischen Zug, den er [Hoffmann] in der Brautwahl in üppiger Laune frei die Zügel schießen lässt« (Friedrich Holtze: Hoffmanns »Brautwahl«. In: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins (1910), H. XLIII, S. 46-72, hier S. 1); von Maaßen sieht ebenfalls »einen stark antisemitischen Zug«, ohne freilich daran Anstoß zu nehmen (Carl Georg von Maaßen: Einleitung zum siebten Band von Hoffmanns Sämtlichen Werken. München, Leipzig: Georg Müller 1914, S. XXVII); Gerhard R. Kaiser gelangt zu der Einschätzung, dass zumindest am Ende der Erzählung der »Durchbruch eines stark antisemitischen Affektes« zu beobachten sei (Gerhard R. Kaiser: Illustration zwischen Interpretation und Ideologie. Josef von Divékys antisemitische Lesart zu E.T.A. Hoffmanns Klein Zaches, genannt Zinnober. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft e. V. (1989), H. 35, S. 21-48, hier S. 29). Vgl. vor allem Eckart Kleßmann: E.T.A. Hoffmann oder die Tiefe zwischen Stern und Erde. Eine Biographie. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1988, S. 443-447 und Josef Quack: Über E.T.A. Hoffmanns Verhältnis zum Judentum. Eine Lektüre der »Brautwahl«, der »Irrungen« und der »Geheimnisse«. In: Zeitschrift für Germanistik. NF X (2000), S. 280-297. Wulf Segebrecht im Kommentar der DKV-Ausgabe (E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke, Wulf Segebrecht u. a. Bd. 4, hg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2001, S. 1475).

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tin Walsers Roman Tod eines Kritikers.4 Gleichwohl wäre es falsch, die Berechtigung des Einspruchs allein schon mit dem Hinweis auf seinen topischen Charakter oder leicht zu durchschauende apologetische Motive bestreiten zu wollen. Denn im Prinzip ist das Argument ja durchaus stichhaltig: Literarische Judenbilder, und vor allem solche aus dem Bereich der Höhenkammliteratur, werden rasch missdeutet, wenn man die spezifische Form ihrer poetischen Kodierung, ihre Verortung und Vernetzung in einem komplexen Textzusammenhang ausblendet und sie dem Zugriff einer nur summierenden Stoff- und Motivgeschichte unterwirft.5 Eine andere Frage ist freilich, ob ästhetische Komplexität allein schon hinreichend ist, einen Text in den Stand ideologischer Unschuld zu versetzen. Wer die Debatten um den literarischen Antisemitismus verfolgt, muss den Eindruck gewinnen, dass nicht selten von einer solchen Annahme ausgegangen wird. Aber ist das tatsächlich überzeugend? Die folgenden Überlegungen sind jedenfalls als Gegenbeweis konzipiert und sollen am Beispiel der Brautwahl6 zeigen, dass ein hohes ästhetisches Raffinement und eine dezidiert antisemitische Tendenz sich nicht nur nicht ausschließen müssen, sondern sogar wechselseitig bedingen können. Die Beweisführung folgt dem Verfahren textanalytischer Lektüre. Bevor jedoch auf Erzählstruktur, Handlungsmuster und Figurenkomposition eingegangen werden kann, sind als unverzichtbare Kontextbezüge ›jüdisch‹ markierte Spuren aus dem entstehungsgeschichtlichen Umfeld der Erzählung zu reflektieren. Ich beginne mit dem satirischen Ausfall eines Zeitgenossen, der Hoffmann selbst als Juden porträtiert. Der seltsame Text ist von der Forschung schon gelegentlich in die Nähe der Brautwahl gerückt worden, man hat ihn aber bislang nur verkürzt rezipiert und zu Unrecht als eher randständiges Phänomen behandelt.

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Auf die Forschung zum Problemfeld des literarischen Antisemitismus und die damit verbundenen terminologischen Fragen kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Maßgeblich bislang vor allem: Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 1998; Marco Puschner: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des »Deutschen« und des »Jüdischen« bei Arnim, Brentano und Saul Ascher. Tübingen: Max Niemeyer 2008 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur; 72) sowie das einschlägige Kapitel bei Matthias N. Lorenz: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 2005, S. 59-78. Vgl. Mona Körte: Das »Bild des Juden in der Literatur«. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 140-150. Zu anderen Erzähltexten Hoffmanns mit jüdischer Thematik (Klein Zaches, Die Irrungen, Die Geheimnisse) sowie zu den hier ebenfalls weitgehend ausgesparten biographischen Bezügen vgl. Kaiser, Illustration zwischen Interpretation und Ideologie (wie Anm. 1), S. 27ff.

Literarischer Antisemitismus am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns ›Die Brautwahl‹

I.

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Schamsel Herz alias E.T.A. Hoffmann

Im Dezember 1818 veröffentlichte Der Freimüthige, ein beliebtes und vielgelesenes Berliner Unterhaltungsblatt, in drei Fortsetzungen eine Erzählung mit dem Titel Herz, der Große.7 Ihr Verfasser war der mediokre Schriftsteller Friedrich Wilhelm d’Elpons (um 1785-1831), ein berüchtigter Schuldenmacher und Spieler, der später zu den Zechkumpanen Hoffmanns zählte und mit ihm wohl auch in lockerer Form befreundet war.8 In der Erzählung ist d’Elpons’ Haltung freilich noch eine andere. Er karikiert Hoffmann und versetzt ihn in ein Milieu, das verunglimpfen und herabsetzen soll. Ort der Handlung ist das Haus des jüdischen Kommerzienrates Meyer Herz. Dort wird die Taufe des zweiunddreißigjährigen Sohnes Schmul gefeiert, der sich von nun an Adelbert nennen lässt. Man schmaust und musiziert, und als die Tafel aufgehoben ist, kommt es zur Aufführung der Oper Nathan, der Schwarze, die Schmuls abwesender Bruder Schamsel komponiert hat. Kaum sind die letzten Takte der Ouvertüre verklungen, öffnet sich die Tür und Schamsel selbst tritt in den Saal, was zu Extasen der Freude und wahren Tumulten führt. Der gefeierte Komponist und Dichter erweist sich freilich als ein so unerträglich eitler Schwätzer, dass er bald schon die Runde sprengt. Der Hausvater ist verärgert, versöhnt sich aber wieder mit dem Sohn, indem er durch eine schriftliche Vereinbarung dessen Drang zur Selbstdarstellung auf knapp bemessene Zeiten begrenzt. Schamsel verlobt sich mit Kalla Frohländer, seine Schwester Rebekka mit dem Reichs-Freiherrn von Knapphahn, und beide Verbindungen beruhen auf der mit »Viktoria«-Rufen9 begrüßten Bereitschaft der jüdischen Partner zur Taufe. Insgesamt herrscht ein scharfer satirischer Ton, der das jüdische Milieu auf perfide Weise verspottet und im rücksichtlosen Gebrauch gängiger Anspielungen und Klischees mit dem einvernehmlichen Lachen des Publikums rechnet. So lässt die Operndarbietung die Zuhörer, absurd genug, an »Synagoge« und »Knoblauch« denken,10 der frisch getaufte Schmul verzehrt als erstes einen »Bayonner Probe-Schinken«,11 und der Vater begrüßt die Konversionen seiner 7

8 9 10 11

W[ilhelm] d’Elpons: Herz, der Große. Erzählung. In: Der Freimüthige oder Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser; herausgegeben von Dr. August Kuhn, 1818, Nr. 246, Donnerstag, 10. Dezember, S. [981]f.; Nr. 247, Freitag 11. Dezember, S. [985]-988; Nr. 248, Sonnabend 12. Dezember [989]-991; der Text ist bis heute nicht wieder ediert worden, auch Schnapps Dokumentation bietet nur einen Ausschnitt (Friedrich Schnapp [Hg.]: E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 455-457). Vgl. Schnapp (Hg.): E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten (wie Anm. 7), S. 457. D’Elpons, Herz, der Große (wie Anm. 7), S. 991. Ebd., S. 982. Ebd., S. 981.

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Kinder, um »mit noch größerer Gewißheit das heidnisch eroberte Kapital in christlicher Umgebung […] genießen« zu können.12 Die kulturellen Bestrebungen des Hauses stehen im Zeichen lächerlicher Übertreibung und erscheinen ebenso hohl wie der pathetische Sprachgestus, den die inkorrekte Syntax eines Meyer Herz ohnehin desavouiert. In der Karikatur ist gleichwohl das Vorbild kenntlich: das akkulturierte Berliner Judentum, das in der fraglichen Zeit ein allseits vermerktes Phänomen darstellte. Auch die Namen weisen in diese Richtung, bei Herz wird man an den Arzt Markus Herz und seine Ehefrau Henriette, eine bekannte Salonnière, denken, bei Kalla Frohländer an die Familie Friedländer und besonders an Rebecca Friedländer, eine enge Freundin Rahel Levins. Dass die Rebekka der Erzählung einen Freiherrn mit dem sprechenden Namen Knapphahn heiraten möchte, ist ebenfalls signifikant und spielt auf die im Kontext der Berliner Salonkultur mehrfach bezeugten Ehen zwischen verarmten Adeligen und vermögenden Jüdinnen an.13 Bei all ihrer Gehässigkeit sind d’Elpons’ Diatriben im übrigen keineswegs originell, sie schreiben nur eine Polemik fort, die schon Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und im Zuge der Emanzipationsdebatte immer aggressivere Formen annahm,14 wobei besonders an die judenfeindlichen Pamphlete Karl Wilhelm Grattenauers (1803/04) zu denken ist sowie an Sessas Posse Unser Verkehr (1815), die erfolgreich die Literarisierung der vorgeprägten Stereotype der Akkulturationskritik betrieb. Auch das bislang noch ausgesparte, gleichwohl zentrale Porträt des Schamsel Herz15 lässt sich in der Nachfolge eines Grattenauer, Sessa oder Bernhardi lesen, da es in vielen Zügen den Typus des kunstbeflissenen und aufgeblasenen ›Judenelegant‹ wiederholt, der bei jenen Autoren die unterstellte Verlogenheit jüdischer Kultur- und Bildungsattitüden personifizieren sollte.16 So wichtig nun aber auch diese Parallele für das Verständnis der Erzählung ist, die eigentliche Pointe erschließt sich erst, wenn man im Bild des Judenelegants zugleich die karikierte Physiognomie des Dichters E.T.A. Hoffmann erkennt: Schamsel war ein kleines gall- und milzsüchtiges Männlein; er selbst hatte in Erzählungen exotischen Styls einer verbrannten Phantasie sich hingeopfert, und war in den [!] Triumph, von Niemanden [!] recht verstanden zu werden, in eine Eitelkeit 12 13

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Ebd. Vgl. zu diesem Aspekt Deborah Hertz: Jewish High Society in Old Regime Berlin. New Haven, London: Yale University Press 1988 (deutsche Übersetzung: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt am Main: Anton Hain 1991). Vgl. Gunnar Och: »Eß- und Theetisch«. Die Polemik gegen das akkulturierte Berliner Judentum im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Anselm Gerhard (Hg.): Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns. Tübingen: Max Niemeyer 1999 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; 25), S. 77-96. Der durchgängige Namensspott der Erzählung gelangt auch bei dieser Figur zur Geltung, denn ›Schamsel‹ kann als Verballhornung des jüdischen Namens ›Amshel‹ und zugleich als Wortspiel (shameless/schamlos) verstanden werden. Vgl. Och, »Eß- und Theetisch« (wie Anm. 14) mit Abbildung »Ein jüdischer Elegant«, S. 83-85.

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verfallen, die ihm [!] nicht eine Stunde des Tages ohne Eigenlob verleben ließ. […] Seine »Elixiere der Mystik[«], so wie seine [»]Phantasmagorien in curioser Manier« wurden ziemlich allgemein verlacht. Doch willigte man ein, alles lobend zu erwähnen, um ihn nur bei Laune zu erhalten. Dieß konnte aber dem kleinen Männchen nichts helfen. Der Gedanke peinigte ihn, daß, trotz allem Hange zur Satyre, trotz seinem Schriftstellertalent, Jean Pauls Witz ihm nicht überflüssig gewesen wäre. Mit seinen Teufeleien beabsichtigte er nichts weniger, als diesen Mangel zu verbergen, allein das Geheimniß war einmal verrathen. Er mußte, wie es natürlich nichts anders sein konnte, trotz seiner unglaublichen Petulanz dann und wann Talente an anderen rühmen hören, die er selbst nicht besaß.17

Allein schon die Titel der genannten Werke zeigen, wer hier nur gemeint sein kann. Überdies wird noch behauptet, dass Schamsel ein »dreibeiniges Unding«18 verfasst habe, eine klare, wenn auch nicht eben witzige Anspielung auf Hoffmanns dreiaktige Oper Undine. Das Motiv, das d’Elpons zu dieser bösen Personalsatire bewogen haben mag, lässt sich nicht mehr ermitteln. Doch bleibt die Frage, weshalb gerade die jüdische Maskerade gewählt wurde. Carl Georg von Maaßen, Herausgeber der ersten kritischen Hoffmann-Ausgabe, nennt den Vorgang »unerklärlich«, da in der Familie des Dichters – so die inakzeptable rassistische Apologie í »nie ein Tröpfchen orientalischen Blutes« geflossen sei.19 Tatsächlich finden sich aber in Hoffmanns Biographie durchaus Elemente, die auf ein jüdisches Umfeld verweisen und folglich auch von einem entsprechend disponierten Kritiker gegen ihn verwendet werden konnten: die Besuche im musikalischen Salon der Berlinerin Sarah Levy,20 die enge Freundschaft mit dem getauften Juden Hitzig und nicht zuletzt die obsessive Liebe zu der aus Bamberg stammenden Julia Marc, der Tochter eines jüdischen Kaufmanns. D’Elpons muss von diesem intimen Verhältnis gewusst haben, ansonsten wäre er wohl kaum auf den üblen Scherz verfallen, das Brautpaar Schamsel Herz und Kalla Frohländer ausgerechnet aus Bambergs ›unreiner‹ Nachbarstadt Schweinfurt anreisen zu lassen.21 Das satirische Konstrukt ›Hoffmann, der Jude‹ basiert aber nicht allein auf biographischen Anhaltspunkten, sondern auch auf der in Berlin schon fest etablierten Rhetorik eines Diskurses, der missliebige Personen durch jüdische Einfärbung zu diskreditieren trachtet. So sprechen Grattenauer und Konsorten verächtlich von ›Judenfreunden‹ und ›Judengenossen‹22 und meinen damit wahlweise die aufgeklärten Anhänger der Judenemanzipation oder die romantischen 17 18 19 20 21 22

D’Elpons, Herz, der Große (wie Anm. 7), S. 987f. Ebd., S. 989. Von Maaßen, Einleitung (wie Anm. 1), S. XXVIII. E.T.A. Hoffmann: Tagebücher. Nach der Ausgabe Hans von Müllers mit Erläuterungen hg. von Friedrich Schnapp. München: Winkler 1997, S. 259 u. 261. »Schamsel hatte in Schweinfurt die Angebetete kennen gelernt«. D’Elpons, Herz, der Große (wie Anm. 7), S. 987. Vgl. z. B. [Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer]: Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christlichen Mitbürger. Dritte unveränderte Auflage. Berlin: Schmidt 1803, S. 54.

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Intellektuellen,23 die wie Schleiermacher oder Friedrich Schlegel in den jüdischen Salons der Stadt verkehren. Für beide, Juden und Judengenossen, gelten dabei dieselben Eigenschaften: Aufdringlichkeit, Geltungssucht (»Petulanz«) und ein Umgang mit Kunst und Literatur, der rein imitative Züge trägt. Schamsel-Hoffmann, von dem übrigens auch gesagt wird, dass »seine unsinnige[n] Phantasiegebilde nur darin bestehen, verrückte Nachäffungen für originale Kunstgebilde zu erklären«,24 kann als Fortsetzung und Überbietung dieser Verleumdungspraxis angesehen werden. Er ist aber zugleich ein Vorläufer, da d’Elpons mit ihm eine unselige Spielart der Literaturkritik antizipiert, die, um zu diffamieren, das Etikett ›Literaturjude‹ auch auf nicht-jüdische Autoren überträgt.25 Unter den genannten Vorzeichen und bei der zeitlichen Nähe beider Erzählungen – Herz, der Große wurde, wie gesagt, im Dezember 1818 veröffentlicht, die Brautwahl muss nach allem, was wir wissen, im ersten Halbjahr 1819 entstanden sein – drängt sich die Frage auf, ob hier Verbindungslinien und womöglich sogar direkte Bezüge bestehen. Die Forschung ist dem kaum nachgegangen, sieht man einmal von der doch eher psychologischen Hypothese Ludwig Geigers ab, der schon 1914, in einem Artikel für die Allgemeine Zeitung des Judentums äußerte, »daß Hoffmann gereizt durch eine judenfeindliche Darstellung, in der er selbst verspottet wurde, zum Antisemiten geworden« sei.26 Die folgende Interpretation geht über diese Position deutlich hinaus und wird versuchen, die Brautwahl auch in einem intertextuellen Sinn als Antwort auf d’Elpons’ Polemik zu lesen. Nimmt man das Ergebnis schon vorweg, so ist es Hoffmann vor allem darum zu tun, das ›Romantische‹ vor der Kontamination mit dem kompromittierenden Judentum zu bewahren und beide Elemente in einer dichotomen Figurenkonstellation strikt abzugrenzen. Am Ende steht dann die definitive Abspaltung des ›Jüdischen‹ und seine Austreibung, die mit den von d’Elpons übernommenen und ästhetisch verfeinerten, aber nicht abgeschwächten Mitteln der Judensatire vollzogen wird.

II. Lippold Jude, ErtzSchelm und Bösewicht Als Lothar die Brautwahl in der Runde der Serapionsbrüder ankündigt, verweist er darauf, dass ihm für »manche Grundzüge« seiner Erzählung das »Mic23

24 25

26

Zu Grattenauers Polemik gegen Juden und Romantiker vgl. Günter Oesterle: Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 2 (1992), S. 55-91, hier S. 85f. D’Elpons, Herz, der Große (wie Anm. 7), S. 990. Man denke hier etwa an Wolfgang Menzels Wort über das Junge Deutschland, das er trotz überwiegend nicht-jüdischer Mitglieder als »junges Palästina« diffamiert. Vgl. Jacob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 17001933. München: C. H. Beck 1989, S. 178-180. Ludwig Geiger: E.T.A. Hoffmann und die Juden Berlins. In: Allgemeine Zeitung des Judentums. 29.5.1914, Sp. 262f.

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rochronicon« eines gewissen »Hafftitz« als Quelle gedient habe.27 Dieser Titel ist keine Fiktion. Es handelt sich um eine in handschriftlicher Form überlieferte Chronik der Mark Brandenburg, die der Berliner Rektor Peter Hafftiz gegen Ende des 16. Jahrhunderts verfasst hat. Man kennt sogar das von Hoffmann benutzte Bibliotheksexemplar, und auch die besagten »Grundzüge«, sprich Entlehnungen, sind längst nachgewiesen.28 Sie beziehen sich auf Passagen über die Regierungszeit des Kurfürsten Johann Georg (1571-1598), darunter die Schilderung höfischer Festivitäten und Notate zu den Berliner Jahren des Schweizer Alchimisten Leonhart Thurneisser zum Thurn, der bei Hafftiz (und folglich auch bei Hoffmann) unter dem Namen »Thurnhäuser« firmiert und als »unverschämter Gesell«29 und Betrüger bezeichnet wird. Die Brautwahl widerspricht dieser negativen Bewertung, was nicht überrascht, da Leonhard von Beginn der Erzählung an als positiv besetzter Charakter und alter ego des Autors zu fungieren hat. Doch nicht nur Thurnhäusers Porträt, auch das seines Gegenspielers, des Münzjuden Lippold, basiert auf Hafftiz’ Chronik, die ausführlich vom Schicksal des vermeintlichen »ErtzSchelm[s] und Bösewicht[s]«30 handelt. Dass dieser Bericht grob verzerrend ist und selbst ein Dokument frühneuzeitlicher Judenfeindschaft darstellt, wird rasch deutlich, wenn man sich die historischen Fakten vergegenwärtigt:31 Der Brandenburger Kurfürst Joachim II. (15051571) hatte den aus Prag stammenden Lippold í geboren als Lipman ben Juda í 1550 an seinen Hof berufen und ihm die einflussreichen Ämter des Schatullenverwalters und Münzmeisters übertragen. Zu seinen Aufgaben zählten die Beschaffung des Münzmetalls, die Betreuung des Staatsschatzes sowie die Verwaltung der von seinen jüdischen Glaubensgenossen zu entrichtenden Steuern und Abgaben. Viele Mitglieder des Hofstaates waren beim ihm verschuldet, da er auch auf eigene Rechnung Kreditgeschäfte betrieb. Als mit dem Tod des Kurfürsten dessen Schutz entfiel, wurde Lippold unter der abenteuerlichen Beschuldigung, seinen Landesherren durch Zauber manipuliert und sogar vergiftet zu haben, verhaftet und vor Gericht gestellt. Ein unter der Folter erpresstes, später aber widerrufenes Geständnis diente zur Begründung des Todesurteils, das am 28. Januar 1573 auf dem Berliner Marktplatz grausam durch Rädern und Vierteilen vollstreckt wurde. Ein Jahr darauf erfolgte die Ausweisung aller Juden aus Brandenburg. Es entspricht der schon oben angedeuteten Perspektive, dass Hafftiz sich mit allen Maßnahmen, die zur Verurteilung und Bestrafung Lippolds führen, 27 28

29 30 31

Die Brautwahl wird im Folgenden nach dem vierten Band der DKV-Ausgabe (wie Anm. 3) unter der Abkürzung BW zitiert; hier: BW S. 639. Hans von Müller: Nachwort zu Hoffmanns Brautwahl (1911). Wieder in: ders.: Gesammelte Aufsätze über E.T.A. Hoffmann. Hg. von Friedrich Schnapp. Hildesheim: Dr. H. A. Gerstenberg 1974, S. [III]-[XXXIV]; S. [XXV]-[XXXII]. Zit. nach von Müller (ebd.), S. [XXXI]. Zit. nach ebd., S. [XXVII]. Das Folgende nach A[ron] Ackermann: Münzmeister Lippold. Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des Mittelalters. Frankfurt am Main: Kauffmann 1910.

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einverstanden erklärt. Die Beschuldigung des Giftmordes lässt er freilich fallen und konzentriert sich stattdessen ganz auf die magischen Aspekte des Falles, auf Lippolds »ZauberBuch«32 und den während der Hinrichtung zu beobachtenden Feuertod einer »große[n] Mauß«, »welche Viel Leuthe« für den »ZauberTeuffel« des Juden gehalten hätten.33 Beide Details werden in die Brautwahl übernommen und leitmotivisch mit der Handlung verwoben. Die causa Lippold war, das zeigt ein Exzerptblatt,34 Hoffmann noch aus einer weiteren Quelle vertraut, einer Berliner Stadtgeschichte des späten 18. Jahrhunderts, die den Geist der Aufklärung atmet. Der Ton ist denn auch ein ganz anderer als bei Hafftiz. Der »arme Jude«35 Lippold erscheint als das Opfer eines Justizirrtums, seine Hinrichtung als »abscheuliches Schauspiel«.36 Die Gerüchte von Zauberbuch und Zauberteufel werden verworfen, sie sind für den Autor nur noch Zeugnisse eines obskuranten Aberglaubens. Am Ende des einfühlsamen Berichtes stehen die bekenntnishaften Worte: »Dieser Jude verdiente von seinen Glaubensgenossen als ein ächter Märtyrer verehret zu werden«.37 In der von Hans von Müller erstellten Synopse der für Hoffmann relevanten Stellen dieser Quelle sind die Lippold-Passagen gekürzt und auf ihren faktischen Gehalt reduziert. Dadurch gehen die hier zitierten Wertungen verloren, die, wie noch zu zeigen sein wird, für die Vergegenwärtigung der betreffenden Ereignisse in der Brautwahl von beträchtlichem Interesse sind. Lippold und Thurnhäuser können einander nicht persönlich begegnet sein, denn der Alchimist tritt erst nach dem Tod des Münzjuden seine Stellung am Berliner Hof des Kurfürsten Johann Georg an. Gleichwohl ist die von Hoffmann herbeigeführte Konstellation der in Feindschaft verbundenen Brüder keine reine Erfindung, da bereits Hafftiz Thurnhäusers Praktiken mit den »Schelmstücke[n]« Lippolds vergleicht und diese ausdrücklich »Jüdische Händel« nennt.38 Die betreffende Formulierung kehrt in der Brautwahl wörtlich wieder, mit dem bezeichnenden Unterschied freilich, dass sie hier in den Mund missgünstiger Neider gelegt wird.39 Weshalb das so ist, liegt auf der Hand. Hoffmann sah eine Parallele zu der ihm selbst widerfahrenen Kränkung durch d’Elpons und wollte die Chance nutzen, seiner Erzählung in verdeckter Form einen Widerruf einzuschreiben. 32 33 34 35

36 37 38 39

Zit. nach von Müller, Nachwort (wie Anm. 28), S. [XXXI]. Zit. nach ebd., S. [XXXII]. Faksimile und Kommentierung ebd., S. [XXII]-[XXV]. [Anton Balthasar König]: Versuch einer historischen Schilderung der Hauptveränderungen, der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften sc. der Residenzstadt Berlin seit den ältesten Zeiten, bis zum Jahre 1786. Erster Theil. Bis zum Ende der Regierung Churfürst George Wilhelms. Berlin: bei Wilhelm Oehmigke 1792, S. 104. Ebd., S. 105. Ebd. Zit. nach von Müller, Nachwort (wie Anm. 28), S. [XXXI]. BW S. 660.

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Eine weitere, wenn auch, wie man zugeben muss, spekulative Überlegung in diesem Zusammenhang bezieht sich auf einen Einblattdruck, der die Hinrichtung Lippolds in krass judenfeindlicher Weise popularisiert.40 In der oberen Hälfte zeigt ein Kupferstich Lippolds Porträt (mit Zauberbuch) und das Szenario der Hinrichtung, flankiert von Justitia und Moses als Repräsentanten der weltlichen und göttlichen Gerichtsbarkeit. Der in Knittelverse gefasste Text im unteren Teil zählt die Missetaten des als »Ertzböswicht« titulierten »Leupold Jüd« auf, Schwarzkunst, Giftmischerei, Unzucht, Mord und Verrat, um dann mit weiteren Beispielen angeblich verbürgter jüdischer Anschläge und Umtriebe, Hostienfrevel und Ritualmord eingeschlossen, das fabula docet zu formulieren: »Drum traw kein Christ kein Jüde nicht«. Das Blatt ist wohl noch auf 1573, das Jahr von Lippolds Hinrichtung zu datieren und trägt deutlich lesbar die Initialen seines Verfassers: L.[eopold] T.[hurneisser] Z.[um]

40

Wahrhafftige Abconterfeyung oder gestalt / des angesichts Leupolt Jüden / sampt fürbildung der Execution […] Darneben kürtzlich seine vnd anderer Jüden tyranney / so etwan von ihnen wider alle menschliche Affecten / vnnd mitleiden gegen den Christen menschen / geübt / aus glaubwürdigen Historien / allen frommen Christen zu gut vnd warnunge (Auff das sie sich vor solchen blut Eglen desto förderlicher wissen zuhütten) in Reimen gestelt / vnd an tag geben. L. T. Z. T. [ca. 1573]; Faksimile und Beschreibung in: Wolfgang Harms/Michael Schilling (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 7. Tübingen: Max Niemeyer 1997, Nr. 34, S. 68f.

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T.[hurn].41 Wir wissen nicht, ob Hoffmann den Druck tatsächlich kannte. Was dafür spricht, ist allerdings der Umstand, dass schon hier (und nur hier) Thurneisser die ihm später in der Brautwahl zugeschriebene Rolle des Lippoldschen Intimfeindes übernimmt.

III. »Er bleibt ja doch derselbe« í zur narrativen Konstruktion des ›Jüdischen‹ Der Vorgang ist für Hoffmanns Publikationspraxis nicht ungewöhnlich: Als Auftragsarbeit wird die Brautwahl zunächst separat im Berlinischen TaschenKalender auf das Jahr 1820 veröffentlicht, dann erfährt der Text eine leichte Bearbeitung und geht in dieser uns heute vertrauten Form in den dritten Band der Serapionsbrüder ein. Für hinlängliche Prominenz ist gesorgt, denn im unmittelbar auf die Erzählung folgenden Rahmengespräch wird Hoffmanns poetologisches Credo, das bekannte serapiontische Prinzip, formuliert,42 dessen Essenz in der Verbindung des Wunderbaren mit dem Alltäglichen besteht. Die Handlung spielt in Hoffmanns eigener Zeit, ihr Schauplatz ist die preußische Metropole Berlin, die mit der Nennung von Straßen, Kirchen und Plätzen als reale Stadtkulisse vergegenwärtigt wird. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Maler Eduard Lehsen, ein schwärmerischer Jüngling, der über beide Ohren in die schöne und ihm ebenfalls zugetane Albertine Voßwinkel verliebt ist, gleichwohl aber mit zwei Nebenbuhlern zu konkurrieren hat: dem reichen jüdischen Baron Benjamin Dümmerl und dem Geheimen Kanzleisekretär Tusmann, einem schon ziemlich angejahrten Bücherwurm und schlafmützigen Philister. Dass sich alles zum Guten wendet, ist dem Wirken des Gold- und damit auch Glücksschmiedes Leonhard zu danken, der seine Hand schützend über Eduard hält und dessen Gegner mit Geisterspuk und anderen magischen Praktiken in ihre Schranken weist. Am Ende der Erzählung steht die eigentliche Brautwahl, die Leonhard ausdrücklich nach dem Vorbild der Kästchenwahl im Kaufmann von Venedig arrangiert. Der Held gewinnt die Konkurrenz, reist dann aber allein zu Bildungszwecken nach Italien, so dass offen bleibt, ob es je zu einer ehelichen Verbindung zwischen ihm und Albertine kommen wird. Für den Reiz der Erzählung sorgt das serapiontische Prinzip, also das Mitund Nebeneinander von wirklicher und phantastischer Welt, das zu irrlichternden Effekten führt und eine teils verstörende, teils erheiternde Wirkung erzeugt. Die komisierende Funktion zeigt sich vor allem in den Szenen mit Albertines Vater, dem Kommissionsrat Voßwinkel, und dem schon erwähnten Bücherwurm Tusmann, beide etablierte Bürger, die nach ihren eigenen Worten 41 42

Harms und Schilling vermuten, dass Thurneisser sich mit diesem Blatt »für den Dienst am kurfürstlichen Hof« empfehlen wollte (ebd.). BW S. 720f.

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das »gute[] aufgeklärte[] Berlin«43 vertreten, aber im Angesicht des Wunderbaren erleben müssen, wie ihre platt rationalistischen Kategorien jämmerlich versagen. Die Sphäre des Übersinnlichen ist im Übrigen selbst wiederum in gut und böse gespalten. Die gute, weiße Magie inkarniert sich in Meister Leonhard, während die schwarze Magie die Gestalt des alten Juden Manasse angenommen hat, der die Ambitionen seines Neffen Benjamin Dümmerl skrupellos unterstützt. Manasse beherrscht so manchen Zauber, er kann z. B. Rettigscheiben in Goldstücke verwandeln,44 und als Leonhard in einer burlesken Szene im Hause Voßwinkel die Nase des Barons Dümmerl zu ungeheurer Länge anwachsen lässt, kreiert er eine »übergroße abscheuliche Maus«, die seinen Opponenten außer Gefecht setzen soll.45 Ein Gegenzauber weiß dieses Unterfangen allerdings zu verhindern. Beide Magier besitzen eine rätselhafte Herkunft und Identität, denn es wird wiederholt darauf angespielt, dass sie in historischen Figuren der KurfürstenZeit präfiguriert seien: der Goldschmied Leonhard im Alchimisten Leonhard Turnhäuser zum Thurm und der Jude Manasse im Münzjuden Lippold. Die erste Reminiszenz findet sich schon zu Beginn der Erzählung, und sie ist auch die bedeutsamste, weil hier Lippolds grausames Schicksal enthüllt wird. Den Anlass bietet eine Bemerkung Manasses, der Leonhards Begeisterung für höfische Festivitäten des 16. Jahrhunderts »mürrisch« kontert und auf Blutfeste, Scheiterhaufen und Qualen gefolterter »Schlachtopfer« verweist, an denen sich die Berliner jener Zeit gleichfalls »ergötzten«.46 Tusmann stimmt zu, dankbar daran erinnernd, dass »dem unsere schöne Aufklärung ein Ende gemacht« habe.47 Nun meldet sich wieder der Goldschmied zu Wort, um, begleitet vom Stöhnen und Ächzen des Juden, Lippolds Geschichte zu erzählen. Der Tonfall ist der archaische einer alten Chronik, und tatsächlich stimmen Wortlaut und Perspektive mit dem Microchronicon des Peter Hafftiz weitgehend überein: Böse Künste hatte er [Lippold] getrieben, um den Herrn sich ganz zu eigen zu machen, und das ganze Land zu beherrschen, und nur des Churfürsten Gottseligkeit hatte dem satanischen Zauber widerstanden. Lippold wurde auf dem Neumarkt hingerichtet, als aber die Flamme seinen Körper und das Zauberbuch verzehrten, kam unter dem Gerüst eine große Maus hervor und lief ins Feuer. Viele Leute hielten die Maus für Lippolds Zauberteufel.48

Der Kontext dieser Erzählung in der Erzählung belegt, dass hier Einspruch gegen den Diskurs der Aufklärung erhoben wird, und das sowohl durch Rehabilitierung des Wunderbaren, als auch durch Korrektur einer von Toleranz 43 44 45 46 47 48

BW S. 674. BW S. 654. BW S. 690. BW S. 611. BW S. 611. BW S. 652; vgl. dazu die Parallele bei Hafftiz, von Müller, Nachwort (wie Anm. 28), S. [XXIX]f.

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geprägten Perspektive auf das Judentum, wie sie in Hoffmanns zweiter Quelle zum Fall Lippold zur Geltung gelangt. Die satirische Aggression ist dabei beträchtlich, denn Leonhard erzählt ja nicht nur von der Tortur, er praktiziert sie auch, indem er den ›gegenwärtigen‹ Juden Manasse unter der Qual der Worte leiden lässt. Der Rückgriff auf Hafftiz ist im Übrigen kein isoliertes Phänomen, sondern Teil einer intertextuellen Verfahrensweise, die ein beziehungsreiches Spiel mit Quellen und Diskursen der unterschiedlichsten Herkunft betreibt. So wird neben dem Text der Chronik noch eine talmudische Legende nacherzählt,49 und neben zahlreiche Anspielungen auf Shakespeare50 treten parodistisch eingesetzte Zitate des Philosophen Thomasius51 sowie Verweise auf Chamissos Schlemihl,52 Tiecks Sternbald53 oder Fouqués Gedicht »Waldessprache«.54 Diese anspruchsvollen Vernetzungen setzen einen gut präparierten, phantasievollen Leser voraus, und sie bauen vor allem ästhetische Komplexität auf, die nicht im ersten Zugriff zu erschließen ist, aber auch nicht dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt werden darf, da nach wie vor das sinnstiftende Prinzip der epischen Integration gilt. Lothar, der Narrator der Brautwahl, spricht bezeichnenderweise von der »kaleidoskopische[n] Natur« seiner Erzählung, und er versteht dies so, dass die »heterogensten Stoffe«, die in ihr »durcheinander geschüttelt« würden, »doch zuletzt artige Figuren« ergäben.55 Das Beharren auf einer wie auch immer gearteten Einheit in der Vielfalt der Diskurse forciert nun freilich noch die Frage, wie sich die narrative Konstruktion des ›Jüdischen‹ in die »kaleidoskopische Natur« der Erzählung einfügt. Prüfen wir erste Indizien, so stoßen wir auf bekannte Stereotype aus der Sphäre eines ökonomisch fundierten Vorurteils. Benjamin Dümmerl wird expressis verbis »Geldsucht« und eine »schmutzige Kleinlichkeit« nachgesagt,56 und die Szene der Kästchenwahl illustriert, dass sein Verhalten diesen Charaktereigenschaften voll und ganz entspricht. Denn Dümmerl greift hier ohne zu zögern nach dem goldenen Kästchen, das laut Aufschrift »blühendes Kommerz« verspricht,57 und er freut sich unbändig über dessen Inhalt, eine Münzfeile, die es wunderbarerweise erlaubt, Dukaten so abzufeilen, dass sie keinen Wertverlust erleiden. Dümmerls Onkel Manasse wirkt gesetzter als dieser, als er aber den Neffen im Besitz der wertvollen Feile sieht, überwältigt auch ihn die Habgier,

49 50 51 52 53 54 55 56 57

BW S. 691f. Wie es euch gefällt (BW S. 666), Hamlet (BW S. 671), Troilus und Cressida (BW S. 676). BW S. 646f. BW S. 701. BW S. 667. BW S. 665. BW S. 720. BW S. 678. BW S. 751.

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und es kommt zu einem grotesken Kampf um das »köstliche[] Kleinod«,58 aus dem schließlich Benjamin, der Jüngere, als triumphierender Sieger hervorgeht. Neben diesen gängigen und leicht dechiffrierbaren Klischees, zu denen natürlich auch die von Leonhard traktierte ›Judennase‹ Dümmerls zählt, gibt es verdecktere Anspielungen, die mit nicht unbeträchtlichem Raffinement eine vergleichbare Tendenz verfolgen. Da sind zunächst die Namen. Folgt man dem ersten Buch Mose, so ist Manasse der Bruder Ephraims. Der mit den Berliner Lokalverhältnissen vertraute Leser wusste aber auch, dass Ephraim zugleich der Name eines jüdischen Münzpächters war, der unter Friedrich dem Großen die Verschlechterung der Münze betrieb.59 Als sprechender Name bedarf Benjamin Dümmerl keiner näheren Erläuterung. Es gilt freilich auch zu beachten, dass der Erzähler Benjamin gerne Bensch oder gar Benschchen nennt,60 was wiederum an die rotwelschen Vokabeln ›Bensch‹ und ›benschen‹ erinnert, die ein einschlägiges Wörterbuch des Jahres 1822 mit ›Einbruch‹ bzw. ›(be)rauben‹ übersetzt.61 Noch aufschlussreicher als dieses Namensspiel erscheint die ShylockParallele, die mit den zahlreichen Verweisen auf den Merchant of Venice eröffnet wird. Schon die erste Erwähnung des Stücks, die von einer damals aktuellen Berliner Inszenierung ausgeht, ist ganz auf Shakespeares jüdischen Protagonisten perspektiviert. Voßwinkel, der von Meister Leonhard gefragt wird, ob er denn den Kaufmann von Venedig auf dem Theater gesehen habe, bejaht dies und fügt hinzu, dass die zentrale Rolle wohl die eines »mordsüchtigen Juden« sei, den es »nach frischem Negozianten-Fleisch« gelüste.62 Nun entlarvt diese Äußerung gewiss auch Voßwinkel selbst, der ja auch ein Negotiant ist und stets materiellem Denken verhaftet bleibt, aber der Charakteristik Shylocks wird weder hier noch an anderer Stelle widersprochen. Es lässt sich im übrigen auch nicht übersehen, dass das Paar Manasse-Voßwinkel, die durch Shylock und Antonio vorgegebene Konstellation ›Jude versus christlicher Kaufmann‹ wiederholt, und zwar dergestalt, dass auch sie in Konflikt geraten und Manasse – aus Wut über die fehlschlagende Brautwerbung – alle finanziellen Transaktionen seines einstigen Geschäftspartners blockiert, um ihn »in Schimpf und Schande« zu stürzen.63 Als Manasse schließlich aus Anlass der Kästchenwahl in Voßwinkels Haus gebeten wird und dort an einem Gabelfrüh58 59 60 61

62 63

BW S. 715. Vgl. Holtze, Hoffmanns »Brautwahl« (wie Anm 1), S. 56f. BW S. 678, 711, 715. Vgl. Siegmund A. Wolf (Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. Mannheim: R. Oldenburg 1956, Item ›benschen‹ [410]) mit der Quellenangabe: F. L. A. von Grolman: Wörterbuch der in Teutschland üblichen Spitzbuben-Sprachen […]. Gießen 1822. Die Bedeutungsverschlechterung der ursprünglich jiddischen Vokabel (benschen = ›beten‹ und ›segnen‹) erklärt Wolf »aus frivoler Auffassung von Segnen«. BW S. 706. BW S. 705.

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stück teilnehmen soll, ist aus ihm tatsächlich ein zweiter Shylock geworden, denn der hasserfüllte Kommentar, den man bei dieser Gelegenheit seinen Gesichtszügen entnehmen kann und der in direkter Rede vom Erzähler wiedergegeben wird, folgt wörtlich den Einlassungen von Shakespeares Juden.64 Für Manasses Neffen, den »in Wien baronisiert[en]«65 Benjamin Dümmerl wird kein literarisches Vorbild benannt, und doch steht auch sein Porträt, das Lothar für das gelungenste der ganzen Erzählung hält,66 in einem über den Text hinausweisenden Zusammenhang. Benjamin ist nämlich nichts anderes als eine weitere Variation des ›Judenelegants‹ und damit ein Pendant zu Schamsel Herz in d’Elpons Erzählung. Die Parallelen sind verblüffend, entscheidend ist freilich, dass Hoffmann sich von dieser Zuschreibung befreit, indem er wieder die rein ›jüdische‹ Signatur des Typus bekräftigt: Den jungen Baron Dümmerl sieht man häufig im Theater, wo er sich in einer Loge des ersten Rangs brüstet, noch häufiger in allen nur möglichen Konzerten; jeder weiß daher, daß er lang und mager ist wie eine Bohnenstange, daß er im schwarzgelben Gesicht von pechschwarzen Haaren und Backenbart beschattet, im ganzen Wesen den ausgesprochensten Charakter des Volks aus dem Orient trägt, daß er nach der letzten bizarrsten Mode der englischen Stutzer gekleidet geht, verschiedene Sprachen in gleichem Dialekt unserer Leute spricht, die Violine kratzt, auch wohl das Piano hämmert, miserable Verse zusammenstoppelt, ohne Kenntnis und Geschmack den ästhetischen Kunstrichter spielt und den literarischen Mäzen gern spielen möchte, ohne Geist witzig und ohne Witz geistreich sein will, dummdreist, vorlaut, zudringlich, kurz, nach dem derben Ausdruck derjenigen verständigen Leute, denen er gar zu gerne sich annähern möchte í ein unausstehlicher Bengel ist.67

Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit treten also auseinander, und hinter der Fassade des Bildungsbürgers bleibt doch der Jude als Jude kenntlich, wie nicht zuletzt die jiddische Sprachfärbung zeigt, die hier mit dem geläufigen Ausdruck der Zeit als »Dialekt unserer Leute« bezeichnet wird. Es passt zur Niedertracht dieses Charakters, dass die Konversion bedenkenlos und nur aus Gründen der Opportunität in Erwägung gezogen wird. »Auf ein paar Tropfen Wasser« komme es nicht an, erklärt Manasse, als er dem irritierten Voßwinkel seinen Neffen als Schwiegersohn empfiehlt, und ganz nebenbei fügt er die Bemerkung hinzu: »er bleibt ja doch derselbe.«68 Man sollte sich durch die Beiläufigkeit nicht täuschen lassen. Dieser Satz »er bleibt ja doch derselbe« ist für die Erzählung von zentraler Bedeutung, denn von ihm aus erschließt sich nicht nur Benjamins wahrer Charakter, sondern überhaupt die gesamte narrative Konstruktion des ›Jüdischen‹, da dieses tatsächlich in all seinen Ausfaltungen, Verdoppelungen und Referenzen auf ein einheitliches Substrat höchst negativer Prägung zurückgeführt werden kann. 64 65 66 67 68

BW S. 711. BW S. 677. BW S. 720. BW S. 677f. BW S. 678.

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Die Namen sind dabei einerlei, ob Benjamin, Manasse, Lippold, Ephraim oder Shylock,69 sie alle sind nur Signifikanten eines Signifikats, Zerr- und Spiegelbilder einer ewig sich gleichbleibenden Imago des geldgierigen, heimtückischen oder wie auch immer böse gearteten Juden, den es buchstäblich auszutreiben gilt.70 Es ist im Übrigen gar nicht nötig diese Deutung zu extrapolieren, denn die Erzählung selbst leistet dies bereits, und zwar durch die privilegierte Stimme des Meisters Leonhard, der nach dem endgültigen Abgang des alten Manasse ein Fazit zieht und die allegorische Konstruktion der jüdischen Figurenreihe enthüllt. Dabei wird einmal mehr ein klarer Gegenwartsbezug hergestellt und eine alle anderen literarischen wie historischen Reminiszenzen überwölbende Referenz auf den Mythos des Ewigen Juden eingeschaltet: Man will behaupten, er [Manasse] sei ein zweiter Ahasverus und spuke seit dem Jahre Eintausend fünf hundert und zwei und siebzig umher. Damals wurde er unter dem Namen des Münzjuden Lippolt wegen teuflischer Zauberei hingerichtet. í Aber der Teufel rettete ihn vom Tode um den Preis seiner unsterblichen Seele. Viele Leute, die sich auf so etwas verstehen, haben ihn hier in Berlin unter verschiedenen Gestalten bemerkt, woher denn die Sage entsteht, daß es noch zur Zeit nicht einen, sondern viele, viele Lippolts gäbe.71

Die Analyse dürfte deutlich gemacht haben, dass die unleugbar hohe ästhetische Komplexität der Brautwahl die antisemitische Tendenz der Erzählung keineswegs abschwächt. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, da avancierte poetische Mittel wie Perspektivismus, Phantastik und intertextuelle Vielstimmigkeit ganz gezielt eingesetzt werden, um der zeitkritisch intendierten Judensatire ein kenntliches Profil zu verleihen. Was am Text heute esoterisch oder dunkel anmutet, ist auf Lücken im kulturellen Gedächtnis zurückzuführen, die, wie angedeutet, durch Kontextrecherchen zu schließen sind. Hoffmann selbst konnte mit Lesern rechnen, die seine anti-jüdischen Spitzen aus eigenem Fundus zu ergänzen wussten. 69

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Folgt man von Maaßen, so gehört zu dieser Galerie auch noch der Münzjude Veit, der 1721 »mit einem Rückstande von 100.000 Talern aus dem Leben geschieden war, weshalb Friedrich Wilhelm I. die gesamte Judenschaft mit dem Bann belegen ließ« (Einleitung [wie Anm. 1], S. XXIV); als Referenz dient der in der Tat auffällige Umstand, dass Manasse bei seinem ersten Auftritt nach der Mode der Jahre 172030 gekleidet ist (BW S. 643). Schon zu Beginn der Erzählung hatte Leonhard gegenüber Manasse formuliert: »Seid froh, daß wir Euch leiden; denn mit Euerm brutalen Wesen seid Ihr ein unangenehmer Gast, den man eigentlich hinauswerfen sollte.« (BW S. 648) Am Ende kommt es dann tatsächlich zum Hinauswurf Manasses, wobei sein eigener Neffe Benjamin als Werkzeug der strafenden Nemesis fungiert: »Da packte der Neffe den lieben Onkel mit derben Fäusten, warf ihn zur Türe hinaus, daß ihm die Glieder knackten«. (BW S. 716) Sieht man nun in Manasse nach der von Hoffmann insinuierten Lesart die Inkarnation des ›Jüdischen‹, so gewinnen die Austreibungsphantasien des Textes eine noch bedrohlichere Dimension. BW S. 716.

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Preliminary Impressions and Observations concerning »Jewish« Advertisements in the Leipziger Allgemeine Zeitung in 18401 That 1840 was a significant year in the emergence of a Jewish press in Europe in general and in German-speaking lands in particular was a suggestion first made, I believe, by Baruch Mevorach.2 One must agree with his observation that this development had much to do with the Damascus Blood Libel Affair,3 which played an important role in many of the Jewish periodicals which began appearing that year, as well as in those established just a few years earlier. One example is the Allgemeine Zeitung des Judenthums, which supplied its readers with more reports and commentaries on the subject than any other periodical, and thereby established its predominance in the newly-emerging GermanJewish ›Öffentlichkeit‹. In the process of examining the validity of Mevorach’s suggestion – while engaged in preparing a course on the emergence of a Jewish press for the Open University of Israel – my attention was drawn towards one of the more important German-language dailies of the times, the Leipziger Allgemeine Zeitung (=Leipziger) in three major respects: (a) The Leipziger played the central role amongst German-language periodicals vis-à-vis the Damascus Affair, both in first fanning embers of suspicion (since mid-March 1840), and, subsequently, in extinguishing them; (b) the Leipziger supplied prominent German Jews with their single most important platform from which the German ›Öffentlichkeit‹ – via articles and advertisements – was supplied with information disproving the malignant suspicions; (c) during 1840 the Leipziger presented its readers – both Jews and Germans – with a considerably larger number of »Jewish« ads – a term elaborated upon later on – than any other German daily. The Leipziger Allgemeine Zeitung (=Leipziger) was founded in 1837 by the well-known publishing firm F. A. Brockhaus, publishers of the leading German-language academic reference work of the day – the influential multivolume Ersch and Gruber Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste – as well as many journals targeting the needs and aspirations of the 1 2

3

The author wishes to thank his colleague Ms. Roni Beer-Marx for her thoughtful comments and advice. Baruch Mevorah: The Impact of the Damascus Blood Libel Affair upon the Development of the Jewish Press in the years 1840-1846. In: Zion 23-24 (1958), pp. 46-65 (Hebrew). Jonathan Frankel: The Damascus Affair: »Ritual Murder«, Politics, and the Jews in 1840. Cambridge (UK): Cambridge University Press 1997.

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›Bildungsbürgertum‹. The newspaper quickly became one of the leading champions of political Liberalism and of the freedom of the press in particular. The Leipziger was often embroiled in legal battles with Prussian and Bavarian censors – battles which, of course, only increased its popularity. When the Leipziger was prohibited in Prussia and Bavaria in 1842, the enterprising editor changed its name to Deutsche Allgemeine Zeitung. Although it continued appearing until 1879, it never regained its pre-1848 stature. According to one contemporary source, around 1840 the Leipziger enjoyed a circulation of about 5,000 during the six days a week it appeared.4 This was only one half of the circulation of the leading daily, the Allgemeine Zeitung which appeared in Augsburg seven days a week and was published by the equally well-known Cotta firm. The Augsburger was also distinguished by the journalists it employed, the most popular of whom was the political radical, poet and essayist Heinrich Heine (1797-1856).5 In addition, there were about half a dozen German-language dailies which had circulations which ranged between the two figures mentioned above, but both dailies were considered to be the leading all-German organs (as distinct from the others, who enjoyed a more restricted and local readership). The Augsburger, the ideological-political rival of the Leipziger for the role of leading shaper of non-governmental public opinion, played second fiddle to the Leipziger vis-à-vis the Damascus Affair. Leipziger readers were supplied with more information about the Affair than readers of other dailies, and in addition – and in contradistinction to the Augsburger and to other German-language dailies – the Leipziger, was active both in stimulating and quenching controversy. This can probably explain why it was chosen to supply leading figures of German Jewry with a political platform, and also why it sported more »Jewish« ads than German dailies with an even greater circulation. In addition, there were many scores of dailies published in provincial towns which had considerably lower circulations – say, of between a few hundred and a few thousand – and many of these presented their readers with rather sparse information about the Affair. These facts encourage one to examine the Leipziger more closely for what it may possibly offer students of German-language media as a source for the study of modes of interaction between Germans and Jews on all three respective levels mentioned above. This is not the occasion to conduct a detailed and nuanced examination of the stance of the Leipziger vis-à-vis the Damascus Affair, but it should be kept in mind, that the fact that it devoted more space to it than any other Germanlanguage daily leads one to the conclusion that the mode of reporting the Affair by the Leipziger was influenced by considerations of circulation. In the 4 5

Bibliopolisches Jahrbuch für 1841. 5. Jahrgang. Leipzig: J. J. Weber 1841, p. 20. Günter Müchler: »Wie ein treuer Spiegel«: Die Geschichte der Cotta’ischen Allgemeinen Zeitung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, pp. 105-119 (»Korrespondent Heine«).

»Jewish« Advertisements in the ›Leipziger Allgemeine Zeitung‹ in 1840

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early stages, when news from Damascus was »imported,« as it were, from abroad, the Leipziger helped fan the most insidious speculations, such as by allowing an anonymous Jew-baiter to evoke the memory of Eisenmenger.6 But, simultaneously, it supplied a platform for pro-Jewish views, and in the Affairs’ ultimate stages, the Leipziger made efforts to arouse the sympathy of its readers towards the innocent victims of Oriental backwardness and barbarity. After mid-March, and during the later spring and early summer, news, articles and commentaries pertaining to the Damascus Affair appeared very frequently in the Leipziger – some brief but many page-long and longer – and sometimes at a frequency of once every two-to-three days! The mood of the Leipziger – and of the German-language press altogether – changed, however, considerably during that eventful year, and there appears to have been no difficulty in executing such a volte-face; if one just reflects upon it, latter-day newspapers – and other media – do so all the time. It should also be kept in mind that the Leipziger, before, after and in the very midst of leading the pack insinuating that the Damascene Jews were guilty as charged, presented its readers with news items supporting the ongoing struggle for emancipation. For instance, in December 1839, the Leipziger celebrated the appointment of Dr. Julius Fürst (1805-1873), the first Jew to be appointed, on merit, as lecturer at Leipzig university, as a harbinger of positive change: […] viel wichtiger aber erscheint aber die vorurtheilsfreie Behandlung väterländischer Behörden in einer praktischen Toleranz, wovon sich, was die Juden betrifft, in Holland, Belgien, Frankreich und England auf gesetzlichen Grunde viel Umfangreicheres, in Deutschland aber sonst nicht viel findet. An preuȕischen Universitäten sind zwar neuerlich viele, in Berlin und Halle sehr viele Gelehrte jüdischer Geburt angestellt worden, aber ohne Ausnahme nur unter der Bedingung ihres vorherigen Übertritts zum Christentum, ohne welche dort auch nicht eine Reisestipendium zugestanden wird.7

News reports such as these were soon marginalized by news reports about the Affair, but the Leipziger soon returned to its policy of rejecting discrimination

6 7

Eisenmenger über den Christenmord durch Juden. In: Leipziger, 2.5.1840, Nr. 123, Beilage, pp. 1305-1306. Leipziger, 1.12.1839, Nr. 335, p. 3892. Three weeks later, on the 23.12.1839, Nr. 357, p. 4142 the Frankfurt source of the Leipziger, while reporting that the general assembly of the local ›Lesegesellschaft‹ had decided that it did not have the jurisdiction to decide upon the proposition that Jews be admitted as members, defended this act by claiming that the rooms of the society were, indeed, too crowded and »theils ist nicht in Abrede zu stellen, daß durchschnittlich der jüdische Handelsstand, zu welchen die Mehrheit der Juden hier wie anderswo gehört, noch nicht auf gleicher gesellschaftlicher Bildungsstufe mit seinem christlichen Berufsgenossen steht«.

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and supporting the necessity of improving the legal status of Jews in German states, and particularly in the more reactionary ones such as Prussia.8 Before turning to our main subject, a few words are in order about the daily as the preferred platform for the dissemination of pro-Jewish information and propaganda. At an early stage of the Affair, the Jewish Community of Leipzig published a half-page »Announcement« (›Erklärung‹), defending Jewry and Judaism against the insidious and infamous insinuations. The editors of the Leipziger found it fit to attach a few lines distancing the paper from the antiJewish agitation.9 Of greater impact was another, smaller ad, which appeared about a month and a half later, entitled »Observation« (›Bemerkung‹), and signed by ›Mehrere jüdische Kaufleute‹ (A Considerable Number of Jewish Merchants), who expressed their dissatisfaction as follows: Es wundert uns weniger, daȕ mancher christliche Gelehrte seinen fanatischen Kitzel in der Beleuchtung längst verklungener und durchaus unbekannter, auch misdeuteter Talmudstellen befriedigt, als daß so viele j ü d i s c h e Gelehrte nicht nachdrücklich genug und mit den Waffen der Wahrheit und des Rechtes entgegentreten. Der geistreiche, gelehrte, Dr. Z u n z schreibt über eine alte Medaille, und unser R i e s s e r schweigt; Einer aber wird gewiȕ nicht länger mehr schweigen – der kühnste Held unsers Glaubens, Dr. G e i g e r !10

Dr. Zunz and Dr. Geiger, as well as Dr. Z. Frankel, future head of the Breslau rabbinical seminary – but not, inexplicably, Gabriel Riesser (1806-1863), the outstanding leader of German Jewry in the struggle for emancipation – joined the fray soon enough, the latter two in special ads, and the first in a longish scholarly article, and these were reported in the German press, and, of course, much more extensively in the German-Jewish journals of the day. These ads offer one some insights into the state of disarray German Jewry was situated in at the time, a disarray which inhibited its ability to respond more effectively to the challenges of the Damascus Affair. This is a subject which has been dealt with adequately in the major study of the subject by the late Jonathan Frankel, who described the complex role of the Leipziger as follows: Thus, the readers of the Leipzig daily could find there persistent attempts to demonstrate that the Talmud sanctioned or even prescribed human sacrifice – arguments buttressed variously by quotation from Eisenmenger, for example, and by materials supplied from Damascus; but there were also rebuttals from such well-known Jewish scholars as Leopold Zunz, Abraham Geiger, and Zacharias Frankel. Articles by Crémieux and Jacob Salvador, first published in France, were reproduced or summarized; and it was there that the Leipzig Jewish community published its vehement protest of 12 April against the policy of the press. (When will the noble German lan8

9 10

As of 13.3.1841, in Beilage Nr. 72 to 77, the Leipziger published a long and supportive series devoted to »Die Rechtsverhältnisse der Juden und die Stellung ihres Cultus im preußischen Staate, sonst und jetzt«. Leipziger, 3.4.1840, Nr. 164, p. 1096. Leipziger, 22.5.1840, Nr. 143, p. 1540. Emphasis in original.

»Jewish« Advertisements in the ›Leipziger Allgemeine Zeitung‹ in 1840

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guage, when will the humane German papers cease to besmirch themselves by the dissemination of so obvious and so dangerous a falsehood?).11

Before turning to the »Jewish« ads in the Leipziger, it must be mentioned that these constituted only a miniscule fraction of the ads. All in all we were able to find about three dozen »Jewish« ads in 1840, whereas many scores of ads appeared in each and every issue of the daily (which was often accompanied by a ›Beilage‹,12 equally profuse with news, articles and ads).13 A daily issue consisted in the main of about two to three dozen A4-sized densely printed pages, one half of which – or more – were devoted to ads. In short, the situation was not much different, it seems, from latter-day newspapers. Thus, all the difficulties involved in trying to arrive at conclusions about the readership of a latter-day publication by means of the ads gracing its pages must accompany us here too. Since a dozen of the ads inserted were for non-commercial purposes, i. e. they publicized the positions of Jewish bodies and persons in connection with the Affair, we are left with slightly more than two dozen »Jewish« ads of a commercial nature. Let us observe these two dozen ads a bit more closely and we will deal with them according to decreasing rates of appearance. The first »Jewish« ad, chronologically speaking, was also the one which appeared most frequently – an ad drawing the attention of readers to the appearance of a new Jewish weekly, Der Orient: Berichte, Studien und Krtitiken für jüdische Geschichte und Literatur, edited by our Dr. Fürst,14 the first Jew to receive the title of Professor at a German university. The next »Jewish« ad to appear was devoted to the same purpose, but was considerably larger, covering almost one-third of the page and offered readers a detailed description of the journal, high-lighting the contents of recent issues, 7 and 8.15 Four more ads promoting Der Orient appeared during 1840,16 and the last one of which was also the last »Jewish« ad to appear that year; it reminded potential customers that the weekly would be appearing next year as well and that it would be well worth their while: Diese Zeitschrift erscheint in wöchentlichen Lieferungen von je zwei Bogen, deren einer historischen, der andere literarischen Nachrichten gewidmet ist. Ueber den Gehalt und die Gediegenheit derselben haben sich bereits mehrfach die günstigsten 11 12 13

14 15 16

Frankel, The Damascus Affair (see note 3), p. 141. It should be kept in mind that the main issue and the Beilage were paginated separately. Our data has not been corroborated by a second perusal of the Leipziger and since some of the ads were pretty small we may have missed a few and therefore precise numbers have been avoided, in particular since they would, in any case, have been rather small in view of the very large number of ads. Leipziger, 26.2.1840, Nr. 57, p. 584. Leipziger, 5.3.1840, Nr. 65, p. 675. Leipziger, 24.5.1840, Nr. 145, Beilage, p. 1564; 18.7.1840, Nr. 200, p. 2184; 23.8.1840, Nr. 236, p. 2566; 24.12.1840, Nr. 359, p. 4008.

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Henry Wassermann Stimmen vernehmen lassen. An äußerer Eleganz übertrifft sie alle übrigen Journale ähnlichen Tendenz.17

But what is one to make of the fact that three ads for Der Orient appeared that same year in the Leipziger’s rival, the Augsburger, where ads for Der Orient also constituted the most common »Jewish« ad?18 Further – but fewer – Der Orient ads appeared in other German dailies. Why was Fürst fishing for potential Jewish subscribers more intensely amongst the readers of the Leipziger?19 The second most common ad was for a book written to exploit the growing interest of the public in the Damascus affair. Perhaps the better to achieve its purpose of defending the Jews against the accusation, it bore a neutral sounding title: Über den Ursprung der wider die Juden erhobenen Beschuldigung, bei der Feier ihrer Ostern sich des Blutes zu bedienen, nebst vollständiger Darstellung des jüdischen Rituals in Beziehung auf den Genuß des Blutes. Historisch-kritischer Versuch,20 and the identity of the author was hidden by a German-sounding pseudonym: Dr. Karl Ignaz Corvé.21 This ad appeared three more times in a similar format.22 Ads publicizing Corvé’s book appeared in at least one other well-known German-language daily;23 Corvé’s book was twice reviewed, favorably of course, in the German-Jewish press.24 The third most frequent »Jewish« ad was devoted to purveying a shortlived German-Jewish literary almanac, the first of which was an ›Ankündigung‹ covering about one third of the Leipziger page: Jeschurun: Taschenbuch für Schilderungen und Anklänge aus dem Leben der Juden auf das Jahr 5601, Isr. Zeitrechnung followed by an expansive description of the spirit hovering over it: […] Fern von aller separierenden Tendenz und jeder Polemik, welche nur Bitterkeit gegen den Widersacher, aber kein geläutertes Selbstbewußtsein hervorruft, wendet es sich mit den innersten Klängen unmittelbar an das Herz und Gemüth der Betheiligten sowol als der andersglaubenden Menschenfreunde; und dessen Bedarf es auch der einem emporstrebenden Volke, welches den W i l l e n der M a c h t , das W o r t der T h a t , die G e s i n n u n g der A n k l a g e entgegensetzen muß, weil er dann, innen gekräftigt und erhoben, sich nach außen behaupten kann. […]25

17 18 19 20 21 22 23 24 25

Leipziger, 24.12.1840, Nr. 359, Beilage, p. 4008. Allgemeine Zeitung (Augsburg), 2.1.1840, Nr. 2, Beilage, p. 14; 3.3.1840, Nr. 63, Beilage, p. 504; 8.3.1840, Nr. 68, Beilage, p. 544. Allgemeine Preußische Staats-Zeitung, 25.7.1840, Nr. 205, p. 824. Berlin: L. Fernbach 1840, 66 p. Leipziger, 9.5.1840, Nr. 130, Beilage, p. 1391. Leipziger, 10.6.1840, Nr. 162, Beilage, p. 1771; 22.7.1840, Nr. 204, p. 2216; 5.8.1840, Nr. 226, p. 2459. Vossische Zeitung, 1.6.1840, Nr. 126, p. [14]. Volkmar Eichstädt: Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage. Vol. I: 1750-1848. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1938, p. 88, Nr. 1079. Leipziger, 17.5.1840, Nr. 138, Beilage, p. 1483. Emphasis in original.

»Jewish« Advertisements in the ›Leipziger Allgemeine Zeitung‹ in 1840

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Subscribers were promised a special gift: a portrait of Dr. Riesser. The offer received more prominent notice in the following two ads.26 The remaining dozen ads or so appeared but once each and they constituted a mixed bag, indicating, perhaps, the various angles from which ›Die Judenfrage‹ could be approached. This term was to become a slogan only two years later, thanks to a provocative treatise bearing that name by the Left-Hegelian Bruno Bauer (1809-1882). It should be kept in mind, however, that many antiemancipation brochures, and particularly the more radical ones evoking antiSemitic animosity, often had to adopt a provocative style due to the broad support which Jewish emancipation enjoyed during the 1840’s in the German press; as a rule, the more popular a daily was, the stronger its commitment to emancipating Jewish co-citizens. It is the impression of this experienced reader of old newspapers that German dailies of the early 1840’s which did not support Jewish emancipation were a minority. They were often the ones with a more limited circulation, and they probably expressed their dissatisfaction with the issue by avoiding having to mention it or doing so as rarely as possible, rather than by finding fault with it. In addition to the pseudonymous booklet mentioned above, the Damascus Affair hovered over other ads, sometimes explicitly, such as in the one attracting attention to Der Pessachabend, oder: Beschreibung des Ceremoniels der Juden am sogenannten Osterabend. Ein Beitrag zum gottesdienstlichen Cultus der Israeliten27 by Moses Heinemann (1798-1850), and which was accompanied by a brief exhortation: Diese interessante Schrift wird hiermit Allen empfohlen, welche angeregt durch den s c h a u d e r v o l l e n M o r d i n D a m a s k u s sich über die Feier des Osterfestes bei den Juden belehren wollen.28

The publisher did not mention that it had been published five years earlier.29 Another title, probably targeted at a primarily Jewish audience, was a sermon by a well-known Reform preacher, J. Auerbach (1810-1887): Israels jüngste Heimsuchung im Morgenlande: Predigt gehalten Sonnabend den 9. Mai 1840 bei dem in Leipzig während der Messen stattfindenden deutsch-israelitischen Gottesdienste[].30 The Damascus Affair could not easily be separated from the ongoing debate vis-à-vis emancipating local, German, Jews. Did they still have much in common with their Oriental brethren? This aspect was reflected in titles such as 26 27 28 29 30

Leipziger, 27.8.1840, Nr. 240, p. 2611; 11.9.1840, Nr. 255, p. 2775. An ad also appeared in the Allgemeine Preußische Staats-Zeitung, 3.9.1840, Nr. 245, p. 986. Berlin: Gropius 1835, 32 p. Leipziger, 25.4.1840, Nr. 116, p. 1222. Emphasis in original. Leipziger, 8.11.1840, Nr. 313, p. 3471. Leipziger, 24.5.1840, Nr. 145, Beilage, p. 1564.

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Ahasveros: oder der Jude, wie er war, ist und sein wird,31 a title which was characterized as follows:32 Eine historisch-kritische Beleuchtung des Judentums und der Juden-Emancipation. Mit specieller Beziehung auf das Religionsbuch des Dr. Auerbach, Landrabbinen, nebst Grundzügen einer Reform des Judenthums. Von C[hristian G.]. Bender, Privatlehrer in Darmstadt. … Durch Anführung historischer Thatsachen bemüht sich der vorurtheilsfreie Verfasser in dieser Schrift darzuthun, daß von der Mehrzahl der Juden bis auf den heutigen Tag nichts geschehen, wodurch sie der beliebten Emancipation würdig seien, und daß Religionslehrbücher, wie das auf dem Titel angezogene, nicht geeignet sind, den ungebildeten Theil der Judenschaft einer bessern Geistescultur entgegen zu führen.33

Some ads boosted titles bearing just as intriguing a title, while adopting the opposite position: Aus den Papieren eines Selbstmörders: Ben-Lee oder Eine Emancipation der Juden ist n ich t denkbar34 by a E. Th. Wangenheim (18051849).35 This title was introduced as follows: »Höchst wichtige Schrift für Christen und Juden«. Ads promoting this title also appeared in other dailies.36 Two further titles, probably expressing concern about the possibly negative effects of emancipating the few Jews then living in Switzerland, were announced by miniscule ads and will receive miniscule reference here too.37 Some of the ads make for intriguing speculation vis-à-vis their target audience, such as a large ad, in French only, encouraging readers to subscribe to the weekly Archives israëlites de France, edited by Samuel Cahen (17961861).38 Some ads must have been directed towards more religiously-minded Jewish consumers: Examples are Mahnungen an Gott und Ewigkeit zur Beförderung wahrhaft Israelitischer Lebensweihe39 by Dr. J. L. Saalschütz (1801-1863), a well-known Reform rabbi of Königsberg and Zur Charakteristik des Religionswechsels: Sendschreiben an einen jüdischen Familienvater by Isaac B. Lowositz. The final sentence of the description of this tract reads as follows: 31 32 33 34 35 36 37

38 39

Darmstadt: C. W. Leske 1840, xii, 314 p. Lepiziger, 17.5.1840, Nr. 138, Beilage, p. 1483; Allgemeine Preußische StaatsZeitung, 6.6.1840, Nr. 157, p. 628. Other ads in dailies pushing this title: Kölnische Zeitung, 12.8.1840, Nr. 226, p. [4]. Leipizg: H. Franke 1840, 182 p. Leipziger, 13.8.1840, Nr. 226, p. 2459. Wangenheim was also the author of: Der Jude des neunzehnten Jahrhunderts. Leipzig: Georg Wigand’s Verlag 1835. Allgemeine Zeitung (Augsburg), 21.8.1840, Nr. 234, Beilage, p. 1863; 13.11.1840, Nr. 318, p. 2535. Leipziger, 21.10.1840, Nr. 295, p. 3279: Aufruf zum Widerstande gegen die Verbreitung jüdischer Lebensansichten und jüdischer Religionsbegriffe and Sieben Sendschreiben des ewigen Juden an die Zürcher Geistlichen, both published by Huber and Co. in St. Gallen and Bern. No traces of these titles remain in Israeli data banks. Leipziger, 7.7.1840, Nr. 189, p. 2056. Königsberg: A. W. Unzer 1840, 125 p.

»Jewish« Advertisements in the ›Leipziger Allgemeine Zeitung‹ in 1840

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Diese mit dem Ernst, den der Gegenstand fordert, doch auch für Ungelehrte klar und verständlich abgefaßte Schrift sollte von keinem Israeliten ungelesen bleiben und dürfte zumal Staatsmännern, Theologen, wie den überhaupt jedem Gebildeten eine höchst wichtig und wohl beachtende Erscheinung sein.40

One of the more intriguing ads covered about one-third of the page and attempted to draw the attention of Jewish readers to Der Stein der Weisen und Humanen: Wichtige Aufschlüsse für Kenner der hebräischen Literatur. Hebräisch verfaßt und frei ins Deutsche übersetzt, by an A. E. Loeb. It was a missionary tract, and one which, like many of its genre, tried to conceal its true purpose: […] Israel, du ältester Sohn und Archiv aller Religionen, halte fest den Bund der Väter! Vergiß nicht die vielen Leiden, die sie unschuldig erlitten haben! – Edler Christ, du zweiter Sohn! Halt fest den Bund deiner Väter, von welcher Sekte du auch bist. Sprich für die Unschuld deines armen Bruders Israel und trockne seine Thränen! Und o edler Ismaelit, du jüngster Sohn! Halte ebenfalls den Bund deiner Väter fest […].41

Due to the previous interest of the author in the reception of early Wissenschaft des Judentums by the German ›Bildungsbürgertum‹ – and by German academics in particular42 – it caused me some satisfaction to encounter ads making efforts to draw the attention of readers to new titles in this field, and some of them may well have been written by Germans.43 One of these ads was for a study by a major scholar, Abraham Geiger's annotated, scholarly edition of Melo Chafnajim: Biographie Josef Salomo del Medigo’s, dessen Brief an Serach ben Nathan enthält einen kurzen Leitfaden der hebräisch-jüdischen Literaturgeschichte nach dem hier zum ersten Male herausgegebenen Origi40 41 42

43

Leipziger, 7.11.1840, Nr. 312, p. 3459. Leipziger, 16.7.1840, Nr. 198, p. 2172. I did not succeed in tracing this title. A study is in progress, and one interesting conclusion thereof can be shared here: the reception was often surprisingly positive, only to sour considerably in the 1870’s, particularly, so it appears, under the malignant influence of Stoecker and, even more so, of Treitschke. During 1841 the number of »Jewish« ads was less by about one half, but among these were three inviting readers to supply original material for the first edition of Mendelssohn’s collected writings (and one ad calling for subscriptions to the completed edition); three ads for C. L. Fritsche: Der jüdische Alexandrismus, eine Erfindung christlicher Lehrer; two ads for ›Landrabbiner‹ Dr. Salomon Herxheimer’s translation of Der Pentateuch. Die fünf Bücher Mose’s in correctem hebräischen Texte mit wortreue Übers., vollständige Erklärung, und erbaulichem und homiletisch benutzbaren Andeutungen für Juden und Christen [Berlin: Sewent 1840, 5 vols. in 2]; one ad for Moses Chaim Luzzatto: Choker und Mekubbal oder Philosoph und Kabbalist [Leipzig: A. Böhme 1840]; and one English-language ad for A. Asher (ed. and translator): The Itinerary of Rabbi Benjamin of Tudela [New York: »Hakesheth« 1840, 2 vols.].

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nale übersetzt und durch Anmerkungen erweitert,44 the autobiography of the physician, mathematician and astronomer (a student and follower of Galilei) Joseph Solomon Delmedigo (1591-1655).45 Less well-known were: Der Geist der talmudischen Auslegung der Bibel by a Hirsch S. Hirschfeld (18121884);46 and an Allgemeine biblische Geographie. The German language ad did not mention that the reference work was a two volume, Hebrew-language tract published in Vilna a year before.47 Last but not least, the largest ad of all, about one half page in size, was a very detailed description of the contents of a scholarly edition – prepared by our Dr. Fürst – of a classic of pre-modern, critical, anti-Kabbala research Sefer Ari Nohem oder Streitschrift über die Echtheit des Sohar und den Werth der Kabbala, by the Venetian Rabbi and scholar Leon da Modena (1571-1648). The appearance of this ad in the Leipziger,48 however, may also be an indication that the interest in the Kabbala was still alive, and not only amongst Jews. This is evidenced by the necessity of proving once again the utter falsity of the claim of the major work of Jewish mysticism to antiquity and authenticity by identifying Moses de Leon (a late 13th century figure in Spain) as the consummate forger of all of the Zohar. Interest in the Kabbala (and in the Zohar in particular) never really vanished as definitely as Gershom Scholem, the reviver of its study in the early twentieth century, would have us believe.49 Having completed the more descriptive part of our survey, let us attempt to summarize our findings. We began our observations by pointing out the considerable number of commercial ads in the Leipziger which were devoted to boosting the sales of Der Orient (and of the Jeschurun almanac too). In other German dailies one can find quite a few ads boosting these and other Jewish periodicals, such as Allgemeine Archiv des Judenthums50 and Israelitische Annalen.51 But one should note the total absence of ads furthering the sales of the most important Jewish weekly of all, the Allgemeine Zeitung des Judenthums, which did not find it necessary to pay for ads in German-language dailies (or even in the German-Jewish press). On the contrary, its success probably applied pressure upon its competitors to try to survive by inserting ads in German newspapers, a measure which did little to save them. Most of the German-Jewish publications succumbed within a decade or less, whereas the

44 45 46 47 48 49

50 51

Berlin: L. Fernbach 1840, lvi, 104, 80, vii p. with Hebrew text and title page. Leipziger, 12.4.1840, Nr. 103. Leipziger, 15.10.1840, Nr. 289, p. 3203. Leipziger, 26.9.1840, Nr. 270, Beilage, p. 2965. Leipziger, 22.8.1840, Nr. 235, p. 2555. A study-in-progress of Scholem’s Bibliographia Kabbalistica will point out that the bibliographer systematically ignored evidence concerning the interest of non-Jewish scholars in works of Jewish mysticism during the mid- and later 19th century. Allgemeine Zeitung (Augsburg), 11.3.1840, Nr. 71, Beilage, p. 568. Allgemeine Zeitung (Augsburg), 23.11.1840, Nr. 328.

»Jewish« Advertisements in the ›Leipziger Allgemeine Zeitung‹ in 1840

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Allgemeine Zeitung des Judenthums outlived World War I (and was relaunched as the C.V.-Zeitung in 1922). What is one to make of the non-commercial »Jewish« Leipziger articles described briefly above vis-à-vis our interest in the use of German-language media as a source for the study of avenues of interaction between Germans and Jews? The very fact that German-Jewish weeklies republished the copy contained in these Leipziger articles indicates, convincingly I believe, that the German-Jewish press of the mid 19th century should not be discussed without taking into consideration what was being printed in contemporary German dailies. Indeed, the active pre-occupation of the liberal German press with the central Jewish issues of the day – Emancipation and Reform – indicates the intensity of the German-Jewish dialogue being conducted.52 The non-commercial Leipziger articles surely reflected attempts at influencing the attitudes of readers. But, which readers were these? Around 1840 Jews constituted about 1.5 % of the population in the German Confederation, but since they were already beginning to be more represented among the moneyed classes, one can, perhaps, double (or triple?) their representation amongst potential readers, but such a figure – three to five percent at the most – would still not be of much help here. It was the special political-ideological character of the Leipziger which made it the preferred platform for these controversial articles. Vis-à-vis the »Jewish« ads of a commercial nature: Since there were quite a few Jewish periodicals oriented to the Jewish segment of the population alone, contemporaries interested in inserting ads pushing »Jewish« titles in the Leipziger may well have been targeting readers both Jewish and non-Jewish. The Leipziger was an ideal abode for ads targeted at Germans and Jews. The notoriety and influence of the Leipziger, as a location for the purveyance of both anti-Jewish and pro-Jewish sentiments, provide reasons why the 1840 equivalents of modern advertising firms considered it worthwhile to invest their hardearned money in »Jewish« ads in the Leipziger. One must also keep in mind that the context of the ads in the Leipziger and in other dailies was one of very intensive debate. In consideration of the events in Damascus and in the Near East, would it not perhaps be risky to acknowledge Jews as citizens? Were German Jews – in contradistinction to their Oriental brethren – really eligible for full citizenship? These were some of the thoughts which the intensive coverage of the Damascus Affair – and of ›Die Judenfrage‹ in general – in the Leipziger could not but raise in people's mind – and, it appears this approach may well have encouraged the insertion of more »Jewish« ads. It appears that more »Jewish« ads and a more intensive coverage of the Damascus Affair – and of the ›Die Judenfrage‹ in general – went hand in hand. 52

The Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage supplies more than enough support for this claim, even without taking into consideration that it is incomplete in many respects.

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Henry Wassermann

One should also not be surprised to find a significant number of »Jewish« ads after 1840 as well. ›Die Judenfrage‹ as a political issue became more important with every passing year. In addition, the interest in the accusation that Jews used blood in their Passover rituals was kept alive by some enterprising authors and occasioned further debate.53 Also, the number of caricatures and cartoons depicting Jews in popular, middle-class, periodicals such as the Fliegende Blätter definitely did increase during the 1840’s.54 Since advertisers in the Leipziger must have been as interested in not wasting their money and in reaching the right audience as are today’s advertisers, the increased appearance of commercial »Jewish« ads leads one to the supposition that Jews must have been considered to be active readers of and subscribers to the newspaper. However, it is impossible to provide any numerical estimate here. And, it is probably even more difficult to find out why contemporary advertisers suspected that more Jews preferred reading the Leipziger than other dailies. We do know for sure that considerably fewer »Jewish« ads appeared in other dailies. But, again, the numbers we are dealing with are too small to effectively support any wider-ranging conclusion. Perhaps one can learn something about the presumptive Jewish readers of the Leipziger and of other German dailies – insofar as the hunches of pennypinching advertisers can be trusted – if one considers what kind of »Jewish« ads graced, or did not grace, the pages of other German dailies. First of all, it is interesting to note that most of the ads in other dailies did not differ much from what we have observed in the Leipziger. The ads purveying titles dealing with specifically Jewish-religious matters in the Leipziger were by authors politically and ideologically close to the Reform camp represented in the Leipziger ads, that is, to Saalschütz, Auerbach, Zunz, Geiger, etc. The ads which could be found in other German-language dailies were not much different. Very few ads in German dailies purveyed titles or merchandise intended for purchase and use by Orthodox Jews. The relatively few ads for prayer books were, as a rule, for titles prepared by persons close to the Reform movement. One example is the ad for Festgebete der Israeliten, prepared by the well-known Viennese Reform rabbi and preacher I. N. Mannheimer (1793-1865), and it could be found in a number of dailies.55 This was no indication, however, that Orthodox prayer books were no longer being purchased. Orthodox Jews simply did not need modern journalistic organs to direct them or to help them acquire their preferred prayer books; publishers specializing in these objects invested 53 54 55

Frankel discusses works by Daumer and Ghillany, which tried to prove that Jews did indeed use human blood in their ancient rituals. Henry Wassermann: The Fliegende Blätter as a Source for the Social History of German Jewry. In: Leo Baeck Institute Year Book XXVIII (1983), pp. 93-138. Allgemeine Zeitung (Augsburg), 8.9.1840, Nr. 252, p. 2006; ÖsterreichischKaiserliche privilegierte Zeitung, 27.3.1840, p. 584; 29.3.1840, p. 600; 31.3.1840, p. 616; 6.4.1840, p. 568. Only the first six months of this daily were perused.

»Jewish« Advertisements in the ›Leipziger Allgemeine Zeitung‹ in 1840

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less in advertising, and when they did so, they preferred doing so in the Jewish periodicals of their choice.56 In conclusion one is thus led, I believe, to a view of the Leipziger as one of a number of sites where ›Die Judenfrage‹ in its many ramifications – one of which was the Damascus Affair – was debated intensely and in a reciprocal fashion by both Germans and Jews during the early 1840’s (and thereafter). Also, one gains the impression that the exposure of Germans to these issues was considerably more intense – and more positive – than usually depicted.

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To the best of my knowledge, ads in German-Jewish papers is another neglected subject.

Hans-Jürgen Schrader

»Gedelöcke«. Der christlich-jüdische Skandalfall von 1729 in Wilhelm Raabes Novellentransposition

Der Fall des Kopenhagener Kurators Jens Pedersen Gedelöcke, dem wegen seiner Annäherung an jüdische Riten und Glaubenslehren ein christliches Begräbnis verweigert wurde und der bis zum schließlichen Verscharren auf freiem Felde unter massivem Einsatz der Staatsgewalt, bei tumultuösen Konfrontationen der Religionsparteien, dreimal beerdigt und zweimal wieder exhumiert worden war, hat 1729 und in den Jahren danach immenses publizistisches Aufsehen erregt. In wiederholt aktualisierenden Meldungen der Tagespresse (bis hin zu vier Artikeln in der Berliner Vossischen Zeitung),1 in einem speziellen Theologenpamphlet gegen den ruchlos-unrechtgläubigen Vormundschaftsjuristen und seine gefährlichen Lehren2 und bis in den zeitgenössischen Roman3 hinein ist damals der Casus reflektiert worden. Hätte 1

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Diese vier markant antijudaistisch getönten Artikel in der Berliner »Vossischen Zeitung« vom 26. April, 31. Mai, 21. Juni und 2. Juli 1729 über den »Procurator Nahmens Geddelochi«, der angeblich »sich seit einigen Jahren mit den Juden und ihrer Religion meliret, zu selbiger würklich übergetreten« sei, und über seine Beerdigungsgeschicke sind nur bekannt geblieben, weil sie in eine verbreitete Sammlung geschichtlich-kurioser Tagesneuigkeiten aufgenommen worden sind. Eberhard Buchner: Das Neueste von gestern. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. Bd. 2: 1700-1750. München: Langen [1912], S. 213f. Als erster darauf aufmerksam gemacht und die Artikel reproduziert hat Friedrich Sack: Zeitungsberichte über den Fall Gedelöcke. In: Mitteilungen für die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes 17 (1927), H. 2, S. 94-96. Raabe hat diese seiner Quelle um zwei Jahre voraufliegenden – zufolge einiger Widersprüche übrigens eher unzuverlässigen – Berichte nicht gekannt. Raabes unter Kryptonym erschienene Quelle, I.H.K.: Der sonderbare Glaube […] des CVRATORIS JENS PEDERSEN GEDELÖCKS. Cölln (an der Spree = BerlinNeuköln) 1731; dazu das Nähere im Folgenden. [Erik Pontoppidan:] Mendoza, Ein asiatischer Printz. Welcher die Welt umhergezogen Christen zu suchen […] Aber des Gesuchten wenig gefunden. 3 Teile, zuerst Kopenhagen 1742-43, in der deutschen Übersetzung von Nic. Carstens, ebd. 1747. Auf die Gedelöcke-Episode in diesem theologischen Lehr-Roman des kirchlich-pietistischen Hofpredigers (eigentlich Erik Ludwigsen Jespersen) zuerst aufmerksam gemacht und sie in extenso abgedruckt hat die umfänglichste und tiefstschürfende Untersuchung der Raabeschen Novelle durch den Kopenhagener Germanisten Heinrich Anz: »Leichenbegängnisse«. Zum Verfahren der geschichtlichen Erzählung in Raabes »Gedelöcke«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1982, S. 110-124, hier S. 111. Zum Autor vgl. den Artikel von A. Michelsen: Pontoppidan

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Hans-Jürgen Schrader

aber nicht Wilhelm Raabe vier Generationen später den wütenden Abwehrtraktat des kryptonymen, bis heute nicht identifizierten, bei Abfassung seiner Schrift nicht mehr im Amte stehenden dänischen Theologen auf einem Stuttgarter Flohmarktstreifzug am 20. September 1856 in einem bis heute in seiner Bibliothek erhaltenen Sammelband antiquarischer Kuriosa erworben und hätte ihn die hanebüchene »Relation«, die er da zu lesen bekam, nicht sogleich zu einer schon am 29. Januar 1866 abgeschlossenen literarischen Umarbeitung gereizt,4 dann wäre diese beispielhafte Geschichte über konkrete Berührungs- und Interaktionsverhältnisse zwischen Christen und Juden in der Phase vor der sozialen »Emanzipation« der jüdischen Gemeinschaft kaum in Erinnerung geblieben. Obwohl der Fall außer im dänischen Staatsarchiv in Hillerød auch in Kopenhagener Polizei- und Konsistorialakten und schließlich, falls erhalten, in den Archivalien der dortigen Jüdischen Gemeinde allerlei (zu erforschen bleibende, allerdings neben den paläographischen zugleich deutsche, dänische und hebräische Sprachkenntnisse voraussetzende) Spuren hinterlassen haben müsste,5 sind bis auf regionalhistorische Reminiszenzen und eine kurze Darstellung in der Monographie von Hans Joachim Schoeps, Philosemitismus im Barock,6 nur jene Zugänge der publizistischen und literari-

4

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der Jüngere. In: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hg. von J[ohann] J[akob] Herzog, G[ustav] L[eopold] Plitt und A[lbrecht] Hauck. Bd. 12. 2. Aufl. Leipzig 1883, S. 121-124. In der den Werkzitaten im Folgenden zugrunde gelegten »Braunschweiger Ausgabe«, Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Bd. 9. 2. Teil: Erzählungen. Hg. von Karl Hoppe, Hans Oppermann, Constantin Bauer und Hans Plischke. 2., durchges. Aufl., besorgt von Hans Oppermann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976 (im Folgenden: BA 9/2), Text S. 165-210, Kommentar von Constantin Bauer und Hans Hoppe S. 455-466, knapper Abriss von Anlass und Entstehungsprozess S. 455f. Den Zitaten im Text nachgestellte Paginierungen in runden Klammern (»Raabe, Seitenzahl«) verweisen auf diese Ausgabe von Raabes »Gedelöcke«. Knappe Angaben zur Entstehung (mit Lit.) auch in Wilhelm Raabe: Stuttgarter Erzählungen. Werke in Einzelausgaben. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Bd. 1. Frankfurt: Insel 1985 (inseltb; 881), S. 338f., Textabdruck ebd., S. 237-285. Was davon veröffentlicht ist, ist ausgewiesen bei Anz, »Leichenbegängnisse« (wie Anm. 3), S. 116: »einige Quellen zum Fall Gedelöcke sind abgedruckt bei J. P. Becker, Om Jens Pedersen Gedelöche, der gik over til den jödiske Tro 1729, in: Kirkehistoriske Samlinger, utgivne af Selshabet for dansk Kirkehistorie, Bd. 1, København 1849-1852, S. 117-122.« Hans Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock. Religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen. Tübingen: Mohr 1952, S. 87-91; neuerdings wieder zugänglich in der vom Sohn des Verfassers verantworteten Werkausgabe, HansJoachim Schoeps: Gesammelte Schriften. Hg. vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Red. Julius H. Schoeps. Erste Abt.: Religionsgeschichte. Bd. 3 (»Aus frühchristlicher Zeit« – »Philosemitismus im Barock« – »Symmachusstudien«). Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1998, mit gleicher Paginierung. Vgl. die Zusammenfassung, Kontextualisierung und Weiterführung bei Hans Schneider: Ein ›Schreiben an die Juden‹ (Freiwillige Nachlese III.4). Hoch-

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schen Überlieferung verfügbar geworden, die der Fleiß der Raabe-Forschung aufgegraben hat. Raabes Quelle für das seiner Erzählung zugrunde liegende Faktum ist die überhaupt umfänglichste, dabei aber auch entschieden parteiischste und in ihren massiv antijüdischen Voreinstellungen und Stereotypen ideologischste, mann, Zinzendorf und Israel. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine 17 (1985), S. 68-77, hier S. 76. Der Schoeps»Appendix II Jens Pedersen Gedeløche« (S. 87-91) benennt die biographische und lokalhistorische »dänische Literatur über Gedeløche, die mir R. Edelmann von Kongl. Biblioteket Kopenh. angab« und die Schoeps, der ausschließlich von der Relation des I.H.K. von 1731 eine regestartige »Inhaltswiedergabe des in der Fürstlich Hohenloheschen Bücherei in Schloß Neuenstein erhaltenen Druckexemplars« abdruckt, die ihm »Studienrat Otto Naumann (Öhringen)« angefertigt hat, »leider nicht mehr einsehen« konnte. Die Angabe des dort, in einer Adelsbibliothek des nordwürttembergischen Kochertals, erhaltenen Exemplars dieser wichtigsten Quelle ist signifikant für das (im Folgenden zu beleuchtende) frömmigkeitsgeschichtliche Netzwerk. Denn offenbar ist jener Band von dem aus Öhringen stammenden und dort wie auch in Neuenstadt an der Linde alchimistisch tätig gewesenen dänischen Hofarzt und Medizinalreformer der Jahre 1736-1742 unter König Christian VI., Johann Samuel Carl, in die Heimat gesandt worden, der als Organisator philadelphischer Gemeinden und zeitweiliger Inspirierter zum extremsten Flügel des radikalen Pietismus gehörte und auch als spiritualistischer Schriftsteller hervorgetreten ist (vgl. Friedrich Fritz: Johann Georg Rosenbach. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 18 [1948], S. 39-41). Carl hat z. B. die Zeitschrift Geistliche FAMA begründet und den VI. Teil von Johann Henrich Reitz’ Sammelbiographie »Historie Der Wiedergebohrnen« (Berleburg 1730) herausgegeben. Vgl. die Artikel Hans-Jürgen Schrader: Johann Samuel Carl. In: SchleswigHolsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 5. Neumünster: Wachholtz 1979, S. 6064 und neuerdings Ulf Lückel: Johann Samuel Carl (1676-1757). In: Andreas Kroh/Ulf Lückel: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Bruchsal: Horn 2003, S. 3541. Umfassender Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie Der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989 (Palaestra; 283), S. 89-93, 156, 194f., 198-200, 206f., 209-213 (und s. Reg.). Vgl. über ihn und sein Wirken in Kopenhagen die medizingeschichtlichen Grundlagenstudien von Christa Habrich: Therapeutische Grundsätze pietistischer Ärzte des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie. Beilage zur Deutschen Apotheker Zeitung 31 (1982), S. 121-123; dies.: Mediziner und Medizinisches am Hofe des Grafen Casimir zu Sayn-Wittgenstein (1687-1741). In: ebd. 35 (1983), S. 138-144 oder dies.: Zur Ethik des pietistischen Arztes im 18. Jahrhundert. In: Wolfram Kaiser/Arina Völker (Hg.): Ethik in der Geschichte von Medizin und Naturwissenschaften. Halle/Saale: Abt. Wissenschaftspublizistik d. Martin-Luther-Univ. HalleWittenberg 1985 (Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität; 55/E 77), S. 69-83. Für seine Stellung in der Inspirationsgemeinde und die quälende Loslösung aus ihr insbes. Ulf-Michael Schneider: »Strohkram und Wage«. Johann Samuel Carl in seinem Verhältnis zu den Inspirierten. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 76-101. – Die auch mir bibliothekarisch und sprachlich kaum zugängliche dänische Gedelöcke-Forschung bleibt in künftigen Studien zu berücksichtigen.

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der (übrigens keineswegs in rokoko-zierlichem »Sedez«-Format, wie ein Raabe-Forscher vom andern abschreibt, sondern im zeittypischen Groß-Oktav gedruckte, IV + 71 S. umfassende) Traktat7 jenes nur mit seinen Anfangsbuchstaben zeichnenden theologischen Eiferers »I. H. K.«, Der sonderbare Glaube, Leben, Erstaunender Tod Und Merckwürdige Begräbniß des CVRATORIS JENS PEDERSEN GEDELÖCKS, Welcher Am ersten Oster= und Auferstehungs=Tag JESU Christi in Copenhagen als ein vorhero gewesener Christ Wie ein ungläubiger Jude gestorben, Derer darinnen vorkommenden sonderlichen Begebenheiten halber der curieusen Welt mitgetheilet Von I. H. K. – Cölln, 1731.

Wer »der Autor« ist, der sich hinter dem Kryptonym verbirgt, deutet sich an in seiner in »Copenhagen / d. 10. Oct. 1731.« gezeichneten »Vorrede«. Wir haben es offenbar mit einem studierten, nicht aber mehr praktizierenden Theologen zu tun, dem der Sachverhalt traumatisch ist, dass er entweder nie in den Kirchendienst gelangt oder daraus entfernt worden ist: in einem illiteraten Lebensberuf muss er ohne den für Akademiker selbstverständlichen gelehrten Apparat auskommen; und nicht einem ernsthaften Fachpublikum darf er sich mitteilen, sondern »der curieusen Welt«, den sich an Sonderbarkeiten und Sensationsmeldungen zerstreuenden Unterhaltungsbegierigen.8 Als Unberufener muss er sich verteidigen, dass er sich mit seiner Schrift »in Theologische Sachen mische«, obwohl er doch »von denen Studiis keine Profession mehr mache«: es rühret nicht her aus einem gelehrten Gehirn; ob ich gleich vor diesem die Bücher geliebet, und annoch bey müßigen Stunden hochhalte. […] Wann nun die Studia 7

8

Beim Fahnden nach dem im Erzähleingang selbst gegebenen Hinweis auf den Titel und seinen Fund an einem Stand des Stuttgarter Trödelmarkts hat Wilhelm Fehse diese Quelle in Raabes Bibliothek (heute Stadtbibliothek Braunschweig, Sign. I 16/157) zuerst ermittelt und mit breiten Paraphrasen sowie (lautlich-orthographisch modernisierten) Zitaten vorgestellt. Wilhelm Fehse: Gedelöcke. In: Mitteilungen für die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes 4 (1914), Nr. 3, S. 74-84, dort S. 75 die dann überall übernommene falsche Formatangabe »ein Büchlein im Sedezformat«. Wieder abgedruckt in Constantin Bauer (Hg.): Raabestudien. Wolfenbüttel: Heckner 1925, S. 251-261. Vgl. (eingeordnet nicht unter der Kryptonym-Abkürzung »K« des Nachnamens, sondern unter »sonderbar«) im »Verzeichnis der RaabeBibliothek« bei Gabriele Henkel: Studien zur Privatbibliothek Wilhelm Raabes. Vom »wirklichen Autor«, von Zeitgenossen und »ächten Dichtern«. Braunschweig: Stadtbibliothek 1997 (Braunschweiger Werkstücke, Reihe A; 44), S. 134-235, hier S. 219. Zum Begriff des »Kuriösen« und zur Sammlung der Kuriositäten vgl. grundlegend Günter Oesterle: Eingedenken und Erinnern des Überholten und Vergessenen. Kuriositäten und Raritäten in Werken Goethes, Brentanos, Mörikes und Raabes. In: Gerhard Schulz/Tim Mehigan (Hg.): Literatur und Geschichte 1788-1988. Bern u. a.: Lang 1990, S. 81-111; ebd., S. 101-104 zu »Kuriosität und Humor bei Raabe« und zu Raabes Rehabilitierung des »Abgetanen«, kraft dessen er jenseits bloßer Unterhaltlichkeit einen authentischen »Erfahrungs- und Erinnerungsraum von Geschichte« entstehen lässt.

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bereits eine geraume Zeit abandonniret, und in andern Verrichtungen meine Employ suche, so kanst du leichte gedencken, daß es ohne Bücher ausgeführet; indem solche nicht besitze. (I.H.K., Vorrede)

Was ihn zu seinem Bericht sowohl motiviert als auch trotz seiner Position außerhalb der gelehrten Welt qualifiziert, ist einerseits, »daß dasjenige, was du hier liesest, die Wahrheit; indem die rechten Uhrkunden dazu gehabt«, andererseits »daß theils die Ehre GOttes mich dazu angetrieben, theils auch eine andere Ursache da sey, welche ich nicht entdecke, gnug! daß sie GOtt bekandt.« Im »Cap. I.« seiner Abhandlung »Von seinem Leben und Glauben«, in dem er sich ausführlich und unter Aufbietung von detailliertesten kontroverstheologischen und auch bibel-philologischen Kenntnissen, gespickt mit zahllosen hebräischen, griechischen und lateinischen Zitaten und Termini, mit den von Gedelöcke hinterlassenen Schriften und Aufzeichnungen auseinandersetzt (mit den Unterabschnitten dogmatischer Untersuchungen ihrer Aussagen »Vom Tode derer Menschen«, »Von der Auferstehung«, »Vom Jüngsten=Gerichte« und »Von dem Himmel und Hölle«), um ihn so als einen gemeingefährlichen Erzketzer zu erweisen, wird nämlich deutlich, dass er vor dem mit dem Gedelöcke-Fall befassten Untersuchungsgericht als Zeuge und Sachverständiger offenbar just in diesen Fragen der Kompatibilität mit der Kirchenlehre aufgetreten war. Nur, was auf die Fragen der Rechtgläubigkeit Bezug hat, will er aus seinen Befragungen der Ehefrau, Mette Niels, sowie der zehnjährigen Tochter Gedelöckes anführen, um deren Empfindungen zu schonen, »da sie an allem unschuldig« seien und er sie nicht ferner »zu betrüben gedenke«. »Gnug, daß ich dieses, was auf allergnädigsten hohen Königlichen Befehl, bey dem Hoch=löblichen Policey-Gericht ausgesaget, bemerke.«9 Erst, nachdem er vierzig Seiten lang nach allen Regeln polemischer Bestreitung die Einzelpositionen der Lehrdoktrin abgehandelt hat, kommt er dann auf nur mehr (überdies oft neuerlich in die dogmatische Auseinandersetzung zurückfallenden) dreißig Seiten in weiteren zwei Kapiteln auf das, was allein das Interesse »der curieusen Welt« an diesem Fall ausmacht: »CAP. II. Von Gedelöcks Tode, und was sich dabey ereignet.« (I.H.K., S. 41), »Cap. III. Gedelöcks Begräbniß, und was sich dabey merckwürdiges zugetragen.« (S. 54), mit einem der bereits abgeschlossenen Relation angehängten Nachtrag (»unvermuthet kommt eine gantz andere Nachricht, welche zwar heimlich sollte gehalten werden, nichts destoweniger aber in der gantzen Stadt kundbahr wurde«, S. 68). Da wird dann erzählt, wie dem Curator, da er die von ihm nach der Lektüre rabbinischer Schriften und sogar persönlichem Umgang mit dem Vorsänger der Jüdischen Gemeinde, Heinrich Israel, in Zweifel gezogenen christlichen Heilswahrheiten selbst noch auf dem Sterbebett vor den zu seiner reuigen Umkehr herbeigeeilten Beichtigern verschmäht habe und ihm deshalb die christliche Beerdigung versagt worden sei. Als dann ruchbar wurde, dass 9

I.H.K., Der sonderbare Glaube (wie Anm. 2), S. 8.

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ein empörter Studiosus die Leiche ohne Bewilligung (unter dem Vorwand, es handle sich um einen abgedankten Soldaten) auf dem Garnisonsfriedhof bestattet habe, habe das zu dem Prozess vor dem Polizeigericht geführt, das der Jüdischen Gemeinde, zu der sich Gedelöcke ja doch offenbar gehalten habe, auferlegt habe, ihn unter entehrenden Zwangsmitteln wieder aus dem geweihten Boden heraus und zwischen den eigenen Ehrengräbern unterzubringen. Deren Suppliken, unterstützt durch einen hohen Geldbetrag an die Armenkasse, hätten schließlich ein halbes Jahr später zu der Bewilligung geführt, den als Verunreinigung des gemeindlichen Gräberfelds empfundenen Zwangsbestatteten von dort zu entfernen und anonym auf freiem Feld zu entsorgen. Wenn ein so bis in die letzten Quisquilien der kontroverstheologischen Polemik kundiger und als Gerichtssachverständiger der Anklage berufener Gelehrter, der gerade nach dem Verlust aller akademischen Positionen und in einem Tätigkeitsfeld, das ihm jenseits der Notizen aus früheren Zeiten den Zugang zu Büchern abschneidet, sein stupendes Wissen ebenso wie seine Befähigung zu auch poetischer Polemik in langen Alexandrinergedichten ostendiert, dann liegt es nahe, dass seine Entfernung aus der geistlichen Laufbahn politisch gegründet war, möglicherweise gar mit seiner Rolle in jenem Prozess zusammenhing. Vielleicht deuten darauf auch Indizien der Publikation hin. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass ihr eine dänische Version vorausgegangen wäre. Dies müsste prinzipiell nicht verwundern, erfolgten doch theologische Publikationen im dänischen Gesamtstaat des frühen 18. Jahrhunderts, wenn nicht in Latein, so meist auf deutsch. Das hing zusammen mit dem noch weithin lutherischen Theologen-Import; in erstaunlichem Umfang wurde sogar noch in deutscher Sprache gepredigt. Das Impressum nennt aber nicht, wie für eine solche Schrift von doch eher lokalem Interesse zu erwarten wäre, »Copenhagen« oder »Havniae«, sondern einen Druckort fernab im deutschen Reichsgebiet, »Cölln«, also Kölln an der Spree, Berlin-Neuköln. In den Berliner Raum gab es offenbar, wie die intensive Berichterstattung über das Kuriosum in der Vossischen Zeitung schon gleich nach Gedelöckes Tod und diversen Beerdigungen nahelegt, gute Verbindungen, dortige Druckereien aber wären nach den Reichs-Zensurordnungen verpflichtet gewesen, sich (und grundsätzlich überdies den Verleger) auf dem Titelblatt namentlich auszuweisen. Die (ebenso ordnungswidrig) auch ihren Verfasser nicht benennende Schrift entstand so, gleichgültig, ob nun der angegebene Druckort stimmt oder sich unter seiner Fiktion eine dänische Winkeldruckerei verbirgt, zweifellos in einer rechtlichen Grauzone. Anscheinend hatte das Buch aufgrund der Maßregelung des Verfassers nicht legitim erscheinen können. Das mag mit einem grundlegenden Umschwung der politischen Landschaft und des gesellschaftlich-religiösen Lebens in Dänemark zusammenhängen, den auch Wilhelm Raabe in seiner Erzählung reflektiert, den er aber in einer grundlegend umgewendeten Demonstrationsabsicht vollkommen andersartig auf den Gedelöcke-Fall bezieht. Nach dem Tode des kriegerisch-macht-

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bewussten, in seiner Förderung des großzügigen Wiederaufbaus Kopenhagens nach dem Brand von 1728, von repräsentativen Militär-Bildungsanstalten, aber auch eines glänzenden Schauspielwesens der Aufklärung nahestehenden Königs Friedrich IV. am 12. Oktober 1730 war nämlich mit dem Regierungsantritt seines schwermütig veranlagten und öffentlichkeitsscheuen, strikt pietistisch gesonnenen Sohns Christian VI. ein ganz anderer Geist mit insbesondere radikal veränderten kirchenpolitischen Ratgebern und Zielsetzungen eingezogen. Der nun rühmlich-konsequenten Friedenspolitik, der Erneuerung der Universität und (nach hallesch-pietistischem Vorbild) Förderung der Realfächer, etwa durch Gründung des Theatrum Anatomicochirurgicum und Collegium medicum, trat lähmend ein unter dem Staatsziel einer Erneuerung des religiösen Lebens sich breit machendes pietistisches Muckertum an die Seite, Verbote aller weltlichen Belustigungen (»Adiaphora«) und vor allem des als Hort der Verstellung und des Lasters verdächtigten Theaters: »Alle Arten von Schauspielen wurden im Lande abgeschafft und allen Schauspielern, Marionettenmeistern, Taschenspielern und Glückstopfhaltern, wurde der Eintritt ins Königreich untersagt.«10 Wilhelm Raabe, dem jede Frömmelei ebenso zuwider war wie religiöser Parteigeist und beschränkter Dogmatismus, lässt seinen Gedelöcke zum Freund des dänischen Lustspieldichters Ludvig Holberg und gleich ihm auch selbst zum hohnlachenden Aufklärer, ja in seiner inneren Freiheit gegenüber dem in vorgegebenen Bahnen denkenden »Hornvieh« zum freigeistigen Vorläufer Kants werden, der den altbösen Finsterlingen aller Couleur einen Schabernack spielt, den religiösen Eiferern und Streittheologen ebenso wie dem ancien régime ihres Bündnisses von Thron und Altar:

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Peter von Kobbe: Schleswig-Holsteinische Geschichte vom Tode des Herzogs Christian Albrecht bis zum Tode Königs Christian VII. (1694 bis 1808) (= Christiani/Hegewisch: Geschichte der Herzogthümer Schleswig und Holstein unter dem Oldenburgischen Hause fortgesetzt [Bd. 5]). Altona: Hammerich 1834, S. 141, für die Zeit Friedrichs IV., dann Christians VI. und schließlich des nach seinem Tode am 6.8.1746 nachfolgenden, höfischen Prunk und Theater wieder aufleben lassenden jungen Sohns Friedrich V., ebd., S. 133-170. Vgl. auch die umfänglichen Artikel »Friedrich IV., König von Dänemark« und »Christian VI., König von Dänemark« in: Meyers Konversationslexikon. 5., gänzl. neubearb. Aufl. Bd. 4. Leipzig, Wien 1894, S. 129 sowie Bd. 6, ebd., S. 906. – Grundlegend für die Argumente der pietistischen Theatromachie sind Studien von Wolfgang Martens: Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietismus, und ders.: Hallescher Pietismus und schöne Literatur (mit dem Kapitel »Schauspiele, Komödien, Opern«). Zuletzt in: Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen: Niemeyer 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 25), S. 24-49 und 76-181, insbes. 94f., speziell zur Oper John D. Lindberg: Der Pietismus und die deutsche Barockoper: Zusammenprall zweier Welten. In: Gerhard Hoffmeister (Hg.): Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Bern, München: Francke 1973, S. 251-257.

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Hans-Jürgen Schrader Ein gewisses Blinzeln der kleinen, doch sehr hellen Augen ließ vermuten, daß er a priori wie a posteriori den Kreis seiner Erfahrungen wohl zu erweitern wisse, und das Fältchen in den Mundwinkeln deutete darauf hin, daß er seinen lieben Nachbarn, Freunden und Verwandten nicht alles kommuniziere, was er im Geiste bewege. Man wußte in der Stadt Kopenhagen, daß er mit dem Königlichen Professor der Geschichte, Herrn Ludwig Holberg, in einem sehr lebhaften Verkehr stehe, und was dieses zu bedeuten hatte, das konnte jedermann sagen, der sich an dem großen Gelehrten und kuriösen Humoristen ergötzte und ärgerte […]. (Raabe, S. 168f.)

Als solchen aber lässt er ihn zum Exponenten des unter Friedrich IV. voran dringenden Geists weltfroher Aufklärung werden, der, nachdem sich unter den Kleingeistern der Nachbarschaft die Fama ausgebreitet hat, der Kurator streife allgemach sein Christentum ab wie die Schlange ihre Haut; er gehe zu seinem größten Seelenschaden nur noch mit den verstockten Juden, ihren Lehrern, Rabbinern und Büchern um, zum Tische des Herrn sei er schon seit Jahren nicht mehr gegangen, den Sonntag halte er nicht mehr heilig, wohl aber der Juden Sabbat, und vor dem Fleisch der Schweine habe er einen unchristlichen Ekel (Raabe, S. 170),

gut daran tut, »daß er, als Königliche Majestät im Jahre 1730 das Zeitliche segnete, über jegliche Anfechtung sich ebenfalls schleunigst erhob.« (S. 171) Mit dem Ende nämlich »Herrn Friedrichs des Vierten« sah er die Phase des freien Geists und der (auch religiösen) Selbstbestimmung beendet: Dieser Monarch war zur Betrübnis aller gottseligen Leute nicht so leicht dazu zu bringen, in solchem Falle einen Spezialbefehl ergehen zu lassen; er war ein feiner, lustiger und polierter Herr, welcher seine Freude am Leben hatte und jeden Untertan für das Heil seiner Seele selber sorgen ließ. Wie konnte er, der sogar das Privilegium für das erste dänische Nationaltheater gab und den »politischen Kannegießer« selbst darin belachte, […] dazu gebracht werden, einem Untertan ins Haus zu rücken, weil die Nachbarschaft behauptete, der Mann verrichte seine Andacht mit Gebärden […], welche dem lutherischen christlichen Ritus und Zeremonial ein Greuel seien? Er tat’s nicht, und der Kurator blieb […] unangefochten; aber […] Herr Christianus, des Namens der Sechste, stieg auf den dänischen Thron, der »dänischen Komödie Leichenbegängnis« wurde aufgeführt; die dänische Welt veränderte in jeder Weise ihr Gesicht; doch das ist unsere Geschichte. (Raabe, S. 171)

So sind in der Welt der Raabeschen Geschichte die Fronten klar: unter Christian VI. gewinnen nicht nur Duckmäuserei und ein die Künste wie alles Selbstdenken einschnürendes Dunkelmännertum wieder die Oberhand: die Komödie, zuvor noch durch Friedrich IV. aus wirtschaftlichem Ruin wieder aufgerichtet,11 wird geschlossen (Holberg, dessen Lustspiel gegen beschränkten Untertanengeist Den politiske Kandstøber 1722 mit riesigem Erfolg das erste 11

Auf die Wechselgeschicke des dänischen Staatsschauspiels und Raabes Parallelisierung mit der Gedelöcke-Handlung geht Werner Röpke in seinem »Nachwort« zu der (mit einer Scherenschnittserie von 1923 reizvoll illustrierten) Einzelausgabe der Erzählung ein: Wilhelm Raabe: Gedelöcke mit Scherenschnitten von Dora Bergas. Braunschweig 1950, S. 125-128.

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dänische Originalstück des neuen Nationaltheaters gewesen war, konnte freilich seine Satire auf die Lachunlust des gravitätischen Honoratiorentums und die pietistische Theatromachie, Den danske Comoedies Liibegængelese / Leichenbegängniß der Dänischen Comödie, erst nach der Wiedereröffnung der Schaubühne unter Friedrich V. drucken und auch aufführen lassen).12 So bleibt ersatzweise nur dem modernen Historienerzähler, anstelle Holbergs und über ihn hinaus gegen menschliche Beschränktheit, Anmaßung und den Widersinn der Welt eine historisch fundierte Komödie in satirischer Prosa zu schreiben, denn »Herr Ludovikus hat keine bessere Komödie aufführen lassen« (Raabe, S. 181), »Wäre dem Herrn Ludovico Holbergio nicht der Fuchsschwanz hinten angebunden, er könnte ein fein Stücklein darüber in Reime bringen« (Raabe, S. 203). Und wenn uns somit viele und arge Mühe erspart worden wäre, so würde das liebe deutsche Publikum im ganzen und großen doch den meisten Schaden davongetragen haben, denn wahrlich kein Autor hätte ihm diesen Gedelöcke erfunden; der heutige lichte Tag, so über alle Maßen duldsam und ohne Vorurteile, würde es nicht gelitten haben. (Raabe, S. 168)

Historisches Dichten freilich ist immer auf Probleme und Reflexionsgehalt der eigenen Zeit bezogen. In diesem Fall zwischen dem Deutsch-dänischen Krieg und dem Kulturkampf sind aktuelle Vorurteile im Visier, die sich noch immer auf längst unzeitgemäße dogmatische Unduldsamkeit und Kasuistik gründen: der alle verjährten Hassbilder belebende neue Antisemitismus und ein wieder zu politischem Einfluss gelangendes neupietistisches Frömmlertum. In diese Konstellation passt es, wenn Raabe in seinen die Holzschnittmanier alter Volksbücher und Jahrmarktsschriften parodierenden Überschriften den Freidenkenden, den Marginalisierten und von der machtbewehrten Dummheit leidsam Geschundenen ein Bündnis gegenüberstellt von »dem ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel von der Trinitatiskirche« (Raabe, S. 171), den er mit dem hinter ihm stehenden Kirchen-Konsistorium zum Sachwalter des dogmatischen Aberwitzes seines kryptonymen Gewährsmannes der Quelle macht, und »Von dem Teufel, dem Herrn Polizeimeister und Seiner glorwürdigen Königlichen Majestät, Christiano dem Sechsten« (Raabe, S. 201). Der historischen Wahrheit aber, dem, was sich zwischen Gedelöcke, Staat und Kirche, Orthodoxen und Pietisten, Juden und Christen tatsächlich abge12

P. von Kobbe, Schleswig-Holsteinische Geschichte (wie Anm. 10), S. 170, vgl. U[rs] J[enny]: Ludvig Holberg. Den politiske Kandstøber. In: Walter Jens (Hg.): Kindlers Neues Literaturlexikon. Studienausgabe. München [1996], Bd. 7, S. 1048f. und H[orst] B[ien]: Ludvig Holberg. In: Gerhard Steiner/Herbert GreinerMai/Wolfgang Lehmann (Hg.): Lexikon fremdsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Bd. 2. Leipzig: Bibliograph. Inst. 1981, S. 57f. sowie Anz, »Leichenbegängnisse« (wie Anm. 3), S. 115. Treffende Charakterisierung Holbergs und seiner Wirkung auf die deutsche Komödie der Aufklärung bei Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels. Leipzig: Weber 1923, S. 132-136 (und s. Reg.).

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spielt hat, entspricht das nicht. Heinrich Anz hat als bisher einziger Interpret darauf hingewiesen, dass Raabe, der es weniger auf die historische Wirklichkeit eines faktischen Geschehens, als auf die symbolische Wahrheit einer möglichen, nämlich dominanten Triebkräften der Historie kongruenten Geschichte abgesehen habe (»Verwandlung des bloß Historischen in das Authentische geschichtlichen Zusammenhangs«), eine entscheidende Umdatierung und damit Ummotivierung vorgenommen hat, in der Absicht seiner utopischen Schlussperspektive auf eine Art idealer, aufgeklärter Gemeinschaft, gewiß im tragischen Winkel der Geschichte, aber sinnbildlich genug, um die aufklärerische Möglichkeit der Geschichte überdauern zu lassen.13

Gedelöckes Sterbedatum am »ersten Oster= und Auferstehungstag JESU Christi« (I.H.K., Titelblatt) des Jahres 1729 nämlich verlegt der Dichter – mit wiederholter Erinnerung an die Jahresangabe – um zwei Jahre in das Erscheinungsjahr der historischen Relation seiner Quelle, »um die neunte Abendstunde des ersten Ostertages 1731« (Raabe, S. 185) bzw. »des durch ihn so denkwürdigen Jahres 1731« (Raabe, S. 184). Die Handlung mit den unberufenen Ärzte- und Predigerbesuchen hatte er, slapstickartig ausgemalt mit Figuren und Zitaten eines anderen postbarocken Traktats in seinem auf dem Trödelmarkt erstandenen Sammelband, der Medizinersatire Der Medicinische Bernhäuter / […] ehedessen in calecutischer Sprache herausgegeben / […] aber anjetzo verteutscht durch Septimum Podagra M.D. – Gedruckt im Jahr 1720,«14 bereits »im unfreundlichen Monat Februar des Jahres 1731« (Raabe, S. 171) einsetzen lassen. Und er hat sie bis zum Eintreffen der Nachricht vom dritten Leichnam-Verscharren im Kreise der am Ende in Elend und Verbannung zurückbleibenden Freunde und Testamentsvollstrecker Gedelöckes »im Herbste des Jahres 1731« (Raabe, S. 198) fortgeführt. Gleichgültig, ob das merkwürdige Verschweigen der Jahreszahl in seiner vermutlich ja einzig benutzten Quelle zum Gedelöcke-Fall, der Relation des I.H.K., ihn hier getäuscht hat oder nicht: die so oft wiederholte Jahreszahl und ihr Bezug auf die wenige Monate zuvor erfolgte Thronbesteigung von Christian VI., damit der Wechsel aus einer Ära der Aufklärung in frömmle13 14

Anz, »Leichenbegängnisse« (wie Anm. 3), S. 117, 124. Raabes intensive Nutzung dieser mit dem Gedelöcke-Fall natürlich in gar keiner anderen als der zufälligen buchbinderischen Beziehung stehenden Flugschrift gegen Alchimie und Charlatanerie in der zeitgenössischen Medizinalpraxis für die Ausgestaltung von Lustspielpersonal und Lustspielmotivik seiner Novelle (bis hin zum Sachverhalt, dass die Gicht, also Podagra, seine auf genießliches Wohlleben zurückgeführte, jedoch den Geisteszustand in keiner Weise trübende Todesursache Gedelöckes wird) hat zuerst E[rnst] A[ugust] Roloff: »Von den Herren Doktores Primus et Sekundus«. Eine Quelle zu Raabes »Gedelöcke«. In: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft 35 (1948), H. 1, S. 25-27 ausgewiesen. Vgl. BA 9/2 (wie Anm. 4), S. 455 und 461f.

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rischen Obskurantismus, ist für seine Konzeption der Geschichte grundlegend. In der historischen Realität aber regierte zu Ostern 1729, als Gedelöcke starb, und in den Folgemonaten bei seiner dreifachen Beerdigung ja noch der »Aufklärer«-König Friedrich IV. Dieser gekrönte Aufklärer also, für den Berichterstatter »unser allergnädigster Erbkönig und Herr […] als ein Gerechter und Christlicher Monarch« (I.H.K., S. 59), dem »als summo episcopo« (I.H.K., S. 53) die Kirchenaufsicht zustand, hatte mit seiner lutherisch-orthodoxen Pfarrerschaft die Edikte und Anordnungen gegen den »jüdischer« Abirrung verdächtigten Kurator und gegen die jüdische Gemeinde erlassen – durchaus nicht erst sein schwermütig-frömmelnder Nachfolger mit seiner späteren pietistisch beherrschten Staatskirche. So ist auch bei genauerem Hinsehen der parteiische Relator des Falls kein Exponent der neuen pietistischen Ideen, sondern ein strammer Orthodoxer, der anscheinend gerade um seiner Starrheit willen, mit der er die öffentliche Unruhe und Störung des Religionsfriedens befördert hatte, nach dem Thronwechsel aus seiner Theologenlaufbahn entlassen und gemaßregelt wurde. Als Eiferer für die orthodoxe Dogmatik tritt dieser I.H.K. auch explizit hervor, indem sie sich an jene wendet, die gleich ihm »die rechte Orthodoxie« haben (I.H.K., S. 51), und durch den namentlich genannten Gewährsmann in der dogmatisch korrekten Ausdeutung des Jakobssegens Gen 49,10 über die Ankunft des »Schilo«, dem »die Völcker anhangen« werden (I.H.K., S. 45 und 46), auf Jesus und nicht im Sinne der Juden und Gedelöckes auf einen erst endzeitlich erscheinenden Messias. Dieser rechtsinnigste Lehrer nächst Luther selbst nämlich ist für ihn »das Lumen Saxonicum, der sehr gelehrte und vortreffliche Sächsische Theologus Löscherus« (I.H.K., S. 46). Valentin Ernst Löscher (1673-1749) aber war außer in eigenen theologischen Schriften namentlich durch seine drei weitverbreiteten Periodica, Unschuldige Nachrichten, Theologische Annales und Vollständiger Timotheus Verinus, der strikteste Sachwalter einer kämpferischen Spätorthodoxie gegen jede Abweichung oder Lehrerweichung aus dem Geist des sich entfaltenden Pietismus und dann der Aufklärung.15 Und exemplarisch zeigt I.H.K. auch an, wo für ihn der Herd der Verfälschung und Verdrehung der konfessionell rechtsinnigen Lehrpositionen liegt – im Pietismus nämlich überhaupt und besonders in dessen radikalen, mystisch-spekulativen Randzonen: Die lutherisch korrekte Übersetzung und christologische Auslegung des genannten Bibelverses 15

Vgl. neuestens (mit Lit.) den Artikel von Johannes Wallmann: Valentin Ernst Löscher. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. von Hans Dieter Betz u. a. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. (RGG4). Bd. 5. Tübingen: Mohr/Siebeck 2002, Sp. 518, bibliographische Angaben zu seinen Rezensionsorganen gegen pietistische und aufklärerische Lehrabweichungen z. B. in meiner seine orthodoxe Polemik häufig heranziehenden Abhandlung, Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 6), S. 528f., 531 und 558 und s. Register.

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Hans-Jürgen Schrader wird niemand, ohne die neuen Fanatischen Ubersetzer und Verkehrer der heiligen Schrifft (worunter auch der mit zu rechnen, der die Biebel zu Berleburg Anno 1726. in folio heraus gegeben, und mit Chiliastischen, Mystischen, Fanatischen und Pietistischen Noten erklären wollen) verneinen. (I.H.K., S. 47)

Dieser Hinweis deutet darauf hin, in welche geistesgeschichtliche Ecke der historische Gedelöcke mit seinen spekulativen Bekenntnispositionen und seiner empfundenen Nähe zum Jüdischen wirklich einzuordnen ist. Nicht ein aufklärerischer Freigeist war er wie bei Raabe, sondern ein eigenbrötlerischer Adept von spiritualistischem und radikalpietistischem Gedankengut, das gerade im dänischen Gesamtstaat einen soliden Nährboden besaß und sich im scharfen Gegensatz zur Orthodoxie durch ausgesprochen judenfreundliche Auffassungen und auch Verhaltensformen auszeichnete.16 1710-1712 bereits war in Wandsbek und Schiffbek bei Hamburg (wie Altona auf dänischem Staatsgebiet gelegen – denn innerhalb des römisch-deutschen Reichs wäre die Publikation durch die Zensurverpflichtung auf die jeweils allein gültige Kirchenlehre des Druck-Territoriums gar nicht möglich gewesen) die Biblia Pentapla erschienen. Herausgeber war der nach dem Urteil der Orthodoxen »Verkehrer der heiligen Schrifft« Johann Otto Glüsing, Schüler des auf der Grundlage eschatologischer Spekulation über die biblisch verheißene christlich-jüdisch-heidnische Verbrüderung beim Erscheinen des Welterlösers und Errichtung seines Friedensreichs in Jerusalem exponiert philosemitischen Johann Georg Gichtel, der in Altona eine besonders zahlreiche Anhängerschaft hatte.17 Er nämlich hatte heterodoxerweise zum versweisen Vergleich nicht 16

17

Dazu grundlegend Martin Schmidt: Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Karl Heinrich Rengstorf/Siegfried von Kortzfleisch (Hg.): Kirche und Synagoge. Bd. 2. (Stuttgart 1970.) 2. Aufl. München: Dt. TaschenbuchVerlag 1988 (dtv; 4478), S. 87-128, und (spezifischer insbes. für den radikalen Pietismus) Hans-Jürgen Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum. In: Hans Otto Horch/Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Bd. 1. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 71-107, als Grundlegung für die im Vergleich mit den ideologischen Vorprägungen im alten Europa sehr viel offeneren Begegnungsmöglichkeiten im (stark pietistisch durchsetzten) kolonialen Nordamerika Hans-Jürgen Schrader: Philadelphian Hope. The Attitudes of Pietist Immigrants in Pennsylvania toward Jews. In: Pietismus und Neuzeit 28 (2002), S. 185-212, vgl. Peter Vogt: The Attitude of Eighteenth Century German Pietism toward Jews and Judaism. A Case of Philosemitism? In: The Covenant Quarterly 56/4 (1998), S. 18-32, und jetzt die Anthologie von Peter Vogt (Hg.): Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Texte zur Stellung des Pietismus zum Judentum. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007 (Kleine Texte des Pietismus; 11). Einstieg zur Forschung über Gichtel und seine »Engelsbrüder« gibt Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtel. In: RGG4 (wie Anm. 15), Bd. 3, Tübingen: Mohr/Siebeck 2000, Sp. 924, zum Einfluss im dänischen Staat vgl. auch Schoeps, Philosemitismus (wie Anm. 6), S. 56-59. Seine Autobiographie ist aufgenommen in die Sammlung der den Pietisten vorbildlichsten Glaubens- und Lebenszeugnisse,

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allein die Bibelübersetzungen der in Deutschland und den Niederlanden rezipierten Konfessionen synoptisch nebeneinander abgedruckt, sondern dazu eine aus dem Jiddischen transliterierte (in den Wortformen der Hochsprache angenäherte) Jüdische Bibel, die der Amsterdamer Verleger Joseph Athias in Rücksicht auf die der Ursprache unkundigen Frauen, aber auch den Rückgang hebräischen Sprachverständnisses bei den Männern 1679 (und als Titelauflage erneut 1686) herausgebracht hatte und die nunmehr mit den Vorreden des Verlegers und des Übersetzers Josel Witzenhausen durch die Umsetzung in lateinische Schrift eine erste Direktbegegnung der Christen mit jüdischer Bibel-Spiritualität ermöglichte.18 Da konnte nun jeder die Lehrdivergenz in Bezug auf den zur Debatte stehenden Vers des Jakobssegens Gen 49,10 synoptisch aufgeführt finden. Wo die »Luthersche Ubersetzung« gibt »bis daß der Held komme* [* Jes. 9/6. Matth. 2/6.] Und dem selben werden die Völcker anhangen« und die reformierte Johannes Piscators »bis daß kommen wird sein Sohn / und demselben die Völcker gehorchen werden«, gab die »Jüdische

18

Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Teil III. [Offenbach] 1701 (Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile, 1696-1745, hg. von HansJürgen Schrader, Tübingen: Niemeyer 1982, Bd. 1 [Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 29/1], Teil III), S. 192-215. Biblia Pentapla, das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments / nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung. Bd. 1 (Genesis bis Psalmen), o. O. [Schiffbek]: Holle 1711, Bd. 2 (Lehrbücher bis AT-Apokryphen), ebd. 1712, Bd. 3 (Das Neue Testament, mit – in der Spalte der für das AT jüdischen Übersetzung – einer neuen pietistischen Eindeutschung durch Johann Henrich Reitz), Wandsbek: Holle 1710. Vgl. meine Spezialstudie mit näheren Literaturangaben zum Herausgeber Glüsing, zu seinem Lehrer Gichtel und dem Altonaer Engelsbrüder-Kreis, zur Athias-/Witzenhausen-Version und zur Transliterierung aus den hebräischen Typen des »Jüdisch-Deutschen«, wahrscheinlich durch den auch das Register besorgenden Tübinger Hebraisten Matthäus Hiller, sowie zu den spezifischen Zensur-Voraussetzungen in den zu Dänemark gehörenden Vorstädten Hamburgs, Hans-Jürgen Schrader: Lesarten der Schrift. Die Biblia Pentapla und ihr Programm einer »herrlichen Harmonie Göttlichen Wortes« in »Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung«. In: Ulrich Stadler (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 199-218. Dort auch Hinweise auf die sofort nach Erscheinen des NT-Bandes erfolgende orthodoxe Abweisung durch den Wandsbeker Pastor Michael Berns: Endeckung [!] Des Greuel Wesens / Welches die so genandte Neue Christen / Mit der biß dahin In Wandesbeck gedruckten BIBLIA PENTAPLA vorhaben. Hamburg 1710, und Rezension dieser Schmähschrift in [Valentin Ernst Löscher (Hg.):] Unschuldige Nachrichten. Bd. 11 (1711), 7. Stück, S. 127-134. – Vgl. zur Athias-Bibel bereits Johann Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten. Bd. 1. Frankfurt, Leipzig 1714; S. 285, neuerdings Andreas Nachama/Gereon Sievernich (Hg.): Jüdische Lebenswelten. Katalog. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag Suhrkamp 1992, S. 321 zur »Pentapla« Hermann Patsch: Arnoldiana in der Biblia Pentapla. Ein Beitrag zur Rezeption von Gottfried Arnolds Weisheits- und Väterübersetzung im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 94-116.

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Ubersetzung« »wenn Maschiach (der Gesalbte) wert kummen / und ihm werden sich die Völker einsammelen«.19 Die ebenso radikalpietistischem Geist verpflichtete und von I.H.K. explizit genannte ›Berleburger Bibel‹, jenes ebenso »philadelphisch«-transkonfessioneller Harmonie verpflichtete, seit 1726 in acht Bänden erscheinende Bibelwerk der nachfolgenden Generation radikaler Pietisten, das unter der wissenschaftlichen Leitung des Johann Friedrich Haug und unter dem Schutz des Grafen Casimir von Sayn-Wittgenstein-Berleburg einer Neuübersetzung insbesondere eine opulente Kommentierung des vierfachen Schriftsinns jedes Verses mit den Aufschlüssen der ganzen von der orthodoxen Kirchenlehre zurückgewiesenen Auslegungstradition der Mystiker und Spiritualisten an die Hand gab,20 kommentierte diesen Passus zwar durchaus im Hinblick auf die endzeitliche Wiederkehr Jesu, setzt ihn aber in kenntnisreichen Verweisen auf rabbinische und kabbalistische Auslegungen mit dem erwarteten Messias der Juden gleich: (Der siloh komme) ʠʡʩ ʤʬʩʹ macht per Gematriam in der Zahl so viel als ʧʩʹʮ der Meßias […] – 358. Woraus geschlossen wird / daß der Schiloh / so da kommen soll / niemand anders sey als der Meßias. Und Es ist einem Herzen worinnen der H. Geist wohnet unstreitig gewiß / daß er von dem wahren Heyland JEsu Christo rede. […] Dessen Bedeutung ist / wie es viele dolmetschen / ruhig / fried=machend, heyl=bringend. […] Es kann aber überdiß Schilo auch wol so viel heissen als Kind / Leibes=Frucht oder Sohn. […] Von diesem Worte mercket sogar das uralte ebräische Buch Sohar genannt an / daß es mit einem ʩ und ʤ geschrieben werde und anzeige den göttlichen Namen. […] Ob nun wol die redlichsten und ältesten Juden diese Weissagung von dem Meßia annehmen / […] sie auch selbst nicht unter einander eins werden können / was das Szepter und wer der Schilo sey. Uns kan genug seyn / daß die älteren und beßten Rabbinen keinen andern dadurch verstehen / als den Messiam. […] Es wird aber das Zufallen der Völcker noch erst recht 19

20

Biblia Pentapla, Bd. 1 (wie Anm. 18), S. 167; vgl. ebd. Josel Witzenhausens Erläuterung der Prinzipien, theologischen Fundierung und sprachlichen Orientierungen seines Übersetzens in seiner »Apologie des Ubersetzers« (erster »zur Jüdischen Ubersetzung gehöriger Vorbericht«) ebd., S. )( )( 2r-3v. – In der Neuübersetzung durch Buber und Rosenzweig lautet der Passus »Im Anfang« 49,10 »bis daß kommt Dems-zusteht, – ihm der Völker Botmäßigkeit!« Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 12., verb. Aufl. der neubearbeiteten Ausgabe von 1954. Gerlingen, Darmstadt: Schneider/Wiss. Buchges. 1997 (Die Schrift; 1), S. 144. Titel- und nähere Literaturangaben Schrader, Lesarten der Schrift (wie Anm. 18), S. 202f., zu Zensurquerelen um angeprangerte Lehrabweichungen, namentlich in der Christologie, Hans-Jürgen Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht. Der Zensurfall »Berleburger Bibel«. In: Herbert G. Göpfert/Erdmann Weyrauch (Hg.): »Unmoralisch an sich…«. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz 1988 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens; 13), S. 61-88, zum geistesgeschichtlichen Kontext von Entstehung und Druck auch ders., Literaturproduktion (wie Anm. 6), S. 63-73, 111-130, 182-201, 207f., 225f., 232-236 und die Anm. dazu.

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angehen / wenn die Fülle eingehen und gantz Israel selig werden wird. […] Aus dem Wort ʺʤʷʩ soll ein Jud selber gar artig bemerket haben / was für Völcker dem Schilo sich unterwerffen und gehorsam werden würden: nämlich ʩ Juden / ʷ Christen / ʤ Heyden / ʺ Türcken / unter welchen 4 Namen alle Völcker der Welt begriffen sind [Pfeiffer Crit. sacr. Cap. 7. Sect. I, § 7.].21

Die orthodoxen Lehrwächter im eilfertigen Bestreben, dass sie solchem »spiritui erroris, duce spiritu veritatits, cognito detrahemus laruam«, auf dass »citius hoc velut Augiae stabulum expurgaretur«,22 weisen in ihren Belegen, wie die »grosse Berleburger Bibel […] Aufsehen und Gegenstand erwecket«, besonders darauf hin, dass diese »grosse Berleburgische Bibel sehr starck

21

22

Kommentar der ›Berleburger Bibel‹ zu Gen 49,10: Die Heilige Schrifft Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / Wie auch der fürnehmsten Fürbildern und Weissagungen von Christo und seinem Reich / Und zugleich einigen Lehren die auf den Zustand der Kirchen in unseren letzten Zeiten gerichtet sind; Welchem allem noch untermängt Eine Erklärung die den inneren Zustand des geistlichen Lebens […] in der Seelen […] zu erkennen gibt. Bd. 1. Berleburg 1726, S. 270. In der Vorrede zu diesem Band wird auch die Mannigfaltigkeit des vierfachen Schriftsinns aus der Jüdischen Exegesetradition abgeleitet: »Die Juden erkannten solches wol / welche vormals sagten; es wäre in der Schrifft kein einziger Buchstab / woran nicht ganze Berge der Erkenntnissen hiengen, […] GOtt redet offt was aus / da sowol der buchstäbliche als geistliche und auch der profetische Verstand zugleich miteinander ausgesprochen wird: […] einer schliesset immer den andern ein«. Ebd., S. )( 3v. Die Passagen, in denen die ›Berleburger Bibel‹ auf die Notwendigkeit der Bewahrung des jüdischen Volkes in seiner frömmigkeitlichen Integrität und auf seine führende Rolle bei der Aufrichtung des eschatologischen Friedensreichs in Jerusalem eingeht, kulminierend in der Weissagung Röm 11,25f., habe ich in den wesentlichsten Argumenten ihrer Kongruenz zu anderen radikalpietistischen Aussagen zusammen gezogen, Schrader, Sulamith (wie Anm. 16), insbes. S. 105-107 und ders., Philadelphian Hope (wie Anm. 16), S. 204f. Zur Reaktion der Orthodoxie, namentlich in den Rezensionen der einzelnen Bände in Valentin Ernst Löschers »Unschuldigen Nachrichten« (»Fortgesetzte Sammlung« 1727-1736) vgl. Schrader, Pietistisches Publizieren (wie Anm. 20), S. 79-87 sowie ders.: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung. In: Udo Straeter (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Bd. 1. Tübingen: Verl. d. Franckesche Stiftungen Halle im Niemeyer-Verlag 2005 (Hallesche Forschungen; 17/1), S. 55-81, hier 60f. Die oft nur abbreviativen Aufnahmen solcher eschatologischen Spekulationen zeigen, wie weit verbreitet, also wie wenig erläuterungsbedürftig sie in pietistischen Kreisen waren, vgl. z. B. Johann Henrich Reitzen Send=Schreiben […] Auff Hn. Joh. Eberhard Schollen […] Widerlegung des Kurtzen Begriffs […] J.H.R. Offenbach: Druckts Bonaventura de Launoy 1699, S. 19f. Christopher [Christophorus] Michels [aus Amsterdam, als »respondens« und eigentlicher Verfasser] / und Johann [Ioannes] Daniel Kluge [als Dortmunder Professor und Hochschulleiter »praeses« der Disputation]: Spiritvs erroris in recentissimo Berlebvrgensivm Bibliorvm opere dvce spiritv veritatits cognitvs, Tremoniae. [Dortmund]: Froberg 1734, S. 22.

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gegen Norden und diese Seite (Dänemarck) gehet«.23 Raabe hat in seiner Novelle diesen Hinweis seiner Quelle aufgefangen, indem Gedelöckes Famulus David Bleichfeld24 auf die Frage, ob denn auch er ihn für einen Juden halte (»Jetzt sage Er mir selber, Davide, bin ich ein Jud oder keiner?«), »mit Überzeugung« zur Antwort gibt: »Ich halte Ihn so wenig für einen Juden, Monsieur, als für den Verfertiger der Berleburger Bibel oder sonst einen Chiliasten!« (Raabe, S. 181). Damit setzt er seinen spöttischen Freigeist also in geraden Gegensatz nicht nur zum Konformismus irgendeines positiven Bekenntnisses, sondern auch zu den pietistischen Anhängern endzeitgerichteter heilsgeschichtlicher Spekulationen, die die geläufige Taufmission ablehnten, damit »gantz Israel« verheißungsgerecht zum Bau des Friedenreichs Christi bewahrt bleibe und bereitstehe und mit den Christen und Heiden in der »Fülle« hineingehen könne.25 Während der Berichterstatter als strammer Vertreter der Bekenntnisorthodoxie darauf hielt, »ein Heyde als ein Heyde, ein Türck als ein Türck, ein Jüde, als ein Jüde, kann nicht seelig werden, indem sie nach ihren verdammlichen Irrthum nicht an Christum glauben« (I.H.K., S. 52), war also der historische Gedelöcke vom Gegenteil fest überzeugt. Und ebenso teilte er die ihm neben seinen eschatologischen Spekulationen und Endzeitberechnungen (I.H.K., S. 30) zur Last gelegten Sonderlehren und Verhaltensauffälligkeiten mit anderen radikalpietistischen Eigenbrötlern. 23

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Ebd., S. 21: als zitierte Quelle für die Information wird das vom Berleburger und späteren dänischen Hofarzt Johann Samuel Carl herausgegebene erste Heft der radikalpietistischen Zeitschrift »Geistliche FAMA« (»Gesammelt und gedruckt in Philadelphia« 1730) (siehe Anm. 6), S. 27 und 60f. ausgewiesen (vgl. ebenfalls »FAMA«, 10. Stück, 1733, S. 44), zusätzliches Signal der bereits bestehenden radikalpietistischen Konnexion der konfessionsübergreifend-philadelphischen Kreise, dazu auch Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 6), S. 194f., 209. Auf die Raabesche Konstruktion dieses Namens aus der Andeutung der Quelle (I.H.K., Der sonderbare Glaube [wie Anm. 2], S. 53), der Gedelöcke auf dem Garnisonsfriedhof beerdigende Studiosus solle zwar ungenannt bleiben, »doch wenn einer sich nur die Mühe giebet, und will aus dem Norder Thor ins Feld auf die Bleich Dämme gehen, so kann er seinen Nahmen leicht finden«, ist in der Spezialliteratur häufiger hingewiesen worden. Wie die Zusammenstellung der ›Berleburger Bibel‹ (wie Anm. 21) mit den »Chiliasten« (Anhänger der Lehre vom Tausendjährigen Reich Christi auf Erden) zeigt, ist sich Raabe dieser Zusammenhänge offenbar zumindest vage bewusst gewesen. Wo bisher Raabes Anspielung auf die ›Berleburger Bibel‹ zu erläutern versucht wurde, ist das allenfalls ansatzweise gesehen worden: Fritz Erzberger: Gedelöcke und die Berleburger Bibel. In: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft 44 (1957), S. 21; Anmerkung von Constantin Bauer und Karl Hoppe in BA 9/2 (wie Anm. 4), S. 463; Hans-Jürgen Schrader: Berleburgs Beitrag zur Geschichte der religiösen und literarischen Toleranz in Deutschland. Kleines collegium historicum anläßlich der Tagung der Raabe-Gesellschaft in Bad Berleburg am 29./30. November 1980. In: Wittgenstein, Jg. 69 (1981), Bd. 45, H. 3, S. 117-128, hier 118120 und 128.

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In den Augen der dem Sterbenden auf den Hals gehetzten orthodoxen Beichtiger und seines postumen Verketzerers hat er durch folgende Hauptirrtümer sein Seelenheil verspielt, dieweil er als ein grausamer Spötter JEsu Christi den theuersten Heiland verachtet, seine Ankunft ins Fleisch verleugnet, dessen Verdienst, Leiden und Sterben für Fabeln gehalten, u. sonsten […] das Sacrament des heiligen Abendmals durchaus verlachet; und also Christi Verdienst mit Füssen getreten. (I.H.K., S. 50f.)

Hinter diesen Anwürfen lassen sich von zahlreichen radikalen Spiritualisten und Pietisten geteilte christologische Sonderlehren erkennen, Zweifel an der Gottnatur Jesu und damit der Trinitätslehre, die ihnen häufige orthodoxe Vorwürfe geheimen Arianismus oder Sozinianismus eintrugen,26 vor allem Zweifel an einer ohne alles persönliche Heiligungsbemühen allein durch die »Zurechnung« des im Abendmahl aktualisierten stellvertretenden Opfertodes Christi gewonnenen Seligkeit (»Imputation«, vgl. die Gedelöcke zur Last gelegten Irrtümer, er habe nie die stellvertretenden »Verdienste des Heylandes berühret« und sich geweigert, »auf das Verdienst JEsu Christi zu bauen, des heiligen Abendmahls sich zu bedienen usw.«, I.H.K., S. 21, 50, vgl. für Gedelöckes Protest gegen die bequeme Zurechnung des heilspendenden Opfers Christi ebd., S. 35, 41f. und 44). Wenn er nicht als Inbegriff des welterschaffenden göttlichen Wortes und also »Erstgebohrner vor aller Creatur« postuliert wird (z. B. bei Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen und in einem sogar zum Zensureinspruch des Corpus Evangelicorum führenden Kommentar der ›Berleburger Bibel‹),27 wird Jesus von den Radika26

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Der Vorwurf des Socinianismus, pauschal erhoben auch gegen die ›Biblia Pentapla‹ (vgl.: Endeckung [!] des Greuel Wesens, wie Anm. 18, S. )(1r, oder Rez. In Neuer Bücher=Saal der Gelehrten Welt, 23. St., Leipzig 1713, S. 792), wurde mit Vorliebe Johann Henrich Reitz wegen seiner Kritik der Zurechnungslehre (Kurtzer Vortrag Von der Gerechtigkeit. [Offenbach: Launoy] 1701, vgl. Übersicht über die Streitliteratur bei Schrader, Literaturproduktion [wie Anm. 6], S. 583f.) angehängt, geradeso wie dem Berleburger Geistlichen Christoph Seebach der des Arianismus. Vgl. (mit Lit.) Andreas Kroh: Christoph Seebach (um 1675-1745). In: Kroh/Lückel, Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 6), S. 147-152, hier S. 151. In beiden Fällen wurden in Verketzerungsabsicht Abweichungen von der offiziellen Christologie und Trinitätslehre mit Schlagworten aus der alten Sektengeschichte gegeißelt, mit deren Lehren sie kaum etwas zu tun haben. Johann Wilhelm Petersen: Das Geheimniß Des Erst=Gebohrnen aller Creaturen Von CHRISTO JESU Dem Gott=Menschen. Frankfurt 1711, mit Weiterführung durch seine Ehefrau Johanna Eleonora Petersen: Das Geheimniß Des Erst=Gebohrnen Der von Anfang ist / und der da ist GOTT das Wort, Frankfurt am Main: Heyl & Liebezeit 1711. – Zur Übernahme in den Kommentar der ›Berleburger Bibel‹ zu Gen 1,27 und Gen 32,24 und zum dadurch ausgelösten Zensurfall vgl. die Rezension in Johann Valentin Löschers Zeitschrift Unschuldige Nachrichten (wie Anm. 18): Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen […] Auf das Jahr 1727, S.1164-1176, hier S. 1167f. und 1173, sowie, mit weiteren Quellen zum Zensurverfahren, Schrader, Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (wie

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len oft in seiner auf ganz kreatürliche Weise allen Anfechtungen unterworfenen und leidenden Menschennatur zum Vorbild der eigenen tätigen Imitatio gesehen (namentlich bei Johann Henrich Reitz),28 allenthalben die bequeme Zurechnung seiner Passion als »Deckel der Sünden« abgelehnt (programmatisch etwa bei Johann Conrad Dippel und Johann Christian Edelmann)29 und eine Teilnahme am Abendmahl verweigert, weil man es sich im auf Erden nie ganz überwindbaren Stand der Sünde und jedenfalls in einer Gemeinschaft von Ungeheiligten selbst zum Gericht esse. Sogar die Gedelöcke zur Last gelegte Nähe zu alchimistischer und magnetisch-sympathetischer Spekulation (I.H.S., S. 26 und 28) deutet auf entsprechende frömmigkeitsgeschichtliche Konnexe hin, waren diese Ideen noch am linken Flügel des Pietismus im Bemühen um ein Erkennen des göttlichen Bauplans der Welt von Felgenhauer, Kempe und Rosenbach über Carl und Dippel bis hin zu Beissel, Tersteegen (dessen »Melissenexperiment« Gedelöcke zu präformieren scheint) und Oetinger ganz verbreitet.30

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Anm. 20), insbes. S. 80-87, sowie, weiterführend und korrigierend, Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; 45), S. 311-316 und 362. Insbesondere im Visier standen seine Schriften »Kurtzer Vortrag Von der Gerechtigkeit«, [Offenbach: Launoy] 1701 (vgl. etwa S. 7-11) und »Die Nachfolge JEsu Christi«, Wesel 1707, 2. Aufl. Leipzig: Walther 1730. Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Vom Heiland im Herzen zum Inneren Wort. ›Poetische‹ Aspekte der pietistischen Poetologie. In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 55-74, hier bes. 58f.; für das Wiederaufleben beim jungen Goethe, namentlich im »Werther«-Roman ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes »Werther«. In: Johannes Anderegg/Edith Anna Kunz (Hg.): Goethe und die Bibel. Stuttgart: Dt. Bibelges. 2005 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel; 6), S. 57-88, hier bes. S. 80-87. Dippels Dissens in der Rechtfertigungs- und »Imputations=Lehre« ist zusammengefasst in der Vorrede des Herausgebers Johann Conrad Kanz zur Berleburger Gesamtausgabe, Johann Conrad Dippel: Eröffneter Weg zum Frieden mit GOTT und allen Creaturen. Bd. 1. Berleburg: Haug 1747, S. b1v-g1v und »Zusatz« S. h3r und i1r. Edelmanns entsprechende Heterodoxien sind summiert in den letzten drei Heften seines thetischen Periodikums, »Unschuldiger Wahrheiten Dreyzehende Unterredung«, o. O. 1738 bis »Unschuldiger Wahrheiten Funfzehendes und Letztes Stück«, o. O. 1743, vgl. die Artikel (mit Lit.) von Tobias Kaiser: Johann Konrad Dippel (1673-1734) sowie ders.: Johann Christian Edelmann (1698-1767). In: Kroh/Lückel, Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 6), S. 42-50 und 5160; zu den Verbindungen Dippels, Edelmanns und Carls ins dänische Staatsgebiet grundlegend Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit. Hamburg: Verein für Hamburg. Geschichte 1988 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs; 34), S. 19-53. Hinweise und weiterführende Informationen etwa bei Schoeps, Philosemitismus (wie Anm. 6), S. 37f., 45f., [Felgenhauer, Kempe], [Julius] Nase: Ein Goldmacher im Wittgensteiner Lande [Johann Conrad Dippel]. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Volkskunde Wittgensteins 2 (1914), H. 1, S. 19-23 und H. 2, S. 45-

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Die ihm angeprangerten »judaisierenden« Umgangs- und Verhaltensformen schließlich waren in diesen religiös erregten, den dogmatischen Setzungen der Amtskirche gegenüber skeptischen Kreisen alles andere als ungewöhnlich. Der sonst geächtete Umgang mit frommen und gelehrten Juden zum besseren Verständnis des ursprachlichen Bibeltexts und seiner Aufschlüsse aus rabbinischen und kabbalistischen Schriften (I.H.K.-Vorwurf S. 6f., 14) ist für viele der pietistischen »Philosemiten« (gerade in Dänemark) bezeugt wie etwa Anders Pedersson Kempe, den mit messianischen Ideen Unruhe stiftenden Oliger Paulli oder den schließlich sogar zum Judentum konvertierenden Johann Peter Spaeth (Moses Germanus),31 aber ebenso auch für Philipp Jacob Spener, Ernst Christoph Hochmann von Hochenau oder Friedrich Christoph Oetinger.32 Zweifel wie Gedelöcke (I.H.S., S. 10) an der Richtigkeit der Einsetzung des Sonntags anstelle des Sabbats als Feiertag und also Festhalten an der Sabbatheiligung gibt es namentlich bei den pietistischen »Siebentägern« oder »Sabbatariern«, und das Gedelöcke vorgehaltene Einhalten sogar jüdischer Ritualgesetze wie des Speisen-Kashruth (I.H.S., S. 15) haben auch das Siebentäger-Oberhaupt, der späterer Klostergründer Johann Conrad Beissel und seine »Judaicierende Brüder« eine Zeitlang als Mittel verschärfter Askese gegen ein bloß imputiertes Heil angewendet.33 Gedelöckes Vorliebe für

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48, Christa Habrich: Heilkunde im Dienst der Seelsorge bei Gerhard Tersteegen. In: Manfred Kock (Hg.): Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Köln: Rheinland-Verlag 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte; 126), S. 161-180 und dies.: Zur Bedeutung medizinischer Bemühungen im Wirken Gerhard Tersteegens. In: Medizinhistorisches Journal 12 (1977), S. 263-279 sowie Hans-Jürgen Schrader: Kleists Heilige oder die Gewalt der Sympathie. Abgerissene Traditionen magnetischer Korrespondenz. In: Ernst Leonardy [u. a.] (Hg.): Traces du Mesmérisme dans les littératures européennes du XIXe siècle. Brüssel: Facultés Universitaires Saint-Louis 2001 (Travaux et recherches; 45), S. 93-117, zur pietistischen Tradition bes. S. 109-116 sowie ders.: »Unleugbare Sympathien«. Roentgen-Schreibtische. Magnetismus und Politik in Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«. In: Andreas Härter/Edith Anna Kunz/Heiner Weidmann (Hg.): Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 41-68, insbes. 46-54. Hierzu ausführlich Schoeps, Philosemitismus (wie Anm. 6), S. 45-81. Der wirre Ideologe Oliger Paulli fand von der 2. bis zur 7. Auflage sogar Aufnahme in Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 17), Werkgeschichtlicher Anhang, Bd. 4 [Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 29/4], S. 29*-39*, vorgeführt. Vgl. zu ihm Walther Rustmeier: Oliger Pauli oder der Plan einer Apostolischen Gemeinde zur Vereinigung der Juden und Christen in Altona. In: Schriften des Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe 19 (1963), S. 69-87. Dazu mit näheren Quellen- und Literaturnachweisen und weiteren Beispielen Schrader, Sulamith (wie Anm. 16), insbes. S. 78-80, 89, 97-100 sowie ders., Philadelphian Hope (wie Anm. 16), insbes. S. 194-198, 200-202. Schrader, Philadelphian Hope (wie Anm. 16), S. 205-208, dazu detaillierter ders.: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie. Ein philadelphisch-

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jüdische gegenüber christlichen Bestattungsformen wurde auch den pietistischprophetischen Inspirierten nachgesagt.34 Es gibt sogar unter den radikalen Pietisten (wie bei dem 1697 philadelphische Wirren auslösenden Balthasar Christoph Klopfer) Fälle von Zweifeln, ob die Widmung eines Lebens in die Gemeinschaft Gottes nicht eher durch die Beschneidung als durch die Taufe zu besiegeln sei.35 Diesen Weg jedoch ist Gedelöcke ganz offensichtlich nicht gegangen und damit auch (was seinen postumen Anklägern auch sehr wohl bewusst war) keineswegs zum Judentum übergetreten, sondern ein christlich-heterodoxer Philosemit geblieben. Die für die Feststellung, ob er ein Jude geworden sei, entscheidende hochnotpeinliche Frage hat das Kopenhagener Polizeigericht seiner Eheliebsten, die dieserhalb ja Bescheid wissen musste, durchaus gestellt: Ob der Frauen nicht bekannt, daß er nach Jüdischen Gebrauch beschnitten; welches sie beantwortete, es sey ihr unbewust und weil es auch wohl seyn kann, lassen wir es dahin gestellet seyn. Genug, daß er sich ferner, als ein verkehrter Jude aufgeführet […]. (I.H.K., S. 16)

Da hat man wohl der Frau die Frage und ihre Bedeutung nicht recht erklärt und auch weder den Sterbenden noch später seine (nach der ersten Beerdigung doch nochmal aufgedeckte) Leiche untersucht. Um die jüdische Gemeinde für das öffentliche Ärgernis verantwortlich zu machen und schikanieren zu können, ließ man den Augenschein, dass Gedelöcke nicht Jude geworden war,36 lieber im ungewissen.

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mystisch-arkanes »Vorspiel der neuen Welt«. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Transatlantische Religionsgeschichte. 18. bis 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2006, S. 31-63, hier insbes. S. 33f., 44f., 49f. Einige Nachrichten von den im Ysenburgischen befindlichen Secten. In: Theologische Nachrichten 1805. Anhang zu [Ludwig Wachler (Hg.):] Neue Theologische Annalen 1805, S. 56, vgl. auch A[nnaeus] Ypey: Geschiednis van de Kristelijke Kerk in de achttiende Eeuw, 10. Teil. Utrecht 1809, S. 310. – Auf das Vorbild des jüdischen Ritus wurde ebenso gegen das »Alleinpredigen« des Pfarrers im christlichen Gottesdienst, also für ein Zulassen von Zwischenrufen und charismatischen Bekundungen aus der Gemeinde rekurriert, vgl. Reitz, Send=Schreiben (wie Anm. 21), S. 9f. Diese »Klopfer-Affäre« ist am eindringlichsten untersucht von Rudolf Mohr: Ein zu Unrecht vergessener Pietist. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 22 (1973), S. 79-88, vgl. zur Kontroverse darum und zu ähnlichen Berichten Schrader, Sulamith (wie Anm. 16), S. 96f. So resümiert auch Schoeps, Philosemitismus (wie Anm. 6) sowie der ihm die I.K.H.-Quelle zusammenfassende Otto Naumann, S. 87, das Verhalten Gedelöckes: »der, ohne zum Judentum übergetreten zu sein, doch ein Leben nach jüdischer Art geführt hat mit Sabbathalten; Koscherfleischessen und Übernahme des vollen Zeremonialgesetzes«; S. 91: »Die Juden hatten ihren wahrscheinlich unbeschnittenen Glaubensfreund aus ihrem Himmel verjagt.« Bei Raabe ist der Fall klar, beteuert doch Gedelöckes nächster Vertrauter in der jüdischen Gemeinde, Henrich Israel,

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Das tut auch Raabe, der den Famulus bei seinem Belauschen des wiederum als Slapstick inszenierten Sterbebettverhörs durch den Trinitatispfarrer (also den bestallten Sachwalter des vom Verhörten in Frage gestellten Trinitätsdogmas)37 seinem freigeistigen Herrn unter beständigen Bibel-Verweisen beistimmen lässt: »Philister über dir, Simson!« murmelte der Horcher an der Wand. »[…] ein alter Heide und Ägyptier bleibt Ihr doch […]! O Gedelöcke, welch ein heidnischer Jud bist du […]; aber Er ist doch ein heidnischer Jude, Herr Jens Pedersen Gedelöcke, und wird dahin fahren, wohin ihn der Herr Hieronymus von der Dreifaltigkeitskirche dirigieret […]! Das ist keine Sache für einen gläubigen Christen, daß er seinen Braten immerdar beim jüdischen Schlachter einkaufe«. (Raabe, S. 178-180)38

Gegen Dummheit, Dogmatismus und Intoleranz mischt Raabe die kuriose Historie ebenso sarkastisch mit verzweifeltem Hohngelächter auf wie er dies auch seine ebenso freigeistigen Sympathieträger, Gedelöckes schnurrige Freunde christlicher wie jüdischer Herkunft sowie materielle und v.a. geistige Testamentsvollstrecker, tun lässt, die doch durchweg marginalisiert und in vollkommen perspektivloser Not an fremden Ufern an der norwegischen Peripherie der Monarchie stranden. Aus »der lamentablen Historia« formt er so im Gegenbild »eine recht jokose Historia« (ebd., S. 191 – zwischen anderen intertextuellen Überblendungen insbesondere durch Motivzitate aus dem nihilistisch-hoffnungslosesten Satire-Roman der Romantik, den Nachtwachen von Bonaventura seines Braunschweiger Landsmanns August Klingemann. Ich kann dieser offenbaren, aber nie erwogenen Überspiegelung gerade aus der Ersten bis Vierten Nachtwache nicht im einzelnen nachgehen mit ihren Schlaglichtern auf den »Freigeist«, der »sich stark in seiner letzten Stunde, wie Voltaire« hält und »blaß und ruhig in das leere Nichts« schaut, während ihm ein »Pfaff seiner Teufelsrolle getreu« seine Dogmatik in die Ohren donnert und warnt, »daß der Teufel nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Leib

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dass »er doch nicht ein Jud war, sondern ein christlicher Mann, wie es keinen bessern gab im Königreich Dänemark und Norwegen« (S. 207). Raabe lässt seinen Gedelöcke in der Selbstübergabe an seinen monotheistischen Vatergott sterben, also ohne Rekurs auf die Mittlerfigur eines Sohnes und geradezu im Spott auf den Dreiheitsgott der Trinität: »meine Seele gebe ich dem, welcher sie dem Erdenkloß einblus« (alludierend auch an Goethes Parodie von »Erschaffen und Beleben« am Anfang des West-östlichen Divan) und »Er schlug sich dreimal an die Brust und rief: ›Ich weiß, daß ein allmächtiger Gott ist!‹ und verschied«. BA 9/2 (wie Anm. 4), S. 182 und 185 (meine Hervorhebung!). – In den Nachtwachen von Bonaventura (s. u., Anm. 39) heißt es: »ich hinterlasse nun nichts und gehe dir trozig entgegen, Gott, oder Nichts!«, S. 102. Ähnlich komische Paradoxe zeigt auch ein Notizbucheintrag Raabes vom Juni 1874 (Notizbuch 4), »Literarische Notizen« in: Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Erg.-Bd. 5. Hg. von Jörn Dräger und Rosemarie Schillemeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 347: »O Du als ein antiker Heide solltest doch nicht so christlich fluchen!«

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abfodern würde«,39 bis schließlich die Leiche entführt wird zur Überlieferung an die Anatomie. Am unmittelbarsten bezieht sich Raabe auf den Nachtwachen-Roman in dessen hoffnungslosem Appell an William Hogarths letzten Kupferstich (»tailpiece«) von 1764, mit einer aus zerbrochener Tonpfeife das Wort »Finis« aushauchenden Chronos-Gestalt und der Nachtwächter-Klage, »[…] selbst am Ende aller Dinge lägen noch seine lezten Werke in dem Hogarthschen Schwanzstücke und die Zeit könnte ihre lezte Pfeife die sie da raucht, mit einer Szene aus seinem lezten Drama anbrennen, und so begeistert, in die Ewigkeit übergehen!« [und, viel später:] Ich wünschte dieses Ultimatum und Hogarthsche Schwanzstück meiner Nachtwachen recht deutlich vor Jedermanns Augen ausmahlen zu können […].40

Auf dieses tailpiece kommt Raabe »Zum Beschluß« zurück mit einer ebenfalls geschichtsphilosophischen Deutung der Dialektik der Aufklärung und des katastrophalen Ausgangs des bloß oberflächlich Amüsant-Scheinenden für alle Aufrecht-Gesonnenen und der schon ganz auf seine zur Toleranz mahnende Kleinstadtpogrom-Modellgeschichte »Höxter und Corvey« vorausweisenden Mahnung, dass im verbohrt-sinnlosen Streit der christlichen Parteien und im Machtpoker der christlichen Potentaten als die Schwächsten am Ende die – eigentlich unbeteiligten – Juden am meisten zu leiden haben41 und unter ihnen wiederum am meisten die zu Sündenböcken gemachten wie der Kantor Israel, der mit Gedelöcke Umgang hatte: »Hoho, ich riech’s, ich riech’s«, rief der Kommandant, »da haben wir das Schwanzende! Auf ihn, Henrich Israel, ist’s zu allerletzten ausgegangen, und weilen er mit dem Kurator den Mosen und die Propheten traktieret und ihm vorgesungen hat, hat seine Nation Ihm den Greuel in die Schuh geschoben und ist über ihn hergefallen […] sintemalen nun der Jens begraben lieget auf der Jüden Kirchhof –« (Raabe, S. 207).42 39 40 41

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August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura. Hg. und mit einem Nachwort von Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Insel 1974 (insel-tb; 89), S. 11-15. Ebd., S. 48 und 184, vgl. Jost Schillemeits Herausgeber-Erläuterungen ebd., S. 202, vgl. Nachwort, S. 205-220, hier S. 211f. Wilhelm Raabe: Höxter und Corvey. Eine Erzählung. Nach der Handschrift von 1873/74 hg. von Hans-Jürgen Schrader. Stuttgart: Reclam 1981 u. ö., Bibliogr. erg. Ausg. 2003 (Universal-Bibliothek; 7729) mit Anmerkungen (S. 114-181 und Lit. S. 182-187) und Nachwort »Höxter und Corvey«. Tragisches Erleben und humoristischer Freiblick in verworrenen Zeiten, S. 189-213. Text-Wiederabdruck in Wilhelm Raabe: Krähenfelder Geschichten. Werke in Einzelausgaben. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Bd. 2. Frankfurt am Main: Insel 1985 (insel-tb; 882), S. 109-208, Interpretationshorizont ebd., S. 311f. Der »Nachtwachen«-Bezug ist noch durch die Hogarth-Allusion vom sein »Finis« rauchenden Chronos hervorgehoben, mit der selbst die dem allgemeinen Wahnsinn gegenüber Gelassenen für einen Augenblick in die massenpsychotische Brutalität hineintaumeln, »der Obriste Benediktus von Knorpp hatte seine tönerne Pfeife an die

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Es macht schon einigermaßen Mühe, in der älteren Forschung über diese sarkasmuserfüllte sozialhistorisch trostlose Beispielgeschichte unisono die immer neu nachgesprochenen Raabe-Klischees zu lesen, auch hier ist aller Komik zum Trotz der Humor wie immer bei Raabe das sieghafte Lachen, das den Schmerz überwindet, den Schmerz über die Unvollkommenheit der Welt und die äußerlich siegreiche Beschränktheit der Menge;43 erhebt der Dichter die unfreiwillige Burleske einer schmählich engherzigen Zeit zu einem versöhnenden Bilde des Humors. Freilich auch hier ist aller Komik zum Trotz der Humor wie immer bei Raabe das sieghafte Lachen, das den Schmerz überwindet;44 diese köstliche Erzählung […] läßt Wilhelm Raabes sieghaften Humor in seiner ganzen Überlegenheit erkennen.45

Denn selbst wenn sein Gedelöcke »die ›ärgerliche, giftige Welt‹ zum Narren« hält,46 die Opfer seiner Machinationen sind seine überlebenden Gesinnungs-

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Wand geworfen und hielt den Exvorsinger an der Gurgel«. Ob sich Raabe hier mit dem »Schwanzende«-Zitat womöglich gar einen versteckten frivolen Scherz zum Nicht-Beschnittensein Gedelöckes erlaubt hat, muss dahingestellt bleiben. Dafür scheint die geradezu leitmotivische Bedeutung des Katers Mutz zu sprechen. Wenigstens sechsmal kommt er auf diesen geschwänzten Hausgenossen und ersten Totenwächter zurück, »welcher letztere später natürlich ebenfalls zu den ›Zeichen‹ gezählt wurde« (S. 185), ehe er ihn nach der Exilierung aller seiner Pfleger und Wohlgesonnenen spurlos, gleichsam hauptbetroffen, aus der Geschichte verschwinden lässt. Fehse, Gedelöcke [1914] (wie Anm. 7), S. 83. Wilhelm Fehse: Wilhelm Raabe. Sein Leben und seine Werke. Braunschweig: Vieweg 1937, S. 261. Immerhin muss man Fehse zugute halten, dass er nicht auf der Welle der Zeit eine antisemitische Umdeutung der Erzählung versucht oder ihr Anprangern der allseitigen Brutalität, die sich auf die Juden am ärgsten richtet, übergeht oder umfälscht: »Sehr schwer war es hier, die scharfe Grenzlinie einzuhalten, jenseits welcher Ekel und Empörung dem Humor sein Recht versagten. […] Menschliche Beschränktheit, die sich überlegen dünkt, wenn sie sich heuchlerisch den Mantel religiöser Moral umhängt, ist auch dann unerträglich, wenn sie als Massenpsychose in Erscheinung tritt. Hier gab es nur eine Möglichkeit, die widerliche Offenbarung scheinheiliger Unduldsamkeit zum Gegenstand des Lachens zu machen: das Opfer selbst mußte seine Überlegenheit über die jämmerlichen Gesellen an den Tag legen«, S. 260. Raabes »Humor« als ein autoreflexives Strukturmoment und nicht als Gefäß komischer Botschaften zu begreifen, habe ich vorgeschlagen, Hans-Jürgen Schrader: Klosterraub südwestlich, nördlich, südöstlich. Vom Eigen-Sinn der humoristischen Erzählform in C. F. Meyers »Plautus im Nonnenkloster«, W. Raabes »Kloster Lugau« und A. Brandstetters »Die Abtei«. In: Heinrich Kröger (Hg.): Humor und Regionalliteratur. Hermannsburg: Missionshandlung 1997 (Soltauer Schriften; 5), S. 16-41, hier S. 23-31, 38-41. Erzberger, Gedelöcke und die Berleburger Bibel [1957] (wie Anm. 25), S. 21. Vgl. ähnliche Interpretamente von Adolf Suchel in: Mitteilungen (wie Anm. 7) 29 (1939), S. 54, und von Rudolf Lucas in: Mitteilungen 48 (1961), S. 4. Anz, »Leichenbegängnisse« (wie Anm. 3), S. 122, der das Dargestellte ohne die obsoleten Humor-Klischees auslegt als »Fall von religiöser Unduldsamkeit und

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freunde und am schlimmsten die Juden, denen er sich ja nicht wie sein historisches Vorbild aus religiösen Skrupeln als ein Suchender, sondern eher aus Widerspruchsgeist und Neugier genähert hatte. Die aus latentem Antijudaismus gespeiste Brutalität und gewollte Erniedrigung, mit der eine unheilige Allianz aus sensationsbegierigem, dabei gegen jede Abweichung vom eigenen Geisteshorizont rachsüchtigem Bürgertum und Pöbel, Polizeigewalt und kirchlicher Herrschsucht mit der königlich-politischen Staatsverwaltung (Raabe, S. 202f.) besonders an den Juden ihr Mütchen kühlt, wird von Raabe in diesem Totentanz des Weltwahnsinns in all ihrem Zynismus bloßgestellt, so wie sie aus den Quellen offenbar wird. Dazu lässt Raabe die schikanierte Judenschaft gar nicht auftreten, sondern berichtet das ihr Angetane aus der Leidensperspektive der Hauptbetroffenen und am Ende Ausgestoßenen, im Ausland und Elend Wiederversammelten, des amtlich enterbten Famulus Bleichfeld (mit neutestamentlichen Allusionen: »Sie drangen herein im Namen Königlicher Majestät und riefen wehe über mich […]; aber ich hab den Kelch allein saufen müssen bis zur Hefen«, Raabe, S. 203) und des aus seiner Gemeinde ausgestoßenen Henrich Israel, »weiland der Juden Vorsinger zu Kopenhagen«, nun »der wandernde Krämer« und in Verelendung und Verwirrung »arme Jud«, frierend »auf der Landstraß« mit seinen alttestamentlichen Formeln, »Gott Abrahams und Jakobs, welch ein Schicksal!« (Raabe, S. 205f.). Weil Gedelöcke vorgeblich »als ein ungläubiger Jud gestorben sei« (Raabe, S. 203), gebühre ihm, der doch nur »ein stilles Loch in der Erde« begehrte (S. 189), nach amtlicher Resolution nicht ein »christlich Begräbnis, sondern ein Eselsbegräbnis« (S. 203). Statt der an sich schon judenfeindlich begründeten Einzelsanktion der Exhumierung aus dem Soldatenfriedhof aber wird um des Ärgernisses willen, dass er »als ein Jude starb«, eine Kollektivstrafe gegen die als störend empfundene Gemeinschaft verhängt, die mit ihm und seinen Gesinnungen ja gar nichts zu tun hatte. Und diese wird so spektakulär und entehrend wie nur möglich inszeniert, unter willentlicher Verletzung aller ihrer religiösen Gefühle.47 Kaum je wurden die Verfahrensmuster eines Pogroms in allen ihren schimpflichen Entwürdigungen so plastisch dargestellt. Zuerst wird da

47

Gewaltsamkeit, die den aufgeklärten Bürger ebenso treffen wie die ohnehin verachtete jüdische Gemeinde in Kopenhagen«, als Parabel, die er »hinterhältig genug mit der Gegenwart von 1865« verbinde (S. 112). Die hier pervertierte und geschändete Sorge für den Übertritt der aus der Gemeinschaft Verstorbenen in die (ja auch durch die unantastbare Dauer der Gräber bis zur Auferstehung rein äußerlich angezielte) Ewigkeit und damit die Reinerhaltung der spezifisch jüdischen rituellen Bräuche gehörte gerade in der Frühneuzeit zu den einer »Heiligen Bruderschaft« (Chewra Kadisha) vorbehaltenen vornehmsten Ehrenämtern, vgl. Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Gütersloh: Bertelsmann-Lexikon-Verlag 1988, Neuaufl. Köln: Könemann 1997, S. 98f.

»Gedelöcke«. Der christl.-jüd. Skandalfall in Raabes Novellentransposition

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ihres Volkes eine Menge von denen Polizeibedienten und Stadtwächtern zusammengeholet aus ihren Häusern, Schulen und Synagogen, und mußten sie auch die Trauerkutschen zahlen.« (Raabe, S. 203)

Sodann werden die Würdigsten, die Gemeindeältesten, wie gemeine Verbrecher im Scharfrichtergeleit zwischen den Schergen und Henkersknechten vor dem Schinderkarren her zum Kirchhof geschleppt und gezwungen, mit eigenen Händen die nach ihrem Reinheitsgebot unberührbare Leiche wieder auszugraben. Da wurden die Schaufeln dem Rabbiner vor die Füße auf das Grab geworfen, […] der Sarg ist aufgewühlet und mit Hammer und Zange eröffnet, und […] unter Hohn und Spott, Lachen und Geschrei […] fortgetragen bis zu dem jüdischen Leichenwagen, der auf vieles Flehen und Bitten anstatt des Schinderkarrens zugestanden war. Nun mußte der Rabbi als fürnehmster Sorgmann hinter dem Wagen gehen, dann trieben sie paarweise das andere verspottete Volk nach dem Alter, und die Miliz und die Polizeibeamten schritten zur Seiten, auf daß keiner ausweiche, und die Wächter mit den Morgensternen beschlossen den Kondukt. (Raabe, S. 204f.)

Straffend übergeht Raabe eine weitere von I.H.K. doch genüsslich vermerkte Erniedrigung, den durch Polizeigewalt unterstrichenen Zwang nämlich, die fremde Leiche zum Gaudium der nachgefolgten Gaffer statt auf den schon ausgehobenen Platz am Rand des Jüdischen Friedhofs in ein eigenhändig zu grabendes Loch im Zentrum zwischen den historischen Ehrengräbern zu legen: In solcher Procesion gelangten sie […] auf […] ein Grab an der Seiten […]: Wie aber der Herr Policey-Meister solches gewahr wurde, befahl er und machte diese löbliche Anstalt, daß die Juden wieder ihren Willen ein neues, mitten auf ihren Todten Acker graben müsten. Der Rabbi wurde […] angehalten, zuerst Hand anzulegen, und die andern folgeten ihm mit grosser Mühe und Arbeit nach, indem es eine sehr steinigte Erde war. Ihr Kirch=Hoff ist ihren Hertzen gleich, welche auch steinern sind. (I.H.K., S. 64f.)

Vielmehr eilt er auf den Abschlussbericht der Affäre durch den als Veranlasser solcher Risches (weil er sich unvorsichtig in vertrauten Umgang mit einem Christen eingelassen hatte) ausgestoßenen Synagogen-Chasan Henrich Israel zu, wie die Juden durch anhaltende Bittschriften und das Zahlen hoher Geldbeträge an die stattliche Armenkasse schließlich die nochmalige Umbettung des Leichnams erwirkten. In der geläufigen (aus heutigen Medienurteilen über ein Sich-Wehren des Staates Israel gegen Bedrohungen und Übergriffe sattsam bekannten) Weise, erlittene Gewalt mit ebenfalls schadenstiftender Gegenwehr moralisch gleichzusetzen, konstatieren alle Studien zu Raabes Gedelöcke die gleiche verbohrte Intoleranz bei den Juden wie zuvor bei den Christen. Ehe er mit Schimpf in die Welt gejagt wird, muss doch Israel als symbolische Strafmaßnahme das zuvor den Ältesten und dem Rabbi aufgezwungene widrige Geschäft der Exhumierung und Neubestattung ausführen. Er selbst aber erhebt solche Vorwürfe gegen die in ihrer Wut als blindwütig Geschundene auch einmal blind Zurückschlagenden nicht. Nicht nur in ihrer

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Hans-Jürgen Schrader

Ehre und ihrem Hab und Gut hat man sie – wie leider schon üblich – gekränkt, sondern auch in ihren heiligsten Traditionen und Gefühlen. Immer wieder betont der Erzähler die nur durch symbolische Reinigung wegzunehmende Unreinheit, die der kirchlich-staatliche Gewaltakt über die Gemeinschaft und über den Friedhof gebracht hat. Wohl haben sie mich aufgegriffen, um daß ich den Spott über sie gebracht hätt, und sind über mir zu Gericht gesessen, weilen mich der Verstorbene als seinen Freund hielt und mit mir das Gesetz und die Zeremonien beredete. Es war ein groß Wehklagen und Wimmern in unserm Volk ob der Unreinigkeit, so auf es gelegt war; und alt und jung hat im Sack und in der Asche gesessen und bei Tag und Nacht zum Herrn geflehet […]. Und der Gott Abrahams hat den Jammer angesehen und sein Volk erlöset aus der Schmach um hundert Dukaten, die man erleget an den Konvent (Raabe, S. 207f.)

Aus den Zeitungsberichten über den Fall geht hervor, dass die Kopenhagener Judenheit sogar mit ihrem (für den Staat finanziell höchst abträglichen) kollektiven Abzug aus der für sie unrein gewordenen Stadt und dem Land hatte drohen müssen, ehe ihr für die zusätzliche Sondersteuer die restitutio in integrum genehmigt wurde. Die traurige Geschichtsmoral war die, dass die unter Sonderrecht Stehenden selbst die gutwilligsten Annäherungsbemühungen freundlich Gesonnener aus der Mehrheitsgesellschaft zurückweisen mussten, solange diese disponiert war, Grenzüberschreitungen mit kollektiven Racheaktionen zu sanktionieren. Israels betrübtes Schlussresümee lautet: »Da hat die Stadt wiederum ihr Gaudium gehabt […]; wenn ich läge, wo der Herr Kurator lieget, so würde es besser um mich bestellet sein.« (Raabe, S. 208) Lustig ist an dieser Geschichte nichts, auch wo sie komisch daherkommt. In den Nachtwachen von Bonaventura hatte der gegen das Entsetzen anschreibende Erzähler sich zum Programm gemacht: »Ich verspreche einem respektiven Publikum zum Voraus daß ich spaßhaft sein will bis zum Totlachen […]. Wollte man dergleichen ernsthaft nehmen, so mögte es leicht zum Tollhause führen«.48 In einem Gedankensplitter seiner Sammelmappe wird Raabe später dasselbe auf sich beziehen: » – – und so ist das, was Ihr meine sonnige Heiterkeit nennt, nichts als das Athemschöpfen eines dem Ertrinken Nahen.«49 Als ihm sein »Westermann«-Lektor Adolf Glaser auf die Einsendung des Gedelöcke-Manuskripts geschrieben hatte, er vermisse, ohne die Vorzüge seiner neuen Schreibart zu verkennen, die aus seinem Jugendwerk gewohnte und geschätzte »wehmütige Saite« mit ihrem »eigenthümlichen Zauber«, hat 48 49

Klingemann, Nachtwachen (wie Anm. 39), S. 106f. Notiz vom 12. Januar 1887. In: Braunschweiger Ausgabe, Erg.-Bd. 5 (wie Anm. 38), S. 400. Vgl. die Reflexion ähnlicher poetologischer Selbstbestimmungen, HansJürgen Schrader: Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an »Alte Nester«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1989, S. 1-27.

»Gedelöcke«. Der christl.-jüd. Skandalfall in Raabes Novellentransposition

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ihm Raabe am 16. Februar 1866 mit der oft auf sein gesamtes Werk nach dem Hungerpastor bezogenen Selbsteinschätzung geantwortet, die aber zunächst in ihrem ursprünglichen Kontext auf die als literarischen Wendepunkt erlebte humoristisch-tragische Toleranznovelle verstanden werden muss: Deine Bemerkungen über die Veränderung, die in meiner Schriftsteller-Anschauungsweise allmälig sich vollzieht, erkenne ich als begründet an; – man wird eben älter, und ich glaube, meine mehr lyrische Periode glücklich hinter mir zu haben. So putze ich denn meine epische Rüstung und gedenke als deutscher Sitten-Schilderer noch einen guten Kampf zu kämpfen. Es ist viel Lüge in unserer Litteratur, und ich werde auch für mein armes Theil das Meinige dazu tun, sie herauszubringen, obgleich ich recht gut weiß, daß meine Lebensbehaglichkeit dabei nicht gewinnen wird.50

50

Wilhelm Raabe: Briefe 1842-1870. Hg. von William Webster. Berlin: Schmidt 2004, S. 298f., Auszüge aus Glasers damit beantwortetem Schreiben ebd., S. 560. Interpretation im Kontext bei Ulrike Koller: Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994 (Palaestra; 296), S. 97-99, zu der angesprochenen literarischen Krise und grundlegenden Wende auch Hans-Jürgen Schrader: Autorfedern unter Preß-Autorität. Mitformende Marktfaktoren der realistischen Erzählkunst – an Beispielen Storms, Raabes und Kellers. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2001, S. 1-40, hier S. 22-34.

Daniel Jütte

»Mendele Lohengrin« und der koschere Wagner Unorthodoxes zur jüdischen Wagner-Rezeption

Die Begeisterung jüdischer Zeitgenossen für das Werk und, mitunter, auch die Person Richard Wagners ist in der Forschung oft und kritisch beschrieben worden.1 Die Brisanz der Thematik ist offenkundig. Denn Wagner hat seine Judenfeindschaft spätestens seit den 1850er Jahren im Freundeskreis und in Briefen nicht verhehlt. Mehr noch, sein Pamphlet Das Judentum in der Musik, das er erstmals 1850 unter Pseudonym publizierte und 1869 in einer namentlich gezeichneten Fassung wiederveröffentlichte, wurde zu einem Schlüsseldokument für den sich formierenden Diskurs des rassischen Antisemitismus.2 Zu Wagners Antisemitismus und speziell zu Das Judentum in der Musik existiert inzwischen eine kaum mehr zu überschauende Forschungsliteratur,3 die vorliegende Miniatur beschäftigt sich hingegen weniger mit Wagners Antisemitismus als vielmehr mit der Frage, wie angesichts der offenkundigen Judenfeindschaft des Komponisten die Hingabe und der Enthusiasmus zahlreicher zeitgenössischer Juden für die Musik Richard Wagners erklärt werden können. Der Artikel plädiert dabei für einen ›dritten Weg‹ bei der Erklärung dieses Phänomens. Dafür freilich müssen zuerst die zwei bisher vorherrschenden, 1

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Vgl. v. a. Elaine Brody: The Jewish Wagnerites. In: The Opera Quarterly 1 (1983), S. 66-80; Eric Werner: Jews Around Richard and Cosima Wagner. In: Musical Quarterly 71 (1985), S. 172-199. Zur Genese des Textes und seiner Wirkungsgeschichte vgl. v. a. Jens Malte Fischer: Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt am Main: Insel 2000. Es kann hier aus Platzgründen und in chronologischer Anordnung lediglich auf die einschlägigen, in ihrer Argumentation und Intention freilich sehr unterschiedlichen Studien hingewiesen werden: Richard Wagner. Wie antisemitisch darf ein Künstler sein? München: Edition Text + Kritik 1978 (Musik-Konzepte; 5); Jacob Katz: Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus. Königstein/Ts.: Athenaeum 1985 [Cambridge/MA 1980]; Paul Lawrence Rose: Richard Wagner und der Antisemitismus. Zürich: Pendo 1999 [London 1992]; Marc. A. Weiner: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners. Berlin: Henschel 2000 [Lincoln 1995]; Meyerbeer – Wagner. Eine Begegnung. Hg. von Gunhild OberzaucherSchüller, Marion Linhardt und Thomas Steiert. Wien: Böhlau 1998; Richard Wagner und die Juden. Hg. von Dieter Borchmeyer, Ami Maayani und Susanne Vill. Stuttgart: Metzler 2000; Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik« (wie Anm. 2); Hans-Joachim Hinrichsen: »Musikbankiers«. Über Richard Wagners Vorstellungen vom »Judentum in der Musik«. In: Musik & Ästhetik 5 (2001), S. 72-87.

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sich keineswegs gegenseitig ausschließenden Deutungen in knapper Form referiert werden. Zunächst muss gesagt werden, dass sich beide bisher unternommenen Deutungsversuche in ihrer Argumentation oft auf eine relativ kleine Gruppe von historischen Zeugen konzentriert haben, genauer gesagt auf die »jüdischen Wagnerianer« im unmittelbaren Umfeld des Bayreuther Wagner-Kreises der 1870er und 1880er Jahre. Dies gilt vor allem für das erste Deutungsmuster, das sich in erheblichem Maße psychologischer Argumente bedient und eine Erklärung des Phänomens durch den Hinweis auf »jüdischen Selbsthaß«4 anstrebt.5 In diesem Zusammenhang werden vor allem die Biographien des Dirigenten Hermann Levi (1839-1900) sowie der Pianisten Carl Tausig (1841-1871) und Josef Rubinstein (1847-1884) herangezogen. Hermann Levis Biographie und Schicksal sind dabei am bekanntesten. Der auch als Komponist und Pianist hervorgetretene Rabbinersohn hatte sich seit den 1860er Jahren der Musik Wagners verschrieben und wurde, auch qua seines Amtes als Münchener Hofkapellmeister, in den 1880er Jahren von Wagner mit dem Dirigat der Uraufführung des »Bühnenweihfestspiels« Parsifal beauftragt. Im Laufe seiner viele Jahre währenden Arbeit für die Bayreuther Festspiele sah sich Levi immer wieder mit antisemitischen Anfeindungen und Anspielungen aus dem Umkreis und der Familie des Komponisten, aber auch von Seiten Wagners konfrontiert. Das Ehepaar Wagner selbst hatte Levi zur Taufe aufgefordert. Zwar bekräftigte der Komponist, zumal nach einem oft beschriebenen Eklat im Jahre 1881, gegenüber seinem jüdischen Dirigenten sein Wohlwollen (»für alle Fälle aber sind Sie mein Parsifal-Dirigent«6), dies änderte aber nichts an Levis Überzeugung, dass seine jüdische Herkunft ein gravierender Makel sei. Dies gilt in noch extremerer Weise für den russisch-jüdischen Pianisten Josef Rubinstein, der seit der Mitte der 1870er Jahre zur Entourage Wagners zählte und für den Komponisten bis zu dessen Tod unverzichtbare Assistentendienste leistete. Rubinstein hatte sich bei Wagner im Jahr 1872 in drastischer Weise eingeführt. »Ich bin Jude«, schrieb er damals in einem Brief an Wagner und bat um »Erlö-

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6

Zur Thematik vgl. v. a. Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1993. Siehe auch die differenzierende Studie von Jens Malte Fischer: Identifikation mit dem Aggressor? Zur Problematik des jüdischen Selbsthasses um 1900. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 3 (1992), S. 23-48. Einschlägig ist Peter Gays klassische Studie zu Hermann Levi. Peter Gay: Hermann Levi. Eine Studie über Unterwerfung und Selbsthaß. In: Ders.: Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur. München: dtv 1989 [New York 1978], S. 207-237. Ebenso argumentieren Werner (Jews Around Wagner [wie Anm. 1]) und Brody (Jewish Wagnerites [wie Anm. 1]). Wagner an Hermann Levi, 1. Juli 1881. In: Richard Wagner an seine Künstler. Zweiter Band der »Bayreuther Briefe«. Hg. von Erich Kloss. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1912 (Richard Wagners Briefe in Originalausgaben; 14), S. 327.

»Mendele Lohengrin« und der koschere Wagner

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sung durch Mittätigkeit an der Aufführung der Nibelungen«7, woraufhin der Komponist den jüdischen Bewunderer gönnerhaft zu sich einlud. Als Wagner 1883 starb, war Rubinstein verzweifelt. Ein Jahr später nahm er sich das Leben. Nicht restlos aufgeklärt ist dagegen der frühe Tod des Klaviervirtuosen Carl Tausig im Jahre 1870. Wagner selbst bemerkte, dass die Wiederveröffentlichung von Das Judentum in der Musik im Jahr zuvor den jüdischen Pianisten verletzt haben dürfte. Es ist daher gemutmaßt worden, dass Tausigs Tod mit dieser Kränkung in Zusammenhang gebracht werden kann.8 Jedenfalls beendete Tausigs überraschender, aber vermutlich doch natürlicher Tod im Alter von kaum 30 Jahren eine bis dahin intensive Künstlerfreundschaft des jungen Pianisten mit dem sich väterlich gebenden Komponisten. Tausig, ein Schüler Liszts, schuf in den wenigen Jahren der Zusammenarbeit einige überaus gekonnte Transkriptionen und Klavierauszüge von Opern Wagners und trug damit nicht unwesentlich zur Popularisierung von Wagners Musik in den Konzertsälen und Musikzimmern Europas bei. Es ist, wie deutlich geworden sein dürfte, nicht ganz abwegig, die Kategorie des »jüdischen Selbsthasses« zumindest in den Fällen Levi und Rubinstein heranzuziehen. Freilich darf nicht übersehen werden, dass es sich bei Levi und Rubinstein in mancherlei Hinsicht um extreme Fälle handelt, die durch die jahrelange unmittelbare Nähe zu Wagner und zum Bayreuther Kreis noch zugespitzt wurden. Es ist nicht plausibel, von diesen Fällen generell darauf zu schließen, dass bei allen exaltierten jüdischen Bewunderern Wagners ein jüdischer Selbsthass festgestellt werden könnte.9 Nicht minder verkürzend ist es, von einer »[großen] Schar von Wagners kriecherischen jüdischen Anhängern« zu sprechen.10 An dieser Stelle verspricht das zweite Deutungsmuster daher vergleichsweise mehr Einsicht. Es operiert weniger mit psychologischen Mutmaßungen als mit dem Argument, dass sich die jüdischen Wagnerianer in besonders naiver und emphatischer Weise von jenen Illusionen leiten ließen, die im deutschen Judentum ganz allgemein weit verbreitet gewesen seien. Damit ist vor allem der 7 8 9

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Cosima Wagner: Die Tagebücher. Hg. und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. 2 Bde. München: Piper 1976/1977, hier Bd. 1, S. 497. Werner, Jews Around Wagner (wie Anm. 1), S. 182. Gay spricht sogar von einer »gesamtkulturellen Dimension« des Phänomens (Hermann Levi [wie Anm. 5], S. 232). Brody behauptet: »If [...] we examine the nature of the members of the Jewish faith who became so enthralled with the composer that they threw aside their dignity, their heritage, and their families to work for and with him, we would find that all suffered the curse of self-hate.« (Jewish Wagnerites [wie Anm. 1], S. 76). Auch Werner spricht davon, dass die jüdischen »attachments [to Wagner], often warped by inner contradictions, often full of guilt feelings and selfhatred, assumed the dimensions of a mythical affection and affliction« (Jews Around Wagner [wie Anm. 1], S. 173). Gay, Hermann Levi (wie Anm. 5), S. 232.

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Glaube an die Möglichkeit eines kollektiven Aufgehens des Judentums im Deutschtum gemeint, aber auch ein gefährliches Übersehen des sich formierenden rassischen Antisemitismus. Mit Blick auf die Meistersinger-Rezeption hat Leon Botstein beispielsweise behauptet, dass »die Juden einen Großteil des Publikums [bildeten], das in seiner Rezeption der Meistersinger den nationalistischen und ästhetisierten, beinahe als antisemitisch zu bezeichnenden Hintergrund vollkommen ignorierte«.11 Die Meistersinger waren, so Botstein, eine Apotheose des deutschen Volkes, »als dessen Mitglieder die Juden ihrerseits anerkannt werden wollten«.12 Nur wenige jüdische Zeitgenossen hätten durchschaut, dass hier »Kunst ohne musikalischen Verstand aufgenommen« worden sei.13 Soweit die bisherige Forschungslage. Welche Erklärungen für das Phänomen der jüdischen Wagnerianer bietet nun jener ›dritte Weg‹ an, der hier vorgeschlagen wird? Zu allererst ist er ein Plädoyer für mehr Differenzierung in der Forschungsdiskussion. Denn es ist erstaunlich, dass in den bisherigen Studien zwei außerordentlich vielschichtige und mitunter auch in sich widersprüchliche historische Phänomene, das deutsche Judentum und das Werk Wagners, nicht selten in einer pauschalisierenden und schematischen Weise dargestellt werden. Die Fragen, die dies aufwirft, führen auch zu einem Kernproblem der deutsch-jüdischen Historiographie. Glaubte das deutsche Judentum wirklich in so massiver Weise und so blind an die Möglichkeit einer ›Konversion‹ zum Deutschtum?14 Handelt, umgekehrt, Wagners Werk ausschließlich von diesem Deutschtum und seiner Apotheose? Und musste Wagners Werk, selbst wo dies der Fall war, ausschließlich unter diesem Blickwinkel rezipiert werden? Die entscheidende Frage ist also, was deutsche Juden sahen und sehen wollten, wenn sie – wofür vieles spricht – in überdurchschnittlicher Zahl die Opern Wagners besuchten oder gar nach Bayreuth pilgerten. Es gilt zunächst – wie für jeden Rezeptionsprozess –, dass jüdische Wagnerianer keineswegs die Werke des ›Meisters‹, gar ihre Programmatik immer nur in der vom Komponisten ›intendierten‹ (und von Wagner oft weitschweifig beschriebenen) Weise rezipierten oder rezipieren mussten. Der jüdische, später konvertierte Philosoph Siegfried Lipiner, ein enger Freund Gustav Mahlers, suchte beispielsweise zwar noch zu Lebzeiten Wagners den Komponisten in Bayreuth auf, dies hielt Lipiner aber nicht davon ab, die mythologischen Stoffe 11 12 13 14

Leon Botstein: Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848-1938. Wien: Böhlau 1991, S. 134. Ebd., S. 78. Ebd., S. 135. Die Frage wird beispielsweise in jüngster Zeit verneint von Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 75.

»Mendele Lohengrin« und der koschere Wagner

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der Opern ausgerechnet mit seinen eigenen Interessen für die jüdische Mystik, die Kabbala, zusammenzubringen.15 Ein noch eindrücklicheres Beispiel ist die (Um-)Deutung von Wagners großer romantischer Oper Lohengrin unter jüdischen Rezipienten. Gewiss, nichts deutet angesichts der Handlung und der musikalischen Gestaltung auf den ersten Blick darauf hin, dass diese Oper Qualitäten und Dimensionen aufwies, die jüdische Rezipienten besonders angesprochen oder zu Umdeutungen veranlasst haben könnten. Die im Mittelalter spielende Geschichte vom mysteriösen Schwanenritter Lohengrin, der in höchster Not das Schicksal der verzweifelten Elsa von Brabant zum Guten wendet, ihr aber verbietet, ihn selbst nach seiner Herkunft zu befragen, hat offenkundig nichts ›Jüdisches‹ an sich. Und doch ist die Beobachtung zutreffend, dass »die Figur des Lohengrin als Verkörperung der tiefsten Wünsche des modernen Bildungsbürgertums, hauptsächlich der Juden, gesehen werden« konnte. Denn ebenso wie der Schwanenritter wollte »der Jude anerkannt werden, ohne seine Herkunft und seinen Namen zu verraten, und wenn das Vertrauen der Nicht-Juden nicht vorhanden war, wollte er verschwinden«.16 Eine solche These kann auf der Ebene des individuellen Rezipienten freilich nur schwer ›bewiesen‹ werden.17 Hingegen gibt es manche konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Oper Lohengrin als ganzes und namentlich ihr berühmtes Vorspiel zum ersten Aufzug bei (jüdischen) Zeitgenossen als Emblem für die höchst fragile Utopie einer besseren und höheren (Gesellschafts-)Ordnung gelten konnte, wie noch auszuführen sein wird. Theodor W. Adorno hat später im Exil nicht von ungefähr Lohengrin als diejenige Oper Wagners kritisiert, in der par excellence »die Etablierung der jedem profanen Zugriff entzogenen Sakralsphäre unmittelbar mit der Verklärung undurchschauter bürgerlicher Verhältnisse zusammenfällt«.18 Die Welt von Lohengrin ist für den deutsch-jüdischen Philosophen das »Wunschbild eines umfangenden, von der Gottheit bestätigten Kosmos«.19 15 16 17

18 19

Werner, Jews Around Wagner (wie Anm. 1), S. 184. Botstein, Judentum und Modernität (wie Anm. 5), S. 78. Für antisemitische Kreise schon eher (was hier natürlich kein Argument sein kann). So lassen sich unter antisemitischen Vorzeichen in der Publizistik Darstellungen von Juden als Lohengrin-Karikaturen finden. Die Zeitschrift Kikeriki etwa druckte 1923 eine Karikatur mit dem Titel »Der galizische Lohengrin« ab, auf der ein Ghettojude in der Pose des Opernhelden auf einem Schwan einzieht. Die ›jüdelnde‹, Wagners Dichtung variierende Unterschrift lautete: »Nie sollst du mich befragen,/ Noch Wissens Sorge tragen,/ Woher iach kam der Fahrt,/ Noch mein Nam’ und Art«. In einer späteren Version der Karikatur ist die Unterschrift abgewandelt: »Nun sei bedankt, mein lieber Schwan,/ Kehr’ durch die weite Flut zurück!/ Wohin den Kohn auch trug sein Kahn,/ Am Kai in Wien nur wohnt sein Glück«. Vgl. Julia Schäfer: Vermessen, verzeichnet, verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933. Frankfurt am Main: Campus 2005, S. 319. Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner [1937/1938]. In: Ders.: Die musikalischen Monographien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 121. Ebd., S. 69.

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In der Tat hatte Wagner selbst, wie Lawrence Kramer eindrücklich gezeigt hat,20 die in vieler Hinsicht archetypisch anmutende und idealisierende Handlung der Oper als einen Gegenentwurf zu seiner eigenen Gegenwart aufgefasst. Die Welt, wie sie in Lohengrin vorgeführt wird, ist freilich beim Komponisten die Phantasmagorie einer Gesellschaft, die noch nicht von den – in Wagners Augen auch vom ›Judentum‹ verkörperten – Symptomen der Moderne gezeichnet ist. Wagner beschwört zu diesem Zweck »a fullness of being free of the stress of modernity, a freedom embodied here in the timeless imagery of a woman and the earth and in the slowly accumulating fullness of the Prelude’s orchestral sonority«.21 Man könnte daran anknüpfend noch weiter gehen und sagen, dass die von Lohengrin personifizierte Welt bei Wagner eigentlich auch insofern ein radikaler und wenig demokratischer Gegenentwurf zur modernen Gesellschaft ist, als sie von einer strahlenden Führergestalt (dem Schwanenritter) dominiert wird, die wiederum aus einer höchst exklusiven Elite (Gralsritterschaft) hervorgegangen ist und an der Zweifel nicht erlaubt sind (Frageverbot). Eine irenische Botschaft ist der Oper jedenfalls nicht notwendigerweise inhärent. Im Gegenteil, Wagner hat in seine Lohengrin-Dichtung zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift durchaus auch tagespolitische Aussagen eingeflochten. Namentlich die sog. Königsreden der Opern konnten daher, ohne die Intentionen des Komponisten zu verdrehen, von den Rezipienten auch als Aufrufe zur »Abwehr des Zarismus« aufgefasst werden.22 Textstellen wie die Warnung vor der »Drangsal [...], die deutsches Land so oft aus Osten traf« (I, 1) und der Aufruf, »des Reiches Ehr’ zu wahren« (ebd.), können zudem auch als Beispiele für das gelten, was später Thomas Mann in der Emigration höchst kritisch als Wagners »Appell[e] an eine klassenlose Volklichkeit« bezeichnen sollte.23 Es kann daher nicht überraschen, dass es ganz besonders Wagners Lohengrin war, der »den patriotischen Enthusiasmus von 1914 inspirierte«.24 Doch Wagners Werk ist mehr- und vieldeutig. Die Rezeptionsgeschichte von Lohengrin ist, bereits unter jüdischen wie nichtjüdischen Zeitgenossen (z. B. Liszt), auch die Geschichte von Umdeutungen, bei denen Wagners ursprüngliche Intentionen, wie sie beispielsweise in seinen Aussagen zum Werk greifbar sind, transformiert wurden. So konnte eben diese höhere, reine Welt, die der Schwanenritter Lohengrin bei Wagner verkörpern soll, auf Seiten der Rezipienten auch als ein »icon of ecumenical, utopian tolerance« aufgefasst werden, als eine Aussicht auf eine Versöhnung höchst unterschiedlicher Sphären – wie sie in der Hochzeit zwischen Lohengrin und Elsa für einen Moment vollzogen ist – und somit auf den Eintritt einer besseren, sakralisierten Zu20 21 22 23 24

Lawrence Kramer: Contesting Wagner. The Lohengrin Prelude and Anti-antiSemitism [sic!]. In: 19th-Century Music 25 (2001/2002), S. 190-211. Ebd., S. 205. Hans-Joachim Bauer: Richard Wagner. Stuttgart: Reclam 1992, S. 182. Fischer, Wagners »Das Judentum in der Musik« (wie Anm. 2), S. 132. Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt am Main: Fischer 2006, S. 315.

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kunft.25 Selbst der wie erwähnt so kritische Adorno konnte sich in seinem im Exil geschriebenen Versuch über Wagner (1937/1938) von der Musik des Lohengrin, der er einen berühmten Exkurs widmete, noch »verzaubern«26 lassen und sah in der Hochzeitsthematik jene »poetische Idee, die den Stil der ganzen Oper, nicht nur den von Brautzug und Brautgemach, vorschreibt«.27 Dass bereits jüdische Zeitgenossen Wagners in Lohengrin eine genuin versöhnliche, wenn nicht sogar irenische Grundbotschaft sahen oder zu sehen vermeinten, geht aus einem höchst erstaunlichen Briefwechsel zwischen Wagner und dem bereits erwähnten Carl Tausig aus dem Jahre 1869 hervor. Hintergrund der Korrespondenz war die Wiederveröffentlichung von Das Judentum in der Musik im selben Jahr, die in der Publizistik prompt auf eine für Wagner offenbar überraschend heftige Ablehnung stieß. Eklats und Proteste in Wagner-Aufführungen waren nicht auszuschließen.28 Auch daher beeilte sich Carl Tausig, aus Berlin zu melden, dass in der preußischen Hauptstadt die Aufführung von Lohengrin nicht nur ohne Zwischenfälle abgelaufen sei, sondern die Juden auch »versöhnt« habe.29 Es ist vielleicht kein Zufall, dass ein Vierteljahrhundert später Gustav Mahler, seines Zeichens ein glühender Wagnerianer, sein Amt als Dirigent der Wiener Hofoper nicht etwa mit den Meistersingern, sondern ausgerechnet mit Lohengrin antrat. Der von Antisemiten so oft angefeindete Dirigent entschied sich bei seinem symbolträchtigen und programmatischen Debüt also für jene Oper, die namentlich auf jüdischer Seite zur Utopie einer versöhnten Gesellschaft umgedeutet wurde und in der sogar die national definierten gesellschaftlichen Schranken der Meistersinger-Welt als transzendiert galten. Ein weiteres Zeugnis, freilich aus späterer Zeit, für eine solche Umdeutung der Lohengrin-Musik aus jüdischer Sicht lässt sich beibringen. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet das bereits erwähnte Vorspiel zum ersten Aufzug, das von christlicher Gralsmotivik geprägt ist, im Jahre 1940 zur musikalischen Untermalung für die Schluss-Szene von Charlie Chaplins berühmter Satire The Great Dictator diente. In dieser Szene ist es der Held des Films, ein jüdischer Friseur, der zum modernen Gralsritter wird und dessen Schlussauftritt gewissermaßen eine allgemeinmenschliche, humanitätsstiftende Botschaft hinter der von den Nationalsozialisten zu dieser Zeit bereits ideologisch vereinnahmten Musik Wagners hervorkehrt.30 25 26 27 28 29

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Kramer, Contesting Wagner (wie Anm. 20), S. 205. Adorno, Versuch über Wagner (wie Anm. 18), S. 74. Ebd., S. 69. Fischer, Wagners »Das Judentum in der Musik« (wie Anm. 2), S. 112-116. Lohengrin »habe mir die Juden versöhnt«, fasste Wagner die Entwicklung in einem Brief an Tausig zusammen. In dem Brief wird noch einmal explizit Tausigs Mitteilung erwähnt, »alle Juden seien mir versöhnt«. Vgl. Wagner an Tausig, o. D. [April 1869]. In: Richard Wagner. Sämtliche Schriften und Dichtungen. 16 Bde. Leipzig 1911, hier Bd. 16, S. 102. Vgl. Kramer, Contesting Wagner (wie Anm. 20), S. 203-205.

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Auch eine in der bisherigen Forschung m. W. nicht herangezogene Erzählung des zionistischen Schriftstellers Heinrich Elchanan York-Steiner (1859-1934) ist im vorliegenden Zusammenhang aufschlussreich.31 Die Erzählung mit dem bezeichnenden Titel Mendele Lohengrin. Die Geschichte eines Musikanten wurde 1898 als Feuilleton in der von Theodor Herzl begründeten zionistischen Zeitung Die Welt abgedruckt.32 Literarisch ist – dies sei an dieser Stelle vorweggenommen – die Geschichte von bescheidenem Anspruch. Unter Gattungsaspekten wird man sie unschwer dem Genre der Ghetto-Erzählung zuordnen können.33 Die Bedeutung von York-Steiners Erzählung liegt darin, dass sie glaubhaft, wenn auch auf fiktiver Ebene und mit etwas holzschnittartigen literarischen Mitteln jene, möglicherweise genuine Faszination beschreibt, die namentlich von Wagners Lohengrin auf zeitgenössische Juden ausgehen konnte. Held der Geschichte ist der arme jüdische Musikant Mendele Klesmer, der sein Brot mit dem Aufspielen bei Hochzeiten in der österreichisch-jüdischen Landgemeinde Martinsdorf verdient und sich mit seinen kargen Ersparnissen eines Tages seinen großen Traum, einen Besuch im kaiserlichen Hoftheater in Wien, erfüllt. Zufällig wird an diesem Abend Lohengrin gegeben. Die Aufführung und namentlich das bereits erwähnte Vorspiel zum ersten Aufzug werden für Mendele, der das Werk ohne jedes Vorwissen rezipiert, zum überkonfessionellen Erweckungserlebnis. Aber was spielten sie da unten? Und warum packte es ihn gar so gewaltig? Er stand auf, reckte seinen kleinen Kopf in die Höhe, stellte sich auf die Zehen, als wollte er den Tönen näher kommen. Das zitterte durch die Lüfte wie wehmüthiges Gebet von Engelschören, wie leises Schluchzen der Gottheit, wie die Musik der Cherubim, die den Schmerz der Gottheit zu sänftigen suchen. Die Regung in ihm wuchs, sein Athem flog, die Augen blickten starr in die Höhe, die Hände zuckten nervös und als das Vorspiel vorbei war, setzte er sich wie betäubt auf die Holzstufe nieder.34

Mendele kehrt als gewandelter Mensch nach Martinsdorf zurück. Er weigert sich fortan, als Spielmann mit den traditionellen Weisen aufzutreten, und beharrt darauf, nur noch Musik aus Lohengrin bei jüdischen Anlässen zum Besten zu geben. Es kommt darüber alsbald zu einem Streit mit der jüdischen Gemeinde, die ihren Musikanten mit den spöttischen Namen »Mendele Lo31

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33

34

Zur interessanten Biographie des Autors, die hier nicht weiter dargestellt werden kann, liegt bisher so gut wie keine wissenschaftliche Forschung vor. Vgl. einstweilen Oskar K. Rabinowicz: [Lemma] »York-Steiner, Heinrich Elchanan«. In: Encyclopaedia Judaica. Hg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik. 2. Aufl. Detroit: Thomson Gale 2007, hier Bd. 21, S. 394. H[einrich] York-Steiner: Mendele Lohengrin. Die Geschichte eines Musikanten. In: Die Welt, Nr. 16, 22. April 1898, S. 14-16; Nr. 17, 29. April 1898, S. 14-16; Nr. 18, 6. Mai 1898, S. 14-16. Gabriele von Glasenapp und Hans Otto Horch: Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 2 Teile. Tübingen: Max Niemeyer 2005 (Conditio Judaica; 53-55). York-Steiner, Mendele Lohengrin (wie Anm. 32), S. 15 (Nr. 17).

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hengrin« und »Reb Wagner« belegt. Mendele versucht hingegen emphatisch, seine Erfahrung zu vermitteln, dass in Wagners Lohengrin die Schranken der Religion und der Intoleranz aufgehoben sind. Was hat die Musik mit die Juden zu thun oder mit die Christen? [...] Was haßt Jud, was haßt Christ bei Musik? Is Musik koscher? Is eine Melodie trefe? Muss man denn Noten einsalzen und auswaschen? Muss man eine Fidel schachten?35

Schließlich ist es ein jüdischer Student aus Wien, der Mendele einen Hinweis auf Wagners Antisemitismus und das Pamphlet Das Judentum in der Musik gibt und damit einen Sinneswandel beim darüber tief erschütterten Mendele einleitet. Die Erzählung schließt unversöhnlich. Mendele zerreißt Wagners Pamphlet in Stücke, zerstört aber auch seinen Kontrabass und entsagt der jüdischen Musik, die ihm – im Unterschied zum nach wie vor verehrten Lohengrin – nichts mehr bedeutet. Mendele endet also in gewisser Weise als einer jener jüdischen Wagnerianer, die den Komponisten kritisieren, aber das Werk verehren. An dieser Stelle berührt York-Steiners Erzählung zweifellos die Realität und vielleicht auch autobiographische Momente, denn es gab viele jüdische Wagnerianer, die sehr genau zwischen dem Werk und dem Komponisten zu trennen vermochten. Zu ihnen zählt beispielsweise der jüdische Zeitgenosse und Geiger Edmund Singer, der als Konzertmeister bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses und später bei Aufführungen in Bayreuth im Orchester mitwirkte, sich aber die Fähigkeit erhielt, Wagners Antisemitismus öffentlich und kritisch zu erwähnen.36 Zwischen Komponist und Œuvre trennte auch der bedeutende Musikwissenschaftler Guido Adler, der Wagner ebenfalls noch persönlich kennengelernt hatte.37 Gewiss ist die Prämisse einer Trennung von Werk und Komponist für sich genommen nicht unproblematisch und, bis zu einem gewissen Grade, selbst ein idealisierendes Konstrukt, bei dem »das schlichte Faktum des unausweichlichen Politisch-Werdens von Musik«38 in der Moderne überdeckt wird. Dennoch darf die Bedeutung dieser Rezeptionshaltung nicht unterschätzt werden, wenn mitunter in allzu pauschaler Weise von der Gruppe der »jüdischen Wagnerianer« gesprochen und geschrieben wird. »Ich hasse ihn, auf Knien«, dieses in sehr viel späterer Zeit geprägte Bonmot des amerikanisch-jüdischen Diri35 36

37 38

Ebd., S. 16 (Nr. 17). Anat Feinberg und Daniel Jütte: »Un des meilleurs violons d’Allemagne«. Der Violinvirtuose Edmund Singer – ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Hg. von Marion Kaplan und Beate Meyer. Göttingen: Wallstein 2005, S. 177-207, hier S. 185. Vgl. die Ausführungen seines Studenten Eric Werner, Jews Around Wagner (wie Anm. 1), S. 184. Eckhard John: Wer hat Angst vor »jüdischer Musik«? Die Politisierung der Musik im Zeichen des Antisemitismus. In: Jüdische Musik? Fremdbilder – Eigenbilder. Hg. von Eckhard John und Heidy Zimmermann. Köln: Böhlau 2004, S. 101-118, hier S. 104.

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genten Leonard Bernstein über Wagner kann dem Historiker als ein Hinweis auf die Komplexität des Phänomens des jüdischen Wagnerenthusiasmus dienen, die sich freilich nach der Shoa noch erheblich verschärft hat.39 Es ist – um die historischen Proportionen zu wahren – aber schließlich der Hinweis angebracht, dass unter den jüdischen Musikliebhabern und Interpreten des 19. Jahrhunderts immer auch eine Fraktion ausgesprochener Anti-Wagnerianer existierte. Keineswegs alle deutschen Juden hatten Sympathien für Wagner. So begründete beispielsweise der jüdische Heldentenor Heinrich Sontheim, der sich seit den 1860er Jahren weigerte, Wagner-Rollen zu singen, seine Haltung nicht zuletzt mit dem Antisemitismus des Komponisten.40 Doch noch einmal zurück zu Lohengrin. Nicht alle Opern Wagners mussten, im Unterschied zur Sage vom Schwanenritter, erst ›umgedeutet‹ oder mit den eigenen Wünschen und Sehnsüchten aufgeladen werden, um jüdische Wagnerianer auf besondere Weise anzusprechen. Viele von Wagners Opern enthielten bereits a priori Themen und Stoffe, in denen sich deutsche Juden möglicherweise in besonderem Maße wiederfinden konnten. Manchen jüdischen Wagnerianern galt der Komponist paradoxerweise sogar als im wahrsten Sinne des Wortes einer der ›ihren‹. Denn es gab, auch auf jüdischer Seite, immer wieder Vermutungen und Thesen, Wagner sei eigentlich (Halb-)Jude.41 Genährt werden konnten solche Theorien vielleicht auch von jenen nichtjüdischen Kritikern Wagners, die meinten, in der Physiognomie des Komponisten jüdische Merkmale entdeckt zu haben und ihn, auch in Karikaturen, als »Richard der Jude« oder »Rabbi von Bayreuth« darstellten.42 Auch in Frankreich war um die Jahr39 40

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42

Zitiert nach Hanoch Ron: Kaddish for Lenny. In: The Jerusalem Report vom 25.10.1990, S. 54. Daniel Jütte: Der jüdische Tenor Heinrich Sontheim (1820-1912). Aufstiegschancen und Antisemitismus in der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts. Göppingen: Stadtarchiv Göppingen 2006. Diese Behauptung sei, so ein Autor im Jahr 1911, »schon gelegentlich sowohl von jüdischer wie von antisemitischer Seite aufgestellt« worden. Vgl. N. N.: Der Erwerbssinn Richard Wagners. In: Die Wahrheit. Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen, Nr. 30, 4. August 1911, S. 7-8 sowie Nr. 32, 18. August 1911, S. 9-10, hier S. 7. Zu der Diskussion um Wagners angebliche jüdische Abkunft siehe auch die einschlägigen bibliographischen Nachweise bei Alfred Sendrey: Bibliography of Jewish Music. New York: Columbia University Press 1951 [Reprint New York 1969]. So nennt Sendrey etwa den Artikel »Was Wagner a Jew? Ernest Newman, Distinguished Authority, Thinks He Was«. In: The National Jewish Monthly 60 (1941), S. 213 (Sendrey Nr. 3047); außerdem Sulamith Ish-Kishor: Was Wagner a Half-Jew? In: The American Hebrew vom 26.11.1926, S. 24 (Sendrey Nr. 3064); O. G. Sonneck: Was Wagner a Jew? In: Ders.: Suum cuique. Essays in Music. New York 1916, S. 177-212 (Sendrey Nr. 3085); sowie ders.: Was Richard Wagner a Jew? In: Studies in Musical Education. Hartford 1912, o. S. (Sendrey Nr. 3086). Brody, Jewish Wagnerites (wie Anm. 1), S. 68; Fischer, Wagners »Das Judentum in der Musik« (wie Anm. 2), S. 31.

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hundertwende in nationalistischen, antideutschen Kreisen die Ansicht verbreitet, der dekadente und »unfranzösische« Wagner sei eigentlich Jude gewesen.43 Zwar hat die heutige Wissenschaft mit genealogischen Methoden die Haltlosigkeit der Theorie von Wagners angeblicher jüdischer Abkunft erwiesen, dies ändert aber nichts daran, dass im 19. Jahrhundert nicht zuletzt eine Reihe von jüdischen Autoren und – wie einige Musikwissenschaftler annehmen44 – auch Wagner selbst sich über diese Frage den Kopf zerbrochen haben. Doch das ist hier nicht der entscheidende Punkt. Weitaus bedeutsamer bleibt, dass viele Opern Wagners in oftmals archetypischer Zuspitzung von Themen handeln, die – bildlich gesprochen – das Potential hatten, die innersten Saiten bei deutsch-jüdischen Rezipienten zum Schwingen zu bringen oder den Finger in manche kollektive Wunde des deutschen Judentums zu legen. Man wird unter diese Themen z. B. den Zerfall traditionell enger Familienstrukturen, wie er im Ring des Nibelungen so zentral ist, zählen dürfen. Der bedeutende deutsch-jüdische Musikwissenschaftler Alfred Einstein (1880-1952), dem in Deutschland aufgrund seiner jüdischen Herkunft das Ordinariat verwehrt blieb, sah beispielsweise in Nibelheim nicht weniger als ein »mythisches Ghetto«, aus dem ein jüdisches Brüderpaar hervorgeht, das höchst unterschiedliche Wege beschreitet – hier der »kleinere, gewitzte, schleichende, erregbare« Mime, dort der »furchtbare« Alberich.45 Man benötigt wenig Kreativität, um die Schnittmenge zwischen den bei Einstein für Mime verwendeten Adjektiven und einigen jener Attribute festzustellen, mit denen die Ostjuden im deutschsprachigen Raum belegt wurden.46 Die Saga von den charakterlich unter43

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Jane F. Fulcher: A Political Barometer of Twentieth-Century France. Wagner as Jew or Anti-Semite. In: Musical Quarterly 84 (2000), S. 41-57, hier S. 47-49. Zur Diskussion in Amerika vgl. Joseph Horowitz: Wagner und der amerikanische Jude. Eine persönliche Betrachtung. In: Richard Wagner und die Juden (wie Anm. 3), S. 238-249, hier S. 245. Horowitz, Wagner (wie Anm. 43), S. 246; Brody, Jewish Wagnerites (wie Anm. 1), S. 68; Peter Gay, Wagner aus psychoanalytischer Sicht. In: Richard Wagner und die Juden (wie Anm. 3), S. 251-260, hier S. 252f. Alfred Einstein: Der Jude in der Musik. In: Der Morgen 6 (1927), S. 590-602. Vgl. den von mir besorgten und mit einer Einleitung versehenen Wiederabdruck in: Pardes. Informationsblatt der Vereinigung für Jüdische Studien e. V. 10 (2005), S. 1127, für das Zitat dort S. 24 [S. 599]. Auch Adorno hat behauptet, dass »all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk«, darunter auch Alberich und Mime, »Judenkarikaturen« seien. Vgl. Adorno, Versuch über Wagner (wie Anm. 18), S. 21. Freilich hat Einstein seine Deutung von Alberich und Mime als Judenfiguren einige Jahre vor Adorno veröffentlicht. Es wäre daher interessant zu untersuchen, ob Einsteins Text Adorno bekannt war. Zum Thema der Judenfiguren bei Wagner siehe auch Hermann Danuser: Zur Frage antisemitischer Charakterzeichnung in Wagners Werk. In: Richard Wagner und die Juden (wie Anm. 3), S. 78-100. Steven E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness (1800-1923). Madison/Wisc.: University of Wisconsin Press 1999.

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schiedlichen, aber gleichermaßen verachteten Zwergenbrüdern Wagners wird bei Einstein, wenn auch nur auf der Ebene der Handlung, somit auch zur Chiffre für das ungleiche, sich immer fremder werdende Brüderpaar Ostund Westjude. Freilich handelt Wagners Ring nicht nur vom Zerfall, sondern auch von der Beschwörung und der Idealisierung traditioneller Familienstrukturen, namentlich in der Geschichte von den Wälsungen-Zwillingen Siegmund und Sieglinde. Obzwar sie von ihrer Herkunft entfremdet und im Unwissen von ihrer gegenseitigen Verwandtschaft sind, spüren die Geschwister die Verbindung durch ein inneres, archaisch anmutendes Band ebenso wie eine daraus abgeleitete Schicksalsgemeinschaft und gegenseitige Solidarität. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Siegmund zu einem Dasein als gesellschaftlicher outcast verurteilt ist,47 obwohl es ihn nach eigenem Bekunden »zu Männern und Frauen [drängt]« (1. Aufzug). Es ist einzig seine Schwester Sieglinde, in deren Augen (und Armen) er Bewunderung und Schutz findet.48 Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass zwei der prominentesten literarischen Prosawerke des europäischen fin de siècle, in denen – wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise – Wagners Walküre als Subtext der Handlung fungiert, jüdische Geschwister als Protagonisten haben. Dies gilt zunächst für Italo Svevos Roman Senilità (1898), dessen Handlung autobiographisch aufgeladen ist und dessen Atmosphäre nicht zuletzt aus jener Welt des jüdischen Bürgertums von Triest schöpft, in der Svevo selbst aufwuchs. Zwar wird Emilio, der Protagonist des Romans, vom Autor nicht explizit als Jude bezeichnet. Svevo hat viele Jahre später aber bekannt, dass er Emilio als einen dezidiert jüdischen Protagonisten konzipiert habe.49 Im neunten Kapitel des Romans bildet der ebenso subtil wie hintersinnig von Svevo beschriebene, gemeinsame Besuch einer Aufführung der Walküre durch die Geschwister Emilio und Amalia eine Schlüsselszene, in der das Erlebnis von Wagners Musik auch jenes traditionell enge Band zwischen den – jüdischen – Geschwistern stiften soll, das im Alltag bereits abhanden zu kommen droht. Soweit auch die Schnittmenge mit Thomas Manns berüchtigter Novelle Wälsungenblut (1905). Ist in diesem Fall zwar der Autor nicht jüdisch, so sind es dafür weitaus offenkundiger als bei Svevo die Protagonisten, woran Thomas Mann durch die Überzeichnung der Charaktere auch keinen Zweifel lässt. Die Geschichte kreist um die Zwillinge Siegmund und Sieglind Aarenhold, Sprösslinge einer vom Autor als vulgäre Parvenüs dargestellten, akkulturierten Familie. Unmittelbar vor der nahenden Hochzeit Sieglinds mit ihrem christlichen Verlobten 47 48

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»In Fehde fiel ich / wo ich mich fand; / Zorn traf mich / wohin ich zog« (1. Aufzug). Vgl. auch Hans Rudolf Vaget: »Von hoffnungslos anderer Art«. Thomas Manns Wälsungenblut im Lichte unserer Erfahrung. In: Thomas Mann und das Judentum. Hg. von Manfred Dierks und Ruprecht Wimmer. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2004 (Thomas-Mann-Studien; 30), S. 35-57, hier S. 51. Vgl. Svevos Vorwort zur zweiten Auflage (1927) und den Kommentar der Herausgeberin. In: Italo Svevo: Senilità. Hg. von Marisa Strada. Florenz: Giunti 1995, S. 6.

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vollziehen die jüdischen Geschwister aus Rache am »Goy« (wie es in der ersten Fassung der Novelle hieß) nach einem gemeinsamen Besuch der Walküre den bereits in Wagners Oper offen angedeuteten Inzest. Es gibt guten Grund, Wälsungenblut als das mit antisemitischen Klischees operierende Frühwerk eines Autors zu bezeichnen, dessen Bild vom Judentum sich später, zumal unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, entzerren sollte. Als historischer Beleg kann die Erzählung hier naturgemäß nur insoweit angeführt werden, als sie sich anschickt, in bizarrer Weise die ausgeprägte Wagner-Leidenschaft in der jüdischen Familie Pringsheim, der Familie von Thomas Manns Ehefrau Katia, zu karikieren. Wälsungenblut greift, wenn auch auf höchst problematische Weise, die Beobachtung auf, dass die Beschwörung der Verwandtschaftsthematik im Werk Wagners das Potential aufwies, den unmittelbaren Erfahrungshorizont und Lebensentwurf vieler jüdischer Rezipienten – zumal aus dem Bürgertum – zu berühren. Katia Mann/Pringsheim selbst bezeichnete sich und ihre Geschwister rückblickend als »diese fünf Kinder, die ständig zusammen auftraten«. Noch im Erwachsenenalter seien ihre vier Brüder »weiterhin in geschlossener Phalanx« aufgetreten.50 Die Familie Pringsheim ist kein Einzelfall. In der Tat wurde im jüdischen Bürgertum, wie Historiker gezeigt haben, nicht selten förmlich ein Kult um das Ideal und die Werte der Familie gepflegt. Die Historikerin Monika Richarz51 hat festgestellt, dass man »die Bedeutung der Familie für die Bewahrung des Judentums und für die Ausbildung einer jüdischen Identität kaum hoch genug einschätzen« kann. Den Verwandtschaftsbeziehungen kam zudem – namentlich im Erwerbsleben und im Heiratsverhalten – auch noch auf dem Zenit der Akkulturation oft eine spezifische Bedeutung zu. Die vorliegenden Ausführungen haben versucht zu zeigen, dass in Wagners Werken Themen vorgefunden werden konnten, die das Potential hatten, auch und vor allem jüdische Rezipienten in besonderer Weise anzusprechen. Mitunter konnten die Rezipienten, wie im Falle Lohengrins, Themen und Botschaften in Werken Wagners ›entdecken‹, die vom Komponisten in dieser Form gar nicht intendiert waren bzw. dessen ideologischen Ansichten zuwiderliefen.52 50 51

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Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. Frankfurt am Main: Fischer 2000, S. 23. Vgl. den von ihr verfassten Abschnitt »Familie und Verbürgerlichung« in: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A. Meyer und Michael Brenner. 4 Bde. München: C. H. Beck 2000, Bd. 3 (1871-1918), S. 69-78, hier S. 69. Dies gilt natürlich auch heute noch. Vgl. etwa die Aussage des amerikanischjüdischen Musikwissenschaftlers Joseph Horowitz, der seine Leidenschaft für Wagner vor allem auf die »Darstellung des Außenseiters« im Werk zurückführt und im Komponisten selbst nicht zuletzt einen »musikalische[n] Dichter der Heimatlosigkeit« sieht. Siehe Horowitz, Wagner (wie Anm. 43), S. 245-247. Für eine historische Studie zur jüdischen Rezeption des Tannhäuser-Stoffes (zumal in seiner Bearbeitung durch Wagner) vgl. Leah Garrett: Sabotaging the Text. Tannhäuser in the

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Darauf deutet auch der Fall des jüdischen Arztes und Sozialdemokraten Julius Moses (1868-1942) hin. Auf den ersten Blick unterscheidet sich Moses nicht von den deutschnationalen Wagnerenthusiasten seiner Zeit, wenn er im Jahr 1908 seine Faszination für das Heldenhafte sowie für die »Gefühlsmonumentalität« bei Wagner bekundet und darin den Grund für den jüdischen Wagnerenthusiasmus sieht (»daher lieben wir Wagner«). Bereits in der nächsten Zeile wird aber ein markanter Unterschied zu einer deutschtümelnden Rezeptionshaltung deutlich. Denn für den jüdischen Wagnerianer sind die erwähnten Eigenschaften von Wagners Werk nicht ein nationaler Appell, sondern vielmehr »Tröstungen für unsere eigene Zerrissenheit [als Juden]«, wie er sie sonst vor allem in der Bibel findet.53 Es wäre also – wie bereits einige Beispiele weiter oben verdeutlicht haben – zu vereinfachend zu behaupten, Wagners Werk habe deutsche Juden vornehmlich oder gar einzig deswegen fasziniert, weil es als Inbegriff einer deutschen Kunst galt.54 Nicht zuletzt ist zudem darauf hinzuweisen, dass auch überzeugte jüdische Wagnerianer bereits im 19. Jahrhundert sehr wohl vermochten, eine kritische Haltung gegenüber manchen Tendenzen des Werks einzunehmen oder sich für solche zumindest ein feines Sensorium zu bewahren. Freilich soll nicht bestritten werden, dass es in dem gesamten hier behandelten Zeitraum auch jüdische Wagnerianer gab, die für die nationalistischen Töne in Wagners Opern empfänglich waren und blieben. Jedoch auch dies bei weitem nicht immer im ursprünglichen Sinne Wagners. »Ich arbeitete an ihm [dem Judenstaat] täglich, bis ich ganz erschöpft war; meine einzige Erholung am Abend bestand darin, daß ich Wagnerscher Musik zuhörte, besonders dem Tannhäuser, einer Oper, welche ich so oft hörte, als sie gegeben wurde. Nur an den Abenden, wo keine Oper aufgeführt wurde, fühlte ich Zweifel an der Richtigkeit meiner Gedanken«, berichtete der begeisterte jüdische Wagnerianer Theodor Herzl rückblickend im Jahre 1898.55 Der russische Zionist und Musiker Mordechai Golinkin wiederum, der 1923 in Tel Aviv die Palestine Opera

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Works of Heine, Wagner, Herzl, and Peretz. In: Jewish Social Studies 9 (2002), S. 34-52. Julius Moses: Vorwort [zu Bilder aus dem jüdischen Familienleben von Salomon Hermann Mosenthal, Berlin 1908], abgedruckt bei Glasenapp/Horch, Ghettoliteratur (wie Anm. 33), Teil 1, S. 154. Allgemein zur Faszination deutscher Juden für die Vorstellung von der Musik als »Seelensprache« vgl. Daniel Jütte: Die Grenzen der Musik. Verbürgerlichung, Antisemitismus und die Musikästhetik der Moderne im Kontext der Geschichte jüdischer Interpreten (1750-1900). In: Lebenswelten – Musikwelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur. Hg. von Beatrix Borchard und Heidy Zimmermann (im Druck). Dies hat, wenn auch nur beiläufig, bereits Jacob Toury vermutet. Vgl. Jacob Toury: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation. Düsseldorf: Droste 1977, S. 187. Vgl. Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Hg. von Alex Bein, Hermann Greive, Mosche Schaerf und Julius H. Schoeps. Bd. 2 (Zionistisches Tagebuch 1895-1899). Berlin: Propyläen 1984, S. 776.

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begründete, zögerte nicht, Herzls praktischen Zionismus und Wagners revolutionäre Ideen als die zwei Säulen seiner künstlerischen Mission zu bezeichnen.56 Wagners Ästhetik konnte, zumal in ihren nationalen Momenten, bereits in Herzls Augen für einen jüdischen Staat zur Inspiration werden.57 »Ich werde auch erhabene Einzugsmärsche für grosse Feste pflegen«, notierte Herzl nach einer Tannhäuser-Aufführung 1895 in sein Tagebuch.58 Und wenig später verglich er die Kühnheit seiner Pläne zur Gründung eines jüdischen Staates mit der künstlerischen Bedeutung von Wagners Meistersingern.59 Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Idee eines jüdischen Staates, in dem heute bekanntlich aus gewichtigen Gründen keine Opern Wagners aufgeführt werden, auch bei der Aufführung und unter dem Einfluss ebendieser Opern reifte.

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Vgl. Na’ama Sheffi: Der Ring der Mythen. Die Wagner-Kontroverse in Israel. Göttingen: Wallstein 2002, S. 37. Zur Musik als Metapher in den Diskursen der jüdischen Moderne und des Zionismus vgl. Sander L. Gilman: Are Jews Musical? Historical Notes on the Question of Jewish Musical Modernism and Nationalism. In: Modern Judaism 28 (2008), S. 239-256, hier S. 246f. Siehe auch Garrett, Sabotaging the Text (wie Anm. 52), v. a. S. 39-41. Zu Herzls Sympathie für Tannhäuser vor dem Hintergrund des zionistischen Männlichkeitsideals vgl. Daniel Boyarin: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkeley: University of California Press 1997, S. 73-80. Siehe auch Steven E. Beller: Herzl, Wagner, and the Ironies of »True Emancipation«. In: Tainted Greatness. Antisemitism and Cultural Heroes. Hg. von Nancy Anne Harrowitz. Philadelphia: Temple University Press 1994, S. 127-155. Herzl, Zionistisches Tagebuch (wie Anm. 55), S. 69. Ebd., S. 74.

Manfred Voigts

Die ›Deutschen Briefe‹ von Leopold Zunz

Das Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren – Leopold Zunz wurde in Detmold geboren – verzeichnet den Titel Deutsche Briefe unter ›Briefwechsel‹. Zu diesem Missverständnis hat sicher nicht nur die Seltenheit des Buches und die Vermutung beigetragen, dass Zunz normalerweise hebräische Briefe verfasst habe, von denen die in Deutsch geschriebenen gesondert publiziert worden seien, auch der Titel des Buches hat wohl hierzu beigetragen: Deutsche Briefe. Herausgegeben von Dr. Zunz. Erschienen ist es 1872 bei F. A. Brockhaus in Leipzig. Nicht Zunz hatte sich an den Verleger gewendet, sondern Brockhaus hatte schon 1834 mit Zunz Kontakt aufgenommen, und dieser hatte bei der 8. und 9. Auflage des Conversationslexikons mitgewirkt.1 Die Deutschen Briefe blieben die einzige Veröffentlichung von Zunz in diesem Verlag, denn im selben Jahr erschien Monatstage des Kalenderjahres als seine letzte selbständige Veröffentlichung. In die von dem Curatorium der ›Zunzstiftung‹ 1875/76 herausgegebenen Gesammelten Werke sind die Deutschen Briefe nicht aufgenommen worden. Das schmale Buch von 57 Seiten beginnt ohne Vorwort mit einem Brief von ›Julius‹ an ›August‹, zwei fingierten Personen, dem ein Briefwechsel von weiteren fünfzehn Briefen folgt. Schon beim Durchblättern fallen die langen Listen und Zusammenstellungen von Wörtern auf, deren Gebrauch hier heftig kritisiert wird. Nahum N. Glatzer charakterisierte die Deutschen Briefe daher als »Aufruf zum richtigen Gebrauch der deutschen Sprache«2 oder als »Aufruf, die deutsche Sprache vor Verfälschungen zu bewahren«.3 Richtiger hatte Gustav Karpeles geschrieben, das Buch befasse sich nicht nur mit »German langu-

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Siehe: Ludwig Geiger: Aus L. Zunz‘ Nachlaß. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1892), H. 2, S. 236. Nahum N. Glatzer: Leopold und Adelheid Zunz. Ein Zeitdokument in Briefen. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 1958, Nr. 6, S. 56 (Übersetzung der Einführung aus: Leopold and Adelheid Zunz. An Account in Letters 1815-1885. Edited with an Introduction by Nahum N. Glatzer. London: East and West Library 1958, S. XIXXVI). Leopold Zunz. Jude – Deutscher – Europäer. Ein jüdisches Gelehrtenschicksal des 19. Jahrhunderts in Briefen an Freunde. Hg. und eingeleitet von Nahum N. Glatzer. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1964, S. 68.

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age«, sondern auch mit »German intellect«.4 Auch wenn man an vielen Stellen des Briefwechsels den Witz von Zunz und seine gelegentliche Neigung zur Satire5 erkennt, so bleibt deutlich, dass die Deutschen Briefe kein Nebenprodukt, sondern trotz des satirischen Einschlages immer ernst gemeint waren. Im Februar 1862 hielt Zunz in Berlin einen Vortrag mit dem Titel »Politisch und nicht-politisch«, in dem er seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen zusammenfasste. Er, der sich um 1848 aktiv für die demokratische Bewegung engagiert hatte, vertrat weder die Auffassung, dass Politik ein schmutziges Geschäft sei, noch dass die Politik das Erwerbsstreben behindere. Auch die wissenschaftliche Arbeit habe ihre Verbindung zur Politik: »Jede Arbeit kann durch ihre Anwendung ein politischer Stoff werden, so kann z. B. Sprachkunde veranlassen zu Untersuchungen, woher es kommt, dass die Zeitungen heutzutage so schlechtes Deutsch schreiben ...«6 Drei Jahre später schrieb Philipp Ehrenberg an Zunz: »Ehe Sie, lieber Freund, an ein neues Buch gehen, sollten Sie Ihre Barbariensammlung vervollständigen, sichten und mit Ihren kernigen Donnerworten systematisch in Reih und Glied der erschlafften Schreibewelt vor Augen bringen.«7 Drei Monate später schrieb Zunz an seine Frau: »Meine Barbarismen-Sammlung ruhet fürs erste.«8 Aus dieser Sammlung entstanden die Deutschen Briefe, die also eine lange Vorgeschichte hatten. Fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung schrieb Zunz an Victor Ehrenberg, er möge eine lobende Rezension in den Göttinger Gelehrten Anzeigen veranlassen: »Vielleicht beschleunigt das eine zweite Auflage, in der ich Bereicherungen anbringen werde.«9 Also auch eine mehrjährige Nachgeschichte hatte dieses kleine, bisher unterschätzte Werk. Zunz sah die deutsche Sprache vor allem durch die Einführung ursprünglich französischer Worte in Gefahr; dabei falle »die Hauptschuld auf die Zeitungen« (S. 19).10 Die vor allem aus Zeitungen gesammelten ›Barbarismen‹ ordnete Zunz zumeist nach Vorsilben oder Endungen: »allbekanntlich, alldienstäglich, anhältlich, anfaßlich, anschafflich, [...] dieswinterlich, dieswöchentlich, einlässlich, einvernehmlich, erhältlich« (S. 23) – einige von Zunz kritisierte Wörter sind

4 5 6

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Gustav Karpeles: Leopold Zunz. In: Jewish Literature and Other Essays. Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1895, S. 337. Siehe: Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen. Bearbeitet von Nahida Lazarus und Alfred Leicht. Berlin: Georg Reimer 1906, S. 498. Leopold Zunz: Politisch und nicht-politisch. In: Gesammelte Schriften von Dr. Zunz. Hg. vom Curatorium der »Zunzstiftung«. Erster Band. Berlin: Louis Gerschel Verlagsbuchhandlung 1875, S. 330. Glatzer (Hg.), Leopold and Adelheid Zunz (wie Anm. 2), S. 311. Glatzer (Hg.), Leopold Zunz (wie Anm. 3), S. 441. Glatzer (Hg.), Leopold and Adelheid Zunz (wie Anm. 2), S. 351. Deutsche Briefe. Hg. von Dr. Zunz. Leipzig: F. A. Brockhaus 1872, S. 19; im Folgenden werden Zitate aus dieser Schrift nur durch Seitenzahl in Klammern im Text selbst nachgewiesen.

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offensichtlich in den normalen Sprachgebrauch eingegangen. Zu manchen Wörtern setzte er Kommentare hinzu: Auslassungen heißen Sätze, die man nicht ausläßt, sondern ausspricht. in Aussicht stellen heißt etwas versprechen, was man nicht halten will. Ausdruck geben, d. h. reden. bekanntlich wird vor Umstände gesetzt, von welchen der Leser niemals etwas gehört hat; doch könnte es wohl vor 60 Jahren in einem histor. Wörterbuch Platz gefunden haben. [ ... ] derartig darf in keiner Notiz fehlen. energisch und entschieden entgegentreten, d. i. sachte nach Hause gehen. Ereigniß des Tages wird morgen vergessen. (S. 37f.)

Für sich selbst sah Zunz freilich kaum eine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu verbessern: Wie sehr bedaure ich, daß Kant nicht lebt, daß Pestalozzi und Diesterweg gestorben sind! Wie gern hätte ich ›unroutinirter Philosoph‹ von ihnen gelernt, wie man jene Wortverbindungen schön macht und sich und Anderen verdeutlicht. (S. 23)

Sein Verhältnis zu Zeitungen war gespalten. Er las mehrere, war gleichzeitig aber ihr scharfer Kritiker. Besonders die Vossische wird in den Briefen mehrfach erwähnt, die er auch las, wenn sie nicht mehr aktuell war: »... daß ich alte Vossische Zeitungen zu durchblättern habe.«11 Mit den jüdischen Zeitungen ging er sehr kritisch um: »Laß die Mücken und die Juden! sagt Heine; Zunz sagt: laß die Juden und die Zeitungen!«12 Ähnlich schrieb er von »den windbeuteligen Unternehmern jüdischer Zeitungen«.13 Dass Zunz aber dennoch jenem tendenziell antisemitischen Journalisten-Bild widersprach, das Gustav Freytag in seinem ›Lustspiel‹ Die Journalisten in den Figuren Blumenberg und Schmock – bei den Juden ist dies ein böses Schimpfwort – verbreitet hatte, zeigen die Deutschen Briefe: »Schreibt ein gescheidter Jude eine Zeitung, und sie findet Leser, rasch ist ein frommer Pfaffe da, der Ach und Weh über das jüdische Schreiber-Geschmeiß und die verjudete Gesellschaft ausruft ...« (S. 46) Mit großer Sorge sah Zunz den Niedergang der deutschen Sprache durch die Einführung nicht-deutscher Wörter – er wies auf ein ›VerdeutschungsWörterbuch‹ hin, das zwölftausend Fremdwörter aufführe (S. 54): Sämmtliche Leserklassen, Junge und Alte, Weiber und Kinder, Arme und Reiche werden täglich mit denselben gefüttert, und täglich werden gute, schöne deutsche Wörter und mit ihnen klare Begriffe zu Grabe getragen. (S. 19)

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Glatzer (Hg.), Leopold Zunz (wie Anm. 3), S. 455f. Ebd., S. 371. Ebd., S. 384.

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Als Beispiel für solch ein unklares Wort verwies Zunz auf eine der aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Campe zufolge ist Demokrat ein Volksfreund, folglich leistet das Wort nichts für den Inhalt der Gedanken, welche dieser Volksfreund äußert. Nach Heynatz heißt demokratisch volksherrisch und Demokratismus Pöbelherrscherei, folglich ist ein Demokrat ein Aufwiegler des Pöbels. Dagegen lehrt Heyse, Demokratismus sei Freibürgersinn. [...] Im mythischen Zeitalter war die Sündfluth der Sprachverwirrung vorausgegangen; heute dürfte sie ihr folgen, und dann geht auch das Rezeptverschreiben zu Ende. (S. 6)

Nach Zunz bringt der Verfall der deutschen Sprache soziale und politische Folgen mit sich. Der Vernachlässigung des eigenen Sprachschatzes folgte der bürgerliche Verfall, die Abschwächung der ureigenen Stammeskraft. Alle Großthaten der Soldaten helfen nichts gegen innere Krebsschaden: dem Verderbniß der Sprache folgt die der Sprechenden. (S. 5)

Hätten die Deutschen ihre Sprache nicht vernachlässigt, so hätten sie auch nicht »mit so viel Blut Metz und Straßburg wieder [...] erobern« müssen (S. 5). Auch den Einfluss der englischen Sprache lehnte Zunz ab: »In Neapel, Böhmen, Berlin halten sie Meetings; aber sie können lange warten, bis die Engländer are going in Versammlung.« (S. 5) Der eigentliche Feind aber war für ihn Frankreich: Kaum ist es zu begreifen, daß ein siegreiches, gebildetes, unterrichtetes Volk nicht aufhören kann, in Anzeigen und Berichten seine reiche Sprache mit erborgten französischen Vocabeln zu verunzieren. Wird es denn niemals einsehen, daß man dem Dünkel der Franzosen den Boden ebnet, wenn in Deutschland das Französische herrscht, wenn Salon und Militär, Köche und Schneiderinnen, Putz- und Putzenmacher nur französisch marschiren, parliren, diniren, coiffiren, conversiren und dupiren? (S. 18f.)

Die Übernahme französischer Wörter ins Deutsche bedeute nichts anderes als »die höhere Cultur des geschmäheten Volkes anerkennen« (S. 4). Noch immer wirkten hier die kulturelle Übermacht Frankreichs im 18. Jahrhundert und die Napoleonische Besetzung nach. Trotz dieser scharfen Töne, die möglicherweise auch durch den deutschfranzösischen Krieg 1870/71 bedingt waren, war Zunz kein ›Franzosenfresser‹, er war seit den Jahren des ›Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden‹ vielmehr ein überzeugter Europäer, ja sogar ein Anhänger der Französischen Revolution, die er 1865 als noch nicht beendet ansah, weil »die Ursachen der Revolution [...] noch nicht überall beseitigt« seien; nur Frankreich nahm er aus, »das für Gleichheit und Meinungs-Freiheit allein den Kampf mit dem ganzen übrigen Europa aufgenommen hat.«14 Zunz hatte erkannt, dass die gesellschaftspolitische Entwicklung in Deutschland gegenüber Frankreich – 14

Leopold Zunz: Revolution. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 6), S. 353.

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und innerhalb Westeuropas – zurückgeblieben war, und verstand deshalb seinen Kampf gegen das Überhandnehmen französischer Wörter ins Deutsche als Fortsetzung des Kampfes für die Gleichberechtigung: »Die Militärischen -anten und -eurs, eine dem freien Bürgerthum gegenüberstehende Kaste, hält unbewußt die Oberherrschaft des Ausländischen aufrecht.« (S. 15) Die langen Listen beanstandeter Wörter – als kleine Beispiele seien genannt: »constanter, directoriell, developpabel, Exactetät, humanitär, institutionell, Manierismus, Offiziösität, Privatdoction, Regisseuse, Secundiz, signoril, Validirung« (S. 12) – auch hier haben einige dieser Worte überlebt –, diese Listen, die das ganze Werk durchziehen, sollten vor allem eines erreichen: sie sollten den Blick für den Ernst der Situation schärfen und die Deutschen zur Selbstbesinnung anhalten. Hier kritisierte Zunz nicht nur Fremdwörter, sondern auch den modischen Gebrauch deutscher Wörter oder Zusammensetzungen. Ihm fielen die vielen ›Bilder‹ auf, von den ›Charakterbildern‹ bis zu den ›Weltbildern‹ und ›Zeitbildern‹: Wer nur zu schauen gewohnt ist, verliert die Kraft für das Thun; statt des mit Ueberzeugung und Liebe verbundenen Ernstes werden Dinge und Begebenheiten ihn nur so lange beschäftigen, als sie Genuß und Unterhaltung gewähren, folglich nur Spielwerk werden. (S. 2)

Nichts griff er so oft an wie die Untätigkeit und die sie befestigende Sprache, so »die Masse der mit vor zusammengesetzten Zauderwörter, als gäbe es heutzutage weder einen thatkräftigen Entschluß noch eine reife und fertige That, sondern nur einstweilige Vorarbeit.« (S. 7) Als Beispiele führte er vor allem politische Begriffe an: Vordebatten, Vorverhandlungen, Vorwahlen (S. 7). Ähnlich verfuhr Zunz mit dem Begriff der Tatsachen: »Thatsache hat Spalding, vollendete Thatsache Napoleon eingeführt. Jünger als Aristoteles und Kant ist der Thatsachensinn; jetzt wimmeln die Zeitungen von Thatsachen – nicht von Thaten.« (S. 29) Die Wortwahl ›besündenbocken‹ und ›extrazügeln‹ sei zu vermeiden, weil sie »namentlich auf Gesinnung und thätige Energie der heranwachsenden Jugend ungünstig einwirkt« (S. 33). Aber nicht nur die Jugend wollte Zunz aufrütteln, sondern »die arbeitende, steuerzahlende und in ihrem Unterthanenthum meist zufriedene Menge« (S. 51). Zunz berief sich auf die lange Tradition der Sprachreinigung von Johannes Aventinus und Simon Stevin bis zu Hermann Friedrich Liesche, Einfluß der französischen Sprache auf die deutsche von 1871 (allerdings nicht immer mit richtigen Jahresangaben). Er nannte dabei nicht weniger als dreiundzwanzig Namen (S. 13-15), sein Ziel aber war die praktische Politik, der Kampf gegen Adel und »die römischen Pfaffen«: Aber einst wird kommen der Tag, wo das pfäffische Ilion sinkt [...]. Das ist der Tag, an welchem die Nationen nicht mehr um der Militär- und Civilbeamten Willen da sind, wo sie aufhören, die Unterthanen und die Dienstboten zu sein für Adel und Priester. Und wenn sie dann fortfahren zu erfinden und zu denken, zu unterrichten

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und zu schreiben, und daneben das Land vertheidigen, den Boden anbauen, Gewerbe treiben, den Handel beleben und Cultur und Wissenschaft fördern, so werden sie solches für sich thun und schaffen, nicht als helotisch gehorchende Steuerzahler für Willkühr und Vorrecht. Sie allein sind dann der Staat, erhaben über jede einzelne Gesammtheit. (S. 45)

So hoffnungsfroh dieses Zukunftsbild war, so skeptisch beurteilte Zunz doch die politischen Realitäten: In den meisten Ländern unseres Welttheils herrschen Vorurtheil und Racenhaß, oft mit der Dummheit verbunden. Wie Geschichte und Lebenserfahrung darthun, sind diese Uebel jedes allein stark genug Böses zu stiften. Doch wo sie durch Schauspiele und Sitten, durch Gesetze und Unterhaltungsschriften, durch confessionellen Geschichtsunterricht und Kanzelredner gepflegt und großgezogen werden, bilden sie eine Dreieinigkeit unterdrückten Minderheiten gegenüber, machen aus Menschen Ungeheuer. (S. 45f.)

Seine Lebenserfahrung war für den 78jährigen Juden so niederdrückend, dass er den geschichtsoptimistischen Grundton seiner Väterreligion in Frage stellte. ›August‹ berichtete von einem Patienten, der aus dem ersten Verse der Bibel, aus der Schaffung von Himmel und Erde, eine »Zweiheit alles Seins« ableitete: Nothwendige Folge ist, daß der Papst über dem Kaiser, der Priester über dem Laien, der Glaube über der Wissenschaft, der Prophet über dem Philosophen, das Wunder über dem Naturgesetz, der Jesuit über dem Minister und die Kirche über dem Staat steht.

›August‹ kommentierte: »Ganz Unrecht konnte ich dem Manne nicht geben, [...] wenn ich ihm auch nicht ganz Recht gebe.« (S. 17) Zunz hat in den Ausführungen des ›Patienten‹ die damals noch immer heiß umkämpften Themen nicht nur des Geisteslebens, sondern auch der Politik angesprochen. Man muss die halbherzige Antwort nicht überbewerten, aber was hier als realpolitische Skepsis erscheint, hätte in jüdischem Kontext einen ganz anderen Hintergrund, denn die Trennung zwischen Himmel und Erde wurde hier weitaus weniger betont und war keineswegs so scharf wie im Christentum, auf das sich der ›Patient‹ hier allein bezog. Noch problematischer war vielleicht der Hinweis auf Genesis 6 bis 8, die Geschichte von der Sintflut: »Der Genesis zufolge hat Gott bereuet, daß er Menschen geschaffen, da sie von Haus aus schlecht sind.« (S. 49) Zunz überspielte hier den gravierenden Unterschied zwischen der christlichen Erbsünde und der jüdischen Auffassung, dass der Mensch ohne Sünde geschaffen worden sei; und er kannte selbstverständlich den Zusammenhang, die Rettung Noahs und seiner Familie, und den Beginn der eigentlichen Geschichte mit dem göttlichen Versprechen, die Konstanz des Wechsels der Jahreszeiten nicht zu unterbrechen. So ganz ernst meinte er dies vielleicht auch gar nicht, denn er fuhr fort: »Plato meinte, dann erst würden die Uebel aufhören, wenn Philosophen die Regenten werden.« (S. 49)

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Zunz war dem Glauben seiner Väter nicht mehr sehr eng verbunden, und die Stellung zum Judentum, die er in diesen Jahren einnahm, kann aus folgender Passage abgelesen werden: Ich las neulich von einem Vortrage ›über die Stellung des evangelischen Christen zum alten Testament‹: Das klingt ungefähr wie die Stellung Thiers zu der des Tiberius. Die Stellung eines heut Lebenden kann wohl zu der eines Mitlebenden in einem Verhältniß stehen, aber nicht zu den vor zwei Jahrtausenden Gestorbenen; der Berliner jüdische Stadtverordnete hat zu dem unbekannten Verfasser des 119. Psalms gar keine Beziehung; nur der sucht und findet eine solche, welchem Stadtverordneter und Psalmist zwei Berliner Juden sind. Bin ich nicht ein Thor, mich über das kriechende Gewürm zu ärgern, während zwei Riesen, Lessing und Jean Paul, gleich mir Zwerg, zu ihren besten Freunden einen Juden hatten? (S. 46f.)

Lessing war mit Moses Mendelssohn befreundet, Jean Paul mit dem weniger bekannten Emanuel Osmund;15 Zunz’ eigener Freund war wohl Samuel Meyer Ehrenberg, der an 21.10.1853 gestorben war.16 Nur solch eine geringe zeitliche Differenz, am besten aber eine persönliche Bekanntschaft könne ein ›Verhältnis‹ begründen, in der Vergleichbarkeiten und Abhängigkeiten festgestellt werden könnten. Alles andere, so können wir ergänzen, sei historisch. Das galt bei Zunz auch für das Judentum, denn für ihn war auch die Stellung des Juden zum ›alten Testament‹, der Torah, historisch und kein (lebendiges) Verhältnis. Er, der die ›Wissenschaft des Judentums‹ mitbegründete, hielt es mit Immanuel Kant, mit Martin Luther und Henry Thomas Buckle: Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur (Kant); die Gesetzbücher müssen sich nach der Vernunft, nicht die Vernunft sich nach den Gesetzbüchern richten (Luther); die Halle der Wissenschaft ist der Tempel der Demokratie (Buckle). (S. 48f.)

Die Anerkennung dieser Aussagen sah Zunz – wovon in diesen Deutschen Briefen allerdings nichts zu lesen ist – zumindest der Tendenz nach in Europa verwirklicht, dessen größte Hypothek die Anerkennung der Juden bleibe. Die gesellschaftspolitischen Realitäten seiner Zeit zeigten allerdings ein anderes Bild. Nahum N. Glatzer schrieb über Die Gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt, die Zunz schon 1832 veröffentlicht hatte: Aber wie Zunz in diesem Falle das tieferliegende Jüdische unterbetont, so überschätzt er in der Analyse seiner eigenen Zeit das jüdische Interesse derer, die, des ererbten Judentums müde, ›das wahrhaft Zeitgemäße zur Herrschaft zu erheben‹ sich anschickten. Nur diese Nivellierung nach beiden Seiten hin erlaubte es Zunz, sein

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Siehe: Gunnar Och: » ... und beschenkte sogar Moses.« Jean Paul und sein jüdischer Freund Emanuel Osmund. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 21 (1986), S. 13-145. Siehe: Glatzer (Hg.), Leopold Zunz (wie Anm. 3), S. 357.

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geschichtliches Idealbild der Synthese Judentum – allgemeine Kultur aufrecht zu halten, eine Synthese, die er im neuen Europa verwirklicht sah.17

Dass ihm vierzig Jahre nach den Gottesdienstlichen Vorträgen die ›Nivellierung‹ schwerer fiel, sehen wir in den Widersprüchen der Deutschen Briefe, in denen er zwischen dem Idealbild der Zukunft und der tiefen Skepsis gegenüber der Gegenwart keinen Ausgleich fand. Erkennbar war die Hoffnung auf eine baldige Realisierung dieses Idealbildes gesunken, der Verfall der deutschen Sprache zeigte Zunz die Möglichkeit eines Rückschrittes in der Kultur. Am Ideal eines aufgeklärten, demokratischen und am Leitbild der Wissenschaft orientierten Europa, für das er gekämpft hatte, hielt er aber dennoch fest.

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Ebd., S. 35.

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Unterwelten Heines Proserpine und Fontanes Effi Briest

I. Vor nunmehr 30 Jahren hat Hans Otto Horch Fontanes erstaunlich breite Kenntnis des Heineschen Werks zum Gegenstand einer gründlichen Untersuchung gemacht und dabei Fontanes kunstvolles »strukturbildendes Zitierverfahren« hervorgehoben, das sich sowohl in der Lyrik, insbesondere im Balladenwerk, als auch im Romanwerk zeige, hier vor allem aber in Effi Briest.1 Es sind die Ostsee-Schauplätze (»Kessin« bzw. Swinemünde, Rügen), auf die Fontane in Anspielungen und Zitaten Heines Nordsee-Stimmungen und -Motive überträgt: »Heines Nordsee kann als literarische Folie verstanden werden, vor der der Roman der sozialpsychologisch begründeten Ausweglosigkeit sich abspielt.«2 Horch verweist in diesem Zusammenhang auf Motive u. a. aus Nordsee III (»Die Sage von der alten Hertha«, »Klabotermann«, »Fliegender Holländer«, das Glockengeläut von den Kirchtürmen der im Meer versunkenen Stadt mit der lieblichen Kirchgängerin) und aus Nordsee I (das Gedicht »Seegespenst« zum gleichen Thema). Hinzukommen im Verführungskapitel 17 des Romans Anspielungen auf die Gedichte »Du hast Diamanten und Perlen« und »Deine weißen Lilienfinger« aus Heimkehr, »Carl I.«, »Vitzliputzli« und »Spanische Atriden« aus dem Romanzero sowie weitere Gedichte aus Nordsee I (»Sturm«, »Meeresstille«, »Reinigung« [hier die »Schellenkappe der Thorheit«3], »Der Schiffbrüchige«), aus Nordsee II (»Der Phönix«) und aus den »Romanzen« in den Neuen Gedichten (»Ritter Olaf«). Im Übrigen wird Heine von seinem Verehrer Crampas, der hierin den Autor Fontane vertritt, als »Lieblingsdichter« bezeichnet: Er könne ihn »auswendig«, alles sei bei ihm »Leben«, er verstehe sich auf die Liebe, ohne darin »einseitig« zu sein.4 1

2 3

4

Hans Otto Horch: »Das Schlechte ... mit demselben Vergnügen wie das Gute«. Über Theodor Fontanes Beziehungen zu Heinrich Heine. In: Heine-Jahrbuch 18 (1979), S. 139-176. Ebd., S. 162. Vgl. Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. In: ders.: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. 2. Aufl. München: Hanser 1974. Ausgabe Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2002, Bd. 4, S. 136 u. 141f. Alle Zitate aus dem Roman werden in Klammern mit Seitenzahl im Anschluss an die zitierte Stelle nachgewiesen. Horch, »Das Schlechte« (wie Anm. 1), S. 153.

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Horch belässt es nicht bei der Aufreihung der Heine-Anspielungen und -Zitate, er fragt stets auch nach deren Funktion im Erzählganzen und deren Verknüpfung mit Anspielungen und Zitaten anderer Autoren. Insbesondere für das 16. bis 20. Kapitel des Romans gelte, dass sich »alles ›sub specie literaturae‹« vollziehe; das scheinbar individuelle Verhalten sei »überformt durch literarische, kulturelle Vorbilder«,5 wobei hinter bloßem Zitat und »façon de parler« durchaus »etwas aufrichtig Gemeintes« stecke,6 nämlich das mehr oder weniger bewusste Rollenverhalten und mit ihm die »Gegenwärtigkeit und mythische Wiederholbarkeit des Geschehens«.7 Letzteres betrifft nicht nur die suggestive Vergegenwärtigung der »Spanischen Atriden« durch Crampas, dem Heines Rollenpoesie als Medium der Verführung dient. Mit Recht betont Horch als Ergebnis seiner Untersuchung, dass Heines hoch reflektierte RollenPoesie über die Figur Crampas hinaus zum Medium der Gesamtintention des Romans werde: des »Vitzliputzli des preußischen Cultus«,8 der Allmacht des »tyrannischen Gesellschafts-Etwas«, dem alle Akteure zum Opfer fallen.9 Damit ist aber das Potential der von Fontane genutzten Heineschen Rollenpoesie noch nicht ausgeschöpft.10 Heines »Romanzen« boten Fontane über die Anspielungen und Zitate der Kapitel 16-20 hinaus auch ein poetisches Modell an, das es ihm ermöglichte, den Gegenwartsstoff im Ganzen zu strukturieren und als »realistische« Travestie einer uralten, sich ewig wiederholenden Geschichte »verklärend« und auch scheinbar nicht in allem passend (wie die Vergleiche des alten Briest) darzustellen. Ein poetisches Modell für solche Art »ernste Komödien« ist Heines fünfteiliger Gedichtzyklus »Unterwelt« (entstanden 1841) aus den »Romanzen« der Sammlung Neue Gedichte (1844), eine Travestie des Mythos vom Raub der Proserpina.11

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Ebd., S. 163f. Vgl. Fontane, Effi Briest (wie Anm. 3), S. 124. Horch, »Das Schlechte« (wie Anm. 1), S. 165. Ebd. Horch entnimmt diese Fontanesche Metaphernbildung aus Fontane: Briefe an Georg Friedländer. Hg. von Kurt Schreinert. Heidelberg: Quelle & Meyer 1954, S. 236. Horch, »Das Schlechte« (wie Anm. 1), S. 168. Das gilt auch für die auf Horch aufbauenden Arbeiten zu Fontanes Heine-Rezeption: Peter Pütz: Wenn Effi läse, was Crampas empfiehlt... Offene und verdeckte Zitate im Roman. In: Text + Kritik. Sonderband Theodor Fontane. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 1989, S. 174-184. – Christian Grawe: Crampas’ Lieblingsdichter Heine und einige damit verbundene Motive in Fontanes Effi Briest. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1982, S. 148-170. – Hans-Georg Pott: Effi Briest, Heinrich Heine und der Teufel. Theodor-Fontanes Roman Effi Briest. In: Klassiker der deutschen Literatur. Hg. von Gerhard Rupp. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 98-116. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Bd. 2: Neue Gedichte. Bearb. von Elisabeth Genton. Hamburg: Hoffmann & Campe 1983, S. 96-99; Apparat S. 612-620.

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II. Die Erzählung vom Raub der Proserpina (griech. Persephone) ist seit Homer (Hymnen), Ovid (Metamorphosen), Claudian (De raptu Proserpinae) und Apollodorus fester Bestandteil der antiken Göttererzählungen. Ovid erzählt die Geschichte so:12 Proserpina, die schöne, noch kindliche Tochter der Ceres und des Jupiter, pflückt mit ihren Freundinnen im ewigen Frühling des Hains von Henna auf Sizilien Blumen, als Pluto auf seinem Pferdegespann naht, sie erblickt, von Amors Pfeil getroffen sie begehrt und das Mädchen auf offenem Wagen entführt. Die Quellnymphe Cyane, die den Räuber aufhalten will, muss weichen, sie zerfließt zu einem See, durch den sich Pluto in rasender Fahrt den Weg zum Orkus bahnt. Ceres, auf der Suche nach ihrer Tochter, findet im See nur noch deren Gürtel. Zornig straft sie das Land mit Unfruchtbarkeit, bis Arethusa, ein unterirdisches Gewässer »nach Art des Styx«, sie aufklärt: Sie habe Proserpina gesehen, traurig zwar noch, »Königin aber doch, die Größte doch in dem finstren Reiche, gebietend Ehgemahl doch des Fürsten der Tiefe«.13 Ceres beklagt sich bei Jupiter, der die Tat aber nicht verurteilt, weil sie aus Liebe geschah, und auch in Proserpinas Rückkehr einwilligt, sofern sie noch keine Frucht der Unterwelt genossen habe. Doch hat sie bereits einige Granatapfelkerne gegessen, wie Plutos Diener Ascalaphus meldet, den Proserpina zur Strafe in den unheilverkündenden Uhu verwandelt. Zwischen seinem Bruder Pluto und seiner trauernden Schwester Ceres vermittelnd, legt Jupiter schließlich fest, dass Proserpina die Sommerzeit bei ihrer Mutter, die Winterzeit bei ihrem Ehegemahl und Onkel Pluto verbringen muss. Apollodorus hat eine weitere Episode von der im Hades trauernden Proserpina überliefert: Sie verliebt sich in Adonis, den Liebediener der Venus, erhält ihn aber nach Jupiters Machtspruch nur für einen Teil des Jahres für sich.14 Dieser Mythos ist, wie Herbert Anton gezeigt hat,15 seit dem lateinischen Mittelalter als konventioneller Stoff der europäischen Literatur, bildenden Kunst und Musikdramatik immer wieder neu dargestellt und mit Verlagerung des Schwerpunkts auf einzelne Episoden ausgeleuchtet worden – ein »Exempel für die Unerschöpflichkeit der Welt der Poesie« (Friedrich Schlegel):16 als christlich-moralisierende Darstellung des höllischen Herrscherpaares; als erotisches Sinnbild und apotheotische Allegorese auf Fürstenhochzeiten der Re12 13 14 15

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Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hg. von Erich Rösch. München: Heimeran 1968, S. 181-193. Ebd., S. 189. Vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon. Repr. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1996, Sp. 2102. Herbert Anton: Der Raub der Proserpina. Literarische Traditionen eines erotischen Sinnbildes und mythischen Symbols. Heidelberg: Winter 1967 (Heidelberger Forschungen; 11). Ebd., S. 11. Anton zitiert Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie in: Athenäum Bd. III. Berlin 1800, S. 59.

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naissance und frühen Neuzeit; als Travestie oder gar Burleske, die sich gegen die ästhetische Überhöhung der antiken Götter richtet; als klassisches Götterliebespaar; als Sinnbild auch für die Nachtseite der Poesie, ihre chthonischkultischen Ursprünge mit Rückwendung zu griechischen Persephone- und Demeterkulten; als artistisches Spiel mit einzelnen Motiven des Mythos. Goethes Monodrama Proserpina, in dem die Göttin nach unwissendem Genuss vom Granatapfel in Hass auf Pluto ausbricht, zunächst (1778) als kontrastierendes tragisches Zwischenspiel innerhalb der Farce Triumph der Empfindsamkeit gedacht und erst 1787, nach der klassischen Wende, freigestellt,17 markiert den Übergang zu Versuchen im 19. und 20. Jahrhundert, sich den konventionellen Bedeutungszuweisungen zu entziehen und mit Hilfe des Mythos neue Einsichten in die Psychologie der Geschlechter zu gewinnen. Heine hat dies in Form einer Travestie versucht, die zugleich Goethes Proserpina mitmeint. Er karikiert am ungleichen Ehepaar Pluto und Proserpina typische Eheprobleme seiner Zeit, verleiht dem Mythos Gegenwart und der Gegenwart mythische Tiefe. Von hier bis zu Fontanes Roman über eine von vornherein problematische Ehe ist es nur ein Schritt, auch wenn es zunächst so scheint, als ob der Text dies nicht hergäbe. Doch bietet die realistische Oberfläche zahlreiche Verweise auf die verdeckte mythologische Konstruktion.18

III. »Alles geht nämlich unterirdisch vor sich [...].« Die Rede ist vom Schloon, dem unterirdischen Wasserlauf, in dem der Pferdeschlitten mit Effi zu versinken droht: ein »Abgrund, [...] nur freilich im kleinen.« (S. 159) Die Fahrt der zitternden und vergeblich zu ihrem Gott Betenden führt ins »Dunkle«, in »Zauberbann« und »Ohnmacht«. Was hier mit Effi »im kleinen« an der Seite von Major Crampas geschieht – »ein schöner Mann. Ein bißchen zu sicher. 17

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Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. I. Abt. Bd. 17, S. 1-73 (Auftritt der Proserpina hier S. 40-49). – Johann Wolfgang Goethe: Proserpina. Ein Monodrama. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. IV, S. 455-462. – Vgl. dazu Anton, Der Raub der Proserpina (wie Anm. 15), S. 88f. Ausführlicher dazu Christoph Siegrist: Proserpina. Ein griechischer Mythos in der Goethe-Zeit. Phil. Diss. Zürich, Giessen: Chemoprint 1962, S. 53-70. Bisher haben meines Wissens nur Fontanes Anspielungen aus christlicher und aus vorgängiger heidnisch-germanischer Glaubenswelt Beachtung gefunden. Vgl. Michael Masanetz: Volksfrömmigkeit, Aberglaube und Paganes bei Fontane. Am Beispiel des »Spuks«. In: Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 203-218. – Christine Hehle: Nachwort zu Theodor Fontane: Effi Briest. In: Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe. Bd. 15. Hg. von Christine Hehle. Berlin: Aufbau 1998, S. 369. – Peter Klaus Schuster: Theodor Fontane Effi Briest – Ein Leben in christlichen Bildern. Tübingen: Niemeyer 1978. – Grawe, Crampas’ Lieblingsdichter (wie Anm. 10), S. 160-162.

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Und Hochmut kommt vor dem Fall...« (S. 167) –, hat sich zuvor im großen, in der Entführung aus der sommerlichen Idylle Hohen-Cremmen ins winterliche, dunkle Kessin durch Baron von Instetten, den frostigen »Schneemann«, zugetragen, vor dem Effi sich fürchtet (S. 35). In dessen Gebiet ist alles »unsicher« (S. 44), »unheimlich« (S. 48, 79), sein Haus ist ein veritables Spukhaus, »gruselig« (S. 46), »gespenstig« (S. 48). Instettens riesiger schwarzer Neufundländer soll darüber wachen, dass »kein Lebendiger und kein Toter« im Spukhaus an Effi »herankann« (S. 47). Lange zuvor hatte die Mutter gewarnt: »Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt.« (S. 31) Nach Kessin gelangt Effi im offenen Wagen Instettens, nicht über den zum »Breitling« sich erweiternden Fluss, auf dem sonst das Fährschiff »Phönix« die Passagiere befördert. Mehrdeutig, dunkel ist auch die Sprache fast aller Bewohner, mit denen Effi Umgang hat und die ihr Auskunft geben, zunächst Instetten selbst: »Für dich bin ich...« – »Nun was?« – »Ach laß. Ich werde mich hüten, es zu sagen.« (S. 52, vgl. S. 122) Doppeldeutig auch seine mythologische Anspielung im Beisein von Effi und dem vom Baden in der kalten See kommenden Crampas, dass nämlich die Götter untereinander eifersüchtig seien und »Neptun [...] sich ohne weiteres gegen Pluto« gestellt habe (S. 124). Gemeint ist zunächst der beim Baden umgekommene Bankier Heinersdorf, doch scheint Instetten in diesem Bild auch über sein Verhältnis zu Crampas zu sprechen: Instetten als ein anderer Pluto? Die selbstgerecht und hart urteilenden Adeligen der Umgebung, die Borke, Ahlemann, Jatzkow, Grasenabb und Güldenklee, als die Totenrichter im »unterirdischen« Reich dieses Pluto? Varzin mit dem Fürsten Bismarck, der Instetten zur Beratung rufen lässt, als Olymp? Für »die arme Effi« ist Kessin und das Spukhaus Instettens eine Sphäre der Angst (S. 74ff.), der Einsamkeit und der Langeweile, des Lieb- und Leblosen (S. 108). Geht die Annahme zu weit, dass der Mythos vom Raub der Proserpina auf untergründige, »unterirdische« Weise diesen Roman strukturiert, dass die Romanhandlung den Mythos in Form einer Travestie fortschreibt? »Immer dasselbe. Darin ändern die Zeiten nichts«, stellt die lutherfromme alte Padden resignierend mit Blick auf die »Anfechtungen« des »natürlichen Menschen« fest – und hat damit getroffen, was die alten, immer gültigen Geschichten von Göttern und Göttinnen, Naturwesen, ausmacht: »das mit dem Fleisch« (S. 166). Die »furchtbare« Sidonie von Grasenabb (S. 151) warnt gleichermaßen vor verderblichem »Naturkultus« (S. 158). Das »Naturkind« Effi gibt zu, dass Mythologie, die Kenntnis der alten Göttergeschichten, von allem Schulwissen immer ihr »Bestes« gewesen sei (S. 273), und ihr Autor steht ihr darin nicht nach, wenn er, allerdings in ironisch-humoristischer Brechung im Gedicht »Zeus in Mission (zu Fürst Bismarcks 70. Geburtstag 1. April 1885)« die antiken Götter aus dem Exil befreit und Zeus mit Blitz und Donner in seine alten Rechte einsetzt.19 19

Theodor Fontane: Gedichte. Bd. 1. Berlin: Aufbau 1989, S. 267-270.

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Im Roman Effi Briest ist dies in offener Travestie nicht der Fall, wenngleich beiläufig auf Apollo (S. 194) und Saturn (S. 253) verwiesen wird und Gieshüblers Emblem, »eine Lyra, darin ein Stab steckte«, der »aber auch ein Pfeil sein« konnte (S. 81), als mythologische Anspielung auf Apollo verstanden werden kann, zumal der Apotheker als Schutzherr der »Muse« Trippelli auftritt.20 Auch der »kleine schwarze Stuhl mit drei goldenen Stäbchen in der Ebenholzlehne« (S. 292) scheint sich in einen größeren mythologisch gestützten Bedeutungszusammenhang einzufügen; auf ihm Platz nehmend, nimmt Luise von Briest das abschließende versöhnliche Urteil ihrer Tochter über ihren Ehegemahl Instetten entgegen: das er »in allem recht gehandelt« habe, wenn auch »ohne rechte Liebe« (S. 294). Dies geschieht am Ende des Sommers, bevor sich, wie es dem Mythos entspricht, Effi von ihrer Mutter verabschiedet, d.h. stirbt. Was Daragh Downes über die Spukgeschichte sagt, dass »das gegebene hic et nunc im Roman nur eine Dimension der vieldimensionalen Realität« bilde, dass Fontane »die Präsenz des Abwesenden und die mangelnde Eigenpräsenz des Gegenwärtigen zu evozieren« versuche und so den überlieferten Realismusbegriff unterhöhle,21 – das gilt auch für seine Verwendung der antiken Mythologie. In scheinbar realistischer Kaschierung verdeckt, hat Fontane alle Figuren und Schauplätze des Proserpina-Mythos versammelt: Instetten als Pluto; Luise von Briest als Ceres; Effi als kindliche Proserpina im idyllischen HohenCremmen, das wiederum dem sizilischen Henna entspricht; der vergebliche Warnruf der Freundin Hertha (»Effi komm!«) als Entsprechung der vergeblichen Hilfe der Cyane; der Hertha-See als Entsprechung dessen, was von der Nymphe übrig geblieben ist; wie Pluto Proserpina im offenen Wagen in den Orkus entführt, so Instetten Effi nach Kessin; der Fluß Kessine als »Lethe«;22 Rollo als Cerberus; das düstere, »halb sibirische« Kessin mit Instettens Spukhaus »im fahlen, gelben Licht« (S. 118) mit dem unterirdischen Schloon (als Styx) und den Lebenden und Toten aus aller Welt als Orkus bzw. Hades; der schöne Major Crampas als Adonis, Geliebter der Proserpina; Effis Sommeraufenthalte bei der Mutter, während sie die Winter in der Kältehölle Kessin verbringen muss, als Entsprechungen der Aufenthaltsorte der Proserpina. Die Rolle des Jupiter scheint doppelt besetzt: einmal durch Fürst Bismarck, bei dem man »Kriege bestellen« kann (S. 124), zum anderen durch den alten Briest, insofern er wie der Vater der Proserpina ein Einsehen hat und den Streit 20

21 22

So Werner Schwan: Die Zwiesprache mit Bildern und Denkmalen bei Theodor Fontane. In: Literaturwiss. Jahrbuch der Görres-Gesellschaft NF 26 (1985), S. 151183, hier S. 178f. Daragh Downes: Effi Briest. In: Fontane-Handbuch. Hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Kröner 2000, S. 647. Auf Lethe angespielt wird vom alten Briest, der sich wünscht, die heimische Friesack als Vergessenheitsquelle »nachmachen« zu können. Vgl. Fontane, Effi Briest (wie Anm. 3), S. 282.

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um Proserpina mit einem Kompromiss löst, sich aber der moralischen Bewertung des Falles enthält. Zugegeben: Diese Deutung hat, wie es scheint, noch Fehlstellen, vor allem die Rolle der Ceres scheint »falsch« besetzt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst sollen die Argumente angeführt werden, die Heines Gedichtzyklus »Unterwelt« bereithält.

IV. Heine vergegenwärtigt den Mythos vom Raub der Proserpina ironisch als Geschichte einer verfehlten Ehe, deren Stiftung allen Beteiligten nur Unglück gebracht hat. Mit witziger Übertreibung karikiert der Dichter nacheinander Pluto (I), Proserpina (II) und die Schwiegermutter Ceres (III); er beschränkt sich auf die Klagen dieser drei. Dabei ergibt sich aus der Klage des Pluto schon die lustspielhafte Lösung des Problems; eines Machtspruchs Jupiters bedarf es nicht, die Beteiligten befreien sich selbst aus ihrer Zwangslage (IV). Doch belässt es Heine nicht bei der Farce. Diese schlägt im V. Gedicht um in eine ernste Anrede, die Rätsel aufgibt, weil deren Sprecher(in) und Adressat(in) im Dunklen bleiben: ein kurzer Blick hinter die Masken des Rollenspiels.23 Zunächst erhält Ehemann Pluto das Wort. Er bringt seine Klage, eine wehmütige Erinnerung an die Freiheit des Junggesellen, in drei fünfzeiligen Reimstrophen vor, wobei das Reimschema (umarmender Reim, der einen Paarreim und eine sperrige Waise einschließt: abbxa) mit der Klage über eine scheinbar ausweglose Situation korrespondiert: I. Blieb ich doch ein Junggeselle! – Seufzet Pluto tausendmal – Jetzt, in meiner Eh’standsqual, Merk ich, früher ohne Weib War die Hölle keine Hölle. Blieb ich doch ein Junggeselle! Seit ich Proserpinen hab' Wünsch ich täglich mich in’s Grab! Wenn Sie keift, so hör ich kaum Meines Cerberus Gebelle.

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Zu Heines »Unterwelt« vgl. Ernst Feise: Heines »Unterwelt«. In: The Germanic Review 31 (1956), S. 276-278. – Siegrist, Proserpina (wie Anm. 17), in seinem Heine-Kapitel S. 97-103.

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Stets vergeblich, stets nach Frieden Ring’ ich. Hier im Schattenreich Kein Verdammter ist mir gleich! Ich beneide Sisyphus und die edlen Danaiden.

Für einen Vergleich mit Fontanes Roman eignet sich dieses Gedicht allenfalls in dem einen Punkt, dass auch Instetten ein (zu) spät heiratender Junggeselle ist, zu alt und in allem zu festgelegt, um sich in die Wünsche seiner jungen Frau einfühlen zu können. Der pejorative Ausdruck »keifen« passt allerdings eher – als ironischer Seitenhieb – auf Goethes Proserpina, die in Hass und Verwünschungen auf den zudringenden Eheherrn ausbricht, als auf Heines Proserpine, die nur »im Herzen seufzet«, wie einleitend in der ersten Strophe des II. Gedichts berichtet wird. In diesem Gedicht erhält Proserpina ebenfalls drei Strophen für ihre preziös gebaute Klage. Alle vier Strophen sind ebenfalls fünfzeilig: zwei Reimpaare, das erste vierhebig, das zweite zweihebig, mit einer dreihebigen Waise als Strophenschluß, die sich monoton auf die übrigen Strophenschlüsse reimt. Die Metrik der Verse (einerseits Anapäste und Jamben) im syntaxbedingten Wechsel, andererseits haltgebietende Zäsuren und Versschlüsse) spiegelt Unzufriedenheit und Ausbruchsbereitschaft der Klagenden: II. Auf goldenem Stuhl, im Reiche der Schatten, Zur Seite des königlichen Gatten, Sitzt Proserpine Mit finstrer Miene, Und im Herzen seufzet sie traurig: Ich lechze nach Rosen, nach Sangesergüssen Der Nachtigall, nach Sonnenküssen – Und hier unter bleichen Lemuren und Leichen Mein junges Leben vertraur’ ich! Bin festgeschmiedet am Ehejoche, In diesem verwünschten Rattenloche! Und des Nachts die Gespenster, Sie schau’n mir in’s Fenster, Und der Styx, er murmelt so schaurig! Heut hab’ ich den Charon zu Tische geladen – Glatzköpfig ist er und ohne Waden – Auch die Totenrichter, Langweil’ge Gesichter – In solcher Gesellschaft versau’r ich.

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Die »Seufzer« der Heineschen Proserpine scheinen bei aller Komik der Darstellung schon eher den Vergleich mit denen der Fontaneschen Effi zu lohnen. Bezüge zu Fontanes Roman sind nicht zu übersehen: Auch Effi seufzt traurig im Herzen, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass Instetten über ihre Ängste hinweggeht. Im »Gefühl des Alleinseins« kämpft sie mit den Tränen, die Instetten nicht sehen darf (S. 98). Sie leidet des Nachts ebenfalls unter Gespenstern und Spuk. Sie ist ebenfalls von Lemuren und Leichen umgeben, und statt des Styx rauscht »schauerlich« das Meer (S. 46). Vor allem die Briefe an die Mutter sind Zeugnisse für ihre Sehnsucht nach »Sonnenküssen« im sommerlichen Hohen-Cremmen (S. 98-101). Statt Charon lädt sie sogar zweimal Crampas »zu Tisch« (S. 123, 138f.), der zwar nicht glatzköpfig ist, aber doch nur schütteres Haar hat, was sie bemängelt (»[...] ich wünschte Ihnen, daß es mehr wäre«). Beim bloßen Gedanken an den gesellschaftlichen Verkehr mit dem reaktionär und sittenstreng urteilenden Landadel vergeht sie vor Langeweile (S. 101). »Nein, nein, ich mag hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will nach Hohen-Cremmen«, denkt sie unter Tränen (S. 109), fühlt sich »wie eine Gefangene« (S. 169), wenngleich noch aus anderen Gründen als Heines Proserpine. Im einzelnen darzustellen, dass sie »in solcher Gesellschaft« versauert, sei es in Kessin, Berlin oder Bad Ems, ist im übrigen Fontanes Erzählziel. Das Gedicht der Ceres (III), der – nach Heine – »verrückten Göttin«, die »ohne Haube, ohne Kragen, Schlotterbusig durch das Land« läuft und die »wohlbekannten Klagen« deklamiert – es handelt sich um ein wörtliches Zitat der ersten drei Strophen aus Schillers »Klage der Ceres«24 –, scheidet für einen Vergleich mit Fontanes Romans aus, da hier wie gesagt die Rolle der Ceres anders besetzt ist. Einzig die Bezeichnung des Orkus, des vermuteten Aufenthaltsortes der Tochter, als »düsterer Strand« verweist auf den Strand von Kessin; möglich, dass die Verse »Jedem sel’gen Aug’ verschlossen Bleibt das nächtliche Gefild’« Fontane auf den Einfall gebracht haben, Effis Mutter ein »sonderbares« Augenleiden zuzuschreiben (S. 192f.). Das IV. Gedicht ist in lustigen Romanzenstrophen abgefasst: Pluto tröstet die »Schwiegermutter Ceres«, indem er die Schillersche Klage unterbricht und voll Freude für die Hälfte des Jahres auf den »Besitz der Tochter« verzichtet: IV. Meine Schwiegermutter Ceres! Laß’ die Klagen, laß’ die Bitten! Dein Verlangen, ich gewähr’ es – Habe selbst so viel gelitten! 24

Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 3. Aufl. München: Hanser 1961, S. 190-194. Zu Schillers Arbeit am Mythos von Ceres, Pluto und Proserpina vgl. Siegrist, Proserpina (wie Anm. 17), S. 70-85.

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Tröste dich, wir wollen ehrlich Den Besitz der Tochter theilen, Und sechs Monden soll sie jährlich Auf der Oberwelt verweilen. Hilft dir dort an Sommertagen Bey den Ackerbaugeschäften; Einen Strohhut wird sie tragen, Wird auch Blumen daran heften. Schwärmen wird sie, wenn den Himmel Ueberzieht die Abendröthe, Und am Bach ein Bauernlümmel Zärtlich bläst die Hirtenflöte. Wird sich freu’n mit Greth’ und Hänschen Bey des Erndtefestes Reigen; Unter Schöpsen, unter Gänschen, Wird sie sich als Löwin zeigen. Süße Ruh! ich kann verschnaufen Hier im Orkus unterdessen! Punsch mit Lethe will ich saufen, Um die Gattin zu vergessen.

Zwar betreibt in Hohen-Cremmen der alte Briest, nicht Luise von Briest, die »Ackerbaugeschäfte« (»Raps«, »Kornpreise«), aber Effi beschäftigt sich nach ihrer Rückkehr nach Hohen-Cremmen doch auch »mit allerlei Wirtschaftlichem« (S. 279). Die ländliche Idylle, die Heine skizziert, hat Fontane im Roman als Effis Welt mehrfach ausgemalt: in den Anfangskapiteln, bei den Sommeraufenthalten Effis, besonders aber in den Schlusskapiteln, die ganz im Zeichen ihrer Spaziergänge in der Idylle von Hohen-Cremmen stehen. Nicht einmal der Heinesche Strohhut fehlt; Effi trägt ihn, wenn sie mit Rollo durch die Felder geht: [...] Wenn sich Effi vom Frühstückstisch erhob und auf den Flur zuschritt und hier erst den Strohhut und dann den Sonnenschirm vom Ständer nahm, kam ihm [= Rollo] seine Jugend wieder [...]. Effi, der freie Luft noch mehr galt als landschaftliche Schönheit, vermied die kleinen Waldpartien und hielt meist die große, zunächst von uralten Rüstern und dann, wo die Chaussee begann, von Pappeln besetzte große Straße [...]. An allem freute sie sich, atmete beglückt den Duft ein, der von den Raps- und Kleefeldern herüberkam, oder folgte dem Aufsteigen der Lerchen und zählte die Ziehbrunnen und Tröge, daran das Vieh zur Tränke ging. Dabei klang ein leises Läuten zu ihr herüber. Und dann war ihr zu Sinn, als müsse sie die Augen schließen und in einem süßen Vergessen hinübergehen. (S. 290)

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Effi »schwärmt«, wie von Heines Pluto vorhergesagt: »Wie schön dieser Sommer! Daß ich noch so glücklich sein könnte, liebe Mama [...]«; als »Löwin« zeigt sie sich, wenn sie wie in Kindertagen unversehens auf die alte Schaukel springt. »Lethe«, »süßes Vergessen«, erfährt sie ohne Punsch; »Lethe, Lethe« wünscht ihr und sich selbst auch der alte Briest (S. 282). Und Wüllerdorf, Instettens alter ego, schlägt dem unter seiner Vereinsamung leidenden Instetten als »Hilfskonstruktion« für den Abend vor: »Drei Seidel beruhigen jedesmal.« Er selbst gönnt sich als Junggeselle noch einen Frühschoppen in geselliger Runde, um über die Ödnis des Alltags hinwegzukommen (S. 289). Die beiden repräsentieren auch darin die Unterwelt des Heineschen Pluto. Des burlesken, scherzhaften Tons satt, gibt Heine im V. Gedicht in Form eines fingierten vertraulichen Gesprächs (zwei Strophen in vierhebigen Jamben, umarmend gereimt) die bittere Wahrheit über die »Eh’standsqual« preis, die sich hinter der mythologischen Verkleidung verbirgt. V. »Zuweilen dünkt es mich, als trübe Geheime Sehnsucht deinen Blick – Ich kenn’ es wohl, dein Mißgeschick: Verfehltes Leben, verfehlte Liebe! Du nickst so traurig! Wiedergeben Kann ich dir nicht die Jugendzeit – Unheilbar ist dein Herzeleid: Verfehlte Liebe, verfehltes Leben!«

Ob persönliche Eheerfahrungen hinter diesen Versen stehen,25 soll hier nicht die Frage sein. Im Zusammenhang mit Fontanes Heine-Rezeption gelesen, scheinen diese Verse ins Zentrum des Romans zu weisen, auf die Bewertung der Figur Effi Briest. Auch die »arme Effi« möchte, indem sie »still und entzückt auf die Natur« blickt, »vergessen, was ihr das Leben versagt, oder richtiger wohl, um was sie sich selbst gebracht hat« – so urteilt der Erzähler (S. 279). Auch die »geheime Sehnsucht« ist ein Stichwort für Fontane; er verwendet es im Roman für Effis Sehnsucht nach Hause (S. 74) und für ihre Sehnsucht nach einer »himmlischen Heimat«: »Ich weiß es nicht, will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht.« (S. 292) Unübersehbar aber ist die Analogie der Gesprächssituationen in Heines Gedicht und Fontanes Roman, hier im letzten Gespräch zwischen Mutter und Tochter: »›Eigentlich, verzeihe mir, meine liebe Effi, daß ich dir das jetzt noch sage, eigentlich hast du doch euer Leid heraufbeschworen.‹ Effi nickte. ›Ja, Mama. Und traurig, daß es so ist.‹« (S. 293). Im folgenden ist dann nicht von »verfehlter Liebe« die Rede, 25

So Siegrist, Proserpina (wie Anm. 17), S. 101. – Vgl. auch Feise, Heines »Unterwelt« (wie Anm. 23) und Genton, Heine. Neue Gedichte (wie Anm. 11), S. 613f.

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aber von einer Beziehung »ohne rechte Liebe«. (S. 294) Fontane meidet auch hier »alles Übertriebene« und mildert Härte und Absolutheit des Urteils bei Heine ab.

V. Michael Masanetz hat in einer oft angestrengten, in vielem aber doch schlüssigen Deutung versucht, Effi Briest als illegitime Tochter des Kronprinzen und späteren Kaisers Friedrich aus einem vorehelichen Husarenverhältnis mit Luise von Belling verh. von Briest zu identifizieren und damit zugleich auch die von Fontane nur angedeutete politische Intention des Romans zu bestimmen.26 Er hat damit die historisch-zeitgeschichtliche Deutung des Romans über die bisherigen Versuche hinaus sozusagen auf die allerhöchste Spitze getrieben. Aber selbst dort bleibt noch Platz für die Annahme eines von Heine inspirierten Bezugs auf den Proserpina-Mythos, denn dieser überformt die zeitgeschichtlichen Bezüge und bezieht sie auf ein (auch nicht erst von Heine travestiertes) erzählerisches Grundmodell zurück. Proserpina ist ja die Frucht eines Seitensprungs Jupiters, des ranghöchsten Gottes. Die Erzählungen von Ceres bieten im Übrigen noch weitere Vergleichspunkte: Ceres hat einen Liebhaber, den Heros Jasion, und sie tut sich mit dem Landjunker Triptolemus zusammen, der nach ihrer Anleitung den Kornanbau in der Welt fördert.27 Fontanes Romanfiguren wissen aber noch mehr. Als Crampas mit Effis Zustimmung das Gesetz, hier die Ehe, in Frage stellt und Instetten mit Blick auf Effi entgegnet: »Natürlich, die Weiber schreien sofort nach dem Schutzmann, aber von Gesetz wollen sie nichts wissen«, verweist Crampas mit Zustimmung Instettens auf uraltes Recht: »Das ist so Frauenrecht von alter Zeit her, und wir werden’s nicht ändern, Instetten.« (S. 129) Diese Anspielung auf die Kulturstufe des Hetärismus kann als eine Causerie unter Männern aufgefasst werden, doch sie bringt zugleich die spätromantische Mythenforschung ins Spiel, näherhin Johann Jakob Bachofens Mutterrecht von 1861. Hier verkörpert Ceres bzw. Demeter die Kulturstufe der Gynaikokratie: Zurückgeführt auf Demeters Vorbild wird die irdische Mutter zugleich der tellurischen Urmutter sterbliche Stellvertreterin, ihre Priesterin und als Hierophantin mit der Verwaltung ihres Mysteriums betraut. Alle diese Erscheinungen sind aus einem Guß und nichts als verschiedene Äußerungen derselben Kulturstufe. Der Religionsprinzipat des gebärenden Muttertums führt zu dem entsprechenden des sterblichen Weibes, Demeters ausschließliche Verbindung mit Kore [= Persephone/Proserpina] zu dem nicht weniger ausschließlichen Succesionsverhältnis der Mutter und

26 27

Michael Masanetz: Vom Leben und Sterben des Königskindes. Effi Briest oder der Familienroman als analytisches Drama. In: Fontane-Blätter 72 (2001), S. 42-93. Vgl. Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon (wie Anm. 14), Sp. 675-679.

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Tochter, endlich die innere Verbindung des Mysteriums mit den chthonischweiblichen Kulten zu der Hierophantie der Mutter [...]. Von diesem Gesichtspunkte aus eröffnet sich ein neuer Blick in die wahre Natur jener Kulturstufe, welcher das mütterliche Vorrecht angehört. Wir erkennen die innere Größe der vorhellenischen Gesittung, welche in der demetrischen Religion, ihrem Mysterium und ihrer zugleich kultischen und zivilen Gynaikokratie einen von der späteren Entwicklung zurückgedrängten, vielfach verkümmerten Keim der edelsten Anlage besaß.28

Bachofen grenzt diese Kulturstufe scharf von der vorhergehenden des Hetärismus ab: Ganz anders die Gynaikokratie des cerealischen Lebens. Diese ruht auf dem unentweihten Matronentum Demeters, auf dem ausschließlichen, unlöslichen Verhältnis zu Einem Mann, auf der Verwerfung jedes Hetärismus, auf der Weihe, nicht auf der Entweihung des Stoffs [...].29

Demeter, die Göttin des Ackerbaus, ist zugleich die Hüterin von Gesetz und Ehe: Die Demetrischen șİıȝȠȓ umfassen das agrarische Recht und ordnen diesem das eheliche unter. Das Mysterium des Saatkorns wird auch das der ehelichen Vereinigung von Mann und Frau. Auf dieser doppelten Grundlage, dem Ackerbau und der ausschließlichen ehelichen Vereinigung, ruht ein Kulturzustand, dessen ganze rechtliche Gestaltung Ausfluß der cerealischen Mütterlichkeit ist.30

Bachofens Deutung des Ceres-Mythos, wenn sie denn Fontane »irgendwie« bekannt geworden ist,31 gäbe uns Argumente für die Annahme, dass Fontane seine Luise von Briest mit Bedacht mit der Rolle der Ceres betraut hat, freilich nicht mit der Rolle der von Heine karikierten Schillerschen Ceres. Das Sukzessionsverhältnis von Mutter und Tochter in Bezug auf Instetten, das harte Urteil über den Ehebruch der Tochter, aber auch die enge Verbindung von Mutter und Tochter nicht nur am Schluss des Romans, als die Tochter zur gleichen Beurteilung über ihren Ehebruch gelangt wie die Mutter, sondern auch schon die gemeinsame Distanziertheit gegenüber der Männerwelt (Luise gegenüber 28 29 30 31

Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Karl Meuli. Bd. 2 u. 3. Basel: Schwabe 1948, Bd. 2, S. 28. Ebd., S. 387. Ebd., S. 386. Vgl. Renate Böschenstein: »Und die Mutter kaum in Salz«. Muttergestalten in Fontanes Vor dem Sturm und Effi Briest. In: Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli. Hg. von Irmgard Roebling und Wolfram Mauser. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 247-269, hier S. 268: »Ob Fontane Bachofen über dessen Vulgarisierung hinaus gekannt hat, ist meines Wissens unsicher (Die Briefregesten enthalten seinen Namen nicht): es wäre sonst aufschlußreich, seine SumpfMetaphorik mit der Bachofenschen Konzeption des Hetärismus zusammenzusehen.« Böschenstein glaubt statt dessen bei Freud sichereres Terrain zu finden.

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Briest, Effi gegenüber Instetten und Crampas, den sie ebenfalls nicht »liebt«32) – all das fände von Bachofens Ceres/Proserpina-Deutung her eine plausible Begründung. Wie dem auch sei, über die Anregungen hinaus, die Heines »Unterwelt«-Travestie ihm geben konnte, hat Fontane offenbar auch die Unterwelt-Spekulationen der zeitgenössischen Mythenforschung mitberücksichtigt und dem Leser durch Anspielungen zugleich angedeutet und verborgen.

32

Vgl. die Kritik des Rezensenten Franz Servaes (in: Die Zeit, Wien, 14.12.1895), der Effi zum Vorwurf macht, dass sie weder ihren Gatten noch ihren Liebhaber liebt: »Und das finde ich furchtbar.« In Bachofens Verständnis der Frau und Mutter wäre dies aber gerade nicht furchtbar, sondern konsequent.

Thomas Sparr

»Versöhnung! Wann? – wann?« – Ein Exkurs zu Walther Rathenaus Briefen

Am 12. Oktober 1921 schreibt Walther Rathenau der Vertrauten Lore Karrenbrock aus dem Grunewald: Liebes Fräulein Lore, nur einen Gruß und Dank. Es sind bewegte, harte Tage. In die große Sorge klingt hinein ein wenig Hoffnung: vielleicht endet dieses schwere Sommerwerk, ohne daß ich mir den Vorwurf machen muß, es willkürlich, vorschnell verlassen zu haben.

Rathenau stand kurz vor seinem Rücktritt als Wiederaufbauminister in der deutschen Reichsregierung. Er beendet den Brief: Von Fr.[eien]walde kommen ab und zu Astern und Reseden. Morgens, wenn ich nach der Stadt fahre, fühle ich diesen unvergleichlich verleuchtenden Oktober. / Heute Abend, spät, auf dem Heimweg sagte mir jemand, es sei der große Versöhnungstag der Juden gewesen. Versöhnung! Wann? – wann? – Ihr R.1

Wie beiläufig gibt dieser Brief etwas von Rathenaus eigenem Verhältnis zum Judentum, zu seinem Jude-Sein preis: Jom Kippur, den hohen jüdischen Feiertag der Versöhnung von Mensch und Gott, hat er vergessen und entdeckt ihn buchstäblich im Vorübergehen, als der Tag vergangen ist. Die jüdische Tradition gehört nicht mehr zum eigenen Leben – das ist der Preis der Assimilation – und prägt doch die Wahrnehmung der anderen wie die Selbstwahrnehmung. Rathenaus zweifache Frage nach der Versöhnung hat vielfache Gründe: politische, historische, persönliche. Eine Antwort hat sie nicht gefunden. Acht Monate später, am 24. Juni 1922, wird Walther Rathenau auf dem Weg vom Grunewald ins Auswärtige Amt von rechtsgerichteten, antisemitisch gesonnenen ehemaligen Offizieren der Organisation Consul erschossen. Die Agitation und Hetze der Rechten hatte lange zuvor begonnen; »knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau« war ihre Losung. Walther Rathenau repräsentiert durch seine Person wie sein Werk die Hoffnungen der deutsch-jüdischen Geschichte, aber auch ihr Scheitern: In die stolze Selbstbehauptung des jüdischen Bürgertums 1867 als Sohn des späteren Gründers der AEG hineingeboren, durfte er im Februar 1900 Kaiser Wilhelm II. über elektrische Alchimie vortragen, sein Weg führte ihn von der Chaussee1

Walther Rathenau: Briefe. Teilband I: 1871-1913. Teilband II: 1914-1922. Band V der Rathenau-Gesamtausgabe. Hg. von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Düsseldorf: Droste 2006.

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straße im damaligen armen Norden Berlins in den bürgerlichen Westen, in die Koenigsallee, doch nie verließ ihn die Unsicherheit über den endgültigen Aufstieg, den er in seiner Stadtvilla wie in seinem Schloss Freienwalde in der Mark Brandenburg ausschmückte, durch ein gewisses Zuviel an Ornamenten, Farben und Formen eine tiefe Unsicherheit zwischen Herkunft und Status verratend. Wohl nirgendwo anders hat diese Unsicherheit ihren Ausdruck so zart und deutlich wie in Rathenaus Briefen gefunden. Im Oktober 1892 schreibt der Fünfundzwanzigjährige seiner Mutter Mathilde heiter und unbeschwert aus der Ferne nach Berlin über Maurice Maeterlinck, einen populären Schriftsteller jener Zeit, sie könne diesen »für me-« halten, und fällt sich selbst ins Wort: »verrückt meine ich«. »Meschugge« wollte er, »verrückt« sollte er schreiben, um die jüdische Herkunft zu verschleiern. Es ist das winzige Detail, das den ganzen historischen Prozess der Assimilation von Juden im deutschen Kaiserreich zeigt. Seiner Mutter schreibt er, Schweine seien nicht koscher – Rathenau schreibt es auf hebräisch –, während er einem Briefpartner in Süddeutschland mitteilt, auch er »besitze zwei lebendige Schweine, die ich wie Familienmitglieder pflege und deren Schicksal mir gelegentlich Sorgen macht«. Rathenau hatte die jüdische Gemeinde verlassen, war indessen aber nicht zum Christentum übergetreten. Er hing, in einer eigentümlichen Verdoppelung, der Idee eines jüdischen Christus an. »Von vorneherein will ich bekennen, daß ich Jude bin«, beginnt Rathenaus »Höre Israel!«, das 1897 in Maximilian Hardens Zeitschrift Zukunft erschien und dessen berühmt gewordene Sätze lauten: Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebahren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde. Die gezwungene Heiterkeit dieser Menschen verräth nicht, wie viel alter ungesättigter Haß auf ihren Schultern lastet ... so leben sie in einem halb freiwilligen, unsichtbaren Ghetto, kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe. ... Seht Euch im Spiegel! ... Eure südöstlich gestimmte Erscheinung [hat] an sich für die nördlichen Stämme nichts Sympathisches ... Um so mehr habt Ihr dafür zu sorgen, daß inmitten einer militärisch straff erzogenen und gezüchteten Rasse Ihr Euch durch verwahrlost schiefes und schlaffes Einhergehen nicht zum Gespött macht.2

Rathenau hat sich später von diesem Text distanziert; die Wirkungsgeschichte von »Höre Israel!« ist indessen gut dokumentiert. Mathilde Rathenau hatte in der von ihr in den zwanziger Jahren verantworteten Ausgabe der Briefe ihres Sohnes zwar alle jüdischen Themen getilgt, durch die jetzt vorliegenden Brief-

2

Zitiert nach dem vorzüglichen Aufsatz von Clemens Picht (1956-1994): »Er will der Messias der Juden werden«. Walther Rathenau zwischen Antisemitismus und jüdischer Prophetie. In: Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867-1922. Hg. von Hans Wilderotter. Berlin: Argon 1993, S. 117.

»Versöhnung! Wann? – wann?« – Ein Exkurs zu Walther Rathenaus Briefen

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bände sind wir aber auf einem editorisch exzellenten Stand.3 Die Briefe sind mehr als nur eine biographische Quelle; sie geben Aufschluss über entscheidende Wendepunkte deutsch-jüdischer Geschichte, wie ich an einer Korrespondenz zeigen möchte. Im August 1901 schreibt Walther Rathenau an Theodor Herzl: Sehr geehrter Herr, vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Auch Ihr freundliches Anerbieten, mir die Spalten Ihres Feuilletons zu öffnen, hat mich sehr erfreut. Ihre Sympathien für den hohen Herrn [gemeint ist Wilhelm II.], den Sie nennen, teile ich um so mehr, als auch ich ihn persönlich, und ich darf sagen, gut kenne. Das hindert mich nicht, für Harden zu schreiben, weil er mein Freund ist. Da Sie die große Güte hatten, über mein Exercitium (das ich höchst mangelhaft finde) freundlich zu urteilen, schicke ich Ihnen eine weitere Probe meiner Handschrift, meinen vorletzten Aufsatz aus der »Zukunft« [»Die schönste Stadt der Welt«]. Ich besitze nur das eine, etwas verbrauchte Exemplar, und bitte deshalb um gelegentliche Rückgabe. Einen anderen der 12 oder 15 Versuche, auf den ich etwas mehr Wert lege, hüte ich mich Ihnen vorzulegen. Er heißt ›Höre Israel‹ und ist von einzelnen Lesern des Antisemitismus geziehen worden. In Wahrheit verfolgt er diese Tendenz nicht, ebenso wenig wie ich selbst dazu berechtigt wäre: Denn ich bin Jude. Aus letzterem Grunde habe ich die Veröffentlichung über Ihre zionistischen Bestrebungen, soweit mir solche zugänglich waren, stets mit lebhaftem Interesse gelesen. Ich begrüße Sie mit vorzüglichster Hochachtung ergebenst WR

Unmittelbar nach Erhalt des Briefes am 7. August 1901 antwortet Theodor Herzl aus Aussee: Sehr geehrter Herr, Sie hatten Recht, mir Ihren schönen Aufsatz über die schönste Stadt zu schicken; er hat sie mir noch näher gebracht. Ich habe Sie, als ich Sie für tot und für Herrn von der Muehl hielt, mit Komplimenten überschüttet. Ich will Sie jetzt nicht unter Rosen begraben. Die Race des großen Schriftstellers habe ich schon im ersten Artikel erkannt, ich habe nichts hinzuzufügen, noch auch wegzunehmen. Es gibt sonderbare Gänge. Ihr Name, wenn Sie ihn erst nennen wollen, wird als der eines großen Schriftstellers bleiben, und Sie sind Ihres Zeichens ein Geschäftsmann. Der meinige wird vielleicht nur als der eines Unternehmers und Agitators bleiben, und ich bin von Handwerk Schriftsteller. Es ist wahr, ich habe mich von den Cliquen ferngehalten, und da ich als Journalist zu mächtig bin – passez moi le mot – um entdeckt oder begönnert zu werden, und zu pöpelscheu, um mich in Gegenseitigkeitsverhältnisse einzulassen, so wissen von mir nur die Leser der ›Neuen Freien Presse‹ – und die armen Juden, denen ich eine Heimat verschaffen will; die Letzteren halten mich für eine Art Baron Hirsch ohne Geld. Aber lassen wir das hassenswerte Ich. Nur gestatten Sie mir, Ihnen als ein Zeichen meiner Schätzung mein letztes Buch vom Verleger schicken zu lassen [Philosophische Erzählungen, 1900]. Ein Zeichen ist es nur darum, weil ich mich nicht durch die Versendung von Rezensionsexempla3

Siehe Thomas Sparr: Ein Fremder. Walther Rathenau in Briefen und Biographien. In: Merkur 60 (2006), H. 687, S. 624ff.

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Thomas Sparr

ren encanaillieren und Sie nur bitten will, zwei der Geschichten zu lesen: ›Solon in Lydien‹ die erste, und ›das Wirtshaus zum Anilin‹, die letztere. Schreiben dürfen Sie darüber nie, es wäre eine Revanche, und die dürfen Sie sich als ein Mann von Geschmack nicht zu Schulden kommen lassen. Ich fürchte, daß ich Ihren Artikel ›Höre Israel‹ gelesen habe. Er ist mir etwas Blasses [sic!] in Erinnerung. Ich glaube, Harden schrieb mir damals und ich antwortete ihm in einem Briefe, nicht in einem Artikel, wie er gewünscht hatte. Ich glaube, daß ich mich über diesen Artikel geärgert habe. Aber, wie gesagt, das Ganze ist verwischt und halb erloschen. Wenn ich nicht irre, war in dem Artikel gefordert, die Juden sollten sich längere Gliedmaßen und gerade Nasen angewöhnen. Daß Sie mit Harden befreundet sind, spricht nach Ihren beiden Artikeln für ihn. Ich gestehe Ihnen, entre nous, daß ich ihm seine Intimität oder doch sein Zusammengehen mit minderwertigen Leuten nicht verzeihen kann. Als er mir jüngst von Weichselmünde schrieb, setzte ich mich in der ersten Überraschung hin und antwortete ihm. Solche Briefe lasse ich aber immer eine Nacht liegen, bevor ich sie abschicke. Am anderen Tage war mir klar, daß ich ihn nicht abschicken dürfe. Ich antwortete Harden nicht. Ihnen lege ich diesen Brief hier vor und bitte um sofortige Rücksendung. Ich lege ihn bei wegen der Stelle über den Zionismus, die ich nicht noch einmal abschreiben will. Die gilt auch, ja erst recht für Sie, der Sie der mysteriöse Verfasser sind. Es ist mir – das wird Sie vielleicht wundern – ganz gleichgültig, ob Sie Jude oder Christ sind. Bin ich ein Maniak. Ich kann mir vorstellen, daß ein Christ Jude wird, um an der herrlichen Sache mitarbeiten zu können. Ja ich kenne solche Menschen. Einer heißt Abraham B[o]urcart, ein Schweizer Christ, der sich sogar beschneiden ließ, um, wie er meinte, allen Anforderungen zu genügen. Armer Kerl, das Schneiden war überflüssig. Er ist aber nicht wahnsinnig, wie Sie spree-athenisch [berlinisch] neckend gleich annehmen werden. Wenigstens halte ich ihn in meinem eigenen Irrsinn nicht dafür. Ich kenne ihn nicht persönlich, nur aus seinen Briefen, die aber bei aller Begeisterung nüchtern und vernünftig sind. Er ist Wasserbautechniker und war in Palästina. Von ihm rühren die Pläne zu elektromagnetischer Ausnutzung der vorhandenen Wasserkräfte her. Ich will sie in meinem bald vollendeten Programmroman ›Altneuland‹ anbringen und werde sie vielleicht dereinst zwischen Hermion und Totem Meer verwirklichen. Sehen Sie: das müsste einen Menschen, wie Sie sich mir in den beiden Aufsätzen zeigen, zur Fahne rufen. Eine Lumpenfahne vielleicht, und es gibt goldenere und seidenere. Aber wohin kann man unter ihr aufbrechen! Den technischen Fortschritt in Menschlichkeit umsetzen, und dabei dadurch den Geusennamen zu einem Ehrenwort machen. Ich begrüße Sie hochachtungsvoll Ihr ergebener Herzl

Im 16. Jahrhundert kämpften die Niederländer gegen die Spanier um ihre Unabhängigkeit und nahmen dabei den Schimpfnamen »Geusen« an, der sich vom französischen »geux« für Bettler herleitete. Dieser Name sollte für Herzl zum Losungswort für den Zionismus werden, und Herzl erwähnt nicht ohne Grund einen Techniker, um Rathenau von den Vorzügen des zionistischen Projekts zu überzeugen. Die »Pläne zu elektromagnetischer Ausnutzung der vorhandenen Wasserkräfte« nahmen vorerst allein literarische Gestalt an, bald darauf aber reale.

»Versöhnung! Wann? – wann?« – Ein Exkurs zu Walther Rathenaus Briefen

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Rathenau und Herzl sind einander nie begegnet. Ihre Korrespondenz beginnt in eben jenem Jahr 1901, nachdem Herzl in der Neuen Freien Presse den Aufsatz »Physiologie der Geschäfte« veröffentlicht hatte. Ein Regierungsassessor F. W. Schulz von der Muehl hatte sie in der Zeitschrift Zukunft veröffentlicht; der Regierungsassessor aber war in Wirklichkeit Rathenau, der sich Herzl gegenüber zu erkennen gab. Herzl schreibt ihm: Ihre ›Gegenden am Don‹ sind ja das Palästina meiner zionistischen Bewegung. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie von dieser gehört haben, und wenn ja, ob Sie das Richtige gehört haben. Mit einem Manne wie Sie, möchte ich sie gerne durchsprechen.

Rathenaus »Gegenden am Don« zeichneten indes kein Bild von Palästina, sondern das einer urbar gemachten, industrialisierten, fernen Region. Herzl spiegelt darin sein eigenes zionistisches Projekt. Zwischen ihm und dem Verfasser stand aber dessen vier Jahre zuvor erschienene Schrift »Höre Israel«, und Herzls Kritik daran ist schärfer, als sein Brief an Walther Rathenau 1901 vermuten ließ. Am 16. März 1897 schreibt Theodor Herzl an den Herausgeber Maximilian Harden: Der Artikel ›Höre Israel‹ war kein genügender Reiz zum Widerspruch. Der Verfasser akzeptiert ergebenst alle Vorwürfe, die man den Juden macht. Wenn er den Juden rät, sich einen anderen Knochenbau anzugewöhnen, so begleite ich ihn heiter in diese Zuchtwahlfernen. Ich spöttle darüber nicht, wie es jeder Durchschnittsjude tun wird, sondern will ihm beipflichten. Nur meine ich, daß die Juden den Phosphor für diese neuen Knochen aus einem einzigen Boden ziehen können, nämlich aus ihrem eigenen.

Doch selbst in dieser scharfen Kritik ging Herzl mehr auf Walther Rathenau zu als dieser auf ihn. Er wollte ihn als Unternehmer wie als Schriftsteller, als Pragmatiker wie Visionär für ein Projekt gewinnen, das beides brauchte, Ökonomie und Phantasie. Die Briefe von Walther Rathenau und Theodor Herzl zeigen früh und klar die beiden Wege des deutsch-österreichischen Judentums: den Weg der Assimilation, der Unversöhntes vereinen wollte, und den des Zionismus, den Weg nach Israel. Dafür stehen zwei Orte: Berlin, das Walther Rathenau als schönste Stadt der Welt erschien, und Jerusalem, wo Theodor Herzl sein Grab fand.

Liliane Weissberg

›Mut und Möglichkeit‹: Sigmund Freud liest Theodor Lipps

I.

Korrespondenzen

Im August 1898 befand sich Sigmund Freud in der Sommerfrische in Aussee. Die liebliche Alpenlandschaft war Freud gut bekannt und daher auch ein wenig langweilig. Es mangelte ihm, wie er seinem Freund und Berliner Korrespondenten Wilhelm Fließ gestand, an »Material« und »Aufgabe«, und er fand diese schließlich in der Suche nach einer »Brücke« zwischen seiner eigenen »keimenden Metapsychologie und der in Büchern enthaltenen«.1 Gegen die Wiederholung erprobter Spaziergänge sollte das Aufspüren von anderweitig Bekanntem helfen: Die Feststellung einer schriftlich bereits überlieferten Tradition seiner noch zu formulierenden Metapsychologie. Wie konnte aber das, was noch »keimend« war, was sich noch nicht voll gebildet hatte, historisch werden und sich bereits als Geschichte geben? Freud ging in seinen Überlegungen von seinen neu konzipierten Begriffen aus, vor allem dem eines »Unbewußten«. In diesen Monaten beschäftigte er sich auch besonders mit der Erforschung der Hysterie und, im Kontext seiner beginnenden Selbstanalyse, mit dem Traum. »Die Hysteriearbeit wird mir in Gedanken immer zweifelhafter« schreibt Freud deshalb noch im gleichen Brief, und verweist ebenfalls auf die Behandlung einer Patientin, die er ebenso wenig wie seinen eigenen »großen Traum der Öffentlichkeit preisgeben« könne.2 Hier nun, während der Suche nach einem Konzept der Hysterie und der Analyse seiner Träume liest Freud Schriften desjenigen Philosophen, der ihm vielleicht am ehesten die »Brücke« oder die »Übertragung« für seine Metapsychologie geben konnte: Theodor Lipps. So berichtet Freud am 28. August 1898 zum ersten Mal über seine Lektüre der Schriften von Theodor Lipps. Und bereits fünf Tage nach dieser ersten Erwähnung, am 31. August, schreibt Freud erneut an Fließ über seine Beschäftigung mit dem Lippschen Werk. Wiederum beginnt der Brief mit einem Hin1

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Sigmund Freud an Wilhelm Fließ, Brief vom 26. August 1898. In: Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Bearbeitung der deutschen Fassung von Michael Schröter. Transkription von Gerhard Fichtner. Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 354. Freud an Fließ, Brief vom 26. August 1898. In: Freud, Briefe an Wilhelm Fliess (wie Anm. 1), S. 354.

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Liliane Weissberg

weis auf die Hysterie, denn in der »Untätigkeit ohne fesselnde Neuheit« in Aussee scheint die noch vergebliche Suche nach einer Antwort fast erdrückend zu sein.3 »Meine Arbeit kommt mir sehr entwertet vor«, schreibt Freud, die Desorientierung komplett, die Zeit, von der wieder ein rundes Jahr ohne greifbaren Fortschritt in den Prinzipien vergangen ist, als inkommensurabel mit den Zeitforderungen des Problems. Dazu ist es die Arbeit, auf deren Gelingen ich meine bürgerliche Existenz gesetzt habe. Die Erfolge sind zwar gut, aber vielleicht nur indirekt, als hätte ich den Hebel in einer Richtung angesetzt, die allerdings eine brauchbare Komponente für die Spaltrichtung des Zeugs abgibt; letztere bliebe mir aber selbst unbekannt. So will ich mir entfliehen und möglichst Frische und Objektivität sammeln, da ich die Arbeit doch nicht verlassen kann.4

Freuds Suche richtet sich hier einerseits nach dem Neuen, nach der Frische der produktiveren Sommerfrische (wäre sie vielleicht eher in Italien und am Meer zu finden als in diesen Bergen?) und der neuen Antwort auf ein altes Problem (der Hysterie). Andererseits suchte er das Bekannte, die »Brücke« zu dem bereits schriftlich von ihm Niedergelegten. Freud erwartete das Bekannte und das Unbekannte zugleich, kurz gesagt: das Unheimliche selbst. Hierbei konnte Lipps Freuds Erwartung erfüllen. Oder übertraf er diese gar? Bei Lipps habe ich die Grundzüge meiner Einsicht ganz klar wiedergefunden, vielleicht etwas mehr, als mir recht ist. »Der Sucher fand oft mehr als er zu finden wünschte!« Das Bewußtsein nur Sinnesorgan, aller psychische Inhalt nur Vorstellung, die seelischen Vorgänge sämtlich unbewußt. Auch in den Einzelheiten ist die Übereinstimmung groß, vielleicht kommt später die Gabelung, von der aus mein Neues ansetzen kann. Ich habe etwa ein kleines Drittel durchgearbeitet. Bei den Tonverhältnissen bin ich stehen geblieben, die mir immer ärgerlich waren, weil mir hier die elementarsten Kenntnisse fehlen, dank der Verkümmerung meiner akustischen Sinnesempfindungen.5

Fließ war Lipps offensichtlich unbekannt, denn nach seiner Rückkehr nach Wien im September muss Freud die Erläuterung liefern. »Wer Lipps ist?« fragt er in offensichtlicher Wiederholung einer Frage des neugierigen Freundes, Professor in München und in seinem Dialekt sagt er gerade das, was ich mir ausspekuliert über Bewußtsein, Qualität u. dgl. Ich studierte die ›Grundtatsachen des Seelenlebens‹ bis die Reise kam; muß jetzt wieder die Anknüpfung suchen.6

Lipps’ Grundtatsachen des Seelenlebens waren 1883 erschienen und Freud las sein Buch daher mit erheblicher Verzögerung.7 Erst fünf Jahre nach der Drucklegung lag das Werk auf Freuds Schreibtisch, denn vor seiner Suche nach einer Geschichte der noch zu konzipierenden Metapsychologie, die sich dann in sein erstes psychoanalytisches Konzept verwandeln sollte, hatte Freud an dem 3 4 5 6 7

Freud an Fließ, Brief vom 31. August 1898. In: ebd., S. 355. Ebd., S. 355f. Ebd., S. 356. Freud an Fließ, Brief vom 27. September 1898. In: ebd., S. 360. Theodor Lipps: Grundtatschen des Seelenlebens. Bonn: M. Cohen & Sohn 1883.

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Münchner Professor noch wenig Interesse. Doch nun war Lipps’ Buch für Freud von erheblichem Interesse. Franz Brentano, bei dem Freud in Wien die einzigen nicht-medizinisch philosophischen Vorlesungen während seiner Studienzeit besuchte,8 hatte 1874 seine Psychologie vom empirischen Standpunkt veröffentlicht, in der er die Feststellung des Psychologen Henry Maudsley, dass psychische Vorgänge auf physiologischen beruhten,9 zurückweist und in diesem Kontext eine unbewusste seelische Aktivität erwähnt; gleichzeitig sollte Brentano ein solches Konzept aber ebenfalls ablehnen. Wie Brentano, so war auch Lipps an einer wissenschaftlich begründeten Psychologie interessiert, an einer Psychologie ›darüber hinaus‹, die sich auf das handelnde Subjekt konzentrieren sollte. In seiner Kopie von Lipps’ Buch unterstrich Freud jedoch den folgenden Satz: Wir behaupten nicht nur die Existenz unbewusster seelischer Vorgänge neben den bewussten. Wir nehmen vielmehr an, daß unbewusste Vorgänge allen bewussten zu Grunde liegen und sie begleiten. Aus dem Unbewussten erhebt sich, wie wir schon sagten, das Bewusste, wenn nämlich das Glück günstig ist, und sinkt dann wieder ins Unbewusste zurück.10

Gleichfalls markierte Freud den Kolumnentitel auf derselben Seite: »Wirkungen unbewußter Erregungen im Träume«.11 Lipps’ Vorstellung des Unbewussten kann direkt von der romantischen Theorie abgeleitet werden, von den Schriften eines Friedrich Schlegels etwa, die in mehr oder weniger direkter Linie zu einer Philosophie des Unbewussten von Eduard von Hartmann führen.12 Freud wollte aber im Gegensatz zu Lipps weniger auf den Zufall des ihm günstigen Glücks bauen. Die Annahme einer komplexeren psychischen Struktur durch einen deutschen Ordinarius der Philosophie schien Freuds Gedankenweg jedoch eine gewisse Legitimität zu geben. Es ist sicherlich vor dem Hintergrund dieser Lektüre von Lipps, dass Freud, einmal von Bad Aussee nach Wien heimgekehrt, bereit ist, die Verbindung zwischen Psychischem und Organischem neu zu überdenken. So schreibt er am 22. September 1898 an Fließ, den er als biologischen Experten sah: Ich bin aber gar nicht anderer Meinung als Du, gar nicht geneigt, das Psychologische ohne organische Grundlage schwebend zu erhalten. Ich weiß nur von der Überzeugung aus nicht weiter, weder theoretisch noch therapeutisch, und muß also mich

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9 10 11 12

Philip Merlan: Brentano and Freud. In: Journal of the History of Ideas VI (1945), S. 375-377 und ders.: Brentano and Freud – A Sequel. In: Journal of the History of Ideas X (1949), S. 451. Siehe etwa Henry Maudleys frühes Buch: The Physiology and Pathology of Mind. London: Macmillan 1867. Siehe Freud, Briefe an Wilhelm Fliess (wie Anm. 1), S. 354, Anm. 1. Ebd. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten: Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker 1869.

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so benehmen, als läge mir nur das Psychologische vor. Warum das nicht zusammengeht, ahne ich noch gar nicht.13

Macht gerade das Studium von Lipps den Schritt der Emanzipation des Psychischen vom Organischen möglich, die Aufgabe der »organischen Grundlage«, die die Entstehung der psychoanalytischen Theorie ermöglicht? Freuds vorsichtige, noch ahnungslose Aufgabe der physischen Grundlage schiebt sich chronologisch zwischen die Briefe über seine Lektüre von Lipps ein – dem Hinweis auf eine mögliche theoretische Verwandtschaft und der Frage: »Wer Lipps ist?« Der dieser Spekulation einer Aufgabe der organischen Grundlage der Psychologie vorangehende Satz, »Ich wollte, Du hieltest weniger von meiner Meisterschaft und ich hätte Dich in der Nähe, um Deine Kritik öfter zu hören«, deutet bereits an, dass gerade das Gegenteil der Fall sein könnte.14 Denn implizit hat Freud bereits Fließ’ Spekulationen über biologische Rhythmen, den Fluss der Körpersäfte und neurologische Betrachtungen zugunsten einer eigenständigen metapsychologischen Wissenschaft aufgegeben. Freud tat daher vielleicht gut daran, Lipps in seiner folgenden Korrespondenz mit Fließ nicht mehr zu erwähnen. Aber gerade in dem Jahr, in dem Freud Lipps entdeckte und bereit war, sich von der »organischen Grundlage« zwecks des Entwurfes einer Metapsychologie zu lösen, mittels der Selbstanalyse seinem eigenen Unbewussten auf der Spur war, veröffentlichte der Münchner Professor ein neues Buch, Komik und Humor.15 Lipps publizierte Vorarbeiten zu diesem Buch in den achtziger Jahren als eine »Psychologie der Komik« in den Philosophischen Monatsheften,16 und Lipps merkt dann in seinem Vorwort zu Komik und Humor an, Gustav Heymans’ Aufsatz »Ästhetische Untersuchungen in Anschluß an die Lipps’sche Theorie des Komischen«, der 1896 in zwei Teilen in der führenden (und von Lipps mit herausgegebenen) Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane erschien,17 bei der Revision seiner Arbeit in Buchform beachtet zu haben. Freud kannte und berief sich später ebenfalls auf Heymans, dessen Arbeit Lipps kaum korrigieren, sondern eher zu bestätigen suchte. Freuds Beschäftigung mit Lipps, die in seiner Korrespondenz mit Fließ so deutlich dokumentiert wird, zeigt sich in seinem wissenschaftlichen Werk mit einiger Verzögerung. So zitiert Freud Lipps im siebten Kapitel seiner Traumdeutung, die er Ende 1899 veröffentlichte und an der er zur Zeit seiner ersten 13 14 15 16 17

Freud an Fließ, Brief vom 22. September 1898. In: Freud, Briefe an Wilhelm Fliess (wie Anm. 1), S. 357. Ebd. Theodor Lipps: Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung. Hamburg: Voss 1898. Theodor Lipps: Psychologie der Komik. In: Philosophische Monatshefte XXIV (1888), S. 385-422 und XXV (1889), S. 28-50, 129-160, 284-307, 408-432. Gustav Heymans: Ästhetische Untersuchungen im Anschluß an die Lipps’sche Theorie des Komischen. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane XI (1896), S. 31-43 und 333-352.

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Lektüre des scheinbar so verwandten Autors arbeitete.18 Freud sieht in Lipps den Wissenschaftler, der wie er im Unbewussten die eigentliche psychische Realität sieht. Aber ebenso wie der Tod des Vaters einen Anlass für Freuds Selbstanalyse und daher auch für das Werk der Traumdeutung geben mochte, d.h. der abwesende Vater das Werk über den Traum motiviert, so ist auch der neue, wissenschaftliche Vater, der Münchner Professor Lipps, im Traumbuch anwesend und abwesend zugleich. Denn im Index der frühen Ausgaben der Traumdeutung erscheint Lipps’ Name nicht. Er wird einfach übersehen. Erst 1905 erwähnt Freud Lipps wieder in aller Deutlichkeit, gerade in dem gleichen Jahr, in dem er einen anderen Namen gleichsam neu prägt und aus der Schublade hervorholt: den Namen Doras in der verzögerten Veröffentlichung der Studien zur Hysterie.19 In diesem Jahr greift Freud seine Überlegungen zum Witz wieder auf, dem er bereits Passagen seines Traumbuches widmete, und den er nun deutlicher mit dem Traum vergleichen will. Freud widmete ihm jetzt eine eigene Studie: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Nach seiner Veröffentlichung des Buches zum Witz blieben Verweise zu Lipps bei Freud wiederum eine Zeit lang aus, selbst in seinem Aufsatz zum Unbewußten von 1915 wird Lipps nicht erwähnt, stattdessen auf Kant hingewiesen, nämlich auf dessen These, dass die Welt nicht vollkommen bekannt sein kann. Aber in seinem Spätwerk, dem Abriss der Psychoanalyse und Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis, beide posthum erschienen, wird Lipps noch einmal zitiert, gerade als Freud nicht nur auf die Trennung zwischen Bewusstem und Unbewusstem, sondern auch auf den unterschiedlichen Ausgangspunkten neurologischer und psychoanalytischer Annahmen besteht.20

II. Kunst und Witz Hysterie und Traum begegnen sich 1905 also nochmals unter dem Zeichen des Witzes und im Kontext der Lektüre von Lipps. Freud erwähnt diesen nun gleich in der »Einleitung« zu seinem Buch und setzt in einer Fußnote hinzu, welche Bedeutung das Werk Komik und Humor für ihn haben sollte: »Ein Buch, dem ich den Mut und die Möglichkeit verdanke, diesen Versuch zu 18

19

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Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1899/1900). In: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet II-III. Hg. von Anna Freud et al. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 228f. Zu dieser Fallstudie Freuds siehe Liliane Weissberg: Dora geht. Überschreitung des Hysterieparadigmas. In: Gender Revisited. Subjekt- und Politikbegriffe in Kultur und Medien. Hg. von Katharina Baisch, Ines Kappert, Marianne Schuller, Elisabeth Strowick und Ortrud Gutjahr. Stuttgart: J. B. Metzler 2002, S. 269-288. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse (1940). In: ders., Gesammelte Werke XVII, S. 63-138 und ders.: Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis (1940). In: ders., Gesammelte Werke XVII, S. 139-147.

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unternehmen«.21 Damit reiht sich Freud in die Gruppe der Bewunderer von Lipps’ Werk ein, denn bereits Heymans begann seine Arbeit mit der folgenden deutlichen und wenig bescheidenen Feststellung: Vor einigen Jahren hat Lipps eine Hypothese über Ursprung und Wesen der komischen Lust aufgestellt, welche meiner Ansicht nach als die endliche und definitive Lösung des alten Problemes anerkannt und als eine der wertvollsten Bereicherungen, welche Psychologie und Ästhetik in den letzten Jahrzehnten aufzuweisen haben, begrüßt zu werden verdient.22

Was konnte allerdings an einer definitiven Lösung eines Problems noch verbessert werden? Heymans akzeptierte das Konzept von Lipps enthusiastisch, doch wollte er es auch gleich umkehren, auf den Kopf stellen, ganz im Sinne des Witzes selbst. Denn der Effekt, die Wirkung eines Witzes hatte nach Heymans zwar die gleichen Gründe, die Lipps zu beweisen suchte, »Verblüffung und Erleuchtung«,23 jedoch in anderer Folge. Heymans’ Interesse galt vor allem der Ästhetik und in seiner Arbeit wollte er auch weitere Beispiele aus der Literatur bieten. Lipps wiederum hatte gerade einen Begriff aus der Ästhetik übernommen und diesen für die Psychologie neubestimmt. Er entwarf ein psychologisches Konzept der »Einfühlung«. Wie George W. Pigman nachweist, wurde der Begriff der »Einfühlung« oder des sich »Einfühlens« zwar gelegentlich im achtzehnten Jahrhundert gebraucht, unter anderem von Johann Gottfried Herder, aber im Kontext des »Anderen«, immer hinsichtlich anderer Orte, Zeiten und Völker. Als Stichwort galt: »fühle dich in alles hinein!«24 Als genau bezeichneter Begriff erscheint »Einfühlung« aber zuerst bei Robert Vischer in seinem Aufsatz Über das optische Formgefühl: Ein Beitrag zur Ästhetik (1873).25 Vischer war der Sohn des bekannten Autors Friedrich Theodor Vischer, der bereits 1846-57 eine Studie zur Ästhetik vorgelegt hatte, die besonders auch für die Theorie des Realismus entscheidend war.26 Robert Vischer wählte Karl Albert Scherners Entdeckungen auf dem Gebiete der Seele. Das Leben des Traums von 1861,27 ein Buch, das Freud ebenfalls in seiner Traumdeutung zitiert,28 um in einer Auseinander21 22 23 24 25 26 27 28

Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. In: ders., Gesammelte Werke VI, S. 5. Heymans, Ästhetische Untersuchungen (wie Anm. 17), S. 31. Das sechste Kapitel von Lipps’ Komik und Humor enthält den Abschnitt ›Verblüffung und Erleuchtung‹ beim Witz. George W. Pigman: Freud and the History of Empathy. In: International Journal of Psycho-Analysis 76 (1995), S. 237-256, hier S. 238. Robert Vischer: Ueber das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik. Leipzig: Credner 1873. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik, oder Wissenschaft des Schönen. 3 Bde. Leipzig: Reuttlingen 1849-1854. Karl Albert Scherner: Entdeckungen auf dem Gebiete der Seele. Das Leben des Traumes. Berlin: Schindler 1861. Siehe zum Beispiel Freud, Die Traumdeutung (wie Anm. 18), S. 39f., 87-89, etc.

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setzung mit den dort dargestellten Thesen ein Konzept einer symbolischen Repräsentation zu entwickeln. »Einfühlung« für Vischer ist die Beziehung des menschlichen Subjekts mit dem Objekt der Natur im Prozess der symbolischen Gestaltung. Anders als Herders Begriff eines »Hineinfühlens« ist der nun spezifisch geprägte Terminus der »Einfühlung« bei Vischer nicht anthropologisch zu verstehen. Man fühlte sich in ein Objekt ein, nicht in einen anderen Menschen. Darüber hinaus konnte durch die »Einfühlung« nicht allgemein das Fremde, sondern gerade ein Kunstwerk verständlich gemacht werden. »Einfühlung« war dabei eine symbolisierende Aktivität, die einer »pantheistischen« Vereinigung mit der Welt« gleichkam.29 Mehrere Autoren von Schriften zur Ästhetik nahmen Vischers Begriff der »Einfühlung« auf, doch gerade bei Lipps erhielt er eine entscheidende Uminterpretation. Lipps betrachtete die Ästhetik als keine eigenständige Disziplin, sondern als ein Gebiet der Psychologie. Lipps benutzte den Begriff nun nicht allein hinsichtlich eines Objekts, das einer Einfühlung bedurfte, sondern auch in Bezug auf den Menschen selbst. Und so wurde Lipps zu einem führenden Vertreter einer Theorie der Einfühlung, die sich nicht nur in seinen Studien zur psychologischen Ästhetik fand, sondern auch in seinen anderen psychologischen Werken. Hierbei hatte Lipps nichts mit dem Pantheismus im Sinn, auf den noch Vischer verwies. Die Konzentration auf »Einfühlung« sollte vielmehr die Grundlage der Psychologie wie auch der Soziologie bilden, weil es die Kenntnis des anderen überhaupt ermögliche. In seiner Studie Das Wissen vom fremden Ich aus dem Jahre 1907 etwa unterschied Lipps gleich vier verschiedene Arten von »Einfühlung«, die unser Verständnis von Dingen wie Menschen prägen.30 Es ist unklar, ob Freud diese späte Kategorisierung des Begriffes der »Einfühlung« durch Lipps kannte, aber bereits 1905 erwähnt auch Freud den Begriff der Einfühlung in Anführungszeichen und damit als besonders gekennzeichneten, technischen Begriff. Bei Freud wird er dabei zu einem Terminus, der eine Beziehung der Menschen untereinander betrifft und nicht die Beziehung von Mensch und Objekt. Freud übernimmt und radikalisiert daher die von Lipps angeregte Übertragung von Ästhetik zur Psychologie. Gleich achtmal erscheint der Begriff der »Einfühlung« in Freuds Studie zum Witz und seiner Beziehung zum Unbewußten31 und damit öfter als in jedem anderen seiner Werke. Während Freud also Lipps’ Diskussion des Unbewussten begrüßte, schien er eigentlich von einem anderen Lippschen Begriff beeinflusst. Und Freud gebrauchte Lipps’ Begriff der »Einfühlung«, obwohl er gerade hierbei nicht auf Lipps verwies. Tatsächlich scheint sogar Freuds bibliographi29 30

31

Siehe Pigman, Freud and the History of Empathy (wie Anm. 24), S. 241. Theodor Lipps: Das Wissen vom fremden Ich. In: ders. (Hg.): Psychologische Untersuchungen 1. Leipzig: Engelmann 1907, S. 694–722. Siehe auch Gustav Jahoda: Theodor Lipps and the Shift from ›Sympathy‹ to ›Empathy‹. In: Journal of the History of the Behavioural Sciences 4 (2005), S. 151-163. Pigman, Freud and the History of Empathy (wie Anm. 24), S. 243.

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sche Referenz ein wenig in die Irre zu verweisen. Denn in seinem Buch zum Witz zitiert Freud Lipps’ Komik und Humor, doch übernahm er den Begriff der »Einfühlung« aus Lipps’ anderen Schriften, denn gerade in Komik und Humor verwendet Lipps diesen Begriff nicht. Übertraf Freud im Witzbuch daher Lipps mit Lippscher Theorie? Oder war seine Schrift ein besonderes Beispiel der »Einfühlung«?

III. Mut und Möglichkeit Obwohl Freuds Konzept der »Einfühlung« sich auf die Beziehung zwischen Menschen und nicht auf Objekte bezog, und obwohl sein Konzept des Unbewussten sich von dem Lipps’ unterschied – Freud differenzierte bald genauer zwischen dem Unbewussten und Vorbewussten und war als Kliniker fähig, detailliert von psychischen Prozessen zu sprechen –, berief er sich immer wieder positiv und anerkennend auf Lipps. Dieser wiederum hatte Freud wohl erst spät und sicherlich kaum ausführlich wahrgenommen.32 Nicht weniger als neun Bücher dieses Autors befanden sich in seinem Besitz: Neben den Grundtatsachen des Seelenlebens und Komik und Humor die Psychologischen Studien (1885), Der Streit über die Tragödie (1891), Ästhetische Faktoren der Raumanschauung (1891), Grundzüge der Logik (1893), Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen (1897), Einheiten und Relationen. Eine Skizze zur Psychologie der Apperzeption (1897) und Vom Fühlen, Wollen und Denken. Eine psychologische Skizze (1902) – keines von Lipps späteren Büchern zur Ästhetik und anderen Themen allerdings, die er noch bis 1913 publizierte. Lipps starb 1914. Keinem Buch zollte Freud aber die Anerkennung von Komik und Humor, denn in seinem Buch zum Witz erscheint Lipps zunächst als ein Autor unter anderem neben Kuno Fischer (dessen Werk Über den Witz 1889 erschien) oder Theodor Vischer, der ebenfalls eine ästhetische Theorie des Witzes entwarf. Aber die erste Fußnote in Freuds »Einleitung« erzählt bereits eine andere Geschichte. Lipps’ Buch zu Komik und Humor, schreibt Freud, sei »[e]in Buch, dem ich den Mut und die Möglichkeit verdanke, diesen Versuch zu unternehmen«.33 Lipps ist hier also nicht der mehr oder weniger zufällig gefundene intellektuelle Verwandte oder Theoretiker eines bestimmten psychologischen Begriffs. Er bereitete Freud den Weg, indem er ihm die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Diskussion eröffnete und gleichzeitig Freud einfühlsam zu sich selbst kommen ließ. Wie ein guter Psychoanalytiker blieb Lipps im Hintergrund, aber er machte Freud Mut und schuf ihm Optionen. Dabei war nicht nur Lipps Insistenz auf ein für die Psychologie grundlegendes Konzept des Unbewussten entscheidend, sondern auch die auf die Bedeutung der Künste und der Ästhetik. Diese war für ihn kein Gebiet für die psy32 33

Siehe ebd., S. 241, Anm. 6. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (wie Anm. 21), S. 5.

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chologische Untersuchung, kein philosophischer Zweig, dem einfach für die Psychologie große Bedeutung zukam, sie war Psychologie und somit von dieser nicht zu trennen. Eine deutlichere Berechtigung, sich auch der Literatur zu widmen, sich lesend einer Lösung psychischer Probleme zu nähern, konnte Freud kaum finden. »Eine ästhetische Untersuchung ist immer psychologisch«, bemerkt Lipps schon in dem Vorwort zu seinem Buch und rechtfertigt damit das Thema für seine wissenschaftliche Untersuchung.34 Hinsichtlich des Witzes versucht Freud sein Anliegen eher durch die mangelnde Anzahl ernsthafter Studien zu begründen, sowohl in der Ästhetik wie auch der Psychologie.35 Bei Lipps ist das Thema jedoch weiter gefasst; der Witz wird innerhalb eines breiten Spektrums der Komik untersucht. Freud hingegen will zwischen Witz und Komik unterscheiden. Aber da Lipps sich auf das handelnde, erzählende Ich und den Hörer konzentriert, beschreibt er, wie bereits erwähnt, die »Verblüffung und Erleuchtung« als für den Witz entscheidend; er prägt darüber hinaus das Konzept einer »psychischen Stauung«,36 das Freud übernehmen soll. Während »Verblüffung und Erleuchtung« auf die Reaktion des Witze Hörenden verweisen, fügt sich das Konzept der psychischen Energie und die damit verbundene mögliche »psychische Stauung« in Freuds Überlegungen zum Motiv des Witzes ein. Auch Lipps bezieht den Witz auf eine Art Ökonomie der Lust. Offen bleibt dabei nach Freud, was den Witz selbst als einen Witz erscheinen lässt, also die Technik des Witzes – und dieser glaubt Freud nun durch seiner Erfahrung der Traumdeutung nähergekommen zu sein. Traum und Witz, so legt Freud nahe, operieren mit ähnlichen Mitteln. Der Witz löst nicht nur Gelächter aus, er arbeitet ganz wie der Traum. Und Arbeit, so wissen wir bereits, ist ernst zu nehmen. Um jedoch zu zeigen, wie ein Witz operiert, erzählt Freud nicht einfach Witze. Er wiederholt sie, zitiert sie aus der von ihm zitierten Sekundärliteratur und darüber hinaus oft mehrfach in seinem Text. So gibt Freud schon im frühen Kapitel über »Die Technik des Witzes« eine Geschichte aus Heinrich Heines Reisebildern wieder, nämlich den Bädern von Lucca.37 Dies ist der erste der vielen Witze, die Freud in seinem Buch erzählt. In den Bädern von Lucca »führt H. Heine die köstliche Gestalt des Lotteriekollektors und Hühneraugenoperateurs Hirsch-Hyacinth aus Hamburg auf«, schreibt Freud, »der sich gegen den Dichter seiner Beziehungen zum reichen Baron Rothschild rühmt und zuletzt sagt: Und so wahr mir Gott alles Gute geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär«.38 34 35 36 37 38

Lipps, Komik und Humor (wie Anm. 15), S. 2. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (wie Anm. 21), S. 5f. Lipps, Komik und Humor (wie Anm. 15), S. 228. Heinrich Heines »Die Bäder von Lucca« sind im dritten Teil der Reisebilder (18261831) enthalten. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (wie Anm. 21), S. 14.

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Offensichtlich genügt es Freud nicht, diesen Witz aus einer literarischen Quelle, den Reisebildern, zu zitieren. Er muss arbeiten, und das heißt hier zuerst, seine eigene Reise zu vollbringen. Heines Witz ist ebenso Beispiel und findet sich bei Lipps hinsichtlich seiner Erläuterung zu »Verblüffung und Erleuchtung« wieder. Dazu muss angemerkt werden, dass Lipps in seinem Buch zu Komik und Humor sich vor allem mit der bereits erschienen Sekundärliteratur zum Thema auseinandersetzt, eine eigene Theorie entwickelt und keine Witze einfach wiedergibt – Lipps referiert nur bisweilen auf sie und nimmt sie als bereits bekannt an. Sein Leser nimmt nicht an einer Unterhaltung teil, sondern ist Teilhaber eines gemeinsamen Bildungsguts. So zeigt sich Heines Geschichte bei ihm in dem Kapitel über »Die subjektive Komik oder der Witz« folgendermaßen: Die beiden hier unterschiedlichen Momente [nämlich, daß eine Aussage einen Sinn erhält, den sie nicht haben kann und daher dann gleichzeitig verliert, und daß zweitens ein Wort keine logische Kraft hat, aber durch eine Verwandlung und Klangähnlichkeit eine solche erhält] können auch jedes für sich die Komik des Witzes begründen. Wenn Heine von jemand sagt, er sei von einem bekannten Börsenbaron recht »famillionär« aufgenommen worden, so beruht die Komik dieses Witzes lediglich auf dem ersten jener beiden Momente. Ein Wort wie »famillionär« giebt es nicht. Wir lassen uns aber den malitiösen Sinn, den es in dem speciellen Falle hat, gefallen; wir verstehen, was Heine sagen will, die Aufnahme sei eine familiäre gewesen, nämlich von der bekannten Art, die durch den Beigeschmack des Millionärtums an Annehmlichkeit nicht zu gewinnen pflect. Dazu kommt uns doch wiederum die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit des Wortes zum deutlichen Bewusstsein.39

Im Kapitel zur »witzigen Begriffsbeziehung« taucht Heines Witz dann wieder auf, im Kontext einer »karikierenden Abart« von »sprachlich unmöglichen Wortverschmelzungen« wie »Famillionär, Unterleibnizianer, Revolutionärrisch, etc«.40 Die Diskussion um eine Theorie des Witzes nach Lipps bleibt beim gleichen Repertoire; »Verblüffung und Erleuchtung« sind offensichtlich nur hinsichtlich der Theorie gefragt, nicht hinsichtlich des Witzes selbst. Auch Heymans bezieht sich in seinen Anmerkungen zu Lipps daher auf den Heineschen Witz, er referiert auf das Zitat als Beispiel einer »fehlerhaften Wortbildung«, um dann seine eigene Korrektur der Lippschen Theorie zu liefern: Der Unterschied zwischen [Lipps’] Auffassung und der meinigen besteht also darin, daß nach ihm das spannende Moment im Verstehen, das entspannende im nachfolgenden Sichbesinnen auf die Bedeutungslosigkeit der Äußerung oder Handlung liegt, während ich das anfängliche Nichtverstehen für den Grund der Spannung, das nachfolgende Verstehen aber für denjenigen der Entspannung ansehe.41

39 40

41

Lipps, Komik und Humor (wie Anm. 15), S. 75. Siehe auch Lipps, Psychologie der Komik (wie Anm. 16), S. 296. Auch Heymans nimmt das Heinesche Beispiel wieder auf, siehe zum Beispiel Heymans, Ästhetische Untersuchungen (wie Anm. 17), S. 36. Heymans, Ästhetische Untersuchungen (wie Anm. 17), S. 37.

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Dies wird wiederum in der Buchfassung von Lipps’ Theorie zur Komik aufgegriffen, in dem er seine in den Zeitschriftartikeln formulierten Thesen weiterhin kommentiert: Heymans wählt, um seine Meinung zu illustrieren, unter anderen das Beispiel des Heine’schen »famillionär«. Er meint, dasselbe erscheine zunächst einfach als eine fehlerhafte Wortbildung, als etwas Unverständliches, Unbegreifliches, Rätselhaftes. Dadurch verblüffe es. Die Komik ergebe sich aus der Lösung der Verblüffung. Diese bestehe im Verständnis. Der Prozess der Komik stelle sich also hier nicht, wie es meiner Theorie zufolge sein müsste, dar als ein Übergang vom Verstehen zum Nichtmehrverstehen, oder zum Eindruck der Sinnlosigkeit, sondern vollziehe sich auf dem umgekehrten Weg. [...] Das in einen sinnvollen Zusammenhang hineintretende sprachwidrige Wort verblüfft als solches. Zugestanden. Aber das Wort »famillionär« verblüfft ausserdem als dies scheinbar oder in dem Zusammenhang, in dem es auftritt, wirklich sinnvolle, sogar ausserordentlich sinnvolle Wort. Dies zweite Stadium der Verblüffung hebt Heymans nicht heraus. Statt dessen können wir ebensowohl sagen, Heymans hebe das erste Stadium des Verständnisses oder Erleuchtung nicht heraus. Ich vereinige beides, indem ich sage, bei Heymans bleibe das mittlere Stadium des ganzen Prozesses, das verblüffende Verständnis oder die Verblüffung auf Grund eines Verständnisses unbeachtet oder werde nicht in seiner Bedeutung gewürdigt. Dies ist aber eben der für die Komik entscheidende Punkt. Das Wort »famillionär« bezeichnet, und zwar vermöge seiner Fehlerhaftigkeit in besonders eindrucksvoller Weise, die Familiärität des »famillionären« Börsenbarons als die eines aufgeblasenen Millionärs. Niemand kann zweifeln, dass Heine’s Witz witzig ist, nur darum, weil wir einsehen, oder »verstehen«, das Wort solle diese Bedeutung haben, oder genauer, weil diese Bedeutung in unseren Augen für einen Moment thatsächlich hat. Und ebenso gewiss ist Heine’s Witz nur witzig, weil dies Verständnis verblüffend ist, d. h. weil das fehlerhafte Wort, vermöge dieser seiner einschneidenden Bedeutung, die Aufmerksamkeit zu spannen vermag. Dann erst folgt die Lösung. Auch sie besteht in einem Verständnis. Aber, in einem Verständnis zweiter Stufe.42

Wenn Freud nun erneut auf Heines Witz verweist, so erzählt er ihn nicht nur zum ersten Mal wirklich einem Leser, sondern folgt gewissermaßen einer weiteren »Stufe« des Verständnisses. Er löst die verblüffenden Teile des Wortes »famillionär« wieder auf und weist gleichzeitig auf deren Zusammenführung im Sinne einer Witzarbeit oder Witztechnik hin: Abgesehen von solcher zusammendrängenden Kraft, die uns ja unbekannt ist, dürfen wir den Hergang der Witzbildung, also die Witztechnik dieses Falles, beschreiben als eine Verdichtung mit Ersatzbildung, und zwar besteht in unserem Beispiel die Ersatzbildung in der Herstellung eines Mischwortes.43

Doch während das neue Mischwort an sich nach Freud »unverständlich« ist und wiederum vom Hörer des Witzes in seinen Teilen verstanden werden 42 43

Lipps, Komik und Humor (wie Anm. 15), S. 81f. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (wie Anm. 21), S. 85.

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Liliane Weissberg

muss, so ist die zusammendrängende Kraft, die Freud erwähnt, dem Leser keineswegs »unbekannt«. Denn die Technik der Verdichtung wurde von Freud ja bereits in der Traumdeutung erläutert, zu der sein Buch vom Witz eine Art begleitendes Werk darstellt, und jedem Leser der jüngsten Schriften über den Witz ist Heines Formulierung ebenfalls bekannt. Wenn Lipps die Erzählung von Witzen aufgibt, da sie seinem Leser ohnehin bekannt sein müssten, so erzählt sie Freud zwar, aber in konstanter Wiederholung. Er bezieht sie aus der Literatur, aus der Sekundärliteratur, und schließlich, wiederholt wiederholend, aus seinem eigenen Werk. Damit erreicht der konkrete Witz nicht nur die Ernsthaftigkeit wissenschaftlicher Evidenz, sondern mutiert zu einer Art Beweis des Prozesses einer Bewusstwerdung selbst, bei dem das Werk von Lipps beispielsweise Freud nicht nur verwandt erscheint, da er dem Unbewussten große Bedeutung zuspricht, sondern auch, weil es als eine Art Unbewusstes fungiert. Dieses Unbewusste muss von Freud, Witze erzählend, zur Sprache gebracht werden: »Der Sucher fand oft mehr als er zu finden wünschte!« zitierte Freud mehrmals in seinem Brief an Fließ.44 Das Werk von Lipps scheint Freud daher nicht nur das bereits Bekannte zu bieten und damit das, woran er selbst schon arbeitete und dachte und das er allerdings noch nicht ausformuliert hatte. Es konnte Freud auch das noch Ungesagte offerieren, das, was Freud selbst erst zur Sprache und zum Wort bringen wollte. Es war somit ein ökonomischer Mehrwert, der ihm gerade deshalb Mut und Möglichkeit versprach. Lipps war der Rothschild für den neuen Heine. Für Freud zeigte sich deshalb das Lippsche Werk als genau das, was ihm nicht nur die Witztechnik, sondern auch seine Skizze der Beziehung von Unbewusstem und Bewusstem versprach: Es war famillionär.

44

Freud an Fliess, Brief vom 31. August 1898. In: Freud, Briefe an Wilhelm Fliess (wie Anm. 1), S. 356. Freud zitierte dieses leicht abgeänderte Zitat von Corneille (Le Menteur IV,i: »Man findet häufig mehr, als man zu finden glaubt«) auch in einem früheren Brief an Fließ vom 27. September 1893, gerade im Zusammenhang mit der Fließschen Theorie der Beziehung von Sexualität und Nasenbefund, siehe ebd., S. 54.

Mark H. Gelber

The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism: An »Umlaut« over the »Vav«

Among several other problematical areas of concern, the complicated, if not conflicted, relationship of German Cultural Zionism to Hebrew language and literature is a topic deserving of serious scholarly analysis. Towards the end of the 19th century a dynamic German-language literary and cultural movement flourished within the boundaries of Jewish nationalism in the centers of Vienna and Berlin, and elsewhere in Europe.1 This movement, sometimes referred to as the modern Jewish Renaissance (or one of the early stages of it), has been considered to be an important aspect of Cultural Zionism in general, although its literary and artistic products were regularly received beyond Zionism throughout Central Europe and sometimes in various circles which were unrelated to Jewish national expression. A diverse group of talented poets – both Jewish and non-Jewish – who wrote in German were drawn to this movement, or they were appropriated by it and included in its various literary and cultural projects. Several of the figures who played prominent roles in establishing its reputation eventually became quite well known either within or beyond the purview of Jewish literary and cultural history. In this context, one could name the following: Martin Buber, Else Lasker-Schüler, Karl Wolfskehl, Richard Beer-Hofmann, Nathan Birnbaum, Samuel Lublinski, Franz Servaes, Efraim Frisch, Georg Hermann, Börries von Münchhausen, Stefan Zweig, and others. Not all of these figures are normally categorized within a Jewish national framework, but they all could be included within one, at least partially or for a certain period of time at certain stages of their careers. At the same time that it fostered the production, publication, and dissemination of German-language poetry and literature as an important dimension of the modern Jewish Renaissance, German Cultural Zionism formulated a sophisticated, but questionable, Jewish-national poetics, which provided rather broadly conceived categories of inclusion, enabling the appropriation of a very diverse literary production by Jewish and non-Jewish authors in this Jewish national cultural enterprise in German (or in German translation). From the start, though, German Cultural Zionism paid deep respect to Hebrew letters, mostly attributing explicit linguistic primacy to it. This aspect of German Cultural Zionism requires serious analysis, in terms of the competing claims dif1

See Mark H. Gelber: Melancholy Pride. Nation, Race and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen: Niemeyer 2000 (Conditio Judaica; 23).

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Mark H. Gelber

ferent linguistic media may have on national ideologies and within nationalist cultural politics. This language issue is especially acute in the case of Jewish nationalism, since the case for nationhood in the 19th century was normally predicated on either basic linguistic commonality, that is, a shared linguistic medium or lingua franca of the nation (a national language) or mass geographical concentration or contiguity, or both. Regarding a shared linguistic medium, one might cite the well-known, simple, or simplistic, nationalistic formulation: »Wer Deutsch spricht,…soll Deutscher sein [deutscher Nation.]« However, it could not be cogently argued that the Jewish nation manifested fundamental linguistic commonality or that it exhibited mass geographical concentration, except possibly in a virtual sense. The consequence was that the immediate ideological or political case for Jewish nationalism had to be predicated on non-linguistic and non-territorial criteria, while the basically flawed or lacking linguistic and territorial situations were being remedied simultaneously in very practical ways by facets of Jewish nationalism, that is, political or practical Zionism, on one hand, and Jewish cultural movements, like Cultural Zionism, on the other. Thus, at the same time that the particular argument was being devised and advanced, that is, in the very process of constructing Jewish national identity, with only various degrees of apparent success (actually in the initial period with a fairly poor record of success), efforts to secure or recover a territorial center for the Jewish masses and to relocate there, as well as to revive and institutionalize a Jewish national language, namely Hebrew, and anchor the revived national language in the newly recovered territorial center, would serve to advance the case and contribute to the ongoing construction of a national identity. There has been virtually no scholarship pertaining to the accommodation of Hebrew by German Cultural Zionism’s nationalist poetics. In fact, by attributing theoretically or polemically a certain priority or hegemony to Hebrew over German (or other non-Jewish languages) in explicit terms, the idea was fostered that the authentic Jewish »Geist« was embodied and conveyed in an unadulterated form in this one Jewish language or only in Jewish languages in general. In any case, by granting this status to Hebrew, German Cultural Zionism paradoxically undermined the legitimacy of its own claims to Jewish national authenticity, that is the very claims of the possibility and durability of Jewish national literature in German. Thus, German Cultural Zionism could at best only function as a tentative and transitional stage in Jewish-national life, while it paved the way for the ascendancy of Hebraic Cultural Zionism, an ostensibly more authentic form of Jewish culture. There are of course numerous theoretical and practical ramifications which derive from this basic orientation, which I have simplified for the purpose of this paper. For example the implicit theoretical guidelines by which modern Hebrew writers and certain Hebrew texts were chosen for translation into German for inclusion in the major, sensational anthologies, which spearheaded

The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism

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German Cultural Zionism as a movement in its own right and constituted its formative canon from the point of view of book history, need to be specified and analyzed. The practical guidelines for inclusion of modern Hebrew literature within German Cultural Zionism, translated into German in the same literary magazines, newspapers, and anthologies which included the Germanlanguage literature of German Cultural Zionism, need to be mapped and explicated. More importantly, the theoretical principles underlying the German language translations of these Hebrew texts require scholarly attention and analysis, because they are ideologically tinged in order to make them suitable for their contextualization in Jewish-national German language periodicals and other publications. The manner and rhetoric in which German Cultural Zionism stimulated interest in Hebrew language and Hebrew language learning, especially by promoting an extensive review literature of Hebrew grammars and primers, or by reporting regularly in its German language press on the activities of Hebrew language clubs and literary circles which met in Central European cities, are also worthy of scholarly attention. Perhaps most elusive, and therefore most deserving of serious analysis, is the way in which the prosody of German language, Jewish-national verse adapted or integrated elements derived from the Hebraic poetics of the modern Hebrew Renaissance. All of these issues deserve scholarly attention, and one of the goals of this short introduction to this topic is to encourage studies along these lines in the future. In the following, it will suffice to classify the various possibilities or options for Hebrew or Hebraic poetry to come to expression in the German language poetical corpus of German Cultural Zionism. There are at least three or four categories which pertain to the process of negotiating an exchange with Hebrew in this Germanic literature. The first is fairly straightforward or even mechanical; it is the plain integration of transliterated Hebrew lexical items or well-known phrases into the German Lieder of Cultural Zionism. A good example may be found in one of the early precursors or harbingers of German Cultural Zionism: Börries von Münchhausen’s Juda, illustrated by the Galician-born Jugendstil artist Ephraim Moses Lilien.2 Owing to the wildly enthusiastic Zionist reception of this slim volume, this collection of Biblical ballads has come to be viewed in retrospect as a core text of German Cultural Zionism. Münchhausen, the North German aristocratic poet, who attempted at the end of the 19th century to revive the ballad as the quintessential Germanic form of contemporary poetic expression, has largely been forgotten today, and his subsequent career, especially his role in the ugly and anti-Semitically charged Expressionism debate in the 1920s and his prominence in the cultural life of the Third Reich (as well as his suicide right before the capitulation of Nazi Germany), cannot be discussed in this context. 2

In: Börries von Münchhausen: Juda. Gesänge. Goslar: Lattmann 1900.

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In Münchhausen’s poem »Rahab, die Jerichonitin,« a largely imaginative poetic recreation of scenes and incidents found in the Biblical book of Joshua concerning the siege and fall of Jericho, an Hebraic line is integrated seamlessly into the fabric of the German text, owing to its prosodic qualities, which match the German language lines, and to the fact that it fits neatly the rhyme scheme of the German strophe: Da wankten Mauer und Türme Jericho neigte sich IHM, Und die Posaunen brüllten: »Kolenu schema, elohim!«

As a matter of fact, this Hebrew line is repeated elsewhere in the poem, but it falls short of becoming a refrain of sorts. It is significant that the line is glossed – »Herr, hilf uns!« (see fig. 1), even if the glossing is inaccurate and problematical in its own right. To some extent, this example may remind a reader of a similar technique, which was employed by Heinrich Heine in his late poetry, for instance in »Prinzessin Sabbat« from the »Hebräische Melodien« of »Romanzero.« There, Heine integrated the famous refrain of the Sabbath eve hymn, »Lecho Daudi Likras Kalle!«, into the poem; it similarly occupies the space of a line and it is also repeated. But, unlike in Münchhausen’s poem, in Heine’s the Hebrew phrase is explicated within the poem – not glossed outside of it; Heine attempts to translate the Hebrew line as follows: »Komm, Geliebter, deiner harret / Schon die Braut, die dir entschleiert….« Certainly, the issue of internal explication by means of paraphrase versus external glossing is of importance, less so to my mind from the point of view of the implied reader than from the point of view of aesthetics and composition in general. Still, regarding the specific cultural-political agenda of Cultural Zionism, it is the projected authenticity of the Hebraic formula which is probably decisive, since it purports to establish a direct connection to the Hebrew language of the Book of Joshua and to the original language of the conquest or acquisition of the land – which comes to occupy a place of central importance in the Zionist political agenda. The Biblical linkage appears to me to be merely suggestive, since the Hebraic line of Münchhausen’s poem – »Kolenu schema, elohim« – is not a quotation from the Book of Joshua. Most probably, it derives from a line in the relatively well-known Jewish prayer, the »Shemona Esray,« (the prayer of 18 benedictions) found commonly in the Siddur, but it is also found in a different context in the Yom Kippur Makhzor: »Schema Kolenu.« In this context, it forges a link to, or derives synergistic energy from, the religiousspiritual connection to the tradition of Jewish prayer, either in the daily prayer service or in the special prayers uttered on the Jewish high holidays. The line formulates a plea to the divine being to listen to and accept the collective voice of prayer and to show mercy at a crucial moment in the Jewish annual cycle of prayer and renewal. How Münchhausen accessed this wording in the first place

The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism

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and why or how he mistranslated it as »Herr, hilf uns« are fascinating aspects of the history of Hebrew-German linguistic relations, but the answers to these questions lie somewhat beyond the purview of this presentation.

fig. 1

An intimate rhetorical connection with the land, that is, with Zion, the land of Israel, is a second category which pertains to the issue of Hebraic poetics in German Cultural Zionism, and this aspect seems to me to be the case even

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Mark H. Gelber

when no specific Hebrew lexical item appears in a given German language poem. As it often turns out, the language is German but the implicit linguistic object is Hebrew. A good example of this category may be found in Max Fleischer’s »Romanze einer Nacht,« which was published in the early German Cultural Zionist poetry collection edited by Berthold Feiwel: Junge Harfen. Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte.3 The specific poetical vocabulary evokes the aura of a moon-lit, late summer night during the grape harvest in Biblical Zion: »Die Weingelände mit den breiten Blättern, / Darunter schwellend Zions Traube reift.« This poem, judging from its numerous republications, appears to have been celebrated as one of the sterling poetical accomplishments of early Cultural Zionist poetry in German. Despite the absence of Hebrew lexical items, the employment of composita from outmoded or remote Germanic component parts, forming cumbersome neologisms, suggests a translation from lexical items of Biblical Hebrew. Terms like »Rankenwirrnis,« »Glanzaugen,« »Lebensgärten,« or »Silberlachen« pertain to this category.

fig. 2

3

In: Berthold Feiwel: Junge Harfen. Eine Sammlung jungjüdischer Dichtung. Berlin: Jüdischer Verlag 1903. Republished in Sigmund Kaznelson (ed.): Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten. Eine abschliessende Anthologie. Berlin: Jüdischer Verlag 1959, p. 462.

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fig. 3

Sometimes, it is structural or formal innovation in German Cultural Zionist poetical texts which contributes to or helps to accomplish this same kind of imaginary evocation of a Hebraic poetical environment. Karl Wolfskehl’s poem »Vom Nebo,« first published in the sensational Jüdischer Almanach, edited by Martin Buber, Berthold Feiwel and Ephraim Moses Lilien in 1902 (revised edition 1904), which launched German Cultural Zionism as a serious Central European Cultural expression, is a good example.4 Poetical formulations in »Vom Nebo« also focus attention on the land (»unserem Land«) and incorporate some of the same kinds of cumbersome neologisms (with possible Biblical associations) similar to those found in »Romanze einer Nacht«; but, it is precisely by abandoning a German Romantic, balladic, strophic or rhymed 4

In: Martin Buber/Berthold Feiwel/Ephraim Moses Lilien (eds.): Jüdischer Almanach. Berlin 1902.

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formal structure, that the poem succeeds in achieving an Hebraic poetical effect. The poem consists of 17 unrhymed lines (no end-rhyme, but much alliteration and assonance), whose metric length varies only slightly from line to line, but that it does vary is significant in that it breaks any pattern of strict metrical consistency. More important is the visual effect generated by the fact that each line is justified on both the righthand and lefthand margins (see fig. 2). This type of poetical layout recalls or mirrors Jewish scripture, specifically, the columned form of the Hebrew text contained in the Torah scroll, thereby establishing a direct visual link with Hebrew scripture. This is an aesthetic strategy which complements the one utilized, for example, on the book cover and title-page of Münchhausen’s and Lilien’s Juda. There the letters of the word »JUDA« (J…U…D…A) are designed as »Quadratschrift,« a quadratic form of writing characteristic of ancient Hebraic writing (see fig. 3). Some of Lilien’s illustrations likewise incorporate Hebrew letters and even the very Germanic name of Börries von Münchhausen appears once written in Hebrew as part of the final illustration which closes the text. Since there is no Hebraic equivalent of the German Umlaut, Lilien creatively placed an Umlaut over the Hebrew letter »Vav« (the vowel u, in this case) in the Hebrew transliteration of the name of Münchhausen (see fig. 4). While the very hyphenation of German-Jewish is corroborated here by a kind of imaginative Germanic-Hebraic symbiosis, the linkage aims explicitly to combine the latent visual and phonological energies of both linguistic media. It is a fairly radical or daring attempt, to my mind.

fig. 4

The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism

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The combination of linguistic and formal innovation, which sometimes produces alienation effects while reminding of or aiming at Hebrew in German, reaches a climax of sorts in the early poetry of Else Lasker-Schüler, some of which was published under the auspices of Cultural Zionism, for instance in the Cultural Zionist Berlin magazine Ost und West. Her early poems »Sulamith« and »Mein Volk,« which are quite well-known, are good examples in this regard,5 and therefore it may be more instructive to turn to a less wellknown example to make one last point regarding the possibilities and limitations of the accommodation of Hebrew in German Cultural Zionist poetry. The last category which I wish to mention is the self-reflection about Hebrew and Hebrew language usage or acquisition in German Cultural Zionist poetry. Theodor Zlocisti’s poem, »Die alte Sprache,« is a good example, although Else Lasker-Schüler’s »Heimweh« (»Meine Lippen leuchten schon / Und sprechen Fernes« ... »Die Nacht ist eine Stiefkönigin«) is no doubt better known, as is perhaps Max Brod’s »Hebräische Lektion« (»Dreissig Jahre alt bin ich geworden / Eh’ ich begann, die Sprache meines Volkes zu lernen«). Zlocisti was an early Jewish-national activist and prolific poet beginning in the 1890s during his days as a medical student in Berlin, that is, well before Herzl converted to Zionism. Zlocisti later immigrated to Tel Aviv and served for a time as vice-mayor of the city. His poem, »Die alte Sprache« is about the despair, deriving from the difficulty, even impossibility of the poet ever gaining true access to Hebrew and its spiritual treasures, while at the same time the bitter reality of modern Jewish existence in the diaspora was crystal clear and deeply personal: Ich sah ein Leid, das ganz das meine war. Und sah ein Glück, das ich nie konnte finden.6

What one finds in this poem, and in several other related poems and literary documents from early German Cultural Zionism, which reflect on the gap between Hebrew and German (rather than on the hyphenation), is the lamentable sense that the gap can never really be bridged. By means of oxymoron, the poem begs the question of sight, of the visibility of pain or joy, which while patently obvious are also paradoxically impossible to find. Thus, one may surmise on the basis of this reading that while Zionism is a necessity, it is at the same time a spiritual tragedy for the Jewish people. Regarding Hebrew, it is as if a negative Hebraic poetics pervades the German text or at the least an implicit Hebraic poetics forms its frame, which lies beyond the German linguistic material of this particular Cultural Zionist expression.

5 6

See Gelber, Melancholy Pride (see note 1), pp. 206-220. In: Kaznelson (ed.), Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten (see note 3), p. 465.

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Mark H. Gelber

In conclusion: by investigating the various dimensions of the Hebraic poetics of German Cultural Zionism, it may be possible to delineate the unwieldy dynamics of multilingual, intercultural exchange and the cultural forces of cooperation and appropriation, which are characterized by strong and ideologically motivated cultural and political movements. This investigation is especially compelling in the case of Hebrew and German, owing on the one hand to their felicitously productive, shared past, at least from the time of Gryphius and Luther, but also, on the other hand, owing to the long and distinguished tradition of German-humanist and Christian Biblical scholarship over centuries. Moreover, it is equally compelling even if there is a tragical, negative aspect which underlies and informs this project, that is owing to the demise of the relationship between Hebrew and German during the Nazi period and following the Shoa, which has led to a prolonged period of neglect and silence concerning the past, while it has precluded for a very long time contemplation of renewed encounters and future collaboration between the two.

Hanna Delf von Wolzogen

»... immer wieder Goethe« – Zu Gustav Landauers anarchistischer Goethe-Lektüre

Heute ist nun also Goethe’s [...] Geburtstag. Mein Freund Goethe ist leider hierher nicht mitgekommen; vielleicht lasse ich mir wenigstens ein Paar Bände senden, das weiß ich von früher her, es giebt keinen bessern Gesellschafter.

Diesen Satz schreibt Gustav Landauer am 28. August 1899, also am 150. Geburtstag Goethes, in sein Gefängnistagebuch.1 Soeben war zum Jubiläum ein Goethe-Heft des Sozialist erschienen, dessen Redakteur Landauer bis vor kurzem war. Fünfzehn Jahre später, im Kriegswinter 1915, gratuliert der Tagebuchschreiber dem Freund und Mentor Fritz Mauthner mit folgenden Worten zum Geburtstag: Lieber Freund! Zur Vollendung des 66ten will ich mich mit einem herzlichen Händedruck einstellen. Hoffen wir, daß das neue Jahr besser wird wie das alte, und daß wir bald einen guten Tag erleben; hoffen darf man ja auch das Unwahrscheinliche. [...]; ich habe viele Vorträge zu halten und also viel Arbeit; und da der eine Zyklus von Goethe handelt, habe ich manchmal gute Stunden, die ich nur mit den einsamen Glücksstunden vergleichen kann, die ich manchmal im Gefängnis hatte.2

Das Bild Goethes als eines Gesellschafters für einsame Glücksstunden in einem preußischen Gefängnis will nicht recht in das Gesamtbild der kaiserzeitlichen Goethe-Rezeption und ihrer nationalpolitischen Goethe-Heroisierung passen. Karl Robert Mandelkow zählt diese Epoche zu Recht zu den traumatischen Phasen der Goethe-Rezeption. Er druckt in seiner Anthologie Landauers späten Aufsatz »Goethes Politik« unter dem Rubrum »Goethe-Opposition und Goethe-Kritik« neben Franz Mehring und Heinrich Mann ab und liest ihn als Korrektiv sowohl des Mehringschen Vorwurfs des Ästhetizismus und der 1

2

Manuskript: NL Gustav Landauer, Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam (GLAA), Nr. 69. Landauer schrieb das Brieftagebuch für seine spätere zweite Frau Hedwig Lachmann im Gefängnis Berlin Tegel, wo er eine Haftstrafe in der sog. Ziethen-Affäre abbüßte. Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre hatte Landauer zusammen mit Moritz von Egidy ein Revisionsverfahren im Mordfall Ziethen angestrengt, das wegen des plötzlichen Todes von Egidys fehlschlug. Vgl. die Aufsätze im Sozialist beginnend mit: Zum Fall Ziethen. In: ebd., 7. Jg., Nr. 24 (12.6.1897). Zur Biografie vgl. immer noch Eugene Lunn: Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer. Berkeley: The University of California Press 1973. Brief vom 19.11.1915: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890-1919. Hg. von Hanna Delf [von Wolzogen]. München: Beck 1994, S. 307.

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Hanna Delf von Wolzogen

politischen Blindheit der Goetheverehrung als auch des Mannschen Verdikts, mit Goethe sei »noch kein Zoll Weges Bahn gebrochen in eine neue Zeit«.3 In der Tat bewegt sich Landauers eigenwillige Goethe-Lektüre zwischen den Lagern der zeitgenössischen Goethe-Rezeption. Auf den Spuren Nietzsches nutzt er dessen Kritikmodell, ohne doch die elitär-antidemokratischen Konsequenzen der konservativen Kulturkritik mit zu tragen, im Gegenteil: er rückt Goethe in den Horizont seines freiheitlichen Sozialismus und macht ihn zur Leitfigur einer »krieglosen Kultur« und menschheitlichen Nationalliteratur.4 Landauer war, das zeigen die Zitate, Goetheleser zeitlebens, in der Jugend durch Nietzsche inspiriert, bleiben seine Denkimpulse erkennbar bis in die Kriegsjahre, wenngleich jetzt unter dem Eindruck einer Gesellschaft, die Landauer als agonal und gewaltbereit erlebte, der Einfluss des »Goethemeisters Spinoza« deutlicher in den Vordergrund tritt. In dieser Beziehung steht »Goethe« auch als Chiffre einer möglichen europäischen Nationalgeschichte, die mit der Revolution von 1848 zwar politisch gescheitert ist, an deren letztlichem Gelingen aber für den Juden Landauer auch die Möglichkeit einer lebbaren europäisch-jüdischen Identität hängt.5 Gustav Landauer war Goetheleser aus Passion. Goethe und Goetheausgaben begleiteten ihn, wo immer er sich aufhielt, im Geiste wie im wirklichen Leben. Seine Briefe sind voll der Anspielungen und Hinweise, Zeugnisse eines lebendigen Umgangs mit dem Klassiker jenseits philiströser Zitatenhuberei. Im Repertoire des Redners und Vortragenden steht Goethe ganz oben an, über ihn sprach er in den Versammlungssälen der Berliner Arbeiterkneipen ebenso wie in den großbürgerlichen Salons des Berliner Westens.6 Insofern sind die weni3

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Vgl. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1773-1918. München: Beck 1980, S. 280ff. und Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil 3: 1870-1918. Hg., eingel. und komm. von demselben. München: Beck 1979, S. XVIIf.; Landauers Aufsatz »Goethes Politik« hier S. 477ff. neben Franz Mehrings Goethe am Scheideweg (1909) und Heinrich Manns Französischer Geist (1914). Vgl. Gustav Landauer: An Romain Rolland (1915). In: Gustav Landauer. Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie und Judentum. Hg. von Verf. (Werkausgabe 3). Berlin: Akademie 1997. Hier weitere Aufsätze zu diesem Komplex. Landauers Name wäre zu ergänzen in der langen Reihe jüdischer Goethe-Verehrer, auf die zuerst Wilfried Barner hingewiesen hat. Vgl. ders.: Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. Göttingen: Wallstein 1992. Unterstützt von seiner »Agentin« Auguste Hauschner, sprach er in den großbürgerlichen Berliner Salons der Häuser Mendelssohn und Fürstenberg mehrfach über »Faust unter besonderer Berücksichtigung des zweiten Teils« (15.11.-13.12.1911 und 13.1.-10.2.1913), womit er sich durchaus im Trend der Zeit befand. Zur kaiserzeitlichen Faust-Konjunktur vgl. Mandelkow, Goethe in Deutschland (wie Anm. 3), S. 240ff. Eine Liste der Landauerschen Vorträge in: »... die beste Sensation ist das Ewige ...« Gustav Landauer – Leben, Werk und Wirkung. Hg. von Michael Matzigkeit. Düsseldorf: Theatermuseum Düsseldorf 1995. Vgl. auch den Briefwechsel, teilweise in: Gustav Landauer: Sein Lebensgang in Briefen. 2 Bde. Hg. von Martin

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gen überlieferten Aufsätze nur als Fragmente einer Lektüre zu betrachten, die in jene »innere Biographie« Goethes hätte münden können, die Landauer schreiben wollte, wenn er Fritz Mauthners Alter erreicht hätte.7 Für ihn selbst tritt Goethe immer besonders dann ins Blickfeld, wenn er sich an biografischen Scheidewegen oder in Krisensituationen befindet, so dass sich die Vermutung aufdrängt, seine Goethe-Lektüre bringe, umgekehrt, Aspekte der eigenen inneren Biographie zum Ausdruck.8 Einige Hinweise müssen hier genügen.9

Ein Blick in den Briefwechsel .... Landauer war, wie gesagt, zeitlebens ein passionierter Goetheleser. Der Nachlass birgt Goethe-Exzerpte und Vortragsnotizen aus allen Lebensphasen. Landauer besaß die Cotta-Ausgabe von Goethes Sämtlichen Werken in 40 Bänden von 1840.10 Es ist nicht gewiss, ob es sich bei dieser Ausgabe um den »Krumbacher Goethe« handelt, den sich Landauer im April 1918, nach dem Tod seiner Frau, anschaffte, oder um jene Ausgabe, die ihn schon in die Gefängnisse begleitet hatte. Für die erste Vermutung spricht, dass die wenigen Anstreichungen weitgehend identisch sind mit den Zitierweisen in den späten GoetheAufsätzen.11 Vor allem aber Landauers Briefschaften, die nur zu einem Drittel in der Ausgabe Ein Lebensgang in Briefen enthalten, zum größeren Teil aber

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Buber und Ina Britschgi-Schimmer. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1929. Eine Neuausgabe der Briefe Landauers ist in Vorbereitung. Hg. von Gert Mattenklott, Jürgen Stenzel, Inga Wiedemann und Verf. Abgedruckt in: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4). Vgl. Landauer angelegentlich seines Aufsatzes »Goethes Politik«: »Erreiche ich Deine Jahre, so wirst Du etwa im 90ten das umfangreiche Buch lesen können, das da angekündigt wird und das eine Art innere Biographie Goethes sein soll.« (Brief an Mauthner vom 31.1.1919: GLAA 96). Gemeint ist die o. g. Krise um 1900, das neuerliche politische Engagement mit der Gründung des Sozialistischen Bundes und der Wiederherausgabe des Sozialist (vgl. Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im deutschen Kaiserreich von 1871. Berlin: Duncker & Humblot 1969 und der sog. dritte Sozialist von 1909-1915. Reprint: 3 Bde. Hg. von Andreas Seyverth. Vaduz: Topos 1980) und die Auseinandersetzung mit Martin Buber und den Zionismus sowie die Zeit des Weltkriegs. Vgl. den Briefwechsel und Landauers Aufsätze zum Judentum in: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4). Einen ersten Versuch hat Gert Mattenklott unternommen: Landauers GoetheLektüren. In: Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Hg. von Verf. und Gert Mattenklott. Tübingen: Niemeyer 1997 (Conditio Judaica; 18), S. 55-68. Diese Ausgabe besaß Norbert Altenhofer, der sie von Brigitte Landauer-Hausberger, der jüngsten Tochter Landauers, als Geschenk erhielt und mir erlaubte, Kopien der Seiten mit Marginalien herzustellen. Die Ausgabe befindet sich in Privatbesitz. Vgl. Brief an Auguste Hauschner vom 23.4.1918: Landauer, Sein Lebensgang in Briefen (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 226ff.

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in den Landauer-Nachlässen überliefert sind, sind eine reiche Quelle für die Präsenz Goethes im Denken Landauers.12 Mehrere Hundert Verweisstellen finden sich im Zeitraum von 1899 bis 1919. Vor allem im Gespräch mit Fritz Mauthner geht es immer wieder um Goethe, mit Vorliebe auch um seine naturwissenschaftlichen Schriften. Landauers Hinweis auf eine Bemerkung Goethes zur Definition im historischen Teil der Farbenlehre wird in den dritten Teil der Beiträge zu einer Kritik der Sprache aufgenommen.13 »Hast Du Dich einmal umgesehen, ob von Werner’s (des Geologen) Sprachstudien etwas bekannt ist? Interessante Andeutungen bei Goethe (Annalen, 1807)«.14 Oder es werden Bücher ausgetauscht: »Besitzest Du 1) Fr. Th. Vischers 3. Teil Faust (in der 2. Ausgabe), 2) die Bände der Weimarer Goethe-Ausgabe, in denen die Faustparalipomena enthalten sind (wenn ich nicht irre, Band 14, 15, 1 u. 2 der Werke)? Wenn ja, würdest Du mir das für kurze Zeit borgen? Die Sachen sind in der Kgl. Bibliothek chronisch verliehen.«15 Sprachphilosophische Aspekte bestimmen hier das Interesse, denn auch Landauer versteht Goethe als Sprachskeptiker.16 So lesen wir etwa am 27. Juli 1902: »Ich meine in der That ›entsagen‹ = sich des Sprechens entschlagen. Dieser Nebensinn muß Goethe noch näher gelegen haben als uns.«17 Auch Differenzen gibt es gelegentlich, so z. B. in der Frage eines »wahrhaft nationalen« Dramas, die Landauer zwischen Goethes Iphigenie und den Persern des Aischylos schwanken, sich dann aber für letzteres entscheiden lässt.18 12

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Vgl. die angereicherten Teilnachlässe im IISG Amsterdam (Anm. 1) und in der National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, aber auch die Sammlungen des Leo Baeck Institutes. Vgl. die Briefe vom 1. und 5.11.1901: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel (wie Anm. 2), S. 52f. Vgl. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3: Zur Grammatik und Logik. Stuttgart, Berlin: Cotta 1902, S. 299: »Was ich über den Begriff der Definition vorzubringen habe, das hat Goethe kurz und bündig [...] schon gesagt, wo er in der Geschichte der Farbenlehre Athanasius Kircher kritisiert.« Brief vom [8.10.1908]: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel (wie Anm. 2), S. 187. Die Referenzstelle in: Goethes Sämmtliche Werke. 40 Bde. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1840, Bd. 27, S. 242f. (Annalen zu 1807). Vgl. Brief vom 14.1.1913: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel (wie Anm. 2), S. 276. Friedrich Theodor Vischer: Faust. Der Tragödie 3. Theil. Treu im Geiste des 2. Theils des Göttlichen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegorowitsch Mystifizinsky. 2./3. Aufl. Tübingen 1886. Zur Faust-Mythisierung nach der Reichsgründung vgl. Mandelkow, Goethe in Deutschland (wie Anm. 3), S. 240ff. Vgl. Landauer an Constantin Brunner am 13.12.1907: Landauer, Sein Lebensgang in Briefen (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 176. Vgl. Landauer an Mauthner am 21.7.1902: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel (wie Anm. 2), S. 70. Vgl. den Brief vom 24.7.1918: »[...], J. L. Klein hat Recht, wenn er sagt, daß die Iphigenie des Euripides trotz allen Verfallserscheinungen noch ein wahrhaft nationales Drama, in lebendigem Zusammenhang mit dem Volkswesen sei, während er in

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Selbstverständlich nahm der Philologe Landauer die neueste GoetheLiteratur zur Kenntnis. Regelmäßig sind der Korrespondenz mit dem InselVerlag Buchbestellungen beigegeben, bei denen Goethe nicht fehlt. Im Oktober 1907 werden die von Julius Petersen besorgten Bände Goethes Briefe an Frau von Stein in Leder bestellt,19 1909 der gerade erschienene erste Band von Max Morris’ Der junge Goethe,20 1914 dann die von Hans Gerhard Gräf besorgte Gesamtausgabe des Faust,21 der Band Goethes äußere Erscheinung von Emil Schaeffer in Halbleinen und ein Band über das Goethe-NationalMuseum.22 Bei Richard Dehmel bedankt sich Landauer für einen ihm zugesandten Band mit der Bemerkung, die Goethesche Übersetzung der Verse Nisami’s in den Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan habe ihm entschieden besser gefallen.23 Neueste »Goethebücher« werden wahrgenommen resp. besprochen, z. B. Goethes Briefwechsel mit seiner Frau Christiane und die von Eugen Wolff herausgegebene erste Fassung der Novellen aus den Wanderjahren.24 Julius Bab wird nach den Vorgängen um die Edition des neu aufgefundenen Manuskripts von Wilhelm Meisters theatralischer Sendung befragt,25 oder es wird ihm das Geständnis zuteil, dass seine Besprechung des

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Goethes Dichtung, trotz allem und allem ein Kunstprodukt sieht, das Kunde giebt von der Trennung unsres Volks in die großen Massen und die Elite der klassisch Gebildeten. Wenn ich die Aufgabe hätte, ein Stück zu wählen, das bei Abschluß dieses Krieges auf den großen Bühnen in Europa gespielt werden sollte, würde ich wahrscheinlich eine Zeitlang an Goethes Iphigenie denken, mich aber dann doch wohl für die Perser des Aischylos entscheiden, die um ihrer stärkeren Eindringlichkeit willen lebendiger sind.« (Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel [wie Anm. 2], S. 346). Brief vom 31.10.1907: Goethe-Schiller-Archiv, Weimar 50/2017. Gemeint ist die Ausgabe: Goethes Briefe an Charlotte von Stein. Hg. von Julius Petersen. 3 Bde. Leipzig: Insel 1907. Brief vom 3.12.1909: Goethe-Schiller-Archiv, Weimar 50/2017. Vgl. Der junge Goethe. Neu-Ausgabe der Ausgabe von Salomon Hirzel in 6 Bden. Hg. von Max Morris. Leipzig: Insel 1909-1912. Brief vom 11.7.1914: Goethe-Schiller-Archiv, Weimar 50/2017. Vgl. Goethes Faust. Gesamtausgabe. Textrevision von Hans Gerhard Gräf. 3. verb. Aufl. Leipzig: Insel [1913]. Brief vom 22.4.1918: Goethe-Schiller-Archiv, Weimar 50/2017. Vgl. Goethes äußere Erscheinung. Literarische und künstlerische Dokumente seiner Zeitgenossen. Hg. von Emil Schaeffer. Leipzig: Insel 1914. Brief vom 5.3.1907: Landauer, Sein Lebensgang in Briefen (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 161. Brief an Siegfried Jakobsohn vom 20.10.1916: Landauer, Sein Lebensgang in Briefen (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 165f. Vgl. Goethes Briefwechsel mit seiner Frau (Christiane von Goethe). Hg. von Hans Gerhard Gräf. 2 Bde. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1916 und Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, ein Novellenkranz. Nach dem ursprünglichen Plan. Hg. von Eugen Wolff. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1916. Brief vom 21.10.1911: Leo Baeck Institute, New York, Bab Collection, Nr. 86. Vgl. die beiden 1911 erschienenen Ausgaben: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm

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Goethe-Buches von Georg Simmel ihn neugierig gemacht habe.26 Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Inszenierungsvorschlägen, die Landauer als langjähriges Mitglied des Beirats der Berliner Freien Volksbühne und zuletzt als Dramaturg des Düsseldorfer Schauspielhauses machte,27 oder den umsichtigen Lektüreempfehlungen, die er seinen Töchtern mit auf den Weg gibt. Doch zunächst zurück zu dem anarchistischen Redakteur in der Tegeler Gefängniszelle.

Goethe als Erzieher ... Für die Krise, in der Landauer sich nach der gescheiterten Ziethen-Kampagne, nach dem Scheitern des Sozialist und seiner Ehe mit der Schneiderstochter Margarete Leuschner befand, ist die Gefängniszelle auch symbolischer Ausdruck. Die intellektuelle Neuorientierung, die sich in der Auseinandersetzung mit der Sprachskepsis Fritz Mauthners und der Eckhartschen Mystik vollzieht,28 hatte sich bereits in der Ankündigung einer Vortragsreihe Zur Geschichte der deutschen Literatur und mit dem Goethe-Heft des Sozialist im August 1899 angekündigt. Der enttäuschte Revolutionär revidiert hier seine Absage an die Kunst von 1891 und modifiziert die »Mission«, die das Proletariat »[...] wird erfüllen müssen, wenn die Menschheit nicht völlig entarten und verlumpen soll.«29 Landauer empfiehlt »fürs Erste«, an der »inneren Befreiung« und an »der Bildung [des] Geistes und Herzens, an der Kräftigung [des] Rückgrats zu arbeiten.« Er empfiehlt nachdrücklich Kunst und Literatur, nicht als »Feierabendbeschäftigung sozialdemokratischer Bildungsvereine«, sondern

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Meisters theatralische Sendung. Nach der Schultheß’schen Abschrift. Hg. von Harry Maync. Stuttgart, Berlin: Cotta und den Band der Sophien-Ausgabe (WA). Abt. I, Bd. 51. Vermutlich aus dem Mai 1913: Leo Baeck Institute, New York, Bab Collection, Nr. 8. Vgl. Julius Bab: Simmels ›Goethe‹. In: Die Gegenwart. Hg. von Heinrich Ilgenstein. 42. Jg., Bd. 83, Nr. 20 (17.5.1913), S. 309-311. Neben den Briefen vgl. zu seiner Tätigkeit in Düsseldorf auch: Michael Matzigkeit: Literatur im Aufbruch. Schriftsteller und Theater in Düsseldorf 1900–1933. Düsseldorf: Verlag der Goethe-Buchh. 1990, S. 141ff. Vgl. zur Charakterisierung der Krise die Einleitung der Verf. in: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel (wie Anm. 2), S. XIII–XXXIII. Gustav Landauer: Zur Geschichte der deutschen Literatur. In: Der Sozialist, 8. Jg. (26.2.1898), Nr. 9, S. 48f.; auch in: Signatur g.l. Gustav Landauer im »Sozialist« (1892-1899). Hg. von Ruth Link-Salinger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 368ff.; Gustav Landauer: Die Zukunft und die Kunst. In: Die neue Zeit 10 (1891/92), Bd. 1, S. 532-535, dazu Wilhelm Liebknechts Diktum: »Das kämpfende Deutschland hat keine Zeit zum Dichten.« In: Wilhelm Liebknecht: Briefe aus Berlin. In: Die neue Zeit 9 (1890/91), Bd. 1, S. 709-711 (710). Landauer hielt sich selbst nicht daran. Er veröffentlichte Novellen und den Nietzsche-Roman Der Todesprediger (Dresden, Leipzig: Minden 1893).

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als »fraternisierende Tätigkeit«, welche den Arbeiter befähigen soll, »seine Welt, sich selbst, seine Mitmenschen, [...] richtig zu deuten.« Kunst und Literatur als revolutionäre Kompetenz. Landauers Vorträge im Saal des Louisenstädtischen Konzerthauses, Berlin, hörten immerhin etwa 150 Arbeiter, darunter 30 Frauen. Mindestens sechs der Vorträge waren Goethe gewidmet.30 Auch das Goethe-Heft des Sozialist, geschmückt mit einem Titelblatt und einer Schlussvignette von Fidus,31 sucht mit flammenden Worten seine Leser »zu Goethe [zu] führen«. Mit zarathustrischem Gestus hält Landauer Goethes »unerhört leuchtenden, farbigen Edelstein« ihren »armen Körpern« und »verödeten Seelen« entgegen und ruft ihnen zu: Seid Begehrliche, empfindet es schmerzlich und voll leidenschaftlicher Bitterkeit, wieviel Euren Seelen und Euren Leibern mangelt. Ihr braucht nicht nur Nahrung und Wohnung, Ihr braucht Luxus und Fülle, Reichtum und Muße!

Denn: [...] die Bedürfnisse der Unterdrückten und die Erfordernisse echter Kultur sollten in Eines zerschmelzen: Freiheit der Einzelnen und Zusammenschluß in Vernünftigkeit sollte den Armen Glück und uns Allen Lebensfreude schaffen.32

Im Geiste Nietzsches setzt Landauer dem Klassikerkult des Bildungsphilisters einen anderen, einen naturhaft genialen und rebellischen (»Es gibt keine eindringlicheren Aufwiegler als die Genien der Menschheit.«) und deshalb fremden (»[er] ist ein Fremder, denn er [...] ist mehr als unsereins.«) Goethe kulturkritisch entgegen. Goethes »monumentale Gestalt« als Folie zeitkritischer Polemik und als Verkörperung des »besten Strebens der Menschheit, nach innerer Abrüstung, nach seelischer Harmonie.«33 Dass Landauer das auch als ästhetische Verklärungsformel versteht, wird sich an späteren Goethe- und Shakespeareessays zeigen. Wenn es hier heißt: 30

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Ebd. Die Vorträge fanden im Louisenstädtischen Konzerthaus, Berlin, Alte Jakobstr. 39 statt. Vom ersten Vortrag, gehalten am 29. März [1898], abends 8 1/2 Uhr, existiert eine stenographische Mitschrift, angefertigt von Polizeikommissar Poppe, der auch die Anzahl der Besucher der »Anarchistenversammlung« registriert und vermerkt: »[...] der 8. und 9. Vortragsabend [...] über Goethes Wesen und Existenz, 10. Goethes Bekanntschaft, 11. Goethes Zeitgenossen, Herder und andere, 12. Goethe und Schiller, 13. Goethe nach Schillers Tode.« Vgl. an Hedwig Lachmann am 10.8.1899: »Ende August wird eine Nummer des ›Sozialist‹ herauskommen, die ausschließlich Goethe gewidmet ist und nur von mir redigiert und geschrieben ist. Leider war der Raum des kleinen Blättchens sehr beschränkt; ich hätte viel mehr zu sagen gehabt. Immerhin aber habe ich diese Arbeit freudig gemacht, und ich glaube auch, daß Sie ein bißchen mit mir zufrieden sein werden. Sie erhalten das Blatt sofort nach dem Erscheinen im Couvert.« (Landauer, Sein Lebensgang in Briefen [wie Anm. 6], Bd. 1, S. 35). Die Zitate aus Landauer: Goethe. In: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4), S. 43f. Ebd., S. 46.

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Solange die Welt »sich von Napoléon oder Bismarck, und nun gar von Bebel oder Ahlwardt den Traum vorzaubern läßt, solange hat Goethes Mission noch kaum begonnen.«34 So schwingt darin noch in der Wendung ins Politische unüberhörbar Nietzsches Formulierung im Aphorismus Die Revolution in der Poesie mit, die Goethes Wendung zum »griechischen Maass« als einen »Vorsprung über eine Reihe von Generationen« interpretiert.35 Goethe als Verkörperung des Humanus und als Vorbote jenes »schöneren Menschenbildes« der Weimarer Klassik, das Landauer als Folie sozialistischer Utopie zitiert, aber auch in Nietzsches ästhetischer Opposition von griechischem Formprinzip – mit den Attributen der »Bändigung« und »des stillen verborgenen Wachstums« – und Rousseau’scher Revolution, die als Polarität von revolutionärer Potenz und bewahrender Regeneration zu den immer wieder variierten Denkmodellen Landauers gehört. Nicht zuletzt in seinem politischen Hauptwerk Aufruf zum Sozialismus kommt er darauf zurück. »In den Kreisen der Arbeiter« werde »alles Stille und Ewige mißachtet«, während »das Agitatorische und das oberflächliche Tagesgeschrei [...] in greller Blüte« stehe, weshalb er von einer Episode gleichnishaft berichtet. Während eines Magdeburger Vortrags sei er von anarchistischen Arbeitern um einen Vortrag über Sozialismus gebeten worden und habe geantwortet: Ich habe diesen Vortrag gehalten, als ich über Goethe, als ich über Hölderlin und Novalis, als ich über Stifter und Hebbel, als ich über Dehmel und Liliencron [...] und manche andern sprach; ihr aber habt es nicht hören wollen, weil ihr nicht wisset, daȕ die Stimme der Menschenschönheit, die zu uns kommen soll, der starke und gefaȕte Rhythmus und Einklang des Lebens im Brausen des Sturmes nicht mehr als im sanften Ziehen beruhigter Lüfte und in dem heiligen Stillstand der Unbewegtheit zu finden ist.36

Stifters »sanftes Gesetz« und Goethes »Iphigenienreich« als utopischer Vorschein eines Sozialismus der »Verwirklichung«, den Landauer hier als »sanfte 34 35

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Ebd., S. 45. Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I. Nr. 221. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 2, S. 183f. Nietzsche formuliert: »[...] einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, dass man [...] behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen?« Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus (1911). Hg. von Heinz-Joachim Heydorn. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1967, S. 128. Eingeladen vom Magdeburger Arbeiterbildungsausschuss der Gewerkschaften, sprach Landauer ca. 400 Arbeitern über »Literatur, ausgehend von Goethe« (7.10-16.12.1909). Die Themen: 1) Der junge Goethe, 2) Goethe im Mannesalter, 3) Goethe im letzten Drittel seines Lebens, 4) Über Jean Paul und Immermann, 5) Die Romantiker von Novalis bis Brentano, 6) Hölderlin und Lenau, 7) Bettina Brentano und Rahel Levin, 8) Heinrich von Kleist, 9) Hebbel, Stifter und Gottfried Keller und 10) Über die Lyrik unserer Zeit. (Magdeburger Volksstimme, 9.10.-18.12.1909, jeweils 1. Beilage).

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Wirklichkeit bleibender Schönheit des Mitlebens der Menschen« den sozialistischen Tageskämpfern ins Marschgepäck legt.37 Das ästhetische Formprinzip der Klassik und ihr anthropologisches Ideal schöner Humanität im Verein mit einer Naturauffassung, die auf einen weiteren Aspekt des Landauerschen Goethebildes und auf den »Goethemeister Spinoza« verweist. Landauer rezipierte die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes als einen integralen Teil seines Werkes. Sein an Spinoza und der Eckhartschen Mystik geschultes und in der Auseinandersetzung mit den monistischen Alleinheitslehren seiner zeitweiligen Weggefährten Bruno Wille und Wilhelm Bölsche erprobtes ganzheitliches Weltbild erfuhr in Goethes erfahrungsgeleiteter Naturauffassung eine Bestätigung.38

Goethe, der »Friedensdichter« ... Als Landauer sich im Kriegsjahr 1916 wieder öffentlich mit Goethe zu Wort meldet, liegt die Erfahrung eines Jahrzehnts des »bewaffneten Friedens«, wie er im Vokabular der Achtundvierziger formuliert, hinter ihm. Die wachsende Kriegsbereitschaft der wilhelminischen Gesellschaft, ihre soziale Agonie und ihr Antisemitismus als Erfahrungshintergrund eines Unbehagens, das den Herausgeber des Sozialist und nicht zuletzt den jüdischen Intellektuellen zu öffentlichen Stellungnahmen motiviert. In der Auseinandersetzung mit Martin Buber und dessen Chassidismusrezeption entstehen seine sozialistischen Hauptwerke.39 Spätestens seine skeptische Stellungnahme zum Zionismus im Prager Sammelbuch Vom Judentum macht deutlich, wie eng für ihn sein Werben um einen freiheitlichen Sozialismus und sein Selbstverständnis als deutscher Jude resp. jüdischer Deutscher zusammenhängen.40 Vor diesem Hinter37

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Relevant für Goethe und Landauer ist die Geist-Metaphorik des AT. Landauer zitiert hier die berühmte Stelle aus Stifters Vorrede zu den Bunten Steinen. Vgl. zu seiner Stifterverehrung Verf.: »Und dieses eine Wort ›Stifter‹ sollte Dir sehr viel sagen.« In: Geborgenheit und Gefährdung in der epischen und malerischen Welt Adalbert Stifters. Hg. von Jattie Enklaar und Hans Ester. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 133ff. Dabei schließen sich für Landauer die durch Goethe inspirierte ganzheitlich erfahrungsgeleitete Naturauffassung und die moderne experimentelle Naturwissenschaft nicht aus. Vgl. Mandelkow, Goethe in Deutschland (wie Anm. 3), S. 176f. und 187ff. Zu Landauers Spinoza-Rezeption vgl. Verf.: »In die größte Nähe zu Spinozas Ethik ...«. In: Verf./Mattenklott (Hg.), Gustav Landauer im Gespräch (wie Anm. 9), S. 69ff. Neben dem »Aufruf zum Sozialismus« und den Beiträgen im Sozialist der Essay »Die Revolution«. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1907 (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monografien. Hg. von Martin Buber; 13). Vgl. Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken? In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig: Kurt Wolff 1913, S. 250-257. Auch in: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4), S. 170ff.

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grund liest er jetzt auch Goethe.41 Als Ernst Norlind ihn zu Vorträgen nach Schweden einlädt, lehnt er es ab, über Sozialismus zu sprechen und schlägt »Goethes Vermächtnis« als Thema vor: [...] mir [ist] jetzt das Wesentliche, vom deutschen Geist Zeugnis abzulegen. [...]; meine Auffassung des Künftigen ist gar nicht zu verstehen, wenn man nicht weiß, wie ich Vergangenheit und Gegenwart des Geistes deute.42

1916, im Jahr der Verdun- und der Somme-Schlachten, des Fronteinsatzes von Giftgas und der sog. Judenzählung erscheint in der Frankfurter Zeitung sein Essay Ein Weg deutschen Geistes.43 Hier erweist sich einmal mehr der Spinozismus als die Folie seiner Goetheverehrung. Der triumphale erste Satz des Essays: »Die kommende Geschichte der Menschheit ist vorgezeichnet in der Geschichte Goethes«44 beschreibt sein Verfahren der Konstruktion einer Naturgeschichte des Geistes, die im Geiste Spinozas, Erbin des göttlichen Weltgeschehens ist. Sie ist auch Seinsgrund der »Propheten, Dichter und Genien«, die sich in einer unmittelbaren, quasi mystischen Korrespondenz mit dem quasi göttlichen Weltengrund befinden, aus der ihnen ein »Amt an der Menschheit« zuwächst, und: »Goethe ist einer der größten unter ihnen«. Im Gelingen von Goethes genialer entelechetischer Individualität sieht Landauer ein menschheitsgeschichtliches Versprechen, in Goethes Werken den utopischen Vorschein der vollendeten Harmonie von Sinnlichkeit und Geist, von Notwendigkeit und Freiheit, die am Ende der Zeiten verheißen sind. Goethes Weg beschreibt er als vielfach variierte Trias von der Aufklärung durch die Dumpfheit zum Licht; vom Verstand durchs Gefühl zum Geist; vom Behagen durch den Krieg zum Frieden; von der Beschränktheit durch das Brausen zur meisterlichen Beschränkung; vom Philistertum durch Sturm und Drang und Genie-Zigeunertum zur Welt der Arbeit; Goethes Weg ist der Weg Fausts und der Weg Wilhelm Meisters.45 41

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In dieser Zeit entstehen die großen literarischen Essays, die Vorträge über Shakespeare (Rütten & Loening 1920) und Vortragsreihen zu Goethe wie: »Goethe in seinem Verhältnis zu Zeitalter und Zeitgenossen« (1915), »Über himmlische und irdische Liebe, in Dichtungen Goethes und der Romantik« mit den Themen: 1. Goethe: Von Mignon zu Makarie, 2. Novalis: Heinrich von Ofterdingen, 3. Goethe: Satyros; Der Ewige Jude; Die Geheimnisse, 4. Kleist: Amphitrion u.d. Marquise von O., 5. Goethes Geschwister und ihr Zusammenhang mit Frau von Stein, 6. Jean Paul: Titan, 7. Goethe: Römische Elegien, 8. Brentano: Aloys und Imelde, 9. Hölderlin: Die Gedichte, 10. Goethe: West-östlicher Diwan (1916). Brief vom 11.11.1915 in: Landauer, Sein Lebensgang in Briefen (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 101f. Gustav Landauer: Ein Weg deutschen Geistes. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 36 vom 6.2.1916, S. 1-4. Auch: Kleine Schriften des Forum-Verlages. Hg. von Wilhelm Herzog. H. 2. München 1916. In: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4), S. 23-34. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24.

Zu Gustav Landauers anarchistischer Goethe-Lektüre

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Am Ende dieses Weges steht der späte Goethe mit den Wanderjahren, dem Westöstlichen Divan und dem zweiten Faust, Werken, die Landauer außerordentlich schätzte. Hinter der Figur des Entsagenden erscheint deutlicher denn je der Weise in Spinozas Ethik, dem sich in der dritten Erkenntnisart, der »scientia intuitiva«, die Welt in reiner Erkenntnis erschließt. In Vortragsnotizen zum Thema Goethe und Spinoza notiert er: Individualismus und Einsamkeit der Weltanschauung – keine Klage darüber. / Keine Überwältigung – keine Einheit des Denkens. / Keine Einheit des Sinnbilds oder Wahns: der Religion, des Mythos. Kein Absolutes. // Bescheidener: Einheit der Sinne – und der durch die Sinne vermittelten Sympathie zwischen den Menschen. / Menschenliebe, Brüderschaft – Natur. / Der Sinnlichkeit ihr gutes Gewissen, ihre Natur und ihre Beziehung zum Geist wiedergeben. / Gefühl der Verbundenheit.46

Es sind die Sozialutopien des späten Goethe, die Landauers Sympathie haben, es ist aber wohl auch sein Versuch, Einheit radikal diesseitig unter Beibehaltung der Differenz sozialutopisch zu denken, als dessen Anwalt Landauer Goethe zitiert. Hier liegt wohl die größte Differenz zu den fast zeitgleich erscheinenden wirkmächtigen Monografien von Georg Simmel und Friedrich Gundolf, deren enthistorisierenden Verfahren Landauers Essay in manchem ähnelt.47 Indes fordert aus seiner Perspektive die ästhetische Utopie die soziale geradezu heraus: »Die Konsequenz der Dichtung ist Revolution, die Revolution, die Aufbau und Regeneration ist, – wer das nicht weiß, dem haben die Dichter nie wirklich gelebt.«48 Vor diesem Hintergrund ist auch sein Essay Goethes Politik. Eine Ankündigung zu lesen, der im Januar 1919 mit folgender Bemerkung erscheint: »Dieser Aufsatz ist einige Monate vor der Revolution geschrieben worden. Ich ändere kein Wort daran. G. L.«49 Rudolf Leonhard gegenüber hatte er schon 1916 Goethes Haltung erläutert, die auch seine eigene hätte sein können: Sie projizieren Ihre Unzufriedenheit auf Goethe! [...] Es gibt aber in dieser weiten Welt unzählige Grade der Beteiligung, und wer zugleich stark und an den Ereignissen, die er miterlebt, unschuldig ist, hat das volle Recht zu jeglichem Nichtversinken. [...] es ist die Größe Goethes, daß er sich seinem Werk bewahrte und nicht an jedem Anblick der Taten und Untaten anderer zerbrach. Was Sie von einem wie 46

47 48 49

Vgl. Gustav Landauer: Goethe und Spinoza. Vortragsnotizen. In: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4), S. 52. Die Kursivierungen geben hier Landauers Unterstreichungen wieder. Georg Simmel: Goethe. Leipzig: Wolff 1913 und Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin: Bondi 1916. Vgl. dazu Mandelkow, Goethe in Deutschland (wie Anm. 3), S. 267ff. Gustav Landauer: Ein Weg ... In: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4), S. 27. Gustav Landauer: Goethes Politik. In: Masken. Düsseldorf 14 (1918/19), H. 9 (Januar 1919), S. 133-144. Zitiert nach: Landauer, Dichter, Ketzer, Außenseiter (wie Anm. 4), S. 236. Mit der Goethe-Anspielung: »Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten.« Landauer zitiert diese Stelle aus »Literarischer Sansculottismus«: ebd., S. 42.

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Hanna Delf von Wolzogen

Goethe verlangen, ist eigentlich, daß er spätestens als Straßburger Student reif fürs Irrenhaus hätte werden müssen! Denn wer mit so starker innerer Gewalt ausgerüstet ist, dabei aber sein Herz nicht festhalten und in männlicher Gelassenheit bleiben kann, muß aus den Fugen geraten. Sie wollen Lenz, Sie wollen Goethe nicht. Sie wollen keine Führenden, denen ihre Beschränkung von ihrer Aufgabe zugemessen wird; Sie wollen Zerschlagene: um so größer, je kaputter. / Hat es je einen Friedensdichter gegeben, so ist es aber Goethe. Gerade für das, was Sie wollen, weiß ich keinen reineren, schöneren, humaneren Begleiter, als immer wieder Goethe.

Gabriele von Glasenapp

»...wie eine schaurige Sage der Vorzeit« – Die Ritualmordbeschuldigung in der jüdischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts I. Die Geschichte der Juden in den deutschsprachigen Ländern stellt sich im Rückblick keineswegs als eine einzigartige Symbiose zwischen jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheitsgesellschaft dar, wie bis heute vor allem von nichtjüdischer Seite gerne behauptet wird, sondern vielmehr, ebenfalls euphemistisch gesprochen, als eine Begegnung zweier ungleicher Kräfte, die aufgrund dieses Ungleichgewichtes beherrscht war von Gewalt, Ausgrenzung sowie von höchst unterschiedlichen Versuchen das Anders- und Fremdsein der jüdischen Minderheit auf vielfältige Weise festzuschreiben. Der Begriff der Festschreibung ist gewählt worden, um das aktive Element eines Prozesses hervorzuheben, der von der christlichen Mehrheitsgesellschaft initiiert wurde, um auf diese Weise die Unterschiede zwischen Eigenem und Fremden noch stärker zu akzentuieren und die in dessen Folge auftretenden Ausgrenzungs- und Gewaltmaßnahmen zu legitimieren. Spätestens seit dem Mittelalter wurden die tatsächlich gegebenen Unterschiede zwischen Juden und Christen, nämlich die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und die daraus resultierenden anders gearteten religiös-kulturellen Praxen offensichtlich als nicht mehr ausreichend empfunden. So kam es zur Entstehung einer Vielzahl von Negativzuschreibungen, die den Angehörigen der jüdischen Minderheit zugewiesen wurden. Zweierlei muss hervorgehoben werden bei diesen antijüdischen Stereotypen: Zum einen entstanden die auf diese Weise sich ausprägenden Judenbilder alle in religiösen Kontexten (mehrheitlich ging es um eine vermeintliche Pervertierung religiöser Praxen), zum anderen ging es bei diesen Zuschreibungen immer um Eigenschaften, die den Angehörigen der christlichen Mehrheitsgesellschaft schweren Schaden zufügte. So plünderten die Juden als Zinsnehmer und Wucherer ihre christlichen Mitbürger aus, vergifteten deren Brunnen und waren auf diese Weise für den Ausbruch der Pest und damit für den Tod vieler Christen verantwortlich, sie schändeten christliche Hostien und – sie begingen Ritualmorde an christlichen Kindern, um deren Blut für eigene religiöse Praxen, nämlich das Backen der Mazot zu Pessach zu verwenden.1 1

Einen ersten Überblick bieten František Graus: Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987 (Veröf-

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Gabriele von Glasenapp

Alle Behauptungen waren dazu angetan, Nichtjuden ins Bewusstsein zu rufen, dass Juden nicht nur fremd und anders waren, sondern dass sich ihre Fremdheit zu einem großen Teil darin manifestierte, der christlichen Gemeinschaft aktiv Schaden zuzufügen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wog der Vorwurf der sog. Blutbeschuldigung, des Ritualmordes, am schwersten, da seit den Untersuchungen von Émile Durkheim das Ritual als ein klassisches Mittel zur Gemeinschaftsstiftung angesehen wird. Rituale sind demnach Handlungen, die dazu dienen, Menschen eine Gruppenidentität zu geben, ihre Gemeinschaft in ihrem So-Sein zu bestätigen.2 So rührte die Virulenz der Ritualmordbeschuldigung nicht zuletzt daher, dass hier eine Fremdzuschreibung vorlag, wonach die Juden die christliche Mehrheitsgesellschaft nicht nur schädigten, sondern die für die fortwährende Konstituierung der jüdischen Gruppenidentität von zentraler Bedeutung war. Ein wesentliches Merkmal der Ritualmordbeschuldigung ist die Tatsache, dass sie nicht nur mündlich tradiert wurde, sondern von Beginn an ihre mediale Verbreitung eine zentrale Rolle spielte. So findet sich der Vorwurf der Blutbeschuldigung in Flugblättern und -schriften, in den Passionsspielen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit,3 in den geschichtlichen Chroniken der Gelehrten wie in den Schriften christlicher Hebraisten und Theologen, die sogar vor dem Versuch nicht zurückschreckten, die Vorwürfe aus den jüdischen Schriften selbst zu belegen.4 Auch die historischen, medialen und kulturellen Wandlungsprozesse konnten dem Vorwurf der Blutbeschuldigung kaum etwas anhaben: Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung und der aufkommenden Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert findet sich das Vorurteil nun in den Schriften der Historiker, die es aus den alten Chroniken übernahmen und an die Stelle von Flugschriften und -blättern trat zunehmend die Presse, deren vordringlichste Funktion darin bestand, aktuelle Vorfälle von vermeintlichen Ritualmorden aufzugreifen und auf diese Weise für eine stetige Verbreitung der alten Legende zu sorgen.

2

3

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fentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 86), S. 282ff. sowie Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1991, S. 274ff. David J. Krieger/Andréa Belliger: Einführung. In: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Hg. von David J. Krieger und Andréa Belliger. 3. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 7ff. Vgl. u. a. Winfried Frey: Das Endinger Judenspiel. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen die Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin: Metropol 1993, S. 201-221. Das gilt vor allem für die Schriften des Orientalisten Johann Andreas Eisenmenger. Vgl. Stefan Rohrbacher: ›Gründlicher und wahrhafter Bericht‹. Des Orientalisten Johann Andreas Eisenmengers Entdecktes Judentum (1700) als Klassiker des ›wissenschaftlichen‹ Antisemitismus. In: Reuchlin und seine Erben. Forscher, Denker, Ideologen und Spinner. Hg. von Peter Schäfer und Irina Wandrey. Ostfildern: Thorbecke 2005 (Pforzheimer Reuchlinschriften; 11), S. 171-188.

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Dennoch muss spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert – auf medialer Ebene – von einer entscheidenden Zäsur bei der Verbreitung der Ritualmordvorwürfe gesprochen werden: Über Jahrhunderte hatte sich in diesem Vorwurf ausschließlich die extreme Fremdwahrnehmung der jüdischen Minderheit seitens der christlichen Mehrheitsgesellschaft manifestiert. Die Selbstwahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft spielte in diesem Kontext naturgemäß nur eine untergeordnete Rolle. Da die jüdischen Gelehrten nur in Ausnahmefällen an den nichtjüdischen Diskursen partizipierten, gibt es auch nur wenige Selbstzeugnisse, die den Versuch unternahmen, die Ritualmordbeschuldigung abzuwehren oder zu widerlegen. Dies sollte sich spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts grundlegend ändern. Im Zuge der Haskala, der innerjüdischen Emanzipations- und Akkulturationsbestrebungen, war die jüdische Minderheit zunehmend bestrebt, am wissenschaftlichen, publizistischen und auch literarischen Handlungssystem der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu partizipieren, eine Teilhabe, die sie erstmals in die Lage versetzte, antijüdische Vorurteile und Fremdzuschreibungen entweder zurückzuweisen oder aber ihnen eigene, positiv besetzte Selbstbilder entgegenzustellen. An der Virulenz der Ritualmordvorwürfe änderte diese Tatsache jedoch kaum etwas. Im Gegenteil, der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende, moderne Antisemitismus übernahm das alte Stereotyp von der jüdischen Gier nach christlichem Blut nur allzu bereitwillig und erklärte es nunmehr zu einem unveränderlichen jüdischen Rassemerkmal. Nicht zuletzt durch tatkräftige Unterstützung der antisemitischen Presse wurden gerade in dieser Epoche in Deutschland5 und anderen Ländern Mitteleuropa ungeklärte Mordfälle zu Ritualmordfällen erklärt – so im ungarischen Tiszla-Eszlar (1882), im niederrheinischen Xanten (1891), im böhmischen Polna (1899) und im westpreußischen Konitz (1900).6 Während die historischen, theologischen und teilweise auch publizistischen Implikationen der Ritualmordbeschuldigung als in großen Teilen gut erforscht gelten können,7 ist bislang kaum etwas bekannt über die Darstellung in erzählenden, fiktionalen Texten. Im vorliegenden Beitrag soll daher der Versuch 5 6

7

Vgl. Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im deutschen Kaiserreich. Berlin: Metropol 2002. Vor allem zur Ritualmordaffäre in Konitz sind eine Vielzahl von Publikationen erschienen; vgl. u. a. Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 und Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Göttingen: Wallstein 2002. Vgl. die Sammelbände bzw. Überblicksdarstellungen von R. Po-Chia Hsia: The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany. New Haven, London: Yale University Press 1988; The Blood Libel Legend. A Casebook in AntiSemitic Folklore. Hg. von Alan Dundes. Madison: The University of Wisconsin Press 1991; Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord (wie Anm. 3); Marie-France Rouart: Le crime rituel ou le sang de l’autre. Paris: Berg International 1997; Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte. Hg. von Susanna Buttaroni und Stanislaw Musial. Köln, Weimar: Böhlau 2003.

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unternommen werden, an einem paradigmatischen Beispiel den Umgang mit der Ritualmordbeschuldigung in den erzählenden Texten zweier jüdischer Autoren zu untersuchen, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Frage gerichtet werden wird, auf welche Weise von jüdischer Seite der Versuch unternommen wurde, dem antijüdischen Stereotyp des Ritualmörders positive Selbstbilder gegenüber zu stellen.

II. Festgehalten werden muss zunächst, dass in der nichtjüdischen Literatur des 19. Jahrhunderts nicht nur zahlreiche jüdische Figuren in Erscheinung treten, sondern die Autoren auch nicht davor zurückschrecken, diese Figuren als Inkarnation des Anderen, Fremden, Nicht-Deutschen zu inszenieren. Zwar wird das Stereotyp des aus Blutgier mordenden Juden in der Gesamtheit der Texte nicht allzu häufig aufgegriffen, dennoch existieren prominente Beispiele für solche Darstellungen, deren Prominenz nicht zuletzt daraus resultiert, dass diese Texte eine über ihren bloßen Erscheinungszeitpunkt weit hinausreichende Wirkung entfaltet haben. Dazu zählen u. a. das schottische Volkslied Die Judentochter das von Johann Gottfried Herder in den ersten Band seiner Volkslieder (1778) aufgenommen worden war. Erzählt wird von einem jüdischen Mädchen, das einen christlichen Jungen heranlockt und schlachtet, um an sein Blut zu gelangen. Herders Volkslieder – und damit auch das Lied Die Judentochter – sind vor allem von den deutschen Romantikern rezipiert worden, in deren Schriften die Auseinandersetzung mit der Ritualmordbeschuldigung einen beträchtlichen Raum einnimmt. So lassen sich in den Dichtungen und Liedsammlungen von Arnim und Brentano zahlreiche judenfeindliche Klischees und Stereotype nachweisen, darunter auch die alten Legenden vom Hostienfrevel, Ritualmord und Blutgenuss der Juden.8 Doch Ritualmordbeschuldigungen wurden nicht nur in den durch die Romantiker verschriftlichten (und bearbeiteten) Volksliedern tradiert, sondern auch in den modernen Erzählformen, d. h. den Romanen des 19. Jahrhunderts. Prominente Beispiele bilden u. a. Karl Spindlers Roman Der Jude. Deutsches Sittengemälde aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts (1827), Wilhelm Müllers Novelle Debora (1827), Wilhelm von Chézys Roman Der fromme Jude. Eine Familiengeschichte unserer Tage (1845), und die Erzählungen Seppel, oder der Synagogen-Brand zu München (1841) von Karl Gustav Nieritz sowie Bertram Vogelweid (1896) von Marie von Ebner-Eschenbach. In der Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden stellt das 19. Jahrhundert auch deshalb eine zentrale Zäsur dar, da erstmals jüdische 8

Vgl. Gunnar Och: Alte Märchen von der Grausamkeit der Juden. Zur Rezeption judenfeindlicher Blutschuld-Mythen durch die Romantiker. In: Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord (wie Anm. 3), S. 224-227.

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Journalisten, Autoren und Wissenschaftler in verstärktem Maße an den allgemeinen politisch-gesellschaftlichen, literarischen und wissenschaftlichen Diskursen partizipierten. Dabei zeigen sich erstaunliche Differenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen. Während in wissenschaftlichen und journalistischen Texten selbstbewusst gegen die Unhaltbarkeit vor allem der Ritualmordbeschuldigung argumentiert wird, finden sich in fiktionalen Werken andere Strategien des Erzählens. Es dominiert eine Selbstinszenierung, in der die jüdische Minderheit den Anschuldigungen und den daraus resultierenden Konsequenzen hilflos ausgesetzt ist, in der den Unschuldsbeteuerungen der Akteure kein Glauben geschenkt wird, in der sie sich im besten Fall durch Flucht dem drohenden Pogrom entziehen können. Obwohl in der Mehrheit dieser Texte auch die Instrumentalisierung und die Mechanismen der von christlicher Seite konstruierten Anschuldigung offen gelegt werden, verbleiben die jüdischen Akteure doch mehrheitlich in einem Objektstatus, in dem sie bestenfalls auf die Anschuldigungen reagieren können, selbst aber keine Initiative ergreifen – eine Erzählstrategie, die mit Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach (1841) seinen Anfang nimmt, und im Verlauf des 19. Jahrhunderts vielfach aufgegriffen wird, so u. a. in den Erzählungen Israel von Brün (1863) von Eljakim Carmoly, Aus der Judengasse (1862) und Tante Gute (1886) von Sara Hirsch, Der Herr Hofprediger hat gesagt... und Anderes (1892) von C. Berg, Der Sohn des Hofagenten (1913) von Heinrich Reuß.

III. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert finden sich in den literarischen Texten jüdischer Autoren auch Handlungsmuster, die einen anderen Umgang mit antijüdischen Vorurteilen imaginieren – Texte, in denen sich die jüdische Minderheit aktiv (und erfolgreich) gegen diese Vorurteile und Anschuldigungen zur Wehr setzt. Zu erwähnen seien hier Jakob Wassermanns historischer Roman Die Juden von Zirndorf (1897) sowie Arnold Zweigs 1915 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnetes Drama Ritualmord in Ungarn (1914).9 An diese Darstellungsmuster knüpfen auch die Texte an, die nun im Fokus dieses Beitrages stehen sollen, die von Yehuda (Yudel) Rosenberg aufgezeichneten und von Chajim Bloch10 übersetzten Legenden über den Prager Golem und seinen Schöpfer Rabbi Löw. 9

10

Vgl. dazu Jost Hermand: Das Licht in der Finsternis. Arnold Zweigs »Ritualmord in Ungarn« als prosemitisches Tendenz- und Läuterungsstück. In: Deutsch-jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Julius H. Schoeps. Hg. von Ludger Heid und Joachim H. Knoll. Stuttgart: Burg 1992, S. 359-380. Zur Bio-Bibliographie sowie zur Rezeptionsgeschichte der Werke von Chajim Bloch vgl. Renate Heuer (Red.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 3. München: Saur 1995, S. 78-95.

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Als im September 1919 die von Chajim Bloch edierten Golem-Legenden in Wien erstmals in Buchform erschienen,11 konnte die Figur des Golem bereits auf eine lange literarische Tradition sowohl innerhalb der jüdischen wie der nichtjüdischen Literatur- und Kulturgeschichte zurückblicken.12 Die Geschichte dieser literarischen Bearbeitungen des Golem- wie auch des Rabbi LöwStoffes ist seit den 1930er Jahren mehrfach Gegenstand der Forschung gewesen13 und soll daher an dieser Stelle nicht um eine weitere Variante bereichert werden. Kernbereiche des Stoffes, die Schaffung eines noch unbeseelten Menschen aus einem unförmigen Erdklumpen, sind schon im Talmud zu finden14 und bereits im 16. Jahrhundert kursierten im polnischen Chelm Legenden über einen Wunderrabbi, der sich einen Golem geschaffen habe, Legenden, die höchstwahrscheinlich Ende des 18. Jahrhunderts durch polnische Chassidim nach Prag gelangten und dort auf die Person Rabbi Löws übertragen wurden.15 Im Zuge des 19. Jahrhunderts kam es erstmals zu schriftlichen Fixierungen dieser Sagen in deutscher Sprache, seit den 1830er Jahren auch von jüdischen Autoren.16 Am bekanntesten waren die von dem jüdischen Arzt und Journalisten Leopold Weisel in der Prager Sammlung Sippurim zusammengefassten Versionen;17 das Grundgerüst dieser auch von Weisels Vorgängern behandelten Sagen lässt sich wie folgt skizzieren:

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Chajim Bloch: Der Prager Golem. Von seiner ›Geburt‹ bis zu seinem ›Tod‹. Nach einer alten Handschrift bearbeitet. Wien: Dr. Blochs Wochenschrift 1919. Blochs Werk war so erfolgreich, dass innerhalb eines Jahres eine zweite, fast unveränderte Auflage folgte. In den folgenden Jahrzehnten erschienen zudem Übersetzungen ins Englische, Französische und Niederländische. Zur Bedeutung der Golemfigur in der jüdischen Kulturgeschichte vgl. Moshe Idel: Der Golem. Jüdische magische und mystische Traditionen des künstlichen Anthropoiden (1990). Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2007. Vgl. u. a. Beate Rosenfeld: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur. Breslau: Priebatsch 1934; Sigrid Mayer: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern, Frankfurt am Main: Peter Lang 1975; Eveline GoodmanThau: Golem, Adam oder Antichrist – Kabbalistische Hintergründe der Golemlegende in der jüdischen und deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Hg. von Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph Schulte. Tübingen: Niemeyer 1999 (Conditio Judaica; 27), S. 81-134. Vgl. Rosenfeld, Die Golemsage (wie Anm. 13), S. 1-8. Vgl. Vladimír Sadek: Rabbi Loew – Sa vie, héritage pédagogique et sa légende. À l’occasion de la 370e anniversaire de sa mort. In: Judaica Bohemiae 15 (1979), S. 2741, hier S. 30ff. sowie Hillel J. Kieval: Pursuing the Golem of Prague. Jewish Culture and the Invention of a Tradition. In: Modern Judaism 17 (1997), Nr. 1, S. 1-20. Zu den wichtigsten Beispielen zählen [Seligmann Korn]: Der jüdische Gil Blas. Hg. und mit Anmerkungen begleitet von einem Unbekannten (1834); Berthold Auerbach: Spinoza. Ein historischer Roman. Zwei Theile (1837). L[eopold] Weisel: Sagen der Prager Juden. In: Gallerie der Sipurim [!], eine Sammlung jüdischer Sagen, Märchen und Geschichten, als ein Beitrag zur Völkerkunde.

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Rabbi Löw bildet den Golem aus Lehm und belebt ihn durch das Legen des Schem in seinen Mund. Der Golem verrichtet alle Arbeiten im Hause, die ihm aufgetragen werden. Rabbi Löw vergisst, dem Golem vor dem Sabbat den Schem aus dem Mund zu nehmen. Daraufhin wird der Golem wütend und zerstört alles, was sich ihm in den Weg stellt. Erst im letzten Moment nimmt Rabbi Löw dem Golem den Schem aus dem Mund, der Golem zerfällt in Trümmer, die sich bis zum heutigen Tag auf dem Boden der Altneusynagoge befinden. Rabbi Löw erhält den Besuch von Kaiser Rudolf II. und Tycho Brahe und zaubert für sie den Hradschin in die Prager Judengasse. Rabbi Löw lässt die jüdischen Stammväter vor dem Kaiser erscheinen, sie verschwinden jedoch, als das Lachen des Kaisers ertönt. Als sich daraufhin das Gewölbe des Saales herabsenkt und droht, auch den Kaiser zu zermalmen, bannt Rabbi Löw die Decke mit kabbalistischen Kräften.

Erkennbar ist, dass sowohl der Golem wie auch Rabbi Löw als sogenannte Helferfiguren inszeniert werden. Der Golem, indem er die ihm aufgetragenen Arbeiten verrichtet, Rabbi Löw, indem er die nichtjüdische Obrigkeit mit seinen magischen Kräften beeindruckt und auf diese Weise (nicht näher spezifizierte) Bedrohungen von der jüdischen Gemeinschaft abwendet. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lässt sich ein neues Interesse an den Sagenstoffen des Prager Ghettos sowie an der Person Rabbi Löws konstatieren. Innerhalb nur weniger Jahre erscheinen Romane von Max Brod, Auguste Hauschner, Arthur Holitscher und Gustav Meyrinck, die sich – wenngleich aus sehr unterschiedlicher Perspektive – dieser Stoffe annehmen, Romane, die beim Publikum auf großes Interesse stoßen. Es ist nicht auszuschließen, dass Bloch mit seiner Sammlung von Prager Legenden auch an diesen Erfolg anzuknüpfen versuchte. Doch bereits der Untertitel der Anthologie, die Authentizitätsbeteuerung »Nach einer alten Handschrift bearbeitet«,18 verweist auf andere Intentionen des Verfassers. In seinem Vorwort präzisiert Bloch diese Andeutungen: Vor mir liegt ein in hebräischer Schrift und Sprache abgefaßtes Heft, das sich ›Nifloes-MhrL [sic!] – Wunder des Rabbi Löw‹ nennt. Vor etwa drei Jahrhunderten verfaßt, ist es reich an tragischen Episoden und entzückenden Legenden. [...] Der Schauplatz dieser Legenden ist Prag [...].19

Und in der dazu gehörigen Fußnote führt Bloch weiter aus: Wer der Verfasser sein mag, ist nicht ersichtlich, ebensowenig die Jahreszahl, welche einen Anhaltspunkt für das Alter der angeblich in einer Bibliothek [...] verwahr-

18 19

Von mehreren isr. [!] Gelehrten. [Hg. von Wolf Pascheles.] Prag: Pascheles 1847, S. 50-52. Dieser Untertitel wurde in der zweiten Auflage sowie in den späteren Übersetzungen weggelassen. Bloch, Der Prager Golem (wie Anm. 11), S. 9-14, hier S. 9f. Aus Platzgründen werden alle weiteren Nachweise aus Blochs Werk direkt im Anschluss an das Zitat gegeben.

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ten Urschrift ergeben hätte. Nach einer, allerdings unverläßlichen Angabe soll R. Jizchak Cohn-Zedek, der Schwiegersohn Rabbi Löws, der Verfasser sein. Nach den vielen Nebenbemerkungen ist wohl anzunehmen, daß der Schreiber ein Zeitgenosse Rabbi Löws war. (S. 9)

Die eigentliche Quelle der von ihm nacherzählten Legenden über den Golem und Rabbi Löw nennt Bloch dagegen nicht. Tatsächlich war bereits 1909 in Polen ebenfalls eine Sammlung von Legenden über Rabbi Löw und den von ihm erschaffenen Golem erschienen, ediert in hebräischer Sprache von Yehuda (Yudel) Rosenberg.20 Schon auf dem Titelblatt seines Werkes nennt Rosenberg, in seiner Heimat ein bekannter Verfasser hebräischer und jiddischer Volksbücher,21 die vermeintliche Quelle seiner Legenden; er erwähnt ein von ihm ausfindig gemachtes Manuskript in der Bibliothek von Mainz, als dessen Verfasser er ebenfalls den Schwiegersohn Rabbi Löws bezeichnet.22 In Blochs Anthologie wird der Name Rosenbergs jedoch nicht einmal erwähnt, obwohl ein Vergleich zwischen beiden Sammlungen deutlich macht, dass Bloch die von Rosenberg aufgezeichneten Legenden zwar nicht wörtlich, aber doch sinngemäß übersetzt hat und dabei auch die von Rosenberg vorgegebene Reihenfolge der Texte beibehalten hat. Sowohl für Rosenberg wie auch für Bloch hatte offensichtlich – die Erwähnung des alten Manuskripts bzw. der Handschriften lassen keinen Zweifel daran – die vorgebliche Authentizität ihrer Legenden oberste Priorität, eine Intention, die allerdings mittlerweile von der Wissenschaft als klassische Herausgeberfiktion entlarvt worden ist.23 20

21

22

23

Yudel Rosenberg: Nifla'ot Maharal im ha-Golem. Petrikow 1909. Trotz mehrerer Übersetzungen ins Jiddische und später auch ins Englische blieb Rosenbergs Werk im deutschen Sprachraum fast unbeachtet. Rosenberg wurde 1865 im polnischen Skaryszew geboren und wanderte später nach Kanada aus, wo er 1935 starb. Als Verfasser rabbinischer Schriften sowie durch seine Volksbücher war er in seiner Heimat zu einem bekannten Autor geworden (Shnayer Z. Leiman: The Adventure of the Maharal of Prague in London: R. Yudl Rosenberg and the Golem of Prague. In: Tradition 36 (2002), Nr. 1, S. 26-58 sowie Ira Robinson in: Encyclopaedia Judaica, 2nd edition, vol. 17, 2007, S. 439). Als Anregung diente Rosenberg möglicherweise die 1727 von Meir Perels, einem Nachkommen des Rabbi Löw, verfasste Megillath Juchassin Mehral miprag. Diese Deszendenztafel Rabbi Löws war in den 1860er Jahren mehrfach in Polen ediert worden und damit auch zugänglich für Rosenberg. Der Golem wird hier zwar nicht erwähnt, wohl aber die Frau Rabbi Löws, Perle, sowie Rabbi J. Katz, für den Meir Perels die Schrift verfasst hatte. Beide Namen hat Rosenberg für seine Legenden übernommen (vgl. dazu Salomon Hugo Lieben: Megillath Juchassin Mehral miprag. Die Deszendenztafel des hohen Rabbi Löw von Rabbi Meir Perels [1909]. In: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft XX [1929], S. 315-336, hier S. 318f.). Von den Herausgebern und Übersetzern der Legenden Rosenbergs vertreten allerdings lediglich Eli Yassif und Curt Leviant diese eindeutige Position. (Vgl. The Golem of Prague and Other Tales of Wonder [Hebr.]. Ed. by Eli Yassif. Jerusalem 1991, S. 15 und The Golem and the Wonderous Deeds of the Maharal of Prague. Transl. from the Hebrew and ed. by Curt Leviant. New Haven, London: Yale Uni-

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Obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Bloch auf die Texte von Rosenberg zurückgegriffen hat, handelt es sich bei seiner Anthologie dennoch um ein neues Werk, zum einen, da bei seiner Übersetzung die Texttreue gegenüber der Vorlage nicht gewahrt wurde und er die Sammlung überdies mit umfangreichen Vor- bzw. Nachworten versah. Sie vor allem stellen einen massiven Versuch der Rezeptionslenkung dar, für die es in Rosenbergs Text keine Entsprechung gibt. Vor allem aber zählt Blochs Werk durch sein Erscheinen in deutscher Sprache zu jenem Textkorpus, der bis heute als deutsch-jüdische Literatur bezeichnet wird. Aus diesen Gründen wird in diesem Beitrag ausschließlich auf das Werk von Bloch, seine Inhalte und Intentionen, eingegangen werden. Im Zentrum der von ihm übersetzten Legenden steht die Lebensgeschichte Rabbi Löws von seiner Geburt im Jahre 1513 bis zum Jahre 1593. Bereits die erste Erzählung macht deutlich, welche Intention Bloch (und vor ihm Rosenberg) mit der Publikation seiner Legenden verfolgte, denn: Schon die Geburt des Kindes [des späteren Rabbi Löw] brachte seiner Gemeinde, ja der Gesamtjudenheit, die wundervolle Rettung von einem großen Unglück. Es ist sattsam bekannt, welchen Feindseligkeiten und Verfolgungen die Juden in Europa, insbesondere in Deutschland, wegen der alten und immer neu auftauchenden Lüge ausgesetzt waren, daß sie für das Pessachfest Christenblut benützen. Diese Beschuldigung [...] breitete sich wie eine Pest über Städte und Länder aus, und es verging kein Pessachfest, vor dem man nicht in einen Judentempelhof oder in den Keller eines Gemeindevorstehers eine christliche Leiche eingeschmuggelt hätte, um dann einen Vorwand zu haben, Gott zum Lobe und dem christlichen Glauben zu Ehren gegen die Juden loszustürmen. (S. 17)

So auch am Sederabend des Jahres 5273 (1513), doch als bei der Mutter des späteren Rabbi Löw die Wehen einsetzen und die Gäste auf die Straße eilen, um die Hebamme zu holen, bemerken sie einen Mann, der gerade eine Kindsleiche im Keller des Rabbiners ablegen will. Er wird den Behörden übergeben, und die Gemeinde ist gerettet – durch die Geburt eines Kindes. Deutlich wird, dass Rabbi Löw vom Augenblick seiner Geburt wiederum, in Anknüpfung an frühere Sagen, als eine Helferfigur inszeniert wird, deren vordringlichste Aufgabe nun jedoch darin besteht, seine jüdische Umwelt vor antijüdisch motivierten Anschuldigungen und hier in erster Linie vor der Ritualmordbeschuldigung zu bewahren. Ganz offensichtlich war es Blochs Intention, die Legenden in apologetischer Absicht zu instrumentalisieren,24 eine In-

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versity Press 2007, S. XVIff.). Vgl. auch Leiman, The Adventure (wie Anm. 21), S. 32. Dies wird auch durch die Tatsache illustriert, dass Bloch bereits 1920 einen weiteren Band mit Golem-Legenden veröffentlichte (Israel der Gotteskämpfer. Der Baalschem von Chelm und sein Golem. Berlin: Harz 1920). Auch in diesem Werk wird wiederum die Existenz einer alten Handschrift fingiert, die als Quelle der Erzählungen gedient habe (S. 12). Die Handlung ist nun im polnischen Chelm angesiedelt,

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tention, die umso deutlicher ist, als sie sich auf allen Ebenen des Werkes manifestiert. Zunächst und vor allem auf inhaltlicher Ebene: Bis auf wenige Ausnahmen steht in allen Erzählungen die Ritualmordbeschuldigung im Zentrum der Handlung. Dabei lassen sich zwei Handlungsvarianten unterscheiden: Gegen einen Einzelnen oder die jüdische Gemeinde von Prag in ihrer Gesamtheit wird der Vorwurf des Ritualmordes erhoben, Rabbi Löw kann jedoch am Ende diesen Vorwurf entweder durch eigene Nachforschungen oder aber durch einen Traum, d. h. also mit göttlicher Hilfe, entkräften. In der zweiten Variante wird der Leser zunächst Zeuge der antijüdischen Machenschaften, um anschließend mitzuverfolgen, wie sie von Rabbi Löw erfolgreich durchkreuzt werden. Dieser fortwährenden Bedrohung der jüdischen Gemeinschaft verdankt auch der Golem seine Entstehung: Der fanatische Geistliche Taddäus trieb jedoch weiter sein Unwesen. Abgesehen von aufreizenden Predigten, war er auch [...] rastlos bemüht, die Blutbeschuldigung gegen die Juden zu verbreiten [...]. Rabbi Löw erfuhr dies rechtzeitig und er machte eine Traumfrage ›nach oben‹, mit welchen Mitteln er gegen diesen bösen Feind den Kampf aufnehmen solle. Er erhielt folgende [...] Antwort: [...] »Du schaffe einen Golem von Lehm und du vernichtest das gemeine Judenfressergesindel.« (S. 31f.)

Die Erschaffung des Golem geht damit auf einen göttlichen Befehl zurück (und nicht auf die Hybris des Gelehrten), er darf damit, wie mehrfach von Seiten des Erzählers betont wird, auch nicht für private Dienste verwendet werden, sondern ausschließlich als eine weitere Helferfigur, um, im Auftrag Rabbi Löws, falschen Anschuldigungen auf den Grund zu gehen. Diese Helferfigur wird überflüssig (und kann daher auch wieder vernichtet werden), als Rabbi Löw ein Bittgesuch an Kaiser Rudolf II. richtet, wonach »kein Jude in Zukunft eines Ritualmordes bezichtigt werden dürfe« (S. 110) und diesem Gesuch auch stattgegeben wird, »da sich der Kaiser überzeugt habe, daß diese Beschuldigung unwahr sei, die Juden kein Blut zu religiösen Zeremonien benötigen und der Gebrauch des Blutes ein schwerer Verstoß gegen die jüdische Religion sei« (Ebd.). Auf inhaltlicher Ebene werden demnach nicht nur die Mechanismen der Ritualmordbeschuldigung offen gelegt, sondern erstmals treten zwei Figuren in Erscheinung, die diesem antijüdischen Stereotyp erfolgreich entgegentreten: Aus den nichtjüdischen Anklägern werden Beschuldigte, aus den präsumtiven jüdischen Opfern werden tatkräftige Akteure, repräsentiert durch eine unumstrittene geistliche jüdische Autorität, deren enge Beziehung zu Gott sich in zahlreichen Traumgesichtern manifestiert und deren Bemühungen am Ende durch die höchste weltliche Autorität, den Kaiser, abgesegnet werden. Diese Evokation eines neuen, ausschließlich positiven jüdischen Selbstbildes geschieht jedoch nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern ebenso sehr aber auch hier tritt der Baalschem (und später der Golem) ausschließlich als Beschützer der Juden vor der Ritualmordanklage in Erscheinung.

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durch die paratextuelle Rahmung der Erzählungen sowie durch die den Texten eingeschriebene Leserolle. Auffällig erscheint zunächst der Umfang des Paratextes, die Sagen werden eingeleitet sowohl von einem Vorwort des nichtjüdischen Autors Hans Ludwig Held25 als auch von Chajim Bloch selbst (S. 9-14) sowie von umfangreichen Nachbemerkungen des Herausgebers (S. 124-143). Erkennbar wird, auf welche Weise Bloch diese Rahmung als ein Instrument der Rezeptionslenkung für seine Intentionen zu nutzen verstand. Durch die bereits erwähnten Authentizitätsbeteuerungen, diese »hier zum erstenmal veröffentlichten Sagen« (S. 135) entstammten einem Manuskript, dessen »Schreiber ein Zeitgenosse Rabbi Löws war« (S. 9), werden die Legenden gleichsam in den Rang eines historischen Dokuments erhoben, dessen Inhalten daher auch ein Wahrheitsanspruch zuzuerkennen sei. Auf diese Weise wird die erfolgreiche Abwehr der Ritualmordbeschuldigung zu einem historisch verifizierbaren Teil der jüdischen Geschichte, an die es, so das implizite Signal dieser Ausführungen, sich in der Gegenwart zu erinnern gälte. Zu diesem Zweck geht Bloch sowohl in seinen Vorbemerkungen als auch in seinem Nachwort ausführlich auf die Ritualmordbeschuldigung, ihre Geschichte und ihre Widerlegung ein, (S. 135-143) eine Geschichte, die er bis an die Autorgegenwart der frühen 1920er Jahre heranführt. Damit stellt sich auch Bloch in die Tradition jener jüdischen Historiker, die die jüdische Geschichte vordringlich als eine Leidensgeschichte auffassten, gleichzeitig jedoch liefern die Sagen den unumstößlichen ›Beweis‹, auf welche Weise die jüdische Minderheit schon einmal von passiven Opfern zu handelnden Akteuren geworden ist. Der auf diese Weise insinuierte Vorbildcharakter von Geschichte für die eigene Gegenwart ist unübersehbar. Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage nach der den Texten eingeschriebenen Leserolle. Sowohl Blochs Prätext, die Golemlegenden von Yudel Rosenberg, als auch die Erstveröffentlichung von Blochs eigenen Golemlegenden in der Österreichischen Wochenschrift26 waren ausschließlich an jüdische Leser gerichtet, dafür spricht im Falle von Rosenberg die Veröffentlichung in hebräischer Sprache, im Falle von Bloch die Publikation in einem jüdischen Periodikum. Bei der Publikation seiner Legenden in Buchform wählte Bloch eine andere Strategie. Auch die hier veröffentlichten Erzählungen richten sich an einen impliziten jüdischen Leser. Dafür spricht neben den Inhalten der Legenden vor allem die Gestaltung des Paratextes und hier in erster Linie die Nachbemerkungen, die eröffnet werden mit ausführlichen Darlegungen über Golemnachweise und -schöpfungen. Als Belege dafür präsentiert 25

26

Hans Ludwig Held: Zum Geleite, S. 5-8. Held hatte kurz zuvor selbst eine vielbeachtete Untersuchung über den Golem veröffentlicht: Vom Golem und Schem. In: Das Reich 1 (1916), H. 3, S. 334-379 sowie H. 4, S. 515-559. Unter dem Titel »Aus dem Leben des hohen Rabbi Löw. Neue Golem-Sagen« waren die Legenden erstmals in dem Wiener Periodikum Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift (Jg. 34, 1917, Nr. 36-50 bis Jg. 35, 1918, Nr. 1-7) veröffentlicht worden.

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Bloch – wie übrigens auch in den zahlreichen Fußnoten zu seinen Legenden – ausschließlich Nachweise aus der talmudischen und rabbinischen, also der kanonisierten jüdischen Literatur. Es folgt die Biografie Rabbi Löws sowie eine Aufzählung seiner unmittelbaren Nachkommen; dieses Mal werden die Nachweise aus jüdischen Geschichtswerken des 19. und 20. Jahrhunderts geführt (S. 132-135), so dass auf diese Weise traditionelle jüdische Gelehrsamkeit und moderne jüdische Geschichtswissenschaft zusammengeführt werden. Doch die paratextuellen Ausführungen verdeutlichen auch, dass dem Werk zugleich eine zweite, nichtjüdische Leserolle eingeschrieben ist. Zunächst spricht Bloch in den Fußnoten zu den Legenden selbst wiederholt von dem »deutschen Leser« (S. 17 und 117); dass es sich hier um einen nichtjüdischen Leser handelt, wird bereits bei der ersten Erwähnung deutlich, an der Bloch ausführt: »Die Erklärung der hebräischen und sonstigen, dem deutschen Leser fremden Worte usw. siehe Anhang.« (S. 17) Verwiesen wird damit auf einen mehrseitigen Anhang mit Worterklärungen, (S. 144f.) in dem auch Begriffe wie »Almemor«, »Jom Kippur« und »Seder« eingedeutscht und erklärt werden, d. h. Begriffe, die ausschließlich nichtjüdischen Lesern fremd gewesen sein dürften. Von größerer Bedeutung aber ist in diesem Kontext das Vorwort von Hans Ludwig Held, einem zu diesem Zeitpunkt sehr bekannten nichtjüdischen Autor, der zeitgleich mit einer eigenen Arbeit über den Golem an die Öffentlichkeit getreten war, d. h. dem nichtjüdischen Leser als eine ausgewiesene Autorität auf diesem Gebiet bekannt sein durfte. Signalcharakter für den nichtjüdischen Leser hatte aber nicht nur der Name dieses Autors, sondern auch die Tatsache, dass Held den Golemstoff in eine spezifisch christlich-literarische Überlieferungstradition einband, die er bei den Romantikern beginnen und in der unmittelbaren Gegenwart, nämlich mit dem Roman Der Golem von Gustav Meyrink, dessen »wunderbarer Erfolg das Gespensterbild des Golem wieder in aller Mund gebracht hat« (S. 6), enden ließ. Diese Traditionslinie wird auch von Bloch zunächst in seinem Vorwort aufgegriffen, in dem er sich ebenfalls auf Meyrinks Roman und die ihn prägenden mystischen Traditionen bezieht, und findet ihren Abschluss im Literaturverzeichnis am Ende des Bandes »Der hohe Rabbi Löw und sein Golem in der deutschen Dichtung und Literatur« (S. 150f.), in dem fast ausschließlich Werke nichtjüdischer Autoren aufgeführt sind. Auch in seinen Nachbemerkungen wendet sich Bloch wiederholt an die impliziten nichtjüdischen Leser, dies vor allem immer dann, wenn er christliche Geistliche oder nichtjüdische Wissenschaftler heranzieht, deren Äußerungen oder Werke die Haltlosigkeit der Ritualmordbeschuldigung belegen. Bezeichnenderweise beschließt Bloch seine Ausführungen auch mit dem Zitat eines prominenten nichtjüdischen Zeitgenossen, Tomáš Garrigue Masaryk – Bloch vergisst nicht zu erwähnen, dass er mittlerweile tschechischer Staatspräsident ist –, der sich erst wenige Jahre zuvor im Kontext des Polnaer Ritualmordpro-

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zesses gegen den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner in Polna publizistisch zu Wort gemeldet27 und die jüdische Minderheit vehement gegen diese Beschuldigung in Schutz genommen hatte: »Ich verteidige nicht die Juden, die sind gewandt genug, sich selbst zu verteidigen; aber ich verteidige die Christen vor dem fürchterlichen Ritualmordaberglauben.« (S. 143)

IV. In den vorliegenden Ausführungen wurde der Versuch unternommen, darzulegen, mit welchen komplexen narrativen Strategien zunächst Rosenberg, vor allem aber Chajim Bloch in den von ihnen veröffentlichten Golemlegenden der Ritualmordbeschuldigung und damit dem bis ins 20. Jahrhundert virulenten antijüdischen Vorurteil entgegentraten. Anknüpfend an eine lange Tradition von Golemlegenden, verfassten sie ebenfalls Legenden, in denen Rabbi Löw sowie der von ihm erschaffene Golem als Helferfiguren in Erscheinung traten, nun aber ausschließlich zu dem Zweck, die Prager Juden erfolgreich vor der Ritualmordbeschuldigung in Schutz zu nehmen. Beide Verfasser bedienten sich der sogenannten fiktiven Herausgeberschaft alter Chroniken, um ihren Legenden historische Authentizität zuzuschreiben. Im weiteren Paratext treten jedoch die Unterschiede der beiden Verfasser offen zutage. Im Gegensatz zu Rosenberg verstand sich Bloch ganz offensichtlich als ein deutsch-jüdischer Autor und damit auch der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits über hundert Jahre währenden Geschichte jüdischen Schreibens in deutscher Sprache zugehörig. Den Werken deutschsprachiger, jüdischer Autoren sind jedoch mehrheitlich zwei implizite Leserollen eingeschrieben – die des jüdischen wie des nichtjüdischen Lesers. Die sich im paratextuellen Umfeld manifestierenden Signale verweisen darauf unübersehbar: Während der nichtjüdische Leser durch die Lektüre mit seinen eigenen antijüdischen Vorurteilen konfrontiert werden sollte, boten die Texte dem jüdischen Leser Argumentationshilfe gegen diese Vorurteile sowie die Abkehr von bekannten literarischen Mustern, in denen jüdische Figuren lediglich als passive Opfer antijüdischer Vorurteile in Erscheinung getreten waren. Nicht zuletzt aus diesem Grund markieren die Golemlegenden von Bloch innerhalb der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte einen der ersten bedeutenden Versuche, dem auch in der Literatur transportierten antijüdischen Vorurteil der Ritualmordbeschuldigung ein positives jüdisches Selbstbild gegenüber zu stellen.

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T[omáš] G[arrigue] Masaryk: Die Bedeutung des Polnaer Verbrechens für den Ritualaberglauben. Berlin: H. S. Hermann 1900.

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Der Künstlerprinz im Kaiserreich Die Hofkultur Wilhelms II. und Else Lasker-Schülers Jussuf von Theben

I. Else Lasker-Schüler war fast zwei Jahre alt, als König Wilhelm von Preußen am 18. Januar 1871 zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde. Mit 25 Jahren kam sie aus dem rheinischen Elberfeld in die Hauptstadt Berlin, wo Kaiser Wilhelm II. 1888 den Thron bestiegen hatte. Der größte Teil ihres Lebens und die produktivste Phase ihres Wirkens fällt in die Epoche des Kaiserreichs, in der sie die Figur des Künstlerprinzen Jussuf schuf. Jussuf hat zunächst Meike Feßmann als »Spielfigur« und »Autorrolle« beschäftigt.1 Markus Hallensleben erkannte, dass das wilhelminische Kaiserreich verschlüsselt in Else Lasker-Schülers Jussuf-Dichtung Der Malik eingegangen ist.2 Während Claudia Breger in ihrer Diskussion literarischer Königsfiguren im Hinblick auf Jussuf nur allgemein auf Zeitbezüge eingeht, hat Doerte Bischoff der Wirkung des Zeitgeschehens auf die Jussuf-Dichtungen ausführlich Beachtung geschenkt.3 Im Folgenden soll ein Blick auf das wilhelminische Berlin geworfen werden, auf die Eindrücke und Inspirationen, die Else Lasker-Schüler dort empfangen hat. Zentrale Gestalt ist Kaiser Wilhelm II., auch er ein KunstKaiser, jedoch, wie sich zeigen wird, eine Gegenfigur zu ihrem KünstlerPrinzen. Obwohl sich Else Lasker-Schüler vornehmlich in Künstlerkreisen bewegte, war sie sich der Bedeutung aristokratischer Anerkennung und Förderung bewusst. So schrieb sie am 5. Januar 1905 an ihre Schwester Anna: »Vorgestern waren Herwarth und ich mit Prinzessin Feodora der Schwester der Kaiserin

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Meike Feßmann: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1991. Markus Hallensleben: Der Malik als Schlüsselroman. In: Else Lasker-Schüler – Jahrbuch zur Klassischen Moderne I. Hg. von Lothar Bluhm und Andreas Meyer. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000, S. 121-143. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen: Max Niemeyer 2002 (Hermae. Germanistische Forschungen Neue Folge. Hg. Von Joachim Heinzle und Klaus-Detlef Müller; 95).

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eingeladen. es stand in der Voss.«4 Dabei handelte es sich um einen Abend in der Kunstgalerie Jaffé. In dem Bericht der Vossischen Zeitung wurde Herwarth Walden, Else Lasker-Schülers zweiter Mann, Komponist, Schriftsteller, Galerist und 1910 Gründer der für die expressionistische Bewegung wichtigen Zeitschrift Der Sturm, namentlich erwähnt, nicht aber die noch unbekannte Dichterin.5 Das tat hingegen Pauline Fürstin zu Wied, Tochter König Wilhelms II. von Württemberg in ihren Erinnerungen.6 Sie unterstützte Else Lasker-Schüler in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und lud sie nach Schloss Wied zu einer Lesung ein. Ihrer Hofdame, Helle (Helene) von Loutzo widmete Else LaskerSchüler ihr erstes Theaterstück Die Wupper. Lesungen wie die ihrer »arabischen Dichtungen im Costume auf einer arabisch ausgeschlagenen Bühne vor 160 Personen Hofgesellschaft«, die Baron Reibnitz im Berliner Hotel Esplanade veranstaltete, bedeuteten »große Reclame«, wie die Performance-Künstlerin Karl Kraus berichtete.7 Vom Glanz der Hofgesellschaft fiel jedoch nur selten ein Schimmer auf die Dichterin. Allerdings war das gesamte öffentliche Leben im Kaiserreich von strahlenden Festlichkeiten erhellt. Nationalfeiertage wie den Sedanstag hatte sie schon als Schulkind erlebt. Paraden, Illuminationen und Fackelzüge belebten den Berliner Alltag. Von Schiffstaufen, Fahnenweihen und Eröffnungen öffentlicher Gebäude durch Mitglieder der kaiserlichen Familie, wenn nicht den Kaiser selbst konnte Else Lasker-Schüler, eine passionierte Zeitungsleserin, aus der Presse erfahren. Der Hof benutzte illustrierte Zeitschriften, Plakate und Filmaufnahmen, um diese Ereignisse im Volk bekanntzumachen. Sie waren entsprechend populär.8 Die Analyse des jährlich erscheinenden Handbuchs über den preußischen Hof und Staat veranschaulicht die geradezu märchenhafte Vielfalt an Personal und die komplexe Rangordnung am Hohenzollernhof. Als einer der reichsten Männer Deutschlands, der 55 Schlösser besaß oder zur Verfügung hatte, benötigte der Kaiser ein schier unermessliches Hofpersonal von den höchsten Ehrenämtern, dem Oberst-Kämmerer, -Jägermeister, -Marschall, und -Truchsess zu den Ober-Hofchargen wie dem Ober-Gewand-Kämmerer und Ober-Zere4

5 6 7 8

Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 2003, Bd. 6, S. 76. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe mit KA mit Band- und Seitenzahl verwiesen. Ebd., S. 453. Pauline Fürstin zu Wied: Vom Leben gelernt. Ludwigsburg: Ungeheuer & Ulmer 1958, S. 47. KA 6, S. 189. S. Bernd Sösemann: Hollow-Sounding Jubilees: Forms and Effects of Public Selfdisplay in Wilhelmine Germany. In: The Kaiser. New Research on Wilhelm II’s Role in Imperial Germany. Hg. von Annika Mombauer und Wilhelm Deist. Cambridge: Cambridge University Press, S. 37-62.

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monienmeister und ihren Vertretern, den Vize-Ober-Hofchargen. Zu den einfachen Hofchargen gehörten 21 Schlosshauptleute und über 280 Kammerherren. Das Ober-Hof-Marschallamt war die umfassendste Hofbehörde mit dem Hof-Pagen-Institut, wo junge Adlige wie Kurt von Schleicher und Franz von Papen ihre Laufbahn begannen. Zur unmittelbaren Dienerschaft Seiner Majestät zählten Büchsenspanner, Hof-Fouriere, Küchenmeister und Silber-Verwalter. In den Parks waren Fasanerien, Schwanenzuchtanstalten und die Parforce-Jagd-Equipagen unter dem Ober-Piqueur untergebracht. An den Königlichen Schauspiel- und Opernhäusern (einschließlich Hannover, Kassel und Darmstadt) mit 22 Intendanten arbeiteten weit über 1000 Personen. Zum Hof gehörte auch ein umfangreiches militärisches Gefolge vom vortragenden General-Adjutanten über den General à la Suite zu den fünf Flügel-Adjutanten und, im Jahr 1900, weitere 26 Generale, Admirale und zusätzliche »Diensteinstellungen«. Die Gesamtkosten für den Hof wurden aus dem Allerhöchsten Dispositionsfond finanziert und betrugen »mehr als der Reichskanzler, die Reichskanzlei, das Auswärtige Amt (mit dem gesamten diplomatischen Korps und dem Konsulardienst), das Kolonialamt, und die Reichsjustizverwaltung zusammen.«9 Der Kaiser liebte es, sich mit einem Kreis auserlesener Staatsdiener und Militärs zu umgeben und erhob viele, nach Meinung der alten Adelsfamilien zu viele, in den Fürstenstand. Höchste Auszeichnung war der schon 1701 gestiftete Hohe Orden vom Schwarzen Adler, den Wilhelm II. ebenfalls großzügig verlieh. All das hatte ein verwirrendes Hof-Rang-Reglement mit 62 Rangstufen und daraus resultierenden Rangstreitigkeiten bei Hofbällen und der Defilier-Cour, dem salut du trône, zur Folge. (Der Bayerische Hof kam mit drei Rangstufen aus, der Wiener Hof mit fünf.) Dem Glanz der Hohenzollernmonarchie lag der unbändige Enthusiasmus Wilhelms II. für Schönheit und das, was er das »Ideale« nannte, zu Grunde. Deshalb förderte er Wissenschaft und Kunst zum Beweis, dass in seinem Reich das Ideale Ziel aller kulturellen Bestrebungen war, während andere Völker den Sinn dafür verloren hatten. Auch darin sah er die Vorrangstellung des deutschen Volkes, nicht nur in militärischer Macht. Der Kaiser interessierte sich für alles: Künste und Technik, Entdeckungen und Wissenschaft. So hatten es ihm Archäologie und Orientalistik angetan. Da ihm die antike Kunst als die höchste galt, wollte er ihre Wurzeln finden, »um den Einfluss des Ostens auf den Westen in kultureller Beziehung zu ergründen«. Er übernahm »mit Freude« den Vorsitz der Deutschen OrientGesellschaft, versäumte keinen ihrer öffentlichen Vorträge und ließ sich ständig über die Ausgrabungen in Ninive, Assur, Babylon, Ägypten und Syrien berichten. Assyrologie erschien ihm besonders wichtig, da von ihr 9

John C. G. Röhl: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. 3. Aufl. München: C. H. Beck 1988, S. 82.

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»Beleuchtung und Belebung des Alten Testamentes, also der Heiligen Schrift, zu erwarten war«.10 Nachdem der Assyrologe Friedrich Delitzsch in einer Vortragsreihe der Orientgesellschaft den »Babel-Bibel Streit« entfacht hatte, indem er die teilweise Abhängigkeit der alttestamentlichen Religionen von der babylonischen behauptet hatte und heftig von christlichen wie jüdischen Theologen angegriffen wurde, ließ der Kaiser durch seinen »bewährten Freund und glänzenden Theaterintendanten, den Grafen Huelsen-Haeseler, das Stück »Assurbanipal« in Szene setzen« und unter Aufsicht der Orientgesellschaft aufführen. »Zur Generalprobe wurden Assyrologen aller Länder eingeladen. Man sah in den Logen in bunter Reihe Professoren, protestantische und katholische Geistliche, Juden und Christen beieinandersitzen.« Der Kaiser erinnert sich an den Dank vieler dafür, dass er dem großen Publikum »die Bedeutung der Assyrologie näher gebracht hätte«.11 1898 unternahm Wilhelm II. eine Reise in den Orient, die ihn nach Konstantinopel, Haifa, Jaffa, Jerusalem, Beirut und Damaskus führte. Anlass war die Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem am 31. Oktober, dem Reformationsfest. Für kurze Zeit hatte der Kaiser mit dem Gedanken gespielt, das Protektorat einer zu errichtenden jüdischen Heimstätte in Palästina zu übernehmen, wovon sich Theodor Herzl so viel versprach. Wilhelm empfing ihn und seine Delegation in Konstantinopel, aber Sultan Abdulhamid wies die Idee »so schroff von sich, daß der kaiserliche Gast die Angelegenheit nicht mehr weiter verfolgen konnte«.12 Von Haifa, wo über 500 Teilnehmer, die auf vier Schiffen gekommen waren, zu Wilhelms großem Gefolge stießen, zog »eine gewaltige Karawane« mit 1300 Pferden und Mauleseln, 230 Zelten und 100 Kutschen nach Jerusalem und von dort nach Damaskus. Diese Stadt nannte der Kaiser »eine Perle unter den Städten der Welt«, Jerusalem dagegen in einem Brief an seine Mutter, die Kaiserin Friedrich, »gänzlich verdorben durch die vielen modernen Vororte« und die Kolonisten, »schmierig, erbärmlich, kriechend und verkommen [...] Lauter Shylocks allesamt«.13 Ganz anders war der enthusiastische Empfang der Syrer in Damaskus, wo Kaiser Wilhelm »alle Welt mit der Verkündigung in Erstaunen setzte, er betrachte sich als Beschützer aller Muslime der Welt«.14 Die privaten Äußerungen Wilhelms II. über seine Eindrücke von Palästina gelangten nicht an die Öffentlichkeit. Die Reise nach Jerusalem wurde vielmehr als Pilgerfahrt Seiner Majestät in zahllosen Pressepublikationen, Bü10 11 12 13

14

Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten 1878-1918. Leipzig, Berlin: K. F. Koehler 1922, S. 168. Ebd., S. 169. John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900. München: C. H. Beck 2001, S. 1057. Zu Wilhelms II. Antisemitismus, der während des Zweiten Weltkriegs »geradezu genozide Züge« annahm, vgl. John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941. München: C. H. Beck 2008, S. 291-297 und S. 1317-1323. Ebd., S. 1059.

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chern, selbst Kinderbüchern dargestellt. Für die satirischen Blätter wie den Simplizissimus war sie willkommne Nahrung. Das trug Frank Wedekind und dem Karikaturisten Thomas Theodor Heine Festungshaft ein, der Verleger Albert Langen floh nach Frankreich. War Else Lasker-Schülers Erzählung »Der Kreuzfahrer«,15 die 1910 im Sturm erschien und 1914 in den Band Der Prinz von Theben aufgenommen wurde, von den Erinnerungen an diese Ereignisse inspiriert? Wenn ja, war sie eine wilde Entgegnung auf den allerhöchsten Kreuzfahrer, denn die Prinzessin von Bagdad steht hier an der Spitze eines Heeres bestehend aus Kämpfern aller arabischen Länder sowie der Stämme der Juden. Vereint schlagen sie die Eindringlinge, auch der junge Kaiser Konradin fällt ihnen zum Opfer. Nichts, auch nicht das brennende Interesse an der Orientalistik überstieg jedoch die Begeisterung Wilhelms II. für das Hellenentum. Auf Korfu beschäftigte er sich persönlich mit den Ausgrabungen. Er berief den Archäologen Wilhelm Dörpfeld, »der die alten Homerischen Lieder vortrug« und die archäischen Ansiedlungen wieder feststellen konnte. »Das fesselte mich dergestalt, daß ich gemeinsam mit der Kaiserin in Dörpfelds Begleitung eine Fahrt zu Wasser unternahm, um selbst die Probe aufs Exempel zu machen.« Sie besuchten die aus der Odyssee bekannten Orte, »wobei Dörpfeld den betreffenden beschreibenden Text aus dem Homer vorlas. Überrascht mußte ich zugeben, daß Gegend und Beschreibung einander vollkommen entsprachen.«16 Die Begeisterung für die Antike bestimmte Wilhelms Verhältnis zur Kunst. »It was unfortunate for modernism in Germany that William II, unlike most heads of his time, took art seriously«, schreibt Peter Paret.17 Geprägt vom künstlerischen Interesse seiner Eltern nahm der Gymnasiast Zeichenunterricht an der Kunst-Akademie in Kassel und in Berlin bei dem Historienmaler Anton von Werner, der als Direktor und Vorsitzender zahlreicher Institutionen zum mächtigsten Vertreter der kaiserlichen Kunstpolitik werden sollte.18 Wilhelm wäre gern Bildhauer geworden, was durch den Geburtsschaden am linken Arm nicht möglich war. Er zeichnete mit Vorliebe Allegorisches wie die tausendfach vervielfältigte Skizze »Völker Europas, wahrt Eure heiligsten Güter«. Er liebte die Marinemalerei und stellte sein Ölbild mit der Darstellung eines Kriegschiffs aus. Über alles schätzte er die Historienmalerei und hegte eine Abneigung gegen die Impressionisten. Sie missfielen ihm wegen der Konturlosigkeit ihrer Bilder. Kunst soll die Schönheit feiern. Das gelinge nur in harmonischen Werken mit klaren Konturen. Zudem liefen die akademischen Maler und das nationalkonservative Establishment Sturm gegen die Ausstellung französischer Malerei in der Nationalgalerie. Die Schwierigkeiten, die das dem 15 16 17 18

KA 3.1, S. 408-412. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 10), S. 170. Peter Paret: German Encounters with Modernism, 1840-1945. Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 94. S. das Kapitel »Der Kaiser und die Kunst«. In: Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 12), S. 984-1026.

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Direktor Hugo von Tschudi bereitete, sind bekannt. Sie führten zu der »absurden Lage«, dass das Museum mit den reichsten Privatmitteln in Europa moderne Kunst nicht kaufen und nur begrenzt als Geschenk annehmen konnte.19 Der Kaiser war auf allen Gebieten der Kunst aktiv. Er kontrollierte und machte detaillierte Vorschläge für die Entwürfe von Postämtern und Kirchen, voran den Berliner Dom. Er entwarf Äbtissinnenstäbe, Fahnen und Uniformen und suchte persönlich die Hüte der Kaiserin aus, die er jedes Jahr in einer Ausstellung zeigte. Er komponierte Lieder, veranstaltete theatralische Einweihungen mit historischen Umzügen. Er umgab sich mit ungewöhnlichen Requisiten. An seinem Schreibtisch stand kein Stuhl, sondern ein Reitsattel. Er schrieb mit Adlerfedern und Gänsekielen. Kaiser Wilhelm war überzeugt, dass Kunst nur in einer Monarchie gedeihen konnte. Er sah sich wie die kunstliebenden Fürsten der italienischen Renaissance, die Aufträge erteilten und dafür Meister fanden, die neue Kunstschulen begründeten. Diese Gedanken verkündete der Monarch anlässlich der Vollendung der Berliner Siegesallee, in der zwischen 1895 und 1901 insgesamt 32 Marmorskulpturen bedeutender Männer aus der Geschichte Brandenburgs – darunter seine Vorfahren – aufgestellt wurden. Bei der Aufstellung jedes neuen Standbilds erschien der Nachkomme im jeweils passenden historischen Kostüm. In seiner Rede legte der Kaiser seine Kunsttheorie dar. Kunst, erklärte er, »nimmt ihre Vorbilder und schöpft aus den Quellen der großen Mutter Natur«, die sich »nach den ewigen Gesetzen, die der Schöpfer sich selbst gesetzt hat«, bewegt. »Ebenso ist’s in der Kunst; und beim Anblick der herrlichen Überreste aus der alten klassischen Zeit überkommt einen auch wieder dasselbe Gefühl; hier herrscht auch ein ewiges, sich gleich bleibendes Gesetz: das Gesetz der Schönheit und der Harmonie, der Aesthetik.« Deshalb kann der Betrachter beim Anblick »einer besonders guten Leistung« in der zeitgenössischen Kunst kein größeres Lob spenden als zu sagen: »Das ist beinahe so gut, wie es vor 1900 Jahren gemacht worden ist.« Damit war das Todesurteil über jede künstlerische Entwicklung und somit über die moderne Kunst gesprochen. Kunst sollte, wie der Kaiser in seiner Rede fortfuhr, nicht nur das hellenische Schönheitsideal vor Augen führen. Sie soll, und das ist ebenso wichtig, »mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten«. Deshalb lehnte Wilhelm II. den Naturalismus ab. Wenn die Kunst »weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit«, und die Kunst bietet dazu die Hand, aber nur »wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt!«20 19 20

Ebd., S. 1013. Der Text der Rede ebd., S. 1022-1025.

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Kaiser Wilhelm II. als Großer Kurfürst auf einem Kostümfest bei Hofe 1894 [Bpk Berlin: Foto Atelier E. Bieber]

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Als höchster Repräsentant des Reiches, in dem das ganze Volk an dieser Kulturarbeit teilnehmen sollte, musste auch die äußere Erscheinung des Kaisers »erheben« und Schönheit ausstrahlen. So erlebte Walther Rathenau ihn bei dem ersten Treffen. »Da saß ein jugendlicher Mann in bunter Uniform, mit seltsamen Würdenzeichen, die weißen Hände voll farbiger Ringe, Armbänder an den Handgelenken; zarte Haut, weiches Haar, kleine weiße Zähne. Ein rechter Prinz; [...].«21

II. Im Reich dieses schönheitstrunkenen Prinzen errichtete Else Lasker-Schüler das Reich des Prinzen Jussuf. »Ich will Niedagewesenes.«22 Das war Else Lasker-Schülers künstlerisches Credo. Bereits 1907 hatte sie mit den Geschichten in der Sammlung Die Nächte Tino von Bagdads23 eine in der deutschen Literatur nie dagewesene, ebenso farbenprächtige wie fantasievolle orientalische Hofkultur erstehen lassen. Prinzessin Tino, die »Dichterin Arabiens« und Tänzerin, trägt Gewänder aus Traumseide, die Menschen Arabiens schmücken sich mit Perlenohrreifen, zitronenfarbenen Turbanen auf blauen Haaren und schellenbehangenen Röcken. Khedifen bauen prächtige Paläste und Gotteshäuser. Zum Gesinde gehören Fächerträger, Fruchtveredler und Grüßer. Wenn ein Mächtiger stirbt, tanzen Derwische und heulen die Totenweiber. Zu ihrer Ermunterung erhält die Prinzessin fünfhundert tanzende Zwerginnen. Um 1910 löst die Figur des Prinzen von Theben die der Prinzessin Tino ab. Jetzt tritt der Herrscher eines Kunstreichs in Erscheinung, mit dem sich Else Lasker-Schüler von nun an identifiziert. Sie gibt einer Prosasammlung seinen Namen24 und nennt die Mappe Theben25 nach seinem Reich. Mit »Jussuf Prinz von Theben« signiert sie ihre Briefe, Vignetten mit seinem Portrait zieren zahlreiche Briefköpfe. Er erscheint auf ihren schönsten Zeichnungen. In einem kurzlebigen Performance-Projekt wollte sie 1910 zunächst als Tino auftreten und syrisch sprechen, dann aber entwirft sie ein Prinz von Theben-Kostüm und fertigt selber den dazugehörigen Muschelgürtel an. Eine bis heute weit verbreitete Fotografie Else Lasker-Schülers in dieser Tracht wurde zu Werbezwecken hergestellt. Wer ist dieser Fürst? Sein Name ist die ägyptische Version des hebräischen Josef und verweist auf Else Lasker-Schülers biblische Lieblingsfigur. Wie Josef der Träumer und Traumdeuter von seinen Brüdern verraten und verkauft wurde, fühlte sie sich von vielen Menschen unverstanden und verlacht. Im 21 22 23 24 25

Walther Rathenau: Der Kaiser. Eine Betrachtung. Berlin: S. Fischer 1919, S. 27. KA 7, S. 71. KA 3.1, S. 69-95. Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch. KA 3.1, S. 379-408. Else Lasker-Schüler: Theben. Gedichte und Lithographien. Frankfurt am Main, Berlin: Querschnitt-Verlag 1923 (Francke 1998).

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ägyptischen Exil gelangte Josef zu hohen Ehren und konnte während einer Hungersnot seinen Brüdern helfen. So wie er ihnen Korn schenkte, schenkt die Dichterin den Menschen ihre Dichtungen und ihre Bilder. Der Prinz von Theben ist ein Künstler. Er dichtet, malt, bildhauert und musiziert. In der Mappe Theben gibt es ein Bild, »Jussuf modelliert seine Mutter«, ein anderes heißt »Jussufs Morgenmusik«, darauf spielt er eine Handleier.26 Als Künstler ist der Prinz auch ein Kämpfer für die Kunst. Auf vielen Pastellzeichnungen und den zahllosen Vignetten in den Briefen Else Lasker-Schülers ist Jussuf fast immer in kriegerischer Pose dargestellt. Er trägt Stiefel, den Dolch im Gürtel oder den Speer in der Hand, den Kopf zur Seite gewandt, mit grimmigem Gesichtsausdruck. Aber immer schmückt besänftigend eine Mondsichel und darin ein Stern die Wange. Manchmal trägt er einen fantastischen Federhut. Mit Herwarth Walden stand Else Lasker-Schüler an der Spitze der künstlerischen Avantgarde im Kampf für die Moderne. In Prosaportraits und Gedichten feierte sie Dichter und Maler: Gottfried Benn, Georg Trakl, Franz Werfel, Oskar Kokoschka, Franz Marc und viele mehr. Else Lasker-Schülers alter ego Jussuf ist unermesslich reich. Alles, was die Dichterin entbehrt, besitzt der Prinz von Theben. In seinen Palästen mit einer multikulturellen Dienerschaft verteilt er Geschenke an die Künstlerfreunde: Silbertauben, verzuckerte Rosen, Salbengefäße und kostbare Ringe. Erlesen sind auch die Namen, die der Prinz den Freunden gibt. Der unbestechliche Kritiker Karl Kraus wird Kardinal genannt. Franz Marc heißt Ruben nach dem biblischen Halbbruder Josefs, der einzige, der ihn nicht verriet. Gottfried Benn, ein ganz anderer Dichtertyp als Else Lasker-Schüler, wird zu Giselheer, dem Heiden. Schließlich beschenkt der Prinz seine Freunde mit Gedichten, auserlesene wie Gottfried Benn werden mit Gedichtzyklen gleichsam geadelt. Als Prinz von Theben konnte die Dichterin ein befreiendes Kunstspiel treiben. Im Spiel verwirklicht sich der Mensch. Er spielt für sich oder mit anderen und er spielt vor Gott, wie es im Buch der Sprüche heißt: »Da war ich der Liebling an seiner Seite, war Tag für Tag das Ergötzen, spielend vor ihm alle Zeit. Da spielte ich auf dem weiten Rund der Erde und hatte mein Ergötzen mit den Menschenkindern.«27 Die Künstlerfreunde spielten das Spiel mit. Sie sprachen Else Lasker-Schüler mit »Prinz von Theben« an. Sieben Maler entwarfen sieben Kronen für den Herrscher, darunter die »Spielkrone« von Franz Marc, die in Else Lasker-Schülers Buch Der Malik abgebildet sind.28 26

27

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Reproduktionen der beiden Bilder im Ausstellungskatalog von Ricarda Dick: Else Lasker-Schüler: Schrift: Bild: Schrift. Hg. vom Verein August Macke Haus e. V. Bonn 2000 (Schriftenreihe Verein August Macke Haus Bonn; 35), S. 109 und 124. Das Buch der Sprüche 8, 30f. Eine frühe Vorstellung des mit Gott spielenden »Gottes Schlingels« erscheint in dem Gedicht »Im Anfang« KA 1.1, S. 71 und 176. Zum Begriff des Schelmischen vgl. Vivian Liska: Die Dichterin und das Schelmisch Erhabene. Else Lasker-Schülers Die Nächte Tino von Bagdads. Tübingen: Francke 1998. KA 3.1, S. 462-466.

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Selbstbildnis des Prinzen von Theben im Kriegshut. Zeichnung von Else Lasker-Schüler [Abbildung: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag]

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Das Buch, auf das sich meine Ausführungen beschränken müssen, hat eine längere Entstehungsgeschichte. 1913 hatte Else Lasker-Schüler eine ähnliche Folge von Briefen zu schreiben begonnen, wie es die zwischen September 1911 und Juni 1912 im Sturm veröffentlichten halb fiktiven »Briefe nach Norwegen« gewesen waren.29 Sie nannte die neue Serie »Briefe und Bilder«.30 Der Empfänger war Jussufs geliebter Halbbruder Ruben alias Franz Marc. Die Briefe erschienen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren in drei verschiedenen Zeitschriften, Die Aktion, Der Brenner und Die Neue Jugend. So wie die Briefe nach Norwegen in überarbeiteter Fassung 1912 als Buch unter dem Titel Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen31 veröffentlicht wurden, so auch die »Briefe und Bilder«. Sie wurden als Der Malik. Eine Kaisergeschichte »mit Bildern und Zeichnungen von der Else Lasker-Schüler« in die zehnbändige Werkausgabe aufgenommen, die 1919 bis 1920 im Paul Cassirer Verlag in Berlin erschien. Else Lasker-Schüler hatte die Einbandzeichnungen entworfen. Der Malik ist »Meinem unvergesslichen Freund Franz Marc DEM BLAUEN REITER in Ewigkeit« gewidmet. Marcs Aquarell »Schloss Ried« erscheint als Frontispiz. Im Malik erhebt sich Jussuf zum Kaiser. Else Lasker-Schüler benutzt das hebräische Wort Malek oder Melech, was eigentlich König bedeutet. Nun nimmt die Jussuf-Figur festere Konturen und seine Regierungsform deutlichere Strukturen an. Das Thebenreich ist keine Monarchie, sondern trägt eher die Züge einer Demokratie. Jussuf hat keine Untertanen, alle sind ihm ebenbürtig. Er proklamiert: »Ich will Kaiser sein über Kaiser.«32 Jussuf duzt sich mit seiner Leibgarde. Sein getreuer Diener Oßman, ein Somali, besteigt jedes Jahr einen Tag lang den Thron und setzt sich die Krone auf das wollige Haupt. Jussuf hat die Krone nicht von Gott empfangen. (Wilhelm II. betonte hingegen, dass die Krone allein von Gottes Gnaden verliehen ist und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen oder Volksbeschlüssen.) Theben hat eine ganz andere Fahne als das Deutsche Reich. In einem Brief Jussufs an Ruben heißt es: »Mit bunt Volk muß man gold und lila sein, nicht schwarz, weiß, ziegelrot, das sind zu harte Farben«.33 Selbst solche kaiserlichen Lustbarkeiten wie die Jagd gibt es in Theben nicht. Nie würde Jussuf ein Tier töten. Kernstück des Buchs ist die Krönungsrede, in der der Malik gleichsam die Liebe zur Regierungsform erklärt. »So lieb ich Euch ihr Brüder und Schwestern Meiner Stadt Theben, und ich bin euer Bruder und euer König und euer Knecht. Denn wer nicht gehorchen kann, kann nicht regieren, und wer nicht 29 30 31 32 33

KA 3.1, S. 177-261. Der Malik. Eine Kaisergeschichte mit selbstgezeichneten Bildern. KA 3.1, S. 431521. Else Lasker-Schüler: Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen. München: F. H. S. Bachmair 1912. KA 3.1, S. 470. KA 3.1, S. 432.

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regieren kann, rühme sich der Demuth nicht.«34 Hier scheint ein anderer Herrscher aus dem Hause Hohenzollern dem Malik über die Schulter zu schauen. Friedrich der Große hatte sich als den »obersten Diener des Staates« bezeichnet. Auch er war ein den Künsten – aber nicht der deutschen Literatur – aufgeschlossener König gewesen. Während Else Lasker-Schüler ihre Briefe an Ruben schrieb, brach der Weltkrieg aus. Das spiegelt sich auch im Malik. Im Gegensatz zu den unzähligen bekannten und unbekannten Poeten, die 1914 Gedichte zur Verherrlichung des Krieges schrieben – Julius Bab schätzte, es waren im August 1914 »mindestens 50 000 täglich«35 – schrieb sie kein einziges. Der Malik ist »fest entschlossen, unter keiner Bedingung sich an dieser Menschenschlacht zu beteiligen«.36 In dem teilweise aus der Rückschau geschriebenen Malik weiß der Künstlerkaiser, wenn er seine ehemals bunte und nun feldgraue Freundesschar um sich versammelt, wer von ihnen nicht zurückkehren wird, darunter Ruben und Caspar Hauser (Georg Trakl). Er erzählt ihnen »von dem fürchterlichen Gesicht, das Er einige Tage vor dem Kriege gehabt habe. Ihm habe geträumt, Er wäre der Kaiser Wilhelm gewesen und drei Riesenschlangen seien Seinem Lager entstiegen, die gescheckte neigte sich, Ihn zu beißen, als Er jäh erwachte und gerettet war.«37 Ruben habe ihm den Traum gedeutet und den Krieg prophezeit. Doerte Bischoff weist auf die zahlreichen »Kriege« hin, die Jussuf zu führen gezwungen ist.38 Kampf- und Kriegsmetaphern durchziehen nicht nur die Jussuf-Dichtungen und die gesamte Korrespondenz Else Lasker-Schülers. Jussuf kämpft für die Kunst, die Dichterin kämpft gegen den Krieg. Außerdem integriert sie ihren Privatkrieg gegen Gottfried Benn, von dem sie sich zurückgewiesen fühlte, in den Malik. Es ist ein zwischen politischem Pazifismus und künstlerischem Militarismus schillerndes Werk. So schillernd wie der männlich/weibliche Name Jussuf Abigail, den sich der Malik schließlich zulegt. Am Schlimmsten war es für Jussuf, dass sein Halbbruder Ruben freiwillig in den Krieg gezogen war. Sollte Franz Marc sich im Freundskreis so geäußert haben wie in den Briefen an seine Frau, kann man Else Lasker-Schülers Trauer begreifen. Marc sah im Krieg eine »Reinigung« von der »Verlogenheit der europäischen Sitte. Lieber Blut als ewig schwindeln«. In seinem Brief vom 6. April 1915 widersprach er seiner Frau, die den Krieg als »Dummheit« bezeichnet hatte und nannte ihn »etwas sehr Großes und Furchtbares«.39 Nach Rubens Tod schreibt Jussuf keine Briefe mehr. Es wird nur noch das Ende des Malik erzählt. Er klagt den Freunden, ja er klagt sie an: »Ihr habt das 34 35 36 37 38 39

KA 3.1, S. 470. Julius Bab: Die deutsche Kriegslyrik 1914-1918. Eine kritische Bibliographie. Stettin: Norddeutscher Verlag für Literatur und Kunst 1920, Bd. 1, S. 25. KA 3.1, S. 483. KA 3.1, S. 490. Bischoff, Ausgesetzte Schöpfung (wie Anm. 3), S. 335-348. Franz Marc: Briefe aus dem Feld. Berlin: Rembrandt-Verlag 1941, Bd. I, S. 58f.

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von Gott Euch anvertraute Abendland nicht liebevoll genug gepflegt. Wie wäre sonst aus seiner schattigen Eiche eine kühle Formel geworden«. Mit der »kühlen Formel« sind die Eichenhaine gemeint, die zu Ehren der Gefallenen angelegt wurden. In erregten Diskussionen über den Krieg bäumt sich der Malik auf »in wildem Gemütsturz«. »Sein Hass gegen die wunderlose kalte Welt begann zu lohen, deren Hauptsünde die Nüchternheit war der tote Fisch ihrer Herzen.«40 In einer Welt ohne Wunder konnte der Malik nicht mehr leben. Er hat viele seiner Spielgefährten im »ungläubigen Krieg der Christenhunde« verloren. In abgrundtiefer Trauer nimmt der Malik sich das Leben. Jussuf hat nur einen »herzoglichen Freund«, der sich dem Kriegstaumel entzieht. Gemeint ist der Journalist Hans Adalbert von Maltzahn. Aus altem Militäradel stammend, war der Offizier als Pazifist aus dem Weltkrieg heimgekehrt. Im Malik heißt es von ihm, er habe es sich zur Aufgabe gemacht, »alle Erdteile miteinander zu verbrüdern, eine internationale Welt schon im Interesse der Kunst zu schaffen [...].«41 Gerade darauf kam es Else Lasker-Schüler an. Sie erkannte, dass die Moderne eine internationale Bewegung zur Verständigung der Völker war. So hatte Herwarth Walden 1913 im Ersten Deutschen Herbstsalon Künstler aus 12 verschiedenen Ländern ausgestellt, darunter Picasso, russische Kubisten und italienische Futuristen. Die großen Galeristen in Berlin, München und Paris vertraten Maler und Bildhauer aus vielen Ländern. Museen begannen moderne Kunst zu erwerben, nicht allerdings die Berliner staatlichen Galerien. Das »Fest der Künste«, das Paul Cassirer in einer grandiosen Vision für Berlin geplant hatte, wäre ein multikulturelles und internationales Fest geworden.42 Else Lasker-Schüler sah bei Kriegsausbruch voraus, dass diese Künstler, die einander kannten und bewunderten, sich nun bekämpfen und umbringen würden. Die Rettung der Welt durch die Kunst war ihre Vision, jetzt musste sie ihr als Illusion erscheinen. Sie wusste auch, dass mit diesem Krieg ihr Theben untergehen würde. Theben war Else Lasker-Schülers Antwort auf das Kaiserreich, in dem sie lebte und litt, dass sie aber auch liebte. Die ersten 23 Jahre in Berlin waren ihre produktivsten. In diesem Zeitraum schrieb sie ihr erstes Theaterstück und veröffentlichte 11 Bücher. Bis zu ihrem Tod 1945 erschienen noch 8. Eines davon in Zürich, eines in Jerusalem. Im Exil war sie, wie alle Vertriebenen, heimwehkrank. Ihr Heimweh galt der Kaiserstadt, der sie so viel verdankte. In ihren »Tagebuchzeilen aus Zürich« nennt sie die Scheidung ihrer Ehe begreiflicher als ihre Ausbürgerung, die sie eine »gewaltsame Scheidung« nennt, 40 41 42

KA 3.1, S. 485. KA 3.1, S. 480. S. Paul Cassirer: Ein Fest der Künste (1911). In: Ein Fest der Künste. Paul Cassirer der Kunsthändler als Verleger. Hg. von Rahel E. Feilchenfeldt und Thomas Raff. München: C. H. Beck 2006, S. 385-387.

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Sigrid Bauschinger

»Denn ich liebte schon Berlin, / unter Wilhelm und Auguste, / Rex und seiner Kaiserin«.43 »Freundschaft der Monarchen! Dieser Dichtertraum ist unmöglich«, hatte Walther Rathenau ausgerufen. Sobald das Leben eines Regenten zum Staatsakt werde, werde aus dem Verhältnis der Menschlichkeit eine Beziehung der Nützlichkeit.44 Die Beziehung war nützlich für die von Wilhelm II. geförderten akademischen Künstler wie für Kaiser und Staat, die sich in deren Kunst verherrlicht sahen. Für beide jedoch führte die Nützlichkeitsbeziehung in eine Sackgasse. Peter Paret sah, dass die Vorlieben und Abneigungen des Kaisers einen ideologischen Antagonismus in die Kunst einführten: »that, in the end, weakened rather than strengthened German society and the imperial system.«45 Entsprechend hatte Rathenau die Tragik Wilhelms II. darin erkannt, dass er »alles lieben musste, was ihm tödlich war und alles verfolgen, was ihn hätte retten können«.46 Else Lasker-Schüler aber hat den Dichtertraum von der Freundschaft der Monarchen nicht nur geträumt, sondern ihn in dem Kunstreich Theben, regiert von einem Künstler, im Kunstwerk Wirklichkeit werden lassen.

43 44 45 46

KA 4.1, S. 415. Rathenau, Der Kaiser (wie Anm. 21), S. 17. Peter Paret: The Berlin Secession. Modernism and its Enemies in Imperial Germany. Cambridge: Harvard University Press 1980, S. 28. Rathenau, Der Kaiser (wie Anm. 21), S. 11.

Andreas B. Kilcher

Literatur und Gesetz Kafkas Schreibtisch1

Der Schreibtisch ist Kafka ein elementarer Ort. Das könnte trivial sein, wäre er bloßes Mittel zum Zweck eines wie auch immer gewöhnlichen oder geregelten Schreibens. Gerade dies ist der Schreibtisch bei Kafka aber nicht, sondern in zweifacher Funktion ungleich viel mehr: als Büro und als Literaturwerkstatt. Der Versicherungsbeamte und Schriftsteller Kafka verbindet am Schreibtisch in der Tat zwei konträre, dennoch auf komplexe Weise miteinander verbundene Schreibweisen: auf der einen Seite die der Verwaltung, des Versicherns, Haushaltens und Ordnens; auf der anderen Seite die der Verwandlung, des Verunsicherns, Verschiebens, Verdichtens. Diese tiefgreifende Alternative lässt sich mit Nietzsche, von Kafka früh gelesen und geschätzt, auf eine nachgerade mythische Konstellation zurückführen: auf das Verhältnis zwischen den apollinischen Prinzipien der Ordnung, Formgebung und Versicherung zum einen und den dionysischen Prinzipien der Entgrenzung, Formauflösung und Verunsicherung zum anderen.2 In überraschend analogen Kategorien der jüdischen Literatur wiederum, von Kafka wiederholt durchdacht, entsprechen dem zwei komplementäre Schreib- und Argumentationsweisen, die bekanntlich schon Walter Benjamin für Kafka stark gemacht hatte: »Halacha« und »Aggada« – Gesetz und Literatur: Auf der einen Seite Kanonisierung, Regel, Abstraktion; auf der anderen Seite Erzählung, Parabel, Fabel. Nicht auf Heinrich Heines Gedicht »Jehuda ben Halevy« (1851) bezog sich Benjamin dabei, das mit der »Fechterschul« des Verstandes und dem poetischen »Garten der Phantasie« zwei Schreibweisen nebeneinander stellte, wie sie noch dem Dichter-Philosophen Jehuda Halevy gleichermaßen zur Verfügung standen. Benjamin bezog sich vielmehr auf einen Aufsatz des neuhebräischen – und von Nietzsches Vitalismus her denkenden3 – Dichters Chajim Nachman Bialik, den Gershom Scholem 1916 unter dem schlichten Titel Halacha und Aggada in deutscher Übersetzung vorlegte. Davon ausgehend stellte 1 2 3

Der vorliegende Beitrag ist eine stark erweiterte Fassung meiner Einleitung in: Andreas Kilcher: Franz Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 7-9. Für alle und keinen Lektüre. Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin: Diaphanes 2008. Vgl. Jüdischer Nietzscheanismus. Hg. von Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik. Berlin, New York: de Gruyter 1997 (Monographien und Texte zur NietzscheForschung; 36).

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Andreas B. Kilcher

Benjamin im brieflichen Austausch mit Scholem die These auf, dass Kafkas Schreiben – beispielhaft für die jüdische Moderne überhaupt – einen Übergang von Gesetz und Literatur vollziehe. Tora – Gesetz, Lehre, Wahrheit – sei in Kafkas Texten nicht mehr verstehbar, nur noch erzählbar: Tradierbarkeit ohne Tradition, Halacha ohne Aggada: »Er gab die Wahrheit preis, um an der Tradierbakreit, an dem hagadischen Element festzuhalten«.4 Bialiks Aufsatz kann eine solche Lektüre mit Fug und Recht höchst wortkräftig suggerieren, wenn er in der Rhetorik des Nietzscheanischen Vitalismus einen Antagonismus von Gesetz und Literatur aufstellt, wonach das Gesetz rational, statisch, tot, die Literatur aber phantasiereich, dynamisch und lebendig ist: Das Antlitz der Halacha – grämlich, das der Aggada, lachend. Jene pedantisch, erschwerend, hart wie Stahl – die Ordnung der Strenge; diese freimütig, erleichternd, weicher als Öl – die Ordnung des Erbarmens. Jene ordnet an und weicht nicht um Haaresbreite davon ab; ihr Ja ist Ja und ihr Nein ist Nein; diese gibt einen Rat und bedenkt die menschliche Kraft und Einsicht: Ja und Nein werden schlaff in ihrer Hand. Jene – Schale, Körper, Handlung; diese – Gehalt, Seele, Intention. Dort versteinertes Beharren, Zwang, Fron; hier dauernde Erneuerung, Freiheit, Willkür. So heisst es von Halacha und Aggada in ihrer Beziehung auf das Leben, und über ihre Beziehung auf das Schrifttum pflegt man hinzuzusetzen: dort dürre Prosa, ein präziser und feststehender Stil, graue eintönige Sprache – Vorherrschaft des Intellekts; hier die Frische der Dichtung, ein fliessender und abwechslungsreicher Stil, buntfarbene Sprache – Vorherrschaft des Gefühls.5

Auf gänzlich andere Weise als Benjamin das mit Bialiks jüdisch-literarischem Kategorienpaar getan hat, lässt sich jene Konfiguration von Gesetz und Literatur an Kafkas doppelter Imagination seines Schreibtischs auch sehr konkret vor Augen führen. In der Tat: Wer Kafka verstehen will, muss sich mit jenen beiden Schreibweisen des Büros und der Literatur vertraut machen, d. h. mit ihrer aufstörenden Konkurrenz, zugleich aber auch mit ihrer komplexen Interdependenz. Das lässt sich mit Kafka selbst insofern hervorragend tun, als er die Art und den Ort seines Schreibens vielfach thematisiert. Und er tut dies weniger abstrakt in Kategorien, sondern höchst konkret, anschaulich, gegenständlich, dinglich in einer Art Phänomenologie des Schreibtischs. Es ist dies in der Tat ein auffallend häufiger und denkbar perspektivenreicher Gegenstand Kafkas, der seit der Gymnasialzeit ein stolzer Besitzer eines eigenen Schreibtisches war.6 4

5 6

Benjamin über Kafka: Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hg. von Hermann Schweppenhäuser. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft; 341), S. 87. Chaim Nachman Bialik: Halacha und Aggada, Dt. von Gerhard Scholem. In: Der Jude 4 (1919-1920), H. 1-2, S. 61-77, hier S. 61. Darüber berichtet Kafkas Jugendfreund Hugo Bergmann: »Es machte auf mich einen großen Eindruck, daß Franz schon als junger Schüler ein eigenes Zimmer hatte […]; ja daß er sogar einen eigenen Schreibtisch besaß. An diesem Schreibtisch sassen wir beide oft zusammen und bereiteten unsere Aufgaben für die Schule vor.«

Literatur und Gesetz. Kafkas Schreibtisch

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I. Die Vorstellung eines verwaltenden Büroschreibtischs scheint bei Kafka auf den ersten Blick die primäre und dominante zu sein. Das durchschnittliche Büro imaginiert Kafka in den Oktavheften, diese Annahme bestätigend, folgendermaßen: »Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und Geschäftsbüchern im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch, Kassa, Beratungstisch, Klubsessel und Telephon, das ist mein ganzer Arbeitsapparat.« (NSF I, S. 370)7 Diese Büro-Einrichtung lässt sich bei Kafka allerdings auch ganz auf den Schreibtisch konzentrieren. Eine dergestalt konsequente Hypertrophie des Schreibtisches zum alleinigen »Arbeitsapparat« des Büros schlechthin entfaltet Kafka – höchst plastisch und zugleich ins Groteske ausgreifend – in seinem frühen Romanfragment Der Verschollene. Der junge Amerikaauswanderer Karl Rossmann, der davon träumt, »einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster schauen« (V, S. 353) zu können, erhält tatsächlich von seinem Onkel einen »amerikanische[n] Schreibtisch bester Sorte« (V, S. 57). Es ist dies allerdings eine hochkomplexe, ebenso raffinierte wie diffizile und fragile »Maschinerie«, die perfektionierte Verwaltungstechnik und damit höchste Ordnungsmacht in Aussicht stellt: Er hatte z. B. in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator und man konnte durch Drehen an der Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und

7

Hugo Bergmann: Schulzeit und Studium. In: »Als mir Kafka entgegenkam….« Erinnerungen an Franz Kafka. Hg. von Hans-Gerd Koch. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Wagenbach 2005 (Wagenbachs Taschenbücherei; 528), S. 25. Zitiert wird nach der Kritischen Ausgabe (KA) Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Fischer 1982ff. Für diese Ausgabe werden im Einzelnen folgende Siglen benutzt: P (Der Proceß. Hg. von Malcolm Pasley, 1990). S (Das Schloß. Hg. von Malcolm Pasley, 1982). T (Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, 1990). V (Der Verschollene. Hg. von Jost Schillemeit, 1983). B (Briefe 1902-1924. Hg. von Max Brod, 1975). B I (Briefe 1900-1912. Hg. von Hans-Gerd Koch, 1999). B II (Briefe 1913-1914. Hg. von Hans-Gerd Koch, 2001). T (Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, 1990). NSF I (Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. von Malcolm Pasley, 1992). NSF II (Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit, 1992). DL (Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, 1994).

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Andreas B. Kilcher

bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen und alles gieng je nachdem man die Kurbel drehte langsam oder unsinnig rasch vor sich. (V, S. 57)

Dieser mechanische Schreibtisch, der den universalwissenschaftlichen Rechenmaschinen des Barock und zugleich den Vorläufern der digitalen allverwaltenden Turing-Maschine gleicht, erweist sich als ein Büroapparat für höchste – präsidiale – Verwaltungsansprüche. Der Schreibtisch wird hier symptomatisch zur Instanz von Ordnung und Macht, mit der der verschollene Europaauswanderer – ein Exterritorialer durch und durch – freilich nur unzureichend zu operieren vermag. Nicht zufällig warnt der amerikanische Onkel seinen europäischen Neffen vor der filigranen Ordnungstechnologie jenes Schreibtisches, wie er auch für ihn eigentlich einen zwar »ordentlichen« (V, S. 58), aber doch sehr viel einfacheren Schreibtisch vorgesehen hatte. Im Gerichtsapparat des Process-Romans sowie im Administrationsapparat des Schloss-Romans baut Kafka diese Verwaltungsmaschine in nuce zu unheimlichen Gefügen einer Moderne aus, in der Haushaltung und Verwaltung zugleich totalisiert und sinnentleert sind und dergestalt in einen unbegreiflichen Ordnungsmythos zurückfallen. Nicht zufällig thront etwa der Advokat im Process in seinem Arbeitszimmer hinter einem »gewaltigen Schreibtisch« (P, S. 140). Nicht zufällig ist sodann auch der Schlossbeamte Klamm an einem Schreibtisch, dem zentralen Objekt eines ansonsten kahlen Büros, zu sehen – die einzige Pose, in der er überhaupt sichtbar wird, ja denkbar ist: »An einem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers in einem bequemen Rundlehnstuhl saß grell von einer vor ihm niederhängenden Glühlampe beleuchtet Herr Klamm.« (S, S. 60) Es ist nur konsequent, dass die »große Arbeit« des hohen Beamten Klamms auf penibelster Ordnung auf jenem Schreibtisch basiert, wogegen ex negativo ausdrücklich gilt: schon »die kleinste Veränderung auf dem Schreibtisch, die Beseitigung eines dort seit jeher vorhanden gewesenen Schmutzflecks, das alles kann stören« (S, S. 427f.), oder grundsätzlicher noch – ebenfalls mit Bezug auf Klamm: »Wenn die Herren vom Schreibtisch aufstehn, sind sie so; sie finden sich in der Welt nicht zurecht.« (S, S. 308)

II. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als wäre der Büroschreibtisch der größte Gegenpol zur Literatur, als könnte an einem solchen Schreibtisch Literatur niemals entstehen. Doch ist schon in jener unheimlichen, grotesken Totalisierung und Remythisierung des Büros ein Übergang von Gesetz zu Literatur, von Formation zu Transformation angedeutet. An anderen Stellen seines Werks wird Kafka freilich expliziter, wenn er den scheinbar unumstößlichen Gegensatz zunehmend aufbricht, wenn er – symptomatisch – die Brüche dieses Übergangs an ein und demselben Ort, an einem Schreibtisch, hervortreten lässt.

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Beispiel dafür ist etwa der Blick des Beamten Kafka auf seinen durch den Schriftsteller Kafka in Unordnung versetzten Büroschreibtisch, wie er ihn am 3. Dezember 1912 Felice Bauer gegenüber, die ihrerseits durch den Vertrieb von ›Parlographen‹ mit moderner Bürotechnik bestens vertraut war, beschreibt: »Durch dieses Schreiben«, gemeint ist das literarische, bin ich aus einem durchaus nicht musterhaften, aber zu manchen Sachen gut brauchbaren Beamten […] zu einem Schrecken meines Chefs geworden. Mein Schreibtisch im Bureau war gewiß nie ordentlich, jetzt aber ist er von einem wüsten Haufen von Papieren und Akten hoch bedeckt, ich kenne beiläufig nur das, was obenauf liegt, unten ahne ich bloß Fürchterliches. (B I, S. 296)

In Kafkas Versicherungsbüro hat unversehens die Literatur als Faktor der Verunsicherung Einzug gehalten. Der Schrecken wendet sich um: die Literatur bedroht das Büro. Literatur ist also keineswegs jenseits des Schreibtischs angesiedelt, der Bruch mit dem Büro nicht kategorial. Der Schriftsteller sitzt vielmehr an ein und demselben Schreibtisch wie der Versicherungsbeamte. Allerdings: er macht aus dem Apparat der Verwaltung einen der Verwandlung. Denn die Literatur setzt die Ordnungen und Gesetze nicht fest, sie spielt mit ihnen: Sie ist nicht das Gesetz selbst, sondern förmlich das Theater des Gesetzes, ein Theater genauer, das Verwaltung verhandelt, mimt, verdoppelt, karnevalisiert – und gerade auf diese Weise von ihr durchdrungen ist. Das ist der Fall des »Teaters von Oklahama« (V, S. 397) im Verschollenen, das nur scheinbar ein alteuropäisch (etwa nach Schiller gedachter) Ort der Freiheit und der Selbstverwirklichung ist, als welchen es der Einwanderer zunächst fälschlich interpretiert. Tatsächlich aber kopiert, parodiert es die Verwaltungsgesetze der amerikanischen Gesellschaft: Auf einer »Rennbahn« ist es angesiedelt, auf einem Austragungsort von Wettkämpfen also, deren Recht immer schon das des Stärkeren ist. Mehr noch: »das größte Theater der Welt« erweist sich zunehmend als ein globalisierter unternehmerischer Verwaltungsapparat mit Kanzleien, Schreibern und Werbemassnahmen, die das nachgerade sozialutopische Versprechen, einen jeden brauchen zu können, ernüchternd marktwirtschaftlich und bürokratisch umdeuten. Folgerecht gewinnt Karl Roßmann den Eindruck, »daß das Teater von Oklahama ein großes Unternehmen war« (V, S. 389), in dessen bürokratischem Verwaltungsapparat sich der einzelne, angefangen bei Legitimationspapieren, behaupten muss. Die Relation von Gesetz und Literatur lässt hier eine Dialektik erahnen: Indem sie das Gesetz spielt, es dergestalt verunsichert, wird sie von ihm zugleich bestimmt, ihrerseits verunsichert. Literatur und Gesetz definieren, ermöglichen, irritieren und begrenzen einander wechselseitig. Auf eben diese dialektische Weise verhandelt Kafkas Literatur überhaupt die großen Ordnungen seiner Zeit: Kanzleiakten, Versicherungsexpertisen, Kriegspropaganda, psychoanalytische Interpretationen, literarische Programme, zionistische Publizistik etc. werden in dieser Literatur ins Gleiten gebracht, verwandelt, karnevalisiert – und bestimmen sie zugleich untergründig,

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Andreas B. Kilcher

subtextuell, palimpsestartig. Nur selten ist dieses Verhältnis harmonisch, wenn etwa Kafka angibt, dass es »Zeiten« gibt, in denen »ich beides [– Literatur und Büro –] verhältnismäßig ausbalanciere« (B I, S. 296). Meist aber ist das Verhältnis disharmonisch, konfliktreich, eben so, dass die Literatur für das Versicherungsbüro je Verunsicherung bedeutet, und komplementär dazu das Gesetz für die Literatur eine unheimliche Fortsetzung der Machtverhältnisse.

III. Neben einer mehr oder weniger irritierenden Vermittlung denkt Kafka allerdings auch den radikalen Bruch aus der Perspektive der Literatur: die zerstörerische Konkurrenz der Literatur zum Büro. Auch dies tut er wiederum symptomatisch in höchst konkreten, allerdings nun den Realismus auch ins Überreale, ins Surreale, ins Traumhafte überhöhenden Imagination eines zunehmend, am Ende ausschließlich literarischen Schreibtisches. Der Bruch kündigt sich als Konkurrenz an: »Manchmal glaube ich fast zu hören, wie ich von dem Schreiben auf der einen Seite und von dem Bureau auf der anderen geradezu zerrieben werde.« (B I, S. 296) Der literarische Schreibtisch hat in dieser Konfrontation nicht mehr so sehr die Aufgabe der Verhandlung von Akten und Schriftstücken, sondern die der Initiation in eine imaginäre Schriftwelt, in der die Bürowelt allenfalls in traumartig verzerrter und parabolisch verschobener Gestalt wiederkehrt. Es ist die Vorstellung einer im nachromantischen Sinn absoluten, privaten, nächtlichen Literatur gegen die tägliche Büroarbeit. Hier schlägt Leben ganz in Literatur um und der Schreibtisch wird zum Ort par excellence einer exterritorialen literarischen Schrift. Dieser Umschlag erfolgt nicht plötzlich, sondern in Übergängen, d. h. in einer zunehmenden Konzentration auf den Schreibtisch der Literatur durch bewusste Konkurrenz zum Schreibtisch des Büros. Dies ist ein Programm, das sich Kafka etwa am 18. Dezember 1910 zu später Stunde förmlich als Therapie bewusst auferlegte, ohne aber dass es ihm hier schon wirklich gelingen wollte: abend ½ 12. Daß ich, solange ich von meinem Bureau nicht befreit bin, einfach verloren bin, das ist mir über alles klar, es handelt sich nur darum, so lange es geht den Kopf so hoch zu halten, daß ich nicht ertrinke. Wie schwer das sein wird, welche Kräfte es aus mir herausziehn müssen, zeigt sich schon daran, daß ich heute meine neue Zeiteinteilung, von 8 – 11h abends beim Schreibtisch zu sein, nicht eingehalten habe, daß ich dieses sogar gegenwärtig für kein so großes Unglück halte, daß ich diese paar Zeilen nur eilig hingeschrieben habe, um ins Bett zu kommen. (T, S. 134)

Nur wenige Tage darauf, am 24./25. Dezember 1910, hebt Kafka – wiederum gegen Mitternacht – zu einer ausführlichen und kritischen Musterung seines Schreibtisches an. Aber (noch) nicht apologetisch, sondern geradezu mit Argusaugen beobachtet er jenen Schauplatz des literarischen Schreibens, der sich ihm nun in der Differenz zum Typus des verwaltenden Büroschreibtisches zeigt, nämlich völlig desorganisiert und überladen mit mehr oder weniger alten

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Papieren und mehr oder weniger nutzlosen Dingen. Die anti-apollinische Unordnung kündigt den Gang in die Niederungen, in das »Elend« der literarischen Schrift der Verwandlung an: Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht. Sei auf dem grünen Tuch eine Unordnung wie sie will, das durfte auch im Parterre der alten Teater sein. Daß aber aus den Stehplätzen aus dem offenen Fach unter dem Tischaufsatz hervor Broschüren, alte Zeitungen, Kataloge Ansichtskarten, Briefe, alle zum Teil zerrissen, zum Teil geöffnet in Form einer Freitreppe hervorkommen, dieser unwürdige Zustand verdirbt alles. […] Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insoferne Entschuldigung als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins sie geben mir das Recht zu schreiben und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benütze ich eilig. Das bin ich also. (T, S. 137-139)

Es sollte noch knapp zwei Jahre dauern, bis Kafka in diesen nächtlichen Schreibexerzitien zur Radikalität, zur Ausschließlichkeit, zur Exterritorialität einer literarischen Schrift fand, die dieses Elend in Erfolg umschlagen ließ. Dies nämlich gelang Kafka kaum je besser als bei der Niederschrift des Urteils im September 1912, einer »Geschichte«, die nicht zufällig ihrerseits mit einer Schreibtischszene anhebt, wenn der junge Kaufmann Georg Bendemann als Briefschreiber, »den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt« (DL, S. 43), eingeführt wird. Bewusst über den Ausnahmezustand der Niederschrift eben jener Geschichte, bewusst auch über die Analogie zu seinem Protagonisten und dessen Namen »Bende«,8 hielt Kafka diesen Schreibakt unmittelbar darauf im Tagebuch fest: Diese Geschichte ›das Urteil‹ habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke giengen. Um 2 Uhr schaute ich zum letztenmal auf die Uhr. Wie das Dienstmädchen zum ersten Mal durchs Vorzimmer gieng, schrieb ich den letzten Satz nieder. Auslöschen der Lampe und Tageshelle. Die leichten Herzschmerzen. Die in der Mitte der Nacht vergehende Müdigkeit. Das zitternde Eintreten ins Zimmer der Schwestern. Vorlesung. Vorher das Sichstrecken vor dem Dienstmädchen und Sagen: »Ich habe bis jetzt geschrie8

Vgl. Kafkas Entschlüsselung: »Georg hat soviel Buchstaben wie Franz. In Bendemann ist ›mann‹ nur eine für alle noch unbekannten Möglichkeiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von ›Bende‹. Bende aber hat ebensoviele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka.« (T, S. 492)

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ben«. Das Aussehn des unberührten Bettes, als sei es jetzt hereingetragen worden. Die bestätigte Überzeugung, daß ich mich mit meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele. (T, S. 460f.)

Der Schreibtisch wird hier zum – nächtlichen – Ort äußerster erotisch-schriftstellerischer Selbstverausgabung, wogegen das Bett, Ruhestätte des arbeitsamen Beamten, unberührt bleibt. Das ist symptomatisch für den Preis, den Kafka für dieses inzwischen förmlich fanatische Schreiben am Tisch der Literatur zunehmend zu bezahlen bereit ist. Geschrieben wird nicht mehr am Schreibtisch des Tages im Büro, sondern am Schreibtisch der Nacht, wie Kafka auch die Strafkolonie in der Woche bis zum 18. Oktober 1914 in einer intensiven Schreibphase »durchschnittlich bis 5 Uhr früh« (B III, S. 108) niederschrieb. Der Schreibtisch wird zum Rückzugsort par excellence eines exterritorialen Schriftstellers. Dies ist präzise die Lage, in der sich der regredierende Sohn Gregor Samsa in der Verwandlung befindet, als sich nach seiner Metamorphose Mutter und Schwester daran machen, »den Kasten und den Schreibtisch wegzuschaffen« (DL, S. 160). »Nun, den Kasten konnte Gregor im Notfall noch entbehren, aber […] der Schreibtisch mußte bleiben.« (DL, S. 163) Allerdings kann er dies nicht durchsetzen, und so wird mit dem im Zimmerboden regelrecht verwurzelten Schreibtisch gleichsam Gregors eigene Geschichte und Persönlichkeit ausgerissen und ins Vergessen gestürzt: Sie »lockerten jetzt den schon im Boden fest eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben geschrieben hatte.« (DL, S. 165) Die Angstvorstellung Kafkas, vom Schreibtisch abgehalten zu werden, und zugleich das verzweifelte Festhalten an ihm ist hier ins Archaische gewendet. Ihre Entladung ist in der Erzählung der aufstörende Amoklauf des Insekts. Dieses trägt deutliche Züge des Schriftstellers, der, asketisch und verzweifelt am Schreibtisch festhaltend, allen ›Versuchungen‹ einer bürgerlichen Welt wie Familie, Ehe, Beruf, Staat etc. zuruft: »mein ganzes Wesen ist auf Litteratur gerichtet, […] wenn ich sie einmal verlasse, lebe ich nicht mehr. Alles was ich bin und nicht bin, folgert daraus.« (B II, S. 271) Nie entschiedener, nie verzweifelter als angesichts ihrer Bedrohung, nämlich nach dem Heiratsantrag an Felice Bauer, vergewissert sich Kafka im August 1913 einer solchen absoluten literarischen Schrift, die sich nun nicht mehr nur gegen das Büro, sondern auch gegen die Ehe wendet: »Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.« (B II, S. 261) Einem Leben, das so kompromisslos Literatur sein will, wird der Schreibtisch ein unverrückbarer und alternativloser Ort. Die »Koncentration auf das Schreiben hin« fordert geradezu eine »Abmagerung« von allem, was Nicht-Literatur ist: ein Übergang zur Hungerkunst. In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste

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Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. Das war notwendig, weil meine Kräfte in ihrer Gesamtheit so gering waren, daß sie nur gesammelt dem Zweck des Schreibens halbwegs dienen konnten. (T, S. 341)

Diese radikale Verengung auf eine Schreibtischwelt verleiht Kafkas Literatur etwas Monastisches, gar Fanatisches, Märtyrerhaftes, Selbstaufopferndes. An der Askese gegenüber dem Sozialen hat es Kafka so beschrieben: »Ich will niemanden sehn, ich will mich durch keinen Anblick verwirren lassen, beim Schreibtisch, das ist mein Platz, den Kopf in meinen Händen, das ist meine Haltung.« (NSF II, S. 16)

»Ein Wunderrabbi, der öfters Hallucinationen hatte, versenkte bei einer […] Unterhaltung plötzlich sein Gesicht in die auf den Tisch gelegten Arme und verblieb so unter allgemeinem Schweigen 3 Stunden.« (T, S. 277)

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Diesem intellektuellen und gleichermaßen körperlichen Gestus entspricht ex negativo die immer größere »Angst«, den Schreibtisch auch nur für wenige Tage verlassen zu müssen, wie sie Kafka am 5. Juli 1922 Max Brod gegenüber äußerte: die »Angst« also, er würde (hier durch eine Reise) nur »einige Tage vom Schreibtisch abgehalten sein.« (B, S. 386) Diese Verlustangst bedeutet – wieder positiv gewendet – die höchste und kompromissloseste Konzentration auf die Literatur als ultima ratio eines Schriftstellers, wie ihn Kafka, auf dem Weg zur Hungerkunst, sich selbst mit aller Kraft abforderte. »Und diese lächerliche Überlegung«, so fährt Kafka fort, »ist in Wirklichkeit die einzige berechtigte, denn das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten.« (B, S. 386)

Michaela Wirtz

»So sind wir vielleicht doch als Juden in den Krieg gezogen.«1 Die Deutung des Ersten Weltkriegs in den Zeitschriften deutsch-jüdischer Studentenverbindungen Die Ausgrenzung und der Ausschluss von jüdischen Studenten aus dem deutschen Korporationswesen im ausgehenden 19. Jahrhundert führten zur Gründung eigener jüdischer Verbindungen.2 Bereits 1896 schlossen sich vier dieser Verbindungen zum »Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens« (K.C.) zusammen, in dessen Namen das nationale Selbstverständnis der Mitglieder deutlich wird; es fand auch Ausdruck im Tendenzparagraphen des K.C., der stets auf der ersten Seite des Verbandsorgans, der K.C.-Blätter, abgedruckt wurde: Die Verbindungen im K.C. stehen auf dem Boden deutschvaterländischer Gesinnung. Sie haben zum Zweck den Kampf gegen den Antisemitismus in der deutschen Studentenschaft und die Erziehung ihrer Mitglieder zu selbstbewußten Juden, die im Bewußtsein, daß die deutschen Juden einen durch Geschichte, Kultur- und Rechtsgemeinschaft mit dem deutschen Vaterlande unlöslich verbundenen Volksteil bilden, jederzeit bereit und imstande sind, für die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden einzutreten.3

Zwei Momente in diesem Paragraphen sind besonders augenfällig: die Betonung der deutschvaterländischen Gesinnung und die Hervorhebung des Bewusstseins der Verbundenheit von deutschen Juden und deutschem Vaterland in Geschichte, Kultur und Recht. Ziel des K.C. war der Kampf gegen den Antisemitismus und die Herausbildung jüdischen Selbstbewusstseins, das – nach einstimmiger Überzeugung der Redakteure – seine Basis in jüdischer Religion, Ethik, sozialer Gemeinschaft, Abstammung oder Geschichte – die nicht als Gegensatz zur deutschen Geschichte begriffen wurde – finden konnte,4 niemals jedoch im Gefühl nationaler Eigenheit. 1

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[Anonymer Feldbrief o. D.] In: Der Jüdische Student, Jg. 11, Nr. 5, 1. November 1914, S. 102. Alle hier zitierten deutsch-jüdischen Periodika lassen sich bei Compact Memory, dem Internetarchiv jüdischer Periodika, einsehen (www.compactmemory.de). Vgl. zur Geschichte der jüdischen Studentenverbindungen in Deutschland Miriam Rürup: Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886-1937. Göttingen: Wallstein 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 33). K.C.-Blätter, Jg. 1, Nr. 1, 1. Oktober 1910, S. [1]. »Worauf aber der Einzelne dieses Selbstbewußtsein gründet, ob er sich durch den religiösen oder ethischen Gehalt des Judentums zu diesem hingezogen fühlt, oder ob er sich durch die Geschichte, durch ein Stammes- oder Rassenbewußtsein, durch die

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Die hier beschriebenen Grundsätze und Ziele des K.C. trafen jedoch nicht den Nerv aller deutsch-jüdischen Studenten; besonders diejenigen, die mit der zionistischen Bewegung sympathisierten, lehnten die Tendenz des K.C. ab. Viele dieser Studenten schlossen sich in eigenen Verbindungen zusammen, die sich schließlich 1901 zum »Bund Jüdischer Corporationen« (B.J.C.) vereinten, der zur größten Konkurrenzvereinigung des K.C. wurde. Obwohl sich der B.J.C. in den ersten 10 Jahren seines Bestehens noch scheute – anders als das kleinere, 1906 gegründete »Kartell Zionistischer Verbindungen« (K.Z.V.) – sowohl offiziell als auch intern einen dezidiert zionistischen Standpunkt einzunehmen, trat in dessen Zeitschrift Der Jüdische Student bereits in Artikeln aus dem Gründerjahr das Ziel des Bundes deutlich hervor, die Mitglieder im jüdischen Sinn zu ›nationalisieren‹ und sie gegen den als übermächtig empfundenen Einfluss des Deutschtums zu stärken: Wir aber, die wir jüdischer Organisation das Wort reden, die wir alle jüdisch denkenden Studenten hinter uns haben, wir erklären hiermit: »A l l e H o c h a c h t u n g vor dem Deutschtum und deutscher Kultur! Aber von unserm Judentum werden wir zu gunsten des deutsch-nationalen Gedankens und in Erwartung des Entgegenkommens der arischen K o m i l i t o n e n [ s i c ] a u c h n i c h t e i n T i t e l c h e n a u f g e b e n ! « Auf dem Finkentag [d. i. der Weimarer Tag der »Deutschen Freien Studentenschaft«, Anm. d. Verf.] wurde erklärt, das Judentum habe den Willen, im Deutschtum aufzugehen. – Nun denn: Wille gegen Wille. Und der Wille zum Leben wird mächtiger sein als der Wille zum Untergang.5

Die Redakteure des Jüdischen Studenten waren sich der Probleme, die sich der Entwicklung eines lebendigen nationaljüdischen Bewusstseins im deutschen Judentum zu diesem Zeitpunkt noch in den Weg stellten, durchaus bewusst. Wie die Mitglieder des K.C. sah man auch hier die deutschen Juden durch ihre Geschichte, ihre Kultur und vor allem auch durch ihre Sprache stark an Deutschland gebunden, und dies erschien den Mitgliedern des B.J.C. als das größte Hindernis für die Herausbildung einer eigenen kulturellen und nationalen jüdischen Identität. Im Laufe der Jahre vertraten die Mitglieder des B.J.C. zunehmend die Überzeugung, dass man das Judentum der deutschen Juden in Deutschland selbst nicht stärken könnte. Es finden sich Beiträge in Der Jüdische Student, in denen von jüdischer Heimatlosigkeit und von Palästina als

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Gleichheit der sozialen Lage usw. mit der Judenheit verwachsen fühlt, kümmert jedoch den K.C. nicht; denn der K.C. hat kein bestimmtes positiv-jüdisches Programm.« (Karl Löwenstein: [Referat zum Antrag der Licaria, mehr Artikel positivjüdischen Inhalts zu bringen]. In: Internes Heft der K.C.-Blätter, 25. Juli 1912, S. 11f., hier S. 12.) [Anonym:] Zur Verwahrung. In: Der Jüdische Student [Alte Folge], Jg. 1, Nr. 3, Juni 1902, S. [33]-35, hier S. 34f.

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›unserem Heimatland‹ gesprochen wird,6 einer Heimat, die, wie Richard Asch behauptet, allein die Existenz der Juden als »Vollnation« herbeizuführen vermag, die dann vor der weiteren »beständigen Infektion minderwertiger arischer Elemente« bewahrt bleibt, »um die etwa noch vorhandenen in Ruhe ausscheiden zu können«.7 Dieser Wunsch nach vollständiger Trennung und Lösung der Juden von anderen Völkern geht mit der zunehmenden Distanzierung von Deutschland und den Deutschen einher. Man fordert ›reinliche Scheidung‹; »jüdische und deutsche Art sollen jede nach den Gesetzen ihrer Entwicklung leben und schaffen; unnatürliche Kreuzung, die sich als ›Assimilation‹ bezeichnet, soll unterdrückt werden«.8 Angesichts dieser Bestrebungen, sich von allem Deutschen zu lösen, musste natürlich auch die Übernahme und Pflege der deutschen korporativen Formen zunehmend Rechtfertigung erfahren. So wird die korporative Form etwa von Gerhard Holdheim 1913 als die Grundlage bezeichnet, mit der die große, straff disziplinierte studentische Organisation geschaffen werden könnte, wie sie der deutsche Zionismus braucht; daß diese Formen, durch das Auge des rein objektiven Beobachters gesehen, unjüdisch erscheinen könnten, in Wahrheit aber jüdisch sind, jüdisch insofern, als sie zur Erreichung unserer jüdischen Ideale eine conditio sine qua non bedeuten.9

Die Verschärfung der Positionen des B.J.C., der sich schließlich zwei Wochen vor Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem »Kartell Zionistischer Verbindungen« zum »Kartell Jüdischer Verbindungen« (K.J.V.) vereinte, führte zu einer immer deutlicher werdenden Gegnerschaft zwischen den ihm angehörenden Studenten und den K.C.-Studenten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 und die damit einhergehende Kriegsbegeisterung weiter Kreise der deutschen Bevölkerung bewirkten auch zwischen den beiden Verbänden das Zustandekommen einer Art Burgfrieden; dass es deshalb noch nicht zu einer Angleichung der konträren Positionen kam, zeigte sich bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn. Der K.C. veröffentlichte in seiner ersten Kriegsausgabe einen Aufruf, in dem es als »›heiligste Pflicht‹«10 jedes K.C.-Mitglieds bezeichnet wird, sich dem Vaterland in diesem 6

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Vgl. Sanctus: Ideale Werte. In: Der Jüdische Student [Alte Folge], Jg. 1, Nr. 5, August 1902, S. [65]-68, hier S. 68. Vgl. E. C.: [Rezension von] Altneuland, Heft 16. In: Der Jüdische Student, Jg. 1, Nr. 2, Juni 1904, S. [67]. Richard Asch: Zur jüdischen Rassenfrage. In: Der Jüdische Student, Jg. 2, Nr. 1, März 1905, S. [1]-10, hier S. 9f. [Anonym:] Geleitwort. In: Der Jüdische Student, Jg. 9, Nr. 11, 28. Februar 1913, S. [373]-375, hier S. [373]. Vgl. auch Siegfried Rosenbaum: Amor fati. In: ebd., S. 376-382, hier S. 382. Gerhard Holdheim: Gegen »unbedingte Satisfaktion«! In: Der Jüdische Student, Jg. 9, Nr. 10, 28. Januar 1913, S. 345-350, hier S. 346. Dr. Werner: Aufruf! In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, Heft 1, September-Oktober 1914, S. 262.

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Krieg zur Verfügung zu stellen. Auch die nationaljüdisch orientierten Verbindungsstudenten schlossen sich in der ersten Kriegsausgabe ihrer Zeitschrift Der Jüdische Student einem Aufruf der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland« an, in dem die deutschen Juden, insbesondere die jüdische Jugend, dazu aufgefordert werden, »freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen«11 zu eilen. Beide Aufrufe sind auf den ersten Blick sehr ähnlich. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass in der Erklärung der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland« der Kriegseinsatz der deutschen Juden eine Begründung erfährt, die auf das Judentum rekurriert: Die Juden seien durch das jüdische Pflichtgebot dem Vaterland und durch den Adel »unserer [d. i. der jüdischen, Anm. d. Verf.] vieltausendjährigen Geschichte«12 zum Kriegsdienst verpflichtet. In der nachgestellten, eigenen Erklärung des K.J.V. geht man so weit, den Begriff ›Vaterland‹ ganz zu vermeiden; hier wird lediglich die Hoffnung ausgesprochen, dass die jüdische Jugend sich in den kriegerischen Tugenden auszeichnen wird, die man als Resultat der Pflege des jüdischen Bewusstseins und des damit einhergehenden Idealismus darstellt.13 Warum die Herstellung eines Bezugs zwischen Kriegsdienst und bewusstem Judentum an dieser Stelle von so großer Bedeutung ist, wird in einem sechsseitigen Artikel der gleichen Ausgabe des Jüdischen Studenten deutlich, der sich mit der Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die deutschen Juden auseinandersetzt. Hier wird offen bekannt, dass der Krieg für die nationaljüdisch resp. zionistisch eingestellten Juden eine »Feuerprobe«14 darstellt, die es im Sinne der eigenen nationalen Ideen zu interpretieren und zu nutzen gilt. Der Krieg wird hier in erster Linie als eine bewundernswürdige Entladung nationaler Instinkte gewertet, die sogar den deutschen Hass gegenüber allen anderen Völkern, selbst die Zurückweisung der assimilationswilligen Juden, rechtfertigt. Von diesem Nationalismus der Deutschen zu lernen und das Gelernte für die eigene Bewegung zu nutzen, ist das Ziel der nationaljüdisch eingestellten Juden; vor diesem Hintergrund gewinnt der Einsatz für die deutschen Kriegsziele Sinn: Gerade unsere im reinsten nationalen Idealismus erzogene Jugend hat den Geist dieses Krieges in tiefster Seele mitempfunden und ihm entsprechend gehandelt. Bewundernd, fast neidvoll, haben wir gesehen, wie hier zur Wirklichkeit wurde, was wir unsere Jugend als das Höchste lehren: daß der Einzelne sich über der Gesamtheit vergißt und persönliche Existenz und persönliches Glück hingibt für sein Volk, darin erst seine wahre Vollendung findend. […] Eine Läuterung der sittlichen Begriffe in

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[Anonym:] Deutsche Juden! In: Jüdische Rundschau, Jg. 19, Nr. 32, 7. August 1914, S. [343]. Ebenfalls abgedruckt in: Der Jüdische Student, Jg. 11, Nr. 5, 1. November 1914, S. 92. Ebd. Vgl. ebd. [Anonym:] Die deutschen Juden und der Krieg. In: ebd., S. 93-98, hier S. 93.

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dieser Beziehung muß, wie jede Stärkung des natürlichen Empfindens, letzten Endes dem nationalen Judentum zu gute kommen.15

Dass diese Scheidung zwischen Bewunderung für den deutschen Nationalismus und Ausübung des eigenen jüdischen Nationalismus nicht immer so reinlich vollzogen werden konnte, wird in den Kriegsbriefen von Studenten deutlich, die in derselben Ausgabe veröffentlicht wurden. Die Bewunderung gegenüber der deutschen Entschlossenheit in nationalen Dingen geht hier einher mit einer deutlichen Begeisterung für die deutschnationale Sache auf einer identifikatorischen Ebene, hinter der das Judentum für den Moment zurückstehen muss: Weißt Du, daß ich etwas wie Neid fühlte! Wenn man ein so häßliches Wort für ein so schönes Gefühl mißbrauchen darf. Diese Selbstverständlichkeit, diese Einheitlichkeit, dieser unbedingte Wille und nichts als Wille. – Haben wir Juden das je für eine jüdische Sache aufgebracht? Und würden wir es können? […] Hier jedenfalls und heute sind wir e i n z e l n e , haben, wie mir scheint, als Juden nichts zu suchen, sondern als Deutsche und als Männer.16

Diese stärkere Gewichtung des Deutschtums, die in diesem Brief als eine im Krieg selbstverständliche und notwendige Handlung dargestellt wird, führte bei anderen zionistischen Studenten zu Irritationen. Moderatere Stimmen erkannten hier ein ›Problem‹, das das Miteinander von Zionismus und Deutschtum aufwarf und merkten an, dass dieses Problem aber im Moment ganz gleichgültig wäre;17 radikalere Studenten hingegen verzweifelten angesichts der nicht erwünschten emotionalen Identifikation mit Deutschland. So schreibt ein Student, der die Juden die Stiefkinder des deutschen Vaterlandes nennt, wie er selbst bemerkt hat, dass deutsche Lieder bei ihm viel »verwandtere

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Ebd., S. 97. Der neue deutsche Nationalismus wird als Vorbild, als eine Inspiration für die deutschen Juden dargestellt, der Dienst im Krieg wird zur Möglichkeit, sich in der »Tat« zu üben: »Das Beste im Deutschen ist seine Richtung auf die Tat. […] Es ist vielleicht das deutscheste Wort: Im Anfang war die Tat. Und daß wir das heute als bewußte Juden miterleben, handelnd, mitstreitend, meinst Du, das könnte vergeblich sein? So sind wir vielleicht d o c h als Juden in den Krieg gezogen.« [Anonymer Feldbrief o. D.] In: ebd., S. 102. Vgl. auch den Bericht des Präsidiums vom November 1916: »Er [der Krieg, Anm. d. Verf.] wird auf der einen Seite die Assimilanten noch assimilierter machen; mit den Opfern, die sie dem Vaterlande gebracht haben, werden sie in verstärktem Maße ihr Deutschtum begründen. Auf der andern Seite wird der Krieg auf die Elemente, in denen der jüdische Lebenswille noch lebendig ist, nationalisierend in unserem Sinne wirken.« [Anonym:] Bericht des Präsidiums für den K.J.V.-Tag. In: Der Jüdische Student, 12. Kriegsheft, 27. November 1916, S. 311-322, hier S. 320. [Anonymer Feldbrief o. D.] In: Der Jüdische Student, Jg. 11, Nr. 5, 1. November 1914, S. 98. Vgl. [Anonymer Zettel o. D.] In: ebd., S. 98f.

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Saiten«18 der Empfindung treffen als die ostjüdischen, die er auf einer Palästinareise gehört hat. Er kann Judentum und Deutschtum nicht als zwei Elemente seiner Identität auffassen, sondern spricht von einem ›Zwiespalt‹, der zerschlagen werden muss.19 Auch in den folgenden beiden Kriegsjahren wurden immer wieder Artikel veröffentlicht, in denen die Identifikation mit Deutschland thematisiert und als Problem dargestellt wird.20 Doch solche Äußerungen dominierten zu keinem Zeitpunkt die Feldpost und die Artikel in den Kriegsausgaben von Der Jüdische Student; die Stimmen, die sich um eine für die Zionisten positive Auslegung des Krieges bemühten, bestimmten während des gesamten Krieges den Ton der Zeitschrift. Es war nicht nur die Hoffnung, vom Nationalismus der Deutschen lernen zu können, die die zionistischen Studenten in ihrem Kriegsdienst für Deutschland bestärkte; hinzu kam die Überzeugung, im Kampf an der Seite Deutschlands Rache an den Russen nehmen zu können, Rache für die Unterdrückung der russischen und polnischen Juden, mit denen man sich nationaljüdisch verbunden sah: Mit einem Worte: Die Befreiung der polnischen Juden aus ihrem Kerker würde die Verjüngung des gesamten jüdischen Volkes zur Folge haben. Wir danken dem Schicksal, das unseren jüdischen Kämpfern die Möglichkeit gibt, indem sie für das Vaterland kämpfen, gleicheitzeitig [sic] an der größten jüdischen Aufgabe mitzuarbeiten!21

Auch die Aussicht darauf, dass nicht nur die Zionisten national gestärkt aus dem Krieg hervorgehen würden, sondern dass auch die ›Umwelt‹ unter dem Eindruck der erstarkenden Nationalbewegungen die Judenfrage ganz neu diskutieren würde, trug dazu bei, dass die Studenten im K.J.V. den Krieg als Chance für ihre Ziele begriffen: Nach dem Krieg wird die Judenfrage unzweifelhaft einer öffentlichen, internationalen Diskussion unterzogen, wie sie es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nicht 18 19 20

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[Anonymer Feldbrief o. D.] In: Der Jüdische Student, Jg. 11, Nr. 5, 1. November 1914, S. 100f., hier S. 101. Vgl. ebd. In einer Debatte über die Dringlichkeit der zionistischen Auswanderung nach Palästina bemerkt etwa der Student Georg Wollstein, dass ihm die Auswanderung vor allem deshalb nötig erscheine, da eine Loslösung vom Deutschtum in Deutschland nicht möglich sei, was der Krieg bewiesen habe: »Auch an unsere Loslösung vom heimischen Kreis vermag ich nicht zu glauben. Meine Beziehungen wenigstens sind erheblich inniger und intimer geworden als je zuvor. […] Ich erkenne, daß ich hier im Golus nicht Jude werden kann. Dazu sind die Eindrücke des mich umgebenden Lebens, der Einfluß der mich ständig umgebenden Verhältnisse zu groß. Das hat auch am stärksten dieser Krieg bewiesen.« (Georg Wollstein: Nach Palästina IV. In: Der Jüdische Student, 9. Kriegsheft, 20. Juni 1916, S. 196-200, hier S. 197f.) Georg Herlitz: Polnische Juden. In: Der Jüdische Student, Jg. 11, Nr. 5, 1. November 1914, S. 117-124, hier S. 124. Vgl. auch Carl Cohn: [Nachruf auf] Hugo Ascher. In: Der Jüdische Student, Jg. 12, Nr. 4, 13. Oktober 1915, S. 94.

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mehr war. […] Ein großer Teil der Juden hat aus der verschwommenen Ideenwelt der Assimilation den Weg zu nationalem Selbstbewußtsein gefunden, und die Umwelt, die eben jetzt den Begriff und den Wert nationaler Eigenart erkennt, ist nicht mehr durch zweifelhafte philosophische Deduktionen über das Wesen des Judentums zu täuschen.22

Mit diesen Hoffnungen ging eine Radikalisierung der eigenen Positionen einher. Wo man sich in früheren Phasen vom Deutschtum zu lösen versucht hatte, bemühte man sich schließlich selbst darum, die Vorbildfunktion herabzusetzen, die der deutsche resp. der westeuropäische Nationalismus für den Zionismus gehabt hatten. Kurt Blumenfeld, Anführer der radikalen Generation von Zionisten, fordert in einem Artikel die »Erweiterung der allgemeinen Theorie des Nationalismus durch die jüdische Auffassung vom jüdischen Volk und vom Staate«;23 die mechanische Übernahme deutscher Begriffe habe die theoretischen Meinungen ›unjüdisch‹ gemacht, was sich etwa in der Missachtung der religiösen Überlieferungen zugunsten der fremden nationalistischen Theorien äußerte. Es gelte, einen vom deutschen, vom westeuropäischen Nationalismus generell emanzipierten jüdischen Nationalismus zu begründen, der auf sozialer Gemeinschaft und menschlicher Verknüpftheit beruhen solle.24 Diesen Bemühungen gemäß musste Blumenfeld auch scharf reagieren, als der gemäßigte Zionist Gustav Witkowsky ausgerechnet den radikaleren Zionisten um Blumenfeld vorwarf, sie würden in der weltfernen Verherrlichung der jüdischen Vergangenheit den deutschen Romantikern und ihrer Verklärung des deutschen Mittelalters ähneln.25 Dieser schrittweisen Loslösung von den kriegführenden Deutschen als nationalem Vorbild entsprach auch eine Neuorientierung im Korpswesen. So stellt Julius Rosenfeld in dem Bewusstsein, dass der Krieg und das Leben als Soldat die »Vorstellung vom Nationalen […] und das seelische Unterscheidungsvermögen zwischen dem, was unser ist, und dem, was uns fremd ist«,26 verfeinert 22

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Egon Rosenberg: Zum Jahrestage der Fusion. In: Der Jüdische Student, Jg. 12, Nr. 3, 12. August 1915, S. 60-63, hier S. 61f. Vgl. auch die Aussagen Egon Rosenbergs bei dem K.J.V-Tag 1917. In: [Anonym:] Protokoll des K.J.V.-Tags [1917]. In: Der Jüdische Student, Jg. 14, Nr. 6-9, November 1917, S. 3-65, hier S. 6: »Die furchtbaren Erschütterungen dieses Krieges haben alte Widerstände gebrochen, und wir können die Hoffnung hegen, daß wenn die blutenden Völker wieder eine Kulturund Menschheitsgemeinschaft begründen, auch unser Volk nicht ausgeschlossen sein wird und die Freiheit erlangt, die es jetzt allgemein zu fordern beginnt.« Kurt Blumenfeld: Wie gestalten wir unseren Nationalismus wesenhafter? Auszug aus dem Referat auf dem K.J.V.-Tag. In: Der Jüdische Student, 12. Kriegsheft, 27. November 1916, S. 327-333, hier S. 329. Vgl. ebd., S. 330f. Vgl. Gustav Witkowsky: Hie Zwirn! In: Der Jüdische Student, 15. Kriegsheft, Mai 1917, S. 429-440, hier S. 431. Vgl. die Entgegnung Blumenfelds: Kurt Blumenfeld: Abwehr. In: Der Jüdische Student, 16. Kriegsheft, Juni 1917, S. 473-489. Julius Rosenfeld: Ein neues Stadium. In: Der Jüdische Student, 13. Kriegsheft, 26. Januar 1917, S. 355-360, hier S. 358.

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haben, auch die Überlebtheit der deutschen Burschenschaftsriten in der jüdischen Burschenschaft fest: »So ist es kein Zufall, daß mir gerade jetzt im Felde, wo doch die rein studentischen Fragen mir himmelweit fern liegen, die Erinnerung an manche Erlebnisse aus der Studentenzeit direkt peinlich sind [sic].«27 Diese Entwicklungen im K.J.V. mussten natürlich die Differenzen zu den ›assimilatorischen‹ Juden und damit zum K.C. verstärken. Im Januar 1916 stellt das Präsidium des K.J.V. in einem Bericht die Annahme auf, daß der Krieg die uns und den K.C. trennende Kluft noch vertieft hat, da die Formel des K.C., durch den Krieg sei die »Blutstaufe« zwischen Deutschen und Juden vollzogen, die mehr bedeute als die Taufe mit Wasser, offenbar auf eine verschärfte Assimilationspolitik hindeutet, und es erscheint demgegenüber recht fraglich, ob das Anwachsen des Antisemitismus, das wir im Gefolge des Krieges erwarten, und die durch den Krieg akut gewordene Sorge für das osteuropäische Judentum, die mehr denn alles andere als eine gemeinsame Angelegenheit aller Juden aufgefaßt werden müßte, es vermögen werden, den K.C. jüdischer und damit auch für uns annehmbarer zu machen.28

›Jüdischer‹ und damit ›annehmbarer‹ wird der K.C. dann, so heißt es eineinhalb Jahre später, wenn er sich »zu unserem Standpunkt durchgerungen hat«.29 Die hier beschriebenen Annahmen und Zweifel der K.J.V.er fanden in der Entwicklung des K.C. während des Krieges eine deutliche Bestätigung. Bereits in den ersten Kriegsausgaben der K.C.-Blätter tritt die Beschäftigung mit jüdischen Themen vor dem Eindruck der kriegerischen Ereignisse zunächst völlig zurück; diese Ausgaben sind der Auflistung von Kriegsteilnehmern und Verdienstmedaillen sowie den Nachrufen auf Kriegstote und Feldbriefen gewidmet. Die Bedeutung, die der Krieg für die Mitglieder des K.C. als Juden hatte, wird lediglich in einem kurzen Artikel, der die kurz vor Ausbruch des Krieges entstandene Ausgabe einleitet, angerissen; hier wird die Vorkriegsstimmung im Deutschen Reich als ein Höhepunkt des nationalen Lebens beschrieben, an dem man selbstverständlich teilhat und in dem man die Gemeinschaft von deutschen Juden und Nichtjuden bewiesen sieht.30 Dieser 27 Ebd. 28 [Anonym:]

29 30

Das erste Jahr des K.J.V. Bericht des Präsidiums. In: Der Jüdische Student, 12. Jg., Nr. 5-6, 26. Januar 1916, S. 114-126, hier S. 125f. Vgl. zum Verhältnis von K.J.V. zum K.C. während des Krieges auch den Feldbrief von Salli Hirsch an Erich Cohn vom 22. September 1914. In: Der Jüdische Student, Jg. 11, Nr. 6, 23. Januar 1915, S. 148-150. Vgl. auch Fritz Löwenstein: Unser Verhältnis zu den nichtnationalen Jugendorganisationen. In: Der Jüdische Student, Jg. 14, Nr. 5, September 1917, S. 23-30, hier S. 27-29. Fritz Löwenstein: Unser Verhältnis zu den nichtnationalen Jugendorganisationen. In: Der Jüdische Student, Jg. 14, Nr. 5, September 1917, S. 23-30, hier S. 29. [Anonym:] Krieg oder Frieden? In: K.C.-Blätter, Jg. 4, Nr. 11/12, 1. August 1914, S. [229]f., hier S. [229].

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Glaube an die endlich erreichte Gemeinschaft aller Deutschen wurde dadurch gefördert, dass es gerade in den ersten Kriegsjahren eher selten zu antisemitischen Ausfällen im deutschen Heer kam. So schreibt der jüdische Student Artur Blank 1915 in einem Brief, dessen Tenor dem anderer Briefe und Artikel dieser Zeit entspricht: Ich habe aus meinem Judentum nie ein Hehl gemacht, aber man hört auch nichts von den häßlichen antisemitischen Hetzereien, nie habe ich einen Unterschied im Verkehr meiner Kameraden mit anderen oder mir gemerkt. Das Deutschtum ist doch das, was uns allen gemeinsam ist. Und ich schaue auch mit vollem Vertrauen in die Zukunft! Nichts kittet fester als Blut, sagt man, und das gemeinsam vergossene Blut wird uns immer fester zusammenkitten zu einem großen ganzen deutschen Volk, das sich seines gemeinsamen Deutschtums bewußt ist.31

Selbst, als sich in den folgenden Jahren ein Anstieg des Antisemitismus verzeichnen ließ,32 war man in den K.C.-Blättern darum bemüht, diese Entwicklung in jeder Erwähnung als vorübergehendes Phänomen darzustellen und Zuversicht zu demonstrieren. Als ein Beispiel seien hier die unbeholfen wirkenden Verse aus einem Gedicht des Studenten Adolf Alsberg zitiert: Wer am Feinde hält die Wacht, Will vergessen all das Kleine, Neid und Haß und Niedertracht. Wissen’s wohl, da hinten lauern Helden schon vom Tintenfaß, Aufzurichten alte Mauern, Aufzuschüren alten Haß. Sei es drum – die reinen Waffen, Die erprobt im Weltenbrand, Sollen auch das Recht uns schaffen, Unser Recht am Vaterland. Wer da vorne sich geschlagen Brav als Deutscher und Soldat, Der wird auch in Friedenstagen Niedermähen die Giftzahnsaat.33 31

32

33

Brief von Artur Blank o. D. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 4. Heft, Fortsetzung, März-April 1915, S. 377. Vgl. zu dieser Überzeugung auch den Brief von Ludwig Jaffé an Max Mainzer vom 7. Oktober 1914. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 2. Heft, Fortsetzung, November-Dezember 1914, S. 306. Vgl. den Brief von Fritz Hertz vom 2. Dezember 1914. In: K. C. Blätter, Kriegsausgabe, 4. Heft, Fortsetzung, März-April 1915, S. 378. Vgl. zu dieser Entwicklung Werner Jochmann: Die Ausbreitung des Antisemitismus. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband. Hg. von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1971 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; 25), S. [409]-510. Adolf Alsberg: [Ohne Titel]. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 9. Heft, JanuarFebruar 1916, S. 552. Vgl. ferner L. Baerwald: Von der Arbeit des Feldrabbiners.

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Obwohl Zuversichtsbekundungen dieser Art nach der sogenannten »Judenzählung« im Oktober 191634 sichtlich abnahmen und die vollständige Befreiung vom Antisemitismus nun auch von einigen K.C.-Studenten erst »in ferner Zukunft«35 gesehen wurde, wurde in den Beiträgen weiterhin die Zusammengehörigkeit mit Deutschland und den Deutschen betont: In diesem Kriege haben die deutschen Juden in vollem Maße ihre Schuldigkeit getan […] und sind sich mehr denn je der innigen Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Vaterlande bewußt geworden. Daran ändert auch der Antisemitismus, der selbst während des Krieges so häßliche Blüten treibt, nichts.36

Insofern war die Annahme des K.J.V., der nun schon wider Erwarten vor dem Kriegsende anwachsende Antisemitismus würde die Angehörigen des K.C. nicht ›jüdischer‹ in seinem Sinn machen, korrekt. Auch hinsichtlich der Wirkung, die die Beschäftigung mit dem Ostjudentum auf die deutschnational eingestellten Juden hatte, behielt das K.J.V. Recht. Die jüdischen Soldaten des K.C., die im Osten auf traditionell lebende Juden stießen, die nahezu unberührt von westlicher Kultur waren, empfanden trotz Mitleid und Sorge um ihre soziale und rechtliche Situation vielfach eine große Fremdheit diesen Juden und ihren »Ghettomanieren«37 gegenüber; man betrachtete sie in erster Linie in ihrer Bedeutung für die Verbreitung des Deutschtums im Osten, als »ein Bollwerk des Deutschtums gegen die slavische [sic] Barbarei«.38 Trotzdem kam es gerade in den letzten Kriegsjahren auch zu der Einsicht, dass die Kontakte im Krieg den deutschen Juden »die wesens-

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35 36

37 38

Aufgaben und Hoffnungen. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 5. Heft, Fortsetzung, Mai-Juni 1915, S. 409-411, hier S. 411. Vgl. Hermann Vogelstein: Judenfeindliches im Altertum. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 6. Heft, Fortsetzung, Juli-August 1915, S. [443]-449, hier S. [443], 449. Vgl. Kurt Alexander: Erneuerung. In: K.C.Blätter, Kriegsausgabe, 8. Heft, Fortsetzung, November-Dezember 1915, S. [523]f., hier S. [523]. Vgl. zur Judenzählung im deutschen Heer Jacob Rosenthal: »Die Ehre des jüdischen Soldaten«. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt am Main: Campus 2007 (Campus Judaica; 24). Helmuth Markus: [Nachruf auf] Fritz Moosberg. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 15. Heft, Januar-Februar 1917, S. 792f., hier S. 793. H. Vogelstein: Ein Wort zu den Friedensaufgaben des K.C. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 20. Heft, Fortsetzung, Januar-Februar 1918, S. [999]-1001, hier S. [999]f. Vgl. auch [Anonym:] Des Juden Vaterland. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 23. Heft, Fortsetzung, Juli-August 1918, S. 1125f., hier S. 1125. Brief von Theodor Cohn vom 21. Mai 1915. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 5. Heft, Mai-Juni 1915, S. 400. Kurt Alexander: Zwei Schriften zur Polenfrage. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 5. Heft, Fortsetzung, Mai-Juni 1915, S. 411-416, hier S. 412. Vgl. auch David Rothschild: Deutschtum und Judentum! Zum 25jährigen Jubiläum der Badenia. In: K.C.Blätter, Kriegsausgabe, 7. Heft, Fortsetzung, September-Oktober 1915, S. 489-494, hier S. 493.

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fremde Kulturart der Ostjuden«39 näher gebracht haben; auch gestand man sich mitunter die Tatsache ein, dass in diesen »bedrängten Kreaturen so viel lebendiges Judentum [steckt], daß unsereinem als Juden das Herz aufgehen muß«.40 Doch auch diese positive Beschäftigung mit dem Ostjudentum führte nicht zu einer Annäherung an die zionistischen Positionen. Obwohl also der K.J.V. auf den ersten Blick mit der o. g. Annahme Recht behielt, weder der wachsende Antisemitismus noch die Fürsorge für das Ostjudentum würden den K.C. nach dem Krieg im Sinne des K.J.V. ›jüdischer‹ machen, kann der Leser der K.C.-Blätter nicht übersehen, dass der K.C. sich gerade im letzten Kriegsjahr um eine stärkere Auseinandersetzung mit den eigenen jüdischen Inhalten, um die Aufstellung eines positiven jüdischen Programms bemühte, was sich bestimmt auch auf die Enttäuschung über den wachsenden Antisemitismus zurückführen lässt.41 Diese jüdische Selbstbesinnung führte im K.C. jedoch nicht zu einer jüdischen Nationalisierung, sondern zur Konzentration auf ein religiös-ethisches Konzept des Judentums in der Tradition des Philosophen Hermann Cohen. Die kosmopolitische Ausrichtung dieses religiös-ethischen Judentums wurde durch die Friedenssehnsucht nach Kriegsende verstärkt und von den Redakteuren der K.C.-Blätter als weiteres Gegenargument gegen die nationale Ausrichtung des Zionismus eingesetzt. Auffällig ist, dass gemäß dieser neu akzentuierten Ausrichtung des K.C. das eigene, fortbestehende nationale Bekenntnis zum Deutschtum, anders als das nationaljüdische Bekenntnis der Zionisten, nicht als Hindernis für die Verwirklichung des Ideals einer vereinten Menschheit betrachtet wurde: »Im Menschheitlichen eint sich die jüdische und die deutsche Aufgabe«, schreibt Erwin Seligmann Anfang 1919 in den K.C.-Blättern; da die deutschen Juden national der deutschen Gemeinschaft angehören, wird ihre jüdische »Gesamtmenschheitsaufgabe« dahingehend definiert, »aus der jüdischen, der menschheitlichen Idee die deutsche [zu] machen«.42 39

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David Krombach: Auf dem rechten Wege. Zur Geschichte des K.C.-Gedankens. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 13. Heft, Fortsetzung, September-Oktober 1916, S. 728-737, hier S. 737. Brief von Ernst Kaufmann vom 14. Oktober 1917. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 19. Heft, November-Dezember 1917, S. 947f., hier S. 948. So fordert Alfred Wolff bereits in der Ausgabe von Mai, Juni und Juli 1917 die Aufstellung eines positiven jüdischen Programms »unter besonderer Berücksichtigung der Werte, die die Gemeinschaften der R e l i g i o n , der A b s t a m m u n g und der R a s s e enthalten«. (Alfred Wolff: Die Aufgaben des K.C. nach dem Kriege. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 17. Heft, Fortsetzung, Mai-Juni-Juli 1917, S. [883]885, hier S. 885.) Hans Block plädiert in der folgenden Ausgabe für ein Verständnis des Judentums als »K u l t u r f a k t o r «. (Hans Block: Vertiefung der K.C.-Tendenz. In: K.C.-Blätter, Kriegsausgabe, 18. Heft, Fortsetzung, August-September-Oktober 1917, S. 933f., hier S. 934.) Kurt Alexander/Erwin Seligmann: K.C.-Geist. Zur Auseinandersetzung mit dem K.J.V. In: K.C.-Blätter, Jg. 9, Heft 3 u. 4, März-April 1919, S. 33-41, hier S. 37.

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Die vergleichende Lektüre der Verbandszeitschriften von K.C. und K.J.V. hat gezeigt, wie das Erlebnis des Ersten Weltkriegs in beiden Verbänden zu einer Stärkung des jüdischen Bewusstseins führte. Dass es dennoch nicht zu einer Annäherung der Positionen kam, lässt sich mit der Konstanz der unterschiedlichen Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit begründen. Die Zionisten ließen sich durch eine anfängliche Identifikation mit den deutschen Kriegszielen nicht dauerhaft in ihrer nationaljüdischen Überzeugung irritieren; das Kriegserlebnis führte sogar zu einer Radikalisierung der eigenen Positionen. Ebenso wenig vermochten der Antisemitismus und die Beschäftigung mit dem Ostjudentum die deutschnationale Überzeugung der K.C.-Studenten in ihren Grundfesten zu zerstören, und konsequent erfolgte auch die jüdische Neuorientierung nicht im nationaljüdischen Sinn. Im Jahr 1933 wurde das Erscheinen beider Zeitschriften infolge der Auflösung der jüdischen Studentenverbindungen durch die Nationalsozialisten eingestellt;43 noch aus der vorletzten Ausgabe der K.C.-Blätter vom Januar 1933 tritt die bis zuletzt bestehende Unversöhnlichkeit der Standpunkte von K.C. und K.J.V. hervor: Nur zu leicht ist man geneigt, der zionistischen Gefahr gegenüber die Augen zu schließen, von dem Wunschtraum erfüllt, jüdische Solidarität müsse bestehen. Es ist nur ein Traum, solange die Gegenseite gar nicht daran denkt, Ruhe zu wahren. Und vielleicht hat sie recht, denn der deutschfühlende Jude wird sich mit dem Zionisten niemals über die Frage seiner nationalen Zugehörigkeit verständigen können.44

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Die Leitung des K.J.V. veröffentlichte von September 1933 bis zum Sommer 1937 weiterhin ein Verbandsorgan unter dem Titel Der Jüdische Wille. R. H.: Nach zwei Fronten. In: K.C.-Blätter, Jg. 23, Heft 1, Januar 1933, S. 14f., hier S. 14.

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»In welcher Gemeinschaft lebe ich? –« Judenbild zwischen Liminalität und Zugehörigkeit in Joseph Roths Hotel Savoy Eine kleine frühe Skizze Joseph Roths, welche die Werkausgabe unter ihrem Incipit Immer seltener werden in dieser Welt … führt,1 enthält viele Ingredienzien bekannterer, umfangreicherer Werke des engeren zeitlichen Umfeldes und darüber hinaus seines Gesamtwerkes. Die Skizze beschreibt den Weg eines am Ende des Ersten Weltkrieges ausgemusterten Offiziers der k. und k. Armee als eine Kette von Entscheidungssituationen, denen der Protagonist allerdings ausweicht – nicht nur mental, sondern tatsächlich räumlich, indem er sich immer weiter gen Westen bewegt. Am Ende des nur viereinhalbseitigen Fragments steht dann die Fremdbestimmung seines Schicksals; es endet nämlich mit der »plötzliche[n] Ankunft eines Briefes« mit der folgenden Aufforderung: »wir fahren in der nächsten Woche nach Marseille und wollen Dich mitnehmen« (Werke 4, S. 52f.). Marseille ist hier sicherlich nicht als Endstation gesetzt, steht doch der Name der Hafenstadt für Aufbruch und Ankunft, für Vorläufigkeit und Unstete, mit einem Wort für die Transienz des Dazwischen, der Unentschiedenheit, aber auch für den Ausblick in eine unbestimmte, diffuse Ferne. So heißt es in dem unveröffentlichten Buch über Roths Frankreich-Reise von 1925 Die weißen Städte: »Marseille ist das Tor der Welt, Marseille ist die Schwelle der Völker. Marseille ist Orient und Okzident.« Doch die Liminalität als Signatur des Ortes bezeichnet mit dem Angebot von Orientierungsoptionen gleichzeitig die Stasis der Entscheidungsunmöglichkeit, die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen: »Hier kann man ratlos sein.«2 Marseille ist, wie auch andere Stätten in diesem Reisebuch, ein symbolischer Ort für die erfolglose Suche nach Ganzheit, nach Gemeinschaft, nach Zugehörigkeit.3 Im Verlauf des kurzen Textes Immer seltener werden in dieser Welt … erlebt der ehemalige Soldat eine Reihe von Zugehörigkeitsangeboten: das Angebot, sich national zu definieren, indem er in die Armee eines der Nachfolgestaaten des Habsburg-Imperiums eintritt; das Angebot, sich politisch zu definieren, indem er als Zeitungskorrespondent in der neutralen Bürgerrepublik 1

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Joseph Roth: Werke. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916-1929. Hg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 49-53. Seitennachweise im Folgenden im Text zitiert als Werke 4 plus Seitenzahl. Joseph Roth: Werke. Bd. 2: Das journalistische Werk 1924-1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 497. Vgl. Jon Hughes: Joseph Roth in France: Re-assessing Die weißen Städte. In: Austrian Studies 13 (2005), S. 126-141, hier bes. S. 127.

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Schweiz verbleibt; das Angebot, sich sozial zu definieren, indem er mit der Nichte seiner Schweizer Zimmerwirtin eine bürgerliche Existenz begründet. Immer bedeuteten diese Optionen, eine Gemeinschaft mit anderen Personen einzugehen oder eine Sache oder Idee zu vertreten – bzw. sich mit dem einen auf das andere einzulassen. Immer wieder löst die Möglichkeit von Zugehörigkeit und Festlegung Grenzüberschreitung und Bewegung aus. So exponiert das frühe Fragment in konzentrierter Form Anliegen, die Roth sein ganzes Leben lang beschäftigen sollten. Denn das Thema der Zugehörigkeit durchzieht das gesamte Werk Joseph Roths, von den Irrwegen der Selbstverschreibung an eine Ideologie und ihre Organisationen in Das Spinnennetz (1923) bis zur sentimentalen Beschwörung einer verlorenen multinationalen, multiethnischen, multireligiösen Ökumene (Ƞ۞țȠȣȝȑȞȘ) in den Romanen des Habsburg-Mythos Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938). Kaum einmal aber wird das Thema so explizit in den Mittelpunkt gestellt wie in dem Dialog der sowohl gegensätzlichen wie komplementären Protagonisten aus Hotel Savoy (1924), nämlich Zwonimir, dem von heimatlicher Krume schwärmenden (vgl. Werke 4, S. 226) landverwachsenen quintessentiellen Dazugehörigen, Kommunikator, Agitator und Träumer (vgl. Werke 4, S. 195), und Gabriel Dan, dem Beobachter, Unbeteiligten und Traumlosen (S. 151 und öfter): »Ich bin ein Egoist«, sagte ich, »ein wirklicher Egoist.« […] »Jeder Mensch lebt in irgendeiner Gemeinschaft«, sagt Zwonimir. In welcher Gemeinschaft lebe ich? – Ich lebe in Gemeinschaft mit den Bewohnern des Hotels Savoy. (Werke 4, S. 193f.)

Damit ist eine zentrale Fragestellung nicht nur benannt, sondern bereits schon ausgefächert, denn das »irgendeiner« Zwonimirs verlangt nach Interpretation und Füllung; und die subtile Bedeutungsnuance zwischen »in einer Gemeinschaft« und »in Gemeinschaft mit jemandem« leben zielt auf die Art und auf die Verbindlichkeit der Vergesellschaftung des einzelnen ab. Die erste Lesart betont das Primat des Kollektivs, welches Mitgliedschaft fordert und dadurch Zugehörigkeit schafft; die zweite Lesart betont das Primat des Individuums, das durch das Eingehen von Verbindungen Gemeinschaft erst herstellt. Eine Gemeinschaft, die in Hotel Savoy gleichzeitig als gegeben und als problematisch behandelt wird, ist die jüdische. Sie nimmt in dem Roman nicht nur eine prominente Position ein, weil ihr Zentralgestalten wie der Erzähler und Bloomfield sowie zahlreiche Nebenfiguren angehören, sondern auch, weil sie als Kollektiv mit bestimmten Gruppeneigenschaften und Vergemeinschaftungsritualen (oder Kommunikationskonventionen) gezeichnet ist: »Ich schlenderte weiter, sah schwarze Gruppen behender Kaftanjuden, hörte lautes Gemurmel, Gruß und Gegengruß, zorniges Wort und lange Rede –« (Werke 4, S. 153). Roth verwendet in Hotel Savoy seine jüdischen Gestalten als eine Art Mikrokosmos, in dem sich größere Zugehörigkeitseinheiten spiegeln, von der

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namenlosen Stadt, in der das titelgebende Hotel liegt, bis hin zu Europa, das zur Handlungszeit des Romans wie zur Zeit seiner Abfassung vor der Frage steht, als was für eine Gemeinschaft es sich für die Nachkriegszukunft neu konstituieren kann und will. Die Diskussion der Frage von Zugehörigkeit, so meine These, wird in diesem Roman im Spiegel der jüdischen Beteiligten in einem räumlich wie zeitlich organisierten doppelten Koordinatensystem vollzogen: an einem Ort, der eine geographische Grenze markiert, und zu einer Zeit, die eine historische Grenze bezeichnet. Die vertikale Schichtung dieser Versuchsanordnung ist nicht nur in den Stockwerken des Hotels mit ihren verschiedenen sozialen Räumen versinnbildlicht, sondern in symbolischer Verdichtung auch in dem mittelalterlichen Bild der verkehrten Welt,4 welches zur moralischen Beurteilung der Beteiligten einlädt: Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drin in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen […]. (Werke 4, S. 168)

Der Verweis auf alttestamentliche Gottesstrafen – »Es roch, als wäre hier der Pech- und Schwefelregen niedergegangen, nicht über Sodom und Gomorra« (Werke 4, S. 203) – unterstreicht weiterhin den Anschein, dass die Versuchsanordnung auf moralische Beurteilung abziele. Doch wird aus solchen moralisierenden Ansätzen keine Konsequenz gezogen: der Hotelbrand am Ende des Romans trifft arm und reich, unten und oben gleichermaßen; die nahegelegte Unterscheidung von gut und schlecht, Opfer und Täter, schuldig und unschuldig wird von der Figurengestaltung und der Erzählperspektive unterlaufen; das Handlungsende kann deshalb nicht als Gottesgericht, als Urteilsvollstreckung und damit als manifestes Ergebnis des Experiments wirken. Es erscheint stattdessen als willkürlich, den moralischen Schwebezustand perpetuierend. Ist das Hotel mithin ein Ort der Deplazierung im Sinne des Dazwischens, ein »dritter Ort«, eine Station in einer ziellosen Bewegung, so ist es auch ein Ort der suspendierten Entwicklung, des Aussetzens von Bewegung, der Stasis als Verharren in der Liminalität. Nicht nur ist das Hotel die Zwischenstation Gabriel Dans, Zwonimirs und vieler anderer auf deren Reise über die zeitlichen (Krieg – Friede) und räumlichen Grenzen (Asien – Europa) hinweg, auch für andere Konfliktbereiche des Romans ist es der Kristallisationspunkt von ungelöster Spannung und stockender Dynamik: der hierher getragene Arbeitskampf der Fabrikarbeiter kommt keiner Lösung näher; die auf den reichen amerikanischen Retter Bloomfield projizierten und hier ausgespielten Erlösungshoffnungen bleiben generell unerfüllt. Die Hotelhalle als Kondensat von Begegnung im Zeichen der Nivellierung, der Bindungslosigkeit, der Nomadik, Temporali4

Das Bild der verkehrten Welt wird mit anderer Akzentsetzung auch diskutiert von Gotthart Wunberg: Joseph Roths Roman »Hotel Savoy« (1924) im Kontext der Zwanziger Jahre. In: Michael Kessler/Fritz Hackert (Hg.): Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Tübingen: Stauffenburg 1990, S. 449-458, bes. S. 452.

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tät, Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit bleibt ein prekärer und grenzwertiger Ort;5 das so prominente Hotel-Motiv des Koffers als Requisit der Unstete, als Wunschsymbol vordergründiger (weil primär materiell gedachter) Verbesserung, als Emblem ausgesetzter Entwicklung oder Bewegung, als Unterpfand für eine geborgte Existenz unterstreicht dies eindrücklich. Die Versuchsdurchführung nimmt die Gestalt einer Inventur des Vorläufigen, Unentschiedenen an: die einzelnen Bestandteile des Szenarios werden durchschritten, beleuchtet und abgehakt – das heißt auch wenn die Geschichte einzelner Gestalten skizzenhaft zu einem vorläufigen Schlusspunkt geführt wird (der Tod des Clowns Santschin und die Übersiedlung seiner Frau zu ihrer Familie, Zwonimirs Tod, Bloomfields Abreise u. s. w.), so wird doch jede aus solch einer Handlungsführung möglicherweise ableitbare Erkenntnis verweigert. Gotthart Wunberg hat diese Eigenart des Romans wie folgt charakterisiert: Figuren und Begebenheiten dieses Romans sind gekennzeichnet von Unvollständigkeit, Widersprüchlichkeit, Inkonsistenz. Es bauen sich Bedeutungen auf, die nicht einzulösen sind [...]. Figuren und Verhaltensweisen beginnen etwas zu besagen, gehen aber in der aufkeimenden Bedeutung nicht auf.6

James Wood nennt die Kontingenz, in der alle diese widersprüchlichen Figuren befangen sind, eine »dreamlike inescapability«7 – mit dem Hotelbrand werden alle Perspektiven auf die Zukunft und jede Art von Trost oder Versöhnlichkeit vernichtet: das Experiment ist gescheitert, der Autor führt damit die gesamte erzählerische Prämisse seines Werkes ad absurdum. In der Roth-Forschung wird die Exposition des Themas Gemeinschaft und Zugehörigkeit in seinem Werk beharrlich an eine vermeintliche Suche des Autors nach Zugehörigkeit und weltanschaulicher Beheimatung zurückgebunden. Die Beschäftigung mit Roth ist gekennzeichnet von dem Versuch, sein literarisches Werk aus seinen essayistischen Verlautbarungen und seinen brieflichen Selbstaussagen zu erklären, ohne doch meistens die unterschiedlichen medialen Zusammenhänge, Schreibanlässe und Wirkabsichten in Betracht zu ziehen.8 Weiterhin werden dem Werk Weltanschauungen untergeschoben, die 5

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Telse Hartmann: Kultur und Identität. Szenarien der Deplazierung im Werk Joseph Roths. Tübingen: Francke 2006, S. 180f. Vgl. zu einem mit der Hotelhalle verwandten Motiv Joachim Beug: Die Grenzschenke. Zu einem literarischen Topos. In: Helen Chambers (Hg.): Co-Existent Contradictions. Joseph Roth in Retrospect. Riverside/CA: Ariadne 1991, S. 148-165. Wunberg, Joseph Roths Roman »Hotel Savoy« (wie Anm. 4), S. 450. James Wood: Joseph Roth’s Empire of Signs. In: James Wood: The Irresponsible Self. On Laughter and the Novel. London: Jonathan Cape 2004, S. 125-141, hier S. 138. So beispielsweise Ingeborg Sültemeyer: Das Frühwerk Joseph Roths 1915-1936. Studien und Texte. Wien: Herder 1976, die sich nicht damit begnügt, »Verbindungslinien« (S. 103) zwischen den journalistischen Schriften und den »Zeitungsromanen« aufzuweisen, sondern darüber hinaus die Romane bestimmten Feuilleton-

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sich aus dem vermeintlich katholizierenden und habsburgisch-verklärenden Charakter seiner Spätwerke ableiten, um dann flugs auf frühere Arbeiten zurückprojiziert zu werden, die man so zur Vorgeschichte der späteren reduziert.9 Und schließlich ist da das Bemühen, Roths Werk in Phasen aufzuteilen, einen Umschwung festzulegen, Verbindungslinien und Brüche zwischen dem einen und dem anderen Teil seines Schaffens zu markieren.10 Selbst wenn man Kontinuitäten und Leitlinien in seinem Werk über vermeintliche Brüche hinweg ausmacht – die Suche nach Halt und Zugehörigkeit beispielsweise –, so werden diese Themen zumeist biographisch gedeutet und verklärt, was die Legenden- und Mythenbildung um die Zerrissenheit des Autors zwischen jüdischem Stetl, Pariser Kosmopolitanismus und Habsburg-Nostalgie fördert,11 dem Verständnis seiner Werke jedoch nicht unbedingt zuträglich ist. Schon 1993 hat Hans Otto Horch dafür plädiert, auf den beständigen Versuch der weltanschaulichen Festlegung zu verzichten und in Roths Werk und Lebensäußerungen die »Transzendierung nationaler, religiöser, philosophischer und politischer Prägungen zugunsten eines universalen Denkens« anzuerkennen.12 Die Schlagworte der Selbstverortung Roths als »Mittelmeer-Mensch«, »Römer«, »Katholik«, »Humanist« oder »Renaissance-Mensch«, wie sie beispielsweise der vielzitierte Brief an Bernard von Brentano vom 16. September 1926 enthält,13 können eigentlich nur als Metaphern verstanden werden, denn ein tatsächlicher Rückgang in das antike Rom oder die Periode der Renaissance ist ja unmöglich. In ihrer Gesamtheit umkreisen diese Begriffe die Selbstverortung in einer abendländisch-universalen Gemeinschaft, die mit dem griechischen țĮșȠȜȚțȩȢ (das Ganze, die Gesamtheit betreffend) gemeint ist; sie erscheinen als Chiffren für eine umfassende Wunschzugehörigkeit, für ein europäisches Konsens-Substrat. Die literarischen Gestaltungen nehmen eben-

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Typen zuordnet. Auch Anne Fuchs: A Space of Anxiety. Dislocation and Abjection in Modern German-Jewish Literature. Amsterdam: Rodopi 1999, S. 81-122, leitet die literarische Gestaltung von Deplazierung aus »auto-narratives« (S. 83 und öfter) ab. Eine Kombination beider Tendenzen findet sich zum Beispiel bei Dietmar Mehrens: Vom göttlichen Auftrag der Literatur. Die Romane Joseph Roths. Ein Kommentar. Hamburg: Libri Books on Demand 2000. So beispielsweise Wolfgang Jehmüller: Zum Problem des »zweifachen Zeugnisses« bei Joseph Roth. In: Text + Kritik Sonderband Joseph Roth (1982), S. 67-75, der die »Wende«, wie andere auch, bei Hiob ansetzt. Um nur ein Beispiel anzuführen, welches dem Verdienst des Verfassers als Pionier der Roth-Forschung keinen Abbruch tut: David Bronson: The Jew in Search of a Fatherland. The Relationship of Joseph Roth to the Habsburg Monarchy. In: The Germanic Review 54 (1979), S. 54-61. Hans Otto Horch: »Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben …«. Zum Verhältnis von Katholizismus und Judentum bei Joseph Roth. In: Itta Shedletzky/Hans Otto Horch (Hg.): Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1933 (Conditio Judaica; 5), S. 205-235, hier S. 214. Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 94f.

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falls ihren Ausgangspunkt von einer Idee, welcher ein Schlagwort als Chiffre zugeordnet ist; in Hotel Savoy (wie auch in anderen frühen Werken, so in Das Spinnennetz und Die Flucht ohne Ende) tritt der Begriff »Europa« in diese Funktion ein: »Zum erstenmal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas« (Werke 4, S. 149). Die Romane selbst, die sich mit der Wirklichkeit jenseits der Idee auseinandersetzen, können nur zur Bilanzierung der Unerreichbarkeit des Ideals gelangen, ja sie ziehen ihren schriftstellerischen Reiz aus der Beschreibung der Defizienz, welche die Realität notwendigerweise gegenüber der universalistischen Wunschvorstellung aufweisen muss. Roths Erzählerinstanzen fällt bei der literarischen Gestaltung der vor dem Hintergrund des Ideals und im Spektrum der Versuchsprämisse schmerzlich hervortretenden Defizienz und Kontingenz eine Schlüsselfunktion zu. Gabriel Dan, der Ich-Erzähler von Hotel Savoy, ist ein Medium der Koinzidenz von Distanz und Nähe. In seiner Erzählperspektive des »childish wonderment«, wie James Wood es ausdrückt,14 in der die Unmittelbarkeit der geteilten Blickrichtung mit der klinischen Unbestechlichkeit des Fremden zusammenfällt, verkörpert er die Problematik von Zugehörigkeit und Isolation, die er auch in seiner Umwelt und in seiner engeren Bezugsgruppe diagnostiziert: »ich stehe allein. [...] Ich habe keine Gemeinschaft mit einer Menge und nicht mit einzelnen« (Werke 4, S. 193), lässt Roth ihn am Anfang behaupten, nur um ihn schon wenig später, als er beim Umladen von Hopfenballen kurzzeitig das Glücksgefühl wohlsynchronisierter Teamarbeit erlebt, notieren zu lassen: »Wir waren alle vierzehn wie ein einziger Mann« (Werke 4, S. 201). Dass eine selbstreflexiv-artifizielle Erzählperspektive hier und anderswo als ein Baustein des Versuchs zu verstehen ist, verrät die Designation der die Blickrichtung leitenden Zentralgestalten als Schriftsteller. In Immer seltener werden in dieser Welt … geschieht dies lakonisch, unbelastet von Sentimenten: »Am 3. November des Jahres 1918 faßte Heinrich P. den Entschluß, sein tägliches Brot mit der Schriftstellerei zu verdienen« (Werke 4, S. 49). In Hotel Savoy kennzeichnet die Hilflosigkeitsbeteuerung, die Roth seinem Erzähler zu Beginn vornehmen lässt, eine Erzählhaltung der Ambivalenz: »Früher wollte ich Schriftsteller werden, aber ich ging in den Krieg, und ich glaube, daß es keinen Zweck hat zu schreiben. – Ich bin ein einsamer Mensch und ich kann nicht für alle schreiben« (Werke 4, S. 161). Die Aussage enthält gleichzeitig implizit ein Empathiegebot als Bedingung der Schriftstellerexistenz (das Zugehörigkeit und Verbindung ermöglichte, vielleicht sogar forderte) und formuliert die Notwendigkeit von Distanz als komplementäre Bedingung für den abschildernden Analytiker (die Entfremdung von Gemeinschaft impliziert). Doch auch diese in sich ambivalente Selbstpositionierung wird im Folgenden zurückgenommen, wenn der 14

Wood, Joseph Roth’s empire of signs (wie Anm. 7), S. 134. Vgl. auch Jehmüller, Zum Problem des »zweifachen Zeugnisses« bei Joseph Roth (wie Anm. 10), der ausführt, wie »der Standpunkt des sich wundernden Helden […] das Wirkliche als imaginär, das Alltägliche als Außergewöhnlich erscheinen« lasse (S. 68).

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Erzähler eben doch »für alle« schreibt und hierbei zu seiner Form findet – als Referent der Hilfegesuche an den potentiellen Heilsbringer Bloomfield: »Ich hütete mich, mehr zu berichten, als nötig war. Dennoch lieferte ich manchmal einen Roman« (Werke 4, S. 219). Es fällt also kein ethnographischer Blick auf den Untersuchungsgegenstand, sondern ein dichterischer, der in sich selbst die Widersprüchlichkeit der dargestellten Welt austrägt. In diesem Panorama der Kontingenz und Widersprüchlichkeit von Erzählung und Erzähltem in Hotel Savoy nehmen die jüdischen Gestalten (zu denen der Erzähler gehört) eine besonders zentrale Position ein, ja sie werden geradezu, wie bereits angedeutet, zu bestimmenden Komponenten der Versuchsanordnung. Schon in dem fulminanten Erwartungsaufbau am Romanbeginn (»ich stehe wieder an den Toren Europas«; »Ich ahne Morgendunst«; »Im Hotel Savoy konnte ich mit einem Hemd anlangen und es verlassen als Gebieter von zwanzig Koffern –«; »Ein Lift nimmt mich auf […], ich schwebe –«; Werke 4, S. 149f.) wird das jüdische Motiv an prominenter Stelle aufgeworfen, nämlich in der dritten Zeile: »– meine Eltern waren russische Juden«. Und es wird umgehend mit dem Thema der Gemeinschaft und der Zugehörigkeit verbunden: »In dieser Stadt leben meine Verwandten –« (Werke 4, S. 149). Doch auch hier wird die Idee, dass Blutsverwandtschaft ein gemeinschafts- oder zugehörigkeitsstiftendes Band bereitstellen könnte, schon bei der ersten Begegnung des Erzählers mit seinen »Verwandten« problematisiert: »Die Mutter […] achtete den reichen Bruder, als wäre er etwas Fremdes, Königliches, als hätte sie nicht beide ein Schoß geboren, ein Brüstepaar gesäugt« (Werke 4, S. 154; Hervorhebung im Text). Der Erzählblick wird nicht allein deshalb ausdrücklich auf die Juden gerichtet, weil sich für den jüdischen Berichterstatter bei dieser Gemeinschaft die Frage nach Zugehörigkeit mit besonderer Dringlichkeit stellen würde, sondern auch, weil sie einfach zum Stadtbild der Provinzstadt gehören wie die Arbeiter, die Unternehmer, die Durchreisenden verschiedenster nationaler, kultureller und religiöser Provenienz. Die jüdische Präsenz in dieser halb-asiatischen Grenz- und Übergangsregion (um Karl Emil Franzos’ Designation aufzugreifen) ist aber nun nicht bloß als ein »Realitätselement« der Abschilderung einer Roth bekannten Lokalität aufzufassen, auch wenn der Ort Ähnlichkeiten mit Städten aufweist, die in Roths Biographie eine Rolle gespielt haben mögen. Roths Verfahren, Gegenstände wegen ihrer Absurdität zur Beschreibung auszuwählen und durch Andeutungen aus dem Bereich der Realitätsspiegelung in den metaphorischen Raum zu transportieren, kann an einem recht unscheinbaren Beispiel erhellt werden. Roth identifiziert die bestreikte Fabrik als Bürstenmanufaktur: Es war eine Borstenreinigungsfabrik. Dort reinigte man die Schweinehaare von Staub und Schmutz, und es wurden Bürsten daraus gemacht, die wieder zum Reinigen dienen. Die Arbeiter, die den ganzen Tag die Borsten strählten und siebten, schluckten den Staub und bekamen Lungenbluten und starben im fünfzigsten Jahr ihres Lebens. (Werke 4, S. 207)

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Die Passage gewinnt ihre Pointe aus dem Hiat zwischen der Banalität der Tätigkeit und der Alltäglichkeit des Produktes sowie den gravierenden Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die Faktizität der Verallgemeinerung (»die«, also alle Arbeiter starben jung) in Kombination mit der alttestamentlichen »und-« Reihung und Floskelhaftigkeit kreiert eine unheimliche Wirkung, die das Beispiel über sich selbst hinaushebt, es zum Sinnbild für die existentielle Unsicherheit und Unerbittlichkeit macht, die selbst von den harmlosesten Ursachen ihren Ausgang nehmen. In seinem nächsten Text braucht Roth dieses Phänomen nurmehr anzuzitieren, um es als Ursache für die Ereigniskette, die zur »Rebellion« des Invaliden in dem gleichnamigen Roman führt, nämlich für den Niedergang und die Apotheose des Kleinen Mannes, tauglich zu machen: »Auch den ersten Mann hatte sie sorgfältig erwählt. Daß er später lungenkrank wurde, weil er Borstenarbeiter war, war Gottes Wille« (Werke 4, S. 265). Die Juden in Hotel Savoy sind ebenso als Sinnbilder der Unwägbarkeit menschlicher Existenz bei prinzipieller Unwandelbarkeit der Conditio Humana aufgefasst wie die Borstenarbeiter, nur wird die Exemplifizierung dieser Einsicht aufgefächert: auf Mitglieder verschiedener sozialer Schichten, auf Figuren, die in unterschiedlichem Maße individuell konturiert sind. Von einer anonymen Masse augenscheinlich armer Ghettojuden wie den »vielen armen Gestalten«, an die Bloomfield auf dem jüdischen Friedhof Almosen verteilt (Werke 4, S. 227), über eine Reihe von Figuren, die den Hintergrund atmosphärisch zu füllen helfen wie die »fünf russische[n] Juden«, die »jeden Abend Operetten« spielen (Werke 4, S. 223), über Bloomfields Sekretär, »ein[en] Jude[n] aus Prag und heißt Bondy« (S. 214), über die Nebengestalten Abel Glanz, Hirsch Fisch, Phöbus Böhlaug und seinen Sohn Alexanderl reicht das Panorama bis hin zu dem Erzähler selbst und dem mysteriösen Henry Bloomfield. Die Geschicke aller dieser Gestalten sind eng miteinander verwoben (»wo bleibt Bloomfield? Hirsch Fisch erwartet ihn sehnsüchtig«; Werke 4, S. 187); die Erzählabfolge wie die Motivparallelen suggerieren eine Zusammengehörigkeit über soziale Schranken hinweg – ganz besonders zwischen dem reich gewordenen Amerikaner Bloomfield und den Ghettojuden, aber auch zwischen dem arrogant-fatalistischen Onkel Böhlaug und den Kaftanjuden in den Gassen, denn zu beiden Gelegenheiten, wenn der Erzähler seinen Onkel aufsucht, schwenkt der Blick umgehend zum traditionellen Straßenleben der anonymen Juden. Das disparate Judenbild scheint bewusst in ein impressionistischsymbolistisches Genrebild überführt, das Versatzstücke der jüdischen Sittenbilder aufweist, welche auch die Ghettoliteratur der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auszeichnete. Dies gilt vor allem für die Impressionen anonymer jüdischer Massen der Gassensteher und Schnorrer: Wir kommen in eine kleine Gasse. Da stehen Juden, spazieren in der Straßenmitte, haben Regenschirme, lächerlich gewickelte, mit krummen Krücken. Sie stehn entweder still mit sinnenden Gesichtern oder gehen hin und zurück, unaufhörlich. Hier

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verschwindet einer, dort kommt ein Anderer aus einem Haustor, sieht forschend nach links und rechts und beginnt zu schlendern. Wie stumme Schatten gehen die Menschen aneinander vorbei, es ist eine Versammlung von Gespenstern, längst Verstorbene wandeln hier. Seit Tausenden Jahren wandert dieses Volk in engen Gassen. (Werke 4, S. 171f.)

Ebenso wie diese schemenhaften Karikaturen des jüdischen Straßenlebens in der Ghettoliteratur des neunzehnten Jahrhunderts sind einige genauer konturierte Figuren des Romans an bekannte Typen des ostjüdischen Universums angelehnt: der Geck Alexanderl Böhlaug, dessen substanzloses Rennomiergehabe ihn in der Nachfolge schmuckbehängter Bankiersfrauen als Karikatur der Aufstiegsbestrebungen der jüdischen Assimilationsschicht markiert; der lamentierende, selbstsüchtige Onkel Böhlaug, der ebenso als Beispiel für die Charakter verbiegenden negativen Folgen des wirtschaftlichen Erfolgs herhalten muss; der »Lotterieträumer« Hirsch Fisch, der als moderne Inkarnation des traditionellen jüdischen Luftmenschen auftritt, welcher ohne materielle Subsistenzgrundlage auskommt und von der Hypothek auf eine ungewisse Zukunft lebt. Aber: trotz der Anlehnung an Figurationen des Judentums, wie sie in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts der Demonstration politisch-kultureller Anliegen dienten (so der Illustration von Chancen und Grenzen der Assimilation in die deutsche Gesellschaft) lässt sich in Hotel Savoy keine Stellungnahme zu einer wie immer gearteten »Judenfrage« erkennen, keine Problematisierung des Status und der Aspirationen der Juden, keine Thematisierung von etwaigen Friktionen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung. Im Gegenteil, die gegenseitigen Verspiegelungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Figuren, die Parallelen und Verflechtungen zwischen verschiedenen Schichten und verschiedenen Gruppen unterminieren alle möglichen Festlegungen, ja Stereotypisierungen. Abel Glanz, um nur ein Beispiel anzuführen, wird im Haus des Finanziers Böhlaug bei einer absurden Teezeremonie und umgehend in der Judengasse beim Geldtausch mit ambulanten Kleinhändlern gezeigt; seine Tätigkeit im jüdischen Beschreibungsbereich findet ein Echo beim nichtjüdischen Fabrikanten Neuner, denn auch dieser »spekulierte [...] an der Züricher Börse, er handelte mit Valuta« (Werke 4, S. 225). In vielfacher Hinsicht wird der Geldhandel zum Sinnbild des Wertewandels oder des Werteverfalls (»Valuta«!) der Moderne; Juden und Nichtjuden versinnbildlichen diesen in gleichem Maße; er wird nicht, wie dies in judenfeindlicher Literatur gehandhabt worden wäre, den Juden in die Schuhe geschoben; die Juden werden aber ebenfalls nicht ausgenommen von der Verbindung mit dieser Zeiterscheinung. Ein polemischer Bedeutungskern von »jüdischer Spekulation« wohnt Roths Verwendung des Motivs vielleicht doch noch inne; darüber hinaus wird der Tausch nationaler Währungen zum Symbol für die nationalstaatliche Neuorganisation Nachkriegseuropas und zur Metonymie für den entfesselten Kapitalismus einer Gesellschaft, die sich über materielle »Werte« definiert. Der Geldhandel erscheint als ebenso liminale wie prekäre Tätigkeit: die Beteiligten fürchten sich beständig vor dem Arm des Gesetzes (vgl. Werke 4, S. 170 und

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S. 172); schnelle Überblendungen verbinden das Motiv des Devisenhandels mit dem des Lotteriespiels (»Zwonimir kaufte bei Fisch drei Lose und wollte noch mehr kaufen und versprach Fisch ein Drittel vom Gewinst. Wir gingen mit Abel Glanz in das Judengäßchen, Abel machte gute Geschäfte, fragte, ob wir deutsche Mark hätten. Zwonimir hatte deutsche Mark. ›zu zwölf ein viertel‹, sagte Abel«; Werke 4, S. 196). Das Geldgeschäft ist Metapher für die jüdische Realität zwischen Ghetto und Bourgeoisie, zwischen Straßenkriminalität und Hochfinanz wie Symbol für die Unwägbarkeit der Conditio Humana allgemein: Es ist nicht leicht, mit Valuta zu handeln [...]. Man setzt sein Leben aufs Spiel - es ist ein jüdisches Schicksal. Man läuft den ganzen Tag herum. Brauchen Sie rumänische Leis, bietet Ihnen jeder Schweizer Franken. Brauchen Sie Schweizer Franken, gibt Ihnen jeder Leis. Es ist eine verzauberte Geschichte. (Werke 4, S. 170)

Der Stoßseufzer Abels »Es ist eine verzauberte Geschichte« fungiert als Gegenstück zu der fatalistischen Evokation von »Gottes Wille« im Zusammenhang mit den Borstenarbeitern und erhebt den Anspruch auf eine universale Gültigkeit des Beobachteten. Auch die anderen etwas näher beleuchteten Judengestalten haben Verweisungswert nicht nur auf ihre Gemeinschaft, sondern auf die moderne Befindlichkeit der Lebensunsicherheit schlechthin. So Hirsch Fisch, der als skurriler Eigenbrödler eine mysteriöse Existenz am extremen Ende der Versuchsskala führt (»er wohnt im letzten Zimmer des Hotels«; Werke 4, S. 163) und dessen Umgang mit den anderen Hotelbewohnern in das Motivgeflecht von Kredit, also imaginären oder instabilen relativen Werten einbezogen ist. Stasia leiht sich von ihm Tee mit den Worten »wir verrechnen das, Herr Fisch« – selbst Subsistenzmittel sind nicht gedeckt, sind wie die Koffer an eine ungewisse Zukunft verpfändet, also im Transitorischen gefangen. Fischs Beschäftigung als »Lotterieträumer« bezeichnet eine prekäre Grenzexistenz zwischen realen und phantastischen Dimensionen. Die Lotterie, deren Nummern ihm im Traum erscheinen, hat Surrogatcharakter; in ihrem Bild sind die Erlösungshoffnungen gleichermaßen ins Materielle verschoben wie ins Numinose enthoben: »Er schläft den ganzen Tag, läßt sich Nummern träumen und setzt« (S. 163). In dieser Formulierung erscheint Hirsch Fisch gleichermaßen als aktiv Handelnder wie als passiver Spielball ungreifbarer Mächte; seine Handlungsautonomie besteht darin, dass er sich willentlich unwillentlich macht. Doch selbst diese Entrückung ist fragil, die Eingebung ist von Einbildung bedroht, was eine geradezu paradoxe Potenzierung der Verflüchtigung jeden festen Halts, jedes empirisch-rationalen Orientierungsrahmens zeitigt: »Fisch [...] lebt in steter Angst, weil er einmal irgendwo gelesen hat, daß die Regierung das Lotteriespiel aufheben und ›Klassenlose‹ einführen will« (S. 164). Die wortspielerische Pointe liegt hier offensichtlich in der Verschmelzung einer Glücksspielart, die ohne Nummernziehung auskommt, mit dem Schlagwort der kommunistischen Revolution, die als zeitgeschichtlicher Hintergrund jenseits der nahen russischen Grenze mitgedacht werden muss (die durch die Referenz auf den Slogan der Klassenlosigkeit aufgerufene De-

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batte um das kommunistische Gesellschaftsmodell, die in Flucht ohne Ende so intensiv, aber aus ganz ähnlicher Perspektive des Beteiligt-Unbeteiligten und mit ganz ähnlichen desillusionierenden Resultaten geführt wird, ist in Hotel Savoy ansonsten völlig ausgespart). Die ganze Stadt setzt bekanntlich ihre Hoffnungen auf Bloomfield; der Erzähler benennt eine Anzahl einzelner Lebensgeschichten und Vorhaben, in die einzugreifen der Millionär aus Amerika aufgefordert ist, bei denen sein Geld und sein Einfluss eine Entscheidung oder Lösung herbeiführen sollen: Zu den Bittstellern und Antichambrierern gehören so unterschiedliche Figuren wie der Fabrikant Neuner (Werke 4, S. 207), der reiche Onkel Phöbus Böhlaug (S. 208), ein ansonsten nicht in Erscheinung tretender gewisser Isidor Schabel, der Geld zum Verfolg seiner »Rehabilitierung« erhofft (S. 221), die mitleiderheischende Witwe Santschins, der abstoßend gezeichnete Polizeioffizier (S. 229) und viele andere mehr. Natürlich beziehen sich die Wünsche der Hoffenden auf Bloomfields vermeintlich grenzenlose (!) Geldmittel; doch eigentlich, so signalisiert Roth durch seinen Erzähler, ist Entscheidung gefordert, Anstoß zum Handeln, Befreiung aus der Stasis. Angesichts solch ernsthafter Ansinnen ist es bemerkenswert, welches Projekt Roth seinen innerweltlichen Messias tatsächlich aufgreifen lässt: es ist dies das Vorhaben der »Juxdrillinge«, eine Fabrikation für »Feuerwerk, Papierschlangen, Serpentinen, Knallerbsen und Frösche« zu errichten und »die Gegend und Rußland mit Juxgegenständen [zu] versorgen« (Werke 4, S. 219). Von dieser Unternehmung erhält der Leser ein einigermaßen genaues Bild, an dem drei Aspekte auffallen: (a) Bloomfield stellt diesem Unternehmen lediglich seinen Namen zur Verfügung, kein Kapital, keine Produktionsmittel, keine Expertise; alle diese Voraussetzungen bringen die Investoren Nachmann, Zobel und Wolff mit (ob diese Namen eine jüdische Herkunft ihrer Träger signalisieren sollen, bleibt offen). Diese Information deutet an, dass es Roth hier nicht auf die wirtschaftliche Substanz des Projektes (Fertigung, Handel und Verkauf), nicht auf persönliche Bindung oder Solidarität, nicht auf die Hilfsbedürftigkeit des Geförderten, sondern einzig auf Rennommée und Nimbus des Förderers, also auf Illusion als Triebfeder menschlichen Handelns ankommt. (b) Die Initiatoren der Unternehmung sind Ortsfremde und zur Realisation wird eine bereits bestehende Einrichtung lediglich umgewidmet. Ein Hinweis, dass dieses Projekt einen Nutzen für den Ort haben könnte, dass die neue Fabrik den streikenden Arbeitern oder den lethargischen örtlichen Unternehmern eine Perspektive eröffnen könnte, wird dem Leser nicht gewährt. In diesem Lichte erscheinen der Name der umgerüsteten »Maiblumschen Fabrik« mit seiner hoffnungsfrohen Resonanz und seiner Ähnlichkeit mit Bloomfields eigenem Namen sowie die lakonische Information über das Sozialgebaren der drei deutschen »Reisenden« (!) – »Sie führen ein inniges Familienleben« (Werke 4, S. 220) – als zutiefst ironisch, ja zynisch: zukunftsweisend, aufbauend, gemeinschaftsbildend in irgendeiner Form ist die einzige Unternehmung, zu deren Erfolg Roth seinen amerikanischen Juden beitragen lässt, in keiner

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Weise. (c) Die herzustellenden »Produkte« reihen sich in eine Kette von unproduktiven, eskapistischen, wirklichkeitsverneinenden Einrichtungen und Unternehmungen ein, die die Örtlichkeit in ihrem unwirklichen, vorläufigen Charakter fast noch mehr prägen als der Bahnhof, der Friedhof, die Gassen, die Baracken oder die Suppenküche, die ansonsten genannten Schauplätze des wirklichen Lebens: gemeint sind das »Theater« (kein Repertoiretheater, sondern eine Nummernbühne mit Clowns und Tänzerinnen), die Bar mit den nackten Mädchen, »Herrenabende und Tanzkränzchen« (S. 228); ein Kino wird erwähnt (Werke 4, S. 227), und die Lotterie gehört ebenfalls in den Zusammenhang. Genau diesem Bereich werden die »Juxdrillinge« zugeordnet, pointierterweise im selben Atemzug mit der Erwähnung ihres »innigen Familienlebens«: »Alle drei kamen in die Bar und holten sich ein Mädchen an den Tisch« (Werke 4, S. 220). Bloomfield ist nicht nur eine Zentralgestalt des Romans, weil sich auf ihn die Hoffnungen der anderen Figuren projizieren, weil er als innerweltliche Erlöserfigur die prinzipielle Austauschbarkeit transzendentaler und säkularisiert-materialistischer Hilfserwartungen verkörpert und damit der Stasis und Heteronomie seiner Umwelt ein Spiegelbild liefert. Bloomfield ist weiterhin angelegt als Figur, die das Paradox von Grenzüberschreitung und Zugehörigkeitswunsch auf besonders extreme Weise veranschaulicht. Er ist am weitesten über seinen heimatlichen Horizont hinausgewachsen, hat es »am weitesten gebracht« und ist dabei doch der einzige, dem Roth ein eindeutiges, ernstgemeintes Zugehörigkeitsbekenntnis in den Mund legt: »Ich bin ein Ostjude, und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben«, sagt er beim Besuch des väterlichen Grabes und findet darin das Verständnis des Erzählers: »Ich verstand Henry Bloomfield. Er hatte Heimweh, wie ich und Zwonimir« – »Es war eine Heimkehr« (Werke 4, S. 227f.). In solch sentimentalen Momenten scheint die Möglichkeit von Bindung und Zugehörigkeit plötzlich und kurzzeitig auf, wird aber gleich verworfen oder modifiziert. Denn der symbolische Ort der Zugehörigkeit, der Friedhof, wird in das Motivgeflecht der Be- und Entgrenzung einbezogen, er ist ebenfalls ein Ort der Bewegung, der Unbestimmtheit, der simultanen Grenzziehung und Grenzüberschreitungen: »Hier liegen die Toten aller Bekenntnisse nicht weit voneinander, nur der jüdische Friedhof ist durch zwei Zäune getrennt« (Werke 4, S. 181); und: »Ich steige über den niedrigen Zaun, der den jüdischen Friedhof abschließt« (S. 226). Die Beschwörung von »Fortsetzung und Anknüpfung« (S. 227) als Grundpfleilern eines jüdischen Verständnisses von geschichtlicher Kontinuität und Zugehörigkeit über Generationengrenzen hinweg bleibt aber nicht das letzte Wort in dieser Sache. Den abschließenden Kommentar zu Bloomfield lässt Roth wiederum seinen Erzähler geben: In aller Stille ist Henry Bloomfield geflüchtet. Mit abgeblendeten Scheinwerfern, auf lautlosen Rädern, ohne Hupengeschrei, im Dunkel der Nacht floh Bloomfield vor dem Typhus, vor der Revolution. Er hat seinen toten Vater besucht, er wird nie mehr in seine Heimat kommen. (Werke 4, S. 238)

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Die Bedeutung der Figur Bloomfield für den Roman insgesamt besteht im Lichte dieser finalen Aussage nicht darin, dass er das menschliche Verlangen nach Heimat und Verwurzelung in einem physischen Sinn ausdrückt, manifest in dem väterlichen Grab als physischem Monument von Heimat und Kontinuität, sondern darin, dass diese Figur die Abnabelung vom eigenen Erbe, die Loslösung von der angestammten Gemeinschaft vollzieht: Sein »Erfolg« (auch bei der Herstellung von »Juxgegenständen«) besteht darin, dass er sich über Sentimentalität und Bindung, Mitleid mit den Leidenden und Solidarität mit jeglicher Bezugsgruppe erhebt. Der Roman schließt mit dem Wort »Amerika«, einer Chiffre für das Irreale, Chimärenhafte, die im äußersten Kontrast zu dem Stichwort »Europa« steht, mit dem der Roman anhebt. Diese Chiffre ist aber auch als Oppositionsbegriff zu den Metaphern einer umfassenden Gemeinschaft zu verstehen, die Roth in seinen Selbstaussagen benutzt. In diesem Schlussakkord liegt das Eingeständnis des Scheiterns des Experiments, das der Roman vollzieht. Amerika ist das, was Europa nicht ist und nicht werden soll, weil Europa nicht Konjunktiv sein kann – »Wenn ich zu meinem Onkel nach New York komme – –« (Werke 4, S. 242) ist der verhallende, elliptische vorletzte Satz, den Roth ausgerechnet dem Vertreter des Handels mit Scheinwerten, Abel Glanz, in den Mund legt; Europa bleibt, wie immer defizienter, Indikativ. Juden sind Teil dieser kontingenten europäischen Welt und der chimärenhaften amerikanischen Gegenwelt, sie verkörpern die Dimensionen der Gebundenheit und Heteronomie und der transzendierenden aber sentimetalen irrealen Sehnsucht; Juden treten auf als Gemeinschaft und als Vereinzelte, als Grenzgänger und als Unverbundene; ihre Funktion ist die der Konkretisierung und der Abstraktion gleichermaßen. Die Juden in Hotel Savoy sind liminale Gestalten zwischen Tradition und Moderne, zwischen Individuation und Typik, zwischen Ghetto-Kollektiv, aufgekündigter Familien-Solidarität (Böhlaug) und dem radikalen Bruch mit Tradition und Solidarität; sie sind eine Gruppe und gleichzeitig fragmentiert und isoliert, zufällig und kontingent in ihren Handlungen. Der symbolische Ort des Hotels ist gekennzeichnet durch Paradoxität, Vorläufigkeit und Flux; er ist gleichzeitig das Labor Europas, der Schmelztigel der Neuen Ordnung, die Versuchsstation für kollektive und individuelle Zukunftshoffnungen und ein Abglanz des Alten, Abgewirtschafteten, Immergleichen und Regenerationsbedürftigen, das sich nicht mehr zu nostalgischer Verklärung eignet, dessen partielle Sentimentalisierung nur dadurch möglich ist, dass es Symbol permanenten Verlustes und Abschieds und unerfüllter Hoffnung ist. Wie die Teezeremonie zwischen Phöbus Böhlaug und Abel Glanz ist menschliches Handeln hier ein absurdes Ritual aus inhaltsleeren Floskeln und Gespreize, ist Bewegung ohne Ziel, Stasis ohne Ruhe. Auch beim besten Willen kann man aus Hotel Savoy keine Botschaft herauslesen, keine Aufforderung zur »Erlösung aus der Zeitlichkeit« für die Besitzlosen, keinen Wegweiser zu einem christlichen Heilsweg als Alternative

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zu den falschen Messiassen des Sozialismus und des Nationalsozialismus.15 Der resignative Gestus der Unabänderlichkeit und des Verlustes – die Verbindung des Erzählers mit Stasia kommt nicht zustande, ausgerechnet der lebensbejahende Zwonimir geht in den Flammen zugrunde – lädt den Ausgang des Romans eher mit einem Hauch von resignativer Sentimentalität auf als mit Erlösungshoffnung und Jenseitstrost. Die Juden verkörpern Zirkularität der Bewegung, Futilität von menschlichem Streben allgemein: Sie stehn entweder still mit sinnenden Gesichtern oder gehen hin und zurück, unaufhörlich. Hier verschwindet einer, dort kommt ein Anderer aus einem Haustor, sieht forschend nach links und rechts und beginnt zu schlendern. Wie stumme Schatten gehen die Menschen aneinander vorbei, es ist eine Versammlung von Gespenstern, längst Verstorbene wandeln hier. (Werke 4, S. 171f.)

Genau deshalb kann ein Interpret den Eindruck formulieren, dass alle Helden Roths eigentlich Juden seien: »all his self-defeating heroes, even the gentiles, are ultimately Jewish«.16 Doch diese Gleichung funktioniert auch umgekehrt: alle seine Juden sind Sinnbilder des Menschlichen: »es ist ein jüdisches Schicksal« und es ist »eine verzauberte Geschichte« (Werke 4, S. 170).

15 16

So Mehrens, Vom göttlichen Auftrag der Literatur (wie Anm. 9), S. 61f. Wood, Joseph Roth’s Empire of Signs (wie Anm. 7), S. 140.

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Die messianische Sendung der Selbstaufhebung Margarete Susmans Reflexionen über das Wesen und Schicksal des Judentums – mit einem Exkurs zu ihrer Konzeption von Weiblichkeit Die folgenden Ausführungen möchten einige Kontinuitäten und Entwicklungen in Margarete Susmans Reflexionen über das Wesen und Schicksal des Judentums, die sich über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert erstreckten, rekonstruieren. Dabei können naturgemäß nur einige konstitutive Aspekte dieser komplexen Thematik angesprochen werden, wie etwa die Stellung des Judentums zur Frage der nationalen Identität, sein Verhältnis zur Geschichte oder die Spiegelung seines Schicksals im Medium der biblischen Hiob-Gestalt. In diesem Kontext komme ich auch auf Susmans Blick auf das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen zu sprechen. In einem knappen Exkurs werden ein paar auffällige Parallelen zwischen Susmans Reflexionen über das Judentum und ihren Erörterungen der Rolle der Frau aufgezeigt, der sie sich mit ähnlicher Intensität gewidmet hat. Einleitend möchte ich Margarete Susmans Biographie skizzieren und dabei einige für meinen Zusammenhang wichtige Stationen hervorheben. Margarete Susman wurde am 14. Oktober 1872 in Hamburg als Kind einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie geboren. Schon als Sechsjährige verfasst sie erste Gedichte, in denen sie »ein Wissen um die Grausamkeit des Schicksals«1 ahnt. Ihr zeigt sich diese Grausamkeit an einem Weihnachtsabend, als ihr auf den enthusiastisch geäußerten Wunsch, ein Christ sein zu wollen, das Dienstmädchen antwortet: »Das ist unmöglich. Wir sind Christen, ihr seid Juden.« (IL 17) Susman empfindet das als eine unverdiente Strafe, die ihre Weltordnung zerstört.2 In Hamburg besucht sie eine Privatschule, 1883 zieht die Familie nach Zürich und sie geht auf eine Volksschule, wo sie am christlichen Religionsunterricht teilnimmt. Der Vater ist eher politisch und sozial interessiert als religiös. Die Großmutter mütterlicherseits war noch orthodox. Nach Beendigung der Höheren Töchterschule verwehrt ihr der Vater das Studium. 1

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Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1964, S. 16. Zitate werden im Folgenden unter Angabe der Sigle IL und der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. Davon findet sich vielleicht ein Reflex in dem Gedicht »Heiliger Abend« in den Gedichten, wo es in der dritten Strophe heißt: »Erloschen ist mit allen Kerzen / Der Kindheit heller Lichterbaum; / Gestorben ist im tiefsten Herzen / Der Kindheit süßer, frommer Traum.« Siehe [G. Susman]: Gedichte. Als Manuscript gedruckt. Zürich: Meyer & Männer 1892, S. 32.

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Susman verbringt ihre Zeit mit Lesen, Schreiben und Malen. Sie liest die aktuelle naturalistische Literatur und Nietzsches Zarathustra. In dieser Zeit erscheint ihr erster Gedichtband. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters zieht sie mit der schwer kranken Mutter 1893 nach Hannover, der Heimatstadt der Eltern. Dort kommt Susman in Kontakt mit einem Rabbiner, der ihr »die ersten Grundbegriffe jüdischen Wissens« (IL 32) vermittelt. Schließlich nimmt Susman in Düsseldorf das Studium der Malerei auf. Sie begeistert sich an Rembrandt, an den Landschaften Hodlers, den Stillleben von Cézanne und den Bildern Van Goghs, die ihr voller Menschlichkeit scheinen. In Düsseldorf lernt sie den Kommilitonen Eduard von Bendemann kennen, dessen Werbung sie zunächst zurückweist. In dieser Zeit ist sie empfänglich für die schmerzlich-melancholische Dichtung Leopardis, dem sie einen Zyklus in ihrem 1901 erscheinenden Gedichtband Mein Land widmet. Margarete Susman wechselt an die Universität München und trifft dort Gertrud Kantorowicz, von der sie bei Wolfskehl eingeführt wird. Am Anfang des 20. Jahrhunderts geht sie nach Berlin und erhält über Gertrud Kantorowicz Zugang zum Kreis um Georg und Gertrud Simmel. Der Kontakt mit dem Ehepaar Simmel verschafft ihr Einblick in eine »höchst verfeinerte Kultur« (IL 52), eine Geselligkeit, in der alles Persönliche ausgeschlossen blieb. Bei Simmel lernt Susman u. a. Bernhard Groethuysen und Ernst Bloch kennen. Simmel fordert Susman und Kantorowicz auf, je ein Werk von Bergson zu übersetzen. Susman überträgt die Einführung in die Metaphysik, Kantorowicz die Schöpferische Entwicklung. Bergson sprach Susman besonders an, weil er die Erfassung der Zeit in den Mittelpunkt stellte und sich dadurch vor dem »Absturz in das Nichts« (IL 55) bewahrte. In dieser Zeit entdeckte Susman für sich Platon, Spinoza und die Bibel. Besonders »das unsterbliche Lied des Paulus von der Liebe« (IL 56) berührt sie stark. 1903 geht Susman nach Paris, um das Studium der Malerei fortzusetzen. Sie studiert mit Braque und Picasso. In Paris begegnet ihr Eduard von Bendemann wieder und sie gesteht ihm ihre in Düsseldorf noch unterdrückte Liebe. Sie verloben sich noch in Paris und heiraten 1906 in Hannover. Vor der Hochzeit besucht Susman katholischen Religionsunterricht, weil sie auf Wunsch der Schwiegereltern eingewilligt hatte, sich taufen zu lassen. Am Tag vor der Taufe ergreift sie jedoch »plötzlich die Gewissheit der vollkommenen Unmöglichkeit, die Grundlagen meines Lebens auszulöschen« (IL 71), und sie sagt den Termin ab. 1907 erscheint ein Band Neue Gedichte, ab 1908 wird sie Mitarbeiterin der Frankfurter Zeitung, mit deren Herausgeber Heinrich Simon sie befreundet ist. Sie schreibt vorwiegend Rezensionen über Bücher mit jüdischer Thematik und über neue Dichtung, woraus 1910 ihr Buch Das Wesen der modernen deutschen Lyrik hervorgeht. 1912 folgt die Studie Vom Sinn der Liebe. Im selben Jahr zieht sie nach Rüschlikon am Zürichsee. Dort überrascht sie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, da sie wie die meisten geistigen Menschen völlig unpolitisch lebte. Von 1915 bis 1917 ist sie in Frankfurt, wo ihr Mann beim Pressedienst tätig ist, dann kehrt sie in die Schweiz zurück. Im

Die messianische Sendung der Selbstaufhebung

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Kurt Wolff Verlag erscheinen 1917 ihre dramatischen Gedichte Die Liebenden. Bald nach Kriegsende kauft ihr Mann ein großes Bauernhaus in Bad Säckingen, inspiriert von Gustav Landauers Idee sozialistischer Siedlungen. »Es folgte uns aber niemand nach,« stellt Susman nüchtern fest (IL 95). 1922 veröffentlicht sie ihre Lieder von Tod und Erlösung, ihren letzten neuen Gedichtband. In dieser Zeit wird sie Mitarbeiterin von Martin Bubers Zeitschrift Der Jude und einigen anderen jüdischen Periodika. Die Jahre der Inflation erlebt sie als weitere Zerrüttung aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Es war ein Leben wie im Wahnsinn, und wie ein Wahnsinn war auch sein Ende. [...] Dies alles erscheint heute wie ein böser Traum und ist doch eine so furchtbare Wirklichkeit gewesen, dass unzählige Menschen, unzählige Ehen, unzählige Existenzen daran zugrunde gegangen sind. (IL 109)

In diese Phase fällt auch die Trennung von ihrem Mann, und in dieser Atmosphäre schreibt Susman ihr erfolgreichstes Buch Frauen der Romantik. Susman bezieht eine kleine Wohnung in Arosa. Von Groethuysen wird sie zur Teilnahme an einem Gespräch in Pontigny eingeladen, wo sie über George einen Vortrag hält (vgl. IL 114). Groethuysen berichtet ihr aufgewühlt von der Lektüre von Kafkas Schloss. Daraufhin beschäftigt sich Susman intensiv mit Kafka und veröffentlicht 1929 den ersten Aufsatz über ihn (vgl. IL 118). Sie begreift Kafkas Werk als Dokument einer »Kunst der Ausweglosigkeit« (IL 119), zu der sie auch Hemingway und Joyce rechnet. Eine weitere Modernisierung ihres Weltbilds ergibt sich aus der Begegnung mit der Lehre Freuds. Sie habe ihr, schreibt Susman, eine Befreiung gebracht, ein ganz reales Verhältnis zum Leben. [...] Die idealistische Wahrheit versank vor einem völlig anderen Wissen, das mir alles, was ich bisher vom Leben gedacht hatte, als eine Art Gnosis enthüllte, Gnosis als jene leidenschaftliche Trennung von Körper und Seele, jene Verwerfung des Körperlichen, die so lange mein Leben beherrscht hatte. (IL 128)

Im heraufziehenden Nationalsozialismus sieht Susman den »Abgrund des Nichts« (IL 133) verkörpert, das eine »entsetzliche Anziehungskraft« (IL 133) ausübt. Sie verlässt im Sommer 1933 Deutschland und bezieht in Zürich eine kleine Dachwohnung, in der sie bis zu ihrem Lebensende bleibt. Mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs setzt bei ihr »ein neues Nachdenken über das Böse« (IL 152) ein, das sie zu Büchern von Bernanos, Camus, Beckett und Julien Green führt. Ein schwerer Schlag ist für sie der Selbstmord ihrer Schwester nach dem gescheiterten Fluchtversuch über die Schweizer Grenze. Genesen fühlt sich Susman erst wieder am 8. Mai 1945, als alle Glocken Zürichs läuten. Ihr 1946 erschienenes Buch über Hiob führt sie mit Gershom Scholem und Rudolf Pannwitz zusammen. Im Kreis von Bertha Huber-Bindschedler hält sie Vorträge, aus denen ihre Deutungen biblischer Gestalten hervorgehen. Sie erhält Besuche von Paul Celan, Elazar Benyoëtz und Manfred Schlösser, der 1965 in seiner Schriftenreihe Agora den Sammelband Vom Geheimnis der

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Freiheit und im Jahr zuvor die umfangreiche Festschrift Auf gespaltenem Pfad herausgibt. Ebenfalls 1964 lässt Susman ihre Autobiographie Ich habe viele Leben gelebt erscheinen, die sie auf Anregung des Leo Baeck-Instituts diktiert hat. Am 16. Januar 1966 ist Margarete Susman gestorben. Von ihren Werken sind in jüngerer Vergangenheit ein Auswahlband mit Essays und ihr HiobBuch im Jüdischen Verlag neu aufgelegt worden.

Das Wesen des Judentums und die Idee der Selbstaufhebung Die erste explizite Stellungnahme zum Thema Judentum bildet eine Rezension zu Fromers Vom Ghetto zur modernen Kultur von 1907, in der Susman deutlich die kulturzionistische Position von Buber übernimmt. Sie zeigt sich als Anhängerin der Idee von der ›jüdischen Renaissance‹ aus den Wurzeln des Chassidismus als Alternative zu Orthodoxie und Assimilation. Die persönliche Note ihrer kulturzionistischen Position sieht Roberta Malagoli in Susmans »Vorstellung der Liebe«3 als tragender Kraft der jüdischen Renaissance. In der Liebe sieht Susman die Triebkraft zur Überwindung von Trennung und Dualismus. Im Aufsatz Spinoza und das jüdische Weltgefühl von 1913 heißt es: So lebt der Messiasgedanke tief in der Wurzel des Judentums, und durch das ganze Alte Testament mit seiner Strenge und Härte leuchtet wie ein Funke, der die Welt ergreifen will und muss und erst als Flamme aufschlagen wird, wenn sie ganz ergriffen ist, die Liebe hervor.4

Es ist ersichtlich, dass Margarete Susman in ihre Vorstellung vom Judentum die lebensphilosophisch inspirierte Konzeption der Liebe integriert, wie sie sie in ihrem Essay Vom Sinn der Liebe im Jahr zuvor entwickelt hatte. In diesem Text, dessen sprachlicher Duktus die intensive Beschäftigung mit den Schriften Bergsons verrät, wird die Liebe eingangs als eine Macht definiert, die »noch in unserer Welt des klaffendsten Zwiespalts, des äußersten Abgelöstseins vom Sein, der alle Einheit zerrissen, alles Sein fragwürdig geworden ist, der das Zeitliche greller und bunter aufleuchtet und der das Ewige sich tiefer verhüllt hat als je zuvor«, das Vermögen besitzt, »den Weg vom Zeitlichen zum Ewigen und vom Ewigen zum Zeitlichen zu weisen.«5 3

4

5

Roberta Malagoli: Margarete Susman und der deutsch-jüdische Dialog. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/38. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v. d. H. Dritter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1993, S. 351-362, hier S. 353. Margarete Susman: Spinoza und das jüdische Weltgefühl. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar-Kochba in Prag. Leipzig: Wolff 1907. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies.: Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914-1964. Hg. von Manfred Schlösser. Darmstadt, Zürich: Agora 1965 (Agora. Eine humanistische Schriftenreihe; 19), S. 85-104, hier S. 102. Margarete Susman: Vom Sinn der Liebe. Jena: Eugen Diederichs 1912, S. 3.

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Hanna Delf hat in ihrem Kommentar zum Spinoza-Aufsatz bemerkt: Nicht der Spinoza des ›Deus sive natura‹, dessen Gott ganz der Immanenz des Weltgesetzes eingeschrieben ist, interessiert sie, sondern der Spinoza des ›amor Dei intellectualis‹, dessen Gott, Substanz mit unendlichen Attributen, die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens bezeichnet.6

Diese Perspektive auf Spinoza ist durch Susmans Orientierung an der Liebe bedingt, die ihrerseits ihre Wurzeln in ihrer Rezeption der Paulus-Briefe haben dürfte. In Susmans Spinoza-Aufsatz stehen jedoch andere Aspekte ihres Verständnisses vom Judentum im Vordergrund. Mittels einer kontrastiven Gegenüberstellung der »zwei großen Konzeptionen des indogermanischen und des semitischen Geistes«7 konturiert Susman als Spezifikum der jüdischen Identität die Bindung an das Gesetz. In ihrem Essay Der jüdische Geist von 1933 wird Susman zur Herleitung dieser Haltung weiter ausholen. Sie sieht dort dem abendländischen Denken zwei Begriffe zugrunde liegen: Idee und Gebot. Der platonischen Idee als der »erinnerten, erschauten Urgestalt des Seienden«8 entspreche im Judentum »das gestaltlose, vernehmbare Gebot: das geoffenbarte göttliche Gesetz.« (EuB 209) Daraus ergebe sich ein grundsätzlich verschiedenes Verhältnis zum Göttlichen. Für die jüdische Existenzform gelte: Nicht durch den schauenden, erinnernden Geist kann ich es darum ergreifen, sondern nur durch das ganze lebendige Menschendasein: Was vermöchte alle einzelne geistige Gestaltung gegenüber der einen einzigen Gestaltung, die das Gebot verlangt: der Gestaltung des Menschen zum Ebenbild Gottes –, die nicht aus der Erinnerung stammt, sondern aus der Hoffnung, die nicht das Schauen fordert, sondern das Tun. (EuB 210)

Mit dem Christentum verschiebe sich zwar die Relation, da »dem Christen Idee und Gebot, Erinnerung und Hoffnung in eine geschichtliche Wirklichkeit zusammenflossen,« (EuB 213) aber für das Judentum erneuere sich auch nach Christus seine Entscheidung, »seine Wurzeln rein in das Geist gebliebene Wort Gottes: das Gebot« (EuB 213) zu pflanzen und sich damit für die Zukunft und die Hoffnung zu entscheiden. 6

7 8

Hanna Delf: »In diesem Meer von Zeiten, meine Zeit!« – Eine Skizze zu Leben und Denken der Margarete Susman. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen von Christina von Braun, Amy Colin, Hanna Delf u. a. Hg. von Jutta Dick und Barbara Hahn. Wien: Christian Brandstätter 1993, S. 248-265, hier S. 251. Susman, Spinoza und das jüdische Weltgefühl (wie Anm. 4), S. 98. Margarete Susman: Der jüdische Geist. In: Blätter des jüdischen Frauenbundes für Frauenarbeit und Frauenbewegung 9 (1933), H. 11. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies.: »Das Nah- und Fernsein des Fremden«. Essays und Briefe. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingeborg Nordmann. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1992, S. 209-223, hier S. 209. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle EuB und der Seitenzahl direkt im Text.

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Diese messianische Perspektive wirkt sich auf Susmans Stellung zu zeitgenössischen Tendenzen im Judentum aus. In ihrem zuerst als Flugschrift gedruckten Vortrag Die Revolution und die Juden von 1919 geht Susman auf die Konsequenzen der Fundierung der jüdischen Existenz auf das Gesetz näher ein. Sie entwickelt diese Konsequenzen an einer Auseinandersetzung mit dem Zionismus. Susman würdigt ihn als »größten Sammler schon verloren geglaubter Kräfte, Erleuchter tiefverdunkelter Zusammenhänge und stolzes Bekenntnis«9 (GF 125), der »durch das lebendige Beispiel einer neuen sozialistischen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft der Arbeit und des Rechts der widerstrebenden Welt noch einmal ein Heil zu bringen« (GF 135) versuche. Für Susman weist aber Zion über dieses gesellschaftliche Projekt hinaus. Zion, sagt sie, ist »eine himmlische Heimat, eine Zukunft der Seele« (GF 135), und die Juden sind daher »als Nation schon übernational.« (GF 135) In dieser Sehweise liegt auch Susmans Haltung zur zionistischen Politik begründet. Zwar schreibt sie im gleichen Jahr an Buber: »Wäre ich jung, ich ginge jetzt nach Palästina«,10 aber in einem Brief von 1921 an denselben Empfänger gesteht sie: »nur eben das am national jüdischen Wesen, was übernationalen Wesens ist, hat meine späte Identifizierung mit dem Judentum bestimmt.«11 Und sie fügt hinzu, sie vermöge sicht nicht »mit dem realen Zion als der alleinigen Realisierungsmöglichkeit zu identifizieren.«12 Die Konvergenz von göttlichem Gesetz und irdischer Existenz steht als messianische Schlussfigur am Ende ihres Gedankengangs: »Das Zusammenfallen von göttlichem Gesetz und irdischem Menschentum aber steht als der ungeheure Erlösungstraum vom weltaufhebenden Messias am Ende der Geschichte.«13 Die Emphase der Formulierung mag nicht zuletzt durch die unmittelbar vorangegangene Lektüre von Blochs Geist der Utopie inspiriert sein. Der Text Die messianische Idee als Friedensidee von 1929 rückt die Kategorie der Hoffnung an eine zentrale Stelle. Zugleich präzisiert Susman hier den Charakter der Beziehung zwischen Judentum und göttlichem Gesetz. Ihre These lautet: »Die gesamte Prophetie verkündet, dass es für das jüdische Volk nicht um die Verwirklichung seiner selbst, sondern allein und ausschließlich 9

10

11 12 13

Margarete Susman: Die Revolution und die Juden. Ein Vortrag von 1919. In: Das Forum 3 (1919), H. 2, S. 921-948. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies., Vom Geheimnis der Freiheit (wie Anm. 4), S. 122-143, hier S. 125. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle GF und der Seitenzahl direkt im Text. Margarete v. Bendemann-Susman an Martin Buber, Frankfurt am Main, 4.5.1919. In: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. In 3 Bänden hg. und eingeleitet von Grete Schaeder in Beratung mit Ernst Simon und unter Mitwirkung von Rafael Buber, Margot Cohn und Gabriel Stern. Heidelberg: Lambert Schneider 1972-1975, Bd. II: 1918-1938, 1973, S. 40f., hier S. 41. Margarete v. Bendemann-Susman an Martin Buber, Säckingen, 30.4.1921. In: Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. II (wie Anm. 10), S. 73-75, hier S. 75. Ebd. Susman, Die Revolution und die Juden (wie Anm. 9), S. 140.

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um die Verwirklichung Gottes geht.«14 Wenn sie daher im Folgenden die geschichtliche Aufgabe des jüdischen Volkes als »Selbstaufgabe« (GF 57) definiert, erinnert das wiederum an ihren Liebe-Essay von 1912, in dem es hieß, die »tiefste Liebe [sei] ohne den Trieb zur Selbsterhaltung.«15 In diesem Sinne verkörpert das Judentum für Susman das Wirken der Liebe im eschatologischen Prozess. Dieser zielt auf »das von ihm [Israel, J. E.] Verkündete: die Eine geeinte Menschheit, in der allein die gottebenbildliche Gestalt des Menschen sich vollendet.« (GF 57) Schon in ihrer Rede Die Revolution und die Juden hatte Susman unterstrichen, dass aus der messianischen Mission des Judentums den Juden eine ›ungeheure Verantwortung‹ erwächst: hinzuleiden und hinzulieben auf das Kommen des Messias, indem sie alles, was geschieht, mit der ganzen Kraft des Wollens an seiner Idee als an der vollkommneren Erfüllung des göttlichen Gesetzes selbst orientieren (GF 142).

Exkurs zu Margarete Susmans Konzept von Weiblichkeit Der religiös fundierte Lebensvollzug als Erfüllung eines göttlichen Gebots verbindet Susmans Auffassung vom Judentum mit ihrer Idee von der weiblichen Existenzbestimmung. Die Liebesthematik spielt dabei für Susmans Reflexionen über die Aufgabe der Frau in der revolutionären Situation eine wichtige Rolle. Sie sieht eine wesentliche Leistung der Revolution darin, »dass von nun an jeder Einzelne sich selbst für die Gesamtheit verantwortlich fühlen lerne, dass er aufblickend gewahre, welch ungeheurer Verrat an seinem Menschentum begangen worden ist.«16 Deshalb folgert Susman, dass »der innerste Sinn der Revolution Sühne ist.« (EuB 124). Um diese Sühne leisten zu können, bedürfe es der Liebe. Susman schreibt: Hier steht den Frauen der unmittelbarste Zugang zur Revolution offen [...], weil dies das Wort ist, auf das jede echte Frau wie auf das erste flammende Signal aus einer bessern Welt hört. Wenn die Frauen gewiss sein werden, dass die Revolution im Zeichen der Liebe steht, wird keine Frau sich von ihr ausschließen wollen. (EuB 125)

An dieser, in der politisch aufgewühlten Zeit nach der Novemberrevolution geäußerten Position wird nachvollziehbar, dass Margarete Susman zu den politischen Formen der Frauenbewegung immer Abstand gehalten hat. In ihrem Aufsatz Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt von 1926 hat sie 14

15 16

Margarete Susman: Die messianische Idee als Friedensidee. In: Der Morgen 5 (1929), H. 4. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies., Vom Geheimnis der Freiheit (wie Anm. 4), S. 56-67, hier S. 56. Susman, Vom Sinn der Liebe (wie Anm. 5), S. 61. Margarete Susman: Die Revolution und die Frau. In: Das Flugblatt, Nr. 4. Frankfurt am Main 1918. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies.: »Das Nah- und Fernsein des Fremden« (wie Anm. 8), S. 117-128, hier S. 124.

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die politischen und sozialen Ziele der Frauenbewegung explizit als Vorstufen für die Frage nach der »Lebensbedeutung des weiblichen Seins«17 bezeichnet. Dieses weibliche Sein verknüpft Susman mit Seelenhaftigkeit und einem religiösen Grundempfinden. Insofern für sie die Seele identisch ist mit der »Frage nach Gott« (EuB 156), fallen Seelenhaftigkeit und religiöses Empfinden ineinander. Susman betrachtet daher die zeitgenössische Erscheinung der ›atheistischen Frau‹ als einen »verzweifelte[n] Widersinn« (EuB 161), die die wahrhaft zukunftsweisende Aufgabe der Frauenbewegung, »ein neues lebendiges religiöses Erleben« (EuB 127) zu begründen, verfehle. Dieses Ziel ist für Susman aber allein durch einen dialektischen Prozess zu erreichen. Der gebotene Weg der Frau sei notwendig der Umweg durch die Welt des Mannes, das heißt durch Politik und Wirtschaft. Die Frau muss sich zunächst noch tiefer in die entgötterte Welt hinein begeben. Zu dieser Entfernung vom Göttlichen hat die Frau selbst beigetragen. Susman sieht eine metaphysische Schuld der Frau darin, dass sie »durch ihre Liebe den Geist des Mannes, seine Wesensart erst völlig vergottet, vergöttert, vergötzt« (EuB 164) habe. Ihr utopischer Entwurf einer erfolgreichen Frauenbewegung hört sich daher folgendermaßen an: Die Frauenbewegung in ihrem letzten und tiefsten Sinne wäre darum erst erfüllt, wenn sie sich selber aufhöbe – wenn sie, über den Umweg durch die entgöttlichte Welt des männlichen Geistes hinweg, die in unserer Welt entwurzelte Seele, die sie selbst auf ihrem Umweg noch tiefer entwurzeln musste, wieder in ihr eigenes Reich zu führen und damit unsere Welt neu im Göttlichen zu gründen vermöchte. (EuB 161)

Das deutsch-jüdische Verhältnis In der Idee der Selbstaufhebung konvergieren also Susmans quasi eschatologische Bestimmungen des Wesens des Judentums und des Wesens der Frau. Da die Verwirklichung der messianischen Sendung des Judentums sich aus keiner geschichtsphilosophischen Logik ableiten lässt, tritt die bedingungslose und unbedingte Hoffnung an ihre Stelle: Die messianische Hoffnung ist grundlose Hoffnung; sie ist überhaupt aus nichts Irdischem abzuleiten, sie geht von keiner irdischen Wirklichkeit aus, sie ist kein Mythos, hat keine Gestalt; sie ist [...] eine aller Wirklichkeit entgegenstehende, eine vollkommen paradoxe. Sie steht im Gegensatz zu allem irdischen Dasein, ist ein reines Trotzdem: eine reine Kraft der Seele. (GF 59)

In einer dialektischen Volte betrachtet Susman allerdings die geschichtliche Erfahrung als die »einzige Form, in der wir die prophetische Wahrheit auf uns 17

Margarete Susman: Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt. In: Der Morgen 2 (1926), H. 6. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies.: »Das Nah- und Fernsein des Fremden« (wie Anm. 8), S. 143-167, hier S. 144.

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beziehen können« (GF 62). In einer an Bloch erinnernden Denkfigur der Unabgegoltenheit des utopischen Potentials von Geschichte vertritt Susman die Überzeugung, dass die Geschichte selbst Bürge von Hoffnung sei. Denn Geschichte ist ja nicht nur das Geschehene, sondern auch das Kommende. Die Geschichte zeigt uns nirgends Verwirklichung [...]. Die verdeckende Schrift selbst deutet überall hin auf die verdeckte Urschrift, die so gesehen nicht Vergangenheit, sondern selbst reine Zukunft ist. (GF 64)

In Susmans Reflexionen über das Judentum spielt dessen übernationale und übergeschichtliche Stellung auch für die Beziehung zwischen den Juden und Deutschland eine wesentliche Rolle. Das Verhältnis der Juden zu Deutschland unterscheide sich von dem zu anderen Ländern des Galuth dadurch, dass in keiner anderen Sprache so sehr wie im Deutschen der Diskurs der jüdischen Selbstverständigung geführt worden sei und zugleich so sehr jüdisches Denken sich mit der nationalen Geistesgeschichte wie in Deutschland verwoben habe. Es sei ein Grad der Anähnelung erreicht, der die Gefahr in sich berge, die eigene Andersheit nicht mehr wahrzunehmen beziehungsweise nicht mehr wahrhaben zu wollen. Susman insistiert jedoch aus ihrem Verständnis des Judentums heraus auf der unaufhebbaren Differenz des Juden, der »in keiner Gestalt des geschichtlichen Lebens sein letztes Ziel haben und darum in keinem realen Staat und Land seine endgültige Heimat finden kann.«18 Susman geht in ihrem Aufsatz Die Brücke zwischen Judentum und Christentum von 1921 sogar so weit, in dem Aufstieg von Juden zu politischen und wirtschaftlichen Machtstellungen eine Verzerrung zu sehen, gegen die »aller wirkliche und berechtigte Antisemitismus« (GF 21) aufbegehrt. Eine historische Wurzel dieser Fehlentwicklung stellt für sie die so genannte »innere Verbürgerlichung der deutschen Juden«19 im 19. Jahrhundert dar, durch die ihnen ihr Eigentlichstes verloren geht. Nur wenn die Juden sich statt eines solchen Aufgehens im Irdischen auf die »Wiedererarbeitung des eigenen Bildes und Wesens« (GF 23) besönnen, könnte die Verständigung und Versöhnung zwischen Juden und Deutschen gelingen. Die Voraussetzung dafür ist die Fundierung beider auf dem Boden der Religion. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass für Susman einerseits das religiöse Grundempfinden aufs engste mit dem Gefühl der Liebe vermischt ist und andererseits die Juden gewissermaßen als Träger des Liebesprinzips von ihr gesehen werden. Diese Funktion gewinnt nun in ihrer Beziehung zu den Deutschen eine tragische Dimension. In ihrer durch die Zäsur des Jahres 1933 ver18

19

Margarete Susman: Die Brücke zwischen Judentum und Christentum. In: Der Jude. Sonderheft 1 (1925). Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies., Vom Geheimnis der Freiheit (wie Anm. 4), S. 15-26, hier S. 19. Margarete Susman: Vom geistigen Anteil der Juden in der deutschen Geistesgeschichte. In: Der Morgen 11 (1935), H. 3. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: dies., Vom Geheimnis der Freiheit (wie Anm. 4), S. 170-180, hier S. 174.

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anlassten kritischen Retrospektive Das Problem der Emanzipation von 1934 wendet sie ihren Liebesbegriff auf das deutsch-jüdische Verhältnis an: Die Juden waren Deutsche; [...] sie waren es [...] in dem besonderen Sinne, dass Deutschland ihnen nicht nur das Eigene, sondern auch zugleich das Gegenüber, nicht nur das Ich, sondern auch das Du, war, dass sie – und nur sie – zu ihm in der besonderen Beziehung standen, die man nur als Identität mit dem Anderen aussprechen kann. Dies aber ist die Definition der Liebe.20

Hiob als Paradigma des jüdischen Wesens Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in Susmans Reflexionen über das Judentum bereits ein Wandel vollzogen, der in der Konzentration auf die Bedeutung der biblischen Hiob-Gestalt als neuem Paradigma in ihrer Bestimmung des jüdischen Wesens und Schicksals bestand. Hanna Delf hat auf Susmans generelle Neigung hingewiesen, in biblischen Gestalten nach »Zeugen jener Urschrift«21 zu suchen, die einen Schlüssel für die Zukunft bieten. Wie Freud Figuren der griechischen Mythologie als Modelle wählt, so sie biblische, dabei vergleicht sie »das Amt des Propheten mit dem des Traumdeuters.«22 In ihrer Besprechung von Bubers und Rosenzweigs Neuübersetzung der Bibel Was kann uns die Bibel heute noch bedeuten? von 1926 hat Susman zum ersten Mal »die Lage des postassimilatorischen Judentums durch die Gestalt Hiobs erklärt.«23 Roberta Malagoli hat zu Susmans Entscheidung, Hiob ins Zentrum ihrer jüdischen Schicksalsdeutung zu stellen, bemerkt: Der Vergleich zwischen Hiobs Schicksal und dem ›Leidschicksal‹ des exilierten Judentums ist für Susman insofern fruchtbar, als er der tragischen Lage des genauso wie Hiob schuldlos leidenden deutschen Juden einen Sinn gibt.24

Bereits in ihrem Kafka-Essay von 1929 arbeitet Margarete Susman allerdings eine existentielle Differenz in dieser Entsprechung heraus. Während für Hiob das Hadern mit Gott noch auf der Basis einer Glaubensgewissheit erfolgte, die durch die Wendung Gottes an ihn bekräftigt wird, gestaltet Kafka die für die Gegenwart repräsentative Erfahrung von der transzendenten Obdachlosigkeit des modernen Menschen, die genauso für das westliche Judentum zutreffe. Susman siedelt in dieser Entfernung von Gott die mutmaßliche Schuld der Figuren Kafkas an, die damit als Indikatoren für den Menschen der Moderne fungieren. Seine Schuld bestünde darin, »dass Gott sich von uns zurückgezogen hat und dass wir in dem Zusammenhang mit ihm auch 20 21 22 23 24

Margarete Susman: Das Problem der Emanzipation. In: Die Logenschwester 7 (1934), H. 4, S. 1-5, hier S. 2. Delf, »In diesem Meer von Zeiten, meine Zeit!« (wie Anm. 6), S. 256. Ebd., S. 257. Malagoli, Margarete Susman und der deutsch-jüdische Dialog (wie Anm. 3), S. 357. Ebd., S. 358.

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den Zusammenhang mit uns selbst und mit der Welt verloren haben.«25 Sie versteht die Aufkündigung des Zusammenhangs mit Gott als menschlichen ›Trick‹, der Falle der Schuldwerdung zu entrinnen, und stellt die Frage, ob nicht gerade hier die Wurzel für den Prozess, der gegen Josef K. geführt wird und der somit auch gegen jeden in der modernen Gottesferne lebenden Menschen anhängig ist, liegt. Vielleicht ist das die größte, die eigentliche Lebensschuld für uns heutige Menschen, dass wir die mit unserem Dasein selbst unter der vollkommenen Verborgenheit Gottes gesetzte Schuld nicht auf uns nahmen, dass wir von Gott getrennt schuldlos und damit irgendwie gesichert und geborgen leben wollten. (GK 359)

Susman wird diesen Gedanken in ihrer umfangreichsten Schrift zur HiobThematik, dem 1946 erschienenen Werk Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes noch einmal aufnehmen und auf die biblische Gestalt selbst anwenden. Es heißt dort im Hiob-Kapitel: [E]s stellt sich die unheimliche, hinterhältige Frage: Ist am Ende gerade die Schuldlosigkeit Hiobs jenes allerdunkelste Geheimnis, auf das Satan Gott gegenüber den Finger gelegt hat [...]. Zieht so am Ende gerade der, der seine Schuld nicht eingegrenzt, seinen Anteil an ihr nicht eingelöst hat, das grenzenlose Ganze der Menschheitsschuld auf sich herab und muss er sie in einem Leiden ohne Grenzen büßen?26

In dieser Perspektive rückt der Anspruch Hiobs, ein schuldloses, gottgefälliges Leben zu führen beziehungsweise überhaupt führen zu können, unter den Verdacht der Hybris. Kein Gran von dem ›grenzenlosen Ganzen der Menschheitsschuld‹ tragen zu wollen, erscheint als gewissermaßen ›unmenschliche‹ Anmaßung, über deren Unangemessenheit Gott Hiob nachhaltig belehrt. Vor allem dient Susmans Hiob-Buch aber dem Versuch, die geschichtliche Erfahrung des Holocaust in ihre Deutung des jüdischen Schicksals zu integrieren. Sie klassifiziert das Werk selbst als ein ›Bekenntnis‹, das sich von der doppelten Fragestellung leiten lässt, »was der jüdische Mensch seinem Wesen nach ist, und was er nach allen geschichtlichen Entwicklungen [...] heute noch ist und seiner Wahrheit nach sein kann.« (H 26) In Anlehnung an die Definition des jüdischen Volkes durch den mit ihr befreundeten religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz als ›Seismograph der Völkerwelt‹ hält Susman an der Idee der Auserwähltheit fest. Dass Israel als Urbild und Stellvertretung der Menschengeschichte zu verstehen ist, so Susman, »bezeugt die gesamte Prophetie.« (H 55) Die besondere Stellung des jüdischen Volkes zwischen ›Verbundensein 25

26

Margarete Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka. In: Der Morgen 5 (1929), H. 1. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck u. d. T. Früheste Deutung Franz Kafkas, in: dies.: Gestalten und Kreise. Zürich: Diana 1954, S. 348-366, hier S. 357. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle GK und der Seitenzahl direkt im Text. Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Zürich: Steinberg 1946, hier zitiert nach der mit einem Vorwort von Hermann Levin Goldschmidt versehenen Ausgabe: Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1996, S. 44. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle H und der Seitenzahl direkt im Text.

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und Ausgesondertsein‹ prädestiniert es »zum Zentrum und Zeiger des Menschenschicksals.« (H 50) Susman fährt fort: Wie sich im Schicksal Hiobs das Schicksal des jüdischen Volkes spiegelt und zugleich die Tiefe des Menschenschicksals überhaupt, so ist im Volk Israel, das ein einzelnes, mit Namen benanntes, geschichtliches Volk ist, zugleich der innerste Kreis der Menschheit umschrieben, ist es selbst ihr Sinnbild und ihre Vertretung. (H 50)

Der Holocaust hat also prinzipiell an der geschichtlich-übergeschichtlichen Sendung des jüdischen Volkes nichts geändert, er hat sie eher durch eine starke Probe bekräftigt. In einer 1962 verfassten Nachschrift zu ihrem Aufsatz Die Brücke zwischen Judentum und Christentum hat Susman diese Probe ins Zeichen der Liebe gestellt, diesmal der unerforschlichen Liebe Gottes. Indem Gott Satan Macht gibt über seinen Knecht, legt er selbst seine schwere Hand auf ihn – und der, der Gott rein gedient hat, kann so seine Hand nicht wiedererkennen. Gott verlangt das, was Liebe will: er will das Ganze: er will seinen Knecht nicht nur in der Taghelle des Lebens sehen, er will ihn auch in der dunkelsten Nacht als seinen Knecht wiedererkennen. (GF 24)

Auch das Hineingehaltensein in die dunkelste Nacht kann der messianischen Sendung, die der transnationalen und transhistorischen Stellung des Judentums entspringt, keinen Eintrag tun. Die schon 1919 in Die Revolution und die Juden in assertorischem Ton getroffene Feststellung: »Weil das jüdische Volk immer und einzig das Volk der Zukunft ist, darum kann es nicht sterben,« (GF 142) bleibt für Susman auch nach dem Holocaust unangefochten gültig. Was sich allerdings geändert hat, ist das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen. Die utopische Idee einer gleichsam symbiotischen Beziehung im Zeichen der Liebe ist kassiert. Die Ära eines gelungenen deutsch-jüdischen Dialogs ist für Margarete Susman nach 1945 und eigentlich bereits nach 1933 eine unwiederbringliche Vergangenheit. Dass sie auch zuvor eher eine jüdische Wunschvorstellung als geschichtliche Wirklichkeit war, behauptete Gershom Scholem ausgerechnet in seinem Beitrag zu der Festschrift Auf gespaltenem Pfad zu Susmans 90. Geburtstag. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Denkbewegungen Susmans in dem, was sie religiöses Grundempfinden nennt, konvergieren. In ihrem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegt die Aufzeichnung eines Gesprächs, das Michael Landmann und Ernst Bloch am 17.4.1966 über Margarete Susman geführt haben. Darin erzählt Landmann, dass Adorno sie ihm gegenüber ›geweiht‹ nannte und ironisch hinzufügte, »sie habe keinen Satz schreiben können ohne den Anspruch, Gott selbst habe mitgewirkt.«27 27

Gespräch zwischen Michael Landmann und Ernst Bloch, Tübingen, 17.4.1966, S. 9 (Susman-Nachlass, DLA). Ich danke dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Genehmigung, aus dieser bisher ungedruckten Quelle zitieren zu dürfen.

Arno Herzig

Die NS-Zeit in Breslau im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur

Seit Jahrhunderten bildete Schlesien einen Schmelztiegel ost- und westeuropäischen Judentums. Seit dem Aufklärungszeitalter gab es Tendenzen einer Akkulturation, die in den Aufklärungszirkeln der Maskilim und in einer modernen Pädagogik für jüdische Kinder ihren Niederschlag fand. Diese aufgeklärte Pädagogik wurde in der 1791 als jüdische Freischule gegründeten Wilhelmsschule in die Praxis umgesetzt. Als einer der ersten jüdischen Autoren, die in deutscher Sprache dichteten, wirkte in Breslau Ephraim Moses Kuh (17311790). Über ihn hat Hans Otto Horch einen einfühlsamen Essay verfasst.1 Ephraim Kuh folgten weitere bedeutende jüdische Autoren aus Schlesien bis hin zu Alfred Kerr (1867-1948) und Arnold Zweig (1887-1968), die ins Exil gehen mussten, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und nach 1941 mit der gezielten Ermordung des europäischen Judentums den schlimmsten Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte herbeiführten. Die nationalsozialistischen Mordaktionen vernichteten das schlesische deutsche Judentum, das im Gegensatz zum deutschen Judentum im Westen nach 1945 keinen Neuanfang mehr erlebte, dessen Geschichte also abrupt beendet wurde. Als einzige Denkmäler an die große Geschichte des schlesischen Judentums überdauerten die von Carl Ferdinand Langhans (1782-1869) gebaute Breslauer Storchensynagoge und die zahlreichen Friedhöfe, die in den letzten Jahren vielfach restauriert wurden. Es blieben als einzige Zeugnisse aber auch die schriftlichen Lebenserinnerungen, die v.a. die Verdrängung und schließlich die Vernichtung der Juden in Breslau eindrucksvoll darstellen. Zwei dieser Zeugnisse sind deshalb von besonderem Wert, weil ihre Verfasser durch die Nationalsozialisten ermordet wurden. Für sie gab es keine späteren Reflexionen, die in den Text hätten einfließen können. Es handelt sich hier um die Tagebücher von Willy Cohn und Walter Tausk. Sie sind deshalb von hoher Authentizität, weil sie mitten aus der zeitgenössischen Bedrohung heraus verfasst, die inneren Spannungen in den Gemeinden oder Familien widerspiegeln. Sie reflektieren das Verhältnis zur nicht-jüdischen Umwelt sowie die Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die den Autorinnen und Autoren von ihrer 1

Hans Otto Horch: Unvollendete Hedschra’. Zu Leben und Werk des Breslauer Lyrikers Ephraim Moses Kuh (1731-1790). In: Jörg Deventer u. a. (Hg.): Zeitenwenden, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Münster, Hamburg, London: Lit 2002, S. 143-161.

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Kindheit an vertraut war und von der sie sich nicht trennen konnten. Mit dem Mord an den Juden haben die Nationalsozialisten ein wesentliches Element deutscher Bürgerkultur vernichtet. Das Schicksal der Breslauer Juden unterschied sich nicht wesentlich von dem in anderen deutschen Städten. Schlesiens Juden, die 1880 mit 52.000 Personen ihren höchsten Einwohnerstand erreichten, hatten im Kaiserreich entscheidend mit zur Herausbildung der Bürgergesellschaft in Schlesien beigetragen. Aufgestiegen aus der marginalen sozialen Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hatten sie sich im Handel, aber auch in der Industrie etabliert und zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte dieser Epoche in Schlesien beigetragen. Der Erste Weltkrieg hatte hier jedoch einen Wandel gebracht. Die sog. Judenzählung, die 1916 vom preußischen Heeresministerium angeordnet wurde, hatte zahlreichen, mit Begeisterung für Deutschland kämpfenden jüdischen Bürgern gezeigt, dass sie doch nicht dazu gehörten. Trotz der völligen Gleichstellung, die die Weimarer Verfassung brachte und letzte Barrieren in Politik, im Heer, der Beamtenschaft und an der Universität für Juden beseitigte, bestimmte ein Gefühl der Gefährdung doch untergründig das schlesische Judentum.2 Den Untergang des Kaiserreiches empfanden viele als das Ende einer goldenen Zeit. Kriegsanleihen und Inflation hatten zahlreiche jüdische Bürger um ihren Wohlstand und auch um ihren politischen Einfluss gebracht. Zudem wanderten zwischen 1919 und 1923 zahlreiche arme Ostjuden ein, so dass der Ausländeranteil in den schlesischen jüdischen Gemeinden bei 10 % lag. Die Jüdische Volkszeitung klagte im Juni 1922 darüber, dass die dauernde Erhöhung der Lebenskosten Not und Bedrängnis selbst für die Kreise brachte, »die bisher ihr bequemes Durchkommen hatten«.3 Auch wenn es schon zur Kaiserzeit einen latenten bürgerlichen Antisemitismus in Breslau gegeben hatte, so nahm dieser nach dem Ersten Weltkrieg auch in akademischen Kreisen radikalere Formen an, so in der Breslauer Ärzteschaft, wo antisemitische Mitglieder versuchten, jüdische Mitglieder als Vorsitzende zu verhindern. Deutlich wurde der Antisemitismus in den im Zuge der Demokratisierung eingeführten Elternbeiräten, die sich – wie am altehrwürdigen Elisabethanum – weigerten, jüdische Lehrer einzustellen. Der Einsatz der Freikorps zu Beginn der Weimarer Republik in Schlesien verstärkte die antisemitischen Einstellungen. Während des Kapp-Putsches ermordeten im März 1920 Freikorpsverbände in Breslau sechs jüdische Bürger. Der Bedeutendste unter ihnen war Bernhard Schottländer, der zwar aus einer der reichsten jüdischen Familien Schlesiens stammte, aber als Journalist für das USPD-Organ Schlesische Arbeiter-Zeitung tätig war. Schottländer wurde von den Putschisten gefoltert und schließlich ermordet. 2

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Till van Rahden: Juden und andere Breslauer. Die Beziehung zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860-1925. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, passim. Ebd., S. 319.

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Den verstümmelten Leichnam warfen die Mörder in die Oder, wo er erst drei Monate später gefunden wurde. Erschreckend für die jüdischen Bürger Breslaus war die kühle Reaktion der übrigen Breslauer und die Berichterstattung der inzwischen der DNVP nahe stehenden Schlesischen Zeitung, die jeden Antisemitismus in diesem Zusammenhang leugnete. Die Radikalisierung des Antisemitismus zeigte sich auch im Juli 1923, als von jugendlichen Randalierern über 100 Geschäfte geplündert wurden, die fast ausschließlich Juden gehörten. Auch diesmal bestritt die Schlesische Zeitung, dass es sich um antisemitische Aktionen gehandelt habe.4 Noch vor der »Machtergreifung« im Januar 1933 wurde im Wintersemester 1932/33 an der Universität Breslau bei dem sog. »Fall Cohn« deutlich, wie stark der nationalsozialistische Antisemitismus das akademische Leben beherrschte und die nationalkonservativen Kreise der Professorenschaft nicht willens oder fähig waren, dem entgegenzusteuern. Der Jurist Ernst Cohn (19041976) war im Sommer 1932 von der Juristischen Fakultät als Ordinarius für bürgerliches Recht berufen worden. Mit Entrüstung war von Anfang an von der NSPropaganda kritisiert worden, dass »ein Jude [...] deutsches Recht lehren« sollte. Bei seiner Antrittsvorlesung am 10. November 1932 kam es zu Störungen durch Studenten des rechtsorientierten Waffenrings und der NS-Studenten-Gruppe. Anstatt hier von vornherein gegen die Randalierer hart vorzugehen, beließ es der Rektor, der Orientalist Brockelmann, bei einer »milden Bestrafung«. Keiner der Randalierer wurde relegiert.5 Die jüdischen Studenten standen zwar solidarisch zu Cohn, zogen aber unterschiedliche Konsequenzen aus dem Vorfall. Die meisten von ihnen sahen darin nur eine Episode. Für den Studenten Werner Hayek (19101996), der von 1929 bis 1933 an der Breslauer Universität Geschichte und Germanistik studierte, war als Zionist die Lehre aus dem »Fall Cohn« eindeutig. Im Gegensatz zur Ansicht seines Vaters sah er für sich in Deutschland keine Zukunft mehr. Der »Fall Cohn« hätte den Verständigen – so Werner Hayek kurz vor seinem Tod 1996 – die Augen öffnen müssen.6 Die Vorgänge im »Fall Cohn« zeigen, dass die NSDAP bereits 1932 zu einem bestimmenden Faktor der politischen Szene in Breslau geworden war und die nationalistisch ausgerichtete Professorenschaft dabei Steigbügelhalterdienste leistete. Dennoch überrascht, wie schnell – trotz innerer Divergenzen

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Arno Herzig: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg: Ellert und Richter 2008, S. 198f. Arno Herzig: Die schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau von ihrer Gründung bis zur Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus (1933/34). In: Ders.: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. von Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund: Forschungsstelle Ostmitteleuropa 1997, S. 100-141, S. 138ff. Jörg Deventer, Ulrike Gropp, Arno Herzig: Interview mit Werner Hayek in der Universität Hamburg am 20.05.1996.

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in der NSDAP-Führung – die Gleichschaltung in Breslau nach dem 30. Januar 1933 gelang. Sie ist bereits Ende März 1933 perfekt. Wie reflektierten die jüdischen Bürger Breslaus bzw. Schlesiens die antijüdischen Aktionen der neuen NS-Machthaber, die schon nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 und den bald darauf folgenden Kommunalwahlen das politische und bald auch gesellschaftliche Leben in Schlesien bestimmten? Einblicke in die Situation und auch Stimmung erhalten wir – wenn auch nur sehr ausschnitthaft – durch Lebenserinnerungen bzw. Tagebücher von Breslauer Juden. Dazu zählen vor allem die Lebenserinnerungen und Tagebücher des Breslauer jüdischen Studienrats Willy Cohn.7 Willy Cohn wurde 1888 als Sohn des Kaufmanns Louis Cohn in Breslau geboren. Die Lage des elterlichen Geschäfts auf dem Breslauer Ring zeigt, dass Willy Cohn dem Breslauer jüdischen Establishment entstammte. Seine Mutter kam aus der Breslauer Musikverlegerfamilie Hainauer. Willy Cohn besuchte von 1895-1906 das Breslauer Städtische Johannesgymnasium, das deshalb bekannt war, weil sich seine Schülerschaft zu je einem Drittel aus protestantischen, katholischen und jüdischen Schülern zusammensetzte. Nach Studium, Promotion (1911) und Staatsexamen (1912) ging er als Lehrer an seine alte Schule, das Johannesgymnasium. Eine Hochschulkarriere an der Pädagogischen Hochschule scheiterte, vermutlich aus konfessionellen Gründen, da auch während der Weimarer Republik die Professoren an den Pädagogischen Hochschulen unter konfessionellen Gesichtspunkten berufen wurden. Dennoch war Willy Cohn kein verhinderter Privatdozent, der dies seine Schüler spüren ließ, sondern ein begeisterter Gymnasiallehrer, wie seine Schüler, christliche wie jüdische, darunter auch Werner Hayek, bestätigen. Er gab einen modernen Geschichtsunterricht, in dem er nicht – wie üblich – nur Jahreszahlen pauken ließ, sondern lang dauernde Epochenentwicklungen vermittelte.8 Als Frontkämpfer im Westen war Willy Cohn enttäuscht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, da die sog. Judenzählung von 1916 ihm gezeigt hatte, dass Juden noch immer nach Sonderrecht behandelt wurden. Er zog daraus eine zweifache Konsequenz. Liberal im Judentum erzogen, schloss er sich nun der konservativ-orthodoxen Richtung an. In seiner politischen Ausrichtung neigte er nach links und wurde Mitglied der SPD.9 Aus seiner Parteizugehörigkeit machte er kein Geheimnis, sondern war für die SPD mit Vorträgen und Publikationen tätig. Auch seine Schüler wussten das, wie sich sein Schüler Werner Hayek erinnert. Ihnen vermittelte Willy Cohn im Staatsbürgerkundeunterricht, dass der Erste Weltkrieg ein großer Fehler der deutschen 7

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Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Tagebücher vom Untergang des Breslauer Judentums 1933-1941. 2 Bde. Hg. von Norbert Conrads. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006. Ferner: Willy Cohn: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. von Norbert Conrads. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1995. Interview mit Werner Hayek am 20.05.1996. Cohn, Verwehte Spuren (wie Anm. 7), S. 264ff.

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Politik gewesen sei, da der Krieg hätte vermieden werden können.10 Damit richtete er sich auch gegen die Dolchstoßlegende Hindenburgs, die von den meisten Geschichtslehrern vertreten wurde. Im Sommer 1933 wurde Willy Cohn nach Inkrafttreten des rechtswidrigen Berufsbeamtengesetzes als »politisch unzuverlässig« entlassen. Als Frontkämpfer hätte er trotz seines jüdischen Glaubens noch bis 1934 im Dienst bleiben können. In den ihm nach seiner Entlassung verbliebenen Jahren bis 1941 verfasste Willy Cohn Lebenserinnerungen und führte bis zum 17. Oktober 1941 ein Tagebuch. Beides wurde gerettet. Am 25. November 1941 wurde Willy Cohn mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern nach Kowno/Kaunas deportiert und dort ermordet.11 Eine weitere wichtige Memorialquelle dieser Zeit sind die Tagebücher des Handelsvertreters Walter Tausk (1890-1941), der ebenfalls dem jüdischen Establishment Breslaus entstammte. Sein Vater hatte die Spinoza-Loge in Breslau mit begründet.12 Obgleich Tausk zu »buddhistischer Überzeugung« neigte, war er mit dem jüdischen Milieu Breslaus eng verbunden.13 Tausks Tagebücher behandeln mit Unterbrechungen die Zeit von 1933 bis 1940. Auch Walter Tausk wurde – wie Cohn – 1941 nach Kowno/Kaunas deportiert und dort vermutlich ermordet. Die Lebenserinnerungen und Tagebücher von Cohn und Tausk reflektieren die Ereignisse aus dem Moment heraus. Es gab für sie keine Möglichkeit, ex eventu die Ereignisse in einem größeren Kontext zu kommentieren. Das trifft für die Lebenserinnerungen zu, die nach 1945 entstanden sind. Dennoch ist auch diesen – die meisten entstanden erst in den 1970er-Jahren bzw. noch später – ein hoher Quellenwert zuzuerkennen. So den biographischen Äußerungen des Soziologen Norbert Elias (1897-1990), des damaligen Geschichtsstudenten Werner Hayek und der bekannten Cellistin Anita Lasker-Wallfisch (geb. 1925) sowie der Studie von Abraham Ascher: A communitiy under Siege. The Jews of Breslau under Nazism, der autobiographische Erlebnisse des Autors zugrunde liegen.14 Schließlich die Erinnerungen des bekannten amerikanischen Historikers Fritz Stern (geb. 1926), der seine Kinderjahre bis 1938 in Breslau verbrachte.15

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Interview mit Werner Hayek am 20.05.1996. Norbert Conrads: Einleitung. In: Cohn, Verwehte Spuren (wie Anm. 7), S. 1-15. Walter Tausk: Breslauer Tagebücher 1933-1940. Hg. von Ryszard Kincel. Mit einem Nachwort von Henryk M. Broder. Leipzig: Reclam 1995 (Erstauflage Berlin: Rütten & Loening 1975), S. 231. Ebd., S. 73. Norbert Elias: Notizen zum Lebenslauf. In: Norbert Elias über sich selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 107-197; Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen. Mit einem Vorwort von Klaus Harpprecht. Reinbek: Rowohlt 1997; Abraham Ascher: A Community under Siege. The Jews of Breslau under Nazism. Stanford: Stanford Univ. Press 2007. Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München: Beck 2007.

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Der Begriff jüdische Zeitzeugen ist hier etwas weiter zu fassen. Walter Tausk fühlte sich nicht als Jude, sondern als Buddhist. Bereits Fritz Sterns Vater war konvertiert und der Sohn evangelisch getauft worden. Aber es herrschte bei beiden durch Familie und Freunde eine enge Verbindung zum jüdischen Milieu. Für Fritz Stern und für andere jüdische Konvertiten mag gelten, was dieser über seinen Patenonkel, den Nobelpreisträger Fritz Haber, schreibt: »Haber, der zum Christentum übergetreten war, erinnerte sich stets seiner jüdischen Wurzeln und irgendwie hatte er es fertiggebracht, ein nominelles Christentum mit einer Art Zivilreligion, dem ›Deutschtum‹ und einer privaten jüdischen Identität zu verschmelzen ... er hatte es geschafft, wie Tausende jüdischer Männer und Frauen, die bei der Geburt getauft worden waren oder sich irgendwann für die Konversion entschieden hatten – bis das Hitlerregime anstelle der Religion die Rasse zum Bestimmungsmerkmal der Menschen machte.«16 Die jüdische Memorialliteratur bildet eine wichtige Quellenbasis für die Ereignisse der Zeit nach 1933. Die NSDAP-Spitze und ihre Organisationen gingen auch in Breslau brutal in aller Öffentlichkeit gegen ihre politischen und ideologischen Gegner vor. Schon am 9. März 1933, nicht erst wie in den anderen Städten am 1. Mai, wurde das Breslauer Gewerkschaftshaus von der SA besetzt, jüdische Bürger zu Geldspenden erpresst, wogegen diese allerdings protestierten. Auch wurden Warenhäuser jüdischer Besitzer geplündert. Am 11. März 1933 drangsalierten SA-Truppen im Gerichtsgebäude jüdische Richter und Anwälte, was allerdings den Protest einiger nicht-jüdischer Kollegen hervorrief. Der antijüdische Geschäftsboykott führte – so Walter Tausk, der die Ereignisse präzis schildert – »zu einem Blutrausch der SA [...] zu offenen Plündereien, Gewalttaten, Racheakten, zu Auspeitschungen von Juden im Breslauer Braunen Haus in der Neudorfstraße«. SA- und SS-Patrouillen durchsuchten die Cafés und warfen – wie Walter Tausk schreibt – jüdisch aussehende Leute aus dem Lokal.17 Um die alten politischen Kader schnell auszuschalten und sich an ihnen zu rächen, hatte Polizeipräsident Edmund Heines, ein krimineller Alter Kämpfer, im Süden von Breslau in Dürrgoy ein KZ eingerichtet »[...] so wanderten sie dann in dieses Lager« – wie Walter Tausk schreibt – »Gewerkschaftler, Dichter, Redakteure [...] Anwälte und andere Akademiker, auch der Leiter der jüdischen Gemeinde, Dr. [Ernst] Rednitz [1882-1952], der angeblich seine Pflichten als Redakteur vom Jüdischen Gemeindeblatt nicht ordnungsgemäß erfüllt haben sollte«.18 Zu den Opfern, die der Breslauer Polizeipräsident Heines in Dürrgoy foltern ließ, zählte auch der jüdische Politiker und Rechtsanwalt Dr. Ernst Eckstein (1897-1933), der in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 verhaftet und nach Dürrgoy gebracht worden war. Nach Folterungen starb er am 7. März 1933 in Dürrgoy. Wie 16 17 18

Ebd., S. 127. Tausk, Breslauer Tagebücher (wie Anm. 12), S. 43. Ebd., S. 98.

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seine Freunde vermuteten, war er in den Selbstmord getrieben worden. Seine Beerdigung wurde zur letzten großen Demonstration der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in Breslau. Schon im Herbst 1932 war von SA-Leuten eine Bombe in Ecksteins Wohnzimmer geworfen worden. Wie durch ein Wunder war er unverletzt geblieben.19 Die antijüdischen Aktionen der NS, wie sie sich schon Ende 1932 in Breslau ereigneten, so – wie erwähnt – gegen den Juristen Ernst Cohn und den Politiker Ernst Eckstein, erregten unter den jüdischen Bürgern Angstgefühle, wie sie sogar den kleinen Fritz Stern ergriffen.20 Die Aufsplitterung der Sozialdemokratie durch die Gründung der SAP, der sich damals auch der junge Willy Brandt anschloss, wurde unter den jüdischen Bürgern, die zu dieser Zeit ja weitgehend SPD-Wähler waren, negativ bewertet. Fritz Sterns Vater bemühte sich, seine Freunde Ernst Eckstein und Ernst (später Ernest) Hamburger (1890-1980) zusammenzubringen, um die Trennung rückgängig zu machen. Ernst Hamburger war langjähriger SPD-Landtagsabgeordneter von Breslau und spielte neben dem Ministerpräsidenten Otto Braun (1872-1955) und dem Innenminister Carl Severing (1875-1952) eine bedeutende Rolle in der preußischen SPD. Doch der Versuch scheiterte. Fritz Stern beurteilt zurückschauend das Scheitern: »Ideologische Differenzen und Partieinteressen waren stärker als die Notwendigkeit, gemeinsam gegen Hitler Front zu machen: ein Abbild der herrschenden Blindheit im Kleinen.«21 Noch härter ist Willy Cohn in seinem Urteil, in dem er Ecksteins Tod als »Sühne« für dessen »Schuld« an der Teilung der SPD bewertet.22 In seinem Tagebuch aber ist er in seinem Urteil über Ernst Eckstein nicht so hart, wenn er am 9.5.1933 schreibt: »Der arme Mensch saß seit dem 28. Februar in Schutzhaft und starb dafür, dass er einen anderen Idealismus gelebt hat, als den, der gesiegt hat.« Für Willy Cohn als Tagebuchschreiber hatte dies noch eine weitere Konsequenz, wenn er der Mitteilung hinzufügt: »Man kann nicht einmal hier das aufschreiben, was man empfindet und denkt! Armer Eckstein [...].«23 Auch Tausk berichtet von den »dauernden Prügeleien« im Konzentrationslager, die Eckstein in den Selbstmord trieben. Zur Ursache: »Er war lediglich als Marxist verhaftet worden.«24 Nach dem März 1933 kam es zur schrittweisen Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Für den bereits erwähnten Boykott jüdischer Geschäfte hatte die NSDAP – so Tausk – ein eigenes Verzeichnis jüdischer Geschäfte für Schlesien herausgegeben. Am 1. April 1933 zogen in den schlesischen Städten SA-Leute vor jüdischen Geschäften, Kanzleien und Arztpraxen auf und warnten »Arier« davor, jüdische Unternehmen zu unterstützen. Die Aktion lief unter dem absurden Motto: 19 20 21 22 23 24

Stern, Fünf Deutschland und ein Leben (wie Anm. 15), S. 111. Ebd., S. 111. Ebd. Cohn, Verwehte Spuren (wie Anm. 7), S. 606. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 7), Bd 1, S. 42. Tausk, Breslauer Tagebücher (wie Anm. 12), S. 61.

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»Wer beim Juden kauft, hilft dem Weltbolschewismus«. Auch wenn die Schlesische Tageszeitung meldete, dass es zu einer »rücksichtslosen Durchführung des Boykotts« gekommen sei, erwies sich das Unternehmen als Reinfall und wurde nach einem Tag abgeblasen. Auch Walter Tausk bestätigt in seinem Tagebucheintrag vom 3.4.33: »Die ›Deutschstämmigen‹ gehen weiter zu Wertheim und zu den Juden kaufen!«25 Abraham Ascher registriert, dass v. a. die Boykottaufforderung der NSDAP von den Patienten jüdischer Ärzte missachtet wurde.26 Gravierender als der Aprilboykott waren für das jüdische Bürgertum die Folgen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das vorsah, Juden und »politisch unzuverlässige Beamte« aus dem Beamtenverhältnis zu entlassen. Besonders die jüdischen bzw. »nicht-arischen« Professoren der Universität waren davon betroffen, die 25 % des Lehrkörpers stellten. Die NS-Studentenschaft störte nun ungehindert deren Veranstaltungen, solange diese noch im Dienst waren. Auf Initiative der NSStudentenschaft ging auch am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennung auf dem Breslauer Schlossplatz zurück. Dieser »großen Säuberungsaktion in der Studentenschaft« – so die Schlesische Tageszeitung am 11.5.1933 – fiel auch die Lassalle-Biographie von Willy Cohn zum Opfer.27 Von Seiten der »arischen« Professorenschaft gab es nur vereinzelt Solidarisierungen mit den jüdischen Kollegen, aber schon gar nicht von Seiten des Rektors Walz, der am 25. März 1935 in einem vertraulichen Rechenschaftsbericht meldete, dass die »außerordentlich starke Verjudung« der Universität Breslau durch das »rasch entschiedene Handeln« des Reichsministers Rust beseitigt und durch »zukunftssichernde Kräfte« ersetzt worden sei.28 Als nächster Akt der Ausgrenzung folgten die Nürnberger Gesetze von 1935. Durch sie wurde den 450.000 »Volljuden« und 50.000 konvertierten Juden die Reichsbürgerschaft aberkannt und ihnen der Status von »Staatsangehörigen« zugewiesen. Sexuelle Beziehungen zwischen Juden und »Ariern« wurden als »Rassenschande« bestraft. Ausgenommen davon waren bereits geschlossene Ehen, deren jüdischer Teil auch über 1941 hinaus in dem unsicheren Status einer sog. Privilegierten Mischehe [über]lebten.29 Doch schon vorher hatte es in Breslau die Anprangerung sog. Judenliebchen gegeben. Der Begriff »Anprangerung« ist hier ganz wörtlich zu verstehen, sie wurden am Pranger vor dem Rathaus zur öffentlichen Demütigung angebunden. Wie verhielten sich die (ehemals) jüdischen Bürger in diesem Verdrängungsprozess? Fritz Stern bestätigt, dass man gleichsam ein »Doppelleben« führte, dies aber als das »Normale« akzeptierte, auch wenn Juden ständig mit 25 26 27 28 29

Ebd., S. 83. Ascher, A Community under Siege (wie Anm. 14), S. 86. Cohn, Verwehte Spuren (wie Anm. 7), S. 89. Herzig, Die schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau (wie Anm. 5), S. 137. Stern, Fünf Deutschland und ein Leben (wie Anm. 15), S. 145.

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den Hasstiraden der Nationalsozialisten konfrontiert wurden und in Angst vor Denunziation lebten.30 Antijüdische Parolen oder die Schilder »Juden unerwünscht« waren nicht zu übersehen. Den Kindern aus liberalen oder konvertierten jüdischen Familien musste von den Eltern erst erklärt werden, dass sie jüdisch oder jüdischer Herkunft waren und was dies bedeutete. Die Ausgrenzung führte zu einer Intensivierung des innerjüdischen Lebens durch Vereinsarbeit und kulturelle Veranstaltungen. Auch das jüdische Schulwesen intensivierte sich erneut, da schon vor 1938 zahlreiche jüdische Kinder von den öffentlichen Schulen zu den jüdischen Schulen überwechselten. Der Religionsunterricht sollte hier auf Vorschlag des liberalen Rabbiners Dr. Vogelstein (1870-1942) in zwei Klassen-Zügen erteilt werden, einem orthodoxen und einem liberalen. Der Direktor des jüdischen Reform-Realgymnasiums Dr. Max Feuchtwanger widersetzte sich allerdings diesem Vorschlag.31 Trotz – oder vielleicht wegen – der äußeren Bedrängungen intensivierten sich auch die innerjüdischen Parteikämpfe, so zwischen den Orthodoxen und Liberalen, wie dieser Vorschlag des liberalen Rabbiners Vogelstein deutlich werden lässt. Er sei es auch – so unterstellt ihm Willy Cohn –, der in der jüdischen Schule den Einfluss der Orthodoxen und Zionisten nicht zu stark werden lassen wolle. Vogelstein versuche zu verhindern, dass die Kinder in einem kulturellen Ghetto abgeschlossen würden. Auf seine Initiative hin wurde im Frühjahr 1934 in Breslau »Am Anger« eine neue jüdische Schule errichtet, die in ihrer Schwerpunktbildung auf technische und kaufmännische Berufe ausgerichtet war. 1938 zählte diese Schule über 400 Schüler, die jüdische Volksund Oberrealschule in der Rhedigerstraße an die 1. 000. Willy Cohn kritisiert diese Doppelstrategie Vogelsteins. Es passe nicht zusammen, dass die Kinder zur Treue zu Deutschland erzogen werden sollen, wenn sie das Land verlassen müssen. Cohns Distanz als Zionist und Orthodoxer zu dem liberalen Rabbiner ist eindeutig. Von dessen Predigten ist er »weniger begeistert« und attestiert ihm: »Er hat nicht allzuviel zugelernt.«32 Nach den antijüdischen Exzessen von 1933 vollzog sich – wie die berühmte Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die ebenfalls ihre Kinder- und Jungmädchenjahre in Breslau verbrachte, schreibt – »die Verschlimmerung der Lebensbedingungen für Juden [...] ganz allmählich. Nicht von einem Tag auf den anderen. So allmählich, dass überoptimistische Menschen sich einreden konnten, eine Gefahr existiere gar nicht.« Viele redeten sich ein, »dass dieser Unsinn bald aufhören müßte. Die Deutschen können doch ganz einfach diesen Wahnsinn nicht mitmachen«, erklärte z. B. Anita Laskers Vater, der Breslauer Rechtsanwalt Alfons Lasker.33 Vor allem das jüdische Bürgertum – und hierzu zählten die meisten Juden Breslaus – war davon überzeugt, dass trotz des NS30 31 32 33

Ebd., S. 149. Ascher, A Community under Siege (wie Anm. 14), S. 100ff. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 7), Bd 1, S. 156. Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben (wie Anm. 14), S. 24.

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Unrechtsregimes Deutschland weiterhin ein Rechtsstaat sei, der ihnen nichts antun könne, wenn sie nichts »Unrechtes« täten. Noch Ende des Jahres 1938, also nach dem Novemberpogrom, erklärten die Eltern des ebenfalls aus Breslau stammenden bekannten Soziologen Norbert Elias bei einem Besuch ihres Sohnes in England, wieder nach Breslau zurückkehren zu wollen. Die Begründung des Vaters lautete: »Was können sie mir tun [...] ich habe nie jemandem unrecht getan, habe mich nie in meinem Leben gegen ein Gesetz vergangen.« Sein Sohn, der ihn »beschwor [....] zu mir nach England zu ziehen«, kommentiert resigniert das Verhalten seines Vaters: »Er war ein Deutscher. Er hatte immer den Gesetzen gehorcht. Was konnte eine deutsche Regierung ihm anhaben? So fuhren die alten Herrschaften in ihrer Unschuld zurück«.34 Noch gravierender war die Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die sie nicht von Deutschland loskommen ließ. Selbst für den Zionisten und Orthodoxen Willy Cohn war sie neben privaten Gründen ausschlaggebend, dass er 1937 aus Erez Israel, wo er seinen Sohn in dem Kibbuz Givat Brenner besucht hatte, nach Breslau zurückging. Deutsche Bildung und Kultur waren für die akkulturierten Juden fast zu einer Ersatzreligion geworden. So überrascht es nicht, wenn Willy Cohn im Juli 1937 in seinem Tagebuch lapidar mitteilt, dass er in der Buchhandlung Koebner in Breslau »einen Herder erstand«, mit der Begründung: »es ist ein Klassiker, der mir noch fehlt.«35 Oder wenn in der Familie Lasker »fast bis zu Deportation des Vaters und der Mutter (1942)«, wie Anita Lasker schreibt, sonntags im Familienkreis die großen Werke klassischer Bildung gelesen wurden.36 Seine »Liebe zum schlesischen Land« betont Willy Cohn immer wieder. Er freut sich »stets aufs Neue«, wenn er über die Dom- und Sandinsel geht, »über das Bild alter Kultur« und ist stolz darüber, dass Leo Baeck, der ja in Breslau studiert hatte, »Honneurs meiner geliebten Heimatstadt«, »dem alten Breslau und seinem unvergleichlichen Stadtbilde« machte.37 Neben dieser kulturellen Verortung ist es die liebevolle Verbundenheit mit der schlesischen Heimat, und vor allem mit der Stadt Breslau, die in den Tagebüchern und Lebenserinnerungen deutlich wird. In seinem Nachwort zu dem Tagebuch von Walter Tausk spricht Henryk M. Broder zu Recht von der »Heimat als Falle«.38 Trotz aller Einschränkungen blieben Kontakte zu »arischen« Menschen im Gesellschafts- wie auch im Privatleben bestehen, so bestätigen alle jüdischen Zeitzeugen aus Breslau. Fast ist man heute überrascht, wie stark diese Kontakte auch nach 1938 noch waren. Allerdings gab es auch die »Bekannten«, die 34 35 36 37

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Elias, Notizen zum Lebenslauf (wie Anm. 14), S. 166. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 7), Bd 1, S. 447. Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben (wie Anm. 14), S. 11. Arno Herzig: Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888-1941). In: Miriam GillisCarlebach und Wolfgang Grünberg (Hg.): Die Fünfte Joseph Carlebach-Konferenz. Unvollendetes Leben zwischen Tragik und Erfüllung. Hamburg: Dölling und Galitz 2002, S. 99-105, S. 103. Tausk, Breslauer Tagebücher (wie Anm. 12), S. 255.

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die Straßenseite wechselten, wenn sie ihren ehemaligen Kollegen oder gar Freunden begegneten. Ende 1935 schreibt Tausk in seinem Tagebuch: »Die gesamte Judenangelegenheit wird von der überwiegenden Zahl der Bevölkerung abgelehnt, die – wie auch jetzt zu Weihnachten – die Einkäufe, in Breslau wenigstens, ›beim Juden‹ macht«.39 Das darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass überzeugte NS-Anhänger sich brutal gegen jüdische Kinder verhalten konnten, wie Abraham Ascher berichtet.40 In fast allen Erinnerungen werden Kontakte zu einzelnen protestantischen Geistlichen hervorgehoben: bei Willy Cohn zu Propst Oertelt von der Bernhardin-Kirche, »der immer sehr herzlich zu mir ist«. Auch Anita Lasker und Fritz Stern erwähnen einzelne Geistliche, die sich ihnen gegenüber freundlich erwiesen bzw. Widerstand leisteten.41 Auf katholischer Seite ist es v. a. der Leiter des Diözesanarchivs Kurt Engelbert (1886-1967), der Willy Cohn die Möglichkeit bot, in seinem Archiv wissenschaftlich zu arbeiten, als dieser die anderen wissenschaftlichen Institute nicht mehr betreten durfte. Dem Breslauer Bischof Kardinal Adolf Bertram (18591945) ging Willy Cohn »aus Taktgründen«, wie er schreibt, aus dem Wege.42 Der Kardinal hatte es bereits 1933 als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz abgelehnt, Juden gegen die NS-Angriffe zu verteidigen. Einzelnen jüdischen Konvertiten wie dem Leobschützer Arzt Carl Rother verhalf er durch Beziehungen zur Auswanderung in die USA, wie in dem Roman von dessen Enkeltochter Irene Dische zu lesen ist.43 Bei Bertrams staatsloyaler Haltung, auch gegenüber dem verbrecherischen NS-Regime, war kaum Kritik am NS-Regime im Hinblick auf die Judenverfolgungen zu erwarten. Soweit die Frage der Emigration nicht einfach verdrängt wurde, wie bei den Eltern von Anita Lasker oder Norbert Elias, mehrten sich in den 1930er-Jahren die Schwierigkeiten ein Aufnahmeland zu finden, wie die Erinnerungen von Fritz Stern und Abraham Ascher zeigen, deren Eltern es aber 1938 doch noch gelang, und selbst noch nach 1939. Es waren v.a. Jugendliche, die der Zionistischen Bewegung nahestanden, die freiwillig oder durch die NS-Behörden gezwungen nach Erez Israel auswanderten. So verließ der jüdische Student Werner Hayek schon im Juni 1933 Breslau, ohne seine Promotion abzuschließen. Als überzeugter Zionist hoffte er in Palästina auf eine neue Zukunft. Je39 40 41

42 43

Ebd., S. 118. Ascher, A Community under Siege (wie Anm. 14), S. 5. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 7), Bd 1, S. 471; Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben (wie Anm. 14), S. 56; Stern, Fünf Deutschland und ein Leben (wie Anm. 15), S. 141f. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 7), Bd 2, S. 933. Irene Dische: Großmama packt aus, Hamburg: Hoffmann und Campe 2005, S. 66; Karol Jonca: Die Vernichtung der schlesischen Juden 1933-1945. In: »Wach auf, mein Herz und denke«. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von 1740 bis heute [Katalog]. Berlin, Oppeln: Gesellschaft für Interregionalen Kulturaustausch 1995, S. 317-327.

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doch geschah seine überstürzte Auswanderung nicht freiwillig. Sie war quasi die Bedingung, dass Hayeks Schwiegervater aus Nazihaft freikam. Seine Universitätslehrer verabschiedeten ihn freundlich. Sein Doktorvater Leo Santifaller (1890-1974) gab ihm sogar ein schriftliches Zeugnis, in dem er Hayeks Weggang bedauerte.44 Wie reagierten die jüdischen Bürger auf die Ausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft? Willy Cohn begegnet der neuen Situation mit zwiespältigem Gefühl. Als guter Patriot hat er Verständnis für seine »nationalgesinnten Schüler«, die »die Erfüllungspolitik« ablehnen und die als »neue Generation [...] für die Sünden der Generation vorher nicht versklavt werden wollte«. »Gefühlsmäßig« begreift er das, aber er sieht damit auch die Gefahr eines neuen Krieges verbunden.45 Auch wenn vereinzelter Kontakt zu ehemaligen Kollegen in den ersten Jahren nach seiner Entlassung weiterbesteht, so fühlt er sich doch bald wie »ein Fremder«, nachdem er im September 1933 noch gehofft hatte, »dass es wieder zu einem friedlichen Nebeneinander [von Juden und Nichtjuden] kommen wird«.46 Im Laufe der Jahre unter der NS-Herrschaft fühlt er sich doch mehr und mehr »als Fremder unter den Menschen, die uns Juden doch nur als Feinde ansehen«.47 Doch ist er weiterhin am öffentlichen Leben und der öffentlichen Meinung interessiert, v. a. nach Ausbruch des Krieges lauscht er bei seinen Abendspaziergängen auf die Sprache der »Volksgenossen« und ihre Äußerungen über den Krieg.48 Bei den vereinzelten Fliegerangriffen auf Breslau im August 1940 muss er mit den anderen Bewohnern in den Luftschutzkeller. Dabei stellt er fest: »Wir haben anständige Leute im Haus.«49 Doch die Ausgrenzung wird immer prekärer, v. a. als er seit September 1941 den Judenstern tragen muss. »Die Luft [wird] für uns problematisch.« Auf dem Weg zur Synagoge, auf dem er zum ersten Mal den Stern tragen muss, hat er das Gefühl, eine Herzschwäche zu bekommen. Aber er will an diesem Tag unbedingt gehen, um sich nicht nachsagen zu lassen, er habe wegen Feigheit gefehlt. Dabei stellt er bezeichnenderweise fest: »Das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen; ich bin in keiner Weise belästigt worden; man hat eher den Eindruck, daß es den Leuten peinlich ist.«50 Auch für Werner Tausk verhalten sich die Breslauer – von den Nazibonzen abgesehen – eher solidarisch mit den ausgeschlossenen Juden. Er konstatiert Ablehnung der NS-Maßnahmen, so z. B. bei den Arbeitsentlassungen anläss44

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Interview mit Werner Hayek am 20.05.1996. Teile seiner fertigen Dissertation nahm er mit nach Israel. Sie wurden 1997 publiziert: Werner Hayek: Die Geschichte der Juden in Löwenberg/Schlesien (bis 1453). In: Aschkenas 6 (1997), S. 295-352. Cohn, Verwehte Spuren (wie Anm. 7), S. 536. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 7), Bd 1, S. 154, 82. Ebd., S. 159. Ebd., S. 837. Ebd., S. 838. Ebd., S. 980ff.

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lich der Nürnberger Gesetze oder »Arisierung« jüdischer Geschäfte.51 Im Gegensatz zu Willy Cohns Situation wird Tausks Empfindung des Ausgeschlossenseins durch die Tatsache verstärkt, dass er sich nicht der jüdischen Gemeinde anschließen will. Über deren Mitglieder spricht er sehr herablassend und macht die jüdische Gemeinde letztlich für das Scheitern seiner Auswanderungspläne verantwortlich.52 Der Druck von Außen auf die jüdische Gemeinschaft führte nicht unbedingt – und das wird auch bei Willy Cohn deutlich – zu einer größeren Harmonie. »In diesem Monat ist man sich noch einsamer als einsam vorgekommen«, konstatiert Tausk im März 1939, als den Juden Gold, Silber und Schmuck weggenommen wurde.53 Treffsicher stellt er im Juni desselben Jahres »die grausamen Anzeichen einen nahen neuen Weltkrieges [fest], der spätestens im September konsequent ausbrechen muss«.54 Treffsicher auch sein Urteil darüber, dass dies »den völligen Ruin und Zusammenbruch dieses ›Dritten Reiches‹ bedeutet«. Dessen »Katastrophe« sei »unvermeidbar«. Als der Krieg dann am 1. September 1939 wirklich losgeht, konstatiert er fehlende Kriegsbegeisterung bei den durchziehenden Truppen. Ihre Stimmung sei »niedergedrückt, mißmutig, kriegsunlustig und ›mit einer Sauwut im Leibe gegen Adolf‹«. »Das Volk« – so Tausk – »redet offen und überall von den Zuständen und gibt seinem Unmut in jeder Weise Luft.«55 Den Siegesparolen glaubt Tausk nicht und vermisst offizielle Verlustzahlen. Auch konstatiert er Formen von Widerstand. So finden sich nach seinen Angaben kleine Zettel in den Briefkästen mit der Aufschrift: »Wir haben von den Lügen genug. Wir haben genug von dieser Regierung. Volk stehe auf und wähle dir eine Regierung, die dir paßt«.56 Verbunden ist für Walter Tausk der Krieg mit »neue[n] Judenverfolgungen«. So durch das Verbot für Juden, Parkbänke zu benutzen, den Gottesdienst zu besuchen oder nach acht Uhr das Haus zu verlassen, »während die ›Arier‹ um neun im Haus sein müssen«.57 Über die Situation der Juden in Polen macht er sich keine Illusionen. Dem Heer folgen SS und Gestapo, »›um aufzuräumen‹«. Judenverfolgungen wie im Mittelalter seien dies – so Tausk. Und noch schlimmer. Es herrscht eine »reguläre Bestialität«. Man lässt die Juden verhungern. Obgleich als Jude aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt, konstatiert er, was demnach alle übrigen Deutschen ebenfalls erfahren konnten: Man hörte von heimgekehrten Soldaten, ›daß wir unter den Itzigs (eine Verallgemeinerung des Itzig auf alle polnischen Juden) aufgeräumt haben.‹ Das heißt: man hat nicht nur Franctireur-Verdächtige und echte Franktireuers [= Freischärler] füsiliert. Man hat rund hunderttausend Juden beiderlei Geschlechts ›gemordet‹. Die erfassten Daten tauchen also nicht im Library 51 52 53 54 55 56 57

Tausk, Breslauer Tagebücher (wie Anm. 12), S. 111, 118. Ebd., S. 121. Ebd., S. 204. Ebd., S. 207. Ebd., S. 213. Ebd., S. 218. Ebd., S. 221.

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Manager auf. Entgegen den deutschen Berichten, die es von den Polen behaupteten, steht einwandfrei fest: als die deutschen Truppen in Kattowitz einrückten, fielen zwei bis drei Schüsse, worauf die Truppen Kattowitzer Juden in die Synagoge trieben und das Haus verbrannten. Nicht aber: die Polen haben vor ihrem Abzug die Synagoge in Brand gesteckt, und die Deutschen hätten (wie man es hier las) ›die Trümmer beseitigt‹. In Krakau haben deutsche Truppen beim Einzug einer Synagoge, die mit Juden angefüllt war, in die Luft gesprengt usw. nach bekannten und historisch verbrieften Mustern. ER will einen ›Judenstaat‹ gründen, wobei hartnäckig behauptet wird, Galizien ist dazu ausersehen, nur ist Ostgalizien jetzt russisch. Die Russen werden hiervon schon wegen des Erdöls nichts herausgeben, und ›Väterchen Stalin‹ hat angeblich im Rundfunk zu den Juden gesprochen und ihnen ›in kurzer Zeit eine Besserung ihres Loses‹ prophezeit.«58 Noch ehe vor dem 1. Oktober 1941 die Auswanderung von Juden aus dem Reichsgebiet total verboten wurde, ordnete der Breslauer Regierungspräsident die erste sog. Wohnungsaktion an. Die jüdischen Einwohner wurden aus ihren Wohnungen ausgewiesen und in sog. Judenhäusern zusammengepfercht. Ab dem 26. Juli 1941 erfolgte die Deportation in sog. Sammellager wie Tormersdorf in der Lausitz. Diese von dem Gauleiter Karl Hanke angeordnete sog. Judenwohnungsaktion in Breslau (zwischen dem 31. Juli und September 1941) traf rund 700 Juden, von denen 24 Personen bei dieser Aktion ums Leben kamen. Die Deportationen in die Vernichtungslager begannen in Breslau am 21. November 1941. Am 25. November wurden etwa 1. 000 Breslauer, darunter auch Willy Cohn mit seiner Familie und Walter Tausk vom Breslauer Odertorbahnhof nach Kowno/Kaunas deportiert. Unter Schlägen der SS-Leute wurden je 100 Personen in einen Waggon gepfercht. In Kowno wurden gleich nach ihrer Ankunft sämtliche Breslauer Juden vom Sonderkommando Dr. Jäger erschossen. Weitere Deportationen erfolgten im April 1942. Nach den Deportationen blieben in Breslau noch zurück: einige Hundert privilegierte Familienmitglieder, ehemalige Kriegsverletzte aus dem Ersten Weltkrieg sowie einige Ärzte. Noch im Januar 1945, als Breslau zur Festung erklärt wurde, musste eine jüdische Gruppe in das KZ Groß Rosen. Der Leiter der Staatspolizeistelle Breslau, Dr. Ernst Gerke, der die Deportationen mitzuverantworten hatte, starb am 7. November 1982 in Eckernförde. Er war nie vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen worden.59 Mit der Deportation endete die über 700-jährige Geschichte der deutschen Juden in Schlesien. Die kleine Gruppe, die die NS-Mordaktionen überlebt hatte, musste im Zuge der Vertreibung, wenn auch unter Sonderkonditionen, Schlesien verlassen. Es begann nun eine wechselreiche neue Geschichte der Juden in Schlesien, die vielleicht in neuen Erinnerungsdokumenten festgehalten ist. 58 59

Ebd., S. 225. Jonca, Die Vernichtung der schlesischen Juden (wie Anm. 43), S. 326f.

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Ein Schatten auf dem »Unbestechlichen« Die Judengestalt in Gertrud Kolmars Drama Cécile Renault

Im Rollenverzeichnis des Robespierre-Dramas Cécile Renault, das im Winter 1934/35 entstanden ist, erscheint mit Jom-Tob die einzige jüdische Gestalt, die in dem dreiteiligen, dem Revolutionär gewidmeten Werkbündel der Dichterin zu finden ist.1 Sie gehört zu denjenigen dramatis personae,2 die die Autorin nicht bereits in ihrem Quellenmaterial vorgefunden, sondern selbst zusammen mit dem dramatischen Entwurf konzipiert hat.3 Dass Jom-Tob in der Auseinandersetzung mit dem Werk bislang eher beiläufig betrachtet wurde, mag damit zu tun haben, dass er im ersten Akt als Nebenfigur, als einer unter mehreren in der Gruppe der Ausgestoßenen und Verachteten, der Mühseligen und Beladenen auftaucht, welche die Anhänger-Schar der »Mutter« genannten Charismatikerin Catherine Théot bilden, jener »harmlosen Sektierer«, die im weiteren Verlauf in die Mühlen des Machtkampfes des Jahres 1794 geraten. Die Entwicklung der Revolution treibt auf eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen dem Sicherheits- und Wohlfahrtsausschuss zu, und im Vorfeld der blutigen Entscheidung werden die Frommen von den Gegnern Robespierres politisch instrumentalisiert und als angebliche royalistisch-religiöse Verschwörer der Guillotine zugeführt. Von Robespierre selbst werden sie, obwohl er von ihrer »Harmlosigkeit« überzeugt ist, nicht vor der Verurteilung gerettet, da er – so scheint es auf den ersten Blick – in der Öffentlichkeit nicht als Schützer der religiösen Reaktion auftreten will.4 Mit ihnen wird auch Jom-Tob aufs Schafott gehen, und zwar eher als ein Gefolgsmann oder ein Mitläufer, wenn man ihn mit Cécile vergleicht, die als vermeintliche Attentäterin, als zweite Charlotte Corday,5 welche Robespierre 1

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Die Werke Gertrud Kolmars werden nach der vierbändigen, von Regina Nörtemann herausgegebenen und kommentierten Ausgabe zitiert: Frühe Gedichte (Bd. I), Gedichte 1927-1937 (Bd. II), Das Lyrische Werk. Anhang und Kommentar (= Bd. III), Die Dramen (= Bd. IV). Göttingen: Wallstein 2003 (I-III) und 2005 (IV). – Zitate aus dem Drama Cécile Renault sind im Text nach Seitenzahlen nachgewiesen. Stellenkommentar Bd. IV, S. 166. Auch in den Dramen, von denen Kolmars Stück inspiriert ist, Georg Büchners Dantons Tod und Romain Rollands Danton, finden sich keine jüdischen Rollen. Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar – Leben und Werk. Göttingen: Wallstein 1995, S. 197. Zur weiteren Forschungsdebatte s. Anm. 21. Auf diese Identifikation wird ironisch vorausdeutend bereits in Akt III, 3 (S. 69) angespielt, als von der wartenden Cécile die Rede ist.

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das Schicksal Marats zugedacht hat, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Dieses historische Finale, das im Drama selbst freilich nur noch im Ansatz gezeigt wird, verdeutlicht, dass der Jude dramaturgisch insgesamt im Schatten der Titelheldin steht. Es gibt aber zu denken, dass er als einziger aus der ganzen Gruppe der gesellschaftlich unter die Räder Gekommenen – und in auffallendem Unterschied zu deren eigentlicher Wortführerin, der »Erleuchterin« Godefroy – nach der Gefangennahme noch einmal mit einer langen Rede im Schlussakt zu Wort kommt. Nicht weniger bleibt – inhaltlich gesehen – zu beachten, dass der Jude innerhalb der Folge der Lebenslauf-Berichte des Eingangs als einziger ausführlich von einer eigenen Gotteserfahrung berichtet, welche, bei genauerem Betrachten, in einer gewissen Konkurrenz zu der charismatischen Gruppe steht. Seine Gottesbegegnung hat ihn, wie er sagt, in Metz zu »Glaubensgenossen« geführt (S. 22), und es mag damit zu tun haben, dass er sich der Weihe, der Berührung und Umarmung durch die »Mutter« – im Gegensatz zu der Titelheldin Cécile – nicht unterzieht. Angesichts der tragenden Problematik des Stückes, des Verständnisses von Messianität in einem als fundamentalen geschichtlichen Umbruch gedeuteten Geschehen, verdient die Bedeutung des Juden namens Jom-Tob daher durchaus genauere Betrachtung.6 Dazu ist zunächst zu erläutern, dass die religiöse Atmosphäre der Versammlung, in welche der Jude geraten ist, keineswegs prononciert christlich getönt ist, zumal es »hier« ohnehin »keine Kirche« gibt (S. 12). Der Text für die Predigt der »Erleuchterin« ist dem Propheten Micha (S. 15) entnommen, weitere Weissagungen aus Jesaja kommen hinzu (S. 16).7 Sofern biblische Zitate, von denen es insgesamt wimmelt, aus dem Neuen Testament stammen, treten sie in ein prophetisches Nebeneinander zu den Stimmen des alten Bundes.8 In diesem Sinne werden auch Jesus-Logien aus den Evangelien eingebracht, ebenso eschatologisch getönte Sentenzen, wie »Die Ersten werden die Letzten sein« (S. 13),9 ohne dass irgendeine Bezugnahme auf deren Sprecher erfolgte. Eine weitere motivliche Überlappung, die in der Textkomposition des Dramas wichtig wird, besteht zwischen den alttestamentlichen Gottesknecht-Weis6

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Es versteht sich, dass im Rahmen einer knappen Skizze die dem Drama voraus liegenden Werke der Autorin, die sich mit Robespierre befassen, der Essay Das Bildnis Robespierres (Bd. III, S. 19-52) und der lyrische Robespierre-Zyklus (Bd. II, S. 393-475), nicht eingehend einbezogen werden können. Micha, 1-8/Jesaja 33,12-16 und 11,3-5 (Stellenkommentar Bd. IV, S. 170). In den Eingangsdialogen beispielsweise Mt. 11,28 (»Mühselige und Beladene«, S. 10), oder Mt. 8,12 (»Heulen und Zähneklappern«, S. 11), zahlreiche weitere Belege s. Bd. IV, S. 169ff. – Die stilistische Homogenität, welche dieses Nebeneinander unterstützt, verdankt sich den von Kolmar verwendeten Übersetzungen, sowohl Martin Luthers als auch neueren textnäheren Übertragungen (vgl. dazu Bd. III, S. 369). Altertümliches Vokabular, sofern es im Kontext verständlich bleibt, wird beibehalten (»Schnur« und »Schwieger«, S. 15), stellenweise auch in den Dialogtext übernommen (»Muhme«, S. 33). Bei Mt. mehrfach an Gleichnisse Jesu angefügt (19,30/20,16).

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sagungen, vor allem aus Deutero-Jesaja, und den aus den synoptischen Evangelien stammenden Aussagen über die verborgene Messianität Jesu, die es weiterhin zu verheimlichen gilt, solange er nicht selbst seine nach der Passion erfolgende Epiphanie als Auferstandener vollzieht. Hier wie dort bleibt die Identität der Erlösergestalt, auf die sich die Hoffnung richten könnte, gleichsam unsichtbar. Wohl aber wird jeweils die Solidarität des Gottesdieners mit den Armen und Ärmsten, den Erniedrigten und Beleidigten stark hervorgehoben. Sie gilt den Eingeweihten als Indiz der Sendung, während äußerlich aller Glanz von Erlösung und Erneuerung ausgeschlossen wird: die messianische Funktion ist unter der gegenteiligen äußeren Erscheinung verborgen.10 Dieser religionsgeschichtlich zentrale Akzent hat, wie sich unschwer erkennen lässt, eine unmittelbare Entsprechung in der Poetologie der Lyrikerin Kolmar, für die das alte Märchenmotiv vom Karfunkelstein der Weisheit und Güte unter der hässlichen Gestalt der Kröte von zentraler Bedeutung ist. Auch im Drama wird es ausdrücklich zum Vergleich herangezogen, wenn von dem kommenden Messias die Rede ist: »Aber wer trägt den Edelstein? Nicht die bunte Natter […] sondern die unscheinbare erdfarbige Kröte. Doch eines Tages wird er gekleidet stehn mit der Farbe des Himmels« (S. 17).11 Da der Kommende allerdings niemals mit Namen genannt wird – und schon gar nicht mit dem neutestamentlichen –, bleibt seine Identität als Leerstelle bestehen, in welche die Mitglieder der religiösen Gruppe durchaus unterschiedliche Eintragungen vornehmen können. Dass darunter die eschatologische Zuversicht nicht leidet, liegt daran, dass sie im Kreise der Eingeweihten bereits eine vorausweisende Beglaubigung erfahren hat. Denn die »Mutter« hat, als sie selbst im Gefängnis war, die Öffnung der Verliese geweissagt, und »am vierzehnten Juli 1789 hat der Allmächtige Scharen gesendet und hat die Mauer des Kerkers zerstört« (S. 13). In der Folge solcher Beglaubigungen changiert das religiöse Klima der charismatischen Versammlung. Die eschatologische Hoffnung auf den neuen Äon bleibt unbestimmt, zumal eine dezidiert kirchlich-christliche Perspektive ebenso ausgespart bleibt wie eine jüdische. Wesentlich prägnanter ist eine Naherwartung mit unterschiedlich stark präsentischen Zügen, so dass variable politische Eintragungen möglich werden. Was hingegen alle verbindet, ist der Inhalt der Hoffnung, die Erwartung einer Zeit der Gerechtigkeit und des endlichen Ausgleichs für erlittene Armut, Schmerz, Benachteiligung und Demütigung. Mit dieser Aussicht ist die Predigt der »Erleuchterin« als eschatologische Gerichtsrede stilisiert, wobei die Rednerin nicht nur mit den Vertretern des ancien régime, sondern auch mit den Neureichen, den Raffenden und den Mächtigen der Revolution – im Konvent und in den politischen Gruppierungen – hart ins Gericht geht (S. 15ff.). Gemäß dieser präsentischen Eschatologie kommt dann auch die Rede auf den Messias, allerdings unter Wahrung der Geheimhaltung 10 11

Vgl. Lk. 17,20 und Jes. 53,2ff. S. Kommentar Bd. IV, S. 171, mit Verweis auf Die Kröte (Bd. II, S. 358f.).

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»bis zur Stunde des Urteils«. Seine Funktion als Rächer verwirklicht sich unter den »Namen […]: Der Reine. Der Unantastbare. Der Unbestechliche« (S. 17), und diese Namen sprechen eine deutliche politische Sprache, auch wenn sie nicht kommentiert werden. Alle Hoffnung steht im Schatten Robespierres. Diese Überlappung zwischen biblisch-prophetischer und politischer Rede motiviert die weitere dramatische Entwicklung. Denn die junge Cécile, die mit christlichen Voraussetzungen, außerdem im Auftrag ihrer Tante, einer Nonne, in die Versammlung gekommen ist, wird Robespierre aufsuchen, in der Erwartung, dass er sich durch ihre Huldigung zum öffentlichen Bekenntnis seiner Messianität bewegen lassen und diese – nach christlichem Verständnis – durch einen Gnadenakt gegenüber dem Kind-Dauphin der Dynastie politisch demonstrieren wird. Das fundamentale Missverständnis,12 welches Céciles tragisches Scheitern verursacht, lässt sich im Rahmen des Messias-Diskurses des Dramas als mangelnde Einsicht in die Problematik des Gerechtigkeitsbegriffs verstehen. Dazu verhelfen, innerhalb des Personenspektrums des »Bundes« der Catherine Théot, die beiden Figuren, welche sich mit der Eschatologie der Rednerin Godefroy nicht zufrieden geben und am Einsegnungsakt durch die Mutter nicht teilnehmen. Sie repräsentieren dabei ganz entgegengesetzte Positionen der Hoffnung und der Erwartung: Jom-Tob und »die bucklige Sophie«, ein Rolle, die offensichtlich ebenfalls von der Autorin frei erfunden wurde. Sophie steht bereits seit einiger Zeit mit dem »Bund« in Verbindung. Sie kennt das Procedere der Feierstunden und hat schon vor der Rede der »Erleuchterin« den zivilen Namen des proklamierten Geheim-Messias preisgegeben (S. 11). Aus ihrer politischen Einstellung macht sie auch jetzt kein Geheimnis. Als ein junger Soldat vor der Entsendung ins Feld und mit der Befürchtung eines Kriegertodes den mütterlichen Weihe-Segen erbittet und dabei die patriotische Trias der Revolution ausruft, beantwortet Sophie die Formel von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« mit der liturgischen Responsion »in Ewigkeit. Amen« (S. 23). Schon vor der Godefroy hat sie die Verbindung zwischen dem Alten Testament und der Gegenwart hergestellt und die heidnischen »Baalspriester«, welche nach den biblischen Geschichtsquellen den Gottesbund Israels gefährden, mit den Adligen des ancien régime verglichen (S. 12). Sowohl ihre Zeitkritik als auch ihre messianische Erwartung ist radikal. Einerseits erkennt sie den absoluten Gerechtigkeitsanspruch Robespierres als den »bitteren«, den »grünen, giftigen Tropfen« im »süßen roten Wein« (S. 11), den die Nutznießer der Revolution trinken; daher erwartet sie, dass er 12

Die theologische Dimension wird später deutlicher szenisch entfaltet, wenn sich Cécile mit ihrem neuen blauen Kleid auf das von Robespierre anberaumte Fest de l’être suprème vorbereitet, das sie rein christlich versteht, ohne den Aufklärungsakzent im Titel oder den natursymbolischen Wert des verordneten Blau wahrzunehmen.

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nicht mehr lange wirken, sondern gestürzt werden und dann die Veränderung der Verhältnisse stecken bleiben wird. Ihre Skepsis gegen den geschichtlichen Verlauf ist durchdringend, denn ihr sozialer Anspruch auf Gleichbehandlung, gleiche Verteilung der Güter, Wiedergutmachung für lebenslange Benachteiligung ist universal. Der Gott der Besitzenden und Herrschenden, wie ihn die Tradition kennt, ein »Götze«, kommt dafür ihrer Meinung nach ohnehin nicht in Frage. Andererseits erhebt Sophie aber – obwohl sie nicht als Atheistin verstanden werden will – doch nicht minder radikal metaphysische Anklage: »Klopft ihren Buckel. Ein Engel hat bei meiner Geburt fröhlich gesungen, lustig gefiedelt, und seinen Geigenkasten, den hier, den hat er mir da gelassen« (S. 44). Mit der Emphase der Empörung schildert sie die Demütigung und Herabsetzung, der sie lebenslang wegen ihrer Missbildung ausgesetzt war. Der Gott allerdings, der als »Rächer der Unterdrückten« und als »Helfer der buckligen Sophie« erscheint, müsste offensichtlich die ganze Schöpfung erneuern, sollte auch dem kreatürlichen Leid der körperlich und physisch Gequälten Genugtuung geleistet werden. Sophies messianische Perspektive, wenn sie denn eine solche aufbrächte, zielte über die Geschichte hinaus. Die Autorin Gertrud Kolmar hat für sie – außer dem sprechenden Namen – daher auch allenfalls den poetischen Trost des inneren Lichts bereit, denn von den Straßenkindern wird sie als »häßliche Kröte« beschimpft (S. 45). Gehört die bucklige Sophie sozial und physisch zu den Ausgestoßenen,13 so ist Jom-Tob als gesellschaftlicher Randsiedler zugleich Angehöriger des ausgestoßenen Volkes. In der Disposition des Dramas wird ihm sowohl eine individuelle Lebenserzählung als auch eine Klagerede über die geschichtliche Exilserfahrung des Judentums eingeräumt. Die Lebensgeschichte, mit der er die Reihe der Lebensbeichten in der Versammlung des »Bundes« fortsetzt, zählt bekannte Stationen auf: dem Ausschluss von jeglicher Art beruflichhandwerklichen Gewerbes folgt die Tätigkeit als Händler, wie von alters her in der Familie, aber zunehmende Einschränkungen und Verbots-Schikanen lösen die Erträge des Handels auf. Die Flucht in den Verleih des angesparten Geldes führt in die Katastrophe, denn mit Hilfe korrupter Richter können sich die Schuldner mit betrügerischen Quittungen der Rückzahlung entziehen, so dass der soziale Abstieg Jom-Tobs in die Bettelei nicht aufzuhalten ist. Aber in der größten Verzweiflung, als er sich mit seinem Flehen um Gnade und Gerechtigkeit absolut verlassen wähnt, macht er die Erfahrung eines plötzlichen Gehaltenseins, physisch spürbar bis zum Erstarren des Arms, den er gerade mit der zum letzten Protest geballten Faust erhoben hat: »Aber mir armem gestoßenen Juden hat einer die Hand gegeben, der Richter über die Richter ist und aller Könige König« (S. 22). Aus der Erfahrung der alten jüdischen Gottesgewissheit kommt die Möglichkeit zum Überleben, jenseits von Kraft, Besitz 13

Zahlreiche motivliche Entsprechungen finden sich in Kolmars Gedicht-Folge Weibliches Bildnis unter Titeln wie »Die Hässliche«, »Die Landstreicherin« u. a. (Bd. II, S. 160/100).

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oder menschlichem Mitleid – wie er einen ekstatischen Moment lang erfährt. Für die Realität des Lebens bildet dieser Moment für ihn ein nicht mehr hintergehbares Intervall. Als ihm danach seine Bedürftigkeit wieder zu Bewusstsein kommt, nimmt er mit einem neuen Vertrauen die Suche nach Glaubensgenossen auf und findet Hilfe. Soweit ergibt die Lebensgeschichte Jom-Tobs den Inbegriff eines Lebens in Ausgestoßenheit und Verelendung, hervorgerufen durch sein Judesein, eines Lebens am untersten Rand sozialer Existenz. Es bleibt das Rätsel des trotz allem erfahrenen metaphysischen Halts, des weiteren aber der Verzicht, aus dem Ruf nach Gerechtigkeit, der unerwartete Resonanz gefunden hat, eine Utopie der Erhörung zu entwickeln. In diesem Sinne ist Jom-Tob ein Gegenbild zu der religiösen Haltung messianischer Zuversicht, wie es die »Erleuchterin« in wenigen Grundzügen entworfen hat, obwohl auch darin grundlegende biblische Motive zu finden sind. Vielleicht gibt der Name einen Hinweis auf die Besonderheit, denn die Bedeutung von »Fest«- oder »Feiertag« markiert sozusagen die festtägliche Lücke im Zeitlauf der Geschäfte, der Planung und Erwartung von Zukunft. Dieser Ruhepunkt inmitten der Geschichte steht daher auch im strikten Gegensatz zum ›messianischen Werktag‹, den die Predigerin als Tag des Urteils versteht, an dem die Gerechtigkeit wirken und ihres Amtes als ›Rächerin‹ walten wird. Zu Recht hat Regina Nörtemann im Kommentar zu dieser Stelle (S. 17) darauf hingewiesen, dass man hierbei an den Terminus alttestamentlicher Rechtspflege denken kann, demzufolge ›Rache‹ nicht als individuell emotionaler Akt der Vergeltung, sondern als Vollzug eines gesetzlichen Verhältnisses zu verstehen ist.14 Inbegriff dieses Rechtsverhältnisses ist eine Gerechtigkeit, die nicht ohne Sühne für begangenes Unrecht Gültigkeit erlangt und deren restlose, jenseits aller menschlichen Einschränkungen und Irrtümer zu erwartende Verwirklichung den Charakter der messianischen Tat trüge. Der Jude Jom-Tob erscheint in diesem Zusammenhang gleichsam als menschliche Hohlform für das Eingreifen der Messiasgestalt, geformt aus Erniedrigung, Leiden und der unstillbaren Sehnsucht nach der sich vollziehenden Gerechtigkeit. Es handelt sicht dabei aber dezidiert nicht um einen Messias nach christlicher Vorstellung, der bereits gekommen ist und die gegenwärtige Epoche als die mit dem Angeld des Heiles bereits versehene Zwischenzeit bis zu seiner endgültigen Wieder14

Bd. IV, S. 171. – Dieser Hinweis, der auch die Übertragung auf Gott als Anwalt Israels und – sozial – der Unterdrückten, sowie – in der rabbinischen Literatur – auf den Messias einschließt, verdient noch eine Verdeutlichung. Im ursprünglich juristischen Geltungsbereich bezieht sich der Terminus zuvörderst auf die Blutrache, welche dem nächsten Verwandten eines Getöteten (als ha go’el ha dam) zusteht, aber auch auf andere gravierende Fälle, etwa wenn das Familienmitglied unrechtmäßig zu Verkäufen (von Land) gezwungen oder gar selbst als Sklave verkauft worden ist (s. zu dem Partizip ha go’el in Wilhelm Gesenius: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das alte Testament. Bearbeitet von Frants Buhl. Neudruck Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1962 sowie 2009).

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kehr qualifiziert. Um dies unübersehbar werden zu lassen, hat die Autorin der »Erleuchterin« eine markante Anspielung in den Mund gelegt. Diese ersetzt die ins Glaubensbekenntnis übernommene neutestamentlich-johanneische Formel vom »eingeborenen Sohn« (Gottes), »voller Gnade und Wahrheit« durch die innerweltliche, gegenwartsbezogene Kennzeichnung des Erwarteten als »eingeborener Sohn der Vernunft« (S. 17).15 Eine Gemeinsamkeit mit dem irdischen Wirken des christlichen Messias der evangelischen Berichte besteht daher nur in der Verborgenheit, der Unscheinbarkeit des Äußeren, da die »umwälzende« Energie seines Handelns kein an der Person direkt sichtbares, sozusagen repräsentatives Äquivalent hat.16 Dennoch geht gerade aus dieser verborgenen Energie – wie die »Erleuchterin« ausführt – ein Vorspiel hervor, auf welches dann der Zeitpunkt des Offenbarwerdens, der Gerichtstag folgt, wenn »ein Blitz« – so das biblisch-apokalyptische Bild – »herabfahren wird wie das Beil« – so die aktuelle, dem Terreur entsprechende Verbildlichung. Inhaltlich vollzieht sich dann die als rechtmäßiges Sühneverfahren zu verstehende ›Rache‹: »Und aller Raub, die schönen Schlösser, die Gärten und Äcker, Silber und Gold, wird den Armen zum Erbe werden« (S. 18). Dann beginnt, wie ebenfalls ausdrücklich gesagt wird, die »gute Zeit«, mit dem »guten Tag«, an dem »Friede« gerufen wird, – eine doppelte formelhafte Zeitansage, welche direkt im Namen des Juden, »Jom-Tob«, anklingt oder aus ihm widerhallt. Der Name formuliert aus jüdischer Tradition, was als utopisches Ziel der noch verborgenen Tätigkeit des messianisch verstandenen Revolutionsführers gelten kann.17 Allerdings ist mit der biographischen Erzählung des Juden die individuelle Seite eines leidvollen Lebens in Armut und Rechtlosigkeit abgedeckt, nicht aber die Teilhabe an der Gemeinschaft des jüdischen Volkes und seiner Geschichte, wie sie sich in Jahrtausenden des Exils unter nichtjüdischen Majoritäten abgespielt hat. Dieser Bedeutung kommt erst die große Rede des Juden nach, zu der er – bereits als Gefangener und in Erwartung der Hinrichtung – ansetzt, um dem Erstaunen der jungen Wächter über seine Gelassenheit angesichts des Todes zu begegnen. Der historischen Erfahrung des Judentums, die Jom-Tob zusammenfassend schildert, entsprechen aber wichtige Züge im weiteren Messianitätsdiskurs, wie sie das Drama szenisch umsetzt. Dabei geht es zunächst erneut um Kontrastierung. Zum einen werden Grenzen gegenüber christlichen Vorstellungen gezogen, nach denen der Messias im Rahmen der trinitarischen Theologie zur persona Dei erklärt und daher kultischer Ehrung 15 16 17

Joh. 1,14 (Bd. IV, S. 171). Was die christliche Theologie angeht, so könnte eine ausführlichere Erörterung etwa an Martin Luthers Lehre von der absconditas sub contrario ansetzen. Eine genauere geschichtliche Darlegung müsste hierzu auch die Rolle Marats und seiner Anhänger berücksichtigen, dazu aber auch über den historischen Motivbestand des Dramas – im Unterschied zum Zyklus der Robespierre-Gedichte – hinausführen.

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teilhaftig wird, zum anderen werden Gefahren abgewehrt, die aus der Erhebung eines lebenden oder eines nicht mehr lebenden Heilbringers zum weltanschaulichen Idol entstehen, denn daraus entwickelt sich die Idolatrie im säkularen Staat, wie sie sich in extremem Maße in der Gegenwart abzeichnet. Sowohl hinter der Geschichtsrede des Juden wie der Zuspitzung des IdolatrieThemas erscheint das politische Gefälle der Jahre 1932-35. Die szenischen wie die sprachlichen Formulierungen des Dramas gehen in dieser Hinsicht über die Robespierre-Werke der Vorjahre hinaus. Dramaturgisch gesehen, eröffnet Jom-Tob mit seiner Exilsgeschichte der Juden den zweiten Teils des Dramas, in dem es generell um das Verhältnis der europäischen Geschichte zu Heilsbotschaften bzw. Heilsbringern geht. Die Erzählung ist gleichsam analog zum individuellen Lebensbericht angelegt, wobei als Symbol der Erinnerung nun die Bitterkräuter, wie sie in der Zeremonie des Seder-Abends fungieren, genannt werden. Kommt in der Individualgeschichte die Erniedrigung zum Bettler zur Anschauung, so in der Weltgeschichte – um das Klagemotiv der Gefangenschaft in Ägypten zu verallgemeinern – die Erniedrigung des Exilsvolks zum Sündenbock der anderen Völker. Sie geben ihm für die Katastrophen und Fehlentwicklungen ihres politischen und geschichtlichen Daseins die Schuld und machen es zum Gegenstand ihrer Machtträume und absoluten Herrschaftspläne. »In Polen hat uns das Schwert erwürgt, in Deutschland hat uns der Knüppel geschlagen, in Spanien hat der Holzstoß gelodert…«, so formuliert Jom-Tob in streng gebauten Parallelismen (S. 81), und seine deutenden Metaphern reichen von den bis zum Verbluten ausgepressten Trauben und der grauen Asche bis zum Staub: »Israel ist wie der Staub der Erde. Alle treten den Staub mit Füßen«, und das historische Gehör geht wohl nicht in die Irre, wenn man aus diesem Satz speziell die zeitgenössische Formel vom »Herrenvolk« mithört. Dennoch schlägt die Klage in Prophetie um. Wie Jom-Tob um den Preis der untersten Platzierung und dank des haltenden unsichtbaren Armes überlebt hat, so wird es im Großen sein: »der Staub überlebt alle« (S. 81). Dass in der Gefängnisrede des Juden nun keinerlei Anspielung auf eines der traditionellen jüdischen Messiasmotive vorkommt, bedeutet eine Weichenstellung für den noch folgenden Messianitätsdiskurs des Schlussaktes. Die Autorin lässt keinerlei positiv akzentuierte Formulierung zu, die man als Eingriff einer übermenschlichen Gestalt in den geschichtlichen Verlauf oder als Aussicht auf eine finale Wendung verstehen könnte. Diskutiert wird nur das Thema der Verborgenheit und die lebendige, aber stets unerfüllte Erwartung, die allenfalls ein Richtungssignal angibt, dass Momente von Sinn und Hoffnung in der Geschichte zu finden sein könnten, vor allem dann, wenn man ihrer am wenigsten gewärtig ist. Auch in dieser Hinsicht hat nur die paradoxe Denkfigur des Staubes Bestand. Gemäß diesen Vorgaben ist bereits im Vorfeld das dezidierte Gegenbild in der Titelheldin gezeichnet. Céciles Vorstoß bei Robespierre beruht auf der

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Vorstellung von einem Messias des Glaubens, der Gnade und des Mitleids,18 nicht der Vernunft und der unbedingten Gerechtigkeit. Ihre Huldigung mit den Worten des Vaterunsers ist häretisch, der Gnadenakt gegenüber dem KindDauphin würde den Unbestechlichen als Souverän der Geschichte ausweisen und die universale Versöhnung noch vor dem Gerichtstag ausrufen.19 Céciles irrtümliche Zuversicht auf Robespierre hat nicht zuletzt mit dem Fest des Höchsten Wesens zu tun. Zwar versteht sie durchaus dessen politischpropagandistischen Zweck, d. h. die Abgrenzung gegen den atheistischen Flügel im Konvent und seine Wortführer im Sicherheitsausschuss. Doch überwiegt für sie die eindeutig christliche Sinngebung, da es auf den 20. Prairial, nach altem Kalender, wie der Vater erläutert hat, also auf den Pfingstsonntag gelegt ist (S. 35). Dass auch diese Datierung politisch-propagandistischem Kalkül entspringt, kommt ihr nicht in den Sinn. Umso härter fällt die Zurückweisung von Céciles Vorstoß aus. Die radikale Säkularität seiner politischen Funktion begründet Robespierre dann demokratisch-egalitär und kleidet diese Begründung in den vorausschauenden Nachruf auf sich selbst, da er seinen baldigen Tod erwartet. Und dieses posthume Porträt ist dann Wort für Wort im Gegensinn zum christlichen Glaubensbekenntnis, im Wortlaut des Apostolicum, formuliert: »gestorben…begraben, in eine Kalkgrube gestreut. Und nicht wieder auferstanden« (S. 78). Mit dieser Klimax am Ende des dritten Aktes – der zu Beginn des vierten direkt die Geschichtsrede Jom-Tobs folgt – wird die Idealisierung Robespierres sichtbar, die Purgierung der politisch-historischen Selbstinszenierung des Revolutionärs. Alle auch noch so geringen Anzeichen, die eine Selbsterhebung, mit welcher sich eine anders als von der Vernunft getragene SelbstEinschätzung andeuten könnte, sind sorgfältigst vermieden worden; sein politisches Handeln ist – so wird versichert – ohne jeden Seitenblick auf die eigene Person erfolgt. Die Person muss völlig hinter der Funktion – und bestehe diese auch in der Herbeiführung eines epochalen geschichtlichen Einschnitts – zurücktreten. Wirkliche Bedeutung als Organ der Gerechtigkeit kann nur dem zugemessen werden, der sich nicht nur gegen überhebende Ehrung verwahrt, sondern auch einer nachträglichen Erhebung zum ideologischen Monument einen Riegel vorschiebt,20 sein »Andenken bei der Nachwelt« opfert (S. 95). 18

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Im Gedicht Gott aus dem Robespierre-Zyklus ist der Gegensatz in scharfen Antithesen ausformuliert. Der »brauchbare« Gott der Christen ist nach deren eigenem Bild geformt, vorwiegend nach Tugenden, denen sie selbst zwar das Wort reden, aber im Leben nicht nachkommen, wie Liebe, Wahrheit und Milde (Bd. II, S. 422f.). Céciles Verhalten ist in diesem Sinne von ihrer Tante, Soeur Angélique geprägt, die ihr die seelische Rührung als Probe der wahren Menschlichkeit des Revolutionsführers nahegelegt und dazu das Mitgefühl mit dem Dauphin als Kriterium bezeichnet hat. Damit dürfte zu tun haben, dass die Autorin – was bereits Abraham Huss feststellte – die seit den 1920er Jahren zunehmend positive Bewertung Robespierres auf Seiten politisch links gerichteter Historiker und Publizisten ignoriert, da sie ideologische

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Es ist deutlich, dass die Weigerung Robespierres, die fälschlich als Attentäterin angeklagte Cécile zu retten, im Zusammenhang mit der Abwehr einer idolatrischen Verehrung seiner Person steht.21 Indessen stimmt die These, dass hier an Cécile blasphemische Verhaltensweise oder vorwegnehmend künftige Idolatrie gleichsam bestraft wird, doch nachdenklich, wenn man sich klar macht, dass Robespierre zu der kniefälligen Messiasehrung seitens Céciles und Juliens nicht unwesentlich beigetragen hat. Julien hat ihm die quasi messianische Epiphanie zunächst nur unter Nennung allgemeiner, säkularer Versprechen und Symbole – Gerechtigkeit, Frieden und Umverteilung der Güter nahegelegt – und ihm als Würdezeichen den »Kranz aus Ölbaumblättern und -früchten« zugesprochen (S. 77), womit er Elemente der antiken Stilisierung beim bevorstehenden Fest des Höchsten Wesens ins Spiel brachte. Robespierres abwehrende Umdeutung als Dornenkrone bedeutet einen Wechsel der religiösen Dimension, die entscheidende Verschiebung zum Bild des leidenden Messias nach christlicher Ikonologie. Als Julien in diesem Sinne zurückfragt, bekennt sich der Angesprochene zu dem im Symbol ausgedrückten erlösenden Leiden, denn als ihm diese Krone dann direkt angetragen wird, erwidert er auf das drängende »Nimm!« mit einem kaum hörbaren »Gib!«. Erst daraufhin sehen sich Cécile und Julien zum Kniefall vor dem Schmerzensmann, samt liturgischer Formel, berechtigt. Und es bedarf »langer Stille«, bis Robespierre verkraftet, in welch missverständlicher Weise er diesen Vorfall ausgelöst hat, und zu seiner markanten Gegenrede ansetzen kann. Umso weniger erscheint es ethisch gerechtfertigt, dass der Unbestechliche die irregeführte Cécile dem Richtspruch zuführen lässt. Die Sorge um das eigene Selbstbild und um die Abwehr von dessen Steigerung zum Märtyrer tritt zum sittlichen Anspruch von Gerechtigkeit in Widerspruch. Wenn das Bild der Gerechtigkeit nur um den Preis von deren Verweigerung zu erhalten ist, wird dieses selbst zur götzendienerischen Ikone, die mit Opfern erkauft ist. Denn wie aus dem dramatischen Verlauf – im Einklang mit den Quellen – hervorgeht, wird mit Cécile auch die ganze Gruppe der Catherine Théot, einschließlich des ihr zugeordneten Juden, verurteilt und hingerichtet werden. Der Riss im Profil der Robespierre-Rolle entsteht mithin an der handlungsmäßig entscheidenden Stelle, als die Vorstellung vom leidenden Messias nach christ-

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Kanonisierung befürchtet (Zum Bild von Robespierre bei Gertrud Kolmar. In: Karin Lorenz-Lindemann: Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars. Göttingen: Wallstein 1996, S. 88-104). Diese Deutung hat sich gegen eine Auffassung, welche bei Robespierre vor allem politische Opportunität erkennt, in der Forschung durchgesetzt, vgl. Sigrid Bauschinger (Vindication through Suffering: Gertrud Kolmars Cycle of Poems »R.« In: Dagmar C. G. Lorenz/Renate S. Posthofen: Transforming the Center. Eroding the Margins. Essays on Ethnic and Cultural Boundaries in German Speaking Countries. Columbia: Camden House 1998, S. 44-61) im Gegensatz zu Monika Shafi (Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk. München: iudicium 1995. Exkurs: Cécile Renault, S. 157-159) sowie das Nachwort von R. Nörtemann (Bd. IV, S. 258).

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licher Ikonologie erfolgt. Dass damit die Vorausdeutung auf Robespierres Ende intendiert wird, ist zwar deutlich, doch lässt sich die Fülle der christlichen Assoziationen nicht ausblenden, zumal Robespierre ausdrücklich das Leidenspathos für sich in Anspruch nimmt, ohne gleichzeitig sich gegen dessen im Kultbild verwahrte Heiligung abzugrenzen. Im Unterschied zum lyrischen Robespierre-Zyklus, in dem verschiedene Facetten messianischer Zuschreibung keine Brüche erzeugen,22 treten diese im dramatischen Handlungsverlauf, der auf Kontinuitätsregeln des historischen Stücks angelegt ist, hervor. Ihre Bedeutung verstärkt sich dadurch, dass zu den Opfern des Justizurteils auch der Jude gehört, der als bereits Gefangener die geschichtliche Dimension des »Schauspiels« nachdrücklich auf europäische Dimension erweitert hat. Die Rolle des Jom-Tob leistet eine Erdung des »Unbestechlichen« und seiner Idealität in der jüdischen Geschichte. Dank des Doppelprofils als verfolgtes Individuum wie als Angehöriger des verfolgten Volkes bildet er die historische Negativform für das Positivbild eines aus jüdischen Traditionen hervorgehenden zukunftsträchtigen Geschichtshandelns, das im Zeichen der Gerechtigkeit steht. Im Nachruf des Gedicht-Zyklus, in dem Robespierre sein baldiges Sterben thematisiert, bekennt er sich nahezu im Wortlaut von Jom-Tob zu einer solidarischen Existenz mit den unter die Räder Gekommenen: »Und ich bin Staub, den tausend Füße scharren, / Ich bin – – und habe doch von euch gewußt«.23 Diese metaphorische Erklärung der Solidarität im Leiden wird im Drama nicht aufgegriffen, sondern durch die Dornenkrone ersetzt, die nicht nur – wie das Fest des Höchsten Wesens – religionspolitisch ambivalente Signale für die Christen sendet,24 sondern auch den Juden gleichsam im säkular-christlichen Dualismus durchfallen lässt. Wenn die christlich verwurzelte Charismatiker-Gruppe dann guillotiniert wird, ist der Jude – mitgefangen, mitgehangen – einfach inbegriffen. Für das geschichtliche Leid des Juden steht der Robespierre des Dramas sozusagen nicht mit ein. Sucht man nach einer weitergehenden Erklärung für diese Zusammenhänge, so bieten sich entstehungsgeschichtliche Gründe an. Als letztes Glied der Werkkette, die sich mit Robespierre befasst, liegen dem Schauspiel die Erfahrungen aus den ersten beiden Jahren der Konsolidierung nationalsozialistischer Macht bereits voraus und begleiten den Entstehungsprozess. Die Bedrohlichkeit für die deutschen Juden spiegelt sich in der Einfügung einer jüdischen Rolle und der in ihr erkennbaren immer dringlicher werdenden Beschäftigung der Autorin mit den Fragen der eigenen Identität und ihrer jüdischen Voraus22 23 24

Birgit R. Erdle: Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas. Wien: Passagen-Verlag 1994, S. 253ff. Bd. II, S. 474. Manfred Riedel spricht zu Recht von einer »pseudoreligiösen Politik« Robespierres, die ihn in der Perspektive des Dramas letztlich seinen Gegnern im Sicherheitsausschuss ausliefern wird (Das Scheitern der Revolution. Heiner Müller Der Auftrag im Vergleich mit Georg Büchner Dantons Tod und Gertrud Kolmar Cécile Renault. Magisterarbeit, LMU München 2008, S. 36).

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setzungen. Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Wirken einer wie auch immer zu denkenden Instanz von Gerechtigkeit, welches sich in bestimmten Momenten des Umsturzes oder des Wandels zu erkennen geben mag, ist für sie offensichtlich ohne Berücksichtigung dezidiert jüdischer Geschichtserfahrungen nicht mehr formulierbar. Der Weg von einer politisch orientierten Revolutionsideologie zu einer Neuorientierung in der Gedankenwelt jüdischer eschatologischer Vorstellungen25 bricht sich in der Konzeption des Dramas. Denn damit ergibt sich – gegenüber dem Essay und dem lyrischen Zyklus – ein partiell neues Koordinatennetz für die Robespierre-Gestalt, in dem motivliche und dramaturgische Reibungen auftauchen. Schon Mitte der neunziger Jahre hat Birgit Erdle auf die »unauflösbare Ambiguität der Argumentation« hingewiesen, die im Werk Kolmars zwischen der »Kritik der Gewalt« und der »Apologie von Gewalt« bestehe,26 und daher interpretatorisch für das Drama gefolgert, dass man – stückimmanent gesehen – das »tragische Schicksal« der Titelheldin als »indirekte Kritik der Robespierre-Figur« deuten könne. Damit ist in der Tat ein Dilemma bezeichnet, das sich verschärft. Denn die Entstehungsjahre der Dichtungen werfen auf die Darstellung der Schwellenzeit der Französischen Revolution, dem »katastrophalen Umkehrpunkt«,27 der mit der terreur-Phase bezeichnet ist, ihre grellen Lichter. Den personalen Angelpunkt bildet Jom-Tob. Aber nicht alle Spuren, die von seinen zwei Auftritten aus weiter gelegt werden könnten, sind bis ins Finale ausgeführt. Gehaltlich gesehen, gehen die Motive einer verborgenen messianischen Funktion uneingeschränkt in die abschließende Profilierung des Unbestechlichen ein und prägen so die Abwehr der christlichen Gegenpositionen. Aber die massive Stimme jüdischer Geschichtserfahrung, wie sie in Jom-Tob Gestalt gewinnt, findet in Robespierre lediglich mit der Forderung uneingeschränkter Gerechtigkeit ein Echo, nicht jedoch im Hinblick auf dessen politisches Handeln. Hier entsteht, gerade wegen der Komplementarität zwischen den Figuren, eine Lücke. Die zeitgeschichtliche Verdüsterung aus dem Deutschland der Jahreswende 1934/5 lässt es verständlich erscheinen, dass im Stück für die Unterschicht der Verlassenen keinerlei Aussicht eröffnet wird, weder für die religiösen Charismatiker, 25

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»Etwas Abstandvolles zeichnet Kolmars Verhältnis zum Judentum aus. Es ist nicht selbstverständlich gegeben und vertraut, sondern gleicht einer Expedition in die eigene Fremde«, resümiert Thomas Sparr (Gertrud Kolmar. In: Andreas B. Kilcher [Hg.]: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 327). Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 22), S. 19. – Im Hinblick auf die Bedeutung der langen prophetischen Passage, die der Predigt der »Erleuchterin« zugrunde liegt (S. 16), hat R. Nörtemann (Nachwort, Bd. IV, S. 258) darauf hingewiesen, dass sie im Drama in voller Länge zitiert wird, während sie im Gedicht-Zyklus um – für das Robespierre-Bild – »heikle Stellen« gekürzt ist. Damit dürfte ein Hinweis auf subtile Verschiebungen vorliegen, die sich für die Autorin aus der vertieften Beschäftigung mit jüdisch-alttestamentlichen Studien ergeben haben. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 22), S. 249.

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noch für die Leidensgestalten der physisch Zerstörten wie Sophie, und sicherlich nicht für die religiös-rassistisch Verfolgten wie Jom-Tob, sondern dass deren aller Leid unter dem Nimbus des »Unbestechlichen« verdeckt und mit dessen Scheitern beklagt wird. Gerade mit der Judengestalt ist aber die Robespierre-Rolle in eine historische Langzeit-Perspektive eingebettet worden, die das Schisma zwischen dem Gerechtigkeits-Anspruch und der Gewaltbereitschaft des Handelns besonders hervorhebt. Je mehr der Heros der Revolution als Gegenbild zur politischen Machthandhabung der deutschen Gegenwart der Autorin hervorgehoben wird, desto bedenklicher stimmt ein Handeln, das wider besseres Wissen eine Aburteilung unter falscher Beschuldigung zulässt, selbst wenn es dabei um die Reinhaltung und den Schutz einer hehren – wiewohl abstraktionsgefährdeten – Idee von Gerechtigkeit geht. Jom-Tob bildet den Vorbehalt gegen das Idol, obwohl ihn die Autorin in der Schlussphase des Dramas nicht mehr zu Wort kommen lässt. Von ihm fällt ein Schatten auf den Unbestechlichen.

Anat Feinberg

Schweizer Freiheitskämpfer als hebräische Helden: Wilhelm Tell in der Habimah, 19361

Es war ein heißer Sommerabend in Tel Aviv, der 28. Juli 1936 – nach dem jüdischen Kalender der Ausgang des Fastentags Tischa be-Aw, der an die Zerstörung des Tempels erinnert –, als sich der Vorhang hob zur hebräischen Premiere von Schillers Wilhelm Tell. Es war die zweite Regiearbeit – und die letzte – des deutsch-jüdischen Regisseurs Leopold Jessner2 im HabimahTheater. Drei Jahre waren vergangen, seitdem er über Nacht das nationalsozialistische Berlin verlassen hatte, nachdem Emmy Sonnenmann, seine ehemalige Schülerin und inzwischen Ehefrau von Hermann Göring, ihm heimlich geraten hatte, das Land sofort zu verlassen. Den Hass der Nationalsozialisten hatte er am eigenen Leib erfahren. Sein Ruhm und sein Ansehen als Intendant und Regisseur des Staatstheaters, der ersten Theateradresse der Weimarer Republik, waren von Anfang an von Hetzkampagnen und antisemitischen Anfeindungen begleitet gewesen. In Erez Israel wiederum glätteten sich die Wogen nur allmählich. Einhundert Tage waren vergangen, seitdem die Araber Palästinas aus Protest gegen die jüdische Einwanderung aus Europa in einen Generalstreik getreten waren. Der Streik wurde von Gewalt begleitet: Mord, Angriffe aus dem Hinterhalt, Brandstiftungen, Verwüstungen von Orangenhainen. Den Feindseligkeiten fielen Juden, Araber und sogar Briten zum Opfer. Einen Tag vor der TellPremiere kamen sechs Araber und ein britischer Soldat ums Leben. Eine englische Kommission unter dem Vorsitz von Lord Peel sollte innerhalb einer Woche die Gründe für die Eskalation klären und Vorschläge erarbeiten, wie die englische Mandatsmacht der Lage Herr werden könne. Ausgerechnet Schillers Tell inszenierte Jessner in Tel Aviv! Seit dem Aufstieg der Nationalsozialisten war es den Juden im Reich verboten, Schiller zu spielen, zu drucken oder gar zu interpretieren. Die neuen Machthaber verein1 2

Der Beitrag ist Teil einer im Erscheinen begriffenen größeren Studie zu Bialiks Übersetzung von Schillers Wilhelm Tell. Zu Leopold Jessner siehe: Anat Feinberg: Leopold Jessner: German Theatre and Jewish Identity. In: Leo Baeck Yearbook xlviii (2003), S. 111-133; Matthias Heilmann: Leopold Jessner – Intendant der Republik. Der Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen. Tübingen: Niemeyer 2005. Auch: Anat Feinberg: The Unknown Leopold Jessner: German Theatre and Jewish Identity. In: Going Public. Jews and the Making of Modern German Theatre. Hg. von Jeanette R. Malkin und Freddie Rokem. Iowa: University of Iowa Press 2009 (im Druck).

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nahmten den deutschen Dichter, »retteten« ihn, weil er ihrer Meinung nach jahrelang von Juden entstellt oder falsch interpretiert worden war. 1940 konnte man in der Jugendschriftenwarte lesen: »Schillers Wilhelm Tell bedeutete für die Erweckung und Stärkung der nationalen Gesinnung des deutschen Volkes soviel wie die Schlagkraft von drei Armeekorps.«3 Jessners Wahl erweist sich demzufolge einerseits als politischer Protest, andererseits als die Rückgabe eines geschätzten deutschen Dichters an seine jüdischen Verehrer.4 Es war die Uraufführung von Schillers Tell in hebräischer Sprache, und zwar in der Übersetzung des Nationaldichters Chajjim Nachman Bialik. Weit entfernt von der ersehnten jüdischen Heimat hatte Bialik Tell ins Hebräische übertragen, in Odessa, zur Zeit des russischen Bürgerkriegs, als dort eine Hungersnot herrschte. Seine Ehefrau Mania erzählt in ihren Memoiren: »In den Tagen der Bolschewiken, als es fast unmöglich war, Waren zu bekommen, Bedarfsartikel wie Licht, Heizung oder ähnliches, stand ich manchmal in der Küche und Chajjim Nachman lag im Bett, denn er arbeitete bis zu später Stunde beim Schein einer kleinen Lampe und übersetzte den Wilhelm Tell. Plötzlich höre ich einen Schrei aus seinem Zimmer. Ich laufe erschrocken zu ihm: ›Was ist passiert?‹ Er sitzt im Bett und schreit: ›Ich will nach Erez Israel‹.«5 Kein Zweifel: Der Kampf des Schweizer Volkshelden für die Freiheit seines Volkes faszinierte den zionistischen Dichter. Fern von Erez Israel übersetzte er die Forderung Schillers nach Freiheit und Unabhängigkeit, angetrieben von tiefer Solidarität mit seinem eigenen Volk. »Es ist die Vision eines Volkes, das sich erhob, als das Maß voll war«, konstatiert Yaakov Fichman.6 Manch einer behauptete gar, Bialik habe in seiner Übertragung die Makkabäer wiederauferstehen lassen.7 Mehr noch: Bialik fühlte sich zu Tell hingezogen, weil er darin etwas Alt-Biblisches fand.8 Als der Nationaldichter das Drama in das »Alt3 4

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E. Neugebauer: Schülerbücherei und Jugendschrifttum im Dienste der Wehrerziehung. In: Jugendschriftenwarte (1940), H. 5/6, S. 45. Beispielhaft für die Verehrung Schillers unter den Juden ist der Dichter und Essayist David Frischmann. Siehe seinen Artikel »Meshorer le-Dorot« (verfasst 1905) in: Kol Kitwej Frischmann. Bd. 6. Warschau, New York: Verlag Lili Frischmann 1930, S. 9-18. Zu Schiller und die Juden siehe: Hans Otto Horch: Friedrich Schiller, die Juden und das Judentum. In: Aschkenas 16 (2006), H. 1, S. 17-36; Andreas Kilcher: Geteilte Freude. Schiller-Rezeption in der jüdischen Moderne. Mit einer Edition der hebräischen und jiddischen Übersetzungen der Ode an die Freude. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2007, S. 31-34. Mania Bialik: Pirkej Sichronot. Tel Aviv: Dvir 1963, S. 25, zitiert nach David Aberbach: Bialik. Tel Aviv: Idanim 1992, S. 24. Yaakov Fichman: Al ha-Teatron ha-klassi. In: Bama 1-2, Oktober 1936, S. 3-14, hier S. 13. Siehe Ernst Simon: Chajjim Nachman Bialik. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Berlin: Schocken 1935, S. 120. Vgl. Hilel Barzel: Schirat ha-Techija. Chajjim Nachman Bialik. Tel Aviv: Sifrijat Poalim, hakibbutz haarzi 1990, S. 494495. Fichman, Al ha-Teatron ha-klassi (wie Anm. 6), S. 13.

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Biblische« übertrug, gab er dem Stück dadurch auch etwas vom Geist Schillers wieder. So jedenfalls empfanden es diejenigen, die in Schillers Original Motive und Redewendungen des Alten Testaments suchten und fanden, wie etwa der aus Deutschland stammende Pädagoge und Philosoph Akiva Ernst Simon, der daran erinnerte, Schiller selbst habe den großen Nutzen erwähnt, den er aus dem Bibelstudium an der Stuttgarter Karlsschule gezogen habe.9 Bei der Übersetzung des Tell hielt sich Bialik an den Urtext, auch wenn er hier und da eine Zeile ausließ oder hinzufügte. Seine reiche, an die Bibel angelehnte Sprache ist voller Assoziationen und Anspielungen auf Verse und Episoden im Alten Testament. Sie steigert die Dramaturgie und verbindet die Aussage des Stücks mit dem Traum von einer jüdischen Renaissance in der Heimat. Auffallend sind die Anspielungen und Parallelen zwischen der Versklavung der Israeliten in Ägypten und den unter dem Joch der Habsburger leidenden Schweizern, die vom Beginn bis zum Ende Bialiks Übertragung durchziehen.10 Bialik assoziiert Geßler mit dem Pharao, zieht eine Parallele zwischen der Sklaverei in Ägypten und der Demütigung der Eidgenossen. Dennoch nimmt sich Bialik eine poetische Freiheit; eine genaue Symmetrie wird nicht angestrebt.11 So beispielsweise im Falle von "ʤʺʲ ʤʮʫʧʺʰ ʤʡʤ": In der biblischen Erzählung sind es die Ägypter, die die Hebräer »durch List niederhalten wollen« (2. Mose 1:10), damit aus ihnen kein großes Volk wird. Bialik hingegen legt den Satz in den Mund eines Schweizers, der gemeinsam mit seinen Landsleuten darüber nachdenkt, wie sie sich vom Joch des Tyrannen befreien können. Bialik reichert durch den Rückgriff auf die Bibel das Stück um eine nationale, jüdische Dimension an, und zwar vor allem durch die assoziative Verwendung der Exodus-Geschichte. Darüber hinaus schimmern in seiner Übertragung auch heroische Episoden aus dem Buch Josua durch, die die Eroberung – oder Befreiung – des Landes Kanaan beschreiben, sowie Stellen aus dem Buch der Richter, die von den ersten Schritten des Volkes im eigenen Land erzählen. Bialiks Übersetzung des Wilhelm Tell, die zuerst in der Zeitschrift Hatekufa abgedruckt wurde, erschien 1923 in Berlin als vierter Band der prachtvollen Jubiläumsausgabe anlässlich des 50. Geburtstags des Nationaldichters.12 Zur gleichen Zeit am gleichen Ort erlebte das Stück eine eindrucksvolle Neuinszenierung. Im Staatstheater am Gendarmenmarkt spielte der berühmte jüdische 9 10 11

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Ernst Simon: Hadawar nischma. In: Bama 1-2, Oktober 1936, S. 42-45, hier S. 44. Siehe auch Simon, Chajjim Nachman Bialik (wie Anm. 7), S. 119-123. Zur Analogie zwischen Tell und Mose siehe auch: Paul Landoi: Schiller we-Tell beHeara jisraelit. In: Haaretz, 28. Juli 1936. Vgl. Dov Sadan in dem Kapitel »Bejn Laschon noda le-Laschon nischma we-ifcha«. In: Chajjim Nachman we-Darko bi-Leschono u-Leschonoteha. Tel Aviv: Hakibbutz hameuchad 1989, S. 387-410. Über die künstlerischen Aspekte der Ausgabe von 1923 und über Bialiks Zugang zur Kunst schreibt Elik Mishori: Lezajer be-Iwrit. Joseph Budko meazew et Mahadurat Jowel ha-chamischim schel Kitwej Bialik. Tel Aviv: Am Oved 2006.

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Schauspieler Fritz Kortner die Rolle Geßlers. Regie führte der jüdische Intendant – Leopold Jessner. Dass Bialik die Inszenierung gesehen hat, ist freilich höchst unwahrscheinlich. »Zwar wohne ich hier, doch ist die Stadt mir fremd«, bekannte er in einem Brief.13 Drei Jahre weilte er in Berlin und zeigte kein Interesse an der quirligen Metropole, weder am unruhigen politischen Alltag, noch an der Vielfalt der Kultur in der Weimarer Republik. Dreizehn Jahre später, 1936 in Tel Aviv, werden sich Bialiks und Jessners Wege kreuzen, auch wenn der Nationaldichter zu dieser Zeit schon tot war. Es war Jessners fünfte (!) Tell-Inszenierung. Auch diesmal blieb er seinem Regiekonzept treu und deutete das Drama als einen universellen Aufruf zur Freiheit: »Hier ist eine ewig-menschliche Idee.«14 Der Kampf um Freiheit ist das Grundmotiv der Inszenierung. Nicht Tell steht im Mittelpunkt der Aufführung, sondern seine Landsleute, die zusammen gegen die Tyrannei eines fremden Herrschers aufbegehren. So begann die Aufführung mit einem Zug aneinander geketteter Gefangener, gedemütigt und gebeugt unter der Knute fremder Herrschaft, und endete mit dem Festumzug der jubelnden Befreiten, die Schillers »Ode an die Freude« in Beethovens Vertonung (aus der 9. Symphonie) sangen15 – eine Hinzufügung Jessners. Nach alter Gewohnheit kürzte der »dramaturgische Regisseur« den Urtext erheblich, strich ganze Szenen, um das Tempo zu beschleunigen und die Dramatik herauszuarbeiten. Seiner Meinung nach war mit dem Tod Geßlers der Höhepunkt erreicht, demzufolge verzichtete er auf den fünften Akt, und damit beispielsweise auf den Fall der verhassten Feste Zwing Uri und auf den Auftritt Parricidas. Wie bereits in seinen vorherigen Inszenierungen löste Jessner das Stück aus dem schweizerischen Kontext und verzichtete bewusst auf idyllische Landschaften und folkloristische Elemente. Mehr noch: Bei der Aufführung in der Habimah verzichtete er sogar auf die sogenannte Jessner-Treppe, die markante Komponente seiner Tell-Inszenierung von 1919. Auch diesmal zog er ein minimalistisches, suggestives Bühnenbild vor: »Die Schweiz ist nebensächlich in dem Stück«, konstatierte Jessner.16 Das Bühnenbild zeigte die Natur nur andeutungsweise, schneebedeckte Alpen oder Täler waren nicht zu sehen. »Die Bühne war ein Bau, ohne Stoffe und Dekorationen. Monumentale Linien und

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Chajjim Nachman Bialik: Brief an Berdyczweski nach Ausgang von Jom Kippur 1921. In: Iggerot B Chajjim Nachman Bialik. Hg. mit Anmerkungen von P. Lachower. Tel Aviv: Dvir 1937, Bd. 2, S. 216. Leopold Jessner: Mi-Sichot Chug Habimah ba-Noar. In: Bama 1-2, 1937, S. 76. Der Dirigent war Fordhaus Ben-Zissi (1898-1981), Sohn einer orthodoxen russischjüdischen Familie, der auch nach seiner Einwanderung nach Palästina an der Lehre des Chassidismus festhielt. Siehe: Jehoash Hirshberg: Music in the Jewish Community in Palestine 1880-1948: A Social History. Oxford: Clarendon Press 1996, S. 93f. Jessner, Mi-Sichot (wie Anm. 14), S. 76.

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Flächen«17, nicht zufällig konzipiert von dem deutsch-jüdischen Maler Shalom Sebba.18 Jessner, der Sebba zum Habimah-Theater brachte, war bereits in Berlin ein enger Freund des Malers. Damals war dieser noch unter dem Namen Siegfried Sebba bekannt. Obwohl er zwanzig Jahre jünger als Jessner war, fanden die beiden rasch eine gemeinsame Sprache. Beide stammten aus Königsberg, der Hauptstadt Ostpreußens. In den 1920er Jahren, als Sebba seine Karriere als Maler im Stil der Neuen Sachlichkeit begann, war Jessner auf dem Höhepunkt seiner Theaterkarriere. Ein Portrait Jessners, das Sebba 1925 malte, zeugt von der engen Freundschaft beider Künstler. Wie gut kannte Sebba seinen Freund! Auf den ersten Blick zeigt sich in dem Gemälde der hochgewachsene, pedantisch gekleidete Regisseur als imposante preußische Autorität; sieht man genau hin, bemerkt man den schrägen Fußboden sowie die verzerrten Proportionen, die Haltlosigkeit und Unruhe suggerieren. Hinzu kommt noch der traurige Blick aus Jessners Augen und nicht zuletzt ein Zettel auf dem Boden – Hinweis auf einen bekannten Charakterzug Jessners, der – abergläubisch – es als schlechtes Omen ansah, wenn ein Zettel auf den Boden fiel. Sebba wanderte 1935 nach Palästina ein, nur einige Monate vor Jessners Ankunft. Bereits 1932 hatte er sich mit Tell auseinandergesetzt, als er das Plakat für eine Tell-Inszenierung in Darmstadt gestaltete. Sein Bühnenbild für die Habimah-Aufführung des Tell wurde einstimmig gelobt. Es folgten weitere Bühnenbilder, 1952 erhielt Sebba den Dizengoff-Preis für sein berühmtestes Bild »Die Schur«. Sebba stellte 1963 im Frankfurter Kunstkabinett aus und ließ sich in Hofheim nieder – unweit von Bad Homburg, wo Bialik seinerzeit geweilt hatte. Dort verstarb er 1975 nach einer schweren Krankheit. »Aufgrund seiner stark angegriffenen Gesundheit, die das Klima in Israel nicht verträgt«, übersiedelte er nach Deutschland, schreibt sein Biograph Karlheinz Gabler.19 Ist das die ganze Wahrheit? Trotz Jessners Bemühungen, den Tell von der Bindung an Zeit und Ort zu lösen, suchte und fand das hebräische Publikum einen aktuellen Bezug. Der Befreiungsaufruf der Schweizer erinnerte einige an die Balfour-Deklaration, andere sahen in der braunen Uniform Geßlers und seiner Schergen eine Anspielung auf die Nationalsozialisten. Wie zu erwarten, interpretierten die Zuschauer den Kampf der Schweizer als ein Vorbild für den Kampf des Jischuw um politische Unabhängigkeit, zumal Bialik – wie wir gesehen haben – das national-hebräische Moment in seiner Übertragung akzentuiert hatte. Doch 17 18 19

Bama 4-5, 1937, S. 62. Über das Bühnenbild berichtet Manfred Geis: Wilhelm Tell. In: Mitteilungsblatt, 25. August 1936. Karlheinz Gabler. In: Siegfried Shalom Sebba 1897-1975. Werkausstellung. Gemälde – Zeichnungen – Druckgrafiken. Hg. vom Magistrat der Stadt Hofheim im Taunus 1983, S. 29. Ich bedanke mich beim Magistrat der Stadt Hofheim für die Zusendung des Büchleins. Siehe auch: Karheinz Gabler: Siegfried Shalom Sebba. Maler und Werkmann. Kassel: Thiele und Schwarz 1981.

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Jessner beharrte auf seiner Sicht: »Nehmt Tell auf als eine Freiheitsdichtung, als ein menschliches Manifest gegen die Versklavung und die Tyrannei«, sagte er nach der Premiere.20 Das Regiekonzept eines kollektiven Freiheitskampfs spiegelte sich auch in der Arbeitsweise des Ensembles wider, das keine Starallüren aufkommen ließ. »Niemand konnte sich in den Vordergrund spielen«, schrieb der Theaterkritiker der Tageszeitung Haboker.21 Aharon Meskin als Tell war ein Held wider Willen, »eine Art Golem-Figur, schon äußerlich in der massigen, täppischen Wucht, der Plumpheit des Auftretens«.22 Er stellte die »Schlichtheit und Naivität eines Mannes des Friedens«23 dar. Ihm gegenüber stand »der klassische Tyrann«24, Shimon Finkels Geßler, der eine »mephistophelische Grausamkeit« verkörperte. Hanna Rovina war eine leidenschaftliche Armgard, die in zorniger Verzweiflung vor Geßler kniete und um das Leben ihres Mannes flehte, Tamar Yudelevitch als Tells Ehefrau Hedwig war eine »zu weiche und gemütliche Frau«25, während Fania Lubitsch als Walter, Tells Sohn, zum »erschütternden Eindruck« in der Apfelszene – »eine große menschliche Tragödie«26 – beitrug. Der Premiere, die mit »stürmischem Applaus« zu Ende ging, folgte eine Feier, bei der allen Beteiligten gedankt und mit einer Schweigeminute Bialiks gedacht wurde, der zwei Jahre zuvor verstorben war.27 Ebenfalls wurde »allgemeine Bewunderung für das Stück und dessen Aufführung«28 in einem Gespräch spürbar, das Jessner im »Habimah-Jugendkreis« (Chug Habimah baNoar) führte. Doch mit Ausnahme einer Kritik, die Jessners Zugang uneingeschränkt lobte, belegen die Besprechungen insgesamt eine ziemlich kritische Aufnahme. Das Publikum, das kaum über Erfahrungen mit klassischen Werken in hebräischer Übersetzung verfügte, zeigte seinen Unmut über die Fülle blumiger poetischer Dialoge. Einige wunderten sich, weshalb man sich ausgerechnet für dieses Stück entschieden habe, waren es doch »schreckliche Tage, […] ungünstig für die Aufnahme von Ideen« – so der Kritiker der Tageszeitung Davar.29 Mehr noch: Es gab sogar Stimmen, die behaupteten, »die flammenden Reden der Patrioten, die Verschwörung und die Attentate« spiegelten keineswegs den zionistischen Freiheitskampf wider, sondern erinnerten – 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Jessner, Mi-Sichot (wie Anm. 14), S. 77. J. Heftman: Wilhelm Tell be-Habimah. In: Haboker, 31. Juli 1936, Archiv HaMerkas ha-Jisraeli le-Tiud Omanujot ha-Bama (Hamila), Sig. 10.2.7. F.R.L.: »Wilhelm Tell« in Tel Aviv. Eine Inszenierung von Leopold Jessner. In: Pariser Tageszeitung 1 (1936), Nr. 71, 21. August 1936, S. 6. Shmueli: Wilhelm Tell. In: Haarez, 31. Juli 1936. Hamila, Sig. 10.2.7. Heftman, Wilhelm Tell be-Habimah (wie Anm. 21). Ebd. Shmueli, Wilhelm Tell (wie Anm. 23). O. N.: Hazagat ha-bechora schel Wilhelm Tell. In: Davar, 30. Juli 1936. Jessner, Mi-Sichot (wie Anm. 14), S. 76. E. F. (vermutlich Emil Feuerstein): Wilhelm Tell in Habimah. In: Davar, 31. Juli 1936.

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kaum zu glauben – an »die Rhetorik unserer Angreifer«!30 Nicht nur die politischen Bezüge brachten die Gemüter in Wallung. Einen grundsätzlichen Aspekt spricht Joseph Heftman in seiner Rezension an: Die Habimah suche sich Theaterstücke aus dem Kanon der Weltliteratur – ohne Orts- und Zeitbezug. Die beiden Regiearbeiten Jessners, Der Kaufmann von Venedig sowie Tell lieferten Heftman Beweise für seine These von der Missachtung der pädagogischen Aufgabe und der Überheblichkeit des Habimah-Theaters gegenüber seinem Publikum. Statt das Volkstümliche zu fördern und das zu zeigen, was dem Publikum nahe stehe, verfolge das Ensemble eine falsche künstlerische Agenda, »eine Koketterie, die erhabene Rollen anstrebt […] samt dem Snobismus, der sie begleitet«.31 Jessner hatte seine Verpflichtung dem klassischen Repertoire gegenüber und seine Liebe zu Schiller von Beginn seiner Regiekarriere an unmissverständlich deutlich gemacht. In Tel Aviv arbeitete er jedoch mit einer Theatergruppe, die so gut wie keine Erfahrung mit diesem Repertoire hatte. Shimon Finkel (Geßler), der Jessner noch aus seiner Berliner Zeit kannte und ihn als Regisseur und Menschen hoch schätzte, erinnert sich: »Nicht von ungefähr sagte Jessner bei einer Probe, dass viele von uns ihm wie ›Schweizer Chassidim‹ vorkämen. Er bat mich, in seinem Namen einem Schauspieler auszurichten: ›Sag ihm, so könne man Schiller nicht spielen‹.«32 Doch nicht nur die Tatsache, dass es den Schauspielern an Erfahrung mit klassischen Stücken mangelte, erklärte das Unbehagen. »Vor allem lag es an Bialiks Übersetzung, die hochpoetisch war, der Alltagssprache enthoben, und die wir nicht zu ändern wagten«, bekennt Finkel und fügt zu: »Wäre Bialik am Leben gewesen, hätte er sicherlich Hilfe geleistet, um die Sprache unserer Bühne anzupassen.«33 In der Tat: Obwohl alle erkannten, dass Bialiks Sprache zu ›literarisch‹ war, begegnete man ihr mit großer Ehrfurcht. So auch die Kritiker. Der eine lobte das Bemühen der Schauspieler, ein anderer tadelte sie: Die Aussprache sei mangelhaft, Bialiks »Meisterwerk« erhalte keinen klaren Ausdruck, nur mit Mühe könne man »das Stück hören, der Dichtung lauschen«.34 Nur ein einziger Kritiker erkannte den Stein des Anstoßes in der Übersetzung selbst. Joseph Heftman nahm die Schauspieler in Schutz und sah die Verantwortung – wenn auch in einer subtilen Weise – bei Bialik: »Trotz Schliff und großer Schönheit eignet sich Bialiks Übersetzung eher für die Rezitation als für das Schauspiel. Ich glaube, man könnte einiges ändern und die Übersetzung der Bühne anpassen. Für die Zuschauer ist die Sprache zu gehoben. Man kann doch nicht verlangen, dass das Publikum den Bühnentext mit zur Aufführung bringen soll.«35 30 31 32 33 34 35

So J. Heftman in seiner bereits oben zitierten Theaterkritik. Manfred Geis berichtet über diese Haltung in seiner Theaterkritik »Wilhelm Tell« (wie Anm. 18). Heftman, Wilhelm Tell be-Habimah (wie Anm. 21). Shimon Finkel: Bima u-Kelaim. Chajjej Sachkan. Tel Aviv: Am Oved 1968, S. 172. Ebd. Shmueli, Wilhelm Tell (wie Anm. 23). Ähnlich äußert sich Manfred Geis. Heftman, Wilhelm Tell be-Habimah (wie Anm. 21).

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Ein ambivalentes Gefühl zeigt auch Yaakov Fichman der Übersetzung gegenüber. Fichman, dessen eigene Dichtung von Bialik beeinflusst wurde (»er ist an erster Stelle ein Essayist, und etwas von Haman hat er auch« – so Bialik über Fichman36) lobte zwar die Übersetzung des verehrten Nationaldichters, seinen »verblüffenden Stil«37, dennoch ist auch Kritik in seinem Urteil enthalten: Bialik habe in die Übersetzung sein ganzes Können investiert, schreibt Fichman, und in Klammern (!) fügt er hinzu: »manchmal vielleicht zu viel« – ein leiser Hinweis auf den hochpoetischen und pathosreichen Stil. Doch kaum findet Fichman bei Bialik ein Manko, nimmt er ihn auch schon in Schutz: Nicht in der Übersetzung liegt der Fehler, sondern bei den Schauspielern, die Bialiks Versen nicht gewachsen seien!38 Jessner selbst konnte sich kein Urteil über die Übersetzung bilden. Seine Hebräischkenntnisse, die er in den wenigen Monaten seines Aufenthaltes in Palästina erworben hatte, waren – trotz seiner großen Liebe für die Sprache – minimal. Seine Hoffnung, in Erez Israel Wurzeln zu schlagen und einen Beitrag zum Aufbau einer hebräischen Bühnenkunst zu leisten, erfüllte sich nicht. Seine Inszenierung von Shakespeares Kaufmann von Venedig rief einen Skandal hervor und endete in einem öffentlichen »literarischen Prozeß«.39 Sein Tell begeisterte die wenigsten. Nach nur zwanzig Aufführungen wurde Jessners Tell abgesetzt.40

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Shimon Rawidowitz: Sichotaj im Bialik. Hg. von Benjamin Ravid und Yehuda Friedländer. Jerusalem, Tel Aviv: Dvir 1983, S. 63. Fichman, Al Ha-Teatron ha-klassi (wie Anm. 6), S. 11. Ebd., S. 12. Siehe: Shelly Zer-Zion: Shylock ole le-Erez Jisrael. Ha-Socher mi-Wenezija bewimujo schel Leopold Jessner bi-Shenat 1936. In: Kathedra 110 (2004), S. 73-100; siehe auch Feinberg, Leopold Jessner: German Theatre and Jewish Identity (wie Anm. 2), S. 127-128. Na’ama Sheffi behauptet, einer der Gründe sei die Einschätzung gewesen, bei Schiller gebe es einen Überschuss an Nationalismus; dieser wiederum könnte den Nazis dienen. Siehe Sheffi: Germanit be-Iwrit. Tirgumin mi-Germanit ba-Jischuw ha-iwri 1882-1948. Jerusalem: Yad Yitzhak Ben Zvi und Leo Baeck Institut 1998, S. 202.

Ingrid Belke

»Wir sitzen alle auf dem Pulverfass«1 Zur späten Emigration des Publizisten Kurt Pinthus 1937/38

Der Publizist, Lektor, Literatur- und Theaterkritiker Kurt Pinthus (1886-1975) hatte in seinem Leben viel Glück gehabt: Nach seinen ersten Studiensemestern der Literaturgeschichte, Philosophie und Geschichte in Freiburg/Br., Berlin, und Genf studierte er schließlich an der Universität Leipzig, die damals in verschiedenen Fachbereichen Neuerung und Aufbruch signalisierte: Dort versuchte der Historiker Karl Lamprecht die traditionelle, an großen Männern und großen politischen Ereignissen orientierte Geschichte durch eine sozialpsychologische Kulturwissenschaft zu überwinden, die neben den politischen auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Erscheinungen erfassen sollte; 1909 gründete er in Leipzig das Institut für Kultur- und Universalgeschichte. Pinthus hat seine Erinnerungen an Lamprechts Vorlesungen später in einem Aufsatz festgehalten.2 In Philosophie hörte Pinthus bei Wilhelm Wundt, der damals wesentlich dazu beitrug, dass die Psychologie als ein wissenschaftliches Fach etabliert wurde; und Literaturwissenschaft studierte er bei Albert Köster, der sich in Leipzig auch um die Begründung der Theaterwissenschaft sehr verdient gemacht und Pinthus viele Anregungen vermittelt hat. Bei ihm promovierte Pinthus im Dezember 1910 mit der Arbeit Die Romane Levin Schückings. Ein Beitrag zur Geschichte und Technik des Romans, die auf Kosten der Universität 1911 in Leipzig erschien. Im Juli 1909 lernte Pinthus den vielseitigen Aachener Schriftsteller Walter Hasenclever (1890-1940) kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband.3 Sie trug mit dazu bei, dass Pinthus schließlich 1937/38 das Wagnis 1

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Zitat aus dem Brief von Walter Hasenclever an Kurt Pinthus, vom 17. Okt. 1937. – In diesem Beitrag wird mehrfach aus unveröffentlichten Briefen und Dokumenten von Kurt Pinthus und Walter Hasenclever zitiert, deren Nachlässe sich im Deutschen Literaturarchiv/Marbach a. N. (DLA) befinden, dem ich für die Abdruckerlaubnis danke. Kurt Pinthus: Lamprecht und sein Erbe. Von einem seiner Schüler. In: Berliner Tageblatt, Nr. 254 vom 20. Mai 1915; wieder in: Kurt Pinthus: Der Zeitgenosse. Literarische Portraits und Kritiken. Ausgewählt [von Reinhard Tgahrt] zu seinem 85. Geburtstag am 29. April 1971. Marbach a. N.: Dt. Literaturarchiv 1971 (Marbacher Schriften; 4), S. 31-34. Dieser »brüderlichen Freundschaft«, für die gegenseitige Hilfe und Verträglichkeit charakteristisch waren, widmete Pinthus schon 1925 den Artikel »Wilhelm Hasenclever, der Freund«, erstmals in: Blätter des Deutschen Theaters 13 (1925/26), H. 5, S. 2-4; wieder in: Pinthus, Der Zeitgenosse (wie Anm. 2), S. 56-58.

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der Emigration aus Deutschland einging. Walter Hasenclever, der aus einem rheinischen großbürgerlichen Haus stammte, hatte 1908, nach seinem Abitur, mit den Eltern gebrochen und studierte, mit Unterstützung der geliebten Großmutter Reiß, in Leipzig Literatur und Philosophie. Er gehörte zusammen mit Pinthus und Ernst Rowohlt, der um 1908 in Leipzig einen Verlag gründete, zum Zentrum jener literarischen Bewegung, die später »Expressionismus« genannt wurde.4 Pinthus wurde nach der Promotion, durch den Kontakt mit Theodor Wolff, Leipziger Korrespondent des Berliner Tageblatt, zu gleicher Zeit freier Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung, der Schaubühne, der Zeitschrift für Bücherfreunde, seit 1912 fester Mitarbeiter und Theaterkritiker des Leipziger Tageblatt, gleichzeitig literarischer Berater und Lektor des Rowohlt Verlages, anschließend für Kurt Wolff, der den Verlag im Februar 1913 übernommen hatte. So wurde er gleichzeitig Anreger, Träger, Vermittler und Vorkämpfer für die neue Kunstrichtung. Der Aufbruch und Widerstand einer jungen Generation gegen die saturierte Moral des Bürgertums im Kaiserreich bedeutete für ihn ein großes Erlebnis, das sich noch seinen Zuhörern mitteilte, wenn er später davon erzählte. Man traf sich am Mittagsstammtisch in Wilhelms Weinstuben, junge Autoren kamen aus Berlin, Prag, München, Wien: Franz Werfel, Franz Kafka, Max Brod, Albert Ehrenstein, Alfred Richard Meyer und sein Kreis, Kurt Hiller, Theodor Däubler, Paul Zech, Johannes R. Becher, Rudolf Leonhard, Gottfried Benn u. a. Pinthus entdeckte viele Talente und gab die Anregung zu unzähligen Publikationen, die für die Ideen dieser jungen Generationen beispielhaft waren. Für neue Medien aufgeschlossen, schrieb Pinthus, lange vor Siegfried Kracauer, Béla Balázs und Rudolf Arnheim, Filmkritiken: Schon am 24. April 1913 besuchte er in vorgeschriebener Gesellschaftsgarderobe die Eröffnung des ersten freistehenden Kinopalastes in Leipzig,5 des Königspavillon-Theater, zu der der italienische Monumentalfilm »Quo vadis?«6 vorgeführt wurde, und veröffentlichte im angesehenen Leipziger Tageblatt am 25. April eine ausführliche Kritik, in der er auch prinzipiell die Qualitäten des Theaters und die neuen Möglichkeiten des Films reflektierte – zum Entsetzen des gebildeten Publikums. Schon im Winter 1913 hatte er das Das Kinobuch geplant, das etwa fünfzehn, speziell für das junge Kino erdachte Filmszenarios enthielt.7

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Einer ihrer Höhepunkte war die erste deutsche geschlossene Aufführung von Hasenclevers Stück »Der Sohn« in Dresden am 8. Oktober 1916. Sie machte den bisher unbekannten Hauptdarsteller aus Prag, Ernst Deutsch, ebenso berühmt wie den Autor. Bis dahin wurden Filme in Vorstädten oder in langen, leerstehenden Ladenpassagen aufgeführt. Nach dem gleichlautenden berühmten Roman von Henryk Sienkiewicz. Mit einer programmatischen Einleitung von K. Pinthus. Leipzig: Kurt Wolff 1914. Zu den Autoren zählten K. Pinthus, Arnold Höllriegel, M. Brod, W. Hasenclever, Paul Zech, Else Lasker-Schüler, Albert Ehrenstein u. a.

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Im August 1914 trieb der Krieg die Gruppe auseinander: Pinthus wurde im Sommer 1915 in Magdeburg eingezogen; aufgrund eines Unfalls garnisondienstfähig, leitete er das Entschädigungsbüro für Kriegsbeschädigte in seiner Kaserne8 und publizierte weiter kritisch-essayistische Arbeiten für die Almanache des Kurt-Wolff-Verlags, für die Weissen Blätter, Die Aktion und die Zeitschrift für Bücherfreunde. Nach dem Ausbruch der Revolution am 8. November 1918 wurde er einstimmig von allen Truppenteilen zum obersten Soldatenrat des 4. Armeekorps gewählt und hielt am gleichen Tag vom Balkon des Regierungsgebäudes am Domplatz vor Zehntausenden eine Rede, die er mit der Ausrufung der Republik beendete.9 Nach einem Aufenthalt im Frühjahr 1919 auf dem Weißen Hirschen bei Dresden, zusammen mit Hasenclever und Kokoschka, übersiedelte Pinthus im Frühsommer nach Berlin, wo er an der Neugründung des Rowohlt Verlages beteiligt war und dort die Serie Umsturz und Aufbau herausgab und Ende 1919 die Anthologie expressionischer Lyrik Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung, die dank der Einleitung von Pinthus zur Entwicklung des literarischen Expressionismus ein riesiger Erfolg und ein literarisches Standardwerk wurde.10 Pinthus hatte sich in den zwanziger Jahren immer mehr dem Theater und den neuen Medien Film und Rundfunk zugewandt. Er gelangte rasch in die fortschrittlichen Theater- und Filmkreise (Ludwig Berger, K. H. Martin, Ernst Deutsch, Fritz Kortner, Ernst Lubitsch, Emil Jannings, Eric Charell). Max Reinhardt engagierte ihn 1920/21 als Dramaturgen. 1922 wurde er an das neugegründete 8-Uhr-Abendblatt als Theater- und Literaturkritiker berufen; die Korrespondententätigkeit von Hasenclever am 8-Uhr-Abendblatt in Paris (1924-1928) hatte übrigens Pinthus vermittelt. Pinthus schrieb als freier Mitarbeiter für die von Stefan Großmann herausgegebene Zeitschrift Das Tagebuch, für Choses de Théâtre (Paris), Der Querschnitt, Die literarische Welt, Vogue u. a. 1925 forderte ihn die erste und größte Rundfunkstation, die Berliner Funkstunde, auf, dort als erster literarische Vorträge zu halten; er begann mit Franz Werfel (mit eingelegten Schauspielerrezitationen) und wurde bald sehr populär und Mitglied der Literarischen Kommission des Berliner Rundfunks. Seit 1929 hielt er auch Vorlesungen an der Lessing-Hochschule. Trotz und wegen dieser vielseitigen Publikationstätigkeit führte er ein sehr geselliges 8 9

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Nach Kurt Pinthus, Entwurf zu einer Autobiographie (verf. 1966). In: PinthusNachlass, DLA (Abk.: PN), S. 3. Ebd. – Hasenclever, anfangs kriegsbegeistert, wurde 1915, bereits entschiedener Kriegsgegner, in Belgien und an der Ostfront eingesetzt, simulierte 1916 ein psychisches Leiden und wurde in einem Dresdner Sanatorium behandelt. Sie wurde nach dem 2. Weltkrieg von Kurt Pinthus u. d. T. »Menschheitsdämmerung – Ein Dokument des Expressionismus« mit einem weiteren Vorwort und ergänzten Bio- und Bibliographien neu herausgegeben (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1959).

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Leben, sah fast jedes Theaterstück, fast jeden Film, besuchte Variétés, ging zu großen Bällen und traf sich mit Freunden. Mit der Machtübernahme Hitlers war das alles ganz schnell vorbei: Pinthus stand schon auf der ersten »Schwarzen Liste« vom 16. Mai 1933 und erhielt Schreibverbot. Er durfte nur noch für jüdische Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen. Bald wurde ihm auch verboten, öffentliche Reden zu halten.11 Im Rahmen des bis 1938 geduldeten und überwachten »Jüdischen Kulturbundes« hoffte er, trotz Hasenclevers dringender Warnungen und Hilfsangebote, noch in Deutschland wirken zu können. Dem Judentum völlig entfremdet, musste er sich 1933 erst einmal die notwendigen Kenntnisse über die Geschichte, das religiöse und kulturelle Leben der Juden erwerben. Das wird ihm trotz seines Fleißes nicht so leicht gefallen sein; in seinem autobiographischen Entwurf nehmen diese schweren Jahre gerade mal fünf Zeilen in Anspruch. »In vielem Ungemach und grosser Einsamkeit« schreibt er am 22. Oktober 1934 an den Freund Hasenclever, der, Ende 1932 von einer Reise nach Marokko zurückgekehrt und, nach kurzem Besuch in Berlin, nach Frankreich geflohen war; einst ein gefeierter Dichter, war er seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Verfemter und seine Bücher verboten.12 Mit Heimweh liest Pinthus Hasenclevers jüngstes Schauspiel Münchhausen, das während dessen Aufenthalt bei Kurt Wolff in Nizza und auf dem Mont-Boron entstanden war; »das reifste und beste Stück« (Pinthus) Hasenclevers hatte sogar die Begeisterung des sonst so strengen Freundes Kurt Tucholsky erregt. Viel zitiert die Liebeserklärung des Emigranten an Deutschland – aus dem Munde des alten Münchhausen: »Dort unten schläft Deutschland im Schatten der Täler. Gott schütze es! Ich sehe seine Wälder und Ströme. Ich sehe sein wahres Antlitz. Möge es auferstehen im Geiste.«13 Pinthus überlegt sofort, ob man es nicht in Österreich aufführen könnte, obwohl er nicht viel Hoffnung hat. Wer geht noch ins Theater, wer kauft noch Bücher? Es werden überhaupt immer weniger und weniger; die Älteren sterben weg. So S. Fischer, über den ich für jüdische Zeitungen drei Nekrologe geschrieben habe14 ... 11

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Angeblich hat der Schriftsteller Hanns Johst, dessen pazifistisches Drama »Die Stunde der Sterbenden« dank der Vermittlung von Pinthus 1914 bei Kurt Wolff erschien und der 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer wurde, eine Lockerung des Schreibverbots erwirkt und Pinthus zum Bleiben in Deutschland aufgefordert (Ward B. Lewis: Kurt Pinthus. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York. Teil 2. Hg. von John M. Spalek und Joseph Strelka. Bern: Francke 1989, S. 1712). Hasenclever war konfessionslos; die Eltern protestantisch. Nur der Großvater, der Tuchfabrikant Alfred Reiß, stammte aus einer Frankfurter jüdischen Familie. Zitiert nach der ersten Ausgabe in: Walter Hasenclever: Gedichte, Dramen, Prosa. Unter Benutzung des Nachlasses herausgegeben und eingeleitet von Kurt Pinthus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963, S. 370. Pinthus schrieb vor allem für die C.V.-Zeitung (liberal), für das Gemeindeblatt der Stadt Berlin u. a., Der Schild (Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten).

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Sonst wissen Sie ja wohl Bescheid. Ich habe viel zu tun mit Verhandlungen und Artikeln für jüd[ische] Zeitungen. Aber ich habe ein halbes Jahr lang nichts verdient und auch jetzt nur ganz kleckerweise, sodass meine Ersparnisse rapide zu Ende gehen. Trotz emsigster Bemühung ist keine Aussicht auf ein irgendwie festes oder regelmässiges Existenzminimum. Trotzdem lasse ich den Mut nicht sinken. Können Sie mir vielleicht Hinweise geben? Werde ich Sie bald wiedersehen?15

Der Brief vom 22. März 1935 klingt infolge neuer Bestimmungen schon verzweifelter: »...sämtliche Nichtarier«, auch die ehemaligen Frontkämpfer und Altschriftsteller, von weltbekannten Namen bis zu den Jüngsten, wurden aus dem Reichsverband deutscher Schriftsteller ausgeschlossen und dürfen weder in Buchform noch in Artikeln mehr etwas veröffentlichen, was auch die ohnehin geringen Publikationsmöglichkeiten für jüdische Organe weiter einschränkt. Ihm wird klar, dass alle Erlasse darauf hinzielen, die Auswanderung der Juden zu beschleunigen: »Wir sind sehr traurig, dass in dem neuen Deutschland, das sich nun endgültig und so kräftig durchgesetzt hat, uns die Eignung zu kultureller Betätigung gänzlich versagt ist.« Dieser Satz hat sicher dazu beigetragen, dass Hasenclever ihm später, warnend, zornig, ironisch, die Meinung sagte. Pinthus kennt Hasenclevers dringenden Rat, so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Er erinnert ihn dagegen in seinem Brief daran, dass er im Ausland keine Arbeitserlaubnis bekommen werde, dass seine Ersparnisse, die für eine Auswanderung nötig sind, fast aufgebraucht seien: »Ich hatte mich während des letzten Jahres in meinen neuen Wirkungskreis eingearbeitet, aber auch dieser ist nun so eingeengt, dass er mir auch nicht die bescheidensten Lebensmöglichkeiten gewährt.« Er sucht den Rat Hasenclevers, den er im Sommer 1935 an dessen neuem Aufenthaltsort, auf der von der Außenwelt völlig abgeschlossenen jugoslawischen Insel Šipanska Luka16 besuchen will, dafür aber kaum das Reisegeld habe: »Nach einjähriger unablässiger Bemühung muss ich leider feststellen, dass mir auch nicht einer meiner zahlreichen Verwandten, Bekannten und Freunde aus allen Schichten irgendwelche Arbeitsmöglichkeiten gegeben hat oder geben konnte« – das fügt er in einem Postscriptum an, sich nur mit seiner Wohnung und der großen Bibliothek tröstend. Pinthus reiste in der Tat im Juni/Juli nach Šipan, wo ihm Hasenclever aus seinem neuen Roman Irrtum und Leidenschaft vorlas, von dem sonst niemand etwas wusste und der erst Jahrzehnte später mit einem ausführlichen Nachwort von Pinthus erscheinen sollte.17 Damals hielt ihm Hasenclever zum Abschied

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Im Nachlass befinden sich mehrere Mappen mit Manuskripten zu »Jüdischen Themen«. Aus diesen Jahren sind nur die Briefe von Pinthus an Hasenclever erhalten, die sich im Nachlass von W. Hasenclever (HN) befinden (DLA). Hasenclever folgte im April 1935 seiner Schwester Marita, die dort mit ihrem Mann ein Haus gemietet hatte: Nur zweimal in der Woche fuhr von dort ein Dampfer in etwa drei Stunden nach Dubrovnik und zurück. Erschienen Berlin: Universitas 1969.

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die »ungeheuerliche Rede«,18 die ihn zwar momentweise an der Freundschaft Hasenclevers zweifeln ließ, die aber vielleicht doch dazu beitrug, dass Pinthus 1937 endlich einen Versuch machte, sich in London und den USA umzuschauen. Damals, nach dem Besuch in Šipan, konnte er nicht lange darüber nachdenken: Er hatte sich mit »leider völlig veränderte[n] und so verschlechterte[n] Familienverhältnisse[n]« zu beschäftigen19 und mit Besorgungen und Vermittlungen für Hasenclever, der inzwischen die einsame Insel wieder gegen London eingetauscht hatte.20 Dazu neue Erlasse und finanzielle Verluste, infolge eines Darlehens, das er leichtfertig gegeben hatte. Ende des Jahres 1935 sind die Nachrichten noch ein Grad hoffnungsloser. Pinthus lebt, wie er schreibt,21 »teilweise von milden Stiftungen und Stipendien«, wobei ihm der Vorwurf gemacht wurde, dass er ja seine Bibliothek noch nicht verkauft habe. Er denkt an die Aufgabe der Wohnung und Lagerung der Bibliothek in einem Speicher, werde also auch gezwungen sein, die weniger wertvollen Bände abzustoßen, macht sein Testament und setzt Hasenclever als Erben der Bibliothek ein: »Wie Sie dies Erbe antreten wollen, ist mir schleierhaft.« Die beiden Frauen, die sich um ihn etwas kümmerten (Kochen, Einkaufen, Putzen) heiraten und verlassen Berlin. Nur die geringe Aussicht auf ein Stipendium, mit dem er das geplante Buch22 schreiben will, hält ihn aufrecht. Im Jahre 1936 spitzte sich die Lage für Pinthus weiter zu: Offensichtlich hatte er im Frühjahr noch genug zu tun,23 versuchte sich an die Einsamkeit zu gewöhnen, froh, immerhin noch seine Bibliothek zu haben. Der 50. Geburtstag, zu dem er wunderbare ess- und trinkbare Geschenke bekam, war eine freundliche Unterbrechung ebenso wie die Erholung auf der Besitzung seines Breslauer Vetters in der Tschechoslowakei im Juli 1936, wo er gratis wohnen konnte. Von Schloss Weisswasser bei Jauernig (ýSR) schrieb er dann etwas offener an Hasenclever, der inzwischen von London wieder in den Süden gezogen war und zunächst bei Kurt Wolff in der Nähe von Florenz wohnte. Von den neuen Bestimmungen habe er, Hasenclever, ja in den Zeitungen lesen können.24 »Statt vieler anderer Einzelheiten [...] will ich Ihnen nur erzählen, 18 19 20

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Brief von Pinthus an Hasenclever, vom 8. August 1935. Möglicherweise ausgelöst durch den Tod der Mutter, Berta, geb. Rosenthal, gestorben 1934. Der Vater, Carl Hasenclever, war 1934 gestorben und hatte seiner kranken Frau und den drei Kindern ein Testament von »besondere[r] Kompliziertheit und Ausgeklügeltheit« hinterlassen (Brief von Pinthus, der ein Gutachten von seinem Freund und Rechtsanwalt [Kurt?] Ehrlich eingeholt hatte, an Hasenclever, vom 11. Oktober 1935). Brief von Pinthus an Hasenclever, vom 29. Dezember 1935. Wahrscheinlich eine Anthologie mit jüdischen Biographien, die in späteren Briefen erwähnt wird. Wenn auch gegen geringe Bezahlung; Briefe an Hasenclever vom 8. März 1936 und vom 29. Mai 1936 (HN). Zu den folgenreichsten gehörten die sogen. Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, mit denen den Juden die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde.

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dass sich seit einem halben Jahr immer wieder die Gestapo um mich gekümmert hat.«25 Dass er – trotz Eingaben – bis auf weiteres Redeverbot für ganz Deutschland in öffentlichen und geschlossenen jüdischen Versammlungen habe und dass ihm damit die Hälfte seiner Tätigkeit und Einnahmen abgeschnitten sei. Dass er sich trotz dieser Nachrichten entschließt, eine »Entschlackungs- und Abmagerungskur« in der Schroth’schen Kuranstalt NiederLindewiese (Schlesien, ýSR) durchzustehen, spricht für sein gutes Naturell, das er in den folgenden Monaten und Jahren auch dringend brauchte.26 Zu all den Ängsten um die zukünftige Existenz, die nun auch ihn beherrschten, kam die Krise in der fast 30jährigen Freundschaft mit Hasenclever. Hasenclever hatte 1936 in Lastra a Signa bei Florenz zusammen mit seinem Freund Hergesell27 ein Anwesen erworben, das zwei abgeschlossene Wohnungen enthielt, Ställe und genug Boden, um sich darauf zu ernähren. Pinthus erfuhr davon, nachdem alle Verträge abgeschlossen waren, gerade in dem Moment, wo er nach einem neuen Erlass der Reichsregierung seine Lebensversicherung von 8.000,- RM – mit 50%! Abschlag – zur Existenzsicherung legal ins Ausland hätte transferieren können. Dass Hasenclever ihn nicht vorher von dieser Möglichkeit benachrichtigte und ihn aus seinem Testament strich, hatte ihn tief getroffen: Wie Sie auf die Idee kommen, ich sei ›in Berlin fixiert‹, ist mir dunkel. Sie wissen doch ganz genau, dass ich nach dem Redeverbot etc. nicht mehr die Möglichkeit habe, mich zu betätigen. Meine Wohnung ist gekündigt. Eine neue, auch nur unmöblierte Zimmer, kann ich mir nicht mieten. Einen Menschen, an dem ich besonders hänge, gibt es ausser meiner Schwester nicht. Sie waren mir eigentlich der nächststehende.28

Diesen langen Brief, in dem er sich verständlich machen wollte, schloss er verzweifelt: »Jetzt plane ich auf gut Glück nach New York zu fahren; was ich allerdings dort machen soll, ist mir schleierhaft...«.29 25 26

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Brief von Pinthus an Hasenclever, vom 22. Juli 1936 (HN). Die Kur hatte nicht nur zur Folge, dass Pinthus, der zum Dickwerden neigte, schon nach kurzer Zeit 12 Pfund abgenommen hatte, sondern fortan auch nicht mehr rauchte, viel Obst und Gemüse und fast gar kein Fleisch mehr aß. Julius Philipp Hergesell (eigentl.: Julius [Johann Isaac] Philipp, 1875-1962) war seit 1895 als Journalist, Theaterkritiker und Schriftsteller tätig und emigrierte 1933 nach England, 1934 nach Jugoslawien, 1936 nach Italien und schließlich nach England. Veröffentlichung: Der steinerne Zeuge. Roman aus Berliner Architektenkreisen. Stuttgart, Charlottenburg: Juncker 1909 (2. Aufl. 1910). Brief von Kurt Pinthus an Hasenclever vom 2. Dezember 1936. Die Wohnung hat er erst Ende 1937 auf den 1. April 1938 gekündigt. (Die kursiv gesetzten Wörter sind im Original unterstrichen; HN). Pinthus hatte dennoch Glück, denn anlässlich der Reise Hitlers zu Mussolini nach Italien wurde Hasenclever am Meeresstrand von zwei Carabinieri gefangen genommen und in die Festung Massa abtransportiert. 1938 übernahm Italien die deutschen Rassegesetze, die auch Pinthus zum Verlassen Italiens gezwungen hätten.

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Am 23. Februar 1937 schrieb Pinthus von London an Hasenclever: »Der ewige Jude, wandering Jew ist ein Waisenknabe gegen mich. Ich bin immer gefährdet und immer auf der Flucht. [...] An Arbeiten ist nicht mehr zu denken. Es ist ein grausiges Leben.« Von Berlin aus hatte er für fünf Tage in London gebucht und versuchte, »ohne einen Penny« in der Tasche, die Chancen dort zu erkunden. Im Frühsommer 1937 erhielt er einen anonymen Anruf in Berlin, wurde von der Gestapo auf den Alexanderplatz beordert und musste über einen Vortrag Rechenschaft ablegen, den er über Josel von Rosheim vor einer jüdischen Organisation in Leipzig gehalten hatte. Daraufhin waren ihm auch Reden vor jüdischem Publikum verboten. Das war ein Signal: Er bemühte sich um ein Besuchervisum für die USA, das er unter der Bedingung erhielt, dass er Bibliothek und Möbel in Berlin zurückließ. Erst am 3. September 1937 meldete er sich wieder aus dem Studentenheim-Hotel Woodward am Broadway, verteidigte sich gegen einen Brief Hasenclevers, der ihm in seiner Situation als »reichlich roh« erschien: Ich bin zwei Monate hier, spreche English wie ein stotternder Wasserfall und weiss in New York bereits besser Bescheid als die New Yorker selbst. Allerdings spreche ich jeden Tag mit einigen anderen amerikanischen Gelehrten, Zeitungsleuten, Verlegern, Juristen, Geschäftsleuten [...].30

Durch Mangel an Essen und Schlaf sei er ziemlich auf den Hund gekommen, so dass er von dem Arzt und Schriftsteller Dr. Richard Hülsenbeck, auch ein deutscher Emigrant, Einspritzungen bekomme zur Kräftigung. New York, »grossartig und furchtbar zugleich, täglich neu und stets und übervoll von buntester Mannigfaltigkeit«, war nichts für einen erschöpften Emigranten, der sich kaum verständlich machen konnte.31 Er dachte wieder an Italien, als er von Rudolf Arnheims Tätigkeit dort erfuhr. Auf diese Klage schrieb ihm Hasenclever einen liebevoll-strengen Brief aus Italien: Was Sie jetzt gemacht haben, hätten Sie vor vier Jahren machen sollen, wie es Ihnen jeder ›gute Europäer‹ auch geraten hat. Dann hätten Sie einen grossen Teil Ihres Geldes gerettet und sich damit eine neue Existenz gründen können. Aber Sie zogen Ihre Berliner Bequemlichkeit vor und waren trotz meiner ständigen dringenden Vorhaltungen nicht zu bewegen, Ihre Trägheit aufzugeben.32 Ich bot Ihnen im Frühjahr 1933 aus Paris meine Hilfe an und habe seitdem nicht aufgehört, Sie zu beschwören, Ihre wahre Lage zu erkennen. Noch im Sommer 1935 machte ich Ihnen in Šipan und Dubrovnik konkrete Vorschläge, sich meinem Leben in irgendeiner Form anzuschliessen, was allerdings Ihre Auswanderung zur Folge hatte, von der Sie nichts wissen wollten. Sie waren damals sosehr beschäftigt, als schlechtbezahlter Redakteur bei einem jüdischen Wochenblatt einzutreten, dass Sie kaum zuhörten. Sie ha30 31 32

Im Nachlass befinden sich Listen, auf denen Pinthus täglich seine Verabredungen, Gespräche und Aussichten handschriftlich notiert hatte. Pinthus hatte auf dem Humanistischen Gymnasium Griechisch, Lateinisch und Französisch gelernt. Pinthus’ Vetter Fritz hatte das gegenüber Hasenclever bestätigt: »Die Schwerfälligkeit liegt bei uns in der Familie« (Hasenclever an Pinthus am 17. Nov. 1937).

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ben auf das falsche Pferd gesetzt und sollten Ihr Pech nicht dauernd Ihren Freunden in die Schuhe schieben. Wir sitzen alle, auch hier, auf dem Pulverfass, und sicher ist keiner. Aber ich habe nie recht die Mentalität verstanden, aus Deutschland herausgeworfen zu sein und dann nicht gehen zu wollen. Der wahre Grund meiner Aborientierung von Ihnen war die Einsicht, dass ich Ihnen im Falle meines Todes nicht Vermögenswerte überlassen wollte, die Sie nach dem Gesetz hätten in Deutschland realisieren müssen. Das konnte ich nicht nach Berlin schreiben, als Sie mir wegen meines Verhaltens so empörte Vorwürfe machten. Nachdem Sie allen meinen Ratschlägen und Anregungen für dauernd ins Ausland zu gehen, auswichen, musste ich schliesslich mein Leben ohne Sie stabilisieren, und Sie müssen verstehen, weshalb ich Ihnen die Details meines hiesigen Ankaufs nicht nach Berlin mitteilen wollte: Ich habe allen Grund, anonym und zurückgezogen zu leben [...]. Wenn Sie nun, leider zu spät, die Leiden des Emigrantentums auch zu spüren bekommen, so bedenken Sie, dass wir sie alle durchgemacht haben.

Und, nachdem er ihm seinen tüchtigen Agenten Barthold Fles empfohlen hatte: »Halten Sie Ihren bedeutenden Kopf hoch: Es wird schon weitergehen. In diesem Sinne grüsse ich Sie herzlichst als Ihr alter Has«.33 Begeistert von der Intensität, mit der Pinthus sein Leben in New York anpackte, sagte ihm Hasenclever am 17. November 1937 nochmals alle Hilfe zu, dass ich mich stets Ihrer annehmen werde, wie und wann Sie bei mir eintrudeln, sobald Sie endgültig mit Berlin Schluss gemacht haben ... Alter Bursche, unser gemeinsames Leben ist noch nicht zu Ende. Wer weiss, was alles kommt. Sie haben recht: wir wollen die gewesenen Meinungsverschiedenheiten begraben. Es gibt Wichtigeres zu tun [...].

Beide Briefe haben bei Pinthus offensichtlich einige Missverständnisse ausgeräumt, er schrieb, dankbar für die wieder gewonnene Freundschaft, dass er in New York Aussicht auf eine Stelle als Lecturer an der New School for Social Research habe, dass diese aber – wie das häufig war – noch einen Sponsor finden müsse, der die Dozentenstelle für zwei Jahre finanziere. Angesichts dieser Aussicht fasste Pinthus den tollkühnen Plan, nach Berlin zurückzureisen und – wie auch immer! – seine Bibliothek herauszuholen. Als er Weihnachten 1937 in Bremerhaven eintraf und der dortigen Ankunftskontrolle die Kartei seiner Bibliothek (8000, vorwiegend verbotene Bücher) verdächtig erschien, gab er sich als Nazi-Agenten aus, der für »dekadentes und undeutsches« Material aus den USA verantwortlich sei.34 Offensichtlich hatte er mit diesem riskanten Trick Erfolg. In den folgenden vier Monaten wohnte er illegal bei einer Bekannten in Berlin-Dahlem und veräußerte aus seinem Besitz, was nicht notwendig war. Auf die schriftliche Arbeitsbestätigung von Alvin Johnson (New School for Social Research) und mit der Hilfe eines zuverlässigen An33 34

Brief von Hasenclever an Pinthus vom 17. Oktober 1937, der erste erhaltene Brief von Hasenclever an Pinthus in den dreißiger Jahren. Lewis, Kurt Pinthus (wie Anm. 11), S. 1713, aufgrund eines Interviews, das Lewis mit Pinthus 1973 gemacht hat. Etwas knapper auch in: Pinthus’ Entwurf zu einer Autobiographie (wie Anm. 8), S. 6.

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walts erfuhr er großes Entgegenkommen beim amerikanischen Vizekonsul und erhielt mit einiger Geduld die Auswanderungsgenehmigung. Seine Bibliothek aus 8000 Bänden, Zeitschriften, eine Graphik-Sammlung, Manuskripte und Notizzettel wurden in 40 Holzkisten verpackt, von denen nur zwei mit harmlosen Materialien für die Kontrolleure offenblieben; er konnte auch Garderobe und einige Möbel verschiffen lassen.35 Die letzten Tage waren angefüllt mit Ordnen, Packen, Behörden, Einkaufen (»Niemand hilft mir«).36 Dazu kamen noch Ischiasschmerzen und eine Zahnoperation: »Immer schwebt mir Ihr Idyll vor Augen, und der Zweifel: ob ich recht handle, wenn ich es mir so schwer mache.« Er ist nur froh, dass die Freundschaft wieder so ist wie früher. Hasenclever war es – nach der unsanften Begegnung mit den Faschisten – inzwischen in Italien zu unsicher geworden. Er verkaufte seinen Besitz und ging mit Ethe37 zurück nach Frankreich, lebte im September 1938 in Paris, dann wieder in Nizza und bezog im Februar 1939 die kleine Villa St Hillaire in Cagnes-surMer, »seine letzte glückliche und friedliche Zeit« (Pinthus); erleichtert auch, weil er den Freund in Sicherheit weiß. Pinthus schrieb ihm schon von den United States Lines am 18. Mai 1938: »Liebe Freunde! Endlich den Schergen endgiltig entronnen, nach furchtbaren Monaten, in denen ich fast wahnsinnig wurde – in dem Augenblick, als ich das amerikanische Schiff betrat, ruhig, stark, gesund und ›glücklich‹ [...] mit einem 1000 Dollar-Scheck in der Tasche«, den er als Stipendium von der Warburg Kommission bekam. Er konnte im Masterbuilding am Riverside Drive eine Ein-Zimmer-Wohnung mieten und pünktlich im September 1938 seine Vorlesungen beginnen,38 das erste Semester noch in deutscher, das zweite (dank der Hilfe einer schwedischen Studentin) in englischer Sprache.39 Obwohl es nach zwei Jahren Schwierigkeiten mit einer neuen Anstellung gab, obwohl er sich hin und wieder einsam fühlte, er war dankbar und froh, gerettet zu sein,40 zumal anlässlich des folgenden Briefes, den er im Juni 1939 von Hasenclever aus Cagnes sur Mer erhielt: [...] Haas haben wir nun glücklich gerettet. Er war kurze Zeit bei mir, hat eine kleine Ausstellung als Advisor beim indischen Film in Bombay ergattert und ist im vorigen Monat ins Land der Elefanten abgereist. In Prag soll es fürchterlich aussehen, weil 35

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Emigration und Ausfuhr der Bibliothek gestalteten sich mit Sicherheit viel komplizierter, zumal sich Pinthus ja illegal in Berlin aufhielt; davon zeugt auch eine Ausgabenliste (u. a. »Bestechungsgelder für Ermöglichung der Ausreise, illegale Ausfuhr der Bibliothek, mehrere vergebliche Versuche, Deutschland zu verlassen«). Brief von Pinthus an Hasenclever, vom 10. [?]. 1936. Edith Schäfer, die Hasenclever 1934 in Frankreich kennenlernte und heiratete. Entwurf zu einer Autobiographie (wie Anm. 8), S. 6, und in vielen Details in den folgenden Briefen an Hasenclever. – Die große Bibliothek mit dem Archiv von Zeitungsausschnitten konnte er in der Columbia University Library, New York, unterbringen (Brief von Pinthus an S. Kracauer, vom 17. November 1943; PN). Lewis, Kurt Pinthus (wie Anm. 11), S. 1714. 1941 konnte auch seine Schwester Else über Cuba in die USA einreisen.

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niemand herausgelassen wird. Kornfeld, Pick etc. – alles sitzt in der Mausefalle. Hiller ist noch glücklich vor dem Einmarsch nach London entkommen und Max Brod in der Nacht, als die Boches nahten, nach Palästina entwischt. Werfel, der in Sanary lebt, hatte ich einen Tag zu mir eingeladen, und er, Haas und ich haben einen Schluck auf die alte Garde geleert! Es war ein merkwürdiger Tag. Leipzig rediviva. Wir haben in Liebe Ihrer gedacht, wozu Ethe ein prächtiges Mahl gerichtet hatte. Im übrigen glaube ich, zum ersten Mal optimistisch, dass Adolf sich mit Prag sein Leichentuch webt [...].41

Diesmal war Pinthus, entsetzt von den Nachrichten aus Deutschland (dem Pogrom am 9. November 1938!), der Pessimist und in großer Sorge: »Ich schreibe Ihnen heute in aller Eile, um Sie zu warnen und zu bitten, alle Vorbereitungen zu treffen, jeden Augenblick Frankreich verlassen zu können, um möglichst bald und schnell nach Amerika übersiedeln zu können.« Und Hasenclever reagierte auf die mehrfachen Warnungen so ähnlich, wie Pinthus es bis 1936 aus Berlin getan hatte, als Hasenclever immer wieder den Freund warnte: Er würde ja gern als Visitor nach New York hinüberkommen, für ein Wiedersehen, aber Tatsache ist, dass ich hier mit Haus, Garten, Gemüsen, Tieren, Garage, Auto in der herrlichsten Landschaft nebst Weib für 75 Dollar im Monat als »Besserer Herr«[42] existieren kann – für welchen Betrag mir in Amerika die Badeschnur des armen Toller winken würde.[43] Sowas gibt man nicht ohne zwingenden Grund auf [...]. Grosse Sprünge können wir alle nicht mehr machen. Wir wollen glücklich sein, dass wir das Leben haben!44

Das »Glück« währte nicht lange: Nach der Niederlage Frankreichs nahm sich Hasenclever, ein drittes Mal als Ausländer im Lager Les Milles bei Aix-enProvence interniert, in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1940 mit einer Überdosis Veronal das Leben, aus Angst, den Nationalsozialisten in die Hände zu fallen.45 Pinthus erfuhr von Hasenclevers Tod in Hollywood, wohin er auf einer großen Autoreise durch die USA mit dem Pianisten Eduard Steuermann und des41 42 43

44 45

Brief von Hasenclever an Pinthus, vom 14. Juni 1939. Ironisch, nach dem Titel einer Komödie von Hasenclever: Ein besserer Herr (1926). Vom Tod Tollers am 22. Mai 1939 hatte ihm Pinthus am 6. Juni 1939 geschrieben: »Das Ende Tollers hat mich furchtbar mitgenommen; ich war mit ihm gerade in letzter Zeit viel zusammen, aber er war, besonders nach den letzten Fehlschlägen: Spanien, die Ehe, Nicht-Aufführung seiner Stücke, völlige Mittellosigkeit, so depressiv und wirr geworden, dass er wohl nicht mehr zu retten war. Unsere Freundin Ilse Klapper fand ihn erhängt mit der Schnur des Bademantels, als sie vom lunch zurückkam, im Badezimmer. Sie rief mich gleich darauf an; das Leichenbegängnis war grandios, natürlich redeten grade die Leute am meisten, die ihm nicht geholfen hatten. Es ist ein symbolischer Schlag für die ganze intellektuelle Immigration. Aber wir dürfen nicht verzweifeln, schon wegen der Nazis nicht.« Brief von Hasenclever an Pinthus, vom 14. Juni 1939. Pinthus wies darauf hin, dass Hasenclever diesen Tod in seinem Roman Irrtum und Leidenschaft (vgl. Gedichte, Dramen, Prosa [wie Anm. 13], S. 9) vorwegnahm.

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sen Frau gelangt war. Er schrieb sofort einen Nachruf für den von deutschen Emigranten gegründeten Aufbau, dessen letzte Zeilen ein Anruf – vielleicht nicht nur an Hasenclever – war: Alter Bursche (so haben wir uns seit 30 Jahren angeredet), Du warst unter den vielen Freunden eines reichen, immer noch reichen Lebens der mir Nächste, Liebste. Vor 30 Jahren, als unsere ersten Schriften gelesen wurden, gelobten wir uns, der Überlebende solle über den anderen den Nachruf schreiben. Ich erfülle mein Versprechen, viele tausend Meilen weit von dort, wo Wildfremde Dich an unbekanntem Ort in fremdem Land begraben haben ...›Wie werde ich diese Schuld bezahlen müssen?‹, sang vor fast drei Jahrzehnten der dritte in unserem Freundschaftsbund, Franz Werfel ... Wir werden sie bezahlen: wir werden weiter sprechen und schreiben und lehren, wie wir alle, jeder auf seine Weise, es bis jetzt getan haben: für Freiheit und Gerechtigkeit und Menschlichkeit. – Jüngere werden sagen, das seien recht allgemeine Begriffe, unter denen man sich nichts Rechtes vorstellen kann. Wir haben uns schon etwas Rechtes darunter vorgestellt, und wir glauben, dass es das Rechte für eine spätere Menschheit ist. Nicht wahr, alter Bursche?!46

Pinthus schrieb ihm nicht nur den Nachruf. Schon vor seiner Emeritierung an der Columbia University, wo er von 1947 bis 1960 Theatergeschichte gelehrt hatte, unternahm er die ersten Reisen nach Europa, suchte Rowohlt auf und begann 1958 eine neue Zusammenarbeit mit dem Verlag. 1962 besuchte er Edith Hasenclever und bereitete – in Zusammenarbeit mit dem Direktor des Deutschen Literaturarchivs, Bernhard Zeller – eine Auswahl von Hasenclevers Schriften vor, die 1963 im Rowohlt Verlag erschien. Das lange Vorwort von Kurt Pinthus ist noch heute eine wichtige Quelle für die Forschung. 1967 übersiedelte er endgültig nach Marbach a.N. und stiftete 1971 sein Archiv und die wertvolle Bibliothek dem Deutschen Literaturarchiv, das schon 1960 auf Initiative von Paul Raabe eine große Expressionismus-Ausstellung gezeigt hat.47 Pinthus hat in diesen Jahren weiterhin veröffentlicht. Mit einem ungewöhnlichen Gedächtnis und einem fabelhaften Erzähltalent begabt, hat er Vorlesungen und Vorträge gehalten, in deutscher und englischer Sprache, über den Expressionismus und natürlich über Hasenclever, über seine drei Leben in Leipzig, Berlin und New York. Bezeichnend für ihn ist der Schluss seines autobiographischen Entwurfs: [... ich] möchte gerne 100 000 Jahre alt werden, um zu sehen, was aus der Menschheit wird.48

46 47 48

Zitiert nach: Hasenclever: Gedichte, Dramen, Prosa (wie Anm. 13), S. [62]. Der Ausstellungskatalog »Expressionismus – Literatur und Kunst 1910-1923«, Marbach 1960, ist heute ein Desiderat. Entwurf zu einer Autobiographie (wie Anm. 8), S. 11 (abgeschlossen 1966).

Alfred Bodenheimer

Arnold Zweigs »Politische Physik« »Dialektik der Alpen« – eine europäische Kulturgeschichte aus dem Exil

Eines der verstörendsten Bücher des Jahres 2008 war Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.1 Ausgehend von der historischen Konstruktion, dass Lenin seinerzeit die Sowjetrepublik nicht in Russland, sondern in der Schweiz gegründet hätte und dass in Europa ein beinahe hundertjähriger Krieg tobe, entwirft Kracht eine düstere, teilweise surreale Dystopie, deren Absurdität in einem unüberblickbaren System von in die Berge des schweizerischen Réduit gehauenen Gängen gespiegelt wird. Die Berge als sowohl militärisch wie auch hermeneutisch schier undurchdringliches Symbol des Weltenlaufs – das hatte schon Arnold Zweig fasziniert, zu einer Zeit, da Krieg keine Katastrophenvision, sondern die grauenhafte Realität und er selbst als Jude exiliert war. Abgeschnitten von seiner Leserschaft und dem Literaturmarkt seiner Muttersprache einen Verlagsauftrag für ein neues Buch zu erhalten – es musste Zweig, einem der einst erfolgreichsten Autoren deutscher Zunge, wie ein Traum erscheinen. Just dies war ihm geschehen, als er 1939, von Palästina her kommend, seinen Sohn Michael nach Amerika begleitet hatte, wo dieser eine Pilotenausbildung zu absolvieren gedachte – eine zusätzliche finanzielle Belastung für den Vater. Auf Vermittlung von Zweigs New Yorker Literaturagenten hin war ein amerikanisches Verlagshaus an ihn mit dem Auftrag herangetreten, eine kurze Geschichte der Alpen zu schreiben, die innerhalb einer Buchreihe erscheinen sollte. Das Buch ist auf dem amerikanischen Markt nie erschienen – nicht bei dem ursprünglichen Auftraggeber und, nachdem sich die Angelegenheit mit diesem zerschlagen hatte, auch nicht bei anderen Verlagen, die Zweig für das Projekt zu interessieren versuchte. Erst 1997 ist die deutsche Originalfassung aus dem Nachlass innerhalb der Berliner Ausgabe von Zweigs Werken in der Bearbeitung von Julia Bernhard publiziert worden (die zugleich auch die Geschichte des Entstehens und der gescheiterten Publikation aufarbeitete).2 Zweig ging Anfang der vierziger Jahre, als das Scheitern der Publikation sich abzeichnete, 1 2

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Arnold Zweig: Dialektik der Alpen. Fortschritt und Hemmnis. Emigrationsbericht oder Warum wir nach Palästina gingen. Bearbeitet von Julia Bernhard. Berlin: Aufbau-Verlag 1997. Dieser Ausgabe folgen auch die in Klammern gesetzten Seitenangaben bei Zitaten.

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davon aus, dass die Ereignisse, die inzwischen die Weltläufe verändert hatten, insbesondere der Überfall der Japaner auf Pearl Harbour, das amerikanische Interesse für sein Buch geschmälert hätten. Es mag aber auch sein, dass Zweigs Kaleidoskop von Geologie und Paläontologie, von Sagenwelt und Humanismus, von Marxscher wie Freudscher Weltdeutung nicht die Kost war, die ein Verlag in den USA Anfang der vierziger Jahre seinen Lesern im Rahmen einer Serie kleiner, informativer Bücher vorsetzen konnte. Gerade in seiner Vielgestaltigkeit, in seinen mannigfachen Ansätzen, seiner hohen Gelehrsamkeit und seinem Ringen mit den europäischen Entwicklungen hat Zweigs Alpenbuch, vielleicht zu seinem damaligen ökonomischen Nachteil, gewiss aber zum Vorteil heutiger Leser, den Rahmen einer Auftragsarbeit als Teil einer Themenreihe bei weitem gesprengt. Bedenkt man, dass an Zweigs Lebensort Haifa zu jener Zeit wissenschaftliches Material (außerhalb privater Bibliotheken von Emigranten) nicht ohne weiteres greifbar war und dass er zudem mit einem schon alten Augenleiden zu kämpfen hatte, das sich nach einem Autounfall 1938 noch verschlimmert hatte, so nötigt das umfassende Panorama, das er von den Alpen nicht nur als geographischem Gebilde, sondern auch als kulturhistorischem Schauplatz entwirft, größten Respekt ab. Dialektik der Alpen. Fortschritt und Hemmnis hat er es genannt. Die Alpen werden darin zur Region, in der sich Europas Schicksal in vielerlei Hinsicht entscheidet. Als unwegsamer Riegel, aber eben auch als einzig passierbare Schwelle zwischen Nord und Süd werden die Alpen bei Zweig zur Stätte der blockierenden wie der dynamisierenden Kräfte Europas – eines Europa, das zum Zeitpunkt der Niederschrift des Buches unmittelbar am Abgrund steht. Zweig, Zeuge und Opfer eines beispiellosen Rassenwahns, versucht zu zeigen, dass dem scheinbar urwüchsigen »Homo Alpinus« (S. 35) ein Amalgam von Herkünften und kulturellen Einflüssen zugrunde liegt, deren Wertvollstes in dauerndem Widerstreit mit dessen Gefährlichstem liegt. Als Vorgänger Hannibals und seiner militärischen Alpenüberquerung macht er Händler oder Gruppen von Vertriebenen aus, »jene Frühbewohner Europas, die wir Iberer oder Illyrier nennen, und die den nachdrängenden Söhnen neu ankommender Stämme Anlass wurden, Sagen von kunstfertigen, listigen, geistig überlegenen Zwergen auszubilden« (S. 21). Diese Südeuropäer werden jene Pfahlbauer, deren gesellschaftliche Ausbildung Zweig getreu dem Freudschen Modell als »Horde« (S. 28) bezeichnet. Der Anthropologe in ihm wird vom Erzähler und teilweise auch vom Programmautor überwältigt, wenn er bemerkt, wie die in allen »primitiven Völkerschaften« vorhandenen Tendenzen zu Fantasie und Märchenglaube durch die Herausforderung schwieriger Umweltbedingungen bei den Alpenbewohnern der Urzeit durch Gegenkräfte austariert wurden: »Dem Gebirgler aber gelingt es, den Trieb für das Vergleichen mit der Wirklichkeit des äusseren Lebens, der keimhaft schon in der Tierseele enthalten ist, zu schärfen, zu entwickeln, auszubilden. Ein profunder Realismus, gesunder Sinn für Kritik und gegen die Übertreibungen der Einbildungskraft wohnen ihm inne« (S. 32). Zweig nennt die weiteren Völkerschaften, die mit mehr oder

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weniger nachhaltiger Wirkung in die Alpen gelangen: Kelten, Phönizier, Römer, und schließlich die Germanen. Hier nun, in kulturell bereits verschärfter Form, ortet Zweig wiederum die Dialektik zwischen Sachlichkeit und Mythos: »Während der römische Einschlag und seine Erziehung zur Wirklichkeitserfassung führen, zu ruhiger Nüchternheit, aber auch zu unerschütterlicher Solidität dessen, was einmal erreicht wurde, unterstützt der germanische den keltischen im Festhalten an Roheiten und im Hinspinnen fantastischer und musischer Gebilde« (S. 57). Doch wenn es einen Kitt gab, der mit der Idee von »Einheit und Freiheit« als höchstes Gut in Europa und somit auch in den Alpen die Gesellschaft zusammenhielt, so war dies »der jüdische Monotheismus«. »Die Einheit war die des jüdischen Gottes, die sich der Vielgestalt aller anderen Pantheone entgegensetzte. Die Freiheit war die des Menschen vor Gottes Angesicht« (S. 53). Jene »Ausstrahlung des jüdischen Monotheismus […], die, über Jesus von Nazareth und Paulus von Tarsus, Anstoss und Schwungkraft zur Entfaltung einer Religion gab, die mit den anderen […] antiken Elementen das Christentum und seine Kirche bildete« (S. 54) – sie steht bei Zweig für jene »Elemente einer fruchtbaren Unruhe« (S. 53), aus denen einerseits geschichtsstürmende Impulse, andererseits ein durch nichts zu überwindender Freiheitsgeist stammten, wie er sie mit den Alpen assoziierte. Dass den Urhebern dieses befreienden Geistes dessen Segnungen kaum zuteil wurden, kann Zweig jedoch im Rückblick aus der Gegenwart nicht verschweigen: »In den Alpenländern, wo ganze Gegenden, auch vom Durchgangsverkehr durchströmte, kaum je mit Juden gelebt hatten, trafen wir selbst noch auf den Glauben, Juden besässen Schwänze wie Affen oder Hörner wie Ziegenböcke, mit denen sie Vorübergehende vom Bürgersteig hinunterstiessen […] Märtyrergeschichten wie die des kleinen Simon von Trient [dem angeblichen Opfer eines jüdischen Ritualmords, A. B.] bereiteten ausserdem bei den Alpenländlern, von denen so viele kirchentreue Kinder gewesen waren, einen unterirdischen Rachedurst gegen die Juden vor – Sprengstoff für spätere Explosionen […]« (S. 117). In der verspäteten Judenemanzipation, drei Generationen nach dem Toleranzedikt Josephs II. von Österreich, benennt Zweig denn auch einen Makel der Schweiz (S. 116), die sonst weitgehend als Trägerin der positiven alpinen Eigenschaften gezeichnet wird. Er sieht nämlich seit der Spätantike »in den beiden Teilen der Alpen, die vom Arlbergpass geschieden werden, zwei ganz verschiedene Charakterzüge« sich entfalten. Im ostalpinen Raum, in Bayern und Tirol, scheint ihm »die Mischung der Bevölkerung mehr keltische Züge bewahrt zu haben als in der Schweiz: weniger Beständigkeit und mehr Brutalität, Glauben und Fantasie. Die Menschen Bayerns und des Tirol sind vor allem dienstfreudig, ihren Herzögen ergeben. Die Männer der schweizerischen Gaue belebt eine starrsinnige Vorliebe für ihre Unabhängigkeit« (S. 58). Die »Dialektik der Alpen« als Schauplatz von »Fortschritt und Hemmnis« ist damit aus den inneren Kontingenzen der Urvölker in die regionalen Charaktere der westlichen und der östlichen Alpenhälfte verschoben. Der Riss der

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Reformation ist als »Riss durch Europa auch ein Riss quer durchs Alpenland« (S. 85) – allerdings, was Zweig eher herunterspielt, nicht einer, der entlang der damaligen oder späteren Schweizer Grenzen verläuft. Und von seinem humanistischen Standpunkt aus ist auch die westalpine Reformation nicht einheitlich zu beurteilen. Während etwa der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli als Exponent einer Reformation gesehen wird, die sich »des schweizerischen Alpenlandes auf eine Weise (bemächtigte), die der dünnen und klaren Luft des nüchternen Berglandes entsprach« (S. 84), also einer primär geistlich und weniger zur Ausgleichung sozialer Ungleichheit motivierten Erneuerung, wird mit »dem anderen schweizerischen Reformator [...] Johann Calvin« streng ins Gericht gegangen. Nicht nur kontrastiert der eigenwillige Marxist Zweig den vom calvinistischen Genf ausgehenden Kapitalismus mit dem Sozialismus, den er »von dem Orte Kempten im Allgäu [...] mit dem Ausgang der Bauernkriege« (S. 87) ausgehen sah – womit auch die qualitative Dichotomie von west- und ostalpinem Raum wieder relativiert wird –, er kritisiert auch den Calvinismus selbst als fehlgeleiteten Glauben, dessen Verirrung in der Verbrennung des spanischen Arztes Michel Servet gipfelte. Zur Illustration seines Geschichtsverständnisses wählt Zweig den Begriff der »politischen Physik« (S. 87). »Die menschliche Seele verlangt offenbar nach einem bestimmten Ruhezustand innerhalb des Haushalts ihrer Triebe. Wird sie durch irgendein A daraus gedrängt, so stellt sich unvermeidlich ein Non-A ein, das für den verlangten Ausgleich sorgt.« Seien die einzelnen, einander zuwiderlaufenden geschichtlichen Ereignisse »nimmt man sie für sich, überaus schauerlich«, so habe sich »nach wenigen Geschlechtern [...] das Schauerliche spurlos verflüchtigt [...] und übrig bleibt das farbige Gemälde der Vergangenheit, voll von Triumph und Errungenschaft.« Eine gedrängtere und originellere Zusammenstellung Freudscher Psychologie und Hegelscher Geschichtsphilosophie läßt sich kaum denken. Triumph und Errungenschaft des alpinen Raumes – das ist nebst dem in verschiedene Richtungen ausschlagenden Pendel der Geschichte die Kulturleistung, die aus diesem Raum heraus erbracht wird, und Zweig nennt die Dichtung, die sich von Walther von der Vogelweide bis zu Gottfried Keller erstreckt, er nennt die Einzigartigkeit der Cremoneser Geigen und des Salzburger Genies Wolfgang Amadeus Mozart, und er nennt den Maler Konrad Witz. Die bedeutendste Kulturleistung aber ist »die Entdeckung der Berge« selbst. Zunächst als Gegenstand der Dichtung bei Albrecht von Haller, später durch den englischen Tourismus, bis hin zu den Davoser Lungenheilanstalten, die ihrerseits zum Thema eines Jahrhundertromans, Thomas Manns Zauberberg, werden. Zweig fügt, um die kulturelle Inspiration der Bergwelt auf den modernen Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts zu illustrieren, eine eigene frühe Erzählung von 1909 ein über die Befreiung eines (jüdischen) Studenten aus seiner Verklemmtheit durch die gemeinsame Bergwanderung mit einer ihm zuvor unbekannten (nichtjüdischen) Studentin (S. 152-164). Weiter unten (S. 230) wird Zweig diese Erzählung als Beispiel des unbefangenen Umgangs

Arnold Zweigs »Politische Physik«

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von Juden und Nichtjuden vor dem Ersten Weltkrieg bezeichnen – doch lässt sich die Erzählung auch als Ode an die Berge lesen, in denen die ungesunden Konventionen, Abgrenzungen und Hemmungen der Gesellschaft aufgehoben werden können. Die Entzauberung der Berge im 20. Jahrhundert weist aber insgesamt auf die Dialektik der Geschichte hin, die sich in den Alpen verkörpert. Der »Fortschritt« ist ein rasanter, technischer, die »Hemmnis« ist seelischer Natur, und sie saugt die Völker Europas in unnennbare Katastrophen. Den wagemutigen, oft genug mit dem Leben bezahlenden Bergsteigern des 19. Jahrhunderts folgen neue Überwinder der Alpen. ›Der Mensch fliegt‹ (S. 165) ist der Absatz überschrieben, in dem das lenkbare Luftschiff erwähnt ist. Der von vielen erhoffte Schritt »auch zur Brüderlichkeit« hin erweist sich bald darauf mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als fatale Illusion. Noch betrifft diese Form des Fliegens den Alpenraum nicht direkt, doch er ist die Vorstufe eines Fortschritts, der in unguter Weise fruchtbar wird. Als der Erste Weltkrieg vorbei ist, die Demokratien gesiegt haben und die aus der Schweiz zurückgereisten russischen Emigranten die Revolution orchestriert haben, »ragte der schweizerische Teil der Alpen aus dem allgemeinen Blut- und Elendsmeer wie der Ararat nach der Sintflut einsam empor« (S. 181). Die Chancen einer politischen Regeneration Europas werden in Versailles und danach vertan, nur die Technik entwickelt sich weiter. Radio und Flugzeug überwinden die Alpen endgültig, das Radio als Medium einer unbeschränkt ausdehnbaren Präsenz von Ereignissen, das Flugzeug (nach einigen tragischen Unfällen, die, wie Zweig erklärt, aber der Perfektionierung der Maschinen und der Flugtechnik dienen) unter anderem auch als Träger von Kameraleuten, die das Bergpanorama in die Lichtbildhäuser der Städte tragen. In einem späteren Kapitel, geschrieben offensichtlich in einem fortgeschritteneren Stadium des Krieges, wird es dann lapidar heißen: »Die Alpen verschwinden. Denn die Flugzeuge der Verbündeten sind überall. Britische Flieger haben die Alpen gleichsam zum Verschwinden gebracht« (S. 241). Doch diese technische Entwicklung des Zweiten Weltkriegs, hier an den Flugzeugen der freiheitlichen Alliierten exemplifiziert, hat ihre Vorgeschichte im tiefsten Rückfall der menschlichen Seele. Personifiziert wird sie für Zweig in der hässlichsten, destruktivsten Erscheinungsform des alpinen Zwergs: Im Gnom. »Ihm dichteten (die Menschen der Steinzeit) all die Grausamkeiten und Rachsüchte an, die sie in sich selber vorfanden« (S. 207). Über die Sagengestalt des Gnoms schreibt Zweig: »Der Gnom ist schwach und von unscheinbarer Gestalt, körperlich fast widerwärtig, mit den stechenden Augen eines Halbirren, aber schlau, ihm eignet die ›nordische List‹« (S. 207). Hermann Brochs Der Versucher, ebenfalls ein Werk aus der Zeit des Nationalsozialismus, in dem das Modell demagogischer Verführung in das Szenario alpiner Bergwelt eingebettet ist, klingt dabei an. Und weiter unten: »Mit Hilfe der technischen Künste [...] kann er sich auch in einen Lindwurm, Drachen oder Tank verwandeln, der mit ungeheuer geblähtem Leib feuerspeiend die Länder verwüstet

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Alfred Bodenheimer

und auch tapfere Gegner scharenweise in den Untergang treibt – bis er seinen Meister findet. So endet der Gnom immer wieder, und obwohl sein Reich nicht von dieser Welt ist, vermag er, sie fast in seinen Sturz mit hinein zu reißen« (S. 210). Hitler, die menschgewordene steinzeitlich-alpine Horrorprojektion, im Besitze höchster technischer Mittel und unüberbietbares Faszinosum für ein Volk von siebzig Millionen, weckt das, was Zweig in Anlehnung an Sigmund Freuds Kulturkritik »die Insektenseele« nennt – den durchorganisierten, entmenschlichten Massenstaat. Dass im Krieg, den er entfacht, die dortige Anlage der Werte, die er den durch sein Regime Vertriebenen geraubt hat, »der Schweiz eine bessere Sicherheit vor einer deutschen Invasion verschaffte als ihre Berge und schwer verteidigten Pässe« (S. 225), ist in den vierziger Jahren eine Erkenntnis Zweigs, um die die Schweizer Geschichtsschreibung noch mehr als ein halbes Jahrhundert zu kämpfen hatte. Wenn Zweig sich das Erstehen der »Vereinigten Demokratien Europas« wünscht (auch dies ein visionärer Wunsch), so hätte sich damit sehr wohl der freiheitliche, föderative Geist durchgesetzt, den er am westalpinen Raum so bewundert. Doch ist diese Entwicklung, seiner »politischen Physik« gemäß, auch eine zwangsläufige. Die Alternative wäre die Unterjochung Europas unter das Gnomentum gewesen – und damit auch die Zurückdrängung des jüdisch-christlichen Monotheismus durch ein erneuertes Heidentum. Indem die Alpen um die Mitte des 20. Jahrhunderts als Rückzugsraum, als strategische Sperre, als Ort herausragender Schöpfungs- und Regenerationskraft zu existieren faktisch aufgehört haben, bleibt noch ihr Mythos und ihre Geschichte. Es bleibt das, was Zweig in den wechselnden Konstellationen der alpinen Menschen angelegt sieht – der Kampf einer pragmatisch realistischen gegen eine fantasierende, sich selbst mythisierende Haltung – denn diese, die Haltungen der Menschen selbst, sind zäher als selbst die Umgebung, die sie formt. Hier ist der Freudianer und Tiefenpsychologe in Zweig stärker als der Marxist, der immer zu sein er sich vorstellte. Heilung aus Selbsterkenntnis, das war die größte Hoffnung, die Zweig für die Menschheit hatte, deren zweimaligen Untergang er miterlebte – er glaubte später verhängnisvollerweise, ihre Umsetzung in der DDR am ehesten befördern zu können, als er den eben erst gegründeten Staat Israel, in dem er sich verkannt fühlte, verließ und über Prag in den sowjetisch besetzten Teil Berlins übersiedelte. Die Schweiz, über die sein Buch des Lobes voll ist, scheint er nicht in Betracht gezogen zu haben – sie hätte ihn womöglich auch nicht aufgenommen.

Rainer Funk

Erich Fromm und der Holocaust Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte

Die deutsch-jüdische Kulturgeschichte ist in ganz besonderer Weise durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner Nachfolger geprägt. Nicht nur, dass die Psychoanalyse in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich geradezu als eine jüdische Wissenschaft apostrophiert wurde, die einen großen Einfluss auf Literatur, Kunst, Philosophie, Kultur-, Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften hatte; sie wurde auch vom nationalsozialistischen Antisemitismus in besonderer Weise verfolgt und führte zu einem großen Exodus von Psychoanalytikern, um ihrer Ächtung, Verfolgung und Vernichtung zu entgehen. Es gibt kaum ein »dunkleres« Kapitel in der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte als das des Schicksals von deutschen Psychoanalytikern jüdischer Herkunft. Anders als in der Gegenwart, wo sich die Psychoanalyse weitgehend von ihrem gesellschaftskritischen Anliegen verabschiedet hat, sich in erster Linie als Psychotherapieverfahren versteht und sich vom Budget der Krankenversicherungen ernährt, waren damals viele Psychoanalytiker politisch hellwach und wollten mit Hilfe der Psychoanalyse Gesellschaft verändern. Programmatisch umgesetzt wurde dies im Kreis um Max Horkheimer, der 1930 Erich Fromm als Psychoanalytiker in sein »Institut für Sozialforschung« holte und mit Fromm als Ideengeber die Autoritarismusforschung in Gang brachte. Freilich waren die jüdischen und marxistischen Forscher der Frankfurter Schule kritisch genug, die Bedrohung durch den stärker werdenden Nationalsozialismus zu erkennen. Sie brachten bereits vor der Machtergreifung Hitlers das Vermögen des Instituts ins Ausland nach Genf und Paris und fanden mit Fromms Hilfe 1934 eine neue Beheimatung an der Columbia University in New York. Sie entkamen auf diese Weise der unmittelbaren Bedrohung und konnten das Geschehen in Deutschland aus sicherer Distanz beobachten. Eben wegen ihrer tieferen Einblicke in das, was mit der Machtergreifung Hitlers gegen die Juden und die verbliebene jüdische Verwandtschaft in Deutschland geschah, wollten und konnten sie nicht die Augen verschließen. Doch wie gingen sie damit persönlich um?

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Rainer Funk

Das Schweigen jüdischer Wissenschaftler über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Holocaust Der Psychologe Jochen Fahrenberg1 hat die Selbstporträts von 49 Psychologen und Psychotherapeuten sowie von 23 Philosophen jüdischer Herkunft untersucht und dabei festgestellt, dass in deren autobiographischen Selbstdarstellungen die Themen Nationalsozialismus, Juden/Antisemitismus sowie KZ/ Massenvernichtung nur teilweise erwähnt und bearbeitet werden. So sprechen von den 49 Psychologen und Therapeuten nur fünf über Konzentrationslager und die Massenvernichtung und von den 23 Philosophen gar nur einer! Das Thema »Juden« und »Antisemitismus« spielt in den Autobiographien nur bei elf Psychologen und bei drei Philosophen eine Rolle. Erich Fromm macht hier keine Ausnahme: Auch bei ihm fällt auf, dass er sich in seinen Schriften nicht über das Schicksal seiner jüdischen Verwandtschaft äußert. Dies mag zum einen damit zu tun haben, dass seine Familie väterlicherseits klein war und dem Holocaust weitgehend entging. Sein Vater Naphtali Fromm war bereits Ende 1933 gestorben; seine Mutter Rosa Fromm, geb. Krause, zögerte bis nach der Reichspogromnacht mit der Emigration, ging dann 1939 zunächst nach England und von dort 1941 nach New York. Geschwister hatte Erich Fromm keine. Seine Cousine Gertrud, später mit dem Schweizer Maler Max Hunziker verheiratet, ging bereits 1934 in die Schweiz (wo sie noch heute über neunzigjährig lebt), während der jüngste Bruder des Vaters, Simon Fromm, nach Baltimore/USA emigrierte. Ganz anders war die Situation mütterlicherseits bei der Krause-Familie. Diese war groß und zeigte, zumeist in Berlin wohnend, ein lebendiges Zusammengehörigkeitsgefühl. Von den fünf Geschwistern der Mutter Fromms wurden zwei Opfer der Judenvernichtung. Die nächst ältere Schwester Sophie und ihr Mann David Engländer kamen in Theresienstadt um; der nächst jüngere Bruder der Mutter, Martin Krause und seine Frau Johanna, wurden nach Osten in das Lager Trawniki deportiert und dort 1942 umgebracht. Der ältesten Schwester der Mutter, Martha, gelang noch 1939 mit ihrem Mann Bernhard Stein die Ausreise nach Brasilien zu ihren Kindern Fritz und Charlotte. Eine der drei Cousinen der Mutter, Tochter des Talmudgelehrten Ludwig Krause aus Posen, brachte sich 1936 im Exil in Paris selbst um; eine andere Cousine, Gertrud Brandt, wurde von Posen nach Ostrow-Lubelski »umgesiedelt«, von da aus in ein Lager verschleppt und dort 1943 umgebracht. Drei der vier Kinder von Gertrud Brandt wurden verfolgt. Der älteste Sohn, Heinz Brandt, verbrachte als bekennender Kommunist die dreißiger Jahre im Zuchthaus Oranienburg und die Zeit bis zum Kriegsende im KZ Dachau. Der zweite Sohn, Richard Brandt, floh nach Moskau und wurde dort 1938 umgebracht. 1

Vgl. Jochen Fahrenberg: Annahmen über den Menschen. Menschenbilder aus psychologischer, biologischer, religiöser und interkultureller Sicht. Heidelberg: Asanger 2004, S. 325-327.

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Das dritte Kind von Gertrud Brandt, Lili Brandt, ging bereits 1932 nach Moskau, wurde dort Ärztin und kehrte erst 1984 nach Deutschland zurück. Das vierte Kind, der an einem Down-Syndrom leidende Wolfgang, starb deportiert 1942 in Ostrow-Lubelski. Im Erich-Fromm-Archiv in Tübingen und an der New York Public Library gibt es eine ganze Reihe von Dokumenten, die Erich Fromms Hilfe für die Verwandtschaft belegen: So bürgte er für die Emigration von Kurt Wertheim, einem Verwandten väterlicherseits; er unterstützte seine Mutter finanziell und ermöglichte ihr die Emigration nach London und später nach New York; Gertrud Brandt schickte er Geld nach Ostrow-Lubelski; für seinen Cousin Heinz Brandt unternahm er – wenn auch vergeblich – alles, um diesem nach seiner Haftentlassung im Spätherbst 1940 die Emigration nach Shanghai, dann in die USA zu ermöglichen; im Mai 1941 unterschrieb Fromm – ebenfalls vergebens – ein »Affidavit of Support« für seinen Onkel Martin Krause und dessen Frau Johanna, um sie dem Holocaust zu entreißen. In Briefen wird der in New York lebende Erich immer wieder von der Krause-Verwandtschaft als letzter Rettungsanker angesehen. Von all dem lässt sich in dem umfangreichen Werk Erich Fromms2 nichts finden. Autobiographisches gibt es bei Fromm überhaupt nur in einem kleinen Eingangskapitel zu einem Buch über Karl Marx und Sigmund Freud.3 Dort spricht er zwar davon, wie die Destruktivität des Ersten Weltkriegs auf ihn als Heranwachsenden gewirkt hat, doch über die Judenverfolgung und -vernichtung findet sich dort kein Wort. Dabei entstammt Fromm einem das orthodoxe Judentum praktizierenden Elternhaus. Als Kind und Jugendlicher wollte er wie seine Vorfahren väterlicherseits Talmudgelehrter werden. Von seinen Heidelberger Mitstudenten der Soziologie bei Alfred Weber wurde er wegen seiner gelebten jüdischen Religiosität noch als »frommer« Erich tituliert. Erst das Studium bei dem chabad-chassidischen Lehrer Salman Baruch Rabinkow, der als Hauslehrer russischer Emigranten in Heidelberg lebte, und die Begegnung mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds Anfang der Zwanziger Jahre führten 1926 zu einem Bruch mit der Vaterreligion und zu einer lebenslangen humanistisch-religionskritischen Einstellung.4 Die Herkunft aus dem Jüdischen 2

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Das Werk von Erich Fromm liegt seit 1981 in einer zehnbändigen, seit 1999 in einer auch die nachgelassenen Schriften enthaltenden zwölfbändigen Erich-FrommGesamtausgabe vor und ist durch ausführliche Register in Band X und XII erschließbar: Erich-Fromm-Gesamtausgabe (GA) in zwölf Bänden. Hg. von Rainer Funk. Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. Im Folgenden zitiert als Fromm-GA. Erich Fromm: Einige persönliche Vorbemerkungen. In: Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud. Fromm-GA IX, S. 39-45. Zur Biografie Erich Fromms vgl. vor allem Rainer Funk: Erich Fromm – Liebe zum Lebendigen. Eine Bildbiographie. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, sowie Jürgen Hardeck: Erich Fromm. Leben und Werk. Darmstadt: Primus 2005 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).

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verleugnete Fromm dennoch nie, auch wenn er alles Religiöse konsequent ins Humanistische wendete.5 Auffällig sind zwei Aspekte seiner politischen Aktivitäten nach dem Holocaust: Er steht von Anfang an der Staatsgründung Israels kritisch gegenüber und sieht darin – anders als Martin Buber und sein Jugendfreund Ernst Simon – einen Verrat am messianischen Judentum. Auch wurde er nicht müde, für das Lebensrecht der Palästinenser einzutreten und sich von der Politik des Staates Israel zu distanzieren. Andererseits fällt auf, mit welcher Sorge Fromm die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland verfolgte: der Wiedereinzug alter Nazigrößen in das politische Leben Deutschlands, die Wiederbewaffnung Deutschlands, die deutsche Ost- und Berlinpolitik, die Frage der atomaren Bewaffnung Deutschlands, die Notstandsgesetzgebung und das Agieren von Franz-Josef Strauss.6 So fern Fromm dem Gedanken einer deutschen Kollektivschuld und einem schon Jahrhunderte währenden, spezifisch deutschen Antisemitismus stand, der den Holocaust erst ermöglicht haben soll,7 so gab es für den seit 1940 amerikanischen Staatsbürger Erich Fromm, der ab 1950 in Mexiko lebte, eine besondere Sorge um die Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Er gab ihr in zahlreichen Gutachten und Analysen, Hearings und Stellungnahmen für den amerikanischen Kongress Ausdruck und nahm so auf die amerikanische Außenpolitik gegenüber dem Nachkriegsdeutschland Einfluss. Und noch etwas Ungewöhnliches tat Fromm: Als Albert Speer 1969 seine Erinnerungen veröffentlichte8 und darin einige seiner Träume über Hitler während seiner 20jährigen Gefängniszeit in Spandau mitteilte, nahm Fromm brieflich zu ihm Kontakt auf. Anfang der siebziger Jahre schrieb Fromm nämlich an einer Analyse der Persönlichkeit Hitlers9 und erhoffte sich, durch den Kontakt mit Speer mehr über Hitlers Persönlichkeit zu erfahren. Fromm verbrachte damals bereits jeweils die Sommermonate statt in Mexiko in Locarno im Tessin und versuchte, mit Speer in einen persönlich Kontakt zu kommen. Dies gelang auch – zunächst bei einem Treffen in Cannobio auf der italienischen Seite des Lago Maggiore (da Speer nicht in die Schweiz einreisen durfte); später besuchte Fromm Speer in Heidelberg. Speer vertraute 5

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Am eindrucksvollsten hat er dies in zwei Büchern getan: 1950 erschien Psychoanalyse und Religion, 1966 unter dem Titel Ihr werdet sein wie Gott eine »radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition« (beide Bücher in FrommGA VI). Vgl. vor allem die nachgelassenen Schriften im Kapitel »Stellungnahmen zu aktualpolitischen Fragen« in Fromm-GA XI, S. 379-542. Vgl. die spätere Diskussion um Daniel Jonah Goldhagen: Hitler's Willing Executioners. New York: Alfred A. Knopf 1996; deutsch: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler 1996. Albert Speer: Erinnerungen. Berlin: Ullstein 1969. Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Fromm-GA VII, S. 335393.

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Fromm noch weitere eigene Träume an, deren Analyse Fromm in seiner Überzeugung bestärkte, dass Speer sich während der zwanzig Jahre Spandau innerlich verändert hatte.10 Fromm war durch den Holocaust nicht traumatisiert und kannte deshalb auch keine Berührungsängste. Und doch gibt es trotz der genannten Aktivitäten bei Fromm wie bei vielen anderen jüdischen Wissenschaftlern keine direkten Belege dafür, wie er persönlich den Holocaust erfahren hat. Seine Cousine, die in Zürich lebende Psychoanalytikerin Gertrud Hunziker-Fromm, erklärte in einem Gespräch sein und das Schweigen der anderen Wissenschaftler damit, dass die systematische Ausrottung von Millionen Juden und die Bestialität, mit der diese Menschen – auch gebrechliche Alte, wehrlose Kinder, schreiende Säuglinge – ermordet wurden, einfach so unmenschlich und unvorstellbar sei, dass man nicht darüber sprechen möchte. So lässt sich nur indirekt erschließen, wie Fromm mit diesen Erfahrungen umgegangen ist und ob der Holocaust sein Menschenbild und seinen Glauben an den Menschen veränderte.

Der Holocaust und Fromms wissenschaftliche Reflexion Wie viele andere jüdische Wissenschaftler ist auch Erich Fromm mit den Erfahrungen des Holocaust auf eine für Wissenschaftler typische Weise umgegangen: Er hat sie in eine wissenschaftliche Frage gekleidet. In den bereits erwähnten knappen autobiografischen Äußerungen11 formuliert Fromm jene Leitfrage, die ihn Zeit seines Lebens umgetrieben hat und die auch eine Antwort ermöglicht auf die Frage, wie er auf den Holocaust reagierte. Im Blick auf den Suizid einer nahen Bekannten und auf die anfängliche Kriegsbegeisterung für den Ersten Weltkrieg stellte er sich die Frage: »Wie ist so etwas möglich?« Und er fügt hinzu: »Ich wusste natürlich keine Antwort auf diese Frage, aber das ›Wie ist so etwas möglich‹ blieb haften.«12 Die Art, wie sich Fromm durch die Ereignisse infrage stellen ließ, ist beileibe nicht selbstverständlich, zumal nicht für einen damals noch ganz in der Religion verwurzelten Jungen. Als Reaktion wäre eher eine Theodizee-Frage zu erwarten gewesen: »Wie kann Gott so etwas zulassen?« Fromm aber fragt eher wissenshungrig. Er möchte herausfinden, was Menschen zu so destruktiven Lösungen greifen lässt und was in solchen Menschen vor sich geht. 10

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So schrieb Fromm im Klappentext für die amerikanische Ausgabe der Spandauer Tagebücher (Spandau. The Secret Diaries. New York: Macmillan Publishing Co. 1976): »His self-analysis of the reasons why and how he could have been involved with the Nazi criminal gang and his remarkably frank account of the change within himself during twenty years are truly convincing.« – Noch unveröffentlicht ist der im Nachlass in Tübingen befindliche, umfangreiche Briefwechsel zwischen Fromm und Speer. Fromm, Jenseits der Illusionen. Fromm-GA IX, S. 39-45. Ebd., S. 40.

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Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass Fromm seine persönlichen Erfahrungen des Dritten Reiches und des Holocaust wissenschaftlich aufgearbeitet hat und nach einer sozialpsychologischen Erklärung des Verhaltens der Vielen suchte. Sie fand zunächst in dem Buch Die Furcht vor der Freiheit13 ihren literarischen Ausdruck. In ihm wandte Fromm die Einsichten zum sadomasochistischen Charakter14 auf den Autoritarismus und den Führerkult von Faschismus und Nationalsozialismus an. Menschen mit einer autoritären Charakterorientierung projizieren ihre eigenen menschlichen Fähigkeiten und Kräfte – also ihr eigenes Wissen, ihre Autonomie, ihre Vernunft- und Wahrheitsfähigkeit, ihr Liebes- und Gerechtigkeitsempfinden usw. – auf die Autorität, den Führer, und machen diesen zum Allwissenden, Gütigen, Vorbildlichen, Gerechten, Liebenden. Gleichzeitig unterwerfen sie sich diesem Führer, um an den auf ihn projizierten eigenen Kräften sekundär wieder Anteil zu bekommen. In der Unterwerfung unter und im Gehorsam und in der Dankbarkeit gegenüber dem Führer partizipieren sie an seiner Großartigkeit, die in Wirklichkeit eine fiktive – weil projizierte – ist und ihm relativ unabhängig von seiner tatsächlichen Stärke zugeschrieben wird. Die auf diese Weise zustande gekommene Symbiose zwischen Führer und Volk bedeutet eine wechselseitige Abhängigkeit: Das Volk ist ohne seinen Führer verloren, und der Führer ist ohne sein Volk ein Nichts. Mit der symbiotischen Abhängigkeit kommt deshalb auch eine größenwahnsinnige Dynamik in Gang, jede Kritik und Infragestellung vom Führer und seiner Weltanschauung verleugnend fernzuhalten und das Destruktive in jenen zu suchen, die nicht zu dieser arischen Führer-Volk-Einheit gehören. Eine sehr viel weiter gehende Antwort auf seine Erfahrungen des Holocaust gab Fromm Anfang der sechziger Jahre in dem Buch Die Seele des Menschen15 mit seinem Konzept der Nekrophilie – des charakterologischen Angezogenseins nicht vom Autoritären, sondern vom Toten und vom Töten. Ähnlich wie der im autoritären Charakter gebundene Sadismus hat die Nekrophilie viele Gesichter und Erscheinungsweisen. Das Gemeinsame aller nekrophilen Erscheinungsweisen aber ist, dass Menschen sich mehr vom Toten als vom Lebendigen angezogen fühlen. Sie sind darauf aus, Lebendiges zu etwas Leblosem und Totem zu machen, Organisches in Anorganisches zu überführen, Ganzes zu zergliedern und zu zerstückeln, Brauchbares zu verbrauchen, Belebtes zu verdinglichen. Die Beobachtung, dass immer mehr Menschen mehr vom Leblosen als vom Lebendigen angezogen werden, war selbst Fromm anfangs unheimlich. In

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Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. Fromm-GA I, S. 215-392. Erstmals dargelegt in: Erich Fromm: Sozialpsychologischer Teil. Fromm-GA I, S. 141-187. Erich Fromm: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. Fromm-GA II, S. 179-185.

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einem Brief vom 29. September 1962 an die britische Publizistin Clara Urquhart spricht er davon, wie er zu dieser Erkenntnis kam: Kürzlich schrieb ich nachts eine Art Aufruf, in dem es um die Liebe zum Leben ging. Er entstand aus einer Stimmung der Verzweiflung, die mich spüren ließ, dass es kaum noch eine Chance gibt, einen atomaren Krieg zu vermeiden. Plötzlich kam mir und fühlte ich, dass die Menschen gegenüber der Kriegsgefahr deshalb so passiv sind, weil die Mehrheit einfach nicht das Leben liebt. Mir kam der Gedanke, dass ihre Liebe zum Leben anzusprechen statt ihre Liebe zum Frieden oder ihre Angst vor dem Krieg, mehr Wirkung haben könnte.16

Anders als Freud, der in seiner 1920 formulierten Triebtheorie das Destruktive einem dem Lebenstrieb gegenüberstehenden, gleichursprünglichen Todestrieb zuschrieb, hielt Fromm auf Grund biologischer Überlegungen – weil »die Lebenserhaltung das biologisch oberste Prinzip«17 ist – an der humanistischen Erfahrung und Überzeugung fest, dass alles Lebendige eine primäre Tendenz hat, zu wachsen und sich zu entfalten, und dass das Destruktive beim Menschen seine Wurzeln in der Behinderung und Vereitelung dieser Eigengesetzlichkeit des Lebendigen hat. Die Frage der Destruktivität und insbesondere der Nekrophilie ließ Fromm nicht in Ruhe. Fünf Jahre lang, zwischen 1968 und 1973, konzentrierte er nochmals seine ganze Kraft auf die Aggressionsfrage, um schließlich als 73Jähriger das Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität18 vorlegen zu können. Darin verdeutlichte er an vielen Facetten der Ideologie, Struktur und zerstörerischen Praxis des NS-Regimes, wie sehr der Rassenwahn und das Kriegstreiben des Nationalsozialismus mehr oder weniger unbewussten nekrophilen Strebungen entsprangen und wie nekrophil die Persönlichkeit Hitlers war.

Der Holocaust und Fromms humanistisches Engagement Die wissenschaftliche Theoriebildung war nur die eine Seite seines Versuchs, die Erfahrungen des Dritten Reiches zu bewältigen. Die andere war sein politisches und sozialkritisches Engagement für eine psychisch »gesunde« Gesellschaft, das heißt für eine Gesellschaft, die von einem leidenschaftlichen Wunsch nach Vernunft und Liebe, nach der Liebe zum Lebendigen und nach der Orientierung am Sein angetrieben wird statt von zwar gut rationalisierten, aber dennoch die Zerstörung suchenden inneren Kräften. 16 17

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Aus der noch unveröffentlichten Korrespondenz im Tübinger Nachlass von Erich Fromm. Aus einem Interview mit Hans Jürgen Schultz, das 1973 geführt wurde und zunächst unter dem Titel »Im Namen des Lebens«, später in dem Band Über die Liebe zum Leben veröffentlicht wurde. Jetzt zugänglich in Fromm-GA XI, S. 609-630. Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Fromm-GA VII.

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Den ersten von drei Entwürfen hatte Fromm 1955 in seinem Buch The Sane Society19 vorgelegt. Um eine psychisch gesunde und vernünftige Gesellschaft – eine sane society – anstreben zu können, müssen die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse so gestaltet werden, dass sie nicht nur zum Erhalt einer bestimmten Gesellschaft beitragen, sondern zugleich das Gelingen des Menschen zum Ziel haben. Dabei setzt Fromm gemäß seinem sozialpsychologischen Ansatz voraus, dass das, was das Verhalten des Menschen innerlich bestimmt, auf weiten Strecken mit verinnerlichten Anforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu tun hat. Um dies plausibel zu machen, hatte Fromm bereits Anfang der Dreißiger Jahre das Konzept des Gesellschafts-Charakters entwickelt. Ihm zufolge werden die Anforderungen des Zusammenlebens in einer bestimmten historischen Situation als gesellschaftlich geprägte Charakterorientierungen verinnerlicht. Ihre Internalisierung führt dazu, dass Menschen mit Lust und Leidenschaft das tun wollen, was sie aus ökonomischen und gesellschaftlich-kulturellen Gründen tun müssen, wenn sie gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert sein wollen. Wie aber eine Gesellschaft organisiert sein muss, damit nicht nur das gesellschaftliche Zusammenleben gelingt, sondern auch der Einzelne mit seinen Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten zum Zug kommt, dies hat Fromm 1955 in The Sane Society aufgezeigt. Einen zweiten Entwurf skizzierte er 1968 in dem Buch Die Revolution der Hoffnung;20 schließlich fügte Fromm 1976 dem Buch Haben oder Sein einen dritten Teil hinzu mit dem Titel »Der neue Mensch und die neue Gesellschaft«.21 Dort eröffnet er bezeichnenderweise die Aufzählung der »Schwierigkeiten, die es beim Aufbau der neuen Gesellschaft zu überwinden gilt«, mit folgendem Punkt: »Es ist die Frage zu lösen, wie die industrielle Produktionsweise beibehalten werden kann, ohne in totaler Zentralisierung zu enden, das heißt im Faschismus früherer Prägung oder – wahrscheinlicher – im technokratischen ›Faschismus mit einem lächelnden Gesicht‹.«22 Der »technokratische Faschismus mit einem lächelnden Gesicht« scheint inzwischen Realität geworden zu sein. Dass ihn Fromm als Bedrohung für heute spürte, macht noch einen weiteren Aspekt seines Umgangs mit den Erfahrungen des Dritten Reiches und dessen Destruktivität erkennbar. Diese haben ihn nämlich dazu gebracht, sein ganzes Augenmerk auf die Liebe zum Lebendigen zu richten und auf das, was den Menschen gelingen lässt. Auf diese Weise gelangte er für sich selbst bereits 1941 zu der Erfahrung und Überzeugung, dass eine solche Destruktivität »das Ergebnis ungelebten Le19 20 21 22

New York: Holt, Rinehart and Winston 1955; deutsch: Wege aus einer kranken Gesellschaft. Fromm-GA IV. Erich Fromm: Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik. Fromm-GA IV, S. 255-377. Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Fromm-GA II, S. 363-414. Ebd., S. 393.

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bens« ist und dass deshalb gilt: »Je mehr Leben verwirklicht wird, um so geringer ist die Kraft der Destruktivität«.23 Diese in die Tat umgesetzte Antwort auf die Erfahrung von Destruktivität machte ihn zugleich hellwach für alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, die die primäre wachstumsorientierte Tendenz zu ersticken drohen. Fromms Umgang mit dem Holocaust und dem Dritten Reich macht einen Aspekt deutlich, der nicht nur für unseren Umgang mit der Vergangenheit wichtig ist; er ist auch für den Umgang von Vertretern des gegenwärtigen Judentums mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Deutschen von Bedeutung. Solange man ausschließlich mit dem »Nie wieder« (Faschismus, Nazismus, Rassismus, Holocaust) beschäftigt ist, kämpft man innerlich noch immer mit der damaligen Destruktivität und kommt nicht wirklich von ihr los. Die psychische Energie wird im Kampf gegen und im Freiwerden von etwas verbraucht, statt dass sie für das Lebensrecht aller und für die Aktivierung der wachstumsfördernden Eigenkräfte genutzt wird. Fromm will dafür sensibel machen, wo heute und in der gegenwärtigen Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft das Leben vereitelt wird und neue Formen von Destruktivität und Gewalt als Folgen ungelebten Lebens entstehen. Was er 1966 hinsichtlich des Vietnamkrieges sagte, gilt heute angesichts von Präventionskriegen wie dem Irakkrieg oder von selbstmörderischen Terroranschlägen in Israel noch mehr: »Es gibt nur eine Hoffnung, der Welle der Gewalt Einhalt zu gebieten: Wir müssen wieder ein Gespür für alles Lebendige bekommen.«24 Das Dritte Reich und der Holocaust, gegenwärtige Kriege und Terroranschläge sind Folgen einer Vereitelung der primären Wachstumstendenz, für die gilt: »wenn ich kein Leben schaffen kann, dann kann ich es zerstören«.25 Fühlt der Mensch nur noch seine »Ohn-Macht«, irgendetwas bewirken zu können, dann liegt der Ausweg nahe, das Leben selbst vereiteln zu wollen, indem man sich und/oder andere zerstört. Die Forschungen zur Traumatisierung verdeutlichen die tragischen Folgen erlittener Gewalt. Traumatisierende Gewalt führt nur allzu oft dazu, dass die Opfer von Gewalt selbst zu Gewalttätigen werden. Diese Identifizierung mit dem traumatisierenden Täter kann auf zwei – nach außen hin völlig unterschiedliche – Weisen erfolgen. Die eine Möglichkeit ist, dass sich das Opfer mit dem Gewalttäter in der Weise identifiziert, dass es die Gewalt gegen sich selbst richtet und deshalb von furchtbaren Ohnmacht- und Wehrlosigkeitsgefühlen bzw. von Schuld-, Scham- und Angstgefühlen gepeinigt wird, die je neu das Ziel haben, dem Opfer, das heißt also sich selbst, das Lebensrecht streitig zu machen. 23 24 25

Fromm, Die Furcht vor der Freiheit. Fromm-GA I, S. 324. – Hervorhebung Rainer Funk. Erich Fromm: Der Vietnamkrieg und die Brutalisierung des Menschen. Fromm-GA IX, S. 509. Erich Fromm: Wege aus einer kranken Gesellschaft. Fromm-GA IV, S. 30.

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Die andere Möglichkeit besteht darin, dass man die Gewalt nicht gegen sich selbst richtet, sondern nach außen wendet und also anderen genau das zuzufügen versucht, was man selbst erlitten hat. So wird im zwischenmenschlichen Bereich das Opfer von gestern zum Täter von heute. Angewandt auf die traumatisierten Überlebenden des Holocaust kann deshalb mit Recht gefragt werden, ob die Siedlungspolitik der Israelis und ein Krieg, mit dem der Hamas der Garaus gemacht werden soll, unbewusst nicht gerade dieses Ziel verfolgt: den Palästinensern das Lebensrecht streitig zu machen. Fromms persönliche Antwort auf den Holocaust ist eine engagierte Liebe zum Lebendigen, die, sofern sie realisiert und »in Erfahrung« gebracht wird, den Glauben an den Menschen und ein humanistisches Menschenbild ermöglicht. Diese persönliche Antwort Fromms auf den Holocaust ist nicht selbstverständlich. Sie wurde möglich, weil Fromm kein Opfer des Holocaust war, aber auch, weil er in einer jüdischen Lebenspraxis groß wurde, die bei aller Fixierung an orthodoxes Brauchtum und Ritual von einem messianischen Geist geprägt war, für den ein tiefer Glauben an den Menschen und eine unzerstörbare Hoffnung auf das Menschen-Mögliche kennzeichnend ist. Fromms humanistisches Credo wurde durch den Holocaust nicht erschüttert, sondern gestärkt. Grundsätzlich gilt für Fromm – und darin unterschied er sich von seinem institutsinternen Rivalen Adorno – auch nach Auschwitz: »Was anzieht, ist das Lebendige«,26 und dass es die primäre Tendenz von allem Lebendigen ist, zu wachsen und sich zu entfalten.27 Wird diese allerdings vereitelt, »dann macht die gehemmte Energie einen Umwandlungsprozess durch und wird zu einer Leben zerstörenden Energie«.28 Das humanistische Credo Fromms lässt sich deshalb mit dem bereits zitierten Satz aus dem Jahr 1941 zusammenfassen: »Je mehr Leben verwirklicht wird, um so geringer ist die Kraft der Destruktivität.«29 Wie sehr Fromm mit seinem Humanismus aus einer bestimmten, dem Leben und Lebendigen verpflichteten jüdischen Tradition schöpfte, mögen abschließend einige Sätze aus den Briefen verdeutlichen, die seine Großtante, Gertrud Brandt, schrieb. Sie war die Mutter des Gewerkschafters Heinz Brandt, der 26 27 28 29

Erich Fromm: Im Namen des Lebens. Ein Porträt im Gespräch mit Hans Jürgen Schultz. Fromm-GA XI, S. 627. Vgl. hierzu vor allem Rainer Funk: Erich Fromms kleine Lebensschule. Freiburg: Herder 2007, S. 90-108. Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik. Fromm-GA II, S. 137. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit. Fromm-GA I, S. 324 (Hervorhebung Rainer Funk). – Fromm hat sein humanistisches Credo auch ausformuliert. Eine erste Version hat er selbst als »Credo« am Schluss seines Buches Jenseits der Illusionen. Fromm-GA IX, S. 151-157, veröffentlicht. Im Nachlass Fromms befand sich noch eine zweite Version, die in den Jahren nach 1962 entstanden sein muss und die ich als »Credo eines Humanisten« in Band XI der Erich-Fromm-Gesamtausgabe (S. 593-596) veröffentlicht habe.

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wegen seiner politischen Haltung während des Dritten Reiches zwölf Jahre im Gefängnis und in Konzentrationslagern verbrachte und im Alter sich noch gegen die Gewalt der Atomlobby zur Wehr setzte. Vom ihm stammt der Slogan »Gorleben soll leben«. Gertrud Brandt wurde von Posen in ein Judenghetto nach Ostrow-Lubelski in Ostpolen deportiert und von dort schließlich in ein Vernichtungslager gebracht, wo sie 1943 umgebracht wurde. Ihre letzten Zeilen stammen aus dem Lager in Ostrow-Lubelski.30 Von diesem Lager aus bettelte sie um Hilfs-Pakete, um den Kontakt zur Außenwelt aufrecht zu erhalten und das Lagerleben erträglicher zu machen. Im Februar 1943 schrieb sie: Ja, ich fühle es ganz, dass der Schmerz nicht abschließen und verhärten darf. Ich bin schon durch viele Tore des Leids gegangen; sie haben mich nicht in Finsternis geführt. Wie bei einem Blinden alle Sinne sich schärfen, so steckt meine Seele alle Fackeln an, wenn mir das Leben dunkel ist, um den Weg nicht zu verlieren. [...] Das Gegebene wäre für mich jetzt, intensiv tätig zu sein und nach Kräften zu helfen. Leider wird mir das unmöglich. Die Not hindert, der Not zu begegnen. Es gibt kaum noch Helfende, Hilfsfähige, nur noch Hilfsbedürftige. Wie lastet das! Ich denke und quäle mich, Auswege zu finden. Es ist nicht möglich, sagen die Menschen, sagen die Zustände. Aber ich möchte es erzwingen: Wenn es nicht möglich ist, so muss das Unmögliche versucht werden, denn die Menschen gehen an Schwäche zugrunde. Sie gehen verloren: Väter, denen eine Familie nachtrauert, Mütter von ihren Kindern. Und ich kann nur in Bescheidenheit vom Eigenen abgeben und teilen bis an die äußerste Grenze. Wirklich helfen kann ich nur ganz wenigen. Ich kann das Riesenrad nicht aufhalten. Seit die Pakete aufgehört haben, ist die Not grenzenlos.

Auf einer letzten Karte teilte sie mit, dass das Lager Ostrow-Lubelski geräumt werden müsse für Nachkommende, was bedeutete, dass die bisherigen Lagerinsassen noch weiter nach Osten in ein anderes Lager gebracht wurden, um dort vergast zu werden. Am 22. April 1943 schreibt sie: Von mir ist jede Angst vor Veränderung abgefallen. Ich habe ein gedrängt reiches Leben durchlebt, und ob das nun mit einer langen Schleife endet oder kurz abgeschnitten wird, finde ich ziemlich unwichtig. Solange ich nutzen kann, will ich es tun. Und wer sagt mir, dass ich es unter veränderten Verhältnissen nicht ebenso oder noch mehr tun kann?

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Die hier veröffentlichten Abschnitte sind einer Publikation von Briefen der Verwandtschaft Erich Fromms entnommen, die dem folgenden Beitrag beigefügt sind: Rainer Funk: Erleben von Ohnmacht im Dritten Reich. Das Schicksal der jüdischen Verwandtschaft Erich Fromms, aufgezeigt anhand von Dokumenten und Briefen auf dem Weg in die Vernichtung. In: Fromm Forum, Nr. 9, Tübingen: Eigenverlag der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft 2005 (deutsche Ausgabe – ISSN 14370956), S. 35-79.

Monika Richarz

Biographie und Remigration – Die Rückkehr Julius Poseners nach Berlin

Die meisten deutschen Juden, die überlebten, haben sich nach 1945 wohl kaum ernsthaft die Frage gestellt, ob sie nach Deutschland zurückkehren sollten. Die Möglichkeit einer Rückkehr zuzulassen war mit zu viel Erinnerung und Schmerz verbunden. Wer im neuen Land Wurzeln geschlagen hatte, aus Deutschland kaum mit dem nackten Leben hatte fliehen können oder nahe Angehörige in der Shoa verloren hatte, für den war die Frage einer Rückkehr stark tabuisiert. Zahlreiche jüdische Flüchtlinge hatten sich geschworen, nie wieder deutschen Boden zu betreten und sind jahrzehntelang dabei geblieben. Schon die Tatsache, dass es überhaupt jüdische Remigranten gab, hat viele der Vertriebenen mit heftiger Abwehr und Kritik erfüllt. In das Land der Mörder zurückzukehren war ein Tabubruch, für den es kein Verständnis, oft sogar Verachtung gab. Und doch hat in beide deutsche Staaten eine Remigration eingesetzt, die bis in die neunziger Jahre anhielt. Sie ist auf etwa vier bis fünf Prozent der jüdischen Emigranten geschätzt worden.1 Diese Rückwanderer gehörten sehr unterschiedlichen Gruppen an. Manche waren jüdische Sozialdemokraten und Kommunisten, die am Aufbau eines neuen politischen Lebens mitwirken wollten und sich oft selbst nicht mehr als Juden verstanden, andere waren Schauspieler und Schriftsteller, die sich an die deutsche Sprache gebunden fühlten, und dazu kamen Rabbiner, Wissenschaftler und Unternehmer, auf die frühere und neue Aufgaben in Deutschland warteten. Über diese Elite sind wir durch die bisherige Forschung schon teilweise informiert, während wir über die nicht 1

Marita Krauss: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945. München: C. H. Beck 2001, S. 9. Dies Buch gibt einen Überblick zum Thema Remigration mit Bibliographie. Siehe auch die Aufsatzsammlungen: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch 9 (1991) Exil und Remigration; Leo Baeck Institute Year Book, Vol. XLIX, Oxford: Berghahn Books 2004. Sektion »Remigration«, S. 107-224; »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause«. Jüdische Remigration nach 1945. Hg. von Irmela von der Lühe, Axel Schildt und Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen: Wallstein 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden. Hg. von Stefanie Schüler-Springorum und Andreas Brämer; 34). Gute Einblicke in Entscheidungsprozesse zur Remigration bei Wissenschaftlern im Exil gibt auch die Briefsammlung: Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977. Eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter. München: Oldenbourg 2006.

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Prominenten bisher wenig wissen. Zu diesen gehörten etwa die ziemlich zahlreichen Remigranten, die in Israel nicht Fuß fassen konnten und die älteren Rückwanderer, die in Deutschland ihren Lebensabend verbringen wollten. Im Leben all dieser Remigranten gab es den entscheidenden Entschluss zur Rückkehr und fast immer die Erfahrung in ein Land gekommen zu sein, das ihnen fremd geworden war und sie nur selten willkommen hieß. Diese Entscheidung zur Rückkehr war – im Gegensatz zur Emigration – eine ganz individuelle, denn sie basierte auf sehr unterschiedlichen Motiven und Lebenserfahrungen. Es soll deshalb im Folgenden an einem Einzelbeispiel gezeigt werden, dass die Entscheidungsfindung nicht allein von einem möglichen Arbeitsangebot abhing, sondern bewusst und unbewusst bedingt war durch die gesamte bisherige Biographie des Rückkehrers. Sie bestimmte auch die Erwartungen, die der Einzelne von einem zukünftigen Leben in Deutschland hatte. Wesentliche Faktoren der Entscheidung waren neben Geschlecht und Alter des Betroffenen vor allem das jüdische Selbstverständnis, Bildung und Beruf, Verfolgungserfahrung unter dem Nationalsozialismus, die Situation in der Emigration, Familienbindungen, die politische Einstellung und das aktuelle Deutschlandbild. Diese komplexen Faktoren der Entscheidungsfindung in ihrer dynamischen Entwicklung zu zeigen, erfordert die Analyse der gesamten Lebensgeschichte. In dieser Mikrostudie über Julius Posener soll versucht werden, nach den entsprechenden Aspekten in seinem Leben zu fragen und nach ihrer Bedeutung für seinen Entschluss zur Rückkehr nach Deutschland. Der Architekturhistoriker und Architekt Julius Posener wurde 1904 in Berlin geboren als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie, emigrierte 1933 nach Frankreich und 1935 nach Palästina, war seit 1941 britischer Soldat, 1945-47 in Deutschland stationiert und arbeitete dann in Großbritannien und Malaysia, ehe er 1961 nach Berlin zurückkehrte und fast 35 Jahre später 1996 in seiner Heimatstadt starb.2 Dieses sehr bewegte Leben in fünf Ländern erhielt seine berufliche Kontinuität durch Poseners stetes Interesse an der Architektur seiner Epoche, seine zahlreichen Publikationen auf diesem Gebiet und seine Tätigkeit als akademischer Lehrer der Architekturgeschichte. Zweimal im Leben schrieb Posener eine Autobiographie. Die erste, verfasst in Malaysia in englischer Sprache, brach er 1957 als Fragment mit dem Jahr 1933 ab. Sie wurde erst aus seinem Nachlass in deutscher Übersetzung veröffentlicht3 und zeichnet sich durch größere Spontanität und Offenheit aus als die zweite, ein Alterswerk, das aber ebenfalls den Schwerpunkt auf Kindheit 2

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Julius Posener gehörte zu den ganz wenigen Architekten, die in die Bundesrepublik zurückkehrten. Vgl. Anna Minta/Bernd Nicolai: »Laßt Euch sagen, daß Deutschland Eurer (nicht) bedarf.« Zur Problematik der Architekten-Remigration in die beiden Teile Deutschlands. In: »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause« (wie Anm. 1), S. 313-338. Julius Posener: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany Again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hg. von Julius Posener. München: Siedler 2004.

Biographie und Remigration – Die Rückkehr Julius Poseners nach Berlin

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und Jugend legt.4 Daneben veröffentlichte Posener einen Bericht über seine Eindrücke als britischer Soldat in Deutschland 1945 bis 1946,5 und aus seinem umfangreichen Nachlass erschien als weiteres Lebenszeugnis eine Auswahl seiner Briefe.6 Diese autobiographischen Texte, durchweg von literarischer Qualität, erlauben es, wesentliche Aspekte seines Lebens zu rekonstruieren. Julius Posener entstammte einer reichen und stark assimilierten Familie. Sein Vater war Maler und seine Mutter, Gertrud Oppenheim, ausgebildet als Pianistin, hatte ein erhebliches Vermögen mit in die Familie gebracht. Von diesem hat die Familie bis in die Zeit des Nationalsozialismus vorwiegend gelebt. In den Altersmemoiren gibt Posener den für deutsch-jüdische Erinnerungen an das 19. Jahrhundert typischen Bericht über den sozialen Aufstieg der Familie bei gleichzeitiger Abnahme ihrer Religiosität. Sein väterlicher Großvater aus Posen, ursprünglich Schneider, hatte es in Brasilien zum erfolgreichen Juwelenhändler gebracht und war im Alter nach Berlin zurückgekehrt. Der mütterliche Großvater, aus Berlin stammend, war hier in den Gründerjahren nach 1871 als Immobilienhändler wirklich reich geworden. Als er 1904 starb und sein Enkel Julius entsprechend jüdischer Sitte nach ihm benannt wurde, hinterließ er seinen Kindern ein Vermögen, das vor allem aus Immobilien im Zentrum Berlins bestand. Die daraus resultierende materielle Sicherheit auch der Familie Posener beeinflusste ihr Denken und Handeln. Die Kunst wurde zum eigentlichen Zentrum ihres Lebens, und die Bildung ersetzte weitgehend die Religiosität der Vorfahren. Julius Posener, der im Alter zu den bekannten Berliner Linksintellektuellen gehörte, schrieb kritisch im Fazit seines Lebens: »Die Verachtung des Geldes [ist] ein Bestandteil der restlosen Assimilation geworden, die dieses jüdische Bürgertum anstrebte und die solchen Leuten, wie meinen Eltern gelungen ist«.7 Die Assimilation der Eltern war indes nicht vollständig, wie Posener an anderer Stelle selbst bemerkt, und führte durchaus nicht zur Akzeptanz durch das deutsche Bürgertum. Die Eltern wünschten, dass ihre Kinder jüdische Ehepartner heirateten und waren keineswegs zur Taufe bereit.8 Die religiöse Haltung der Eltern fasste Julius Posener so zusammen: Meine Eltern glaubten an Gott und nannten sich Juden, aber im Grunde war es nicht mehr als ein aufrichtiges Zugehörigkeitsbekenntnis zu einer Gemeinschaft, der man 4 5

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Julius Posener: Fast so alt wie das Jahrhundert. Berlin: Siedler 1990. Julius Posener: In Deutschland 1945 bis 1946. Kommentierte Ausgabe mit einem Nachwort von Alan Posener. Berlin: Siedler 2001. Die Originalausgabe erschien 1947 in Jerusalem als hektographierter Privatdruck unter dem Autorennamen »Julius«. Julius Posener. Ein Leben in Briefen. Ausgewählte Korrespondenz 1929-1990. Hg. von Matthias Schirren und Sylvia Claus im Auftrag der Stiftung Akademie der Künste. Berlin, Basel: Birkhäuser 1999. Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 310. Ebd., S. 72f.

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in Deutschland feindselig gegenüber stand und die in Osteuropa verfolgt wurde. Sie waren, was man Trotzjuden nannte, Juden aus Stolz und Protest.9

Diese Haltung war unter »nicht jüdischen Juden« schon im Kaiserreich durchaus verbreitet. Über den positiven Inhalt des Gottesglaubens der Eltern schreibt er: »Es war eine Art Goethe-Spinozascher Pantheismus, den unser Vater uns mit Erfolg glaubhaft zu machen suchte«.10 Die Familie beging die christlichen Feiertage in ihrer säkularen Form, vor allem Weihnachten als »deutsches Fest«. An Ostern gab es jedoch eine besondere Zeremonie: der Vater las den drei Söhnen feierlich die Osterszene aus dem Faust vor und machte mit ihnen einen Osterspaziergang. Wie Goethe lehnten die Eltern Dogma und Konfession ab: Mit anderen Worten: der religiöse Glaube ist fürs einfache Volk. Ein kultivierter Mensch besitzt seine eigene Religion, und das ist die Religion der Kultivierten, deren Heilige und Engel die großen Künstler sind.11

Und in der Tat nahm die Kunst den zentralen Platz in der Familie ein. Beide Eltern musizierten auf hohem Niveau, besuchten Konzerte und ließen alle Kinder ein Instrument erlernen. Sie besuchten mit ihnen die Museen, trugen Dichtung vor, die Bibliothek des Vaters stand den Söhnen offen, und auch sein Atelier befand sich im Hause. Früh wurde Julius mit Musik und Kunst bekannt gemacht und hatte hier entscheidende Bildungserlebnisse. Auch schulische Bildung galt als hoher Wert, und sobald Julius an Fleiß nachließ, wurde ihm das Schrecklichste angedroht – er könne wohl nur Kaufmann werden. Der junge Posener schrieb Hunderte von Gedichten und stand zeitweise ganz unter dem Einfluss von Friedrich Gundolf. Ein besonderes Zeichen der Assimilation sah Posener zu Recht in der Tatsache, dass die Familie 1905 Berlin verließ und in die vornehme Villenkolonie Groß-Lichterfelde im Südwesten Berlins zog, die bis 1920 nicht zur Reichshauptstadt gehörte. Es gab dort 1905 nur 0,6 Prozent jüdische Einwohner (Berlin 4,8 Prozent), unter denen die Familien Oppenheim und Posener den führenden Platz einnahmen. Lichterfelde bildete eine sozial sehr spezifisch zusammengesetzte Villenkolonie von stark deutsch-nationaler Prägung.12 In Lichterfelde war 1880 die preußische Hauptkadettenanstalt errichtet worden, und hier befand sich auch die Garnison des Gardeschützencorps. Dementsprechend waren vor allem hohe Militärs und Beamte und viele Adlige nach Lich9 10 11 12

Posener, Heimliche Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 38. Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 63. Ebd., S. 41. Thomas Wolfes: Die Villenkolonie Lichterfelde. Vom Prototyp des »grünen Vorortes« zum Refugium für das konservative Bürgertum. In: Berliner Villenleben. Die Inszenierung bürgerlicher Wohnwelten am grünen Rand der Stadt um 1900. Hg. von Heinz Reif. Berlin: Gebr. Mann 2008 (Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin. Hg. von Uwe Schaper), S. 175-197. Dieser Sammelband über die Villenkolonien Berlins ist bezeichnenderweise Julius Posener gewidmet.

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terfelde gezogen, was die Poseners offensichtlich als ein ihnen adäquates Milieu ansahen. Dies war angesichts des nach den Gründerjahren und besonders im Weltkrieg stark steigenden Antisemitismus eine erstaunliche Selbsttäuschung. Aus Poseners Erinnerungen wird deutlich, dass die Familie Oppenheim-Posener in Lichterfelde isoliert war und nur untereinander verkehrte. Ihre schönen Landhäuser waren wie Burgen. In der Schule ließ man ihre Kinder ihr Jüdischsein schmerzlich spüren. Der Vater Posener verlangte von seinen Söhnen ausdrücklich, jede antisemitische Beleidigung tätlich abzuwehren. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, suchten die Poseners mit den übrigen Lichterfelder Familien an patriotischen Taten zu wetteifern. Ihr ältester Sohn meldete sich mit 16 Jahren als Kriegsfreiwilliger. Nach der Niederlage gab der vierzehnjährige Julius Kaisertreue und deutsch-nationale Haltung nur allmählich auf angesichts des damit immer stärker verbundenen Antisemitismus.13 Es blieb die Erinnerung an eine menschlich und kulturell erfüllte Kindheit in sehr konservativem Milieu. Bei aller kritischen Distanz hat Posener in seinen beiden Autobiographien diese Kindheit vor 1914 doch nostalgisch verklärt, und sie prägte ihn lebenslänglich: Die Familie wurde bei uns fast kultisch verehrt und verlieh uns Wurzeln und einen Hintergrund, mit einem Wort Sicherheit, die uns nie verließ. Wie die Söhne der Aristokratie waren wir gegen alle Wechselfälle des Lebens durch die Gewissheit gefeit, dass wir, komme, was da wolle, Poseners waren.14

Im Laufe seines Lebens hat Posener die Haltung seiner Eltern zur Religion für sich weiter liberalisiert und heiratete zweimal christliche Frauen, verstand sich selbst aber immer als Jude. Seinen politischen Standpunkt dagegen wechselte er mit der Lebenserfahrung radikal. In der Nachkriegszeit begann für den jungen Posener eine halbherzige Beschäftigung mit dem Zionismus unter dem starken Einfluss seines etwas älteren Bruders Ludwig, dem er lebenslänglich sehr nahe stand. Julius sah in seinem Bruder bewundernd einen entschlossenen Tatmenschen, während er sich selbst als zögerlich schildert. Der Bruder war angesichts antisemitischer Erfahrungen dem zionistischen Wanderbund Blau-Weiß beigetreten, was zu schweren Konflikten mit dem Vater Posener führte, der seine Erziehung gescheitert und sein eigenes Deutschtum durch den Zionismus gefährdet sah. Julius nahm in der Gruppe seines Bruders an Wanderungen des Blau-Weiß teil, er vermied aber den offiziellen Beitritt zum Wanderbund. Seine Begründung dafür spiegelt eine Haltung, die er auch bezeichnenderweise später in Palästina nicht ablegen konnte. Ihm missfielen Juden, die er als jüdisch empfand – die war er aus Lichterfelde nicht gewohnt. Er bewunderte dagegen einen jüngeren blonden Freund und identifizierte sich mit Tonio Krögers Verehrung der Blonden

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Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 107. Posener, Heimliche Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 112.

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und Blauäugigen in Thomas Manns Novelle.15 Die Berliner Juden kannte er kaum: Der Blau-Weiß-Zug meines Bruders Ludwig war für mich die erste Erfahrung mit dem Bayerischen Viertel in Berlin, in dem viele Juden wohnten. Eine Straße wie die Bamberger Straße […] war für mich eine neue und unangenehme Erfahrung. So unangenehm, dass ich mich fragte, ob die Antisemiten, die in Lichterfelde Unrecht hatten, dort nicht am Ende recht haben konnten.16

In den frühen Erinnerungen kommentiert Posener seine Haltung selbst deutlich: »Diese Abneigung war sehr spezifisch, genauer gesagt, antisemitisch.«17 Die Kindheit in einer sehr assimilierten Familie hatte Posener auch im Verhältnis zu anderen Juden geprägt, und er war sich dessen bewusst. Zionismus als Gemeinschaftsidee schreckte ihn früh ab, was in seinem Leben zweimal zu einer Entscheidung gegen ein Leben in Palästina/Israel führen sollte. In der Oberstufe des Gymnasiums trat Posener der Antisemitismus in seiner bildungsbürgerlichen Form entgegen durch einen von ihm hoch verehrten Lehrer, der Juden die Fähigkeit absprach die Tiefe der deutschen Kunst wirklich zu erfassen oder selbst als deutsche Künstler zu wirken. Zwar erklärte der Lehrer Julius für eine Ausnahme von dieser Regel, aber diesen traf das umso mehr, zumal von da an seine Klassenkameraden ihn auch der gegenseitigen Freundschaft für unfähig erklärten.18 Dennoch war es dieser Lehrer – er wurde später Nationalsozialist –, der auf Posener in den letzten Klassen den stärksten Einfluss hatte. Die Berufswahl fiel dem immer Zögernden schwer, doch schließlich studierte er, den schon in seiner Kindheit Landhäuser faszinierten, Architektur. Posener hat später nur ein einziges Haus gebaut, während sein eigentliches Metier die Architekturgeschichte wurde. Seine wichtigste Erfahrung im Studium war neben seinem Lehrer Hans Poelzig die Begegnung mit den Berliner Landhäusern von Hermann Muthesius, die ihm als der Urtyp der Häuser seiner Kindheit erschienen. Er hat über sie geforscht und geschrieben und bis ins hohe Alter in Berlin für ihre Erhaltung gekämpft. Die Villa, das Familienhaus, war ihm der eigentliche Gegenstand der Architektur. Als Posener 1961 nach Berlin zurückkehrte, hat er sich wieder im Berliner Südwesten mit seinen unzerstörten Villen und Landhäusern niedergelassen. Sie haben ihm offensichtlich die Rückkehr erleichtert. In den Jahren 1929 und 1930 arbeitete der junge Posener als Zeichner bei Architekten in Paris und begann für deutsche und französische Architekturzeitschriften zu schreiben. Zurückgekehrt, war er arbeitslos und beobachtete den Aufstieg der Nazis in Berlin. Am Ende seiner ersten, Fragment gebliebenen Memoiren schrieb er unerschrocken: »Dem Leser dieser Erinnerungen kann 15 16 17 18

Ebd., S. 112f. Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 112. Posener, Heimliche Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 120. Ebd., S. 149f.

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nicht ganz entgangen sein, dass ein gewisser Nährboden für den Nationalsozialismus in mir selbst vorhanden war.«19 Er nennt als Beleg seine Bewunderung für Robespierre, seine Akzeptanz des Führerprinzips und seine Verachtung für die Republik und das parlamentarische System. Zwar teilte er diese Haltung mit vielen Anhängern der politischen Rechten, doch nur mit einer kleinen Minderheit extrem assimilierter Juden. Julius Posener hätte Deutschland 1933 nicht verlassen müssen, er fühlte sich auch nicht gefährdet. Gerüchten, dass im Keller des Columbus Hauses von Erich Mendelsohn, an dem Posener als unbezahlter Bauführer gearbeitet hatte, Verhaftete gefoltert würden, schenkte er keinen Glauben. Doch er war arbeitslos, und seine Mutter drängte ihn, wieder nach Paris zu gehen. Die Redaktion der angesehenen Zeitschrift L’Architecture d’Aujourd’hui, für die er schon gearbeitet hatte, bot ihm eine Stelle als Redaktionssekretär an. Es handelte sich also eigentlich im Frühjahr 1933 nicht um eine Auswanderung oder gar Flucht, doch Paris wurde zunehmend zum Exil. Er traf hier auf viele Flüchtlinge aus Deutschland, lebte anfänglich in einem Emigrantenhotel und aß in einem Zentrum für Emigranten. Bei der Zeitschrift, in der er auch publizierte, war Posener sehr erfolgreich, doch fühlte er sich als Emigrant in Frankreich zunehmend »Fußtritten« ausgesetzt und beschloss deshalb 1935 das Land zu verlassen. Posener wandte sich, wie schon in Berlin, an Erich Mendelsohn, der inzwischen als Jude selbst emigriert war, in London arbeitete und 1934 auch ein Büro in Jerusalem eröffnete. Mendelsohn lud ihn ein, für ihn in Jerusalem zu arbeiten, so dass Posener wiederum beruflich gesichert war. Sein Motiv, trotz seiner ambivalenten Haltung zum Zionismus nun doch nach Palästina zu gehen, war neben dem Stellenangebot vor allem der verletzte Stolz eines Emigranten und die Hoffnung in Palästina freier leben zu können. An seine Mutter schrieb er: Palästina ist für mich eine unausweichliche Notwendigkeit, vom egoistischen Standpunkt aus, weil ich nicht ewig der leise tretende kleine Mann sein will, der sich wegen seines Daseins entschuldigen muss, und auch noch etwas mehr: Ich empfinde, außer diesem egoistischen Standpunkt doch für alle Juden und mit allen Juden und wünsche, dass sie sich alle zusammen täten und »ja« sagten zu ihrem Volk und »nein« zu dem Schicksal, das immer wieder versucht, Geduckte und Geduldete aus diesem Volk zu machen.20

Er wolle einen solchen geduldeten Zustand nicht auch noch auf ein Kind vererben, »damit es wieder liebt, wo es gehasst wird, und wirkt, wo man es ungern duldet«, fügt er in bitterer Erkenntnis hinzu. Als »Heimatland« empfinde er allerdings Palästina nicht in seinem »beschränkten Zionismus«. 19 20

Ebd., S. 420f. Bemerkungen wie diese sind in den Alterserinnerungen nicht zu finden. Posener, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 6), S. 42 (Brief vom 28.2.1935 an Gertrud Posener, Berlin).

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Dieser beschränkte Zionismus Poseners wurde in Palästina durchaus auf die Probe gestellt, zumal ihn Mendelsohn schon 1936 wieder entlassen musste und er beruflich nie Fuß fassen konnte. Posener begann wieder für Zeitschriften zu schreiben, lebte von gelegentlichen Aufträgen und zeitweise von aus Berlin transferiertem Kapital. Doch vor allem fand er in Palästina nicht die Freiheit unter seinesgleichen, die er erhofft hatte, sondern erlebte sich als Fremden zwischen der arabischen Bevölkerung und den für ihn nicht minder exotischen osteuropäischen Juden. Er bewunderte die Ästhetik der Araber, ihre Häuser, ihre Haltung und Kleidung, machte sich aber zumal nach den 1936 beginnenden Unruhen keine Illusionen über ihre Gefühle: Jedes Dorf in diesem Land hat einen Namen, den man in vor dreitausend Jahren abgefassten jüdischen Schriften findet, und dieses Land ist Feindesland wie nur irgendein Land auf der Erde, voll von einer Gehässigkeit gegen den Eindringling, gegen die es … kein Argument gibt.21

Auf der anderen Seite begegnet er wie im Blau-Weiss wieder dem ihm unbekannten Judentum, hier vor allem in der Gestalt ostjüdischer Proletarier und Chassidim. Seine Reaktion ist Ekel und Abwendung. Posener bleibt gefangen in seiner Bürgerlichkeit und Assimilation. Diese Erfahrungen und die konkrete politische Situation – die deutschen Truppen standen bereits in Ägypten und Syrien – veranlassten ihn im Mai 1941 sich als Freiwilliger zur britischen Armee zu melden, der er bis Ende 1946 angehörte. Nach der Ausbildung ist er in Ägypten und Palästina stationiert, wird Ende 1944 nach Süditalien verlegt und überquert als britischer Offizier der Royal Engineers am 6. April 1945 bei Xanten den Rhein. Am 8. Mai 1945, dem Tag des Sieges, schreibt er an seinen Bruder in Jerusalem, dass seine Untergebenen nun bald nach Hause entlassen werden: »Ich dagegen, fremder Soldat im Geburtsland, habe nicht Heimat im vollen Sinne, die mich nach all dem aufnehmen wird. Ich gehöre nur zu Euch«.22 Sein Bruder Ludwig war als Zionist nach Palästina ausgewandert und lebte mit seiner Familie als Lehrer in Jerusalem. Diese Familie war ihm »Heimat«, nicht Palästina. In der Lichterfelder Villa hatte die Familie fast religiösen Status besessen, doch von dieser Familie war ihm nur der Bruder Ludwig geblieben – die Eltern waren gestorben, der älteste Bruder mit seiner Frau nach Australien ausgewandert, wo er schon 1946 an den Folgen der Verwundung im Ersten Weltkrieg starb, und Julius Posener selbst war mit 41 Jahren unverheiratet. Trotz oder wegen dieses Gefühls der Heimatlosigkeit stellte Posener erstaunt fest, dass er beim Einmarsch in Deutschland, das die entsetzlichsten Verbrechen an Juden begangen hatte, gelassen blieb und ihm das Land sofort 21 22

Posener, In Deutschland 1945 bis 1946 (wie Anm. 5). Zitat aus einem Brief an Ursula Philipp in London 1936 aus dem Nachwort von Allen Posener, S. 200. Posener, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 6), S. 152 (Brief vom 8.5.1945 an Ludwig Posener, Jerusalem).

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sympathisch war, wie er es ausdrückt.23 Er empfand auch Mitleid mit der hungernden Bevölkerung in den zertrümmerten Städten. Als technischer Offizier hatte er Notunterkünfte für Flüchtlinge und DPs in der britischen Besatzungszone zu organisieren. Obgleich er die Beteuerungen der Deutschen, von der Judenvernichtung nichts gewusst zu haben, als unglaubwürdig zurückwies, plädierte er für eine kollektive Verantwortung, doch nicht für eine Kollektivschuld. Er selbst hatte keine nahen Angehörigen und Freunde in der Shoa verloren. Während des Krieges hatte er von den Berichten über Judenmorde nur ein Zehntel geglaubt, wie er schreibt, doch jetzt wurde das ganze Ausmaß der Vernichtung enthüllt. Als Poseners Dienstzeit Ende 1945 ablief, ließ er sie um ein Jahr verlängern in der Hoffnung, dass er angesichts des häufigen Versagens der britischen Besatzungsmacht beim gesellschaftlichen Neuaufbau von Nutzen sein könnte. Das stieß auf völliges Unverständnis bei Familie und Freunden in Palästina. Er diente im Intelligence Service und beobachtete den politischen Neuanfang in der britischen Zone. Über die politische Situation in Deutschland 1945/46 hat er dann im Selbstverlag in Jerusalem 1947 einen informativen Bericht veröffentlicht.24 Es war Posener offensichtlich sehr wichtig auch nach seiner militärischen Dienstzeit noch weiter in Deutschland mitzuarbeiten. Im Herbst 1947 reiste er deshalb von Jerusalem nach London und bewarb sich vergeblich um eine Stellung bei der Control Commission on Germany. Er blieb in London, knüpfte Kontakte zur Labour Party und begab sich im April 1948 für drei Wochen auf eigene Faust erneut nach Deutschland, um eine Stelle als Lehrer oder Journalist zu suchen.25 Diesmal reiste er durch Westdeutschland mit der Eisenbahn und nahm dort die öffentliche Meinung wahr: den Hass auf die Besatzungsmächte, auf DPs und auf Flüchtlinge, das Fortbestehen des Antisemitismus und die Überzeugung der Deutschen, selbst die eigentlichen Opfer des Krieges zu sein. Obgleich Posener von SPD und Gewerkschaft einige Stellen angeboten wurden, sah er doch keine Möglichkeit sich in diesem Klima nützlich zu machen und kehrte nach London zurück. Meine Reise hatte mir […] gezeigt, dass man als ehemaliger deutscher Jude so weit nicht gehen kann. Deutschland im Frühjahr 1948 war ein niederdrückendes Erlebnis.26

Damit war der erste Versuch einer Remigration gescheitert zu einer Zeit, als vor allem politische Flüchtlinge bereits in größerer Zahl zurückkehrten, die an alte parteipolitische Bindungen anknüpfen konnten, während Posener eher an eine pädagogische Aufgabe gedacht hatte, die man ihm keineswegs überlassen wollte. 23 24 25 26

Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 272. Posener, In Deutschland 1945 bis 1946 (wie Anm. 5). Posener, Heimliche Erinnerungen. Anhang: In Germany (wie Anm. 3), S. 423-452. Posener, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 6), S. 180 (Brief vom 17.8.1949 an Klaus Müller-Rehm, Berlin).

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Nach dieser Desillusionierung entschloss sich Posener in Großbritannien zu bleiben, obgleich sein Bruder ihn nach der Staatsgründung Israels im Mai 1948 dringend aufforderte zurück zu kommen und am Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen. Doch Posener hatte ganz andere Pläne. Noch im selben Jahr 1948 heiratete er im August eine einundzwanzigjährige christliche Engländerin, nahm eine Stelle als Lehrer an einer Londoner Bauschule an und wurde im November britischer Staatsbürger. Damit hatte er sich zum ersten Mal in seinem Leben etabliert, sich für eine Ehe und für eine neue Nationalität entschieden. In der bescheidenen Brixton School of Building unterrichtete Posener acht Jahre und begann hier, auch Architekturgeschichte zu lehren. Da seine berufliche Situation auf die Dauer unbefriedigend war, bewarb sich Posener 1956 um eine Stelle in dem bis 1957 noch britischen Malaysia, wo er am Technical College in Kuala Lumpur erfolgreich eine Abteilung für Architektur aufbaute. Er liebte das Land und die begabten Studenten, doch lief sein Vertrag im Mai 1961 endgültig aus, und die Familie kehrte nach London zurück. Malaysia war das fünfte Land, in dem Posener gelebt hatte, doch bis zur Rückkehr nach London war es ihm geglückt, dank seiner sprachlichen und sozialen Talente nur mit der Zusage einer beruflichen Anstellung ein neues Land zu betreten. Das Exil hatte nie so schwer auf ihm gelastet wie auf vielen anderen Emigranten. Posener war inzwischen 56 Jahre alt und hatte eine Familie mit drei jungen Kindern. In England fand er keine neue Aufgabe, doch hatte er auch Verhandlungen um eine Stelle als Hochschullehrer mit dem Technion in Haifa und mit der Hochschule für Bildende Künste in Berlin aufgenommen. Zur WestBerliner Hochschule fand er Kontakt durch seinen Studienfreund, den Architekten Klaus Müller-Rehm, der ebenfalls bei Hans Poelzig studiert hatte und inzwischen an jener Hochschule Professor für Architektur war. Müller-Rehm hatte 1949 von sich aus mit Posener in London wieder Verbindung aufgenommen und ihn später auch gefragt, ob er eventuell bereit wäre, wieder nach Berlin zu kommen. Das hatte Posener damals prinzipiell bejaht und bat ihn dann aus Kuala Lumpur für ihn eine Professur für Baugeschichte zu suchen.27 Im Frühjahr 1961 ergab sich daraus die dramatische Situation, dass sowohl aus Haifa als auch aus Berlin eine Zusage für eine Professur eintraf. Posener und seine Frau, die nach eigener Aussage im Grunde viel lieber in England geblieben wären, quälten sich wochenlang mit der Entscheidung.28 Am 1. August 1961 schickte Posener schließlich einen Absagebrief an MüllerRehm.29 Er gibt darin sofort zu, dass der Grund seiner Absage vorwiegend emotional sei. Beide Länder hätten für ihn entschiedene Vor- und Nachteile. Gegen Haifa spreche vor allem das niedrigere Gehalt und das Sprachproblem. 27 28 29

Ebd., S. 187-190 (Brief vom 24.1.1959 an Müller-Rehm, Berlin). Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 295. Posener, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 6), S. 192f. (Brief vom 1.8.61 an MüllerRehm, Berlin).

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Berlin sei für ihn anziehend und die politische Lage schrecke ihn nicht, doch »Blood is thicker then water«. Und er fügt über die Entscheidung hinzu: »Irgendwie gehört es sich so, und über alle Vernunft- und auch anderen Gründe hinweg, gab es da bei mir eine Art von innerlichem Summen, welches tönte: Haifa, Haifa«. Offensichtlich empfand Posener die Entscheidung für das jüdische Land angesichts der Alternative nicht nur als moralische Pflicht. Den konkreten Vorbehalt gegen Berlin formuliert er später in diesem Brief: In Berlin werde ihm die Vergangenheit doch unvermeidlich immer wieder entgegen treten. Das wird nicht von mir abhängen, wie ich schon in der kurzen Zeit meines Besuches dort gemerkt habe. Es ist, scheint mir, unvermeidlich, dass das, was war, an einen herangetragen wird, dass man sich und seine Anwesenheit zu erklären hat, kurz, dass man sich in einer etwas schiefen Lage befinden wird. Nun wirst Du sagen, dass das doch schon lange bei mir bedacht und positiv entschieden war, damals nämlich, als ich auf Deinen Fühler erwiderte, dass ich im Prinzip durchaus bereit sei, nach Berlin zu kommen. Damals aber gab es kein Angebot von Haifa. Das spitzt die Lage eben doch ein wenig zu. Es ist nicht leicht für einen alten Juden, der ich bin, zu Haifa nein zu sagen und nach Berlin zu gehen, mögen die Gründe, die mich hierzu bewegen noch so klar, nüchtern und menschlich untadlig sein.

Posener versucht also Müller-Rehm zu erklären, dass bei der Alternative Israel oder Deutschland, er sich als Jude nur für Israel entscheiden könne. Betrachtet man Poseners früheres Leben, so wäre diese Alternative für ihn 1947, als er eine Stelle in Deutschland suchte, potentiell durchaus gegenteilig entschieden worden. Doch hatte er inzwischen weitere Erfahrungen in Deutschland gesammelt und machte sich keine Illusionen darüber, dass er dort als Jude immer exponiert, zu Selbsterklärungen genötigt und mit Antisemitismus konfrontiert sein würde. Dies war das entscheidende inhaltliche Argument gegen Berlin, sieht man von der Alternative für oder gegen Israel ab. Die Lebensrealität in Israel hatte sich Posener allerdings entschieden weniger vor Augen gestellt, wie sich zeigen sollte. Nach Absendung des Briefes an Müller-Rehm gingen er und seine Frau in das Zionistische Büro in London. Dort wurde ihnen unter anderem gesagt, sie sollten ihre beiden Söhne gleich nach der Ankunft beschneiden lassen, sonst hätten sie in der Schule Schwierigkeiten, und der Älteste müsste sofort in die zionistische Jugendbewegung eintreten. Nach Verlassen des Büros beschlossen die Eltern daraufhin spontan, nicht nach Israel zu gehen. Ihre Kinder waren nicht nur unbeschnitten, sondern auch getauft. »Dass ich nicht schon vor dieser Äußerung des Mannes im Büro gewusst habe, dass eine Familie, wie wir es waren, in Israel nicht würde leben können, wundert mich noch heute«, schreibt Posener in seinen Memoiren.30 Nur drei Tage nach dem Brief an Müller-Rehm widerrief Posener seine Absage telefonisch und nahm die Professur in Berlin an. Er hatte übersehen, was er schon im Blau-Weiss bemerkt hatte, dass er ein 30

Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 295.

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absoluter Individualist war und jede Anpassung an eine Gemeinschaft als Niederlage begriff. Seinen Individualismus würde er in Berlin leben können. Posener machte sich Sorgen, wie seine Entscheidung für Deutschland in Israel aufgenommen werden würde. Eine gute Freundin und Kollegin, Lotte Cohn in Tel Aviv, die ebenfalls aus Deutschland stammte, schrieb ihm mit großem Verständnis und analysierte seinen Entschluss für ihn. Obgleich überzeugte Zionistin, fand sie die Wahl für den Freund die angemessene, er hätte in Israel zu viel Schwierigkeiten bekommen. Sie führte ihm vor Augen, dass dieser letzte Schritt, nach Berlin zu gehen, nur das Ergebnis einer Kette von Voraussetzungen war, die sie benennt: seine Herkunft, die Kriegserlebnisse in Deutschland, die Heirat und die Taufe der Kinder. Man kann halbjüdische Kinder hierher bringen – aber getaufte halbjüdische Kinder nun mal nicht. Damals haben Sie eine Entscheidung getroffen, nicht jetzt, wo sie Berlin gegen Haifa ausgekämpft haben […].31

Die Remigration war immer eine Entscheidung mit tiefen biografischen Wurzeln, auch wenn das oft nicht so deutlich erkennbar ist, wie im Falle Julius Poseners. Wie hat Posener nach dieser letzten großen biographischen Wende sein folgendes Leben in Deutschland gesehen? »Ein unverdient erfolgreicher Mann« nennt er sich im Epilog zu seinen späten Memoiren. In der Tat waren die über dreißig Jahre in Berlin reich an Erfolgen und an Anerkennung. Er wurde ein sehr beliebter Hochschullehrer mit mehr als Sympathie für die Studentenbewegung: Damals empfand ich den ganz anderen Ton, in dem die Studenten sich nun plötzlich äußerten, wie eine Befreiung. Erst jetzt fühlte ich mich Berlin wieder wirklich zugehörig. Besonders positiv vermerkte ich, dass diese Studentenbewegung so ganz anders war als die rechten studentischen Bewegungen, an die ich mich aus meiner eigenen Studienzeit erinnerte.32

Diese Haltung ist besonders bezeichnend, wenn man sie mit den gegenteiligen Reaktionen von anderen zurückgekehrten Hochschullehrern, wie etwa dem ebenfalls seit 1961 wieder in Berlin lehrenden Politologen Richard Löwenthal vergleicht.33 Posener war nicht unpolitisch, doch neigte er als Individualist nach seiner Rückkehr zu spontanen oppositionellen Taten und Äußerungen und nicht zu parteipolitisch organisierter Politik. Mit sechzig Jahren publizierte Posener sein erstes Buch und von da an eine Reihe grundlegender Werke zur Architekturgeschichte. Er gab die gesammel31 32 33

Posener, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 6), S. 194f. (Brief von Lotte Cohn, Tel Aviv, vom 17.11.1962 an Julius Posener, Berlin). Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 298. Oliver Schmidt: »Meine Heimat ist – die deutsche Arbeiterbewegung«. Biographische Studien zu Richard Löwenthal im Übergang vom Exil zur frühen Bundesrepublik. Frankfurt am Main: Peter Lang 2007.

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ten Werke von Hans Poelzig heraus und betreute Ausstellungen zu Erich Mendelsohn und Hermann Muthesius in der Akademie der Künste. Sein Hauptwerk Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur: Das Zeitalter Wilhelms II. erschien 1979. Damit knüpfte er eng an seine Erfahrungen vor 1933 in Berlin an und engagierte sich immer wieder im politischen Leben der Stadt – nicht zuletzt durch die Rettung zahlreicher Bauten vor dem Abriss. Posener wurde 1967 in die Akademie der Künste berufen und war 1969 bis 1976 Vorsitzender des Deutschen Werkbundes, dessen Geschichte er geschrieben hatte. Er unterhielt Verbindungen zu vielen bedeutenden deutschen Persönlichkeiten, wurde in einem Fernsehfilm porträtiert und publizierte oft in der Berliner Presse. Seine reiche Lebenserfahrung kam der deutschen Öffentlichkeit so in vollem Umfang zu gute. Die zitierte Formulierung »ein unverdient erfolgreicher Mann« ist nicht als Bescheidenheitsformel zu verstehen. Posener, der in seinen Memoiren viel Selbstkritik zeigt, stand auch seinem Erfolg nicht ohne Skepsis gegenüber. Über seine Berufung nach Berlin schrieb er einschränkend: Die Sache wurde von ihnen auch als eine Art Wiedergutmachung angesehen. Man wollte das, was ich habe erleiden müssen, durch eine Professur abgelten. Das ist eine Komponente, die ich auch bei der Beurteilung meines Erfolges in Deutschland nicht vergessen darf.34

Es blieb ihm diese persönliche Unsicherheit, wie weit seine Leistungen gewürdigt wurden, weil er Jude war und wie weit wegen ihrer Qualität. Auch seine Aufnahme in die Akademie der Künste, Scharoun war damals ihr Präsident, sah er teilweise ebenso als Wiedergutmachung an.35 Die Vergangenheit verschonte ihn nicht, wie er schon vorausgesehen hatte. Meine neuen Kollegen waren ausnahmslos betont freundlich. Jeder hat mir sofort erzählt, dass er niemals Nazi gewesen sei, sondern aktiver Nazigegner. Man hat mir auch mitgeteilt, wie viel Juden man gerettet habe. Schließlich sagte ich ›Der arme Hitler!‹ – ›Wieso denn?‹ – ›Er hat doch keine Anhänger gehabt.‹ Das wirkte, und ich wurde mit diesen peinlichen ›Bekenntnissen‹ fortan verschont.36

Offensichtlich gelang es Posener, der sehr witzig und ironisch sein konnte, die deutschen Strategien der Selbstentlastung mit eigenen Abwehrstrategien zu konterkarieren. Dazu gehörte auch sein häufiger wiederholter Hinweis darauf, dass vielleicht ja auch er Nazi geworden wäre, wenn ihm das als Jude nicht verwehrt gewesen sei. Offener Antisemitismus begegnete nach seiner Aussage Posener nicht, wohl aber seiner – britischen und christlichen – Frau. Diese lehnte es zunehmend ab, in Berlin zu leben. »Sie kam mit Leuten zusammen, die immer noch recht eigenartige Vorstellungen von den Juden hatten und

34 35 36

Posener, Fast so alt wie das Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 295. Ebd., S. 304. Ebd., S. 296.

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recht seltsam von ihnen sprachen«.37 Dies trug nach Posener unter anderem dazu bei, dass sich das Ehepaar 1965 scheiden ließ. Fünf Jahre später hat Posener ein zweites Mal geheiratet, diesmal wiederum eine nichtjüdische Frau, aber eine Berlinerin. Das mag ein Zeichen dafür sein, dass er zunehmend wieder in Berlin heimisch wurde, was durchaus nicht selbstverständlich war. Er kam im August 1961 in eine fremde Stadt zurück, als dort gerade die Mauer gebaut wurde, und fast dreißig Jahre lang war er kaum dort gewesen. Anerkennen aber muss ich – und will ich – dass ich Berlin und der Bundesrepublik gegenüber eine gewisse Distanz wahre. Sie ergibt sich aus beidem: dem, was ich hier nicht miterlebt habe, und dem, was ich anderswo erlebt habe.38

Der Remigrant kann und will die Emigration aus seinem Leben nicht ausblenden und ebenso wenig den Nationalsozialismus vergessen, der die Stadt in seiner Abwesenheit prägte. Diese Distanz zu Berlin hatte Posener am wenigsten dort, wo er als Kind heimisch war, in den kaum zerstörten Zehlendorfer Villenvierteln, in denen ihm viele Häuser lieb und vertraut waren. Hier bestand eine alte Bindung, und hier ist er sofort wieder hingezogen. Vorübergehend erfüllte sich sogar sein Wunsch, an der Rehwiese in Berlin-Nikolassee zu wohnen, wo Muthesius mehrere der von Posener so bewunderten Landhäuser errichtet hatte. Welche biographischen Faktoren waren es, die Poseners Rückkehr nach Deutschland erleichterten, wenn auch nicht determinierten? Durch seine Herkunft aus assimilierter Familie war er ohne jüdisch-religiöse Bindung aufgewachsen und war allein in der deutschen Kultur erzogen worden. Seit seiner Jugend hatte er immer nur ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Zionismus. Zwar verstand er sich lebenslänglich als Jude, doch scheute er immer vor enger jüdischer Gemeinschaft zurück. Von Jugend auf verkehrte er vorwiegend mit Nichtjuden und heiratete zweimal nichtjüdische Frauen. Posener emigrierte ohne viele der typischen Emigrantenprobleme. Er verließ Deutschland 1933 nicht auf der Flucht oder aus politischer Voraussicht, sondern weil er arbeitslos war und ein Stellenangebot in Frankreich hatte. Bei jedem Landeswechsel verlor er nie seine berufliche Laufbahn aus dem Auge und versuchte erfolgreich eine Stellung zu erhalten. Das Vermögen seiner Familie half ihm, als er 1935 ein Zertifikat als »Kapitalist« benötigte, um nach Palästina einwandern zu können, wo eine Anstellung auf ihn wartete. Er litt keine Not und verlor keine nahen Angehörigen oder Freunde durch die Shoa. Die Situation in Deutschland 1945/46 beurteilte er ohne Schärfe, doch schreckte er angesichts des politischen Klimas als Jude dann doch vor einer frühen Rückwanderung 1948 zurück und ging stattdessen nach England und Malaysia. Das Exil war für Posener im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte. 37 38

Ebd., S. 297. Ebd., S. 305f.

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Auch die Tatsache seiner späten Heirat hat es ihm leichter gemacht, mehrfach das Land zu wechseln und Erfahrungen in vier Ländern zu sammeln. Gerade dieser mehrfache Wechsel aber führte vielleicht auch dazu, dass Posener Kosmopolit blieb und sich in keinem Exilland völlig verankerte. Bei Poseners Rückkehr nach Berlin im August 1961 war die Situation in Deutschland im Vergleich zu 1948 deutlich verändert. Posener erhielt einen Ruf auf einen Lehrstuhl, konnte sich also im Prinzip als willkommen betrachten. Dies war zweifellos die grundlegende Voraussetzung für seine Entscheidung. Das politische Klima hatte sich inzwischen gewandelt, Wiederaufbau und wirtschaftlicher Aufstieg kennzeichneten die Situation, und die vor zwölf Jahren gegründete Bundesrepublik hatte sich bereits konsolidiert. Der Kalte Krieg erforderte jetzt die volle politische Aufmerksamkeit, die nationalsozialistische Vergangenheit suchte man zu vergessen, doch Antisemitismus und viele alte Nazis im Amt gab es nach wie vor. Posener machte sich darüber keine Illusionen, aber als Hochschullehrer hatte er vorwiegend mit der jüngeren Generation zu tun, und das hat ihn als leidenschaftlichen Lehrer offensichtlich gereizt. Er vertrat ein eher seltenes Fach, das ihm viel Unabhängigkeit gewährte. Zugleich konnte er wieder anknüpfen an seine Beschäftigung mit der Berliner Baugeschichte vor 1933 und an seine persönlichen Begegnungen mit den großen Architekten seiner Zeit. Er fand in der Kontinuität seiner Berliner Jahre erstmals die Zeit und Ruhe zu größeren Publikationen. Nichts war ihm vertrauter als die Architektur Berlins, über die er forschte und schrieb. Man kann die Bedeutung der Anziehungskraft Berlins und seiner Bauten für Poseners Entschluss zur Rückkehr neben den anderen Motiven kaum überschätzen. In gewisser Weise zeigt so auch die Biographie des Remigranten nach seiner Rückkehr etwas von den nicht nur rationalen Ursprüngen seiner Entscheidung.

Hermann Simon

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute« Der Dichter Arnold Zweig – Ein prominentes Mitglied der (Ost)Berliner Jüdischen Gemeinde

Euch zum Dank Älter zu werden ist kein Vergnügen, Eher soviel Freundlichkeit kriegen, Von alten und neuen Bekannten verwöhnt, Wohl kritisiert aber nie verhöhnt – Freunde; unter dem alten Mond Dieser zehnte November hat sich gelohnt. Schiebs auch nicht auf die lange Bank: Freundin, Freund, habt Dank, habt Dank! Berlin – N[ieder]sch[ön]ha[u]s[e]n Nov. 1952 Arnold Zweig Dankschreiben von Arnold Zweig an Gratulanten zu seinem 65. Geburtstag (10.11.1952) Centrum Judaicum Archiv, 5B1, Nr. 3, Bl. 206 [Abschrift]

Deutlich erinnere ich mich, wo in der elterlichen Bibliothek jenes Buch stand, das ein fester Bestandteil meiner Jugend war. Die Rede ist von Erinnerungen aus dem Warschauer Getto, die unter dem Titel »Im Feuer vergangen« 1961 in der damaligen DDR erschienen sind und in nur vier Jahren sieben Auflagen erfahren haben.1 Die aus dem Polnischen übersetzten Texte fehlten wohl in keinem Bücherschrank der Menschen, die zu unserem damaligen Bekanntenkreis gehörten. Man sah dem 18,5 x 22,5 cm kleinen, über 600 Seiten starken Buch die Spuren des häufigen Gebrauchs an, als ich vor gut zwei Jahren die Bibliothek meiner Eltern auflösen musste. Dafür, dass Hans Otto Horch, dem diese Ausführungen gewidmet sind, den Besitzern des genannten Buches mit einer Einladung zu einer Tagung der Bibliothèque Nationale de Luxembourg 1994 die letzte Möglichkeit eines großen wissenschaftlichen Auftritts in ihrem Leben gegeben hat, sei ihm öffentlich und herzlich gedankt.2 Dass dies nach dem wohl endgültigen Scheitern 1 2

Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto. Mit einem Vorwort von Arnold Zweig. Aus dem Polnischen von Viktor Mika. Berlin: Rütten & Loening 1961. Internationale und interdisziplinäre Tagung unter dem dreisprachigen Titel »Jüdische Selbstwahrnehmung«, »La prise de conscience de lìdentité juive«, »Jewish selfperception«; 2. bis 6. Oktober 1994 im Centre Européen (Kirchberg, Luxemburg).

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einer Utopie – auch wenn Marie und Heinrich Simon ihr stets kritisch gegenüber standen – für diese jüdischen Wissenschaftler von besonderer Wichtigkeit war, soll hier nicht erörtert werden. Auch soll es in den folgenden Ausführungen nicht um das erwähnte Buch gehen, wohl aber um dessen Vorwort und vor allem um seinen Verfasser, den Dichter Arnold Zweig. Was mich besonders interessiert, sind seine Beziehungen und Kontakte zur jüdischen Gemeinde der Stadt, in die er aus dem Exil zurückkehrte und in der er bis zu seinem Tode am 26. November 1968 lebte. Die Umstände der Beerdigung von Arnold Zweig und einer jüdischen Trauerfeier will ich hier schildern. Am 18. Oktober 1948 traf der 61-jährige Arnold Zweig nach fast 15-jähriger Abwesenheit in Palästina, aus Prag kommend, wieder in Berlin ein. Der Dichter Johannes R. Becher – damals Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands – empfing ihn am Anhalter Bahnhof.3 Zweig wollte zuerst den »Ost-Berliner Besuch kurz […] halten«,4 entschied sich aber dann relativ schnell, im sowjetischen Sektor Berlins, in der späteren DDR, zu bleiben. Zunächst war er allein in Berlin, also ohne seine Frau Beatrice, mit der er seit 1916 verheiratet war; sie sollte erst später aus Prag nachkommen. Dorthin war sie mit ihrem Mann gereist, aber krank geworden. »Die Reise nach Europa«, schreibt Wilhelm von Sternburg, ist für sie zu einer seelischen Belastung geworden. Die Vorstellung, in den Ruinenfeldern den Menschen zu begegnen, in deren Namen Millionen Juden ermordet worden sind, läßt sie erschauern, löst schließlich einen psychischen Zusammenbruch aus. Über Monate hinweg überwältigen sie Depressionen [...].5

Seit Januar 1949 lebt das Ehepaar in Berlin. An Ruth Klinger – die langjährige Sekretärin des Dichters – schrieb Beatrice Zweig Ende Januar 1949 über ihre Gefühle in jenen Tagen: »Für mich ist Berlin ein einziges Grauen u[nd] Fremde. Noch viel Antisemitismus, der nicht laut werden darf.«6 Am 25. März 1949 meldete sich Arnold Zweig bei der Jüdischen Gemeinde an. Hier füllte man für ihn einen Fragebogen aus, der sich heute zusammen mit ca. 13.400 derartigen Dokumenten im Archiv des Centrum Judaicum befindet.

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Vgl. Georg Wenzel (Hg.): Arnold Zweig 1887-1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Berlin, Weimar: Aufbau 1978, S. 336f. Geoffrey V. Davis: Arnold Zweig in der DDR. Entstehung und Bearbeitung der Romane »Die Feuerpause«, »Das Eis bricht« und »Traum ist teuer«. Bonn: Bouvier 1977, S. 51. Wilhelm von Sternburg: »Um Deutschland geht es uns«. Arnold Zweig. Berlin: Aufbau 1998, S. 249. Siehe dazu neuerdings auch Edith Anderson: Liebe im Exil. Berlin: BasisDruck 2007, S. 255. Brief Beatrice Zweig an Ruth Klinger, 24.1.1949. Arnold Zweig/Beatrice Zweig/Ruth Klinger: »Das nenne ich ein haltbares Bündnis!«. Hg. von Ludger Heid. Briefwechsel (1936-1962). Bern, Berlin u. a.: Peter Lang 2005, S. 236.

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Der Fragebogen ist von Arnold Zweig unterschrieben, das Geburtsdatum Beatrice Zweigs von seiner Hand eingesetzt.7 Die Berliner Jüdische Gemeinde hatte zu jener Zeit etwa 2.600 Mitglieder.8 Ihre Verwaltung befand sich in der Oranienburger Straße, etwas mehr als einen Kilometer von Zweigs Wohnsitz entfernt, denn noch wohnen die Eheleute in dem unzerstörten Flügel des Hotels Adlon in der Wilhelmstraße. Erst später, Anfang August 1949, ziehen sie nach Pankow, zunächst in die »Villa Schlossgut«, am nördlichen Ende der Ossietzkystraße. In das wenige hundert Meter entfernte Haus in der Homeyerstraße ziehen sie erst Mitte Mai 1950. Es war eigentlich für Heinrich Mann vorgesehen, aber zu dessen geplanter Rückkehr nach Europa ist es nicht mehr gekommen; Mann starb am 12. März 1950. In dem Fragebogen der Jüdischen Gemeinde ist unter der Rubrik »Wohnung« das »Hotel Adlon«, angegeben, was nicht weiter überraschend ist. Hingegen für mich unerwartet ist die Angabe »Israel« unter »Staatsangehörigkeit«. Arnold und Beatrice Zweig hatten Haifa auf den Tag zwei Monate nach dem 14. Mai 1948, dem Tag der Staatsgründung des jüdischen Staates, verlassen, und zwar mit israelischen Pässen, die sie auch in Deutschland behielten. Zweig sprach in dieser Zeit davon, er wolle »auf beiden Seiten daheim [...] sein, Deutschland und Israel [...]«.9 Etwa aus der gleichen Zeit wie der Fragebogen stammt ein Bilddokument, das sich im Archiv des Centrum Judaicum befindet.10 Es zeigt Arnold Zweig diskutierend. Das Bild inhaltlich genau einzuordnen, war mir bisher nicht möglich. Wir können aber die meisten Teilnehmer dieser Besprechung, die aller Wahrscheinlichkeit nach in einem der Westsektoren Berlins stattfand, identifizieren und damit in gewisser Weise inhaltlich und vor allem zeitlich genau zuordnen. Von links nach rechts sind auf dem Foto zu sehen: Rabbiner Steven Schwarzschild, Heinz Galinski, dahinter Hans Freund, Hans-Erich Fabian, dahinter Albert Borchardt (?), Richard May (?), Arnold Zweig und der israelische Konsul Karl Livneh, mit ausgestreckter Hand in Richtung Fabian zeigend, und ganz rechts vermutlich Jeanette Wolf. Hans-Erich Fabian wanderte am 14. April 1949 in die USA aus,11 und das Foto ist somit 7

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Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, Archiv (im folgenden CJA) 5A1, Nr. 141, Bl. 13250. Der Fragebogen ist weder von Beatrice Zweig noch von seiner damaligen Sekretärin, Ilse Lange, ausgefüllt. (Telefonat mit Ilse Lange, 30.1.2009). Angabe nach Ulrike Offenberg: Seid vorsichtig gegen die Machthaber. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945 bis 1990. Berlin: Aufbau 1998, S. 326. Zitiert nach Ilse Lange: Arbeitsjahre mit Arnold Zweig (1948-1968). In: David Midgley/Hans Harald Müller/Geoffrey Davis (Hg.): Arnold Zweig. Poetik, Judentum und Politik. Akten des Internationalen Arnold-Zweig-Symposiums aus Anlass des 100. Geburtstages – Cambridge 1987. Bern, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1989, S. 341. CJA 5A1 Foto; Nr. 40. Für diesen Hinweis danke ich Andreas Weigelt, Lieberose.

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zwischen dem 19. Oktober 1948 und dem 13. April 1949 entstanden; der Anlass bleibt aber vorerst unklar.

[Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum Archiv]

Regelmäßige Synagogenbesucher waren die Eheleute Zweig eher nicht; jedenfalls ist mir ihre Teilnahme an den Gottesdiensten der Gemeinde nicht bekannt. Hingegen hat sich Arnold Zweig schon in den frühen Jahren im Rahmen von Veranstaltungen der Jüdischen Gemeinde engagiert. So dankt der Vorstand der Jüdischen Gemeinde am 16. März 1949 Zweig in einem Brief für seine Mitwirkung an einer Veranstaltung am 2. März zum Thema »Die Juden in den Revolutionsjahren 1848/49«.12 Dieser Vortrag fand im großen Saal der Gemeinde, Joachimsthaler Straße 13, statt. Rabbiner Schwarzschild begrüßte die Anwesenden, unter denen sich Propst Grüber von der evangelischen Hilfsstelle [für ehemals Rasseverfolgte] und Frau Dr. Sommer als Vertreter[in] des bischöflichen Ordinariats eingefunden hatten.13

Rabbiner Steven Schwarzschild, den Zweig in dieser Zeit kennen lernte, hat dem Dichter 100 Westmark verschafft, die er »innerhalb der Kurvorgänge« für 12

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Brief Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, unterschrieben von [Hans-Erich] Fabian und [Bernhard] Wollstein an Arnold Zweig, 16.3.1949, Akademie der Künste Berlin. Arnold-Zweig-Archiv Sign. 20491, Fiche 4306. Der Weg vom 11. März 1949, S. 14.

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«

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seine »Frau in der Kuranstalt Westend […] dringend brauchte«.14 Die Rückzahlung erfolgte erst nach zwei Mahnungen von Schwarzschild.15 Am 17. Januar 1950 lässt Zweig das Geld in die Jüdische Gemeinde zurückbringen. Es sei angemerkt, dass sich Beatrice Zweig zu jener Zeit auf dem Weg der Besserung befand und mit dem Umzug in die Homeyerstraße ihre »endgültige Gesundung [...] verbunden« war.16 Im Gegensatz zu vielen anderen Mitgliedern gehörte Zweig zu den regelmäßigen Steuerzahlern der Jüdischen Gemeinde. Bereits aus dem Jahr 1951 kennen wir einen Brief, in dem Arnold Zweig mitteilt, dass seine Einnahmen unterschiedlich ausfallen und er daher vorschlägt, für »zunächst die nächsten drei Jahre« monatlich DM [Ost] 63,50 zu zahlen.17 Das war damals viel Geld; auch in den 60er Jahren gehörte er zu den sehr guten Steuerzahlern.18 Seinem prominenten Gemeindemitglied gratulierte der Vorstand zum 65. Geburtstag am 10. November 1952 telegraphisch.19 Das handschriftliche Antwortschreiben von Arnold Zweig, bei dem er vergessen hat, vor »Nov. 52« den genauen Tag einzusetzen, ist in den Akten des Centrum Judaicum erhalten. Dabei handelt es sich um ein mehrfach überliefertes Gedicht, das er an Gratulanten als Dank verschickt hatte.20 Der Text ist meinem Beitrag aus gegebenem Anlass vorangestellt. An wichtigen Ereignissen der Gemeinde haben Beatrice und Arnold Zweig teilgenommen, so zum Beispiel am 11. Oktober 1953 an der Einweihung eines Gedenksteins auf dem Friedhof der Jüdischen Gemeinde in Weißensee, zu dem die Eheleute eine besondere Beziehung hatten: Die Eltern von Beatrice Zweig, Regina geb. Abraham und Carl Zweig, sind dort beigesetzt,21 und die Teilnahme an der Enthüllung des Gedenksteins hat Zweig in seinem Taschenkalender vermerkt: »Gegen 11 nach Weißensee Enthüllung eines Gedenksteines für die 6 Millionen ermordeter Juden.«22 Von dem Ereignis gibt es von Abraham Pisarek stammende Fotos, die Beatrice und Arnold Zweig zeigen. Eines dieser Bilddokumente war in unserer Ausstellung »Und lehrt sie: Gedächtnis!« 14 15 16 17 18 19 20

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Brief Arnold Zweig an Jüdische Gemeinde, [Julius] Meyer, 17.1.1950, CJA 5B1, Nr. 4, Bl. 446. Die Mahnschreiben vom 1.12.1949 und 4.1.1950 finden sich in: Stiftung Akademie der Künste Berlin. Arnold-Zweig-Archiv Sign. 20491, Fiche 4306. Lange, Arbeitsjahre mit Arnold Zweig (wie Anm. 9), S. 342. Brief Arnold Zweig an die Jüdische Gemeinde, 14.2.1951, Stiftung Akademie der Künste Berlin. Arnold-Zweig-Archiv Sign. 20491, Fiche 4306. Karteikarte, CJA 5A1, Nr. 580. Arnold-Zweig-Archiv Sign. 20491, Fiche 3241. CJA 5B1, Nr. 3, Bl. 206. Zwei weitere Überlieferungen in: Akademie der Künste, Archiv der Akademie der Künste der DDR (im folgenden AdK-O), ZAA OM 20, Bl. 56 und 57. Regina Zweig geb. Abraham *29.06.1865 Glogau – Berlin 18.08.1924; Carl Zweig *28.02.1850 Molna (?) – Berlin 04.01.1929 (beide Feld Q Abt. IV Reihe 35). Arnold-Zweig-Archiv Sign. 2649.

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im Ephraim-Palais im November 1988, zum Gedenken an den Novemberpogrom 1938, zu sehen.23 Am 30. August 1953 fand die feierliche Einweihung der in der Nazizeit geschändeten und missbrauchten Berliner Synagoge in der Rykestraße im Bezirk Prenzlauer Berg statt. Natürlich war Zweig eingeladen. Das Einladungsschreiben des Vorstandes wurde ihm an seinen Ostsee-Urlaubsort Niehagen, einem Ortsteil von Ahrenshoop, nachgeschickt. Zweig konnte nicht kommen und schrieb auf den Brief, den er an den Absender zurück schickte: »ich bleibe aber noch längere Zeit hier und wünsche Ihnen und der Gemeinde alles Gute für Gegenwart und Zukunft!«24 Sich in dieser Zeit, Anfang der 50er Jahre, zur Jüdischen Gemeinde zu bekennen, war unter den ehemaligen Emigranten nicht die Regel. Viele von ihnen traten aus der Jüdischen Gemeinde aus, teils weil sie dazu gedrängt wurden, nicht wenige aber auch in vorauseilendem Gehorsam. Viele Gemeindemitglieder flüchteten in die Bundesrepublik oder nach Westberlin. Im Prozess der Teilung der Berliner Jüdischen Gemeinde war in Ostberlin Ende Januar 1953 ein »provisorischer Vorstand« gebildet worden.25 Ein Schlaglicht auf das politische Klima jener Zeit liefert ein Brief von Georg Heilbrunn, der diesem Vorstand angehörte. Heilbrunn gratuliert zunächst Zweig zur Verleihung des Vaterländischen Verdienstordens (in Silber) und unterbreitet dann folgende Bitte: Wir haben die Verpflichtung übernommen, im Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft eine grosse Veranstaltung für unsere Mitglieder durchzuführen und gestatten uns anzufragen, ob Ihre Zeit es zulässt, bei dieser Veranstaltung das tragende Referat zu übernehmen oder in anderer Form uns dabei zu helfen. […] Wir würden einen Sonntagvormittag dafür vorschlagen und als Ort das Kino Puhlmann-Theater, Schönhauser Allee [148], dessen Inhaberin […] auch ein Gemeindemitglied ist.26

Eine Antwort Zweigs ist nicht überliefert! Eingangs erwähnte ich das Buch »Im Feuer vergangen«, auf dessen Vorwort ich jetzt eingehen möchte, und zwar insbesondere auf einen Satz, den 23

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»Und lehrt sie: Gedächtnis!«. Katalog der gleichnamigen Ausstellung. Berlin 1988, S. 95. Ein Foto aus dieser Serie ist abgebildet bei Sylke Kirschnick: Der Schriftsteller als »Kanalräumer«. Eine wiederentdeckte Rede Arnold Zweigs. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 18 (2008). Bern, Berlin u. a.: Peter Lang, S. 383 und dies.: Anne Frank und die DDR. Berlin: Ch. Links 2009, S. 81. Brief Jüdische Gemeinde zu Berlin, Georg Heilbrunn und Israel Rothmann, an Arnold Zweig, 24.8.1953, CJA 5A1, Nr. 516, Bl. 454. Die handschriftliche Antwortnotiz ist vom 28.8.1953. Die Trennung der Gemeinde ist auf den Zeitraum »zwischen Januar und Juli 1953« festzumachen. (Andreas Nachama/Julius H. Schoeps/Hermann Simon: Juden in Berlin. Berlin: Henschel 2001, S. 230). Brief Jüdische Gemeinde von Groß-Berlin, Georg Heilbrunn, an Arnold Zweig, 10.11.1954, CJA 5A1, Nr. 516, Bl. 447.

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«

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Zweig einen Tag, nachdem er von der Einweihung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald zurückgekommen war, formulierte: Ein merkwürdiger Zufall will, daß der Verfasser diese Sätze diktiert in jenen herrlichen Tagen des scheidenden Sommers, wo sich die Einweihung des die Zeiten überdauernden Buchenwald-Mahnmals kreuzt mit der Feier des jüdischen Neujahrs 5719 und gewisser revanchistischer Kundgebungen in der Bundesrepublik und Westberlin. Unter den 21 Fahnen der Völker, welche sich auf dem Ettersberg zusammenfanden, um das unauslöschliche Gedenken der Helden und Märtyrer mit dem Kampfruf gegen die Wiederkehr der Barbarei zu verbinden, fehlt die Fahne mit dem uralten Emblem des Davidsterns, welches die jüdischen Opfer des faschistischen Terrors vertreten hätte. Hier, in diesem Buche, ist sie neben der roten gehißt.27

Zu dieser Passage und die näheren Umstände hat sich Thomas Taterka geäußert, so dass hier auf seine interessante Arbeit verwiesen werden kann.28 Besonders spannend waren für mich Taterkas Ausführungen zu der Frage, warum dieses Vorwort – es »atmet den heiligen Zorn, der Zweig am Vortag auf dem Ettersberg aufgestiegen sein muss«29 – die verschiedensten Zensurstufen unbeschadet überstanden hat. Zweig, der als Ehrengast an der Veranstaltung teilnahm, war darüber verärgert, dass weder in der Gedenkstätte selbst noch in der Weiherede Otto Grotewohls noch in der Ansprache der ›Vertreter der Nationen‹ – unter ihnen kein Vertreter Israels oder des jüdischen Volkes – [...] von den jüdischen Opfern des Lagers die Rede [war].30

Möglicherweise haben die klaren und mutigen Worte von Zweig dazu beigetragen, dass die DDR ihre Haltung korrigierte, so bei der Einweihung der Gedenkstätte Sachsenhausen am 23. April 1961. Ich durfte damals als 12jähriger Barmizwa-Schüler Rabbiner Riesenburger begleiten und erinnere mich, dass neben den verschiedensten Offiziellen auch Vertreter israelischer Verfolgtenverbände sprachen. Noch vor Beginn versammelten wir Berliner Teilnehmer uns zum Gebet auf dem jüdischen Friedhof Oranienburg, der extra zu diesem Anlass hergerichtet worden war.31 Eine archivalische Überlieferung zu unserem Thema für die folgenden Jahre gibt es nicht. Dies hängt einerseits mit Zweigs Gesundheitszustand zusammen, andererseits aber auch damit, dass Korrespondenzakten der Jüdischen Gemeinden, Ost wie West, lückenhaft überliefert sind. 27 28

29 30 31

Vorwort von Arnold Zweig zu: Im Feuer vergangen (wie Anm. 1), S. 9. Thomas Taterka: »Alles steht auf dem Spiele«. Unvorgreifliche Bemerkungen zum Ort Arnold Zweigs im Holocaust-Diskurs der DDR. In: Julia Bernhard/Joachim Schlör (Hg.): Deutscher, Jude, Europäer im 20. Jahrhundert. Arnold Zweig und das Judentum. Bern, Berlin, u. a.: Peter Lang 2004, S. 235ff. Ebd., S. 242. Ebd., S. 241. Von dieser Zeremonie ist ein Foto überliefert in: Dietmar Strauch: Adagio – Feld O. Biographische Recherchen auf dem Friedhof Berlin-Weißensee. Berlin: Progris 2008, S. 128.

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Hermann Simon

Im Arnold-Zweig-Archiv finden sich zwei Briefe von Cuno Lehrmann; er war liberaler Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (West). Lehrmann bittet darum, der »hochverehrte Meister« möge ihn nach der Amtseinführung des ungarischen Rabbiners Ödön Singer in Ostberlin, an der er teilnehme, empfangen. Lehrmann werde sich freuen, den »Verfasser so vieler Werke, die [er] gelesen und auf der Bühne gesehen habe […] persönlich kennen zu lernen«.32 Zu einer Begegnung ist es, wie Zweigs Tischkalender am Tag der Amtseinführung (5.12.1965) vermerkt, gekommen. Nachdem Lehrmann eine ihm offenbar bis dahin unbekannte Arbeit Zweigs gelesen hatte, schrieb er dem Dichter nach etwas mehr als zwei Jahren noch einmal: Allein der eine Satz voll Tiefe und Wahrheit ist eine hoher Gewinn für den verständnisvollen Leser, nämlich wenn Sie schreiben, dass das Judentum schon vor 2000 Jahren den Sozialismus entdeckt haben könnte, wenn es das Gebot: ›Du sollst den Lohn Deines Nächsten nicht über Nacht anstehen lassen‹, mit eben solcher Intensität interpretiert hätte wie das Zeremonialgesetz. Sie haben mit diesem Hinweis gleichzeitig auch die ganze Schwäche und Sterilität der Orthodoxie angedeutet.33

Wenig später bricht der Sechstagekrieg aus. Zweig verhält sich Israel gegenüber solidarisch. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die »Erklärung jüdischer Bürger der DDR«: Das Neue Deutschland veröffentlichte am 9. Juni 1967 eine peinliche Stellungnahme, in der »DDR-Bürger jüdischer Herkunft die Einstellung der Aggression und die sofortige Zurücknahme der israelischen Truppen« forderten. An die damit verbundene Aufregung in meinem Elternhaus, man könne zur Unterschrift dieser oder ähnlicher, folgender Resolutionen gegen Israel gedrängt werden, erinnere ich mich gut. Meine Eltern waren fest entschlossen, nichts Derartiges zu unterschreiben. Auf die Unterzeichner soll hier nicht weiter eingegangen werden. Nur so viel: Nicht ein Gemeindemitglied war darunter. Bei vielen der Namen fragte man sich schon damals, aus welcher »Mottenkiste« diese »jüdischen Bürger der DDR« gekramt worden waren. Offenbar war es nicht einfach, prominente Juden zu finden, die sich dazu hergaben. Gemeindemitglieder, die auch international bekannt waren, gab es überdies kaum, und der Versuch, eines der prominentesten Mitglieder einer Jüdischen Gemeinde zur Unterschrift zu bewegen, war gescheitert, nämlich Arnold Zweig. Er hatte sich ganz einfach geweigert und wurde dafür von Albert Norden, der die Erklärung auf Grund eines Beschlusses des SED-Politbüros vom 7. Juni formuliert hatte, bei Walter Ulbricht denunziert. Das Politbüromitglied Norden schrieb: »Arnold Zweig hat rundheraus erklärt, dass er mit dem Inhalt der Erklärung prinzipiell nicht einverstanden sei« und fuhr dann fort: »Das ist angesichts seiner althergebrachten prozionistischen Einstellung nicht erstaunlich.«34 32 33 34

Rabbiner Cuno Lehrmann an Arnold Zweig, 30.11.1965, Akademie der Künste Berlin. Arnold-Zweig-Archiv Sign. 20491, Fiche 4307. Lehrmann an Zweig, 23.03.1967, ebd. Brief (»Hausmitteilung«) Albert Norden an Walter Ulbricht, 08.06.1967, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv NY 4182/

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«

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»Ausgerechnet Albert Norden«, möchte man sagen. Vor allem dann, wenn man weiß, dass sich Zweig auf der Höhe der antisemitischen Kampagne in der DDR, Anfang der 50er Jahre, mit Norden in einem Boot sah. Arnold Zweig, zu jener Zeit Präsident der Akademie der Künste,35 notierte in seinem Taschenkalender am 13. Januar 1953: Scharfer Artikel der [sowjetischen Nachrichtenagentur] ›Tass‹ gegen ein Kollektiv meist jüdischer Ärzte in Moskau, die Shdanow u. a. hohe Funktionäre im Auftrag des Joint durch falsche Diagnose u. zu starke Mittel getötet haben sollen [...].36

Einen Tag später, am 14. Januar lesen wir: Kurze Besprechung mit d. V.V.N. über Antisemitismus in der D.D.R. Beschlüsse des Z.K. d. S.E.D., aus leitenden Stellen Juden zurückzuziehen. Passt zu [Albert] Norden, [Gerhart] Eisler, mir, zu [Leo] Zuckermanns Flucht etc.37

Ende der 50er Jahre haben sich Zweig und Norden intensiv zur »jüdischen[n] Problematik« ausgetauscht, lesen wir in einer nach der Wende erschienenen Norden-Biographie.38 Diese Probleme, führt der Biograph Norbert Podewin aus, haben Zweig und Norden »bei durchaus nicht einheitlichen Sichten gleichermaßen gemeinsam lebenslang« beschäftigt.39

35

36 37

38 39

1339 (Nachlass Walter Ulbricht). Zweig war nicht der Einzige, der nicht unterschrieben hatte und nun von Norden angeschwärzt wurde. Es lehnten neben dem Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Helmut Aris, folgende Nicht-Gemeindemitglieder ab: Lin Jaldati, Peter Edel und Heinz Kamnitzer. Zweig war ab 25.03.1950 Präsident der Akademie der Künste. Ende September 1952 hatte er unter Druck seine Bereitschaft erklärt, das Amt aufzugeben. Er bekleidete dies dann interimistisch bis zur Amtsübernahme durch Johannes R. Becher am 23.04.1953. Für diese Angaben danke ich Petra Uhlmann, Historisches Archiv der Akademie der Künste. Arnold-Zweig-Archiv Sign. 2649. Vgl. auch: Terroristische Ärztegruppe in der Sowjetunion entlarvt. In: Neues Deutschland, 14.01.1953, S. 1. Ebd. Der Name »Norden« ist relativ undeutlich geschrieben, m. E. aber eindeutig. Vgl. Dieter Schiller: Arnold Zweig in der Akademie der Künste. In: Helle Panke e. V. H. 28, Berlin 2000, S. 47. Beschlüsse des ZK, wie sie Zweig erwähnt, konnte ich bisher nicht finden. Die ganze Stimmung in jener Zeit war aber so, dass Juden in leitenden Positionen davon ausgehen mussten, denn einige hatten ihre Stellungen verloren, waren degradiert oder befanden sich in Stasi-Haft. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Norden am 12.12.1952 bei der Zentralen Parteikontrollkommission denunziert worden war. (Mitteilung von Andreas Weigelt, Email 02.02.2009). Vgl. zu Juden in dieser Zeit in Ostdeutschland: Andreas Weigelt/Hermann Simon (Hg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1956. Zehn Biographien. Berlin: Textpunkt 2008. Norbert Podewin: Albert Norden. Der Rabbinersohn im Politbüro. Berlin: edition ost 2001, S. 311ff. Ebd.

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Unterschiedliche Ansichten berechtigen wohl nicht zur Denunziation, wie im Juni 1967 geschehen, als Norden den Dichter Zweig bei Ulbricht anschwärzte.40 Der bewusste Jude Arnold Zweig ist am Vormittag des 26. Novembers 1968 gestorben und wurde sechs Tage später, am 2. Dezember 1968, zu Grabe getragen. »Die erste Ehrenwache am Sarg Arnold Zweigs«, lesen wir im Neuen Deutschland vom 3. Dezember 1968, bezogen die Mitglieder des Politbüros des ZK der SED Kurt Hager und Albert Norden sowie der Präsident der Nationalrates der Nationalen Front, […] Erich Correns, und der Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates […] Alexander Abusch.

Woran mag Norden am Tag zuvor in der Akademie der Künste neben der »aufgebahrten sterblichen Hülle« des Dichters stehend gedacht haben? Welchen Friedhof hatte der Dichter für sich ausgesucht? Hat er dies überhaupt selbst bestimmt bzw. bestimmen dürfen? Man könnte vermuten, dass seine »dereinstige Bestattung« – so formuliert es die Kultusabteilung der Jüdischen Gemeinde noch heute, wenn man in diesem Punkt Vorsorge trifft –, auf dem Friedhof in Weißensee erfolgen sollte. Diese Vermutung ist wohl falsch, wie wir sehen werden. Heinz Kamnitzer, ein Vertrauter Zweigs, und zugleich »bis in die letzten Tage des Dichters« »hilfreicher und [...] ›überwachender‹ Bewunderer«,41 berichtet: An einem Vormittag hieß er – wie er es nannte – anspannen, will heißen sein Auto vorfahren, um mit seiner Frau den jüdischen Friedhof in Weißensee aufzusuchen. Diesmal galt es nicht, jemandem das letzte Geleit zu geben. Sie fuhren, um eine Grabstätte zu besichtigen, wo sie zusammen unter der Erde liegen wollten. Ich bin nicht dabei gewesen, aber ich kenne mich dort aus. [...] Was ihn [...] hierher führte, ist nicht eine späte Heimsuchung gewesen, geschweige denn religiöse Reue im Vorgefühl des eigenen Endes. Er hatte nie seine Abstammung verleugnet. Ohne viel davon herzumachen, bekannte er sich stets zu einer Schicksalsgemeinschaft, in die er hineingeboren. [...] Dennoch blieb sein Besuch in Weißensee eine Episode, wenn auch ein wichtiger Kommentar am Ende seiner Tage. Aber letzthin entschied die Summe seiner Lebenszeit, wo er begraben sein wollte. Er ließ für sich und seine Frau auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof einen Platz frei halten, unweit seiner toten Genossen und Gefährten Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Heinrich Mann und Bodo Uhse, die mit ihm das geistige Antlitz der Deutschen Demokratischen Republik so eindrucksvoll mitgeformt haben.42

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41 42

Warum hat Norden eigentlich nicht selbst die »Erklärung jüdischer Bürger der DDR« unterschrieben? Er wollte wohl unter keinen Umständen mit dem Adjektiv »jüdisch« in Zusammenhang gebracht werden. Von Sternburg, »Um Deutschland geht es uns« (wie Anm. 5), S. 272. Heinz Kamnitzer: Der Tod des Dichters. Berlin: Buchverlag Der Morgen 1974, S. 100ff.

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«

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Wenn man diesen Text liest, und ich habe ihn damals im Jahre 1974 gelesen, dann will man den Inhalt allein wegen des kitschig-pathetischen Schlusses nicht glauben. So ist auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder behauptet worden, Zweig habe sich für den Friedhof in Weißensee entschieden, aber die DDR habe dies verboten. Besonders nachdrücklich und pointiert formulierte dies Sabine Brandt in einer Rezension der Zweig-Biographie von Manuel Wiznitzer: Der Autor, schreibt sie in der FAZ, lässt unerwähnt, dass die DDR noch den Toten vergewaltigte, indem sie ihm eine Beisetzung nach eigenen Wünschen versagte: ohne Gepränge und auf einem jüdischen Friedhof. Zweig erhielt ein Staatsbegräbnis an der Chausseestraße zu Berlin [...].43

Auch der Verfasser dieses Beitrages glaubte zu wissen, dass Zweig in Weißensee beerdigt werden wollte und es eine »illegale« jüdische Trauerfeier mit Tahara, der religiös vorgeschriebenen Waschung und Bekleidung vor der Bestattung, gegeben habe. Dies habe ich – auch wenn ich mich selbst nicht mehr daran erinnere – dem Feuilletonisten Heinz Knobloch (1926-2003) erzählt, der in seinem letzten Buch schreibt: 1967, zum Achtzigsten, war die Feier im Deutschen Theater. Schon wie zu seinem Gedenken. Auf der Bühne ein leerer Sessel. Als er tot war, ein Jahr später, war sein Leichnam schon rituell gewaschen worden auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, dort wollte er liegen, wurde aber auf Befehl der Staatsmacht – man darf dabei an das Wort ›Ober-Ost‹ aus seinem ›Sergeanten Grischa‹ denken – auf den Dorotheenstädtischen Friedhof transportiert. Auch keine schlechte Stelle, dennoch ...44

Klaus Rebelsky, Knoblochs enger Freund und bester Kenner seines Werkes, hat ihn damals gefragt, woher diese Information stamme. Heinz Knobloch benannte mich als seine Quelle.45 Nur meine Information war unrichtig, wie ich heute weiß, denn Beatrice und Arnold Zweig hatten in einem gemeinschaftlichen Testament im Oktober 1966 formuliert: »Wir wünschen unsere letzte Ruhestätte beieinander auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße, Berlin, zu finden.«46 43

44 45 46

Sabine Brandt: Rezension zu: Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Königstein/TS.: Athenäum 1983, in: F.A.Z. Literaturbeilage vom 13. Dezember 1983. – Ursula Homann hat diese Formulierung noch einmal 2007 übernommen (Arnold Zweig. Aus Anlass seines 120. Geburtstags. In: Tribüne – Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 2007, H. 183, S. 180). Für den Hinweis auf ihre ursprüngliche Quelle, die Rezension in der FAZ, danke ich Ursula Homann. Heinz Knobloch: Das Lächeln der Wochenpost. Wie unsereiner Zeitung machte. Berlin: Jaron 2002, S. 109. Brief Klaus Rebelsky an den Verfasser, 17.01.2009. Arnold-Zweig-Archiv Sign. D 40. Für die Mitteilung dieser Passage des Testaments vom 03.10.1966 danke ich Frau Maren Horn, Literaturarchiv der Akademie der

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Zu einer solchen Festlegung konnte man nicht gezwungen werden, denke ich. Wir können andererseits aber nicht hundertprozentig sicher sein, ob die Entscheidung der Eheleute Zweig für diesen Prominentenfriedhof eine absolut freiwillige war. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich Arnold Zweig bei der Wahl des Friedhofes gegen seine Frau durchgesetzt hat. »Möglicherweise war sich das Ehepaar Zweig in dieser Sache uneins, da Frau Zweig sehr gläubig war«, gab mir Ilse Lange zu Protokoll.47 Dennoch: Es hat eine jüdisch-religiöse Trauerfeier gegeben, auf die nun einzugehen ist. Kaum jemand weiß davon. Julia Bernhard und Joachim Schlör sprechen im Frühjahr 2002 von der »seltsame[n] Todesfeier, militärisch und jüdisch«.48 Woher diese Information stammte, wissen beide nicht mehr. Knoblochs Buch hatten sie damals noch nicht zur Kenntnis nehmen können. Schlör hält es für möglich, dass er nach der Wende über die jüdische Trauerfeier einen längeren Bericht, der im März 1969 im Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR gedruckt worden war, gelesen hat.49 Die Auflagenhöhe dieser Zeitschrift, die viermal pro Jahr erschien und jedes Gemeindemitglied per Post erhielt, betrug 1.800 Exemplare. Etwa ein Drittel der Auflage wurde ins Ausland geschickt,50 viele Exemplare nach meiner Erinnerung nach Israel. Den Jeckes war die Geschichte, sofern sie daran interessiert waren, bereits bekannt: Am 16. Dezember 1968 hatte die in Israel erscheinende deutschsprachige Tageszeitung Jedioth Chadashoth von der jüdischen Trauerfeier unter der Überschrift »Arnold Zweig – nicht auf jüdischem Friedhof beerdigt« berichtet.51 Dabei stützt sich die Zeitung auf einen Brief aus Ostberlin, der ihr auszugsweise von einem Leser mitgeteilt worden war. Die Schilderung weist eine Reihe kleinerer Fehler auf und wird deshalb

47 48

49

50

51

Künste. Ohne ihre Unterstützung wäre es nicht möglich gewesen, diesen Aufsatz zu schreiben. Telefonat mit Ilse Lange, 02.01.2009. Julia Bernhard/Joachim Schlör (Hg.): Deutscher, Jude, Europäer im 20. Jahrhundert. Arnold Zweig und das Judentum. Texte des V. Internationalen Symposiums über Leben und Werk Arnold Zweigs, Potsdam 1999. Bern u. a.: Peter Lang 2004, Vorwort S. 9. Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik. Dresden, Berlin: März 1969, S. 4f. Sowohl Julia Bernhard als auch Joachim Schlör danke ich für ihre Bereitschaft, meine wiederholten Nachfragen geduldig zu beantworten. Angaben nach Ulrike Offenberg: »Seid vorsichtig gegen die Machthaber«. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945 bis 1990. Berlin: Aufbau 1998, S. 125. Arnold Zweig – nicht auf jüdischem Friedhof beerdigt. In: Jedioth Chadashoth, TelAviv, 16.12.1968, S. 4. Geoffrey V. Davis, Aachen, danke ich für den Hinweis auf diesen Artikel.

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«

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nicht in extenso zitiert. Für wichtig halte ich die Mitteilung, dass diese Zeremonie »die beste Feier für Frau Zweig« war.52 Der in dem Artikel zitierte Brief aus Ostberlin schließt mit dem Satz: »Es ist uns aber nicht gelungen, diesen guten grossen Juden auf unseren Friedhof (gemeint ist Weißensee) zu bekommen.« Diese bedauernde Formulierung könnte darauf hindeuten, dass der Briefschreiber ein Gemeinde-Insider war, der aber andererseits nicht wusste oder glauben wollte, dass sich Zweig für einen anderen Friedhof entschieden hatte.53 Die Berliner Jüdische Gemeinde hatte, wie erwähnt, in ihrem Nachrichtenblatt über Tod, Trauerfeier und Beisetzung ihres prominenten Mitglieds informiert, und zwar ausführlich: Noch am gleichen Tag [also am 26.11.1968, H.S.] besuchten Vorsitzender Heinz Schenk, Oberrabbiner Dr. Singer und unser Schochet, Izik Dawidowicz, Frau Zweig in ihrer Wohnung, um ihr herzliches Mitgefühl auszusprechen. Dabei wurde über die religiöse Feier für unser Mitglied gesprochen. In Anwesenheit des Sohnes54 sowie der Schwester des Professors55 wurde festgelegt, daß wir – bevor die Öffentlichkeit Abschied nehmen konnte – unserem Ritus entsprechend, im Plenarsaal der Deutschen Akademie der Künste eine Totenfeier durchführen. Aus Anlaß dieser Feier sprach Oberrabbiner Dr. Singer ergreifende und tröstende Worte zu den Hinterbliebenen [...].56

Das Nachrichtenblatt druckte auch den Nachruf der Gemeinde ab, den diese der Akademie der Künste übergeben hatte. Dieser Nachruf beginnt mit den Worten des Propheten Jona: »Iwri Onauchi – ein Jude bin ich«.57

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53

54 55

56 57

Beatrice Zweig war sowohl in der Akademie als auch im Deutschen Theater anwesend, nahm aber nicht an der Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof teil. »Sie hat dies abgelehnt, weil sie sich dazu nicht in der Lage fühlte.« (Telefonat mit Ilse Lange, 02.01.2009). Dass sie sich dennoch beim Präsidenten der Akademie, Konrad Wolf, »für die würdige und schöne Grabrede« bedankte, halte ich für mitteilenswert. (Brief Beatrice Zweig an Konrad Wolf, 09.01.1969, Archiv der Akademie der Künste, AdK-O, ZAA 5039). Diesen Artikel habe ich vermutlich schon 1968 gelesen, denn die Zeitung war am Vorderasiatischen Institut der Humboldt-Universität, an dem ich im Nebenfach studierte, auch für uns Studenten zugänglich. Bei dem Sohn handelt es sich um Adam Zweig. Es war vermutlich die Schwester von Beatrice Zweig, Marie Sochaczewer (vgl. Anm. 61). Die in Argentinien lebende Schwester von Arnold, Ruth Zweig, hatte ihren Bruder vorher besucht, war aber zur Zeit seines Todes nicht in Berlin. (Telefonat mit Ilse Lange, 17.01.2009). Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde (wie Anm. 49), S. 5. Die Worte von Rabbiner Ödön Singer sind ebd. abgedruckt. Ebd., S. 4. Original im Archiv der Akademie der Künste, AdK-O, ZAA 5039. Zu Jona 1,9 vgl. Heinrich Simon: Zum Problem der jüdischen Identität. In: Jüdische Selbstwahrnehmung – La prise de conscience de l'identité juïve. Hg. von Hans Otto Horch und Charlotte Wardi. Tübingen: Max Niemeyer 1997, S. 16.

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Über die jüdische Trauerfeier besitzt das Centrum Judaicum einen Bericht von Oljean Ingster, der daran teilgenommen hat. Er gab uns am 10. Juni 2006 viele Einzelheiten zu Protokoll; das eben zitierte Nachrichtenblatt war ihm vorher nicht noch einmal von uns zur Kenntnis gebracht worden.58 Auch er wusste zu berichten, dass Zweig in Weißensee beigesetzt werden wollte, so habe ihm Gemeindevorsitzender Heinz Schenk erzählt. Mit ihm und dem Ostberliner Rabbiner Martin Riesenburger (1896-1965) habe der Dichter öfter darüber gesprochen. »Neben seinem Freund Riesenburger« wollte Zweig beerdigt sein. Seinen Wunsch habe er »nicht schriftlich niedergelegt. Aber seine Frau wusste genau darüber Bescheid.« Beatrice Zweig wurde gebeten – »es war mehr eine Weisung« –, dass Arnold Zweig auf dem Dortheenstädtischen Friedhof beigesetzt werde, so Ingster. Eine »Weisung« hat es, wie wir gesehen haben, nicht gegeben. Zweig hat möglicherweise mit Riesenburger und vielleicht auch Schenk über eine Beisetzung in Weißensee gesprochen. Zweigs Festlegung, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof seine letzte Ruhestätte zu finden, traf der Dichter eineinhalb Jahre nach dem Tod von Rabbiner Riesenburger. Am 27. November 1968 meldete das Neue Deutschland: Zur Vorbereitung und Durchführung der Beisetzungsfeierlichkeiten für […] Arnold Zweig […] »wurde eine Kommission unter der Leitung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, […] Alexander Abusch, gebildet. […] Ort und Termin des Staatsaktes und der Beisetzung werden […] noch bekanntgegeben.59

Dies erfolgte einige Tage später, und der Termin war, wie bereits erwähnt, der 2. Dezember 1968 mit folgendem Ablauf: 10-12 Uhr Aufbahrung in Akademie der Künste (Robert-Koch-Platz 7). »Die Bevölkerung hat Gelegenheit, […] von Arnold Zweig Abschied zu nehmen.«60 13:30 Uhr Staatsakt im Deutschen Theater. 15:00 Uhr Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Dass die Überführung vom Deutschen Theater zum Friedhof sowie die Beisetzung selbst unter »Mitwirkung« der Nationalen Volksarmee erfolgte, war sicher nicht im Sinne des Verstorbenen, ja dürfte ihm zuwider gewesen sein, entsprach aber dem in dieser Zeit in der DDR bei Staatsbegräbnissen üblichen Ritual. Hingegen war die jüdische Trauerfeier, die vor der Aufbahrung im Plenarsaal der Akademie der Künste um 9:00 Uhr am selben Ort begann, vermutlich im Sinne des Verstorbenen, auch wenn er dies nicht testamentarisch festgelegt 58

59 60

Oljean Ingster (geb. 1928) ist seit Pessach 1966 ununterbrochen als Kantor in der Berliner Synagoge Rykestraße tätig. Das Gesprächsprotokoll befindet sich im Archiv des Centrum Judaicum (Signatur Z 2009/19); befragt wurde er von Anna Fischer, Mitarbeiterin des Centrum Judaicum. Neues Deutschland, 27.11.1968, S. 2. Neues Deutschland, 02.12.1968, S. 2.

»Ihnen und der Gemeinde alles Gute«

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hatte. Sehr vieles spricht dafür, dass diese Gedenkzeremonie ein ausgesprochener Wunsch der Familie war, die daran teilnahm. Da Oljean Ingster sich erinnert, dass der Sarg aus Weißensee kam und während der jüdischen Trauerfeier mit einem schwarzen Tuch vom Friedhof abgedeckt war, können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass auf dem Friedhof zuvor die religiös vorgeschriebene Tahara vorgenommen worden war. Es ist schwierig zu rekonstruieren, wer bei der jüdischen Trauerfeier im Plenarsaal der Akademie der Künste zugegen war. Wir können – so Ingster – von etwa vier Frauen und ca. 15 Männern ausgehen, darunter unter anderem Gemeindevorsitzender Heinz Schenk und der Inspektor des Friedhofs Weißensee, Herbert Fischer. Auch der vor Ingster als Kantor in der Rykestraße wirkende Sally Simoni war, wie ich aus anderen Quellen weiß, anwesend. Oberrabbiner Singer und Oberkantor Estrongo Nachama (Berlin-West) amtierten. Ingster hatte keine Funktion, war aber wie Rabbiner und Oberkantor im Ornat. Die Zeremonie – El mole rachamim,61 Rede des Rabbiners und gemeinsames Kaddisch-Gebet – dauerte länger als geplant. Oljean Ingster erinnert sich: Es war eine eigenartige Stimmung, weil in der Zeit, als diese Trauerfeier nach jüdischem Ritus stattfand, schon die Massen kamen, um an dem offiziellen Staatsakt teilzunehmen. Aber wir ließen uns nicht davon beeindrucken.62

Arnold Zweig ist heute innerhalb der Berliner jüdischen Gemeinschaft kaum bekannt. In den vielen Büchern über den Friedhof Weißensee kommt der Name nicht vor. Das mag darin begründet sein, dass Zweig, wie wir gesehen haben, nicht auf diesem Friedhof beigesetzt ist. Dennoch erinnert an ihn eine kleine, nur 56 cm breite und 81 cm hohe Tafel, die nur ganz wenige Insider kennen. Sie steht vor dem Grab der Eltern von Beatrice Zweig und hat folgenden spärlichen Text: Zum Gedenken Arnold Zweig Margarete Beatrice Zweig Marie Sochaczewer geb. Zweig Hans Zweig63 61 62

63

Gebet zum Gedenken an die Verstorbenen. Dass die beiden Gruppen sich trafen, hat mir auch Dr. Gerd Dardas, der in der Akademie der Künste zu jener Zeit Pressereferent war, bestätigt: Es war geplant, dass religiöse Zeremonie im Plenarsaal und nachfolgende Veranstaltung ebendort so ablaufen, dass die jeweiligen Teilnehmer sich nicht begegnen. »Das hat aber nicht geklappt, weil sich die religiöse Zeremonie hinzog.« (Telefonate mit Dardas, 13.01. und 02.02. 2009). Bei Marie Sochaczewer (1893-ca. 1972) handelt es sich um die Schwester von Beatrice Zweig (1892-1971); bei Hans [Rudolf] Zweig (1890-1970) um den nach Südamerika emigrierten Bruder von Arnold Zweig. Der im »Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945« verzeichnete Hans Zweig (1888-1942), der bis zu seiner

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Für die Anfertigung und das Aufstellen der Tafel hat Ilse Lange, Zweigs langjährige Sekretärin, gesorgt und damit den letzten Willen Arnold Zweigs erfüllt. Im Testament heißt es unmittelbar nach der bereits zitierten Festlegung, er wolle auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt werden: »Auf dem Grab der Eltern von Frau Margarete Beatrice Zweig auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee soll für uns beide ein Gedenkstein errichtet werden.« Dieser Gedenkstein bedarf nach vielen Jahrzehnten einer Restaurierung, damit an Arnold Zweig, der stets treues Mitglied seiner Gemeinde geblieben ist, an diesem jüdischen Ort erinnert wird. Ich werde mich darum kümmern.

Deportation Mitarbeiter der Berliner Jüdischen Gemeinde war, ist vermutlich ein Bruder von Beatrice Zweig.

Daniel Hoffmann

Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk

I.

Einleitung

»Die einzige Hilfe gegen den Babylonismus kann nur von orthodoxen Juden kommen.«1 Dieser Satz aus der Erzählung Geheime Ziffernkanzlei, 1962 im Erzählband Spiegelhütte erschienen, formuliert in Hermann Lenz’ literarischem Werk in zugespitzter Weise einen zentralen Gedanken seiner Auseinandersetzung mit der Bedeutung, die dem Judentum bei der Bewältigung der geistigen und materiellen Zerstörungen zukommen kann, die das abendländische Europa in der diktatorischen und faschistischen Epoche des 20. Jahrhunderts angerichtet hat. Jüdische Lebenswelt in ihrer religiösen Gestalt und jüdisches Schicksal im Holocaust gehören deshalb zu den wiederkehrenden Themen in Lenz’ Werk, so dass es mehr als nur überraschen muss, dass sein Beitrag zur literarischen Aufarbeitung des Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur bisher nicht gewürdigt worden ist.2 Dabei wäre wohl kaum ein deutscher Schriftsteller zu nennen, der wie Lenz in seinem Werk das Judentum in so breit gefächerter Weise thematisiert hat. Sie reicht von der Darstellung jüdischen Lebens, vor allem jüdischer Verfolgungsschicksale, im 20. Jahrhundert in den autobiographischen Eugen-RappRomanen, über die jüdische Mystik des mittelalterlichen Buches Sohar, das eine bedeutsame Rolle in dem im 19. Jahrhundert angesiedelten Roman Die Begegnung spielt, bis zur Evokation jüdischer Friedhöfe als Ruhe- oder Exilorte für zwei von der deutschen Gesellschaftsordnung der Nachkriegszeit enttäuschte Menschen in dem späten Roman Zwei Frauen. Das Jüdische begegnet in Lenz’ Werk als etwas Selbstverständliches, es ist nicht ein Thema, das die gesellschaftlichen und politischen (De-)Formationen Deutschlands im 20. Jahrhundert an ihn herangetragen haben. Vielmehr gehört es ganz natürlich zu der Welt, die Lenz in seinem literarischen Werk abbilden wollte. Das liegt natürlich auch daran, dass Hanne Lenz, seine Ehefrau, die er 1 2

Hermann Lenz: Spiegelhütte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 240. So wird in dem verdienstvollen Sammelband: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006, der eine repräsentative Auswahl von Autoren zum Thema verspricht, Hermann Lenz kein einziges Mal erwähnt. Siehe dazu auch meine Rez. in: Theologische Revue (2007), H. 5, Sp. 426-429.

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Daniel Hoffmann

bereits als junger Student in München kennengelernt hat, aus einer jüdischen Familie stammt, so dass Lenz’ Blick auf seine Zeit schon sehr früh von der jüdischen Lebens- und Gedankenwelt mitbestimmt worden ist. Das Jüdische hat sich dabei nicht nur zu einem Korrelat, sondern auch zu einem Korrektiv jener schwäbischen Familienbiographie entwickelt, die im Zentrum seiner poetischen Welt steht.

II. Das doppelte Gesicht In den beiden Eckerzählungen dieses 1949 erschienenen Erzählbandes, Lenz’ zweiter Buchpublikation, begegnen mit dem Zauberkünstler Alexander Valtamare, der das Dritte Reich im Exil überlebt hat, und dem jüdischen Mädchen Naemi Goldstein, das im KZ Auschwitz umgekommen ist, die beiden unterschiedlichen Lebensschicksale jüdischer Menschen während der Nazizeit. Die im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit angesiedelten Erzählungen fragen auf dem Hintergrund der systematischen Zerstörung aller moralischen Werte nach neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens. In einem surrealen Traumspiel führt Lenz die Lebenden mit den Toten zusammen, die noch immer unter den Lebenden wandeln, weil sie in ihrem Dasein unerlöst sind.3 Es geht um eine die Vernichtung überwindende neue Gemeinschaft, in der die Lebenden auch den Ermordeten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der Illusionist Alexander Valtamare, Hauptfigur der Erzählung Das nächtliche Aquarium, ist von Berufs wegen einer, der in die Hintergründe der Wirklichkeit, in ihre unsichtbare Dimension hineinzugreifen vermag, während sich sein Bruder Daniel in medizinische Lehrbücher vertieft, um in den Menschen hineinschauen zu können. In seiner Zauberkunst lässt Valtamare eine zufällige Welt der Erscheinungen entstehen. Trat er also aufs Podium, so machte er eine leichte Bewegung mit dem Zeigefinger, den er krümmte wie einer, der etwas herbeilocken will, und alsbald spannen sich Fäden von dieser Hand zu dem Objekt, das ganz gut der Inspizient sein konnte. An diesen Fäden aber hingen merkwürdige Dinge: ein Damenbein [...] oder ein bizarres Insekt, eine Spinne mit langen Krähenfüßen.4

Die Fäden, die sich hier von der Hand des Zauberers zu den Dingen ausspannen, machen nicht Verbindungslinien sichtbar, sondern stellen sie erst her. Nur für den Augenblick einer Geste kann diese illusionäre Welt lebendig sein. Für Lenz ist dieses Zauberstück ein Sinnbild des modernen Menschen, der Zeichen setzt und Zusammenhänge arrangiert, die aber allzu schnell wieder aufgelöst werden. 3 4

Siehe Hermann Lenz: Das doppelte Gesicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 283. Ebd., S. 17.

Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk 369

Valtamare kehrt 1945 nach siebenjähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt Wien zurück, um nach seinem Bruder Daniel zu forschen. Mit seiner Ankunft in Wien beginnt für ihn ein Traumspiel, in dem er nicht nur den Freunden und Weggefährten vergangener Tage begegnet, sondern auch seinem schuldhaften Verhalten ihnen gegenüber. Es sind jedoch alles Tote, die ihn umstellen, ihn durch die Ruinenstadt führen, um die alten Wege seines früheren Lebens noch einmal mit ihm abzuschreiten und ihn zu einer Läuterung zu führen. Die Toten bilden eine sogenannte Museumsgesellschaft, die Valtamare zu Ehren Theaterstücke aufführen, die sein Artistenleben nachspielen. Auf einer dieser Theaterveranstaltungen wird die Geschichte seiner jüdischen Familie dargestellt. Man sieht den Großvater bei der Beschneidung eines Knaben. Es ist sein Enkel Moritz, der sich nun Alexander nennt. Die Beschneidungszeremonie, die der Aufnahme des Knaben in den Bund Abrahams dient, verwandelt sich vor Valtamares Augen in eine Szene, die die Geburtsstunde seines Künstlertums darstellt. Und dem alten Mann wurde auf einem Samtkissen ein Knäblein zur Beschneidung dargereicht. Im Augenblick, da einige Blutstropfen in die Messingschale fielen und der Rabbiner die kleine Wunde aussaugte, strahlte vom Nabel des Kindes ein breites dreieckiges Lichtband ins Gewölbe empor, als sei ein heller Schacht in der Luft aufgerissen worden. Darin stand ein brauner, schlanker Knabe, nackt und zeitlos wie ein Kind der Wüste, ein jugendlicher Herrscher ferner Zeiten.5

In dem Bild des dreieckigen Lichtbandes ist das Leitmotiv der Erzählung, nämlich die verbindenden Linien, erneut präsent, diesmal jedoch in der Form eines vertikalen Bandes. In diesem Lichtschacht spielt sich das Drama von Valtamares Leben ab. Der stolze Wüstenknabe, der Alexanders Gesichtszüge annimmt, legt seine Tradition ab. Analog zur Zeremonie der Beschneidung wird der Übertritt in die moderne Welt mit dem Schnitt eines Messers besiegelt, das der Knabe über dem Herzen ansetzt. Das hervorspritzende Blut belebt eine Maske, die zu seinen Füßen liegt. In seiner Haltung trat etwas Bewusstes und Posierendes hervor, und er verwandelte sich in ein scharfzügiges Menschenwesen der modernen Zeiten; er machte alle Stadien durch, die Alexander in seinem Leben überwunden hatte, ein Anblick, der ihm kaum erträglich war, so dass er schließlich aufstand und den Zuschauerraum verließ.6

Das Brüderpaar Valtamare und Daniel Rubiner symbolisiert in dieser Erzählung das doppelte Gesicht des modernen Judentums, den Typus des heimatlosen, entwurzelten, von seiner religiösen Tradition abgenabelten Juden und des assimilierten Juden, der seinen orthodoxen Glauben in einen ethischen Universalismus verwandelt hat. Ihre Schicksale im Dritten Reich aber gleichen einander. Der unruhig wandernde (Alexander) und der mit stoischer Ruhe sich in 5 6

Lenz, Das doppelte Gesicht (wie Anm. 3), S. 56. Ebd., S. 57.

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Daniel Hoffmann

sich zurückziehende Jude (Daniel) entgehen dem Angriff auf ihr Leben nicht. Indem Valtamare am Ende seiner Reise in sich versunken daher gehen darf, den ruhigen Schimmer seines Alters empfindend, zeigt er sich als ein Geläuterter. Es ist die Gestalt seines ermordeten Bruders, die sich in seine eigene so eingeschmolzen hat, dass sich die Züge des Menschenverächters Valtamare am Ende beruhigen können.7 Analog zur Museumsgesellschaft versammelt sich in der Erzählung Die unsichtbare Loge eine disparate Gruppe von Toten des Krieges zu einer Logengemeinschaft, in deren Mittelpunkt das jüdische Mädchen Naemi steht. Der Ich-Erzähler, ein soeben erst aus der Kriegsgefangenschaft entlassener ehemaliger deutscher Soldat, in dem Hermann Lenz sein eigenes Kriegsschicksal gespiegelt hat, begegnet auf einem Spaziergang mit dem amerikanischen Leutnant Thomas Webster durch die zerstörte Stadt seinem Kriegkameraden Jussy, den er für tot gehalten hat. »Es sei eben doch alles nur Schwindel gewesen, was man mir damals erzählt hatte, dachte ich, trat auf ihn zu und sagte: ›Servus, Jussy!‹«8 In dem Traumspiel, das folgt, werden die realen Zusammenhänge auf den Kopf gestellt. Nicht die Begegnung mit den Toten des Krieges wird als Schwindel bezeichnet, sondern die Ereignisse der Vergangenheit, so dass die Toten des Krieges in der Gegenwart wieder erscheinen können. Die Negation der Vergangenheit meint aber nicht deren Leugnung, sondern sie bildet den Ansatzpunkt für die Erlösung der Ermordeten, für die Versöhnung mit den Opfern. Denn alle Personen, denen der Ich-Erzähler begegnet, sind Opfer von Ereignissen geworden, die so unglaublich grausam sind, dass man sie zum Schwindel umdeuten muss, um so in einer surrealen Enklave der Gegenwart ihr Schicksal zur Erlösung hin zu wenden. Die Toten, denen der Erzähler begegnet, sind »Rudimente aus den alten Zeiten«, die »trotzdem weiterlebte[n], als sichtbares Zeichen dafür, wie sich in der Gegenwart alles vermischte«.9 Sie sind damit Heimatlose in der Gegenwart, in die sie nicht mehr hineinpassen. Als sich der Erzähler von den Toten verabschieden will, weil er sich seiner Bedeutung für sie und seiner Beziehung zu ihrer fortdauernden Existenz nicht mehr sicher ist, hört er, wie Naemi zu Jussy sagt: »Ach, da werden jetzt Fäden abgerissen.«10 Die Fäden, die Hermann Lenz in dieser Erzählung zwischen ihren Figuren knüpft, sind unbekümmert darum, ob diese Lebende oder Tote sind. Für Lenz 7

8 9 10

Heinz Schumacher sieht in Valtamare eine prototypische Figur des schuldhaft gewordenen Menschen des Dritten Reiches. Die jüdische Problematik klammert er, ebenso wie die ersten Rezensenten dieses Buches, völlig aus. Heinz Schumacher: Realitätsflucht und Bewußtseinskritik. Zum Frühwerk von Hermann Lenz. In: Begegnung mit Hermann Lenz. Künzelsauer Symposion. Hg. von Rainer Moritz. Tübingen: Max Niemeyer 1996, S. 36–62, S. 54. Lenz, Das doppelte Gesicht (wie Anm. 3), S. 195. Ebd., S. 198. Ebd., S. 200.

Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk 371

zählt vielmehr, dass Menschen hier nicht in eine jener Zwangsgemeinschaften des 20. Jahrhunderts gepresst werden, deren Opfer sie alle geworden sind, sei dies nun eine politische Diktatur, die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, eine studentische Verbindung oder zuletzt auch der Zwangsverband der Familie. »Bald aber kam mir’s vor, als sei ich nun in eine andere Welt hineingeraten und hätte endlich die Leute getroffen, die ich mir als Gesellschaft schon immer gewünscht hatte.«11 Diese Menschen finden in der Loge »Zum Geheimen Einverständnis« zusammen. Lenz nennt sie »Gescheiterte«12, weil sie, ob nun Juden, Deutsche oder Russen, Opfer der unmenschlichen Anforderungen ihrer Zeit geworden sind. Bemerkenswert in dieser Erzählung ist die Beschreibung einer Judendeportation.13 Lichtel, Naemis Freund, der später als deutscher Soldat desertiert und auf der Flucht erschossen wird, hält sie in seinem Notizbuch fest. Man war im Vorort einer großen nördlichen Stadt angekommen, wo sich die Landschaft schon eintönig und weiträumig hinausdehnte, und stand, zwei Gleise getrennt, einer Verladerampe gegenüber, auf der sich eine Menschenmenge drängte, die in ihrer tiefen Ruhe ergreifend und groß anmutete. Es mochte an dem stillen grauen Tage liegen, daß Lichtel dies so eindringlich bewußt wurde, denn das nüchterne, aber doch alle Dinge auch wieder verhüllende Licht, war um die Leute wie ein schützender Mantel gelegt, obwohl es dann wieder so aussah, als würden sie von etwas Drohendem bedrängt, demgegenüber sie Würde bewahrten. Sie hatten kleine Bündel neben sich am Boden liegen und wurden von Wächtern in schwarzer Uniform bewacht; freilich, es bestand kein Zweifel: dies waren zur Deportation bestimmte Juden, die auf einen Zug warteten.14

Lenz vermittelt in der dargestellten Szene trotz der drohenden Vernichtung auch Momente des Schutzes, der Ruhe und der Würde. Dabei ist Lichtel nicht einfach ein distanzierter Beobachter, sondern er glaubt, dass seine Freundin Naemi zu den Deportierten gehört. Deshalb erweckt die Beschreibung den Eindruck einer ästhetischen Abmilderung, die den Geschehnissen nicht gerecht werden kann. Aber Lenz will das Grausame der Deportation nicht ästhetisch überdecken, sondern ihm im poetischen Wort seinen fortdauernden Schrecken rauben, damit das Erlebte für den Menschen erträglich wird. Unter den Mitgliedern der unsichtbaren Loge ist auch Tamara, eine russische Kriegsgefangene, die in der Sanitätskompanie des Erzählers Hilfsdienste verrichtet hat. Als er ihr nun wieder begegnet und sich an sie erinnert, resümiert er ihre gemeinsamen Erlebnisse. Es war auch alles Schlimme nun schon längst vergangen, und wenn ich bisher auch bemüht gewesen war, die alten, erschreckenden Bilder in mir selbst zurückzudrän11 12 13 14

Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. Die Beschreibung einer Deportation auch in Hermann Lenz: Neue Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 306. Lenz, Das doppelte Gesicht (wie Anm. 3), S. 249.

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Daniel Hoffmann

gen, weil sie mir noch allzusehr mit sattsam bekannten Leichen- und Modergerüchen getränkt schienen, so ward nun, da Tamara drüber sprach, auch das Entsetzensvolle auf einmal verschönt ...15

Die Ästhetisierung, das Verschönern, ist letztlich nichts anderes als die Überwindung des Leichengeruchs, der dem Erzähler noch immer in die Nase sticht und damit die Vergangenheit auf eine unheilvolle Weise präsent hält. Das Verschönern ist die Rettung vor dem Entsetzensvollen, um in ihm nicht – wie schon die Opfer – unterzugehen. Die drei Auslassungspunkte am Ende des Satzes zeigen aber zugleich, dass diese Versuche, die Vergangenheit zu bewältigen, noch immer offene Angelegenheiten sind.

III. Der russische Regenbogen 1959 ist Lenz’ Roman Der russische Regenbogen erschienen. Im Zentrum steht das Kriegsschicksal der Russin Tamara, die bereits in der Unsichtbaren Loge aufgetreten ist. Von Ostpreußen aus flieht sie nach Süddeutschland und gelangt schließlich in ein Lager mit russischen Fremdarbeiterinnen. Unter ihnen ist auch Franka Lander, eine Jüdin, die sich jedoch als Polin ausgibt. »Sie war Jüdin, sagte es aber niemand. Ich verstand sie. Niemand kriecht freiwillig in den Ofen.«16 Als der Krieg beendet ist, treffen sich die Freigelassenen zu einem Abschiedsfest in einer Setzerei, die eine hebräische Zeitung druckt. Diese Zeitungen benutzen sie als Tischtücher. Sie bilden eine unbeachtete Unterlage, der Lenz jedoch eine religiöse Bedeutung verleiht. »Die Blätter der hebräischen Zeitung zeigten ihre dunklen Gründe; sie glichen uralten, aus einem Felsengrab geborgenen Papieren.«17 Der Vergleich bezieht sich auf die jüdische Praxis, rituell unbrauchbar gewordene Schriftstücke nicht wegzuwerfen, sondern sie ihres heiligen Wortes wegen in einer Geniza zu beerdigen, z. B. in Felsengräbern, so dass sie also weiterhin, wenn auch unsichtbar, gegenwärtig sind. Lenz zitiert diesen religiösen Brauch nicht nur, um damit auf eine mögliche Hintergrundstruktur der Wirklichkeit hinzuweisen, sondern auch als Ausdruck einer humanen Selbstachtung. Denn dort, wo das göttliche Wort aufbewahrt wird, verleiht damit der Mensch als Dialogpartner Gottes auch seiner eigenen Existenz einen heiligen Status. Ihn zurückzugewinnen, ihre menschliche Würde wiederzuerlangen, das wollen die Gefangenen des Krieges, weil sie »Weg-

15 16 17

Ebd., S. 223. Hermann Lenz: Der russische Regenbogen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 67. Ebd., S. 146.

Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk 373

geschmissene, Herausgeworfene«18 gewesen sind, aber jetzt so sorgsam und human behandelt werden möchten wie die hebräischen Schriften. In Neue Zeit verwendet Lenz dieses Motiv ein weiteres Mal, jedoch in einer wichtigen Abwandlung. Eugen Rapp ist mit Studienfreunden bei seinem Heidelberger Professor zu Gast, dessen Ehefrau Jüdin ist. Ein Teller mit belegten Brötchen ging reihum. Als er leer war, zeigten sich auf ihm hebräische Schriftzeichen und ein Datum aus der Biedermeierzeit. – ›Mein Großvater hat ihn zu seiner Bar Mizwah bekommen. Das ist das jüdische Konfirmationsfest‹, sagte Frau Grauerbach.19

Beide Male sind die hebräischen Schriftzeichen blinde Zeichen, aber sie bilden darin ein heimliches Sehnsuchtspotential für ein Leben, das anders fundiert ist, das nicht zur Lebenswelt des eigenen Herkommens gehört, weil es sich in dieser Welt nicht mehr human leben lässt. Der Teller ist zunächst nur ein Utensil für die bunt zusammengewürfelte Gästeschar, unter der auch Studenten eines Professors sind, der dem Gastgeber die Stelle streitig machen will. Als der Teller jedoch leer ist, verweist er mit seinen zuvor verborgenen Schriftzeichen auf eine ganz andere Form der Gemeinschaftlichkeit, zu der die Anwesenden nicht in der Lage zu sein scheinen, die ihnen aber mit den hebräischen Schriftzeichen vergegenwärtigt wird. Denn der Bar Mizwah-Teller ist Zeichen dafür, dass der jüdische Junge nun ein vollwertiges Mitglied des Bundes seiner Väter ist. Für Lenz ist diese Gemeinschaft ein positives Gegenbild zur diktatorischen Zwangsgemeinschaft, in die sich sein alter ego Eugen Rapp während seiner Studentenzeit, also in den ersten Jahren des Dritten Reiches, auch nach dem Willen seiner Eltern einfügen soll. Die fremden hebräischen Schriftzeichen erscheinen ein letztes Mal in Lenz’ Werk als Inschriften jüdischer Grabsteine, mit denen sowohl Eugen Rapp als auch die Protagonistin Gertrud in Zwei Frauen in eine stumme, wiewohl sehnsuchtsvolle Kommunikation treten. Die verwitwete Gertrud, die sich einst mit ihrem Mann in ein Forsthaus im Hohenlohischen zurückgezogen hat, ist eine Welt- und Menschenflüchtige geworden, die sich aus allen Gemeinschaften heraushalten möchte. Darin gleicht sie Eugen Rapp. Die Naturbilder dieses Romans sind Gleichnisse des Lebensgefühls und des Lebensentwurfs seiner Protagonisten. Über alte Eichen heißt es: »Sie standen da und konnten zurückblicken, sich erinnern. Ein Leben lang hatten sie sich gegen die Außenwelt bewahrt und alles in sich selbst gespeichert.«20 Auch Gertrud und Eugen wollen nicht mehr in die Welt hinein leben, sondern sich in ihrem Inneren aufbewahren. Als Gegenbild dazu heißt es über Häuser: »Er kam einzelnen Häusern näher, die auftauchten, als höben sie sich aus einer Senke herauf.«21 Auch der jüdische Friedhof liegt in einer Senke, in der er jedoch versteckt bleibt. So 18 19 20 21

Ebd., S. 92. Lenz, Neue Zeit (wie Anm. 13), S. 49. Hermann Lenz: Zwei Frauen. Frankfurt am Main: Insel 1994, S. 13. Ebd., S. 13.

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wird er zu einem Ziel für Gertruds und Eugens Umherschweifen in einer Landschaft, deren aufdringliche Kultur »überall gegenwärtig war in Schlössern, Fachwerkhäusern mit Inschriften, Wappenzierat und Urkunden, geschrieben mit bräunlicher Tinte.«22 Eugen wünscht sich, auf dem jüdischen Friedhof beerdigt zu werden. Und er schaute, während er im Friedhof umherging, die grauen Tafeln an, auf denen schwarzes Moos eingetrocknet war. Die Inschriften konnte er nicht lesen. Da und dort war die oberste Schicht des Sandsteins abgeblättert, als hätte sich eine Haut abgelöst. [...] Alle anderen Steine hatten hebräische Inschriften. Es war gut, hier zu gehen, aufs schwarze Moos zu schauen, mit den Fingerspitzen rauhe Steinplatten zu berühren und sich von ihnen anschauen zu lassen, als wüßten sie nicht, wer er war und was er hier wollte. Schließlich kannte er auch niemanden von denen, die hier lagen.23

Obwohl er ein intensives Gefühl der Unzugehörigkeit hat, wünscht sich Eugen doch gerade an diesem Ort beerdigt zu werden. Denn es besteht eine offene Kommunikation zwischen Eugen und dem Friedhof. Die Oberfläche der Grabsteine erscheint ihm wie eine abgelöste Haut, Ausdruck eines natürlichen, organischen Ablösungsprozesses. In ihm wird auch Offenheit signalisiert, die Grabsteine zeigen sich dem Fremden und schauen ihn an. Das ist eine Form der Kommunikation, in der Humanität gerettet wird. Hingegen beobachtet Eugen auf einem nichtjüdischen Friedhof die Öffnung und Einebnung von Gräbern, bei der die humane Gesinnung mit Füßen getreten wird. Das Erdreich war hier mit Knochen durchsetzt, weil hier der alte Friedhof sich ausgedehnt hatte, der jetzt eine Wiese war. Die Frau in Gummistiefeln ging zu einem anderen Jungen und deutete auf den Boden, wo er weitergraben sollte. Vergangenheitsreste wurden bloßgelegt. Was übrig war von früher, wurde gesammelt und sortiert, freilich nur Nägel, Gürtelschließen oder gar Geschmeide. Menschenknochen waren nicht interessant.24

IV. Andere Tage – Neue Zeit Der zweite und dritte Band der Eugen-Rapp-Romane Andere Tage und Neue Zeit spielen in der Zeit des Nationalsozialismus. Rapp weicht ihren Bestrebungen zur Gleichmacherei und zur geistigen Barbarei aus, indem er sich ihr in der Freundschaft mit der »Halbjüdin« Hanni Treutlein unmissverständlich entgegenstellt. Während in Verlassene Zimmer und Andere Tage Juden als Nachbarn im Schwäbischen und Hohenlohischen begegnen, weil sie selbstverständlich zur Lebenswelt Deutschlands im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gehören, wird mit Hanni Treutlein die jüdische Welt in Neue Zeit zu ei22 23 24

Ebd., S. 19. Ebd., S. 51. Ebd., S. 59.

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nem bedeutenden Teil der Biographie Eugen Rapps. Die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie, wie z. B. Erzählungen über den Großvater Gustav Gabriel Cohen, Verfasser frühzionistischer Schriften und Freund Theodor Herzls,25 oder die Darstellung ihres Schicksals im Dritten Reich, wie die Deportation der Verwandten Ada und Olga Reé,26 prägen fortan Eugen Rapps Leben. Zwei Szenen können sinnbildlich für seinen Widerstand gegen die Zeit stehen. Und dir? Glückt dir etwas? Jawohl, dir glückt die Sache mit der Treutlein Hanni; die war am wichtigsten. Wieland erzählte, wie Hitler aus der Glyptothek gekommen und über den Königlichen Platz gegangen war (früher hieß der Königsplatz); dabei habe ihn das Volk jubelnd umschwärmt: Immer vorne rum und hinter ihm vorbei und wiederum nach vorne; und sie schrieen alle, während er nur finster geradeaus schaute und die Hand über der Schulter bog, als würfe er was weg.27

Lenz kontrastiert hier das private Glück mit einer Szene aus der politischen Welt des Dritten Reiches. Durch diese Kontrastierung wird das private Glück jedoch zu einem hochpolitischen, weil von der neuen Macht bedrohten. Während Hermann froh darüber ist, eine Freundin gefunden zu haben, ist die Geste des Diktators Ausdruck für seine Egomanie. Er verweigert sich der Huldigung des Volkes, das sich mit ihm eins fühlt, in einer wegwerfenden Geste. Als Eugen die Dachkammer im Elterhaus von Hanni Treutlein bezieht, wird die Ambivalenz seiner Lebenssituation offenbar. »Und in dem Haus fühlst du dich jedenfalls viel wohler als in deiner Zeit; obwohl die Zeit gerade hier in dieses Haus hereinreicht; ja, die mit ihrem langen Arm.«28 Eugen, der sich unbedingt aus seiner Zeit heraushalten will, um nicht mit ihr schuldig zu werden, ist also kein Eskapist, sondern er setzt sich gerade seiner Zeit auf unausweichliche Weise aus, indem er sich auf die Seite der erklärten Feinde der Nazis begibt.

VI. Die Begegnung In Die Begegnung hat Lenz die bekannten Themen und Motive seines Werkes in die Welt des 19. Jahrhunderts versetzt, versehen jedoch mit einer poetischen Kraft, so dass sie nicht als bloße Widerspiegelung der menschlichen Probleme des 20. Jahrhunderts erscheinen, sondern zu einer originären Gestaltung finden. Wilhelm, der Protagonist des Romans, lebt als Hauslehrer bei einem Grafen, dessen natürlicher Sohn er ist. Dies wird ihm jedoch erst im Laufe seines 25

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Siehe dazu: Gustav Gabriel Cohen: Das Ideal des eigenen Staates. Zwei Schriften aus den Anfängen des Zionismus. Hg. von Daniel Hoffmann, mit einer Familienerinnerung von Hanne Lenz. Berlin: IBA – Media & Book 2003. Lenz, Neue Zeit (wie Anm. 13), S. 257. Ebd., S. 34. Ebd., S. 45.

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Lebens eröffnet, eines Lebens, dessen Darstellung Lenz in der revolutionären Atmosphäre des Vormärz beginnt. Wilhelm ist ein in die bestehende Ordnung verliebter Mensch, der Veränderungen scheut, Angst vor dem Neuen hat und die Feudalwelt des Grafen bewahrt wissen will. Den Ablauf der Zeit sieht er nicht im Zeichen des Fortschrittsgedankens des 19. Jahrhunderts, sondern zum einen als Wiederkehr des Gleichen (im Umlauf der Jahreszeiten)29 und zum anderen in einer religiösen Form der Verflüchtigung. Das Gegenwärtige ... und wie es sich verflüchtigte, wie es dünn wurde, durchscheinend, als ob ich mich selbst träumte, daran war ich interessiert. Alles, was sich ereigne, sei wie Baumschatten, eine Lichtspiegelung im Teich, Sonnenflecke auf einer alten Mauer, dachte ich.30

Luise, Wilhelms Gegenpart, verkörpert hingegen den revolutionären Geist ihrer Zeit, sie führt ein unruhiges Leben, in dem sie sich immer nur vorübergehend in die gesellschaftlichen Verhältnisse einpasst. Der Roman erzählt von der komplizierten Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, die nicht zueinanderfinden können, sich beständig anziehen und wieder abstoßen, obwohl sie wissen und spüren, dass sie zusammengehören. Das geheime Zentrum dieses Romans ist jedoch die Figur des Gestütsverwalters des Grafen, Joël, eines Juden aus Galizien, der Wilhelm mit dem Sohar, dem Hauptwerk der mittelalterlichen jüdischen Mystik bekannt macht. Wilhelm, der zunächst Hauslehrer beim Grafen ist, später Dorfschullehrer in Österreich, verweigert sich jedem offiziellen Lehrbuch der Schulen. »Kein Lehrbuch deines Zöglings zwingt dich in seine Zeilen.«31 Stattdessen orientiert er sich an den inoffiziellen, nicht zugelassenen oder verdrängten Lehrbüchern, wie z. B. dem Adalbert Stifters, aber vor allem am Sohar, dem Lehrbuch mit »lauter Gedanken, die hinwegführen von aller Notdurft«.32 Im Briefwechsel von Hermann und Hanne Lenz mit Paul Celan werden zahlreiche Judaica genannt, darunter auch Gershom Scholems Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen und Zur Kabbala und ihrer Symbolik.33 Nach Aussage von Hanne Lenz hat ihr Mann diese Bücher selbst nicht gelesen, ihr aber eine englischsprachige Ausgabe des Sohar geschenkt. Sie hat ihm von ihren Lektüren dieser Bücher erzählt, so dass er einen Einblick in die Gedankenwelt des Sohar gewinnen konnte. Einige Übereinstimmungen zwischen den Themen und Bildern des Romans Die Begegnung und der Geisteswelt des 29

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Zum Zeit- und Geschichtsbegriff des Autors Daniel Hoffmann: Archaik oder Anarchie. Hermann Lenz’ Geschichtsbild. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Themenband Hermann Lenz (1999), H. 1, S. 75–83. Hermann Lenz: Die Begegnung. Frankfurt am Main: Insel 1979, S. 9f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 26. Paul Celan. Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 206 und S. 241.

Unsichtbare Nabelschnüre. Jüdische Lebenswelten in Hermann Lenz’ Erzählwerk 377

Sohar sind aber nicht als Beeinflussungen zu verstehen, sondern als überraschende Korrespondenzen. Eine Korrespondenz besteht in der Lichtmetaphorik, die für Hermann Lenz’ poetischen Kosmos eine fundamentale Bedeutung besitzt. Sohar bedeutet »Glanz«. Im Sohar spiegelt sich »der Glanz des göttlichen Lichtes« wider.34 Zur Erkenntnis dieses Lichtes zu gelangen, ist die höchste Aufgabe des Menschen. Er erreicht sie in einer Meditation, die jedoch nicht mehr als ein momentaner intuitiver Lichtstrahl sein [kann], der im Herzen des Menschen aufleuchtet, ›wie das Spiel der Sonnenstrahlen auf einem Wasserspiegel‹ –, wie Moses de Leon es in einem öfters wiederholten Bilde ausdrückt.35

In einem der schönsten Sinnbilder für die komplizierte Beziehung zwischen Wilhelm und Luise, die von größter Innigkeit und heftiger Abstoßung geprägt ist, hat Lenz das Motiv des flüchtigen Lichtes eingesetzt, das auf den ersten Blick ein Ausdruck der Haltlosigkeit und Flüchtigkeit ihrer Beziehung zu sein scheint, auf dem Hintergrund der Lichtmetaphorik des Sohar aber als höchster Ausdruck ihrer Innigkeit zu fungieren vermag. Insgeheim kam es mir sogar komisch vor, daß wir ein Leben lang uns umeinander gedreht hatten: Sie und ich, als wäre eine unsichtbare Mauer zwischen uns, über die ab und an Lichtflecken huschten.36

Eine andere Korrespondenz besteht in der ambivalenten Form der Selbstfindung, die Lenz’ alter ego-Figuren bestimmt. Während Luise in der Begegnung eine expressive Natur ist, die sich ihr Selbstwertgefühl durch andere Menschen bestätigt,37 schwankt Wilhelm zwischen Innerlichkeit und Wendung zur Außenwelt. Der Graf versucht Wilhelms Tendenz, »zu sich selbst zu kommen«38, indem er sich »ums Nächste [...] kümmer[te], das in [ihm] selber war«39, entgegenzuwirken und schickt ihn nach Wien, damit er sich an der Begegnung mit der Welt verändert. Aber was bewirken Begegnungen? Lenz erklärt die Wahl des Titels seines Romans mit dieser entscheidenden Frage, ob das, was einem begegnet, einen verändert, oder ob einem nur das begegnet, was zu einem gehört, oder ob eventuell allen das gleiche begegnet, das aber jeder anders wahrnimmt.40 Der Sohar hat für diese Problematik durch die mystische Exegese von Gen. 12,1 eine überraschende Lösung gefunden. 34 35 36 37 38 39 40

Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (stw; 13), S. 87. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 241. Lenz, Begegnung (wie Anm. 30), S. 199. Vgl. ebd., S. 75. Ebd., S. 200. Ebd., S. 28. Ebd., S. 105.

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Gottes Wort an Abraham: Lech l’cha, bedeutet nicht nur in seinem Wortverstande ›Ziehe hinaus‹, das heißt bezieht sich auf die Wanderung dessen, der auf Gottes Geheiß in die Welt zieht, sondern lässt sich in mystischer Wörtlichkeit auch lesen als ›Gehe zu dir‹, zu deinem eigenen Selbst.41

Diese doppelte Gestalt von Aus-sich-herausgehen und In-sich-zurückkehren konstituiert auch jenes doppelte Gesicht, das Lenz’ Figuren in ihrer Begegnung mit der Welt auszeichnet.42 Mit dem Sohar expliziert Lenz in der Begegnung eine metaphysische Gestalt des »Dahinter«, das in seinem Werk zumeist als vager Begriff für eine vom modernen, areligiös gewordenen Menschen nicht mehr erkannte Dimension der Wirklichkeit steht.43 Joël erklärt Wilhelm die Grundkonstellation der im Materiellen verwurzelten Epoche des 19. Jahrhunderts.44 Und was die Religion, die Bindung an das Überlieferte betreffe, so werde sie verschwinden, noch bevor das Schloß zerfalle; die Menschen bräuchten dann den alten Glauben nicht mehr. [...] ›Das Andere muß durchdringen wie Licht und wie Vergangenheit. Aber das Licht und die Vergangenheit, die werden nicht mehr sein, obwohl die beiden nicht verschwinden werden.‹45

Dieses metaphysische Licht und die Tradition sichtbar zu machen, ist zugleich auch eines der grundlegenden Themen von Lenz’ Werk. Unprätentiös und damit umso eindringlicher zeigt er sich in ihm mit der jüdischen Geisteswelt verwandt und steht damit in der deutschen Nachkriegsliteratur einzigartig da.

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Scholem, Zur Kabbala (wie Anm. 34), S. 26. Wilhelm will immer wieder zu sich selbst finden, mit sich ins Reine kommen, wird aber immer wieder – vor allem durch Luise – von sich weggelockt. Lenz, Begegnung (wie Anm. 30), S. 185 und S. 187. Siehe dazu Daniel Hoffmann: Stille Lebensmeister. Dienende Menschen bei Hermann Lenz. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 106ff. D. H. Joel hat 1849 Die Religionsphilosophie des Sohar und ihr Verhältnis zur allgemeinen jüdischen Theologie veröffentlicht. Ruth, die Tochter des Gestütverwalters Joël, schenkt es Wilhelm zu seiner Hochzeit. Siehe S. 122. Rainer Moritz belässt es in seinem Kapitel zur Lichtmetaphorik bei dem bloßen Hinweis auf »die mystische Rede des Juden Joël vom Licht«, ohne den historischen Bezug zu entschlüsseln. (S. 230) Auch fehlt in seinem verdienstvollen Buch im Abschnitt »Konstellationen«, das Lenz’ Figurenensemble vorstellt, ein Kapitel über die jüdischen Figuren. Rainer Moritz: Schreiben, wie man ist. Hermann Lenz: Grundlinien seines Werkes. Tübingen: Max Niemeyer 1989. Lenz, Begegnung (wie Anm. 30), S. 27.

Holger Gehle

Ludwig Greves erste Ode »Mein Vater« und Rudolf Borchardts »Villa«

I.

Die Lyrik Ludwig Greves

»Warum schreibe ich also anders, als heute erwartet wird?« Diese Frage stellte Ludwig Greve im Dezember 1979 sich und seinem Auditorium an der Universität Freiburg, wohin ihn Uwe Pörksen für eine Lesung im Rahmen des »Studium generale« eingeladen hatte.1 Zum Gedichtelesen eigentlich war Greve also gekommen, doch nutzte er den einmal gebotenen Rahmen zu einer öffentlichen und ausführlichen Vorrede in eigener Sache, die bis zu seinem unerwarteten Tod 1991 seine einzige derartige Stellungnahme bleiben sollte. Die Antwort auf die Frage begann so: »Meine Ausgangsposition war anders [...]. Keine Bindungen, die ich hätte abstreifen müssen; eher verlangte mich danach«.2 Wie es zu dieser Position gekommen war, hatte er zuvor skizzenhaft beschrieben, hier die an den Jahreszahlen orientierte Version, gezogen aus Reinhard Tgahrts »Zeittafel« zu Greves Leben:3 Seit 1933 Bedrohung der Berliner jüdischen Familie Greve, im November 1938 KZ-Haft des Vaters, da war Greve gerade vierzehn Jahre alt; 1939 der gescheiterte Versuch einer legalen Ausreise nach Kuba, erzwungenes Exil in Frankreich, seit 1940 ist die Familie auf der Flucht; 1944 schwere Verwundung der Mutter durch Granatenbeschuss des Verstecks, Verhaftung des Vaters und der Schwester, die nach Auschwitz deportiert werden, Greve entkommt mit der Mutter nach Lucca, wird verborgen im Priesterseminar. Hier beginnt er zu schreiben, deutsche Gedichte, im September wird er befreit. 1945 mit der Mutter nach Palästina, wo er aber nicht heimisch wird; nur ein knappes Jahr bleibt Greve im Kibbuz, die restliche Zeit bis zur Wiederausreise verrichtet er Hilfsarbeiten in Haifa. 1950 kehrt er mit Freunden nach Deutschland zurück. Er arbeitet in einem Heim des Hilfswerks der Quäker, geht mit Puppenspielen auf Tournee, reist nach Italien, wo er als Übersetzer und Dolmetscher für den Weltbund der katholischen

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2 3

Die Freiburger Rede Greves: »Warum schreibe ich anders? Eine Rede vor Freiburger Studenten« wird im Folgenden zitiert nach: Ludwig Greve: Die Gedichte. Hg. von Reinhard Tgahrt in Zusammenarbeit mit Waltraud Pfäfflin. Göttingen: Wallstein 2006, S. 105-110. Vgl. dort den Kommentar, S. 247. Greve, Warum schreibe ich anders? (wie Anm. 1), S. 109. In: Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 148-152.

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Holger Gehle

Jugend tätig ist und in der Filmbranche (vergeblich) Fuß zu fassen sucht. Die benannte Bindungslosigkeit ist, seit Kriegsende, offensichtlich. 1952 druckt HAP Grieshaber Greves erstes Gedicht und zieht ihn in seinen Kreis. Greve heiratet die Musikerin Katja Maillard und wird Vater. Zwei Jahre lang arbeitet er in einem Stuttgarter Reisebüro. Schließlich wird er 1957 freier Mitarbeiter der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, 1961 ihr fester Angestellter, 1968 ihr Leiter. Die Ausgangsposition, von der die Freiburger Rede spricht, war also die der Jahre nach 1945. Die erste Ode »Mein Vater« entstand in den Jahren 1965/66. Mit ihr war für Greve der Zustand der Bindungslosigkeit überwunden, ein Halt gefunden: »Andere suchen Halt in einer Gruppe oder Überzeugung, ich fand ihn in der alten, immer neu zu gewinnenden Form der Ode.«4 Und das war, für diese Jahre, mit einer solchen Lebensgeschichte im Rücken, eine ungewöhnliche Lösung. Fast mit Lust zitiert Greve am Schluss der Freiburger Rede den Kritiker, der von dieser »Wendung zur Tradition« als »Ärgernis« gesprochen hatte.5 Ihr soll in diesem Beitrag noch einmal nachgegangen werden. Noch vor der ersten Ode liegt, 1961 im Münchner Hanser Verlag erschienen, Greves erstes Buch mit dem schlichten Titel Gedichte. Es versammelt Texte, die seit 1957 entstanden waren, und an ihnen erkennt man durchaus schon Willen zur Formgebung, auch Reifung, die, der Freiburger Rede zufolge, darin liegt, bei der Arbeit »weniger auf Originalität zu sehen als auf Stimmigkeit«.6 Greve aber sagt von ihnen: Beim Wiederlesen alter Gedichte sehe ich, welche Energie ich darauf verwandte, sie wenigstens unanfechtbar zu machen, wie immer ich mir das vorstellte. Ich komme mir darin wie ein Gepanzerter vor, noch dazu einer, der klirrend natürliche Bewegungen nachahmt. Das ist nicht zum Lachen.7

Unter den zehn Stücken des Bandes Gedichte, die er 1990 in seine Auswahlausgabe aufnahm8 und also sozusagen gelten ließ, sind drei englische Sonette, ansonsten handelt es sich um strophische, gereimte und ungereimte Vier- oder Achtzeiler. Auch das bereits in den Gedichten wieder abgedruckte, weil in einem früheren Zyklus9 schon erschienene »Lucca, Giordano Botanico«, ein Gedicht auf die ermordete kleine Schwester, ist in gereimten vierzeiligen Strophen, vierhebig jambisch verfasst, also eine relativ einfache, eingängige Form. In der späteren Auswahl unberücksichtigt blieben, neben Apartem wie zwei

4 5 6 7 8 9

Greve, Warum schreibe ich anders? (wie Anm. 1), S. 110. Vgl. ebd. Ebd., S. 109. Ebd. Ludwig Greve: »Sie lacht« und andere Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 1991. H. L. Greve: Gedichte aus dem Itinerar. In: hommage à werkman. [Hg. von H.A.P. Grieshaber mit seinen Freunden und Schülern.] Privatdruck. Stuttgart 1958.

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ungereimten »Sonetten«,10 insbesondere auch die Versuche in antikisierenden Langzeilen, die Greve bis 1961 unternommen hatte.11 Daraus folgt, dass die 1979 als poetologischer Fluchtpunkt der Freiburger Rede erscheinende »antike Form«12 in Greves eigenen Augen erst nach dem ersten Gedichtband, also zwischen 1962 und 1966, dem Jahr des Erstdrucks von »Mein Vater«, von ihm gemeistert worden ist. Die damit endgültig ins Zentrum des Interesses gerückten, von 1965 an entstandenen Oden Greves sind schon mehrfach als sein wohl eindrucksvollster Beitrag zur Geschichte der deutschen Nachkriegslyrik anerkannt worden.13 Dennoch wurde der Kontext, aus dem heraus er diese Form ergriff, bisher wenig untersucht. War die Aneignung doch keineswegs unproblematisch. Denn: Anfangs scheute ich davor noch zurück, weniger aus Angst, einem Schulmuster zu unterliegen oder es zu parodieren als aus dem Gefühl des Ungenügens; erst als ich mich stellen musste, in dem Gedicht an meinen Vater, fasste ich Mut zu ihr, weil sie der bald drängenden, bald stockenden Anrede Widerstand bot.14

Greve selbst analysiert den Entwicklungsschritt seiner lyrischen Sprache also in Kategorien des Sprechverhaltens, der Anrede: bald drängend, bald stockend, sowie der Form: widerständig. Der Mangel, dem sie abhalf, soll einer des Selbstvertrauens und der Sprache gewesen sein; »mir fehlte das Zutrauen: zu mir, zur Sprache.«15 Freilich fragt man sich, warum ausgerechnet die Odenform hier einen neuen Entwicklungsschritt erlaubt hat. Bieten nicht daktylische Langzeilen, wie sie Greve zuvor schon (und später ja auch noch, sogar als Hexameter) geschrieben hat, ähnliche Qualitäten? Warum also ist gerade die horazische Odenform für Greve eine solche Stütze, Ermutigung gewesen?16 10 11 12 13

14 15 16

»Favoritepark«, »Tulpen«. In: Ludwig Greve: Gedichte. München: Hanser 1961, S. 31, 35. »Campo di Fiori«, »Trödelmarkt. Porta Portese«. In Greve, Gedichte (wie Anm. 10), S. 19-22. Greve, Warum schreibe ich anders? (wie Anm. 1), S. 110. Vgl. dazu v. a. die Arbeiten von Uwe Pörksen: Form als Widerstand. In: Frankfurter Allgemeine, Nr. 2, 3. Januar 1987; Bilder und Zeiten, S. 4. Ders.: Fünf Fragen an den Hohen Stil. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1996. Göttingen: Wallstein 1997, S. 85-98. Außerdem: Thomas Poiss: So ein Unterton von Glück. Zur antiken Form im Werk Ludwig Greves. In: Wiener humanistische Blätter 35 (1993), S. 103-114. Greve, Warum schreibe ich anders? (wie Anm. 1), S. 110. Ebd., S. 109. Poiss, So ein Unterton von Glück (wie Anm. 13), S. 112ff., versucht eine poetologische Antwort darauf zu geben, die ganz von Horaz her argumentiert, obwohl er einräumt, dass »kein einziges Zitat den unmittelbaren Bezug herstellt« und nach dem Zeugnis Friedhelm Kemps eigentlich Borchardt als »Mittler der Form« anzusehen sei (S. 112).

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II. Die horazische Form im Kontext Die Tradition der horazischen Ode im Deutschen ist vielschichtig, auf zahlreichen Wegen kann Greve ihr begegnet sein, sie sich zu eigen gemacht haben. In diesem Beitrag soll eine der möglichen Anregungen, die ich im Sinne von Greves Poetologie für zentral halte, genauer verfolgt werden: die durch die Lektüre Rudolf Borchardts. Es ist nicht Hölderlin, ist nicht Klopstock, ist auch nicht Horaz, deren Namen Greve nennt, wenn es um seine Oden geht, es ist vor allem der Name Borchardts, der aufhorchen lässt. Pörksen hat darauf hingewiesen, dass Greve Borchardts Übersetzung der Eifersuchtsode der Sappho besonders schätzte.17 Greve selbst zitiert den Anfang dieses Textes in der 1974 niedergeschriebenen, zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Erinnerung »Ein Besuch in der Villa Sardi«:18 Er vermeint, er dürf’ es, da der, wie Gottheit Darf, der Mann dort, gegen dir über, welcher Sessen ist, und nahe herzu dein Süßhinläuten sich anhört Und dein Lachen zauberisches...19

Diese Ode, die 1953 in der Neuen Rundschau erstmals erschien, 1974 nochmals, einen Band der Reihe Marbacher Schriften mit Übertragungen Borchardts eröffnend,20 will er, wie auch die Dante-Übersetzungen, schon gekannt haben, so sagt er,21 als sich die Episode begab, die er in seinem Erinnerungstext nun erzählt und die sein Verhältnis zu Borchardt leidenschaftlicher begründet hat als zu jedem anderen deutschen Dichter horazischer Odenformen: Greve stößt während einer Revision der Marbacher Bibliotheksbestände in einer Pause auf Borchardts Band Prosa I von 1920, blättert darin, im Stehen: Eine Aufsatzsammlung, das erste Stück hieß ›Villa‹ und handelte vom toskanischen Landhaus. Die Art, wie unter Druck anzufangen, herausfordernd eher als werbend, erinnerte mich an was. Gegen dir über. Ich schrieb einen Leihschein aus und nahm den Band am Abend für die Zugfahrt mit.22 17 18

19 20

21 22

Vgl. Pörksen, Fünf Fragen an den Hohen Stil (wie Anm. 13), S. 96. Ludwig Greve: Ein Besuch in der Villa Sardi. In: ders.: Ein Besuch in der Villa Sardi. Porträts, Gedenkblätter, Reden. Hg. von Reinhardt Tgahrt. Warmbronn: Ulrich Keicher 2001, S. 7-32. Ebd., S. 7. Vgl. den Kommentar zu Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 265. Greves zweiter Gedichtband Bei Tag erschien noch im gleichen Jahr als Folgeband in der Reihe. Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 7. Ebd. Greve war Pendler zwischen seinem Wohnort Stuttgart und der Arbeitsstätte in Marbach.

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Sich in Borchardts Text vertiefend, bemerkt Greve, dass er das dort eingehend beschriebene Landhaus, die von Lucca kaum eine Wegstunde entfernte »Villa dei tre Cancelli«, aus eigener Anschauung kennt. Während seines Aufenthalts am Zufluchtsort Lucca 1944 hatte er sich dort, vermittelt von seinem Gewährsmann, dem Priester Arturo Paoli, der ihn versteckt hielt, für zwei Tage als Gast der Familie Sardi aufgehalten, war bewirtet worden und hatte in den Mittagspausen die Bibliothek benutzen dürfen. Borchardts Beschreibungen des Hauses aus dem Jahre 1907 werden Greve daher zum Anlass, seine Erinnerungen von 1944 zu einer autobiographischen Skizze zu verdichten, die er möglicherweise sogar veröffentlichen wollte.23 Nicht um diese zehn Jahre später entstandene Prosa aber ist es hier zu tun, sondern um die Frage, ob nicht das beschriebene Erlebnis mit Borchardts Text damals unmittelbar auch eine Ursache für Greves Hinwendung zur horazischen Odenform und die Entstehung des Gedichts »Mein Vater« gewesen sein könnte. Ein Indiz dafür ist zunächst die Datierung. Greve beginnt seine Erinnerung mit folgender Frage: »Die Jahre verschwimmen so, wenn man nach einer gewissen Regel lebt. Wielange ist das her, dass wir uns in der Bibliothek an die große Revision machten, zehn, zwölf Jahre?«24 Wie lange also ist es her, dass er dabei auf Borchardts »Villa« stieß? Dass ihm das Datum nicht mehr klar vor Augen steht, könnte den hier behaupteten Zusammenhang sogleich in Frage stellen. Denn wenn »Mein Vater« eine so herausragende Stellung unter Greves Gedichten beanspruchen darf, wäre dann nicht ein Impuls durch Borchardts Text dem Autor deutlich im Gedächtnis geblieben und benannt worden? Der Zusammenhang ist also gewiss nicht als zwingend in dem Sinne zu denken, dass hier eines aus dem anderen logisch folgte. Wahrscheinlich ist vielmehr eine indirekte, zum Teil unwillkürliche Verbindung zwischen der Entdeckung in Borchardts Text und der Aneignung der Odenform. Dann hat die Datierung, auch in ihrer Unschärfe, deutlichen Gehalt. Vom Jahr 1974 aus zehn Jahre zurück zu gehen, bedeutet, im Jahr 1964, unmittelbar an der Schwelle zur Arbeit an »Mein Vater« anzukommen. Zwölf Jahre zurück zu gehen, ins Jahr 1962, ergibt zwar keinen unmittelbaren Bezug zur dokumentierten Entstehung der Ode, das Datum liegt aber auch in diesem Fall nach dem Erscheinen des ersten Gedichtbandes und also in jener Zeit, da Greve sich die Voraussetzungen eines neuen lyrischen Tons schuf. Bedenkt man die von ihm selbst betonte tiefe Bedeutung dieses Entwicklungsschritts, erscheint auch eine Latenz von drei Jahren als nicht allzu lang. Dokumentiert ist schließlich, dass im unmittelbaren Vorfeld der Arbeit an der Ode Greve Borchardts »Villa« wieder vorgenommen hat. Im Juli 1965, während der Vorbereitung seines Sommerurlaubs, schreibt er der Freundin Elisabeth Dinkelsbühler, neben Bemerkungen über Goethes »Campagne in 23 24

Vgl. den Kommentar zu Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 265. Ebd., S. 7.

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Frankreich« und Dantes »Paradiso«: »Sonst nehme ich Borchardt mit: Villa u. Pisa, u. verspreche mir leidenschaftliche Bewegung davon«.25 Im Dezember 1965 schreibt er dann schon an »Mein Vater«. Soviel zur Datierung der Borchardt-Lektüre; nun zu einigen Konnotationen, die Greves autobiographischen Bericht von der Entdeckung des »Villa«-Aufsatzes begleiten, um unsere Hypothese weiter zu erhärten. Greve erweist darin nur Borchardts Odendichtung alle Anerkennung, in dem er, wie schon gehört, die Sappho-Übersetzung vergleichsweise ausführlich zitiert, obwohl er ja eigentlich über die Begegnung mit einem Prosatext berichten will (und noch bevor er sich diesem überhaupt explizit zuwendet). Dann beginnt Greve in »Villa« zu lesen, unterbricht sich aber schon bald mit der Bemerkung, Borchardts Art anzufangen habe ihn »an was« erinnert: »Gegen dir über.«26 Die auffällige Wendung aus der Sappho-Übersetzung wird damit zur ersten Beschreibung des noch unklaren Verhältnisses zwischen Borchardts Text und ihm. Man könnte sagen, Greve ergreift den Odenton,27 um den ersten, noch fast unbewussten Moment dieser Begegnung zu beschreiben; sollte er ihn also nicht auch damals unwillkürlich aufgerufen haben, zumal er ja betont, dass ihm die Odenübersetzung schon bekannt war? Es könnte paradox erscheinen, dass ausgerechnet die Lektüre eines Prosatextes zwar zu diesem Entwicklungsschritt in der Lyrik geführt haben soll, zu einer ausführlichen eigenen Erinnerungsprosa aber erst ein Jahrzehnt später. Dennoch war es offenbar so. Greve nämlich distanziert sich explizit von Borchardts Prosastil, auch noch in der Rückschau. Seinen ersten Eindruck von Borchardts vergegenwärtigender Beschreibung der Villa notiert er so: »Ob man heute noch ›Torlaibungen‹ sagen kann? Ich verspürte Enttäuschung eher als Neid, dass mir zu so einer Beschreibung nicht nur das hochgestimmte Vokabular fehlte.«28 Die Qualität des Textes lag demnach für ihn nicht in Borchardts Schreibweise begründet. Jedoch ermöglicht Borchardt ihm im Weiterlesen die, zunächst noch distanzierte, dann fast unwillkürlich zugelassene Wiederbegegnung mit diesem einmaligen Ort seiner Geschichte, mit der Situation im Luccheser Exil, und darin liegt wohl das entscheidende Moment: Woher kam mir das bekannt vor? Unsinn. Das machte die Atmosphäre, in die alles getaucht war, das Zittern der Luft, Kühle hinter den Fensterläden. Ich suchte jetzt 25 26 27

28

An Elisabeth Dinkelsbühler am 23. Juli 1965; DLA Marbach, Bestand: A: Dünkelsbühler-Schaible. Den Hinweis auf diese Briefstelle verdanke ich Reinhard Tgahrt. Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 7. Der Unterschied zwischen der sapphischen Form, in der Borchardts Übersetzung steht, und der alkäischen, die Greve in »Mein Vater« verwendet, bleibt dabei außer Betracht. Greve selbst sprach in dieser Hinsicht unbestimmt von Oden. Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 8. Zu den »Torlaibungen« vgl. Rudolf Borchardt: Villa. In: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa III. Hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart: Klett 1960, S. 38-70, hier S. 65.

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schon, während er die Zimmer beschrieb, nach etwas Bestimmtem, das mich endgültig als Fremden auswies. Die geweißten Balken der rau kassettierten Decke ... War ich darunter nicht doch gestanden, und zwar allein, die Hausbewohner hielten Siesta? Immer das Gefühl des Peinlichen dabei. Borchardt hatte nichts erfunden, dieses Haus gab es, keine Stunde von der »turmstarrenden Stadt« entfernt. Lucca. Vielleicht mit dem Rad.29

Mit dem Rad also war der verfolgte Junge aus dem Versteck in der Stadt zu seinen Gastgebern aufs Land gefahren. Im Wiedererkennen, aus der einmal geweckten Erinnerung heraus nimmt Greve dann doch die Gemeinsamkeit der Erfahrung ernst. Borchardt hatte 1907 als Dreißigjähriger in der Villa des Grafen Sardi sich aufgehalten und das von seinen Zeitgenossen als Glanzstück eines Frühvollendeten angesehene »Villa« darüber verfasst. 1944 nun steht der zwanzigjährigen Greve, der im Luccheser Versteck gerade zu schreiben begonnen hatte, an gleicher Stelle. Der hochbegabte und der zu Tode gehetzte Jude treten so zueinander. Greves Schilderung lässt keinen Zweifel, was ihm das bedeutete. Zehn Jahre nach der Lektüreerfahrung beginnt aus dieser Schilderung heraus sein wahrscheinlich erster Versuch, in Prosa aufzuschreiben, was Lucca ihm war. Man möchte annehmen, dass ihm zehn Jahre zuvor, wenn auch nicht die Prosa, so doch das Erbe Borchardts in ähnlicher Weise aufgegangen und Anlass war, sich ihm »zu stellen«;30 als Lyriker, in Gedanken an die bewunderte Übersetzung der Agallis-Ode. So wird, dies sei hier die zentrale These, zu einer Auseinandersetzung im Lyrischen und zu einer neuen Schreibweise in Greves Gedichten, was als Lektüre Borchardts und daraus als Zufall, als Koinzidenz und gleichwohl unausweichliche Begegnung des eigentlich unliterarisch Aufgezogenen mit einer anderen poetischen Tradition jüdischen Schreibens in Deutschland, über Italien, einsetzt; mit einem echten »Erbe« also des nach und in Italien Davongekommenen. Die Bindung, von der Greve in der Freiburger Rede spricht, zeigt sich als lyrische Form, hat Grund in einer besonderen Art der Rede und des Sprachvertrauens, hat aber ihren Ausgangspunkt in der Verbindlichkeit einer von Borchardt literarisch niedergelegten und von Greve sozusagen fortgeschriebenen Erfahrung. Auch dass unter den antiken Formen gerade die horazische Ode für Greve der Prüfstein lyrischer Tradition geworden ist, kann aus Borchardts »Villa« gezogen worden sein. Der ganze Text ist zuletzt eine Reflexion auf die Bedeutung des Horaz für Borchardts Hauptanliegen:31 die Beschreibung und Vermittlung des Nordischen (Deutschen) mit dem Süden (der griechischlateinischen Antike), insbesondere ihrer jeweiligen Stellung zu Natur, Ge29 30 31

Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 8f. Zur »turmstarrenden Stadt« vgl. Borchardt, Villa (wie Anm. 28), S. 69. So die Formulierung in der Freiburger Rede; vgl. Greve, Warum schreibe ich anders? (wie Anm. 1), S. 110. Vgl. Borchardt, Villa (wie Anm. 28), v. a. S. 51f., 58, 70.

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schichte und Gesellschaft. Ganz deutlich wird dies am Schluss des Textes, der zugleich die beispielhafte Beschreibung der Villa Sardi abschließt: Es ist lateinisches Schicksal, sich nicht entfliehen können, lateinische Größe, sich nicht weiter entfliehen wollen als bis zu dem Punkte, wo die Villa steht. Der Herr des Sabinum [d.i. Horaz, H.G.] hat dies Schicksal und diesen Willen in Metaphern ausgesprochen, deren Unsterblichkeit es nicht einmal hat schaden können, daß man ihre Bewahrung rebellischen Schulknaben überläßt. Aber wer wissen will, wie die Villa und Italien zusammenhängen, muß sich schon selber dazu herablassen, den letzten Dänen aus der Hand zu legen und unbekannte Schriftsteller zu lesen, wie Horaz.32

Vor einer überscharfen Interpretation der Stelle auf Greve hin wird man sich hüten, ist doch nicht erkennbar, dass dieser die geschichtlich-philologischen Aspirationen Borchardts geteilt oder die Auseinandersetzung mit ihnen in ihrem Feld gesucht hätte. Borchardts Lob des Horaz aber übersteigt ja hier gerade die eigenen Ambitionen. Das Wesen der Villa sei dort, nicht hier ausgesprochen: Wer, nach diesem Essay, wirklich »wissen will«, worum es geht, muss schon den Horaz selber lesen. Dem schadet es auch nicht, in die Hände »rebellischer Schulknaben« zu fallen. An wen immer Borchardt polemisch gedacht haben mag (seine Texte sparen bekanntlich nicht an Seitenhieben auf die zeitgenössischen Altphilologen), der Zwanzigjährige, auf den Greve bei der Lektüre sich zurückverwiesen sieht, der mit fünfzehn Jahren die Schule hatte verlassen müssen und zum Horaz wohl niemals vorgedrungen war, sich selbst auch als literarischen Autodidakten kennzeichnet, wo immer er sich dazu äußert, durfte sich von dieser Bemerkung des Berufenen ermuntert fühlen, konnte im Schutz des Diktums spezifisch neugierig werden und darin weitergehen bis hin zu eigenen lyrischen Versuchen nach Art des gepriesenen »Herrn des Sabinum«.

III. Das Vatermotiv Darin lag also das Angebot zu einer »Bindung«, aber einer, die auch ein Aufbegehren erlaubte. Denn ohne Zweifel ist Greves erste Ode »Mein Vater« ein Text, der auch über Aufbegehren nachdenkt; für wie gegen einen, dem er nie hat sagen können: »ich bin dein Sohn.«33 Wahrscheinlich vom Anfang des Jahres 1964 stammt ein Briefentwurf Greves an HAP Grieshaber, wo es über den Vater heißt: »Wir verstanden uns nicht, oder jedenfalls nicht mit Wor-

32 33

Ebd., S. 69f. Ludwig Greve: Mein Vater, Z. 21. Zitiert nach Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 7.

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ten«.34 Im Gedicht dann: »Man hieß uns Fremde. Unsere Sprache war / ein Blick, ein Händetausch, und später / Auflehnung, bleiche Gewalt des Zorns.«35 Wie das Gedicht, das vom Zueinanderkommen spricht, so steht auch die von Greve 1974 nacherzählte Situation in Lucca, im Frühjahr und Sommer 1944, im Zeichen des Vaters, aber des bereits abwesenden: Die Sprachen, ich trank sie mehr als daß ich sie lernte, führten mich [...] zu Menschen, Freunden; fast alle älter als ich, denn ich suchte wohl Ersatz für meinen Vater, der weg war, weggenommen, ich durfte noch nicht einmal sagen: tot, meiner Mutter wegen nicht.36

Beim ersten Mittagessen in der Villa kommt es daher zu einer folgenreichen Umbesetzung: So ein mit Silber und feinem Porzellan gedeckter Tisch, die Servietten zu Pyramiden gefaltet, hätte mich eigentlich empören müssen. Wir wurden erbarmungslos gejagt, mein Vater, ja, doch diese Schüssel mit dampfenden Spaghetti, in der Kuhle die duftende Tomatensauce, war eine Einladung ... nicht nur zum Essen, der ich unterlag. Die Erinnerung an Tischmanieren, wie sie unsere hamburger Minna mir, mühsam genug, beigebracht hatte, tauchte aus tiefer Vergangenheit auf, um meine Gier etwas zu bemänteln, doch während ich die Spaghetti mit Hilfe eines Suppenlöffels um die Gabel schlang, spürte ich mehr als Hunger; fast Geborgenheit.37

Fast ist man versucht, ganz wörtlich zu lesen und in der Wendung »mein Vater, ja« die Ode selbst genannt zu sehen. Doch ist hier natürlich das Schicksal des Vaters elliptisch angesprochen, und gerade darin hat die Gastlichkeit der Villa ihre Bedeutung auch für das Schreiben, indem der Erbarmungslosigkeit und dem Schrecken ihre Geborgenheit an die Seite trat. Schreiben war für Greve noch über lange Zeit ein Substitut dieser Erfahrung: »Das Gedicht, an dem ich schrieb, war sowas wie mein Boden, mehr hatte ich nicht.«,38 Heimat eines Unbehausten, »nicht Dauer in Perioden gegliedert, sondern das Leben auf dem Sprung«.39 In der Geborgenheit der Villa hatte sich ihm aber auch das andere wieder eröffnet, die Sicherheit traditioneller Verhältnisse, der gestillte Hunger, erinnernd verbunden mit der eigenen Kindheit in Berlin: die Minna und eben, auch auf diese Weise, der Vater, der »Herr«.40 Über das Motiv des Herrn, ohne den es, Borchardt zufolge, keine Villa gäbe,41 könnte man die spannungsvolle Grundlage der ersten Ode Greves neu 34 35 36 37 38 39 40 41

Nochmals Dank an Reinhard Tgahrt für den Hinweis auch auf diese Stelle aus dem Nachlass Greves (DLA Marbach, Bestand: A: Greve). Greve, Mein Vater (wie Anm. 33), Z. 22-24. Greve, Ein Besuch in der Villa Sardi (wie Anm. 18), S. 9. Ebd., S. 15f. Greve, Warum schreibe ich anders? (wie Anm. 1), S. 109. Ebd., S. 107. Vgl. Greve, Mein Vater (wie Anm. 33), Z. 9. Vgl. Borchardt, Villa (wie Anm. 28), S. 58.

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rekonstruieren. Auch so führt die Spur von Borchardt, der das Prinzip beim Namen nennt, über Graf Sardi, der es als Herr der Villa verkörpert, zum Vater, der »weggenommen« wurde und dessen Andenken das Gedicht bewahrt. Doch genügt es hier, Greve selbst noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Reinhard Tgahrt hat mit der kritischen Edition der Gedichte auch ausgewählte Zeugnisse aus der Entstehungszeit der ersten Ode zugänglich gemacht. Vom Juni 1965 datiert eine Briefäußerung gegen Werner Weber, in der Greve der Erzählung vom Verlust des Vaters und der Schwester einen anderen Rahmen gibt als in der bekannten und ergreifenden Stelle der Freiburger Rede. Ist dort die Abschiedsszene auf der Straße festgehalten, spricht er im Brief vom Empfang der Nachricht, dass sie verloren sind. Dabei spielt das Haus, die Loggia, von der als geschichtlicher Bauform Borchardt auch eingehend handelt,42 eine Rolle. Man geht dort auf und ab: Der Pfarrer von Borgo San Dalmazzo empfing mich am Morgen, nachdem sie verschleppt worden waren. Ich kam zu spät. Er war ein großer knorriger Mann, der niemanden fürchtete; ich neunzehn Jahre alt. Wir traten auf die kleine, von trockenem Weingeäst bewachsene Loggia seines Hauses. Es war Februar, doch ich spürte keine Kälte. Wir gingen mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Loggia auf und ab, wieder auf und ab. Ich weiß die Worte nicht mehr, aber ich höre seine Stimme; er tröstete nicht, er sagte die Wahrheit. In der schnellen Bewegung flößte er mir den Schmerz ein, der meine noch weiche Schale zu sprengen drohte. / Ich habe das nie aufgeschrieben, aber es steht hinter allem, was ich schreibe.43

Die Motive der späteren Erzählung von der Villa Sardi, die nach meiner Überzeugung den Schlüssel für den Anlass der ersten Ode enthält, sind hier bereits versammelt, nur in anderer Beleuchtung, auf den Schmerz zulaufend, der künftig hinter allem stehen wird: der Priester (in der späteren Erzählung Arturo Paoli), der Empfang im Haus (später der Villa), der furchtlose Hausherr (später der signorale Graf Sardi), die Nachricht vom Verlust des Vaters. Die Erzählung von 1974 kehrt, vom Verlust ausgehend, die Reihenfolge wieder um und läuft so auf Geborgenheit zu: Graf Sardi, vom Priester Arturo vermittelt, empfängt den jungen Greve noch im Garten, führt ihn durch das Haus in die Bibliothek, schließlich zum Essen, wo die Gastlichkeit der Villa der schieren Empörung des Verfolgten und Heimatlosen zur Alternative wird. Ob Geborgenheit ihm wirklich zustehe, war Greve lange zweifelhaft. Auf Dauer annehmbar ist sie ihm erst in den so spannungsvollen horazischen Formen der Ode geworden. Ein halbes Jahr nach dem ersten Brief, am 26. Dezember 1965, teilt er Werner Weber mit, dass er an einem Gedicht auf seinen Vater arbeite: »Der Klang, das große Ausschwingen der Ode zog mich an,

42 43

Ebd., S. 63, 65, 67f. Brief an Werner Weber, 17. Juni 1965; zitiert nach dem Kommentar zu Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 153f.

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obwohl ich lange zweifelte, ob er mir erlaubt sei. Inzwischen bin ich darin geborgen u. glaube, dass ich dem Schmerz Atem geben kann.«44 Nachzutragen bleibt:45 Das sollte nicht das letzte Wort gewesen sein, auch wenn noch die Freiburger Rede sich zu dieser Poetologie in ihren Grundzügen bekennt. Der Schmerz und was immer mit ihm zum Ausdruck drängte, bricht in anderen Gedichten, vielleicht auch beim Tod der Mutter 1974, wieder auf. Das spätere Gedicht »Die Sterbende« (von 1981) spricht davon:46 Vertrauen geht in diesen Jahren, da ist das Odenwerk schon fast abgeschlossen,47 wieder verloren. Die Geborgenheit in der Form der Ode blieb offen, blieb anfällig auch für die anderen, die ungeschützten (»nackten«) Erfahrungen. Das freirhythmische Gedicht »Playback« (1981) zieht diese Bilanz.48 Danach kommt alles auf ein neues Blatt: Greves nachgelassenes autobiographisches Fragment »Geschichte einer Jugend«, das ihn von 1985 bis zu seinem Tode fast ausschließlich beschäftigte und einer anderen poetischen Begründung bedurfte.

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48

Zit. nach dem Kommentar zu Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 154. Mit dem Hinweis auf: Holger Gehle: Bemerkungen zu Ludwig Greves autobiographischer Prosa. Der Aufsatz ist im Erscheinen. Vgl. Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 56. Die letzten Oden sind: »Hannah Arendt« (1977, explizit poetologisch); »Marbach, am Bahndamm« (1982, Dorothea Kuhn gewidmet); vgl. Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 57f. Zum Motiv der Nacktheit vgl. dessen Schluss in Greve, Die Gedichte (wie Anm. 1), S. 55.

Hauke Stroszeck

Eddi Amsel, Walter Matern und ihrer beider Abkunft Glossen zum Doppel-Roman Hundejahre von Günter Grass

Die Art und Weise, wie in der ›Danziger Trilogie‹ Personen jüdischer Abstammung entworfen sind, ist zwiespältig aufgenommen worden. Auf der einen Seite tragen Urteile über den Spielzeughändler Sigismund Markus und den aus Ostpolen vertriebenen Mariusz Fajngold (Die Blechtrommel) erzählerischen Besonderheiten Rechnung und lassen Empathie erkennen. Andererseits trifft man auf schroffe, polemische Abweisung – so auch im Fall von Hundejahre. Es wurde behauptet, dort sei die »Judendarstellung [...] nicht nur problematisch, sondern geradezu gefährlich«, denn »dem ›Leser‹ [würden] antisemitische Feindbilder nicht verleidet, sondern auf ergötzliche Weise in Neuauflage vor Augen geführt«; Grass bediene sich »tradierter Klischees«, ja er potenziere deren »Wirkungskraft« noch durch die »Konstruktion einer jüdischen Perspektivfigur« – gemeint ist Eduard Heinrich Amsel, Sohn des zugewanderten jüdischen Händlers Albrecht Amsel und seiner Ehefrau Lottchen, geborene Tiede, Tochter eines Bauern aus dem Dorf Groß-Zünder im Danziger Werder; es seien »antisemitische[] Reaktionen«, denen diese Perspektivfigur »Vorschub leistet«.1 Man könnte dieses Urteil, das »dem ›Leser‹«, d. h. dem vom Autor einheitlich vorausgesetzten, »fingierte[n] Rezipienten«,2 einen Hang zum Antisemitismus zudiktiert, mit Stillschweigen übergehen, wäre inzwischen nicht ein ebenso schlimmes hinzugekommen. In einer weit verbreiteten Untersuchung darüber, »wie die Nachfolgegenerationen der Täter versuchen – oder nicht versuchen –, literarisch [meine kursivierte Hinzufügung; H. S.] mit einer Vergangenheit fertig zu werden, für die das Vermächtnis des Holocaust bestimmend ist«, ergeht der Bescheid, bei all seiner »verbale[n] Bravour und unerschöpfliche[n] Einbildungskraft« habe sich Grass »einer vom Holocaust unberührten Ästhetik« anbequemt und zeige »in seinem kreativen Schreiben [...] ein tief verwurzeltes Nicht-Nachempfinden jenen gegenüber, die litten und starben«.3 1

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Heidy M. Müller: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa (19451981). Königstein/Ts.: Forum Academicum 1984 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft; 58), S. 158. Ebd., S. 11. Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001, S. 18 und S. 95 [Titel der engl. Originalausgabe:

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So viel zur Problemlage, die sich aus den kontroversen Urteilen abzeichnet; Julian Preece hat von ihr Bericht erstattet und seinen Beitrag folgendermaßen beschlossen: »What is needed in critical writing about Günter Grass is consideration of his sources (Freytag for Hundejahre [...]) and a preparedness to view his fictional Jewish characters in the narrative context of the novels as a whole, where they are each time components in a much larger scheme«.4 Dieses Plädoyer bildet den Ausgangspunkt für nachstehende Bemerkungen.

I. Brauxel alias Eddi Amsel, als Leiter einer Fabrik ein »nüchterner Mann der freien Marktwirtschaft«,5 steht andrerseits einem »Autorenkollektiv« (S. 272) vor, dessen Aufgabe es ist, eine »Festschrift« (S. 170) zu erstellen. Diese hat genrebedingt die Vorgeschichte des florierenden und bald zehnjährigen Unternehmens einzubeziehen, also Biographisches, Familiengeschichtliches und die von der Herkunftsregion empfangenen Prägungen. Der Vater des Firmenleiters, Albrecht Amsel, entstammte einer »alteingesessenen jüdischen Schneiderfamilie aus Preußisch-Stargard« (S. 174). Während und nach seinem stationenreichen Zuzug nach Schiewenhorst an der Weichsel hatte er sich »vierzehn Jahre lang mit dem Vergessen seiner Herkunft und [...] genau so erfolgreich mit dem Zusammentragen eines gutevangelischen Vermögens beschäftigt« (S. 174f.). Es gab nichts, was noch etwas von seiner Abkunft verraten hätte. Mithin konnte er als Jude nicht gelten, und ging sporadisch die Rede vom »Jud Amsel« (S. 168), so war das nicht schon auf Abstammungsverhältnisse zu beziehen, sondern fasste den Umstand, dass Amsel ein reicher Händler und gefragter Kreditgeber war. Deshalb kann Brauxel ohne weiteres konstatieren: »Natürlich war Amsel kein Jude« (S. 174). Auf Grund dessen aber, was ihm die sterbende Mutter erst spät – im ›Reich‹ hatten die ›Nürnberger Gesetze‹ Geltung erlangt – und wie eine Verfehlung gestanden hatte: »Dä Amsel, dem de nech kennst, waas abä laibhaftich dain Vadder waar jewesen, daas warren Beschnittner, wie man so secht. Wennse dir nur nech mechten äwischen [...]« (S. 176), kann Brauxel »mit gleichem Recht [...] überzeugen wollen: Natürlich war Albrecht Amsel ein Jude« (S. 174), d. h.

4

5

The Language of Silence. West German Literature and the Holocaust. New York, London: Routledge 1999]. Julian Preece: Günter Grass, his Jews and their Critics: from Klüger and Gilman to Sebald and Prawer. In: Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Ed. by Pól O’Dochartaigh. Amsterdam, Atlanta/GA: Rodopi 2000 (German Monitor; 53), S. 609-624; hier S. 621. Günter Grass: Katz und Maus; Hundejahre. Hg. von Volker Neuhaus. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1987 (ders.: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. von Volker Neuhaus. Bd. III), S. 166. Nach diesem Band wird im Folgenden belegt mit Seitenangaben in runden Klammern.

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darlegen, was ihm Nachforschungen eingetragen haben. Die Sache also bleibt – zwischen genealogischem Befund und dem aus sozialen Merkmalen abgeleiteten Urteil – zunächst in der Schwebe. Als jedoch der Berichterstatter zurückkommt auf das, wofür Albrecht Amsel, der Turner, Sänger und evangelische Kirchgänger, in der Region hatte gelten können, stellt er fest: »Albrecht Amsel war ›natürlich‹ kein Jude« (S. 177). Im Kontrast zur Beiläufigkeit des hier wieder aufgenommenen, ersterwähnten Befundes steht es, dass dieses ›natürlich‹ jetzt hervorgehoben ist. Das muss den Blick aufs Grundsätzliche und Kategoriale lenken. Man hat sich ja zu fragen, was diese Partikel jetzt leistet: Hat sie modale Funktion im Sinn der öffentlichen und als solcher bekräftigten Meinung, bei Albrecht Amsel habe es sich nicht um einen Juden gehandelt? Oder hätte man sie dahingehend zu verstehen: Von Natur aus, nämlich im Hinblick auf sein kreatürliches Dasein, könnte Amsel ebenso wenig als Jude gelten, wie man als Katholik oder als Schwede auf die Welt kommen kann, denn »ethnic or religious identity is constructed artificially«?6 Haarspalterisch ist diese Frage deshalb nicht, weil der Erzähler – er rühmt sich, der »beweglichste Held« (S. 170) unter den die »Festschrift« belebenden Personen zu sein – anfangs von sich preisgibt, er handle unter dem Diktat seines »Spieltrieb[s]« und gleichermaßen seiner »Pedanterie« (S. 144). Damit dürfte es sich von selbst verstehen, dass er das, was früh in ihm angelegt ist, nämlich »auf seine Art [zu lesen]« (S. 176), auch bei seinen Lesern voraussetzt, und zwar insbesondere dort, wo er von ›Natur‹ spricht, von Ursprünglichem und Wesenhaftem. Auf seine Art – so liest Brauxel-Amsel im Muster- und Programmbuch, nach dem sich der Vater eingerichtet hatte im ›Ariertum‹, nämlich in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter. Zumal die von des Vaters Hand stammenden Anstreichungen und Marginalien erlauben es ihm, sich ein Bild zu machen von der Assimilationsleistung, die der »laibhaftich[e]« Erzeuger an sich erbrachte. Sie folgte vorbehaltlos dem, was »dem echten Juden in aller Ewigkeit unzugänglich« bleibe, aber doch erst den Weg zum wesenhaft männlichen, »unmittelbare[n] Sein« eröffne, nämlich »das Gottesgnadentum, der Eichbaum, die Trompete, das Siegfriedmotiv, die Schöpfung seiner selbst, das Wort: ›Ich bin‹« (S. 346). Vater Amsel hat mit seinem Leben bezeugt, was der Prophet des ›erlösenden‹ (vgl. S. 345) Ariertums verhieß. Sohn Eddi aber ist mit den Lektionen vom »unmittelbare[n] Sein«, die vom Vater Albrecht auf ihn gekommen sind, auf seine Weise zugange. Das demonstriert er einer imaginären Gesellschaft »mit Pastorenpathos« (S. 363). So beredt er zunächst davon kündet, was ›dem Juden‹ im Gegensatz zum ›Arier‹ den Weg zum Eigentlichen versperre: unversehens desavouiert er die angenommene Rolle des Ideologen, indem er seinem vitalen Spiel- und Bildnertrieb freien Lauf lässt. Weiningers »Standardwerk« (S. 363) ist ihm Inzitament seines Wahrnehmungs- und Gestaltungsvermögens, und als solches unentbehrlich. 6

Preece, Günter Grass (wie Anm. 4), S. 621.

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Bevor er sich noch mit dem geistigen Vermächtnis des vor seiner Geburt bei Verdun gefallenen Vaters befassen konnte, hatte er sich bereits einen erwählt, dessen Wort für ihn auf ganz andere Weise Verbindlichkeit erlangte. Der Fährmann Kriwe war Protektor von Eddis ersten Verkaufsverhandlungen, war kundiger Ratgeber, und das nicht zuletzt in Hinblick auf Eddis bildnerische Unternehmungen. Mit ihm wusste sich Eddi einig in der Maxime, dass »die Modelle [zum Bau der Vogelscheuchen] mit Vorzug der Natur« (S. 190) zu entnehmen seien. Vor allem aber gab Kriwe, der alles in sein Bordbuch einzutragen gewohnt war, Eddi Amsel das Vorbild dafür, ein Diarium anzulegen. Eben dieses bildet das realistische, d. h. von geordneten Erfahrungsgehalten besetzte Gegenstück zu Weiningers »Standardwerk«. Es legt Zeugnis ab von Amsels früh sich herausbildender Autarkie in künstlerischen, aber auch ökonomischen Dingen. Und deshalb kann es dann den buchführenden MitChronisten als beispielhaft, ja als »heilig« (S. 190) anempfohlen werden. Brauxel-Amsel erzählt von seinen Eltern, aber er erzählt auch von einer ›künstlichen Familie‹, in der er aufwuchs. Als deren prononciert männlicher Repräsentant hat, den leiblichen Vater überbietend, das Weininger-Buch zu gelten, das »dem Federführenden«, Brauxel, dann noch so »manchen Einfall [propfen]« (S. 176) soll; der väterliche Kriwe hingegen leistet Beistand in praktischen Dingen. Walter Matern als Freund schützt Amsel wie einen schwächeren Bruder vor tätlichen Übergriffen und wird ihm zum Blutsbruder. Den femininen Part in dieser ›künstlichen Familie‹ besetzt nicht eine Person, sondern ein Tier: Die Hündin Senta ist es, die immer »zwischen ihm [d. h. Eddi] und Walter Matern hin und her [streicht]« (S. 209) – eine den beiden aufmerksam zugewandte, unentbehrliche, in beider Natur- und Landschaftserleben eingebundene Begleiterin. Und wenn die leibliche Mutter »pietätvoll« (S. 198) davon ausgenommen ist, einer von Amsels Vogelscheuchen als Modell zu dienen, macht Senta die entsprechende Ausnahme: Amsel »hat nie nach dem Bild eines Hundes, auch nach Senta nicht, [...] eine Vogelscheuche entworfen« (S. 209). Zu Senta hat er diskret eine starke Gefühlsbindung entwickelt, die von der Seite der Männer bedroht ist. Nachdem man Senta gekränkt, d. h. ihrer sechs Welpen beraubt hat, ist es um alle Traulichkeit geschehen: Senta reißt »wolfsmäßig ein Schaf«, fällt einen »Vertreter der Feuer-Sozietät« (S. 223) an und muss, weil »nervös« (S. 215) geworden, erschossen werden. Es erscheint wie der Akt eines nachgeholten, sympathetischen Zubekenntnisses zu diesem Tier, dass Eddi, und zwar charakteristischerweise im Beisein Materns, später dann sechs Nachmittage lang hingebungsvoll Harras zeichnet, Sohn Sentas und ebenso schwarz wie die Mutter. Mit diesem von ihm kühn in »Pluto« umbenannten Tier befindet er sich in wundersamem Einverständnis: »Vom ersten Tag an hörte unser Harras auf Eddi Amsels leisesten Zuruf« (S. 386). Als Sujet des zeichnenden Amsel verliert Harras-Pluto zusehends an Eigenschaften, die ein Rasse- und Gebrauchshund zu bewähren hat, und zumal an jener Glorie, die ihm, dem Vater von des ›Führers‹ Lieblingsschäferhund

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Prinz, öffentlich zugewachsen ist: »Dieser Amsel verdarb unseren Hund« (S. 338). Aus dem passionierten Zeichnen Amsels spricht Solidarität mit der freilich in ihrem Kettendasein bereits verdorbenen Kreatur, ja der Versuch, ihr die Würde eines natürlichen Gefährten zurückzuerstatten – entgegen allem, was eine von Männern dominierte Sphäre ihr an Zuchtregeln verordnet und an zeitgeschichtlichem Prestige beimisst. Man wird jedoch noch weitergehen und behaupten dürfen, dass Eddi mit diesem Hund auch etwas von sich selbst abbildet. Sein vertrauter Umgang mit der ihm ergebenen Kreatur hat eine Gegensatzentsprechung, nämlich die ironisch simulierte Ignoranz und lässige Abwehr, mit der Eddi alles beantwortet, was die Zeitläufte einer dem Führerkult verfallenden Zeitgenossenschaft ratsam erscheinen lassen. Mit eben dieser Ignoranz aber verrät er sich gegenüber Tullas argwöhnischem Vater als ein nicht zugehöriges, ›minderes‹ Wesen. Seine Vertreibung vom Hof des Tischlermeisters Liebenau steht denn auch in ursächlichem Zusammenhang mit seiner Ächtung: »Ein Itzich sind Sie. Ein Itzich. [...] Oder sind Sie etwa kein Itzich und zeichnen hier unsern Hund, wenn Sie kein Itzich sind« (S. 341). Wie der Fall beweist, mündet die an sich stupende Vertrautheit mit der Kreatur in einen Skandal, denn sie muss auf Schwächung vorschriftlicher Rasse-Eigenschaften hinauslaufen und die Besitzer kompromittieren.

II. Die Art, wie Brauxel-Amsel von seinen Eltern berichtet, ist geprägt von Désinvolture; anders lässt sich sein wegwerfendes »[B]eliebig ist alle Herkunft« (S. l74) nicht verstehen. Aus dem, was er von seinem Freund erzählt, geht umgekehrt hervor, dass dieser sich viel zugute tut auf seine Abkunft. Spross einer sogenannten Mischehe7 – der katholische Müller Anton Matern hatte die evangelische Ernestine Stange geheiratet – und demzufolge katholisch getauft, zehrt Walter Matern vom Nimbus des mittelalterlichen Räubers und Brenners Simon Materna. Dessen Eigenschaften haben sich bei ihm auf der Schwundstufe erhalten, als Hang zu theatralischem Agieren sowie im lauten Zähneknirschen, mit dem er widrige Erfahrungen beantwortet. Darin kommt zweifellos einige Energie zum Ausdruck, die sich gegen den missgestalteten und sanftmütigen Vater richtet; Walter Matern gerät nach der unverwüstlich grimmigen Großmutter, einer »echte[n] Matern« (S. 166), die ihm auch die Veranlagung zur Gewalttätigkeit übermacht hat. Pietät, wie man sie 7

Der Begriff wurde bis zur Mitte der 30er Jahre auf Ehen von konfessionsverschiedenen Partnern angewendet. Nach nationalsozialistischer Sprachlenkung war er dann ausschließlich ›Ehen zwischen Ariern und Nichtariern‹ vorbehalten. Eddi Amsel wäre demzufolge im ›Reich‹ als ›Mischling‹ bedroht gewesen, hätte er sich nicht zuvor eine andere Identität zugelegt.

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den Altvordern schuldet, übt Walter etwa darin, dass er den Totenschädel vor Unbill bewahrt, die ihm von Seiten Amsels droht – könnte es sich bei diesem Schädel ja um den Überrest eines Materna handeln, »wo unsre Famielche härkämmt« (S. 234). Walter bleibt befangen in einer nur eben von Namensgleichheit gestützten, von Größenbedürfnis erregten Spekulation. Eine nicht weniger fragwürdige Spekulation nimmt ihren Ausgang von Walters Geburtsort, der Nickelswalder Mühle. Der Mahlknecht Pawel hatte aus dem Litauischen den jungen Schäferhund Perkun mitgebracht »und zeigte auf Verlangen eine Art Stammbaum vor, dem jedermann entnehmen konnte, daß Perkuns Großmutter väterlicherseits eine litauische, russische oder polnische Wölfin gewesen war« (S. 159). Die Abstammungsgeschichte der Schäferhunde, vorgestellt im hohen Ton der biblischen Geschlechtsregister und immer neu memoriert: diese Geschichte von Perkun und Senta über Harras und Thekla bis hin zu Prinz, der dann »Geschichte« (S. 159) machen soll, konterkariert demnach Herkunftsangaben, die zu den Personen ergehen. Das »Zuchtbuch« (S. 289) verbürgt die Weitergabe ›reiner‹ Artmerkmale und garantiert Abstammung, mag diese sich auch im Dunkel der Geschichte verlieren. Mit Walter Materns Abkunftsgewissheit steht in genauem Zusammenhang, dass dieser Purist immer auf das Reine und Essentielle aus ist. Obschon von Mal zu Mal nur »Exkremente« (S. 586) findend, sucht er immerzu das Absolute. Diese Schrulle ist Amsel vertraut; so schenkt er Matern »aus Jux« (S. 621) Martin Heideggers Sein und Zeit – ein Wink, der aber beim Wesenssucher Matern nicht ankommt. Denn Matern nimmt, anders als Eddi das »Standardwerk«, dieses Buch als Leitfaden für einen Ursprungskult, der ihn ausbrechen lässt in einen hybriden Jargon und ihn zeitweilig imprägniert gegen alles, was sich notwendigerweise ›unrein‹ zuträgt. Als Widersacher einer solchen Wirklichkeitsflucht fungiert, wie gerade am Ausgang der ›Liebesbriefe‹ zu zeigen wäre, das sein Dasein behauptende und Liebe einfordernde Tier: »Der Hund steht zentral« (S. 578), und er steht mitteninne zwischen Amsel und Matern.8 Als irritierendes Doppelwesen von sowohl wilder Animalität als auch verhäuslichender Zurichtung gibt er Auskunft über beider Beziehung. Vornehmlich ist dieser Hund, »Titelfigur und Titelsymbol« (Elfriede Stutz), in Richtung auf das immer wieder durchbrechende, latente Böse interpretiert worden, d. h. als Sinnbild des entstehenden, sich verbreitenden und dann in der westdeutschen Nachkriegswirklichkeit fortlebenden Faschismus. Dem ist entgegenzuhalten, dass sowohl an Senta wie auch an Prinz-Pluto die Zwienatur imponiert. Sie ist nicht einsinnig auflösbar. Die Hunde sind einerseits Statthalter der »unsterbliche[n] Kreatur« (S. 796), zum andern Bedeutungsträger, denen sich Her8

Es ließe sich leicht zeigen, dass dieses apodiktische und in Variationen wiederkehrende »Der Hund steht zentral« den ›Homo-mensura-Satz‹ beantwortet, und zwar in Verschiebung von dessen Aussage auf die ›mindere‹ Kreatur. Vgl. etwa: »Er, der immer zentral stand, die Phänotype, das Stehaufmännchen [...] meint, er stehe immer noch zentral« (S. 740).

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kunftsgeschichte, züchterische Prätentionen und Eigentümerprädikate anlagern. Damit aber reflektieren sie den sowohl kulturativ-idealen wie auch den vital-affektiven Status derer, die mit ihnen zu tun haben. Und deshalb können Hunde in Ersatzstellung für Menschen eintreten. Nirgends wird das klarer als in des leidverwirrten Lorchens Angewiesenheit auf Senta oder darin, dass Tulla, gebrochen vom Verlust ihres geliebten Bruders Konrad, eine Woche lang auf Hundeart mit Harras zusammen haust: Er substituiert ihr den Bruder, und sie verwildert zeitweilig – ihm zuliebe. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass eben diese Zwienatur, für die der Hund steht, umgekehrt das Verhalten kennzeichnet, das Matern gegenüber dem Hund Pluto an den Tag legt. Matern will Pluto mit einem Knüppel von sich abtun, zeigt sich aber andrerseits affiziert von der Liebe, mit der die Kreatur ihm anhängt. Als er mit Pluto die Essensration teilt, schlägt er unvermittelt auf ihn ein, wie wenn es einen artgleichen Fressfeind abzuhalten gälte – um aber dann den treuen Gefährten zu pflegen (vgl. S. 585). Allerdings ist dieser Hund nicht allein »treuwienhund« (S. 591); ein fabelhaft kognitives Vermögen macht ihn zum Sonderfall im Tierreich. Er stellt es unter Beweis, als er auf dem Plakat das Bild, den Blick seines vormaligen Herrn wahrnimmt und freudig »kujienend[]« mit einer »Arie« (S. 590) reagiert. Matern gibt klein bei in Anbetracht des wehrhaft zu seiner Geschichte stehenden Tieres: »Is ja gut Pluto. [...] Wolln wir [...] wieder lieb sein miteinander? Brav Pluto brav« (S. 591). Man legt sich einträchtig zur Ruhe, Herr und Hund, jeder Gefährte und Spiegelung des anderen, jeder dieselbe von unbändigen Affekten als auch von Höflichkeit bestimmte Kreatur: »Jeder atmet für sich. Der liebe Gott schaut zu« (S. 591). Der Hund hat den Respekt gefunden, den er nach seiner Doppelnatur beanspruchen darf; der Herr aber hat die Grenze übertreten, jenseits derer er sich nicht mehr als Herr betrachten kann. Dasselbe ambivalente Verhalten, das Matern in Bezug auf das Tier zeigt, charakterisiert auch sein Verhalten gegenüber Eddi Amsel. Verstößt dieser gegen die gebotene Ehrfurcht vor der Familie, d. h. vor der von Matern beanspruchten, imaginären ›Meute‹, dann wird er geschlagen und beschimpft – ein »Itzich«, der es mit einem Nachfahren des Simon Materna an Herkunftsreinheit und Lauterkeit des Empfindens nicht aufnehmen kann, dafür aber mit unausstehlichem Zynismus9 seine Andersartigkeit beweist. Dann wiederum sieht sich Matern bezwungen von der Anhänglichkeit des Freundes; ihr konnte selbst die mörderische Attacke nichts anhaben. Überwältigung von einer Liebe, die jenseits alles Begreifbaren existiert, schlägt um in die empörte Frage, wie man »in seine Mörder verliebt sein« (S. 797) könne. Matern, der immer wieder angewandelt wird von der Versuchung, Pluto zu meucheln, könnte dieselbe Frage der liebevoll ihm zugetanen Kreatur stellen. 9

Dass man diesen unausstehlichen Zyniker (vgl. S. 432 und S. 797) abzubilden hat auf den zeitweilig zur Last fallenden Hund, dafür sorgt auch ein etymologisierender Wink: »Weiche Kyon« (S. 583 und S. 773; vgl. das »Apage Satana«, Mt 4:10) nimmt Bezug auf die ›Kynoi‹ als Namengeber der kynischen Philosophen.

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Aus der vielfältig artikulierten Vertauschbarkeit, in der Mensch und Kreatur zueinander stehen, lassen sich Argumente genug beziehen für die These, man habe den Hund Pluto, der Matern auf seinen Rachefeldzügen durch Westdeutschland begleitet, in erster Linie als Figuranten Amsel-Brauxels aufzufassen, nämlich als Statthalter einer zwar zur Kreatur hin abgeleiteten, in Wirklichkeit aber Eddi bewahrten Liebe. Die vielen satirisch-plakativ verzeichneten sexuellen Abenteuer der ›Materniaden‹ verschlagen nichts an der Beobachtung, dass Pluto das Wesen ist, an das Matern wechselhafte, aber tiefe und beständige Affekte binden. In Form von Tierliebe und Gefährtenschaft erhält sich am Leben, was von früh an Amsel gegolten hat und nun einhergeht mit dem Bewusstsein von Verrat, Mord und Schuld. Matern hat sich um den erratischen Pluto gekümmert, er hat sich sogar darauf eingestellt, ihm das Gnadenbrot zu gewähren. Doch wie er ehedem Amsel verraten hat an die SA-Horde, so verrät er erneut die selbstauferlegte Verpflichtung, die Kreatur zu schützen. Als der bekennende »Antifaschist« (S. 762) im Begriff ist, ins Reich des ›reinen‹ Sozialismus überzuwechseln, entledigt er sich des Hundes bei der Bahnhofsmission. Pluto aber hat ihn dann eingeholt: märchenhaft verjüngt und ebenso verwandelt, wie Amsel einst aus der Mordaktion hervorzugehen vermochte. Von beiden, dem freudig erregten Hund – »Liebst Du mich nicht mehr?« (S. 774) – und Amsel-Brauxel wird Matern am Bahnhof Zoo abgefangen. Die anzügliche Frage des »ehrliche[n] Finder[s]«, der sich »beglückt« zeigt von der Wiederbegegnung, lautet: »Sie gestatten, ist das Ihr Hund?« (S. 775). Die zuletzt immer wieder akzentuierte Frage nach der Zugehörigkeit und dem »eigentlich[en]« (S. 834) Besitzer bleibt auf anderer Ebene zu stellen. Ist diese wandelbare, fabelhafte und mit einer prophetischen Witterung begabte Kreatur überhaupt zu besitzen – auch in dem Sinne, dass sie einer Deutung gefügig zu machen wäre? Wenigstens wird man sagen dürfen, dass dieses »herumlaufende[] Stück Vergangenheit« (S. 706), das unter dem Namen Pluto seine Rolle spielt in allen drei Teilen des Romans und schließlich an die Kette gelegt wird, eine skandalisierende Liebe verkörpert, die das Geheimnis von Eddi Amsel und Walter Matern ausmacht. In ihr erhält sich die Erinnerung an eine Heimat- und Ursprungsregion, der jedoch das Stigma der Trennung eingetragen ist. An diesem Punkt sei dem Thema Abkunft eine andere Wendung gegeben.

III. Hans Mayer hat, und zwar vornehmlich mit Blick auf Veitel Itzig vs. Anton Wohlfart (Gustav Freytag, Soll und Haben) sowie Hans Irrwisch vs. Moses Freudenstein (Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor) das »Schema der parallelen Lebensläufe« als »durchaus deutsch-typische Konstellation« bezeichnet, aus

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der heraus die »Antithese eines deutsch-›arischen‹ und jüdischen Daseins«10 episch verhandelt, d. h. einem Votum zugeführt werde. Wie es jeweils ausfällt, darüber scheint, wenigstens bei kursorischer und uninformierter Lektüre, weder der Tod des Veitel Itzig noch der ›bürgerliche Tod‹ des Dr. Theophile Stein alias Moses Freudenstein irgend Zweifel zu lassen.11 Dieses Schema tritt auch aus dem Hundejahre-Epos hervor. Von nur geringem Interesse wäre es festzustellen, dass dem Ausgang dieses Romans, und zwar in Hinblick auf besagte »Antithese«, ein nun gewissermaßen gegenwendiges Kommuniqué abzulesen sei – so sehr es auch naheliegt, im Halbjuden Amsel alias Brauxel zuletzt den Aufklärer und überlegenen Demonstrator zu sehen, im ›Arier‹ Matern hingegen den weltanschaulich und moralisch Gescheiterten, also den Belehrungsbedürftigen, dem erst das Kunsterleben untertage zur Einsicht und Läuterung verhilft. Soll und Haben findet zwar Erwähnung in Hundejahre, jedoch nur als Beleg für das schmähende Appellativ »Itzig«; darüber hinaus gibt es dort nichts, was zur Erwartung berechtigte, Freytags Roman sei mit demjenigen von Grass verständnisfördernd in Beziehung zu setzen. Anders freilich, wenn man zurückgreift auf Jean Pauls Flegeljahre. Dort begegnen stoffliche, kompositorische und motivische Entsprechungen in Fülle.12 Bevor die wichtigsten zu erläutern sind, sei wiederholt: Was mit Abstammung zu tun hat, bleibt für Brauxel-Amsel nichtsbedeutend. Größten Wert aber legt er auf die Aufbereitung der Geschichte vom Heranwachsen zusammen mit Matern in der Danziger Niederung und von ihrer beider Auseinanderstreben. Dabei weiß er sich geleitet vom (keineswegs nur sarkastisch gemein10 11

12

Hans Mayer: Aussenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 385. Der letzte der hier wiedergegebenen Wortlaute ist im Original durch Kursivierung hervorgehoben. Hierzu vgl. Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hg. von Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985 (dtv; 10513), S. 140-170; dort auch die Nachweise der wichtigen Arbeiten von Michael Schneider zu Gustav Freytag; hinzuweisen bleibt auf Horst Denkler: Das »wirckliche Juda« und der »Renegat«. Moses Freudenstein als Kronzeuge für Wilhelm Raabes Verhältnis zu Juden und Judentum. In: ders.: Neues über Wilhelm Raabe [...]. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 66-80. Bei der von Grass oft bekundeten, besonderen Wertschätzung Jean Pauls verwundert es, dass sein mündlich geäußerter Hinweis, »es möge einmal gezeigt werden, worin Jean Paul sein Lehrmeister sei« (mitgeteilt von Bernhard Böschenstein: Günter Grass als Nachfolger Jean Pauls und Döblins. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 6 [1971], S. 86-101; hier S. 86), keine Detailuntersuchungen nach sich gezogen hat. Eine Ausnahme macht, so weit zu sehen ist, die vorzügliche Zulassungsarbeit (Staatsprüf. f. d. Lehramt Sek.-Stufe II) von Christoph Hähn: ›Hundejahre‹ und Jean Pauls ›Flegeljahre‹. Zur Poetik und Deutung des Doppel-Romans von Günter Grass (Aachen 2001). Resultate dieser Studie hat Vf. des vorliegenden Beitrags dankbar berücksichtigt.

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ten) »Geheimnis der Freundschaft«; es begann »langsam Wunder zu wirken« (S. 181), als ihn Materns Fäuste vor den Rohheiten der anderen bewahrte; es trug ihm den Tod ein und ließ ihn wiedererstehen.13 Endlich aber soll es sich im Zusammenwirken der Freunde und des Mit-Chronisten Harry Liebenau bewähren: beim Abfassen der »Festschrift«. Jean Pauls Roman führt den Untertitel Eine Biographie.14 Das ist irreführend, und ist es auch nicht. Denn dieser Untertitel fasst das Aneinandersetzen und Aufeinander-Bezogensein zweier Lebensläufe und damit die wechselseitige Erhellung, die ihnen gemeinsam abzugewinnen sei. Zur Instanz der Synkrisis, auf die Leben, Taten und Meinungen der Zwillinge Walt und Vult ausblicken lassen, wird das Erzählwerk erklärt: Die Eine Biographie erst vindiziert dem Disparaten und Widersätzlichen den Vorschein eines Ganzen. Und darin bildet sie den »Einling«, zu dessen Erzeugung sich die Zwillingsbrüder zusammentun; »du bist der Evangelist, ich das Vieh dahinter« (Fj S. 655), konstatiert Vult zuversichtlich. Vom projektierten Buch geht die Rede als von einem »Doppel-Roman« (Fj S. 655) namens »Hoppelpoppel oder das Herz«,15 und aus diesem wiederum speist sich das Buch namens Flegeljahre. Dass die Existenz der Zwillingshelden Walt und Vult im Zeichen von Spaltung und Polarität steht, davon geben die Umstände von ihrer beider Geburt das deutlichste Zeugnis. Das Haus im Dorf Elterlein, wo sie zur Welt kommen (und zwar zuerst Walt, dann Vult, was in Hinblick auf den um einen Monat früher als Walter geborenen Eddi Beachtung verdient), wird durchzogen von der Grenze zwischen dem freiherrlichen und dem fürstlichen Territorium. Ursprünglich handelte es sich da um einen Bach; er hat zwar seinen Lauf verlegt, die Grenze aber ist geblieben und konnte überbaut werden. So zerteilt sie die Geburtsstube von Walt und Vult, und zwar – wie nach der Fließrichtung des ursprünglich grenzbildenden Baches zu urteilen bleibt – links in die freiherrliche und evangelische, rechts aber in die fürstliche und katholische Zone. Als Erstgeborener kommt Walt links zur Welt und rechts dann Vult, womit jeweils entschieden ist über die Glaubenzugehörigkeit. Der Vergleich mit den Geburtsorten von Amsel und Matern drängt sich förmlich auf. Mit Schiewenhorst links und Nickelswalde rechts der Weichsel zeichnet sich, ungeachtet aller verifizierbaren Topographie, dieselbe Teilung ab, welcher die Elterleinsche Geburtsstube unterworfen ist. Links wird Amsel 13

14

15

Volker Neuhaus spricht zu Recht vom Totprügeln Amsels. Ders.: Günter Grass. 2., überarb. u. erw. Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 1992 (Sammlung Metzler; M 179), S. 90. Jean Paul, Werke. Zweiter Band: Siebenkäs; Flegeljahre. Hg. von Gustav Lohmann. München: Hanser 1959, S. 567. Zitate aus diesem Band sind im Folgenden belegt unter der Sigle Fj und Seitenzahl. Anlässlich dieses – sei’s disjunktiv oder explikativ gemeinten – Titels ist daran zu erinnern, dass von Hundejahre auf zweifache Art die Rede ist: hochgemut als von einer »Festschrift« (vgl. »Herz«), satirisch gegenläufig aber als von einem »Handbuch über den Bau wirksamer Vogelscheuchen« (S. 177; vgl. »Hoppelpoppel«).

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evangelisch, rechts Matern katholisch getauft. Und wie ursprünglich der Bach die das Elternhaus durchschneidende Grenze, so stellt nun, »von einem Himmel zum gegenüberliegenden«16 reichend, der Strom die Scheidelinie dar. Die Weichsel nimmt alles in sich auf, was »in die Brüche geht« (S. 147) – ein Reservoir des Abgelebten und Ausgeschiedenen, aus dem sich Amsel mit Material zum Bau seiner Vogelscheuchen versorgen wird. Der Weichsel hat auch das Taschenmesser zuzufallen, mit dessen Hilfe Matern und Amsel Blutsbrüderschaft schlossen, wie wenn mit dem Erinnerungsstück die verpflichtende Erinnerung zu tilgen wäre. Eddi und Matern haben zur lebenslangen Befestigung ihrer Zugehörigkeit einen Pakt geschlossen. Auf magische Weise soll gewährleistet sein, was Walt und Vult angestammt ist. Das Verwerfen des Taschenmessers begründet Matern später damit, dass »das Blut von meinem Freund Eddi, nachdem wir Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, in mir drinnen floß« (S. 756) – ein zeitweilig so unerträglicher Gedanke, dass Matern sein Heil in »kurzatmigen Revolten« (S. 211) sucht. Die Bindung freilich besteht fort; sie kann nur andere Formen annehmen. Wenn Eddi und Walter »ineinander vergafft« bleiben »wie der liebe Gott und der Teufel« (S. 212), wenn sie sich mit Leistungen unterschiedlicher Art ihre Liebe bezeigen, so hat das seine genaue Entsprechung im Verhalten von Walt und Vult, die nicht voneinander loskommen, weil sie einander bedürfen in all ihrer Gegensätzlichkeit. Der ruppige Vult, vom »Schmollgeist« (Fj S. 700) besessen, lässt ausblicken auf den Zähne-»Knirscher« (S. 231) Matern, den das Bewusstsein umtreibt, im Grunde sei ihm der Blutsbruder Eddi »immer voraus« (S. 211) und werde es auch bleiben. So etwa sucht er, erklärtermaßen nur wegen seiner Dienstwilligkeit gegenüber Eddi, aber doch auch aus dem Verlangen nach Stärke, die ihm kompensatorisch von anderer Seite zuwachsen könnte, Anschluss bei der SA. Dort jedoch geht ihm die Rechnung nicht auf, sich als der spendabel Überlegene zu beweisen. Eddi wiederum sucht, wenn überhaupt, Anschluss nur aus zweckrationalen Gründen; innerlich bleibt er auf Distanz. Dafür hängt er seinen bildnerischen Projekten nach und ist darin dem sanften Walt vergleichbar, dem alles Erfahrene nur Anlass ist zu ästhetischer – und das heißt hier: wortkünstlerischer Produktion. Die Erfinder- und Künstlerschaft, zumal aber die Wortgewandtheit, die Brauxel als der maßgeblich »Federführende« mit selbstgefälliger Ironie für sich reklamiert, ist ohne weiteres der besonderen Eigenschaft Walts zuzuordnen: dichterischer Begabung. Und wenn nun dieser wortmächtige Brauxel und der von ihm zur Niederschrift angehaltene Matern ihrer blutsbrüderschaftlichen Verbundenheit endlich dahingehend Ausdruck verleihen, dass sie sich schreibend vergleichen im Sinn ihres »Doppel-Romans«, dann handelt es sich um die exakte Spiegelung desjenigen Vorgangs, der konstitutiv ist für die 16

Die Weichsel also hat man der Motivik des die Schöpfung durchziehenden ›Sprunges‹ oder ›Risses‹ zuzurechnen. Vgl. Volker Neuhaus, Günter Grass (wie Anm. 13), S. 68f. und passim.

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Flegeljahre. Zusätzlich Befunde anzuführen ist nicht möglich. Die narrative Anordnung der Antagonisten und einzelner Geschehenszüge erscheint, so darf man sagen, geradezu darauf angelegt, als Aktualisierung des Jean-Paulschen Schemas wahrgenommen zu werden. Und die Behauptung liegt nahe, dass aus dem Titel Hundejahre eine Hommage an das große Vorbild vernehmbar wird. Bleibt nach allem die Frage, ob diesem Roman Aussagen zum »jüdischen Dasein« (Hans Mayer) abzugewinnen wären. Der Weg zur Beantwortung ist verstellt. Denn am Beispiel von Walter Matern wird durchgängig und mit satirischer Schärfe dargetan, wie Wesensbestimmungen und einschlägiges Reinheitsverlangen einzuschätzen seien. Hingegen hält sich Eddi Amsel bereits als Kind an das Eingetragene, Verunreinigte und Vernutzte. Das entspricht seiner Art der Weltbegegnung und soll ihm später den Vorwurf eines Charakterdefekts eintragen: »Nichts ist ihm rein« (S. 797) oder »heilig« (S. 432). Harry Liebenau, Verfasser der ›Liebesbriefe‹, gelangt auf Grund quälender Erfahrung zur Einsicht: »Nichts ist rein« (S. 519; vgl. a. S. 502f.). Muss das vereigentlichende Ursprungs- und Abkunftsdenken, weil es Exklusion des Kreatürlichen voraussetzt, nicht allem Dichterischen zuwiderlaufen?

Axel Gellhaus

›An Edom!‹ Die Figur des Abdias bei Heine, Stifter, Susman und Celan

Unter dem Eindruck der »schmerzlichen Lektüre« von Basnages Histoire de la religion des Juifs (1707)1 verfasste Heinrich Heine am 11. September 1824 das Gedicht »An Edom!«. Es knüpft schon durch die Adresse, Sammelbezeichnung für alle Feinde des Jüdischen Volkes, an eine biblische Vision aus dem Zwölfprophetenbuch an, welche die göttliche Vergeltung für das den Juden zugefügte Unrecht voraussagt: An Edom! Ein Jahrtausend schon und länger Dulden wir uns brüderlich; Du, du duldest, daß ich atme, Daß du rasest, dulde ich. Manchmal nur, in dunklen Zeiten,2 Ward dir wunderlich zu Mut. Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut. Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie du!3

1 2

3

Jacques Basnage: Histoire des Juifs depuis Jésus-Christ jusqu’à présent. 5 Bde. Rotterdam: Reinier Leers 1706-1711. Diese Zeile des Gedichts »An Edom« wählte Paul Celan als Motto für sein Gedicht »Eine Gauner- und Ganovenweise«; vgl. Paul Celan. Die Niemandsrose. Historischkritische Ausgabe. 6. Bd. 2. Teil: Apparat. Hg. von Axel Gellhaus unter Mitarbeit von Holger Gehle und Andreas Lohr in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 119-121. Heinrich Heines Sämtliche Werke. Erster Band (Heines Werke in zehn Bänden. Unter Mitwirkung von Jonas Fränkel, Ludwig Krähe, Albert Leitzmann und Julius Petersen hg. von Oskar Walzel). Leipzig: Insel 1911, S. 280 und die Anmerkungen dazu. Es ist dies die Heine-Ausgabe, die Paul Celan gekannt und benutzt hat.

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Die Vision eines »Gerichts über Edom« geht auf den Propheten Obadja zurück; das Buch »Obadja« besteht aus lediglich 21 Versen, die das Gericht über Edom und die anderen Völker (Vers 1-16) sowie die Rettung Israels »auf dem Berg Zion« (Vers 17-21) behandeln. Der lateinische Name Obadjas in der Vulgata lautet Abdias. In dieser Form findet sich seine Spur auch in der deutschsprachigen Literaturgeschichte: Adalbert Stifter benannte seine 1842 erschienene Erzählung4 und deren Protagonisten nach dem Propheten, Margarete Susman gab sie 1935 – Jahr der Nürnberger Gesetze – im Schocken Verlag5 neu heraus und fügte einen Essay hinzu, der die Lebensbedingungen der europäischen Juden zu Beginn des größten Terrors in ihrer Geschichte mit der Figur des Abdias verband, und 1962 schrieb Paul Celan sein Gedicht »In Eins«, in welchem Abdias/Abadias als Widerstandskämpfer gegen das FrancoRegime erscheint. Das Prophetische ist bei den späteren Wiederbelebungen des biblischen Sprechers dem Exemplarischen gewichen. Bei Stifter erleidet der seelenblinde Protagonist das Schicksal der Feinde Israels am eigenen Leibe, weil er nicht zuletzt durch sie auf den Weg des materiellen Erfolgs geführt wird. Auch bei Susman spiegelt sich in der Figur das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden, während Abdias bei Celan nicht lange nach der geschichtlichen Zäsur zur Leitfigur des Widerstands und der exilierten Humanität wird. * In der Geschichte des Juden Abdias, mit dessen Veröffentlichung sich Stifters Durchbruch in der Anerkennung als Schriftsteller von Gewicht verbindet, schildert Stifter die Lebensgeschichte des Juden Abdias von seiner Kindheit in Nordafrika über seine Mannesjahre, die ihn als Handel treibenden in alle Welt führen, bis ins hohe Alter, das er im Böhmerwald verbringt. Das Schicksal, über dessen Unverstehbarkeit der Erzähler eingangs ausführlich reflektiert, stattet Abdias mit allen Gaben aus, die ein glückliches, ja großes Leben erwarten lassen: Schönheit, Reichtum und jenes ›elektrische Fluidum‹, das uns später bei seiner Tochter Ditha wieder begegnen wird. Alle diese Gaben muss er jedoch fatalerweise verlieren, um in der Spiegelung durch seine zunächst blinde Tochter Ditha zu erfahren, worin seine eigene Blindheit dem Leben gegenüber bestanden hatte. Die Erzählung gliedert sich in drei Kapitel, welche die Namen dreier Frauen im Leben des Protagonisten tragen: den seiner Mutter, 4

5

Adalbert Stifters Erzählung Abdias erschien zuerst im Österreichischen NovellenAlmanach 1843; die Journal-Fassung ist zu unterscheiden von der Fassung in den »Studien«. Zitiert wird im Folgenden nach: Adalbert Stifter Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bd. 1,2: Studien. Journalfassungen. Zweiter Band. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1979, S. 105-158; Bd. 1,5: Studien. Buchfassungen. Zweiter Band. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1982, S. 235-342. Abdias. Erzählung von Adalbert Stifter. Mit einem Nachwort von Margarete Susman. Berlin: Schocken 1935 (Bücherei des Schocken Verlags; 31).

›An Edom!‹ Die Figur des »Abdias« bei Heine, Stifter, Susman, und Celan

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den seiner Frau und den seiner Tochter. Es sind zugleich Namen, die zeigen, dass hier genuin die jüdische Tradition und Geschichte gemeint ist: Esther, Deborah und Ditha (Judith). Alle Namen sind biblisch, und wenn auch die aus der Bibel bekannten Bedeutungen nicht auf die Figuren der Erzählung übertragen werden können, so wird zumindest der konfessionelle Horizont deutlich markiert, aus dem heraus Abdias lebt und von dem er sich entfremdet. Im umfangreichsten letzten Kapitel gibt es eine Passage, die sich wie die Schlüsselstelle zu einer Poetik liest: Es handelt sich um die kurze Sequenz im 3. Kapitel (»Ditha«), in der das neue Sehen der ehemals Blinden thematisiert und dem Leser in kühnen Synästhesien vor Augen geführt wird als eine Epiphanie des Zusammenhangs von Tag- und Nachtseite. Ditha – durch den Blitzschlag plötzlich geheilt – entwickelt als eine nun Sehende eine »Denkund Redeweise, die den anderen so fremd war, wie es ihnen etwa wäre, wenn eine redende Blume vor ihnen stände.«6 Aus jener langen Nacht mochte es auch herkommen, dass sie nicht die brennenden, sondern die kühlen und dämmernden Farben vorzugsweise liebte, und darunter wieder das Blau. Als sie einmal etwas weit von ihrem Hause waren, durch den Föhrenwald gingen, von dem wir oben geredet haben, und jenseits desselben an einem großen blühenden Flachsfelde standen, rief sie aus: »Vater, sieh nur, wie der ganze Himmel auf den Spitzen dieser grünen stehenden Fäden klingt!« Sie verlangte hierauf, dass ein Stück davon nach Hause genommen würde. Er aber führte sie näher, zog einige Fäden aus, zeigte ihr die feinen kleinen Blumen, und machte ihr so klar, dass man nicht gleich ein ganzes Stück von diesem Blau wegnehmen könne. Dafür versprach er ihr, dass sie bald zu Hause ein solches blaues Feld haben werde. So sprach sie auch von violetten Klängen, und sagte, dass sie ihr lieber seien, als die, welche aufrecht stehen und widerwärtig seien, wie glühende Stäbe. Ihre Stimme, die sie in der letzten Zeit ihrer Blindheit immer lieber zum Singen, als zum Sprechen erhoben hatte, wendete sich frühzeitig einem sanften klaren Alte zu. So lebte sie eine Welt aus Sehen und Blindheit, und so war ja auch das Blau ihrer Augen, so wie das unsers Himmels, aus Licht und Nacht gewoben.7

Ditha hat in der ersten Phase ihres Lebens, der Zeit der Blindheit, alle Aufmerksamkeit auf die Innenwelt gerichtet, nun, sehend geworden, verbindet sich ihr – aus Not entwickeltes – taktiles und auditives Differenzierungsvermögen mit der Welt der Erscheinungen im Licht. Es ist natürlich kein Zufall, dass Stifter mit der zweimaligen Erwähnung von »Nacht«, der Farbe Blau, den Synästhesien aus Klang und Farbe sowie der Wendung von der ›redenden Blume‹ das Inventar der romantischen Poetik zitiert, auch Goethes Farbenlehre dürfte zum Stichwort ›Blau‹ als Beleg angeführt werden. Entscheidend ist aber die Frage, welche Funktion dieser poetologisch-strategische Rückgriff inner6

7

Adalbert Stifter. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bd. 1,2. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1979, S. 105-158; hier S. 148. Ebd., Bd. 1,5, S. 330.

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halb einer Erzählung hat, mit deren ›unerhörter Begebenheit‹ er eng verknüpft ist. Es handelt sich um jenen relativ kurz abgehandelten Zeitraum zwischen zwei Blitzschlägen: der erste gibt Ditha das Augenlicht, und der zweite nimmt ihr das Leben. Mit dem Erlöschen Dithas, deren Fähigkeiten in der Abgeschiedenheit der böhmischen Exklave niemanden sonst bereichern konnten als Abdias, erlischt auch sein Geist; Abdias wird wahnsinnig, lebt aber weiter. Das Bild für seine Existenz im letzten Drittel seines Lebens wirkt wie ein Mahnmal: er sitzt auf einer Bank, sagt nichts, sondern schaut die Sonne an. Die Erzählung ist historisch nicht datierbar, sie beschreibt eine Parabel der Geschichte der ›abendländischen‹ Kultur von ihren jüdischen und römischen Wurzeln – angedeutet in der afrikanischen Topographie der ersten Lebenshälfte des Abdias – bis zur böhmischen Gegenwart Stifters. (Die Einleitung wendet sich an Leser, die den alten Abdias noch haben vor seinem Hause sitzen sehen.) Der Erzähler wählt einen jüdischen Protagonisten, um an seinem Schicksal exemplarisch vorzuführen, was es bedeutet, die Bindung zu den eigenen religiösen Wurzeln zu verlieren: Das Leben des Juden Abdias im Exil ist die Parabel einer entfremdeten Identität,8 deren Möglichkeit Abdias selbst 8

In der Stifter-Literatur wurde schon früh in der Auseinandersetzung mit der AbdiasGeschichte auf Parallelen zum essayistischen Werk Stifters hingewiesen. Vgl. G. H. Hertling: Adalbert Stifters zeitlose Botschaft: Obadja-Abdias. In: Adalbert StifterInstitut. Vierteljahresschrift 25 (1976), Folge 3-4, S. 117-129: »Stifter hat gerade dieses Werk biblischen Gehalts einem gefährdeten Europa zugedacht – einem solchen, das auch zu seiner Zeit der Gefahr ausgesetzt war, die Bezüge zum Göttlichen und damit zur seelischen Beschaffenheit aller Dinge gegen ›moderne‹ Zielsetzungen einzutauschen. Wenn nun auch für Stifter die Dichtkunst ›... die Darstellung der objektiven Menschheit als Widerschein des göttlichen Waltens ...‹ [Sauer-Ausg. Bd. XXXIV, 1929, S. 248, Brief vom 21. Aug. 1847] zu sein hat, des Menschen Wege daher nichts als Widerspiegelungen kosmisch-göttlicher Kräfte sind, so ist Abdias’ Lebensgang als mahnvolles Symbol einer Erblindung vor den seelisch-göttlichen Bezugsmöglichkeiten zu verstehen. Es überrascht auch nicht, dass unser Dichter die ethische Botschaft des Abdias in essayistisch-kritischen Äußerungen der vierziger Jahre niederlegte. Stifter spricht dort nicht dichterisch-verschlüsselt von einer morgenländischen Lage, sondern von der »gegenwärtigen« kulturhistorischen Situation Europas: diese »zeichne sich aus« in der »Abnahme und ... [im] Versinken der Religion«, vorzüglich aber durch den »Verlust« des »Verstandes«, also in der Erblindung des »Auges der Seele« (UF 8), sowie durch ein Schwinden an »Güte«. Noch schärfer heißt es dort, das Abendland verfalle der »steigenden Genusssucht« und der »Habsucht«. (ebd., Bd. XL, S. 120ff. vgl. besonders die Essays Aus dem Wiener Boten, dort S. 91-241.) Historisch und warnend stellt er fest: Überall, wo Völker zu Grunde gegangen und Reiche gestürzt sind, sind sie durch Unverstand und Schlechtigkeit der Sitten, und überall, wo sie mächtig und glücklich waren, waren sie es durch Verstand und Güte. Dadurch wird der Staat, dadurch wird das Haus, das Weib, das Kind gerettet. Wo man auf Abwegen ist, kehre man um, und jeder Staat ... hat die heilige Pflicht, die Mittel dazu einzuleiten. (ebd., S. 119)«

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im Spiegel seiner Tochter zu erkennen erst begonnen hatte. Er hat durch die geschichtlich bedingten Umstände seine innerste Identität verloren, die in seiner Jugend auch am Glanz seiner Erscheinung erkennbar gewesen ist und an jenem elektrischen Fluidum, das – eine Metapher transzendentaler Geborgenheit – nichts anderes als religiöse Bindung bedeutete. Stifter macht den Identitätsverlust, den Abdias erfahren musste, als er begann, den Weg des Ruhms, des materiellen Reichtums und des äußerlichen Erfolgs einzuschlagen, daran deutlich, dass er dessen verlorene Möglichkeiten in Ditha noch einmal zum Erscheinen und förmlich zum Ausbruch kommen lässt, freilich in Gestalt einer Blüte, deren Schönheit von niemandem wahrgenommen wird. Die ›transzendentale Geborgenheit‹ besteht gerade darin, dass zwischen Welt und Seele eine wahrnehmbare Verbindung besteht, die besonders in der romantischen Poesie beschworen worden war und philosophisch mit den Denkweisen von Spinoza und Leibniz in Bezug gebracht werden kann.9 Der Kerngedanke des Buches »Obadja« ist die Ankündigung: Was Israel widerfahren ist, wird den Feinden Israels geschehen. Sei nicht schadenfroh am Tag deines Bruders, / am Tag seines Unheils! Freu dich nicht über Judas Söhne / am Tag ihres Untergangs! Reiß deinen Mund nicht so auf / am Tag der Not! // Dring nicht ein in das Tor meines Volkes / am Tag seines Unglücks! Sei nicht auch schadenfroh über sein Unheil / am Tag seines Unglücks! Streck nicht die Hand aus nach seinem Gut / am Tag seines Unglücks! // Stell dich nicht an der Wegkreuzung auf, / um die Fliehenden niederzumachen. Liefere die Flüchtlinge nicht aus / am Tag der Not! // Denn er ist nahe, der Tag des Herrn, / für alle Völker. Was du getan hast, das tut man dir an; / dein Tun fällt zurück auf dich selbst. // Ja, wie ihr getrunken habt / auf meinem heiligen Berg, / so müssen alle Völker jetzt unaufhörlich trinken: Sie trinken und taumeln, / sie werden, als seien sie niemals gewesen. (»Obadja«, 12-16)10

Mit dem letzten Vers ist übrigens die Stelle markiert, auf die sich das Ostinato der »Todesfuge«11 Celans bezieht, jenes zwanzigfach wiederkehrende »wir trinken« als die Metapher der unmittelbaren körperlichen Erfahrung des Leidens. Adalbert Stifter erzählt die Geschichte aber nicht, um die Schuld des Juden Abdias vorzuführen und sein Schicksal als Sühne für seine Verfehlungen er9

10 11

In der Stifter-Forschung sind Affinitäten Stifters zu beiden Denkern verschiedentlich beschrieben worden. Vgl. Rudolf Jansen: Die Quelle des »Abdias« in den Entwürfen zur »Scientia Generalis« von G. W. Leibniz? In: Adalbert Stifter-Institut. Vierteljahresschrift 13 (1964), Folge 3-4, S. 57-69; Kurt Gerhard Fischer: Der jüdische Mensch in Stifters Dichtungs-Denken. In: Adalbert Stifter-Institut. Vierteljahresschrift 14 (1965), Folge 3-4, S. 109-118. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1980, S. 1047f. Paul Celan. Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 41f.

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scheinen zu lassen, sondern er legt nahe, sein Verhalten als Resultat von Umständen zu begreifen, deren Sinn wir vor dem Ende der Geschichte nicht zu erkennen vermögen. Das Schicksal des Juden Abdias ist jedenfalls so unauflösbar mit dem seiner Feinde und mit dem seiner Widersacher im eigenen Volk verbunden, dass eine Verurteilung nicht ihn alleine träfe: Die Geschichte des ›Abendlandes‹ ist – nicht nur für das jüdische Volk – eine Geschichte der Entfernung von den Wurzeln der eigenen Identität, der Bindung (religio) an einen Zusammenhang von Seele und Welt. Es entspricht Stifters Überzeugung zu dieser Zeit, dass die Möglichkeit einer Umkehr nicht verwehrt ist, sondern dass in den kindlichen Anlagen, die er an Dithas Gestalt zeigt, ein Potential schlummert, welches Grundlage einer neuen Pädagogik sein müsste. Hier liegt für Stifter zugleich der Sinn der Dichtung als Ort der Bewahrung romantischer Fragestellungen, die im Materialismus des Industriezeitalters als kindisch disqualifiziert zu werden drohen. Insofern ist die Erzählung Abdias, die Stifters Durchbruch markiert, eine programmatische, als sie das existentielle Scheitern in der Figur des Abdias und den Inbegriff menschlicher Möglichkeiten in der Figur der Ditha eng führt. Das zitierte poetische Instrumentarium ist nur ein Indiz für die Bedeutung der klassisch-romantischen Weltanschauung, deren Bewahrung und Fortführung Stifter als Form des Widerstands gegen den Materialismus der Zeit formuliert. * Als eine der vorerst letzten Publikationen unter ihrem richtigen Namen gab Margarete Susman12 im Jahre 1935 Stifters Erzählung Abdias im Schocken Verlag in Berlin heraus. Man benötigte kaum noch prophetische Fähigkeiten, wenn man 1935 die Unlebbarkeit einer jüdischen Existenz in Deutschland prognostizierte. Es gilt aber, die Geste zu verstehen, mit der Susman als Herausgeberin innerhalb einer Reihe des Schocken Verlags fungierte, die sich zur Aufgabe gestellt hatte, »aus dem fast unübersehbaren und häufig unzugänglichen jüdischen Schrifttum aller Länder und Zeiten in sorgfältiger Auswahl dasjenige dar[zu]bieten, was den suchenden Leser unserer Tage unmittelbar anzusprechen vermag.«13 Damit wird die Erzählung Stifters in die Folge des 12

13

Margarete Susmans Arbeiten über den deutsch-jüdischen Dialog insgesamt behandelt die Studie von Roberta Maligoli: Margarete Susman und der deutsch-jüdische Dialog. In: Hans Otto Horch/Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/38. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 351-362. Abdias. Erzählung von Adalbert Stifter. Mit einem Nachwort von Margarete Susman. Berlin: Schocken 1935, Verlagsankündigung auf dem unpaginierten dreiseitigen Nachsatz des Verlags. Zitiert wird im Folgenden nach der Erstausgabe. Besser zugänglich ist der Essay in: Margarete Susman. Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914-1964. Hg. von Manfred Schlösser. Berlin: Agora 1994, S. 320-326.

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»jüdischen Schrifttums aller Länder und Zeiten« auf- und als Reflexion des jüdischen Schicksals ernst genommen. Die eigentliche Botschaft wird erst ersichtlich, wenn man die Erzählung Stifters mit jenem kleinen Essay zusammen liest, den Margarete Susman dem Bändchen hinzugefügt hat. Man kann zunächst den Rang, den Susman der Stifterschen Erzählung einräumt, nicht besser hervorheben als durch folgende Passage aus ihrem Essay: Mit dem Problem und Mysterium des Judentums haben sich alle wahrhaft großen germanischen Künstler und Dichter auseinandergesetzt; eine wirkliche Gestalt und Gestaltung aber haben ihm – wenn man Lessings ins Allmenschliche verklärte Nathangestalt (deren eigentliches Geschick, in Vernichtung und Überwindung schon hinter ihr liegt) nicht hinzunehmen will – nur drei unter ihnen gegeben: Shakespeare, Rembrandt und Adalbert Stifter. Alle drei haben in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kunstformen das jüdische Schicksal als ein Äußerstes, als einen Grenzfall des Menschendaseins erfaßt. Auch Stifter, der bescheidenere Genius, der dennoch gerade mit dieser Erzählung einen Gipfelpunkt aller Kunst erreicht hat, hat in ihr am jüdischen Schicksal ein Äußerstes, ja, wie es seine Einleitung zeigt, das Äußerste des Menschenschicksals überhaupt als große Ahnung sichtbar gemacht.14

Entscheidend für das Verständnis der Susmanschen Abdias-Lektüre ist nun ihr Begründungsversuch für das so beschriebene jüdische Schicksal: Es ist dies unirdische Daseinsgesetz, das sich im Judentum an die Stelle aller anderen Gesetze setzt. Enthüllt es im Abdias seine Wahrheit an einem Einzelnen, an einer großen prophetischen Natur, so zeigt es sich nicht weniger klar am Schicksal des Volkes als Ganzem. Abdias ist das Bild der großen ins Irdische verirrten Volksgestalt, die ihre Wahrheit allein an Gott und Gottes Gesetz hat. Indem wir sein Geschick als das Abbild des geschichtlichen Schicksals unseres Volkes überhaupt erkennen, erfahren wir zugleich, wie der furchtbar verwundende Pfeil, der in dieser Erzählung steckt, auf unseren eigenen geschichtlichen Augenblick zielt. Auch unser Schicksal ist unlebbar geworden. Das Antlitz unseres Volkes ist entstellt; die Liebe hat sich von ihm abgewendet. Mit der ganzen europäischen Menschheit hingerissen in ein Leben, in dem Liebe, Leid und Schuld blind und gesetzlos schweifen, haben wir unseres göttlichen, botenumstrahlten Ursprungs vergessen. Darum ist das Schicksal, in dem wir heute stehen, nicht bloßes Schicksal; es ist Gericht. Aber mit eben diesem Gericht fühlen wir in diesem Augenblick plötzlich unser verworrenes Leben sichtbar von Gesetz und Ordnung wieder aufgenommen.15

Susmans Essay nimmt eine für die jüdisch-theologische Selbstreflexion nicht untypische Wendung, indem sie das Schicksal des Juden Abdias und des gesamten jüdischen Volkes in der Gegenwart als »Gericht«, d. h. als gerechte Strafe für die Verirrung und den Verlust der religiösen Identität bezeichnet. Der strafende Gott erweist sich als der gerechte Gott, als der liebende: »dass die Gerechtigkeit Gottes, indem sie sich vollzieht, aufblüht zur heiteren, allversöhnenden Liebe.«16 So endet Susmans kleiner Essay. 14 15 16

Ebd., S. 108. Ebd., S. 113. Ebd.

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Gerade vor dem Hintergrund dieser theologischen Rezeption, welche die politische Dimension der historischen Situation glaubte integrieren zu können, wird der Abdias-Intertext für Celans Gedicht »In Eins« sprechend. Paul Celan hat Margarete Susman persönlich gekannt; es gab einen Briefwechsel. Die Briefe Celans finden sich aber nicht mehr im Nachlass Margarete Susmans.17 Mit einigen ihrer Schriften hat sich Celan intensiv auseinandergesetzt, wie die Anstreichungen und Marginalien in den Bänden seiner Bibliothek zeigen. Der religiösen Rezeption des Abdias setzt er jedoch eine entschieden politische entgegen. * Eine Figur namens Abadias erscheint in einem Gedicht Celans wieder, das die geschichtlich bedeutsamen Revolutionen und Aufstände der vergangenen hundert bis hundertdreißig Jahre thematisch eng führt. Es trägt den Titel »In Eins«. Nach Auskunft von Gisèle Celan-Lestrange handele es sich bei dem im Gedicht als »Greis aus Huesca« bezeichneten Abadias um einen aus Spanien geflohenen Hirten, der in der Nähe von Moisville in der Normandie18 im Exil lebte und mit der Familie Celans bekannt war.19 Es gilt aber andererseits zu bedenken, was Celan selbst bemerkt hat, dass Worte einen ›qualitativen Wechsel‹ erfahren, wenn sie zu Worten in einem Gedicht werden: Mag der ›Greis aus Huesca‹ zufällig Abadias geheißen haben, im Gedicht evoziert der Name die kultur- und literaturgeschichtlich relevanten, die intertextuellen Bezüge. Dieser ›qualitative Wechsel‹ ist die Bedingung dafür, dass man nicht jedes Gedicht auf seinen anekdotischen Anlass reduzieren muss, um es zu verstehen. In diesem Falle lassen sich die intertextuellen Bezüge positiv belegen: Celan war vertraut mit Heines Gedicht »An Edom«; er wählte die Zeile: »Manchmal nur in dunklen Zeiten« als Motto für sein Gedicht »Eine Gauner- und Ganovenweise« und erwog in früheren Fassungen auch die Zeile: »Ein Jahrtausend schon und länger«.20 Celan kannte Margarete Susman persönlich und las ihre Schriften, wie sich anhand seiner Bibliothek leicht nachweisen lässt. Er kannte und las Stifter, wie sich ebenfalls dort überprüfen lässt, und er hat noch in seinem Gespräch mit Martin Heidegger in Todtnauberg über Stifter gespro17

18 19 20

Vgl. Margarete Susman: »Das Nah- und Fernsein des Fremden«. Essays und Briefe. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingeborg Nordmann. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1992, S. 7 (Vorwort von Ingeborg Nordmann): »Ein Teil der Briefe ist auf mysteriöse Weise verschwunden. Das betrifft die Briefe Martin Bubers, Georg Lukács’ und Paul Celans an Margarete Susman, die zu ihrem Nachlaß gehören, die aber nicht da sind.« In Moisville stand das Ferienhaus der Familie Celans. Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 701. Vgl. Anm. 2!

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chen.21 Celan kannte Stifters Erzählung, er kannte Margarete Susmans »Abdias«-Essay, und er hat in der ersten Niederschrift des entsprechenden Zeilenkomplexes des Gedichts »In Eins« den Namen »Abdias«22 erwogen; erst in der darauf folgenden Fassung änderte er den Namen in »Abadias«. Der literaturhistorische Kontext ist jedoch für ihn kein Wert an sich. Es bedarf einer spezifischen Aktualisierung, damit sich die denkbaren Bezüge nicht in Beliebigkeit auflösen. Für Celans Wahrnehmung war die Begegnung mit dem ›Greis aus Huesca‹ vermutlich eine bedeutende Erfahrung, und der Name durfte ins Gedicht eingehen, weil das Gedicht die Revolten und Aufstände zu einem einzigen Meridian des Widerstands in eins zu sehen versucht: IN EINS Dreizehnter Feber. Im Herzmund Erwachtes Schibboleth. Mit dir, Peuple de Paris. No pasarán. Schäfchen zur Linken: er, Abadias, der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden über das Feld, im Exil stand weiß eine Wolke menschlichen Adels, er sprach uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war Hirten-Spanisch, darin, im Eislicht des Kreuzers »Aurora«: die Bruderhand, winkend mit der von den wortgroßen Augen genommenen Binde – Petropolis, der Unvergessenen Wanderstadt lag Auch dir toskanisch zu Herzen. Friede den Hütten!23

Die Entstehung von Paul Celans Gedicht »In Eins« hängt eng mit jenem Komplex zusammen, der unter den Titeln »Walliser Elegie« oder »Pariser Elegie« 21 22

23

Vgl. etwa James K. Lyon: Paul Celan and Martin Heidegger. An Unresolved Conversation, 1951-1970. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press2006, S. 168. Vgl. Paul Celan. Die Niemandsrose. Historisch-kritische Ausgabe. 6. Bd. 2. Teil: Apparat. Hg. von Axel Gellhaus unter Mitarbeit von Holger Gehle und Andreas Lohr in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 234. Paul Celan. Die Niemandsrose. Historisch-kritische Ausgabe. 6. Bd. 1. Teil: Text. Hg. von Axel Gellhaus unter Mitarbeit von Holger Gehle und Andreas Lohr in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 72.

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bekannt geworden ist.24 Es erschien 1963 im vierten Binnenzyklus des Gedichtbandes Die Niemandsrose und ist motivisch vielfach mit den beiden später verworfenen und aus dem Band eliminierten Entwürfen und Ansätzen zur »Walliser (respektive: Pariser) Elegie« verbunden. Der Titel »Walliser Elegie« trägt der Tatsache Rechnung, dass Celan den Beginn seiner Arbeit an dem Komplex auf den Karsamstag des Jahres 1961 datierte, einen Tag nachdem er das Grab Rilkes in Raron im Schweizer Kanton Wallis besucht hatte. Die nochmalige intensive Auseinandersetzung mit Rilkes Dichtung,25 die sich an vielen Stellen im Gedichtband Die Niemandsrose bemerkbar macht – bis hin zum Titel des Bandes, der eine Verdichtung des Rilkeschen Grabspruchs ist26 – führt Celan offensichtlich die Notwendigkeit einer poetischen Distanzierung vor Augen. Diese Distanzierung und ihre Motivation können am Beispiel des Gedichts »In Eins« besonders gut gezeigt werden: In einem Gedicht mit dem Titel »Mausoleum« aus dem Jahre 1924 hatte Rilke die Wendung vom ›In-Eins-Singen‹ geprägt, unmittelbar bezogen auf das »Dichterherz«, das mit seinem Gesang ein Verlorenes besingt. Mausoleum [1924] [...] Wo aber, wo, das sie sang, das sie in Eins sang, das Dichterherz? : Wind, unsichtbar, Windinnres27

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Der gesamte Komplex ist genetisch dargestellt in: Paul Celan. Verstreut gedruckte Gedichte. Nachgelassene Gedichte bis 1963. Historisch-kritische Ausgabe. 11. Band. Hg. von Holger Gehle und Thomas Schneider unter Mitarbeit von Andreas Lohr in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 393-461. Celans Jugenddichtung ist u. a. stark von derjenigen Rilkes beeinflusst. Rilkes Grabspruch lautet: ROSE, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. (Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main: Insel 1955-1966. Bd. 3, S. 185. – Rilke hatte das Gedicht in einer Tagebuchnotiz zu seinem Grabspruch bestimmt.) Auf einem Blatt mit verschiedenen Notizen zur »Walliser Elegie« hat sich Celan am 18. Februar 1962 Fragmente des Grabspruchs notiert, dabei aber die meisten Worte durch Striche ersetzt, bis auf: »Rose. Reiner. Widerspruch. / Niemandes – – – | – – «. Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 3. Frankfurt am Main: Insel 1975, S. 500f.

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Celans Gedicht »In Eins« widerspricht mit seiner Anfangswendung »Im Herzmund erwachtes Schibboleth«28 und der folgenden Synopse von Revolutionen und Aufständen im Europa der Moderne, Rilkes impliziter Poetik eines vom Tagesgeschehen abgewandten Blicks.29 Die Linie, ein Meridian des humanen Widerspruchs gegen die Diktaturen, führt vom aktuellsten Anlass des 13. Februars 1962, an dem unter großer Anteilnahme der Pariser Bevölkerung die acht getöteten OAS-Gegner zu Grabe getragen worden waren, über die Pariser Kommune und den Beginn der Oktoberrevolution zum Arbeiteraufstand in Wien, zum Widerstand gegen Franco im spanischen Bürgerkrieg – und mit der Erwähnung von Petropolis zum Exilund Sterbeort Stefan Zweigs in Brasilien sowie – in eins damit – zum Petropolis Ossip Mandelstamms, Sankt Petersburg.30 Es genügt aber nicht mehr, dass das Herz des Dichters dies alles ›in Eins‹ singe; es kommt auf die politische Mündigkeit des Herzens, das Bekenntnis (Schibboleth) als entscheidende, einschneidende Veränderung nach der Shoah an. Dass Celan Rilke in einer Form widerspricht, die dessen eigene Fügung des ›reinen Widerspruchs‹ aufgreift, belegt nur, welche Bedeutung die Dichtung Rilkes für Celan besaß. Aber der Widerspruch trifft ihn – und Margarate Susmans Abdias-Lektüre – umso genauer. Den Widerspruchssinn des Gedichts charakterisiert die oben umrissene historische Synopse, die es vornimmt. Sie konkretisiert sich in der poetischen Konstruktion der Figur jenes ›Greises aus Huesca‹ mit dem Namen »Abadias«. In der Gedichtgenese findet sich bei der ersten Erwähnung des Namens in H3 die Form, die auf Stifter und Susman verweist und über die Figur bei Stifter naturgemäß auf den Stifter des Namens, den Propheten Abadias oder Obadja.31 Das über den Namen Abdias/Abadias/Obadja evozierte ›Gericht über Edom‹ verbindet sich mit der Revolutionsthematik des Gedichts, und auch der Abdias Stifters lebt im (böhmischen) Exil. In der Figur des spanischen Hirten aus Huesca, an den Gisèle Celan-Lestrange erinnert hat, werden diese Bezüge ›in28

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Schibboleth wird im ›Buch der Richter‹ (Bibel, 12,4-6) erwähnt als ein Wort, das aufgrund eines bestimmten Merkmals seiner Aussprache als Erkennungszeichen benutzt wurde; wer es korrekt aussprechen konnte, gehörte zur richtigen Seite. Eine detaillierte Textanalyse findet sich in: Axel Gellhaus: ›In statu nascendi‹ – Paul Celan: Die Niemandsrose und ihre Frühstadien am Beispiel der Genese von In Eins. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft/Revue Internationale des Sciences de l’Edition Critique. Hg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler. Bd. 18, 2004, S. 156-174. Vgl. im Einzelnen die Sacherläuterungen in: Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 702; B. Wiedemann verweist auf das von Celan übersetzte Gedicht »Petropolis, diaphan« von Ossip Mandelstamm. Der Kommentar der Historisch-kritischen Stifter Ausgabe weist im Stellenkommentar zum Abdias darauf hin, dass ein unter Kaiser Joseph II. erlassenes Verzeichnis der deutschen Aussprache jüdischer Namen Abadja durch Abadias ersetzte. (1,9: Studien. Kommentar. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1997, S. 282.)

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Eins‹ gesetzt und formieren sich zur zeitübergreifenden Figur des Widerstands. Die spanische Provinzstadt Huesca war ein Zentrum des Widerstands gegen das Franco-Regime: »im Exil / stand weiß eine Wolke / menschlichen Adels«. Die programmatische In-Eins-Fügung des Gedichts setzt zwei thematische Komplexe miteinander in Beziehung, die man sehr grob so charakterisieren kann: die Revolutionen und Aufstände, die Rebellionen und Bekenntnisse zur Menschlichkeit einerseits und die Situation der verfolgten und exilierten Dichter andererseits. Evoziert werden mittelbar oder unmittelbar die Schicksale Heines, Büchners (durch das abschließende Zitat aus dem Hessischen Landboten), Mandelstamms und Arnold Zweigs – ein zweiter Meridian, mit dem sich der Autor selbst, Paul Celan, existentiell verbunden sah.

Bernhard Spies

Hans Sahls Dramen. Die Suche nach dem unbekannten jüdischen Ich

Jüdische Identitätsfindungen verlaufen oft prekärer oder dramatischer als andere, weil sie auf eine äußere Bedrohung reagieren, die sich mit eben dem Verweis auf die jüdische Identität der Ausgegrenzten legitimiert. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – wird an solchen Prozessen sehr deutlich, was moderne Identitätsentwürfe generell charakterisiert: Sie sind als Konstruktionen, als selbst gewählte Identitätsmodelle kenntlich. In diesem Sinne spricht Armin A. Wallas von »pluralen ›jüdischen Identitäten‹«, aus denen die jüdische Identitätskonstruktion zusammengesetzt sei.1 Gerade sie widerlegten die Annahme, »Identität sei eine statische Begriffskategorie, die ein Individuum oder ein Kollektiv allein auf seine Herkunft festschreibe«; stattdessen sei sie, im Gegensatz zur substanzialistischen Annahme einer naturgegebenen völkischen Identität, als »komplexer, offener, dynamischer Begriff« zu verstehen, »dessen jeweilige inhaltliche Zuordnung variabel ist«, weil er eine »intellektuelle Konstruktion« darstelle.2 Wenn aber, so möchte ich diesen Gedanken fortsetzen, in der »Polyphonie der Diskurse über jüdische Identitäten«3 die Konstruktion einer Identität auch nur zu einem vorläufigen Resultat gelangt ist, dann hat die immerhin erfolgte »inhaltliche Zuordnung« einen Perspektivwechsel zur Folge: Das Konstrukt hat immer etwas von einem Fund an sich; der vollendete Prozess der Erfindung verleiht deren Resultat den notwendigen Schein, dass es eine Suche war, die erfolgreich abgeschlossen wurde. So lange die Annahme, dass in dieser oder jener Qualität oder Beziehung ›meine‹ oder ›unsere‹ Identität liege, ernsthaft aufrechterhalten wird, schließt sie die Überzeugung ein, dass das, was die Qualität ausmachen soll, einen selbstständigen Bestand hat. Hans Sahl gibt ein prägnantes Beispiel dafür ab, dass die Identitätskonstruktion einerseits frei, d. h. sehr unterschiedlicher bis gegensätzlicher Orientierung fähig ist, dass sie andererseits aber diese Unbestimmtheit dementiert und als – mehr oder minder erfolgreiche – Suche nach vorhandenen Orientierungspunkten ausgeführt wird. Sahls Identitätsentwurf spiegelt sich seit seinem Debüt als Theaterkritiker mit eigenen literarischen Ambitionen im Jahr 1925 in 1

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Jüdische Identitäten in Mitteleuropa. Literarische Modelle der Identitätskonstruktion. Hg. von Armin A. Wallas unter Mitwirkung von Primus-Heinz Kucher, Edgar Sallager und Johann Strutz. Tübingen: Niemeyer 2002 (Conditio Judaica; 38), S. 5. Ebd. Die Zitate sind dem Vorwort des Herausgebers, S. 5 und 6, entnommen. Ebd., S. 6.

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dem, was er tut, und das heißt vor allem: in dem, was er schreibt.4 Bis 1933 agiert er als großstädtischer Intellektueller mit einer publizistischen Zukunft und literarischen Ambitionen, am linken politischen Spektrum orientiert, der Entwicklung der neuen Medien und der Massenkultur in kritischer Aufmerksamkeit zugewandt und zugleich mit Spürsinn für die zukunftsträchtigen literarischen Entwicklungen ausgestattet. Die jüdische Tradition, die schon in seiner Familie nicht mehr gepflegt wird, ist ihm fremd geworden, ohne dass er das als Verlust empfände.5 Anders als etwa bei Manès Sperber hat Sahls Politisierung keinen jüdisch-messianischen Hintergrund.6 In den Auseinandersetzungen im Exil um den Stalinismus trennt er sich von den linksorientierten Kollegen und Freunden. Sein eigener Weg beruht auf einer neuen Selbstdefinition: Er wandelt sich zum auf sich allein gestellten Totalitarismuskritiker und Antikommunisten – und das mitten in der Hochkonjunktur der antifaschistischen Volksfront – sowie zum erkenntnistheoretischen Skeptizisten und zum Moralisten einer demokratischen Ethik des pluralistischen Hinterfragens; diese Wende beschreibt er selber als Selbstentdeckung und Selbstbefreiung eines Moralisten, der sich zu einem kompromisslosen Universalismus des moralischen Wertens entschließt.7 Wenn ihm ein nationales oder ethnisches Kollektiv nahesteht, dann ist es nicht etwa die Gemeinschaft der Juden, sondern die der Deutschen. Nicht nur im Exil, sondern gerade in der ersten Nachkriegszeit denkt, urteilt und schreibt Sahl als deutscher Patriot. Das eindringlichste der vielen einschlägigen Dokumente ist vermutlich das Hörspiel Urlaub vom Tod, 4

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Zu Sahls Biographie vgl. Sigrid Kellenter: Hans Sahl. In: Hans Sahl: Umsteigen nach Babylon. Erzählungen. Mit einem Vorwort von Claudia Steinberg und einem biographischen Aufsatz von Sigrid Kellenter. Zürich: Ammann 1987, S. 135-173; Bernhard Spies: Hans Sahl. »Bruder im Zweifel«. In: Hans Sahl. Eine Würdigung. Bearb. von Thomas Daum. Landau: Pfälzische Verl.-Anst. 1994 (Schriften zur Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz; 1), S. 25-60. Vgl. den Bericht von einem Besuch in der Synagoge im ersten Band seiner Autobiografie: »Ich trat ein in eine Welt, auf die ich nicht vorbereitet war. Zu viele Menschen in einem viel zu engen Raum, zuviel Geheimnis um einen Gott, der dieses Geheimnis nicht nötig hatte. Ich hatte das Gefühl, zu stören, aber das war natürlich Einbildung. Was mich am meisten befremdete, war der Umstand, daß die Leute während des Gottesdienstes ein- und ausgingen oder kleine Gruppen bildeten und sich laut unterhielten, während andere, vor allem die in den vorderen Reihen, in inbrünstigem Gebet ihre Köpfe wiegten nach altem jüdischem Ritual.« Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Hamburg, Zürich: Luchterhand 1990, S. 32. Vgl. Hans Otto Horch: »Messianische Zuversicht«. Aspekte jüdischen Geschichtsdenkens im Werk von Manès Sperber. In: Wallas (Hg.), Jüdische Identitäten in Mitteleuropa (wie Anm. 1), S. 187-213. Vgl. Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart: Metzler 1991, S. 132f. Schon Ende der 1930er Jahre zeigt Sahls Position viele Ähnlichkeiten zu den Ansichten eines österreichischen Exilanten in Australien, eines gewissen Karl Popper, den damals noch niemand kennt, auch Hans Sahl nicht.

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das Sahl 1942 verfasst.8 Die Bedeutung, die seit 1945 dem zu Kriegsende in vollem Umfang aufgedeckten Völkermord an den Juden zuerkannt wird, bringt ihn in eine gewisse Verlegenheit, weil er im Verweis auf den Völkermord als das Verbrechen der Nazis und der Deutschen eine Unterstützung der Kollektivschuld-These sieht, die er vehement bekämpft. Längere Zeit glaubt er fest daran, dass die Kollektivschuld-Theorie auf eine kommunistische Verschwörung zurückgehe.9 Die ersten Versuche, einer eigenen jüdischen Identität nachzuspüren, unternimmt Sahl im Alter von 75 Jahren, rund zwanzig Jahre nach seiner Rückkehr in das US-amerikanische Exil, das er einer unglücklichen Remigration in die Bundesrepublik Deutschland vorzieht. Diese Versuche sind nicht in Sahls Autobiografie dokumentiert,10 sondern in zwei Dramentexten. Hausmusik. Eine Szenenfolge wurde 1977/78 geschrieben und auch einige Male aufgeführt. Das Stück hat eine Fortsetzung in einem weiteren Drama, Rubinstein oder der Bayreuther Totentanz, etwa 10 Jahre später verfasst.

Hausmusik. Eine Szenenfolge Das Stück ist ein psychologisches Drama nach dem Vorbild von Thornton Wilders Bewusstseinsdrama.11 Die zentrale Figur ist ein Mann jüdischer Her8

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Das kurze Hörspiel ist verfasst, um amerikanischen Hörern die Denkungsart der Deutschen unter Hitler zu erläutern und um Verständnis für sie zu gewinnen. Darin sagt Herr Müller, an dieser Stelle ersichtlich Sprachrohr des Autors: »Wir sind alle Gefangene. Deutschland ist ein einziges Konzentrationslager.« Der Text ist veröffentlicht in: Deutsches Exildrama und Exiltheater. Akten des ExilliteraturSymposiums der University of South Carolina 1976. Hg. von Wolfgang Elfe u. a. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 3. Bern u. a.: Peter Lang 1977, S. 151-160, Zitat S. 159. Die expliziteste Äußerung dieser Auffassung formuliert Sahl in einem Brief an Hans Werner Richter. Vgl. Hans Werner Richter: Briefe. Hg. von Sabine Cofalle. München, Wien: Hanser 1997, S. 118. Zur Bedeutung dieser Interpretation für Sahls Einschätzung der deutschen Nachkriegsgesellschaft vgl. Bernhard Spies: Hans Sahl. Remigration als doppeltes Exil. In: Irmela von der Lühe/Claus-Dieter Krohn (Hg.): Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945. Göttingen: Wallstein 2005, S. 153-168. Die beiden autobiografischen Bücher entstehen später als Hausmusik, bringen im Hinblick auf die Frage der jüdischen Identität nichts Neues mehr und sind auch weniger plastisch als die Theatertexte. Dass solche Versuche nicht nur in den autobiografischen Äußerungen, sondern auch in der Lyrik von Hans Sahl keine Rolle spielen, zeigt Momme Brodersen: Schreiben nach Auschwitz. Hans Sahl. In: Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse 14 (1994), H. 2, S. 5-12. Dieser Dramentypus war Sahl aus seiner umfangreichen Tätigkeit als Übersetzer zeitgenössischer amerikanischer Theatertexte vertraut. Das erste von Sahl übersetzte Drama war Thornton Wilders Our Town. Es folgten zahlreiche Übersetzungen von Theaterstücken nicht nur von Wilder, sondern auch von Maxwell Anderson, John

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kunft, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in das Haus seiner Kindheit und Jugend in Berlin zurückkehrt. Um diese Figur sind Szenen arrangiert, die Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter des Heimkehrers vergegenwärtigen, jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in einer Anordnung, die dessen innere Bewegung wiedergibt. Der Mann tritt darin teils als Akteur auf, teils bleibt er außerhalb der Szene, kommentiert sie und agiert als Spielleiter, wie man ihn aus Wilder-Dramen kennt. Sahl hat eine Vorbemerkung an die Adresse der Regie verfasst, in der er verlangt, dass die szenischen Interaktionen, Dialoge, Traumgesichte und inneren Monologe als »ein leichtes, buntes Gewebe von Szenen« aufgeführt werden sollen, durch das der dunkle Hintergrund »immer wieder durchschimmern müßte«.12 Der ›Stoff‹ des Stückes – die Personen, ihre Konstellationen und Konflikte, das soziale Milieu, die große Linie der individuellen Schicksale – sind Sahls eigener Biografie entnommen. Kindheit und Jugend spielen in einer wohlhabenden Familie. Beide Elternteile sind jüdischer Herkunft, deren religiöse und kulturelle Zusammenhänge aber auf einige äußerlich-floskelhafte Reste reduziert sind. Die Eltern sind deutsche Patrioten bürgerlicher Bildung, Musikfreunde, enthusiastische Liebhaber Richard Wagners. Gerade im Hinblick auf die psychologischen Spannungen zwischen den Geschlechtern und Generationen darf die Familie als ein Musterfall einer bildungsbürgerlichen Kleinfamilie in Deutschland gelten. Die Mutter bevorzugt den Sohn gegenüber der Tochter wie gegenüber ihrem Mann, um diesen eifersüchtig zu machen, der Vater hält es mit der Tochter analog, bis der Sohn sich dem ödipalen Generationenkonflikt verweigert,13 auf Distanz zur vereinnahmenden Mutter geht und seine ganze Liebe der Schwester zuwendet. Die Frage nach einer lebensentscheidenden Bedeutung der jüdischen Herkunft wird dieser Kleinfamilie zunächst von außen, durch den militanten Antisemitismus der Nationalsozialisten, gestellt. Ihm sind – in Hausmusik wie in Sahls Vita – die Eltern zum Opfer gefallen. Zu diesen Personen gesellen sich Figuren wie der skeptische Herr Kleemann, ein Herr Bukofzer, das Gespenst eines im

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Osborn, Tennessee Williams und Arthur Miller, um nur die prominentesten zu erwähnen. Mit Thornton Wilder verband Sahl außerdem eine persönliche Freundschaft. Die Übersetzungen sind nachgewiesen in: Gregor Ackermann/Momme Brodersen: Hans Sahl. Eine Bibliographie seiner Schriften. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1995, bes. S. 232-239. Hans Sahl: Hausmusik. Eine Szenenfolge. Vervielfältigtes Manuskript. Bad Homburg: Stefanie Hunzinger Bühnenverlag 1980, S. 5. Zitate aus diesem Text werden fortan im Fließtext in runden Klammern nachgewiesen. »Der Mann«, der innerhalb der Familie der Sohn ist, mischt sich in seiner Funktion als Spielleiter sozusagen von außen in eine Familienszene, in der dieser ödipale Konflikt durchgespielt wird, mit folgenden Worten ein: »Halt! Nicht weiter. Hört auf, eure Probleme auf unserem Rücken auszutragen. Sie ist auf Marianne eifersüchtig, weil er in seine Tochter verliebt ist, und sie ist in mich verliebt, um ihren Mann eifersüchtig zu machen. Aber ich will ihre Liebe nicht. Ich will nicht, daß mein Vater mich hasst, ich will von ihm geliebt werden.« (S. 51)

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KZ Ermordeten, der zu Lebzeiten ein deutsch-patriotischer Jude war, und schließlich der Rabbiner Gottschalk, der sich einmal als orthodoxer, an die Lustspielfigur des komischen Alten gemahnender Rabbi gibt, ein andermal als moderner jüdischer Geistlicher. Es sind vor allem diese Figuren, die in den die Familiengeschichte unterbrechenden und ergänzenden Traum-Gesichten und den fantastisch-allegorischen Szenen den Gedanken ventilieren, dass das Jüdischsein von Anfang an mehr und anderes sei als eine von Außen vorgenommene feindliche Definition, dass es vielmehr einen positiven Sinn aufweise. Die Suche danach findet man auf zwei Ebenen. Zum einen kreisen viele Dialoge und Gedanken um den Nachweis, dass die Assimilation den Juden unangemessen und in der Konsequenz schädlich sei. Zum anderen forschen die Figuren nach einem Inhalt dessen, was genuin jüdisch sei. 1. In mehreren Anläufen besprechen die Figuren die Lebensweise, die viele Juden von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Maßgabe des jeweiligen Rechtssystems wählten, kritisch unter dem Stichwort der Assimilation. Sie betrachten sie nicht mehr als eigenständig entwickelte, von außen höchstens eingeschränkte Identitätsfindung, sondern als Anpassung an etwas Fremdes, welche die eigene ›Art‹ – worin immer sie bestanden haben mag – überformte, wenn nicht zerstörte. Plausibilität gewinnt die Hypothese vom prinzipiell negativen Verhältnis von Juden zur deutschen Lebensweise, die sie übernommen haben, allerdings nur durch die Verweise darauf, dass den Juden die bereits gewährte Einordnung immer wieder und durch die Nazis endgültig bestritten wurde. Dafür steht die Figur des Bukowzer, der Wiedergänger eines im KZ ermordeten Juden, der zu Lebzeiten deutscher Patriot war, im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet wurde, seine Gebete in deutscher Sprache verrichtete, Cello spielte, den Sabbath am Sonntag beging und der, unbeirrt selbst durch seine Ermordung, immer noch die Assimilation als den Erfolgsweg der Juden zur Sicherung ihres Überlebens ansieht, hätte es nur die Juden nicht gegeben – diejenigen, die an ihrem Jüdischsein offenkundig festhielten, und die kritischen Intellektuellen. Nein, Herr Rosengarten, wir hatten uns nichts vorzuwerfen, wir haben unsere Pflicht getan als deutsche Staatsbürger und Patrioten. Uns konnte man nichts vorwerfen, im Gegensatz zu Ihnen […] Leuten wie Ihnen haben wir es zu verdanken, daß dem Deutschen [sic] Volk schließlich die Geduld ausging und daß man uns alle in einen Topf warf, ohne einen Unterschied zu machen. […] ich war staatserhaltend. Ich war in erster Linie Deutscher und in zweiter Linie Jude. Mir konnte nichts passieren. (S. 28f.)

Diesen Spieß dreht der Rabbi um: Dem Willen zur Einfügung in die deutsche Lebensweise wie auch der offenkundig großen Fähigkeit dazu – auch hier spielt schon das Argument eine Rolle, dass niemand die deutsche Kultur besser verstanden habe als die Juden – wirft er vor, dass dergestalt die Juden sich selber zu Mitwirkenden an ihrer Vernichtung gemacht hätten.

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2. In dieser Kritik an der Assimilation steckt das Konzept einer ursprünglichen, voraussetzungslos gegebenen Identität der Juden und damit auch die Frage, worin diese Identität bestehen solle. Die Impulse, eine solche zu bestimmen, kommen vom Rabbiner, der auf die Tradition der jüdischen Religion bzw. Religiosität verweist. Den modernen, assimilierten Juden, die erklären, mit den religiösen Ritualen nichts mehr anfangen zu können, hält er entgegen: Das Ritual, das Sie abschaffen wollen, ist eine Metapher, ein Gleichnis, ein Anhaltspunkt. Es ist ein Kompaß, der die Himmelsrichtung angibt, wenn wir den Weg suchen. Ich trage diesen Kampf seit frühester Kindheit in mir. Und es sind nicht nur die frommen Gesänge […] Nennen sie es Ehrfurcht vor dem Unvergänglichen in uns oder auch das Gefühl, zu etwas zu gehören, das vor uns da war und nach uns sein wird. Ich werde es nie vergessen. Und was wird Ihr Sohn in sich tragen, was er nie vergessen wird? Ein Fragezeichen. (S. 68)

Um zu bestimmen, was die Eigenheit der Juden nach innen ausmachen und sie nach außen unterscheiden könnte, wird hier die Gewissheit eines religiösen Glaubens angeführt, wenn auch in einer denkbar abstrakten Form, die jede Religion aufweist. Auch alle anderen Versuche, eine jüdische Identität durch Reflexion auf die Eigentümlichkeiten der jüdischen Religion zu finden, weisen die gleiche Bewegung in die Abstraktion auf: Ach mein Sohn, was weißt Du von den Schönheiten des Judentums. Du stößt dich an Äußerlichkeiten, die Dir fremd und sonderbar vorkommen, aber Du weißt nicht, was das Judentum in Wahrheit ist. Es ist die Einheit von Geist und Wirklichkeit, von Idee und Tat. (S. 71)

Was durch solche Definitionsversuche zustande kommt, hat weniger den Status einer Identitätsbeschreibung als vielmehr den einer Umschreibung von Anforderungen, die theoretisch an eine plausible Sinnidee zu stellen sind – sofern die geistige Einheit von Wirklichem angesprochen ist –, in praktischer Hinsicht aber – sofern die Einheit von Idee und Tat angeführt wird – von einem konsequenten Moralismus erfüllt werden. Die Werthaltung, die durch diese Versuche angesprochen wird, bleibt eine universalistische, die für die Beschreibung der spezifischen Sittlichkeit einer Ethnie oder eines vergleichbaren Kollektivs wenig bietet. Aus dem Dilemma einer Suche, die von der Existenz ihres Objektes weiß, aber keine Kenntnis von einer spezifischen Eigenschaft desselben hat, kommt auch der Schluss des Dramas nicht heraus, obgleich er die Judenvernichtung durch den Nationalsozialismus ausdrücklich thematisiert. Die vorletzte Szene versetzt alle jüdischen Fraktionen – die aus Überzeugung Angepassten, die Berechnenden, die jungen Leute, die sich von den Nichtjuden ihrer Generation in keiner Hinsicht mehr unterscheiden können – in das Vernichtungslager. Hier erkennt der Jüngste, Felix R., der nicht mehr wusste, was koscher ist, sein Judentum. Es ist, sagt er, »etwas sehr Wichtiges. Es darf nicht ausradiert werden aus dem Bewußtsein der Menschen.« (S. 129)

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Ganz offenkundig kommt es Hausmusik nicht darauf an, eine befriedigende Antwort zu finden, sondern die Frage aufzuwerfen. Sahl will nicht etwa einen Fund präsentieren, sondern die Notwendigkeit einer Suche postulieren. Dass es eine Antwort gibt, wird dergestalt zum Postulat des Verfahrens der Suche. Insofern ist die Gewissheit der jüdischen Identität von den partikularen Antworten unabhängig gemacht und den Einwänden gegen bestimmte Identitätsfestlegungen enthoben. Sie hat so etwas wie Unanfechtbarkeit gewonnen. Deren Preis ist indessen nicht zu übersehen, nämlich die Vagheit des Inhalts, ohne den keine Identitätsbestimmung auskommt. Es ist diese Vagheit, die Sahls zweites Drama über das Jüdischsein ein Stück weit überwindet.

Rubinstein oder Der Bayreuther Totentanz. Eine Antioper in zwei Akten Das Stück entstand Ende der 1980er Jahre; es ist bisher noch nicht aufgeführt. Die Weise, in der es die in Hausmusik entfaltete Problematik fortschreibt, hat mehr mit einer Oper als mit jenem Kammerspiel aus den späten 1970er Jahren gemein. Zwar handelt es sich auch hier um eine nicht handlungslogisch verbundene, sondern nach theoretischen Gesichtspunkten montierte Szenenfolge; auch hier gibt es einen Spielleiter, der Einführungen und Kommentare spricht, Zeitsprünge überbrückt und sich daneben auch ins Geschehen einmischt. Aber in der Form des Bewusstseinstheaters wird hier ein dramatischer historischer Stoff aus der Geschichte des Antisemitismus auf die Bühne gebracht und mit stellenweise hohem Pathos verhandelt. Neben bzw. unter dem Spielleiter spielen im Stück nicht nur »der Autor« – »Ich bin das Gewissen der Nachwelt«14 – als selbstständige Dramenfigur, sondern vor allem authentische Personen aus der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen der Komponist Richard Wagner, dessen wichtigster Mitarbeiter in allen musikalischen Angelegenheiten und Gehilfe beim Komponieren, der jüdische Musiker Rubinstein, sowie Hermann Levi, Dirigent jüdischer Herkunft, dem der Komponist einige seiner erfolgreichsten Uraufführungen verdankt. Auf der Bühne wird zunächst die historische Zusammenarbeit zwischen Rubinstein und Wagner vorgestellt, um sogleich zu einer Diskussion über Wagners Schrift Die Juden in der Musik überzugehen, die von den Theaterfiguren Rubinstein und Wagner, dem Spielleiter und einer Figur aus dem Publikum geführt wird (R 23-25). In die Dialoge werden Zitate aus Cosimas Tagebüchern, die der Autor vorliest, eingeflochten. Es handelt sich um treffend ausgewählte Äußerungen, die den Antisemitismus Wagners in seinem ganzen Aberwitz doku14

Hans Sahl: Rubinstein oder Der Bayreuther Totentanz. Eine Antioper in zwei Akten, Bad Homburg: Stefanie Hunzinger Bühnenverlag 1990, S. 19. Zitate aus diesem Bühnenmanuskript werden im Fließtext in runden Klammern mit dem Buchstaben R und einer Ziffer für die Seitenzahl nachgewiesen.

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mentieren (R 26-29). Dazu kommen ein kurzes Statement eines Professors aus dem Publikum über die parallele Entwicklung von Judenemanzipation und jüdischem Selbsthass am Beispiel Otto Weininger (R 38) sowie die Darstellung einer missglückten Affäre Rubinsteins mit einer Sängerin aus dem Elsass. Eine wichtige Szene spielt beim Abendessen nach der Uraufführung des Parzival am 26.07.1882 in Bayreuth – das genaue Datum wird vom Autor ausdrücklich angegeben; sie endet damit, dass Wagner dem Dirigenten Levi den Taktstock wegnimmt und sich an die von Rubinstein angebetete Sängerin heranmacht. Es folgen Szenen in Venedig, die den Karneval, eine Diskussion mit Rubinstein über das Deutsche und Wagners Tod auf die Bühne bringen. Der Tod des Komponisten, den die jüdischen Figuren bedingungs- und schrankenlos verehren, wird zum Anlass einer Traumszene, in der Rubinstein sich mit dem Volk Israel und mit Ahasver, dem ewigen Juden, über den »Fluch des Auserwähltseins« (R 68) sowie über den richtigen Tod teils verständigt, teils entzweit. Rubinstein: [...] denn ich bin nicht Ahasver, ich bin Parzival, die Wiedergeburt der Unschuld aus der Verdammnis, die Religion von morgen... (Musik: Karfreitagszauber). (R 69)

Diese Szene ist die Vorwegnahme von Rubinsteins Selbstmord, der wiederum ausdrücklich als Präfiguratio des Massenmordes an den Juden kenntlich gemacht wird (R 70). Das Finale spielt in einer Schweizer Berglandschaft. Dort treten Nietzsche, Rubinstein, der Autor und Hitler auf, vier glühende Verehrer Wagners. Der Philosoph erläutert, inwiefern die Wagnerfreundschaft dessen Verehrer teuer zu stehen komme, Hitler legt dar, inwiefern er vollkommen von Wagner inspiriert sei, der Philosoph erklärt, inwiefern Wagner doch mehr und besser als Hitler gewesen sei; Rubinstein deklariert: »Ich liebte Richard Wagner, ich hätte mich selbst mehr lieben sollen« und schießt sich eine Kugel durch den Kopf. »Das Orchester setzt ein, Hitler dirigiert das Finale der Götterdämmerung. Die Berge stürzen ein, Walhalla geht in Flammen auf. Dunkelheit.« (R 75) Den Ausklang des Dramas bildet aber nicht die pathetische Apokalypse, sondern ein nachdenkliches Schlusswort des Autors, der die in der »Antioper« bebilderten Thesen noch einmal als Fragen formuliert. Das große Paradox, welches das Stück in Szene setzt, besteht in der bedingungslosen Hingabe der jüdischen Figuren an den Antisemiten Wagner. Sie ist auf beiden Zeitebenen dokumentiert. Für die Juden der Vergangenheit stehen Rubinstein, der für Wagner unschätzbar nützliche Gehilfe beim Komponieren, und der Dirigent Levi. Sie führen unentwegt vor, wie nützlich und voller Verständnis die Juden für den Komponisten sind, der ihre Unterstützung in Anspruch nimmt, dabei aber nichts anderes im Kopf hat als den Hass auf sie.15 15

Die bedingungslose Hingabe dieser beiden Musiker an Wagner wie auch der Umstand, dass sie dessen Antisemitismus grundsätzlich verständlich fanden und sich einzelnen antijüdischen Verdikten ausdrücklich anschlossen, stellen keine Erfindung

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Die Juden der Gegenwart vertritt der Autor, der ein schwerwiegendes Bekenntnis abgibt: Ich bin ratlos. Hier ist eine Musik, die mich betört, und den Mann, der sie geschrieben hat, verstehe ich nicht, mehr noch, er mißfällt mir. Ich finde ihn abstoßend, und doch verdanke ich einen Teil meiner Menschlichkeit seiner Musik. (R 37)

In diesem Sinn ist der prototypische deutsche Antisemit, Richard Wagner, keineswegs als Monster gezeichnet, sondern als ambivalentes Genie, das in seinem Rassenwahn nur ein Juden und Deutsche verbindendes Paradox verkörpere. Im Bayreuther Totentanz diskutiert Wagner seine Forderung nach physischer Vernichtung der Juden mit dem Menschen, mit dem er alles bespricht, dem Juden Rubinstein, und dieser gibt ihm recht: Ich stimme Ihnen zu, es gibt keine Alternativen mehr, ich stelle mich dem Untergang zur Verfügung, wir sind am Ende unsrer Geschichte angelangt. Wir geben das Zeichen der Erleuchtung an euch weiter. (R 19)

In dieser ungeheuerlichen Interpretation des rassistischen Vernichtungswillens als Re-Aktion auf eine kollektive Eigentümlichkeit der zur Auslöschung Vorgesehenen erhält das Kollektiv der prospektiven Mörder nicht etwa ein Kainsmal, sondern die Auszeichnung eines auserwählten Volkes. Auch wo Rubinstein den Antisemitismus nicht unumwunden ins Recht setzt, sondern ihn für kritikabel ausgibt, fällt seine Kritik überaus verständnisvoll aus: Wie unsicher muß der Deutsche sein, wie ungewiß seiner selbst, wenn er sich so fürchtet vor dem, was anders ist, vor dem Unbekannten, dem Fremden, und wie sich diese Furcht umsetzen muß in das Gegenteil, wie derjenige, der sich angegriffen fühlt, selbst zum Angreifer wird. Die Welt fürchtet sich vor den Deutschen, die sich vor der Welt fürchten, sie sehen hinter jeder Mauer, jeder Grenze den Feind, sie müssen überfallen, bevor er sie überfällt, sie müssen ihm zuvorkommen, sie machen Kriege, nicht weil sie Kriege lieben, sondern weil sie Angst vor dem Frieden haben, denn der Friede das ist Angst, Unsicherheit, Bedrohung. Warum glauben die Deutschen so wenig an sich? Sie wissen nicht, wie sehr sie geliebt werden, sie wollen es nicht wissen, sie lieben das Tragische, weil sie mit dem Tod einen Bund für’s Leben geschlossen haben. Erlösung dem Erlöser! Wovon wollen sie eigentlich erlöst werden? Von sich selber. O, wie gleichen sie doch den Juden, die mit erhobenen Händen umhergehen und betteln: liebt uns, liebt uns! Auch Sie sind ein Ruheloser, ein Bettler. (R 60f.)16

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von Hans Sahl dar, sondern entsprechen der Geschichte. Vgl. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. VI. Emanzipation und Rassenwahn. Dt. Übers. von Rudolf Pfisterer. Worms: Heintz 1987, S. 248-252. Wagner gibt Rubinsteins Behauptung, die Deutschen führten lauter Präventivkriege gegen bloß eingebildete Gegner, uneingeschränkt recht, beharrt aber dennoch darauf, dass die Deutschen der alten Rasse nicht nur physisch, sondern auch moralisch überlegen seien. Der Beweis für diese These lautet lakonisch: »Beethoven. Sonate 111« (S. 61).

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Rubinstein bezieht den Vernichtungswillen, der gegen ihn gerichtet ist, hier nicht auf das eigene Kollektiv, sondern auf das Kollektiv derer, die ihren Willen zur mörderischen Tat bekunden, und entwickelt eine Vorstellung von nationaler Psyche, die alle Deutschen verbinden solle. Dieser Volksseele ist einerseits so gut wie alles zuzutrauen: Die Deutschen führen Präventivkriege gegen Gegner, deren Feindschaft sie sich bloß einbilden, und kennen in Kunst und Leben nichts Höheres als Tod und Untergang. Diese pathologische Volksseele stempelt die Deutschen aber nicht einfach zu Ungeheuern, sondern gibt für Rubinstein den Anlass ab, sich um das rechte nationale Selbstbewusstsein der Deutschen zu sorgen. Darin nämlich, dass deren kollektive Selbst-Wertschätzung labil und von äußerer Bestätigung abhängig sei, sollen Juden und Deutsche einander bis zum Verwechseln ähneln. So kommt es, dass Rubinsteins Kritik am deutschen Rassismus darauf hinausläuft, die Deutschen und die Juden als Schicksalsgemeinschaft zu zeichnen. Das Entwerfen jüdischer Identität läuft in Sahls Rubinstein auf die Dialektik eines mehrfach in sich selber gespiegelten Paradoxes hinaus. Dass es einen zugrundeliegenden Klartext gibt, formuliert das Vorwort, das mit der Überschrift »Anweisungen für die Schauspieler« überschrieben ist. Rubinstein, und mit ihm Hermann Levi, sind davon überzeugt, daß das Judentum am Ende seiner Geschichte angekommen ist, daß es nur noch eine Lösung gibt – die Flucht in die deutsche Kultur, die sie als wesensverwandt empfinden, die totale Assimilation, während Wagner ihnen sogar diese Alternative abspricht und selbst die Möglichkeit einer physischen Ausrottung nicht ausschließt. Richard Wagners fanatischer Judenhaß hat durchaus etwas Pathologisches, doch er stand im Einklang, Gobineaus in Frankreich und Pastor Dörings in Deutschland. Mit der zunehmenden Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert wurde zugleich die Rassenlehre als Antidot gegen die Verleihung der Bürgerrechte an eine verhaßte Minderheit entwickelt. Die Uraufführung des Parzifal fand etwa ein Jahrzehnt nach der Gründung des Deutschen Reiches statt. Die Arbeit an ihm fällt in eine Zeit, wo die Deutschen im Begriff waren, sich als Nation neu zu definieren. Insofern ist Richard Wagners Antisemitismus ein Ausdruck einer ins Neurotische verdrängten Sucht nach nationaler Identifizierung. »Ihr seid zu früh in unsere Kultur eingedrungen«, ruft er Rubinstein zu, und dieser Satz, nicht von mir erfunden, sondern dokumentarisch belegbar, reflektiert, worum es in diesem Stück unter anderem geht: Die Selbstauslöschung der Juden als ein unfreiwilliger Beitrag zu einer Politik, die ihre totale Vernichtung programmierte. (R 5)

In dieser programmatischen Erklärung äußert sich Sahl in politischer wie historischer Hinsicht konkreter als im Drama. Er unterscheidet die Rasselehre des 19. Jahrhunderts, die den Juden nicht nur in Deutschland und Frankreich die Fähigkeit absprach, dem Staatsvolk dieser Nationen anzugehören, von früheren Antisemitismen. Den modernen Rassismus führt er auf den Nationalismus der Staaten zurück. Den Grund für den Ausschluss der Juden aus der je eigenen ›Art‹ erblickt er im Fanatismus derer, die der zivilen Grundlage ihres

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Staats am liebsten die Qualität einer von Natur aus gegebenen, entsprechend absoluten Unterordnung aller unter das nationale Ganze verleihen und die deshalb die Verleihung der Bürgerrechte auf diejenigen beschränken wollten, deren Einordnung sie die bedingungslose Verbindlichkeit eines Blutszusammenhangs zuerkennen mochten. Sahl thematisiert also ganz bewusst den polemischen Gegensatz, den moderne Nationalisten bei der Gründung ihrer Nation mit der Frage eröffnen, welche von den auf ihrem Territorium existierenden Menschen überhaupt die Gelegenheit erhalten sollten, dort eine eigene Existenz zu fristen, und welchen diese Gelegenheit zu bestreiten sei. Im gleichen Zug formuliert Sahl auch, wie er diesen Gegensatz interpretiert wissen will. Er will beide Seiten festhalten: Einerseits sieht er die historisch-politische Basis, auf der die Juden von außen in ausgrenzend feindlicher Absicht zu einem ethnischen Kollektiv zusammengeschlossen werden – und das gerade in einer historischen Situation, in der sie sich de facto in die Gesellschaft hineinbegeben und bald auf allen Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie anzutreffen sind –, andererseits schließt er sich dem Versuch an, die negative Kollektivierungsvorstellung ›die Juden‹ ins Positive zu wenden und den feindlichen Ausschluss zur Basis einer erneuten jüdischen Selbstidentifikation zu erheben. Sahl will die beiden Seiten dieses Gegensatzes deshalb gegeneinander festhalten, weil er zu der Überzeugung gelangt ist, dass sie in der speziellen Geschichte der deutschen Juden auf eine fatale Weise zur Deckung gekommen seien. Rubinstein oder Der Bayreuther Totentanz will ein historisches Geheimnis enthüllen. Es besteht darin, dass in Sahls Augen die Juden in Deutschland ihr jüdisches Wir dadurch definiert haben, dass sie die vom Rassismus des deutschen Volkes vorgenommene Erniedrigung und Entrechtung der Juden aus eigenen freien Stücken akzeptierten. Sie sollen das stolze Selbstbewusstsein entwickelt haben, zu Recht entrechtet und aus gutem Grund verfolgt zu werden. Das Bewusstsein, das in Sahls Auffassung die Juden in Deutschland wie eine Natureigenschaft, mithin auch ohne ihr bewusstes Wissen, verband, ist eine »Selbstauslöschung« der Juden als Juden. Und wenn diese Juden, wie Sahl selber im größten Teil seines Lebens, sich gar nicht mehr als Juden betrachteten, dann ergibt sich daraus keine Entkräftung der These von der sich selbst auslöschenden Selbstdefinition der Juden, sondern der letzte, stichhaltigste Beweis für sie. Das ist Sahls paradoxe Variante der These vom jüdischen Selbsthass. Eine intuitive Version liegt wohl auch dem früheren Drama Hausmusik bereits zugrunde. Sie wird erkennbar an der Verschiebung der Kritik an der jüdischen Assimilation vom pragmatischen Einwand, sie leiste nicht die erhoffte Neutralisierung des Antisemitismus, hin zum Vorwurf, die Assimilation leiste einen aktiven Beitrag zur Vorbereitung der Judenvernichtung, da der Schönheitswettbewerb in Sachen deutschnationaler Vortrefflichkeit irgendwann die Ausschaltung der in dieser Konkurrenz überlegenen Juden provozieren müsse. Im späteren Drama Rubinstein radikalisiert Sahl diese Auffassung. Er steigert den

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ursprünglichen Vorwurf, die Juden hätten unwillentlich an der Vorbereitung ihrer Vernichtung mitgewirkt – so noch wörtlich in den »Anweisungen für die Schauspieler«, in denen die »Selbstauslöschung« ausdrücklich als »unfreiwilliger Beitrag zu einer Politik, die ihre totale Vernichtung programmierte« (R 5), bezeichnet wird – im Verlauf der opernhaft-theatralischen Parabel des Stücks in die Absurdität, die Juden hätten wissentlich die Behauptung von der Notwendigkeit ihrer Vernichtung zum Kern ihrer kollektiven Selbstdefinition erhoben, und sie hätten ihr willentlich zugestimmt. Sahl fürchtet dabei nicht, dass er – seinerseits unfreiwillig – groteske Karikaturen einer jüdischen Selbstfindung kreiert habe. Vor dieser Anfechtung bewahren ihn einige Grundsicherheiten, die er als bekennender Moralist bei vielen Gelegenheiten hochgehalten und verteidigt hat; sie sind auch den Dramentexten zu entnehmen. Die grundsätzliche Annahme, jedes Individuum sei in einen nationalen Kollektivismus mit unausweichlichen Kollektiveigenschaften einbezogen, ist Sahl vor jeder Begründung und jenseits jeglicher Problematisierung selbstverständlich. Der deutlichste Beleg dafür liegt in der Konzeption der Wagner-Figur vor: Der Komponist steht zuerst für ganz unverdächtige Bestrebungen, sich als Nation national definierte Kollektiveigenschaften zuzusprechen, darunter vor allem eine Kultur, die wesentlich Ausdruck der quasi-natürlichen Nationalmerkmale sein soll. Sodann repräsentiert Wagner das Misslingen dieser unschuldigen Anliegen, das in der Maßlosigkeit der Ausgrenzung aller nicht zum Deutschtum Zugelassenen schrecklich, für diese Maßlosigkeit aber selber nicht verantwortlich ist. In diesem Sinn erscheint der deutsche Komponist und Antisemit als gefährlich, zugleich aber kann ihm seine Gefährlichkeit nicht zum Vorwurf gemacht werden, sondern gilt als verständlich durch das übergroße Problem der deutschen Identitätsbildung. So erhält Wagner die Dimension einer tragischen Figur. Die jüdischen Figuren sind als die besseren Gegenbilder zu Wagners antisemitischer Selbstdefinition konzipiert. Wie die Deutschen leiden sie unter einer unsicheren kollektiven Identität. Im Gegensatz zu diesen haben die Juden es nicht nötig, die unzureichende Sicherheit ihrer kollektiven Identität zur feindlichen Ausgrenzung anderer auszugestalten. Stattdessen akzeptieren sie geradezu heroisch die Ausgrenzungserklärung des deutschen Nationalismus, begehen darin eine Torheit, gewinnen aber ein eigenes nationales Schicksal und eine durch nichts relativierte Würde. So versteht Sahl die jüdische Identität als Auszeichnung, auch wenn er ihren Inhalt nur als Superlativ von Qualitäten fassen kann, die traditioneller Weise als rassische Exzellenzkriterien der Deutschen beansprucht werden. Auch Sahl erkennt sie ihnen zu: Die jüdischen Figuren sind hoch musische Charaktere, die es an Kreativität mit Wagner, dem deutschen Komponisten schlechthin, durchaus aufnehmen können, so dass dieser sie wie niemand sonst als Mitarbeiter schätzt; es sind besonders sensible, perfektionistische, ausdrücklich auch besonders deutsche Figuren, die den Deutschen allenfalls voraushaben, dass sie – wie eine Regieanweisung ausdrücklich verlangt – ausnehmend gut aussehen (R 6). Im Grunde

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ist es dieselbe ›deutsche‹ Qualität, die ihnen zweimal zukommt: einmal als Kriterium des Einschlusses in das deutsche Kollektiv, das sie erfüllen, und einmal als gegen sie gekehrtes Kriterium gnadenlosen Ausschlusses.

Ein merkwürdiges Beispiel deutsch-jüdischer Identität An dieser Konstruktion ist nicht nur die bruchlose Übernahme kulturnationalistischer Geltungsansprüche aus deutscher Tradition bemerkenswert. Auffällig ist vor allem, dass Sahl die jüdische Identität von vornherein und ausschließlich als Verhältnis zur deutschen bestimmt. Seine Juden sind immer Juden deutscher Nationalität; ihr Identitätsproblem kann nur ein deutscher Jude haben, dem die Zugehörigkeit zum Kollektiv der Deutschen eine gewisse Tatsache ist, während die Zugehörigkeit zum Judentum ihm wie eine Hypothese erscheint, die er zwar mit Notwendigkeit aufstellen muss, deren Inhalt aber höchst unsicher ist. So nimmt sich die Identitätsproblematik aus der Perspektive der Figuren in beiden Dramen aus. Die Perspektive der Dramen geht darüber hinaus. Hausmusik bringt jüdische Traditionen aus der praktischen Lebensführung und dem religiösen Kult als mögliche Alternative zur Tradition der deutschen Kultur ins Spiel. Das Stück bemüht die Dialektik, dass jede Suche die Existenz des zu Findenden voraussetzt, und spricht damit der jüdischen Kultur die Potenz identitätsstiftender Inhalte zu: Einen Identitätspunkt, wie ihn die Figuren in der deutschen Kultur gefunden haben, können sie auch von der jüdischen erwarten. Das spätere Drama Rubinstein spitzt die Alternative zwischen deutscher und jüdischer Identität zu einem Gegensatz zu, indem es in der Figur Wagners den Antisemitismus zu einem Bestandteil der deutschen Kultur selber erhebt. Die nämliche Figur wird aber zugleich als kulturelle Ikone für die Vorzüglichkeit der Deutschen ausgestaltet; Sahl partizipiert hier völlig distanzlos an der kulturellen Überhöhung maßloser deutscher Geltungsansprüche, was er als deutscher Schriftsteller jüdischer Herkunft sich schuldig zu sein scheint: Gerade den Juden schreibt er nämlich zu, dass ihnen das Verständnis für und die Ehrfurcht vor den kultischen Bezirken deutscher Kultur näher liege als allen anderen. Sahl ist weit von einer Kritik an der kulturellen Überhöhung bedingungsloser Loyalität gegenüber der deutschen Nation entfernt. Er schließt sich ihr aber auch nicht einfach an, sondern verwendet sie instrumentell. Mit der Zuspitzung des Problems der jüdischen Identität in das Paradox, dass ihre Tragik wie ihre Würde in der Affinität zum unterlegenen Todfeind liege, konstruiert er ein unlösbares Rätsel. Damit nimmt er die Antwort auf die Frage nach der Identität in die Frage zurück. Die deutsche Identität, immer noch gewiss, wird auf den relativen Status einer möglichen Identität herabgesetzt, der Gedanke einer jüdischen Identität aber wird aus dem der Unmöglichkeit in den einer Möglichkeit promoviert. Dieses Verfahren mag für Hans Sahl, der beim Verfassen des Bayreuther Totentanzes im achten Jahr-

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zehnt seines Lebens stand, auch persönlich etwas Tröstliches gehabt haben. In seinem ganzen Leben, gerade im Exil nach dem Exil, blieb der Schriftsteller so unerschütterlich wie wenige seiner Generation stets ein deutscher Patriot. In der Logik der Parabel, auf die Rubinstein hinausläuft, erscheint dieser Umstand als Beweis gerade seiner jüdischen Identität.

Hanni Mittelmann

Deutsch-Jüdische Literatur im Nachkriegsdeutschland: Das Ende der Fremdbestimmung?

Seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich im Nachkriegsdeutschland eine deutsch-jüdische literarische und intellektuelle Kultur herausgebildet, die sich nach jahrzehntelangem Schweigen sichtbar in Szene setzte und damit das 1993 von Sander L. Gilman konstatierte Paradox der »intense visibility of the Jews (however defined) in contemporary Germany coupled with their inherent invisibility« allmählich aufzulösen begann.1 Dieser Prozess der Sichtbarwerdung der in Deutschland lebenden, sich schriftstellerisch betätigenden Juden geht Hand in Hand mit sich wandelnden Selbstdefinitionsversuchen und ist noch lange nicht abgeschlossen. Er drückt sich literarisch aus in ständigen Transformationen jüdischer Selbstbilder, die in einem spannungsvollen Verhältnis von Affinitäten und Differenzen zur deutschen Umwelt stehen2 sowie in einem Oszillieren zwischen potenten mythischen Bildern der jüdischen Geschichte, den fremdbestimmten Vorurteilsbildern antisemitischer Provenienz und neuen aus den gegenwärtigen jüdischen Erfahrungen entnommenen Bildern. Im Folgenden sollen die Entwicklungen dieser literarischen Selbstfindungsversuche der jüdischen Schriftsteller in Deutschland von den 1980er Jahren bis ins 21. Jahrhundert an Hand einiger exemplarisch ausgewählten Werke untersucht werden.

Ausbruch aus dem Angstghetto – die Zurücknahme der Deutungshoheit Bis in die 1980er Jahre traten die im Nachkriegsdeutschland lebenden Juden weder in der Politik noch in der Kultur in Erscheinung. Vor allem in der Literatur herrschte kulturelle »Friedhofsruhe.«3 Außer von Juden verfasste »Leidens- und Versöhnungsliteratur«4 gab es nichts, das diese »Friedhofsruhe« 1

2 3 4

Sander L. Gilman: Negative Symbiosis. The Reemergence of Jewish Culture in Germany after the Fall of the Wall. In: The German-Jewish Dialogue Reconsidered. A Symposium in Honor of George L. Mosse. Hg. von Klaus L. Berghahn und Peter Lang. New York, Washington u. a.: Peter Lang 1996, S. 207-232, hier S. 210. Siehe dazu auch ebd., S. 208. Rafael Seligmann: Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis. Hamburg: Hoffmann & Campe 1991, S. 130. (Im Fließtext zitiert als MbH, Seitenzahl.) Ebd., S. 131.

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störte. In seinem Buch Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis, das sich mit dem deutsch-jüdischen »Sonderverhältnis« im Nachkriegsdeutschland auseinandersetzt (MbH, S. 23), stellt der Politologe und Schriftsteller Rafael Seligmann die Frage nach dem Grund des »beredten Schweigen« der Juden im Nachkriegsdeutschland: »Warum verzichten Deutschlands Nachkriegsjuden ausgerechnet auf fiktives Schreiben?« fragt Seligmann und gibt sogleich die Antwort darauf: »die Abstinenz der Juden dieses Landes, ihre Wahrnehmungen und Gefühle literarisch zu offenbaren, ist [...] als Zeichen von Resignation und Angst zu werten« (MbH, S. 130). Angst vor den Antisemiten, die man nicht auf sich aufmerksam machen wollte, wie auch Angst davor, sich die Sympathien der Philosemiten zu verscherzen. Als den eigentlichen Katalysator für den Ausbruch aus diesem Angstghetto kann man wohl den Skandal um Rainer Werner Fassbinders Theaterstück Die Stadt, der Müll und der Tod ansehen, dessen Premiere an den Frankfurter Kammerspielen am 31. Oktober 1985 durch breit organisierte jüdische Demonstrationen vereitelt wurde. Für Deutsche wie für Juden signalisierte dieses Stück, dessen Hauptfigur »Der reiche Jude« hieß, das »Ende der Schonzeit«.5 Von der deutschen Seite her gesehen markierte die geplante Aufführung des Stücks die Enttabuisierung des Antisemitismus. Dies wurde vom Präsidenten der »Deutschen Akademie der darstellenden Künste« folgendermaßen vornehm umschrieben: Schließlich, so sein Appell an die jüdischen Gemeinden Deutschlands, »müsse es doch erlaubt sein, sie [die Juden] in die Darstellung politischer, sozialer und ökonomischer Widerspruchszusammenhänge einzubeziehen«.6 Von jüdischer Seite her wurde diese Forderung nach Enttabuisierung als Legitimierung eines wieder salonfähig gewordenen Antisemitismus interpretiert, was die erste jüdische Nachkriegsgeneration in Deutschland endlich das selbstauferlegte Schweigen durchbrechen ließ. Es beginnt nun eine Reflexion darüber, was es bedeutet, ein Jude im Nachkriegsdeutschland zu sein. Sie setzt eine Auseinandersetzung in Gang mit den fremdbestimmten Rollenzuweisungen und Identitätsmustern, die den jungen Juden von ihrer Umwelt angeboten wurden und die das Weiterwirken alter Modelle und Bilder aus der Vorkriegszeit reflektierten. »Wer Jude ist, bestimmt der Antisemit« heißt ein Kapitel in Rafael Seligmanns Buch Mit beschränkter Hoffnung. Genau gegen diese fremdbestimmten Bilder, die von Antisemiten wie von Philosemiten als Deutungsangebote geliefert wurden, probten nun junge jüdische Schriftsteller wie Rafael Seligmann, Lea Fleischmann, Henryk M. Broder, Esther Dischereit, Maxim Biller u. a. den Aufstand. Sie kämpften jedoch den Kampf um Selbst- und Neubestimmung an zwei Fronten, nicht nur gegen antisemitische Diffamierungen und Stereotypisierungen durch die deutsche Gesellschaft, sondern auch gegen die Identitätsmodelle, die ihnen von der jüdi5 6

Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls. Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 7. Ebd., S. 8.

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schen Elterngeneration, den osteuropäischen Überlebenden der Konzentrationslager, vorgesetzt wurden. Das Tabu einer ernsthaften und kritischen Selbstdarstellung, das bisher aus Selbstschutz der Gruppe7 eingehalten wurde, wird nun durchbrochen. Statt sich zu verstecken, tritt diese erste Nachkriegsgeneration der in Deutschland lebenden Juden nun mit großer Geste als selbstetikettierte Juden an die Öffentlichkeit. Man schreibt über Themen, die das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland repräsentieren und nimmt sich das Selbstdefinitionsrecht zurück. Dies führt zur ironischen Infragestellung und bisweilen sarkastischen Zerstörung aller alt vertrauten Judenbilder. Wann, so fragt Rafael Seligmann in einem Artikel der von ihm geleiteten Jüdischen Zeitung der Israelitischen Kultusgemeinde München, würde den Juden Deutschlands endlich »der Ausbruch aus dem Klischee des weisen Nathans« gelingen – und wird daraufhin prompt fristlos entlassen.8 Die jungen jüdischen Schriftsteller wehrten sich sowohl gegen die Bilder des »hässlichen Juden« antisemitischer Provenienz wie auch gegen die des »guten Juden« philosemitischer Provenienz, wobei letztere ängstlich von der Generation der KZ-Überlebenden gepflegt wurden. Die junge Generation bezog mit ihrem ironischen Spiel mit antisemitischen Stereotypen eine oppositionelle Position sowohl gegen die Deutschen wie auch gegen die Generation der eigenen Eltern. Eine der ersten fiktiven Darstellungen jüdischer Befindlichkeit im Nachkriegsdeutschland war der 1985 beendete, aber erst 1988 im privaten Wunder Verlag veröffentliche Roman von Rafael Seligmann Rubinsteins Versteigerung.9 Die Veröffentlichungsgeschichte dieses Romans, über die Seligmann in seinem Buch Mit beschränkter Hoffnung berichtet, gibt einen guten Einblick in das Ghetto der fremdbestimmten Bilder, in das sich die junge jüdische Generation eingeschlossen sah. Der Roman fand deshalb so spät einen Verleger, da kein Verlag bereit war, einen Roman mit einem derart karikaturhaften, scheinbar allen antisemitischen Vorstellungen vom »hässlichen Juden« entsprechenden Protagonisten wie es Jonathan Rubinstein war, in sein Programm aufzunehmen. Jonathan Rubinstein, Seligmanns selbstproklamiertes »Alter Ego«, war »faul, geil, aggressiv, er scheut nicht einmal davor zurück, das ›schlechte Gewissen‹ der Deutschen auszubeuten«.10 Mit einem Wort: er schien alle antisemitischen Vorurteile zu bestätigen. Seligmann wurde nach der Veröffentlichung seines Romans vor allem vom jüdischen Establishment vehement als Nestbeschmutzer angegriffen. 7

8 9 10

Anne Roiphe zitiert in Sander L. Gilman: Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press 1986, S. 324. Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung (wie Anm. 3), S. 147. Rafael Seligmann: Rubinsteins Versteigerung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1991. Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung (wie Anm. 3), S. 150.

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Seligmann unterlief mit seiner Hauptfigur ironisch das Tabu des »hässlichen Juden«, wodurch er sich das Deutungsrecht zurücknahm. Worum es Seligmann aber vor allem ging, war mit dieser Geschichte eines pubertierenden Jungen, der Holden Caulfield, dem rebellischen Antihelden von J. D. Salingers Roman The Catcher in the Rye nicht unähnlich war, sowohl die spezifisch jüdische Dimension der Rebellion gegen Eltern und Gesellschaft wie auch die universale Erfahrung der Adoleszenz darzustellen. Jonathan Rubinstein sollte als ganz normaler Teenager wahrgenommen werden, der zufällig eben auch jüdisch war. Seligmann wollte die Wahrheit seiner Welt zeigen und damit auch deren Universalität. Der »ganz normale Jude« sollte sichtbar gemacht werden, mit dessen Erfahrungen man sich identifizieren konnte: »Ein Jude mit Schwächen, Sehnsüchten, Ängsten steigt vom Podium der Übermenschlichkeit, wird zur Person, mit der man sich auseinandersetzen kann, weil sie nicht anders ist als man selbst.«11 Man wollte sich von der Last der »moralischen Unfehlbarkeit« befreien12 und keine Fromme Lügen, wie der Titel der sieben Geschichten von Irene Dische hieß, mehr auftischen.13 Rubinsteins Versteigerung war ein Versuch, die Angst vor antisemitischen Stereotypisierungen abzuwerfen und damit auch aus dem Teufelskreis der negativen jüdischen Selbstbilder, geboren aus internalisierten antisemitischen Vorurteilen, auszubrechen. Zerbrochen werden sollten auch die ungeschriebenen Regeln für den angemessenen jüdischen Diskurs nach dem Holocaust. Ein frecher, ironisch-sarkastischer Ton wird angeschlagen, der nichts mehr vom Pathos des jüdischen Opferdiskurses spüren ließ. Mit der satirisch-kritischen Selbstdarstellung jüdischen Lebens in Deutschland wurde das ungeschriebene Gebot der jüdischen Unsichtbarkeit gebrochen und damit auch die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft aufgekündigt. Obwohl diese, wie Seligmann zugesteht, »in Notsituationen durchaus seine Berechtigung haben mag, erweist [sie] sich im Alltag oft als paranoide Last«.14 Trotz des schmerzlichen Verständnisses für das Trauma der Elterngeneration setzte sich doch der vitale Wunsch dieser jungen Nachkriegsgeneration durch, sich von der Opferidentität ihrer Eltern zu befreien. Das bedeutete aber den kritischen Blick auf diese Eltern zu richten, die ihren Kindern ihr »Weltverständnis voller Verfolgung und Mord«15 aufdrängten und sie ebenfalls in ihr Angstghetto einsperren wollten. Dies musste die junge Generation in tiefe Konflikte stürzen: Ich empfand Wut auf meine Eltern und Hass auf mich selbst, dafür, was sie mir antaten, und dafür, was ich ihnen antat. Setzte ich mich gegen sie durch, erschrak ich 11 12 13 14 15

Ebd., S. 167. Ebd., S. 171. Irene Dische: Fromme Lügen. Sieben Geschichten. Frankfurt am Main: Eichborn 1989. Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung (wie Anm. 3), S. 15. Ebd., S. 99.

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vor dem Zorn, der in mir hochkam. Mein Mitgefühl für meine Eltern hatte ungefähr diesselbe Intensität wie meine Wut auf sie. Und es war kein Trost, dass es mir nicht allein so ging.16

Die junge Generation sah sich immer mehr als »Opfer der Opfer«17 und rebellierte gegen die Schuldprogrammierung durch die Elterngeneration: »Liess ich mir zum heillosen Entsetzen meiner Eltern die Haare bis zur Hüfte wachsen, sagten sie: Dafür haben wir überlebt!«18 Seligmanns Roman Die jiddische Mamme19 ist wohl das beste Beispiel dieser Rebellion, die sich in diesem Roman vor allem gegen das fast schon mythisch gewordene Bild der jüdischen Mutter, bzw. gegen deren besonders potente osteuropäische Version, der »jiddischen Mamme«, richtet, die, wie Seligmann schreibt, zwar »das Judentum mit unzerstörbarer Vitalität und Unerschrockenheit am Leben erhalten« hat, aber um den Preis der »Kastration der Väter und Söhne«.20 Diese Darstellung der als Machtverhältnis ausgelegten Beziehung zwischen der jüdischen Mutter und ihrem Kind sprach von der intimsten Vertrautheit des Verstehens wie auch von den traumatischen Wurzeln dieses Verhältnisses. Zugleich war diese Darstellung auch von einer fast an jüdischen Selbsthass grenzenden Aggressivität. Doch Seligmann kam es wieder darauf an, seine Leser erkennen zu lassen, dass die von ihm dargestellte »pathologische Mutterbindung [...] kein jüdisches Privileg« war. »Im globalen Chor der Mama-Geschädigten wird auch so mancher deutscher Knabe mitsingen.«21

Modell der Differenz – der Israeli als authentischer Jude Die aus Schmerz und Selbstschutz geborene Aggression gegen die Elterngeneration, der man seine Differenz verkündigte, wandte sich aber auch gegen das Nachkriegsdeutschland mit seinem, seit dem Sechs-Tage- Krieg immer offener zu Tage tretenden, sich nun politisch als Anti-Zionismus bemäntelnden Antisemitismus. So wie die erste Nachkriegsgeneration der Juden in Deutschland die Opferrolle ablehnte, so lehnte sie auch die Versöhnerrolle ab.22 Man hatte endlich die Angst vor den Deutschen weitgehend abgeschüttelt und die hochkommenden Aggressionen gegen die Peiniger ihrer Eltern und gegen ein Nachkriegsdeutschland, in dem so viele der alten Strukturen weiterwirkten, 16 17 18 19 20 21 22

Henryk M. Broder, zitiert in Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung (wie Anm. 3), S. 100. Ebd. Ebd., S. 99. Rafael Seligmann: Die jiddische Mamme. Frankfurt am Main: Eichborn 1990. Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung (wie Anm. 3), S. 155. Ebd. Ebd., S. 136.

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wurden nun artikuliert. Junge jüdische Schriftsteller traten an die Öffentlichkeit und proklamierten ihr Selbstverständnis der Differenz mit Buchtiteln wie Fremd im eigenen Land23 von Henryk M. Broder oder Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik24 von Lea Fleischmann oder Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls25 von Henryk M. Broder. Konstatierte Seligmann in Mit beschränkter Hoffnung noch das seltsame Phänomen der »hassfreie[n] Publizistik der Juden in Deutschland« in den Nachkriegsjahren, das er damit begründete, dass die Juden in Deutschland »in permanenter Angst vor den Antisemiten« lebten und sich nicht getrauten, »die eigenen Ängste und den daraus entspringenden Deutschenhass zu artikulieren« (MbH, S. 106), so war diese »Hassabstinenz« (MbH, S. 132) der Juden, die nach Seligmann »deren seelisches und gesellschaftliches Verlöschen« signalisierte (MbH, S. 137), in den 1980er Jahren ebenso zu Ende wie umgekehrt die Deutschen ihre »sanitäre Rücksichtnahme auf die Juden« aufkündigten.26 Die jungen jüdischen Schriftsteller sprachen nun offen über ihr Selbstverständnis als Minderheit, ihre Gefühle der Fremdheit im Nachkriegsdeutschland und über ihre Hassgefühle gegenüber den Peinigern ihrer Eltern. Sie kritisierten aber auch die Elterngeneration, die in Deutschland geblieben war und ihren Kindern ebenfalls zumutete, weiter im »Land der Mörder« zu verbleiben und ihnen damit eine schizophrene Existenz aufbürdete, die sie zwang, sich mitten in Deutschland zu ghettoisieren. Der einzige Weg aus dieser schizophrenen Existenz heraus war der klare Bruch mit ihr in Form der Alijah nach Israel. Neben den Büchern, wie die von Broder und Lea Fleischmann, die diesen Schritt begründeten und dokumentierten, erschienen auch mehrere Romane von Rafael Seligmann, wie Die Jiddische Mamme, Schalom meine Liebe,27 oder der Roman des Österreichers Peter Stephan Jungk, Rundgang,28 die diesen Bruch mit Deutschland und den in Deutschland verbliebenen Eltern fiktional gestalteten. Israel wurde zum utopischen Land stilisiert, das das Versprechen einer ungebrochenen jüdischen Identität und Authentizität in sich trug. Das neue Identitätsmodell, das das Bild vom geduckten Diasporajuden ablösen sollte, war der Israeli, der den Traum von einem ganz normalen Judesein

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Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik. Hg. von Henryk M. Broder und Michel R. Lang. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1979. Lea Fleischmann: Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik. Hamburg: Hoffmann & Campe 1980. Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1986. Ebd., S. 9. Rafael Seligmann: Schalom meine Liebe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998. Peter Stephan Jungk: Rundgang. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981 (Collection S. Fischer; 23). (Im Fließtext zitiert als RG, Seitenzahl.)

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scheinbar erfüllt hatte. So verkündet Samuel Goldmann, die Hauptfigur des Romans Die jiddische Mamme: Israelis schlagen sich nicht mit Identitätsproblemen herum, sie sind anscheinend keine Pseudointellektuellen wie die ausländischen jüdischen Studenten, sondern konzentrieren sich auf das Wesentliche, nämlich Frauen.29

Solchen Vorstellungen von intakter Männlichkeit liegen dabei deutlich die antisemitischen Klischees vom »weiblichen Juden« zugrunde, wie sie von Otto Weininger und anderen immer wieder propagiert wurden, und die sich tief in die jüdische Psyche eingegraben haben.

Die Rückkehr des »zerrissenen Juden« »Je tiefer ich die Deutschen hasste, desto mehr idealisierte ich Israel. Zion war mir Heimat und Asyl«, schreibt Rafael Seligmann.30 Hier im Ursprungsland der jüdischen Kultur und des jüdischen Ethos erwarteten die jungen deutschen Diasporajuden eine Antwort auf Fragen der persönlichen und kulturellen Identität. Die Kollision dieser mythischen Erlösungsverheißungen mit der Wirklichkeit Israels blieb natürlich nicht aus. Israel, das entdeckten die Protagonisten von Romanen wie Ronnith Neumans Heimkehr in die Fremde. Zu Hause in Israel oder zu Hause in Deutschland?31 oder Lea Fleischmanns Ich bin Israelin. Erfahrungen in einem orientalischen Land32, steht eben nicht nur für Geborgenheit und Sicherheit. Sie stoßen auf die Realität des immer gegenwärtigen Krieges und Kampfes gegen die feindlich gesinnten arabischen Nachbarn, die die Daseinsberechtigung Israels nicht anerkennen wollen. Den Protagonisten wird klar, dass man auch in Israel dem jahrtausende alten Überlebenskampf nicht entkommen kann. Das moderne Israel enthüllt den Protagonisten sein Doppelantlitz.33 Das Verhältnis zu Israel wird in diesen Romanen revidiert. Die von den »verweichlichten« Diasporajuden bewunderte israelische Männlichkeit wird nun als Zeichen des israelischen Machismo gesehen, zu dem die Stärke des biblischen Volkes Israels mutiert ist (PdA, S. 293). Der historisch moralische 29 30 31

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Rafael Seligmann: Die Jiddische Mamme. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000, S. 28. (Im Fließtext zitiert als JM, Seitenzahl.) Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung (wie Anm. 3.), S. 144. Ronnith Neuman: Heimkehr in die Fremde. Zu Hause in Israel oder zu Hause in Deutschland? Göttingen: Schlender 1985 (Bibliothek der Entdeckungen; 20: Levantische Reihe). Lea Fleischmann: Ich bin Israelin. Erfahrungen in einem orientalischen Land. Hamburg: Hoffmann & Campe 1982. Siehe Hanni Mittelmann: Parabeln der Ambivalenz. Das Israelbild in der deutschjüdischen Literatur der Gegenwart. In: Sprachkunst XXXV (2004), 2. Halbband, S. 292f. (Im Fließtext zitiert als PdA, Seitenzahl.)

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Anspruch des Volkes Israel, das »Licht der Nationen« zu sein, scheint durch den immer brutaler werdenden Überlebenskampf gegen unversöhnliche Feinde vom Scheitern bedroht. Der Gegensatz zwischen der israelischen Wirklichkeit und der diasporischen Erwartung und Vision von Israel erweist sich für die Protagonisten der Romane kaum überwindbar. Das Gefühl der Vertrautheit und Zugehörigkeit schlägt um in die Erfahrung der Nichtzugehörigkeit, der Fremde und der Sprachlosigkeit. »Für Israelis bin ich ein Deutscher«, erkennt Samuel Goldmann (JM, S. 130). Die Protagonisten erleben, wie wenig vertraut sie sind mit den vielen Aspekten der israelischen Erfahrung und dass sie keinen Anteil haben am nationalen Gedächtnis der israelischen Gegenwart (PdA, S. 294). Die anfänglich imaginierte Einheit mit Israel bricht auf, wenn es um die Entscheidung geht, wo man wirklich leben will, in Deutschland oder in Israel. Ron Rosenbaum, Samuel Goldmann und die Ich-Erzählerin im Roman Heimkehr in die Fremde entscheiden sich bewusst für eine Rückkehr in die Diaspora, für das finanziell gesicherte »gute« Leben in Deutschland, das nicht die tägliche existentielle Bedrohung kennt. Ron Rosenbaum in Seligmanns Roman Schalom meine Liebe entscheidet sich für die Ehe mit der Deutschen Ingrid gegen die israelische Geliebte, mit der er einen Sohn hat. Der Sohn, den er in Deutschland mit Ingrid zeugt, erhält den Namen Chaim (Leben) und bezeugt die Kontinuität des Lebens in der Diaspora. Das Exil ist zur Heimat geworden, aber die jüdische Zerrissenheit bleibt bestehen, denn die bewusste Entscheidung für die Diaspora wird von den Protagonisten dennoch als ein Scheitern begriffen. Die Zionssehnsucht wie die Ambivalenz bleiben bestehen. So heißt es von Ron Rosenbaum, der sich in Israel seinen Traum, ein Pilot zu werden, erfüllen wollte: Er hatte begriffen, dass er Israel nicht gewachsen war. Dies hatte er schon vor Jahren erkannt. Deshalb war er nach Frankfurt zurückgekehrt. Doch sein Traum vom Fliegen war lebendig geblieben.34

Die Apologie der Diaspora: der deutsch-jüdische Patriot Wenn auch Israel die »innere Heimat« (RG, S. 7) für den Juden bleibt, so tritt in den Romanen wie auch in den theoretischen Schriften und Abhandlungen der jüdischen Nachkriegsgeneration spätestens nach der Wiedervereinigung immer mehr die Apologie der Diaspora in den Vordergrund. Stand das Bekenntnis von Jonathan Rubinstein – »Ich bin ein deutscher Jude« – am Schluss des Romans im Jahre 1989 noch als Skandalon einsam auf weiter Flur unter den Romanen und theoretischen Schriften der jungen Juden, so bezeichnete sich der Historiker Michael Wolffsohn in seinem 1990 erschienenen Buch Keine Angst vor Deutschland selbstbewusst, unapologetisch und ohne 34

Seligmann, Schalom meine Liebe (wie Anm. 27), S. 82.

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Bindestrich als »deutschjüdischer Patriot«.35 Man gesteht sich ein, dass man aus freier Wahl in Deutschland geblieben ist und dass die Affinität zur deutschen Kultur, in der man aufgewachsen war, größer ist als die Differenz. In der »Lebenslüge« der Elterngeneration zu verharren, die noch Jahrzehnte nach Auschwitz behauptete, in Deutschland »auf gepackten Koffern« zu sitzen, wird nun abgelehnt (MbH, S. 23). Der Leitgedanke aus der Zeit vor dem Holocaust vom »Deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens« wird wiederbelebt und als akzeptabel angesehen.36 An die Stelle der Täter-Opfer-Konstellation tritt nun die Konstellation der Gemeinsamkeit. Michael Wolffsohn sieht es als die Aufgabe der »Nachkommen der Täter« an, gemeinsam mit den »Nachfahren der Opfer […] eine Wiederkehr zu verhindern, die humane und demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland auf- und auszubauen« (KA, S. 14). Der Holocaust als Bindemittel der jüdischen Gemeinschaft und als identitätsstiftendes Ereignis wird nun abgelehnt. Damit ist der Ausbruch aus dem Ghetto der gesellschaftlichen Isolation und Angst vollzogen. Man ist nun bereit, auf »geburtsbedingte Vorteile, auf die Vorrechte des ›eingebildeten Juden‹ (Alain Finkielkraut) zu verzichten« (KA, S. 13) und sich zu emanzipieren von Fremdbestimmungen aus den eigenen Reihen wie aus denen der anderen. Hatten die »Nachfahren der Opfer« anfänglich noch jede Kontinuität mit der Geschichte der deutschen Juden vor dem Holocaust abgelehnt, so deklarierte man sich nun als »Tucholskys und anderer Enkel« (MbH, S. 127). Man sah sich in der Tradition der scharfsinnigen, provokativen Gesellschaftskritik, für die so viele der deutschen Juden der Vorkriegszeit berühmt geworden waren. Als integraler Teil der deutschen Gesellschaft nimmt man nun das Recht für sich in Anspruch, Kritik an ihr zu üben und dokumentiert in der Doppelrolle des »Insider-Outsiders« das Fremde im doch so vertrauten Deutschland. Die kritische Doppelperspektive, durch die die deutschen Juden nun ihr Definitions- und Deutungsrecht proklamierten, wurde dabei sowohl Deutschland wie auch Israel gegenüber eingenommen, wie Buchtitel von Henryk Broder Die Irren von Zion37 oder Micha Brumlik Deutscher Geist und Judenhaß38 belegen. Bücher wie diese zeigen, dass das Leben der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens nicht ohne Spannungen ist, aber sie bezeugen auch, dass man nun mit den Widersprüchen der deutsch-jüdischen Existenz durchaus produktiv umzugehen weiß. 35 36

37 38

Michael Wolffsohn: Keine Angst vor Deutschland. Erlangen, Bonn, Wien: Dr. Dietmar Straube Verlag 1990, S. 11. (Im Fließtext zitiert als KA, Seitenzahl.) Cilli Kugelmann: Tel Aviv am Main. In: Mein Israel. 21 erbetene Interventionen. Hg. von Micha Brumlik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 71. Henryk M. Broder: Die Irren von Zion. Hamburg: Hoffmann & Campe 1998. Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. München: Luchterhand Literaturverlag 2002.

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Das neue Modell der multikulturellen Identität Auf die oft anarchistische Selbstprofilierung der ersten jüdischen Nachkriegsgeneration in Deutschland, die sich von alten Bildern und Deutungsvorgaben schmerzhaft zu befreien versucht hatte, folgte nach der Wiedervereinigung eine Generation von jüngeren Juden im deutschen Sprachraum, die ihre Selbstdefinition von einer postmodernen Sensibilität ableiteten, die sich von Einheits- und Ganzheitsvorstellungen der Identität befreit hatte und den postmodernen Pluralismus zelebrierte. Diese jungen Juden, die zumeist aus den alten GUS-Staaten als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen, aber auch aus Israel und Amerika, begrüßten die Freiheit einer hybriden Identität, die sich aus russischen, israelischen und amerikanischen Identitäten entwickelt hatte. Die Melancholie einer inneren Zerrissenheit zwischen Heimaten und Loyalitäten scheint es nicht mehr zu geben. So schreibt Henryk M. Broder in seiner Rezension des Romans Russendisko39 des deutsch schreibenden russischen Schriftstellers Wladimir Kaminer, er sei »kein Exilschriftsteller, der heimwehkranke Leidensgenossen bedient«. Er sei vielmehr, wie der Titel der Rezension verkündet, »Glücklich in der Russen-Zelle«.40 Diese Generation der jüdischen Einwanderer in Deutschland fühlt, bedingt durch die verschiedenen kulturellen Erinnerungen, mit denen sie aufgewachsen ist, Affinitäten zu den verschiedensten Kulturen, wobei diese Affinitäten nicht mehr sentimental besetzt sind. Selbst Israel sieht man eher als »einen modernen Ferien- und Vergnügungspark mit Familienanschluss«,41 weniger als die angestammte Urheimat oder gar als das »gelobte Land«. So erzählt Anja, die Protagonistin von Lena Goreliks Roman Hochzeit in Jerusalem: Eine Bekannte meiner Eltern wollte wissen, ob die Israelreise für mich so etwas wie eine Rückkehr in meine jüdische Heimat gewesen sei. Ich dachte an die Falafel, die gutaussehenden Soldaten und das Kamel, dem wir in der Jerusalemer Altstadt begegnet waren, und zuckte mit den Schultern. Heimat, was ist das schon.42

Die Identitäten der jüngsten jüdischen Schriftstellergeneration in Deutschland sind nun keine Bindestrich-Identitäten mehr, vielmehr kann man Russe, Deutscher und Jude zur gleichen Zeit sein. So berichtet Wladimir Kaminer in seinen Aufzeichnungen über seine Lesereisen durch deutsche Kleinstädte Mein deutsches Dschungelbuch,43 wie er als »Der Russe«, als »der deutschschreibende Schriftsteller russischer Herkunft« und als »Jüdischer Schriftsteller« von 39 40 41 42 43

Wladimir Kaminer: Russendisko. München: Manhattan 2000. Henryk M. Broder: Glücklich in der Russen-Zelle. In: Der Spiegel, 18.9.2000. Kugelmann, Tel Aviv am Main (wie Anm. 36), S. 71. Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem. München: Schirmer Graf 2007, S. 103. (Im Fließtext zitiert als HiJ, Seitenzahl.) Wladimir Kaminer: Mein deutsches Dschungelbuch. München: Goldmann 2003. (Im Fließtext zitiert als MdD, Seitenzahl.)

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den Veranstaltern und in Zeitungsartikeln deklariert wird und findet nichts dabei, dass er allen drei Etikettierungen auch entspricht (MdD, S. 117).44 Die Frage nach einem authentischen, zusammenhängenden Ich wird nicht mehr gestellt, sondern abgelöst von der postmodernen Feststellung der verschiedenen Seiten, aus denen das Ich sich zusammensetzt. Diese mehrfache Identität bedeutet nun keinen Leidensdruck mehr, sondern wird unbefangen akzeptiert. So beantwortet in Lena Goreliks Roman Hochzeit in Jerusalem die Protagonistin Anja, die als Kind aus Russland nach Deutschland gekommen ist und sowohl Deutsch wie Russisch spricht und außerdem Jüdin ist, die Frage, wie sie denn mit ihren verschiedenen Identitäten umgehe: »Gar nicht. [...] Naja, ich bin einfach ich. Ich denke nicht darüber nach. Ich bin einfach.« (HiJ, S. 8). Die kognitive Frage nach der Identität, die für die Moderne so typisch ist, wird von Anja mit ihrer multikulturellen Sensibilität nicht mehr verstanden, bzw. nicht mehr ernst genommen. Jüdische Identität wird denn auch von dieser jüngsten Generation mit ihren multikulturellen, nationalen und linguistischen Identifikationen postmodern rekonstruiert. Sie ist sowieso nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, vor allem nicht für die Einwanderer aus Russland, wo Jüdischsein national definiert wurde und nicht religiös oder kulturell. So feiert denn auch Anja »Weihnukkivester«, das für sie von Mitte Dezember bis Anfang Januar dauert: »Ich bekomme Chanukka-Geld von meiner Oma, Weihnachtsgeschenke von Freunden, Silvestergeschenke von meinen Eltern. Ich bin so, wie ich bin, eine russisch-jüdische Deutsche, mein Weihnachten dauert eben länger.« (HiJ, S. 77) Für diese junge Generation mit ihrem hybriden Identitätsverständnis haben auch die konventionellen jüdischen Selbstbilder, die von der Elterngeneration als Identifikationsmuster angeboten werden, ihre Bedeutung verloren. Weder das positive Bild des »klugen Juden« noch die »negative Seite des Jüdischen, dieses massenhafte Opferdasein« (HiJ, S. 128), das die Eltern noch zur Selbstidentifikation brauchen, wird übernommen. Man rebelliert gegen diese stereotypen Bilder, die eher in die russische Vergangenheit als in die deutsche Gegenwart gehören: »Antisemitismus gibt es nicht, und wenn, dann nur von mir. Mir ist er natürlich erlaubt, denn es ist ein rebellischer und auch liebender Antisemitismus«, sagt die Protagonistin Anja (HiJ, S. 128). Ebenso werden die mythischen jüdischen Körperbilder ironisch dekonstruiert. Wenn Anja von einem Rabbiner zu hören bekommt, dass in ihren »Augen [ ...] die Traurigkeit des ganzen jüdischen Volkes zu sehen« (HiJ, S. 86) sei, macht sie auch gleich die Probe aufs Exempel bei den Jungen in ihrer Klasse. »Sie schauten mir zwar in die Augen, aber das Gefühl, daß sie darin die Traurigkeit des jüdischen 44

Siehe dazu auch Sander L. Gilman: Are Jews multicultural enough? Late Twentiethand Early Twenty-first-Century Literary Multiculturalism as Seen from Jewish Perspectives. In: Ders.: Multiculturalism and the Jews. New York, London: Routledge 2006, S. 179-225, hier S. 218f.

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Volkes entdeckten, hatte ich nie« (HiJ, S. 87). Nach der Lektüre von Leon Uris’ Exodus fühlt Anja zwar »die Traurigkeit des jüdischen Volkes in meinen Augen, aber das war wohl nur die Pubertät« (HiJ, S. 88). Auch die antisemitischen Stereotypisierungen werden eher als »saukomisch« (HiJ, S. 71) denn als verletzend empfunden. So möchte Anja ihrem Freund Julian, der an seiner erst kürzlich entdeckten »halb-jüdischen« Identität und der scheinbaren, antisemitischen Animosität seiner Freunde leidet, zur Aufmunterung ein Schild leihen, das sie besitzt. Auf diesem Schild steht: Hallo, ich bin Jüdin. Mein Vater trägt einen schwarzen Kaftan. Statt eines Gürtels baumeln an seiner Hüfte komische weiße Fäden herunter. Er hat einen langen, grauen Bart und auf dem Kopf immer ein schwarzes Käppi. Natürlich beten wir viel, wir halten den Sabbat ein und essen niemals Schwein. Ich will mal nach Israel auswandern, um möglichst viele Araber zu töten. (HiJ, S. 71)

Für das neue hybride Identitätsbewusstsein spielen anscheinend die alten mythischen Judenbilder keine Rolle mehr, und auch die neuen anti-zionistischen Stereotypisierungen werden nicht als bedrohlich angesehen. Der Holocaust wird von diesen jungen jüdischen Schriftstellern als ein Faktum der deutschen Geschichte angesehen, das sie aus den Lebensgeschichten ihrer Großeltern kennen und das aus ihrem Leben ebenso wenig wegzudenken ist wie aus der Geschichte der Deutschen. Doch dieses kulturelle Wissen um die Vergangenheit ist weder mit Angst noch mit Hass noch mit Schuldgefühlen oder Schuldzuweisungen besetzt. Es bestimmt weder ihr Selbstgefühl noch bestimmt der Antisemitismus ihr Selbstbild. Daher bestimmt auch das alte Polaritätsdenken Jude-Deutscher und die damit zusammenhängenden internalisierten Hierarchien von kulturellen Werten nicht mehr ihre Identität. Dennoch sind sie sich ihrer Differenz zu den Deutschen wohl bewusst und bewahren sich eine gewisse Außenseiterdistanz, die sie aber positiv instrumentalisieren. Mit den Beschreibungen ihrer multikulturellen Umgebung in Romanen wie Lena Goreliks Meine weißen Nächte45 oder Vladimir Kaminers Russendisko, die positiv von der deutschen Kritik aufgenommen worden sind, sehen sie sich in der Rolle der Vermittler zwischen den Kulturen. So schreibt Kaminer über seine in Berlin gegründete ›Russendisko‹: Wir wollen, daß die osteuropäische Musik auch in Alteuropa die Menschen zum Tanzen bringt. […] selbst wenn nicht immer unsere Friedensmission zur dauerhaften Völkerverständigung ankam, selbst wenn der eine oder andere Besucher mit einem blauen Auge die Tanzfläche verließ, haben wir es vollbracht, die fremdartige Russenmusik bis in die letzten Winkel der Bundesrepublik Deutschland zu tragen. Ein wenig Unordnung muß auch sein.46

45 46

Lena Gorelik: Meine weißen Nächte. München: Schirmer Graf 2004. Wladimir Kaminer: Über Russendisko. http://beta.russendisko.de/de/russendisko/ (25. Februar 2009).

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Man bewahrt sich eine ironische Außenseiterdistanz zu Deutschland und beobachtet humorvoll die deutschen Skurrilitäten. Statt sich von den Deutschen definieren zu lassen, beliefern diese jungen jüdischen Schriftsteller jetzt die Deutschen mit den Fremddefinitionen, nach denen sie sich wohl so sehnen. In seinem Reiseführer Ich bin kein Berliner beschreibt Wladimir Kaminer die anscheinend unerschöpfliche Sucht der Deutschen danach, ihr Bild im Spiegel der anderen zu sehen. Man bemühe sich, so Kaminer, in Deutschland nach seinen eigenen Bildern in der Fremde zu forschen: Jeder Ausländer, der hierherkommt, wird einem Verhör unterzogen. Im Ausland werden parallel dazu groß angelegte Untersuchungen durchgeführt, um festzustellen, was der eine oder andere dort von Deutschland hält.47

»Die Ergebnisse sind so lala« (ebd.) schreibt Kaminer und zählt alle Klischeevorstellungen auf, die man so von den Deutschen im Ausland hat und führt damit alle Klischeebilder, die man sich vom Andern macht, ironisch ad absurdum. Das Konzept der persönlichen Identität der heute in Deutschland lebenden jüdischen Schriftsteller befindet sich im Stadium der verschiedensten experimentellen Selbstdefinitionen. Der Diskurs über Authentizität und Homogenität ist abgelöst worden vom Modell der mehrfachen Identitäten bzw. Identifikationen, deren Realität man anerkennt und mit denen man kreativ umgeht. Diese völlig säkulare Generation von Juden in Deutschland orientiert sich nicht mehr an den traditionellen, enggefassten Vorstellungen von jüdischer Identität, die sich nur als religiös, kulturell oder ethnisch bestimmt. Dass solche Definitionen auch nicht mehr zutreffen, illustriert der Roman Letzter Wunsch48 von Vladimir Vertlib am makabren Fall von David Salzinger, dem Vater des Protagonisten Gabriel, dem ein jüdisches Begräbnis verwehrt wird, weil die Herkunft seiner Vorfahren nicht genau den halachischen Regeln entspricht. Die jüngste jüdische Schriftstellergeneration definiert sich vielmehr in einem programmatischen Pluralismus, der alle zwanghaften Vorstellungen von Einheit zurückweist, und sie erforscht stattdessen die Vielfalt disparater Möglichkeiten von Identitäten und Zugehörigkeiten. Obwohl die alten mythischen Bilder jüdischer Existenz als Außenseiter oder ewige Wanderer zwischen den Welten durchaus noch Grundmuster des Selbstverständnisses bilden, wird ihnen von dieser Generation doch eine neue Deutung unterlegt. Aber auch die antisemitischen Vorurteilsbilder älterer und neuerer Provenienz werden zumeist mit Humor (Kaminer) oder beißendem Sarkasmus und logischem Witz (Broder) ad absurdum geführt.

47 48

Wladimir Kaminer: Ich bin kein Berliner. Ein Reiseführer für faule Touristen. München: Goldmann 2007, S. 13. Vladimir Vertlib: Letzter Wunsch. Wien, Frankfurt am Main: Franz Deuticke Verlagsgesellschaft 2003.

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Diese Schriftsteller eröffnen eine neue Perspektive im Umgang mit der jüdischen Identität und der jüdischen Existenz in der Diaspora. Sie stellen sich nun selbstbewusst und voller Vitalität als Juden in der Öffentlichkeit dar und machen aus ihrem Innern keine Mördergrube mehr. Das Motto dieser jungen Generation, die auf der Autonomie ihrer Selbstbilder besteht, drückt sich deshalb wohl am besten in den bereits zitierten Worten von Lena Goreliks Protagonistin Anja aus: »na ja, ich bin einfach ich.«

Georg-Michael Schulz

»Abendlied«. Über ein Gedicht Tuvia Rübners

Er lebte in der Sprache. Echte Sprache war für diesen Dichter das Wahrhaftige schlechthin [...].1

Wenn man das Präsens als Tempus an die Stelle des Präteritums setzt, dann kann man die zitierte Äußerung auf ihren Urheber, Tuvia Rübner, selbst beziehen. Rübner, einer der bedeutendsten israelischen Lyriker, der erst auf Deutsch, dann auf Hebräisch gedichtet hat und der inzwischen seine hebräischen Gedichte ins Deutsche übersetzt und auch wieder auf Deutsch Gedichte schreibt, die er dann ins Hebräische übersetzt,2 Rübner also hat sich mit den zitierten Worten über seinen Freund, den Dichter, Essayisten und Literaturwissenschaftler Werner Kraft geäußert. Ihm ebenso wie dem anderen Freund, dem Dichter und Literaturwissenschaftler Ludwig Strauß, verdanke er, so Rübner, seine »geistige und dichterische Existenz«.3 Und er hat überlegt, ob Kraft vielleicht deshalb nicht auf Hebräisch gedichtet hat, weil er befürchtet hat, »von der Sprache [...] verführt zu werden« und nicht »exakt genug zu bleiben«.4 Wahrhaftigkeit und Exaktheit, das sind Ideale einer Sprache, die sich um »Sparsamkeit«5 bemüht, die sich lieber in Andeutungen zurückzieht, als sich wortreich in wohlklingenden Redundanzen auszubreiten, die den dichterischen Gedanken vor dem effektvollen Ausdruck bevorzugt. Das Gedicht, das in einer solchen Sprache geschrieben ist, »versucht nicht nur Magie von seinem Pfad zu entfernen, sondern auch Rhetorik«.6 Der Magie, dem magischen Geraune, auf das Rübner hier mit einer beiläufigen Anspielung auf Faust zielt,7 und der selbstgefällig-leeren Rhetorik setzt er die lakonische Prägnanz entgegen. »Die 1 2 3 4 5 6

7

Tuvia Rübner: Ein langes kurzes Leben. Von Preßburg nach Merchavia. Aachen: Rimbaud 2004, S. 169. Vgl. ebd., S. 67. Ebd., S. 53. Ebd., S. 169. Ebd., S. 87. Tuvia Rübner: Festrede gehalten anläßlich des 85. Geburtstages von Werner Kraft (in der Hebräischen Universität, Jerusalem, im Juni 1981). In: Werner Kraft. 18961991. Bearb. von Jörg Drews. Marbach: Dt. Schillerges. 1996 (Marbacher Magazin; 75), S. 162. »Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen, / Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen [usw.]«, In: Faust. Zweiter Teil, V. 11404f.

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Sprache hat sich ganz zurückgezogen«, mit diesen Worten kommentiert er ein eigenes (spätes) Gedicht.8 Und in anderem Zusammenhang meint er: »Ich bin für stille Sprache«.9 »Still« kann die Sprache natürlich nur werden, wenn sie sich mit Reduktionen begnügt, wenn sie ausspart, wenn sie Lücken, Leerstellen, Momente des Schweigens zulässt und nicht nur zulässt, sondern bewusst schafft. Ich bin mir der methodischen Problematik bewusst, wenn ich eine poetische Formulierung aus einem Gedicht zur argumentativen Unterstützung einer analytischen Diagnose in Bezug auf die eben genannten Momente des Schweigens heranziehe; dennoch möchte ich einen Vers aus einem Gedicht Rübners mit dem Titel »Chajim« zitieren, nämlich eine dort in Anführungszeichen gesetzte Äußerung eines Freundes: »Das Schweigen in deinen Gedichten treibt einem die Tränen in die Augen«.10 In diesem Sinne ist sogar der paradoxe Begriff einer »Schweigesprache« (Alexander von Bormann) geprägt worden.11 Dem Leser Tränen in die Augen treiben können die Gedichte freilich nur, wenn dieser Leser weiß oder zumindest ahnt, was da jeweils ausgespart und verschwiegen worden ist, und wenn er zugleich zu der Überzeugung gelangen kann, dass das Ausgesparte und Verschwiegene dennoch latent mit anwesend ist. Just das aber stellt hohe Anforderungen an den Leser. Er muss bereit sein, sich auf eine Sprache einzulassen, die nicht nur im Denotat das Konnotat mitmeint, sondern die eigentlich auf dieses Konnotat zielt und die damit die erwähnte Wahrhaftigkeit und Exaktheit sucht. Das aber tut eine Sprache, die mit ihrem Denotat sich dem Leser nicht willig ergibt, die sich vielmehr gegen das schnelle, oberflächliche, scheinbare Verstandenwerden sperrt. »Die Bilder und ihre Brüche sagen etwas, doch das müssen wir mit ausdenken, weiterdenken, zuende denken.«12 Wenn denn ein Ende des Denkens überhaupt erreichbar ist, denn es handelt sich um eine Sprache, die eben nicht beim ersten oder zweiten Mal restlos verständlich sein will, die darum auch Rätselhaftes enthält, das zu Mutmaßungen in dieser oder jener Richtung Veranlassung gibt, und die vielleicht erst spät und vielleicht auch nie enträtselt wird. In einer solchen Sprache ist »Abendlied« geschrieben, entstanden 1997 und erschienen in der Sammlung Rauchvögel.13

8 9 10 11

12 13

Rübner, Ein langes kurzes Leben (wie Anm. 1), S. 119. Ebd., S. 139. Tuvia Rübner: Zypressenlicht. Ausgewählte Gedichte II. 1957-1999. Aachen: Rimbaud 2000, S. 81. Alexander von Bormann: Poesie als Schweigesprache. Zu Gedichten von Tuvia Rübner. In: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott. Festschrift für Stéphane Mosès. Hg. von Jens Mattern u. a. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 237-248. Alexander von Bormann: »Du bist dem entkommen« [Rez. zu: Zypressenlicht]. In: die horen 203 (2001), S. 267. Tuvia Rübner: Abendlied. In: ders.: Rauchvögel. Ausgewählte Gedichte I. 1957– 1997. Aachen: Rimbaud 1998, S. 57f.

»Abendlied«. Über ein Gedicht Tuvia Rübners

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ABENDLIED Rauchvögel steigen Abend für Abend aus ihrer Asche. Eine blickt aus Rauchaugen auf den Genarrten. Der Tag war hart. Das Licht blendete. Die mühevolle Arbeit. Brächte der Abend Ruhe wie das Flußlicht in der Drei-Flüsse-Stadt am dritten Mai im durchsichtigen Grün als ich auf der Uferbank saß Schwäne flogen überm Wasser. Was soll diese Traumgier? Weshalb rufe ich die Toten aus der Asche? Weiß überm Wasser der Schwäne Flug aschgrauer Schwäne Flug Rauch steigt Abend für Abend – Schweigen ist nicht genug

Ich möchte zunächst auf die mittlere Passage des Gedichts eingehen, die – mit dem Wechsel vom vorherigen Präsens zum Präteritum als dem Erzähltempus schlechthin – etwas Erzählendes gewinnt und die wohl am leichtesten zugänglich ist, da es in ihr offenkundig um nachvollziehbare Alltagserfahrungen geht: »Der Tag war hart. / Das Licht blendete. / Die mühevolle Arbeit.« Karge Feststellungen, jeder Vers eine Einheit, unprätentiös. Der Bezugspunkt dieser Feststellungen ist ein Ich, das auf den Tag zurückblickt, das aber nicht genannt wird. Von dieser somit noch quasi ich-distanzierten Sprechweise führt dann ein Übergang – ein Enjambement, das einen Stropheneinschnitt überbrückt –

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Georg-Michael Schulz

hinüber zu einem leicht erzählenden Tonfall; der Konjunktiv drückt, immer noch ich-distanziert, einen Wunsch aus: »Brächte der Abend Ruhe«. Dann aber erwacht eine in den Indikativ zurückführende Erinnerung an »das Flußlicht / in der Drei-Flüsse-Stadt [usw.]«, eine Erinnerung des lyrischen Ich, das jetzt zum ersten Mal genannt wird: »als ich auf der Uferbank saß«. Auch dieses Gedicht hat seinen Ausgangspunkt – wie Rübners Gedichte eigentlich immer – in einer bestimmten Erinnerung, einem konkreten Erlebnis, einer realen Gegebenheit – Rübners Lyrik hat ihre Ausgangspunkte im Hier und Heute, in diesem Fall sogar in einer bestimmten Stadt: der »Drei-FlüsseStadt«. Wenn man nicht weiß, welche Stadt das ist, kann einen ein anderes Gedicht Rübners darüber belehren:14 es handelt sich um Passau am Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz. Das Datum, der ›dritte Mai‹, wird als Indiz für die Rückbindung des Gedichts an eine (dem Leser natürlich nicht zugängliche) Erinnerung gelten können. Das ›durchsichtige Grün‹ ist sicherlich das noch junge Grün der Bäume im Mai. Ob schließlich die Uferbank am Ufer der Donau steht, lässt das Gedicht offen, des Flusses also, an dem auch Bratislava/Preßburg/Pozsony liegt, die »Dreisprachenstadt«, wie Rübner seinen Geburtsort genannt hat.15 Mit der Nennung des Ich auf der Uferbank bindet das Gedicht das hernach dann Folgende an dieses Ich – als Inhalt von dessen Gedanken und Erinnerungen. Schon die Feststellung »Schwäne flogen / überm Wasser« vermittelt somit eine Wahrnehmung des Ich, ohne dass damit deren Richtigkeit bereits in Zweifel gezogen wäre. Immerhin kann jedoch der subjektive Charakter dieser Wahrnehmung die Frage provozieren, in welchem Verhältnis denn nun das in der ersten Hälfte des Gedichts Gesagte zu dem Ich steht. Handelt es sich da um Faktisch-Reales oder eben auch um subjektive Wahrnehmungen? Ganz konkret: Steigen wirklich »Abend für Abend« Rauchvögel »aus ihrer Asche«? Was überhaupt sind die »Rauchvögel«, die der ganzen Gedichtsammlung den Titel gegeben haben? Die (ägyptische) Mythologie kennt zwar den Phönix, einen mythischen Vogel, der verbrennt und aus seiner Asche wieder neu und verjüngt entsteht. Aber auch wenn in einem anderen Gedicht Rübners der Phönix beiläufig erwähnt wird,16 mag eine solche Assoziation hier allenfalls am Rande eine Rolle spielen, sie führt eher aus dem Gedicht heraus. Hilfreicher ist es wohl, wenn man sich zunächst an das Ende des Gedichts hält: »Was soll diese Traumgier? / Weshalb rufe ich die Toten / aus der Asche?« Die Parallelität dieser Fragen, die das Ich sich selbst stellt, legt die Annahme nahe, dass die Gier nach bestimmten Trauminhalten nichts anderes meint als die Fixierung auf die Toten 14

15 16

Tuvia Rübner: Ansichtskarte Passau. In: ders., Zypressenlicht (wie Anm. 10), S. 17. Vgl. auch: Tuvia Rübner: Ansichtskarte Passau (Neue Version). In: ders.: Wer hält diese Eile aus. Gedichte. Aachen: Rimbaud 2007, S. 40. Tuvia Rübner: Ansichtskarte: Preßburg, heute Bratislava. In: ebd., S. 10. Vgl. Tuvia Rübner: Die Flötenspielerin. In: ebd., S. 52.

»Abendlied«. Über ein Gedicht Tuvia Rübners

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und deren erträumte, imaginäre Herbeiholung, imaginär, weil die Toten zu Asche geworden sind. Dieser Hinweis auf die Shoah folgt überraschend und scheinbar unvermittelt auf das Bild der fliegenden Schwäne. Beides wird indessen gleich im Anschluss zusammengeführt: »Weiß überm Wasser der Schwäne Flug / aschgrauer Schwäne Flug«. Das Bild der weißen Schwäne wandelt sich nicht wirklich, sondern in der Imagination in das Gegen-Bild aschgrauer Schwäne, die Wahrnehmung von Gegenwärtigem wird überlagert von der Erinnerung an die Toten. »Abend für Abend« kehrt unabweisbar die Vorstellung von aufsteigendem Rauch wieder, ein metonymischer Verweis auf die Toten, die das Ich, unvermögend, der Erinnerung, »dem Vergangenen/Unvergangenen« (Amir Eshel),17 zu entrinnen,18 immer wieder »aus der Asche« ruft. Ich möchte hier kurz innehalten und eine kleine methodische Überlegung einfügen. Es gab einstmals – noch im Horizont der so genannten werkimmanenten Interpretation – Bedenken gegenüber dem interpretatorischen Rückgriff auf »Parallelstellen«, Bedenken, wie sie zum Beispiel Peter Szondi in seinen »Hölderlin-Studien« geäußert hat19 und die die Intention verfolgten, die Autonomie des einzelnen Gedichts zur Geltung zu bringen. Wir sind heute aber – in der Überzeugung, dass die Gedichte eines Autors sich denselben geistigen und materiellen Voraussetzungen verdanken, dass ihnen nicht nur eine gemeinsame Gedankenwelt zugrunde liegt, sondern in ihnen auch, ganz konkret, ein gemeinsames Vokabular verwendet wird –, wir sind in dieser Überzeugung geneigt, mögliche Parallelstellen als Verständnishilfe mit einzubeziehen, indem wir das lyrische Werk eines Autors als den Kontext sehen, in dem ein einzelnes Gedicht steht. In diesem Sinne – um zum »Abendlied« zurückzukehren – kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass »Asche« »ein Grundwort dieser [= der Rübnerschen] Dichtung« ist (Thomas Sparr).20 Asche und Rauch und die Luft, in die die Verbrannten aufgestiegen sind – »in der Luft die Asche«,21 die »Veraschten, deren Körper wir einatmen mit der Luft«22 –, das sind in der Tat 17 18 19

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Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg: Winter 1998, S. 148. In dem Gedicht »Ansichtskarte: Zürich« heißt es: »[...] Erinnerung / [...] ist schwer im Zaum zu halten.« In: Rübner, Zypressenlicht (wie Anm. 10), S. 14. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (ed. suhrkamp; 379), S. 9-34. Thomas Sparr: »Meine Augen tasten durch Asche«. Laudatio auf Tuvia Rübner [anlässlich der Verleihung des Jeanette-Schocken-Preises am 9. Mai 1999 in Bremerhaven]. In: die horen 195 (1999), S. 223. Tuvia Rübner: Der über den Tisch Gebeugte. In: ders.: Wüstenginster. Gedichte. Übers. aus dem Hebr. und mit einer Nachbem. hg. von Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel. München, Zürich: Piper 1990, S. 5. Tuvia Rübner: Die großen Tage des Jahrhunderts. In: ders., Zypressenlicht (wie Anm. 10), S. 6.

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Motive, die in Rübners Gedichten immer wiederkehren und die aufeinander verweisen. Wenn man von hier aus auf den Anfang des Gedichts zurückblickt, dann sind die »aus ihrer Asche« aufsteigenden »Rauchvögel« imaginäre, nämlich von dem Ich imaginierte Repräsentanten der »Abend für Abend«, also immer und immer wieder, sich einstellenden Erinnerung an die Toten. Mag die Vorstellung der (imaginären) Rauchvögel durch das (erst an späterer Stelle) erwähnte Bild der (wirklichen) Schwäne provoziert worden sein, so sind die Rauchvögel im Grunde doch nicht weniger wirklich als die Schwäne. Wenngleich imaginär, sind sie doch keine Phantastereien. Oder doch? Wer ist gemeint mit dem »Genarrten«, der »aus Rauchaugen« angeschaut wird? Ich denke, es kommt hier nur das lyrische Ich in Frage. Inwiefern aber wird das Ich genarrt? Vielleicht von seiner eigenen Imagination, die das Ich Rauchvögel anstelle von irgendetwas anderem wirklich Sichtbarem sehen lässt, vielleicht anstelle von Schwänen. Der harte Tag, die mühevolle Arbeit haben das Ich in Anspruch genommen, das »Flußlicht [...] im durchsichtigen Grün« anstelle des blendenden Lichts tagsüber wirkt immerhin besänftigend, aber in der vom Abend erhofften Ruhe kehrt auch die Erinnerung wieder und lässt die Imagination auch das Bild der Rauchvögel wiederkehren. Phantastereien im Sinne einer spielenden oder gar zügellosen Phantasie sind die Rauchvögel nicht; sie sind die Repräsentanten der in der Imagination gegenwärtigen Toten, »die alle kein Grab besitzen«.23 Dass das Ich der Erinnerung nicht entrinnen kann, hat etwas ZwanghaftBeklemmendes, spürbar in der insistierenden Formel »Abend für Abend« in der ersten wie in der letzten Strophe. Insofern bricht das Gedicht mit der versöhnlich-beruhigenden Tendenz der lyrischen »Abendlied«-Tradition, in die es sich durch seinen Titel zugleich auch stellt. Es ist dies eine Tradition – von Paul Gerhardt (»Nun ruhen alle Wälder«) über Matthias Claudius (»Der Mond ist aufgegangen«) bis zu Georg Trakl (»Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehen«) und weiter –,24 eine Tradition, in der neben der Schönheit der abendlichen und nächtlichen Natur häufig die (nicht selten religiös motivierte) Besinnung auf das menschliche Leben und die eigene Existenz im Vordergrund steht. In diesem Sinne ist der Titel von Rübners »Abendlied«, wie ich meine, nicht ironisch, er enthüllt indessen eine ganz andere Seite des Abends als die gewohnte, nämlich des Abends als der Zeit, in der ein Mensch, dieses Ich, auf Ruhe hoffend, wieder anfängt, »die Toten / aus der Asche« zu rufen. Des darin liegenden zwanghaften Moments ist sich das Ich durchaus bewusst: »Was soll diese Traumgier? / Weshalb rufe ich die Toten / aus der Asche?«, aber dieses Bewusstsein bringt nicht bereits eine Befreiung. Ob der Schluss des Gedichts hernach eine solche Befreiung andeutet, bleibt offen. Was er ausdrücklich enthält, ist eine Aufgabe: »Schweigen ist nicht genug«, 23 24

Tuvia Rübner über sich. In: ders., Wüstenginster (wie Anm. 21), S. 67. Auch von Wolfgang Borchert – zum Beispiel – gibt es ein »Abendlied«.

»Abendlied«. Über ein Gedicht Tuvia Rübners

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das heißt: es muss eine Sprache für das Geschehene gesucht und gefunden werden, das so nachhaltig und unabweisbar bedrängend wirkt. Wie zur Bekräftigung dieser Aufgabe trägt das in der Sammlung Rauchvögel auf das »Abendlied« an übernächster Stelle folgende Gedicht den Titel »Zeugnis«,25 und es beginnt mit den Worten: »Ich bin da um zu sagen [...]«, also Zeugnis abzulegen von den Verlusten und Zerstörungen – denn: »Schweigen ist nicht genug«. Hans Otto Horch hat in diesem Sinne den Schlussvers des »Abendlieds« als »Tuvia Rübners Antwort« auf Adornos Absage an »Lyrik nach Auschwitz« bewertet.26 Und in der Tat: Da die eben genannte Aufgabe in einem lyrischen Vers zur Sprache gebracht wird, bezieht das Gedicht, das die Aufgabe benennt, bereits eine lyrische Gegenposition zu Adornos Verdikt. Ja, vielleicht ist das Gedicht selbst ein Ansatz bei der Suche nach der geforderten Sprache – als sprachlich gestaltetes Gebilde überhaupt, aber darüber hinaus nicht zuletzt auch durch seinen Titel, der eine lyrische Tradition aufruft, in die das Gedicht sich mit seinen ungewohnt-fremdartigen Zügen einreiht, indem es so signalisiert, dass tradierten poetischen Formen abverlangt werden kann und soll, sich gänzlich andersartig-neuen Aufgaben zu stellen. Am Ende des Gedichts steht kein Punkt oder ein anderes Schlusszeichen. Rübners Gedichte verzichten zwar am Zeilenende häufig auf Satzzeichen, aber dass das Schlusszeichen fehlt, begegnet in der Sammlung Rauchvögel nur noch zweimal,27 und im vorliegenden Gedicht bedeutet es wohl so viel wie ein Offenhalten, also ein Offenhalten für die zu suchende Sprache. Ein Detail, das ich übergangen habe, soll am Ende noch zur Sprache kommen, verbunden mit der Überlegung, dass ein Dichter, der sich dazu überwindet, »Zeugnis« abzulegen, und der zu sich selbst und zu uns, den Lesern, sagt: »Ich bin da um zu sagen [...]«, dass also dieser Dichter sich in gewisser Weise preisgibt, indem er sein existentiell-emotionales Betroffensein durch das, über das er spricht, mitoffenbart. Er erfüllt damit – das suggeriert die Wendung ›Zeugnis ablegen‹ – zwar eine Art Pflicht, die er als ihm auferlegt fühlt, das hebt aber die Tatsache, dass er sich preisgibt, nicht auf. Und eben darum haben die Leser sich insbesondere dann mit Spekulationen zurückzuhalten, wenn das »Zeugnis« in einer knappen Sprache gehalten ist und jedes Wort, jeder Vers tastende interpretatorische Bemühungen nahe legt. In der ersten Strophe wird das Bild der Rauchvögel, die aus ihrer Asche steigen, evoziert. Die zweite Strophe lautet dann:

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Tuvia Rübner: Zeugnis. In: ders., Rauchvögel (wie Anm. 13), S. 60. Hans Otto Horch: »Sehnsucht und Sprache und Nacht der Toten«. Zu einem frühen Gedicht von Tuvia Rübner. In: »Hinauf und Zurück / in die herzhelle Zukunft«. Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Birgit Lermen. Hg. von Michael Braun u. a. Bonn: Bouvier 2000, S. 250. »Der Sonnenball«, S. 18; »Schwester I«, S. 54.

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Eine blickt aus Rauchaugen auf den Genarrten.

Warum »Eine«? Warum die weibliche Form? Ich denke, es ist die (solcherart nur implizit evozierte) Schwester, die »aus Rauchaugen« blickt, die also zu den Rauchvögeln zählt. Und wer ist der Genarrte, auf den sie blickt? Ich denke, wie erwähnt, es ist das Ich, das nicht davon ablassen kann, »die Toten / aus der Asche« zu rufen, und das von seinen Imaginationen ›genarrt‹ wird. Das in der Sammlung Rauchvögel unmittelbar vorausgehende (1957, vierzig Jahre vor dem »Abendlied« entstandene) Gedicht lautet: MEINE KLEINE SCHWESTER Im schneidenden Wind meine langsame Schwester Ich fand sie nicht. Zwischen den Oliven am steigenden Weg meine Schwester, eine Wolke Ich fand sie nicht. Sie neckt mich, sie narrt mich, ist wie Rauch, ist Rauch meine kleine Schwester versengt mir das Aug.

Auch hier ist es wohl die Imagination, das imaginierte Bild der Schwester, das das Ich »narrt«, indem es ihm die Nähe der Schwester vorspiegelt, der in der Realität unauffindbaren Schwester, die »eine Wolke« ist, »wie Rauch« ist, »Rauch« ist. Dass das »Abendlied« und »Meine kleine Schwester« bewusst nebeneinander gestellt sind und dass der Leser daher hier wohl nicht nur spekuliert (im Sinne der eben angedeuteten Problematik), wenn er sich Verständnishilfen aus dem einen Gedicht für das andere holt, dies wird dadurch bekräftigt, dass in derselben Sammlung Rauchvögel dem Gedicht »Meine kleine Schwester« wiederum zwei Gedichte mit den Überschriften »Schwester I«28 und »Schwester II« unmittelbar vorausgehen (beide datiert auf das Jahr 1957).

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In veränderter Fassung (u. d. T. »Meine kleine Schwester«) nochmals in Rübner, Zypressenlicht (wie Anm. 10), S. 86.

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Schon einzelne der frühen Gedichte beziehen sich auf die Schwester, die »Lautlose Schwester«,29 deren Schicksal die Sprache verstummen lässt: »[...] was verbleibt / [...], ist nicht Gesang. / Das Wort zerfleddert zwischen Lippen, / [...] / Taub steh ich da, mit verstockter Kehle.«30 Der Rückbezug auf die Sprache begegnet auch in anderen Gedichten, in denen es um die Schwester geht: Meine kleine Schwester wacht und schläft und plötzlich, Feuer ging durch mich. Ich saß über den Tisch gebeugt. Weiße Buchseiten. Buchstabe, Buchstabe, meine Augen tasten durch Asche.31

Auch das bereits erwähnte Gedicht »Zeugnis« verbindet die Schwester – »Inbegriff aller Trauer«32 – mit dem Motiv der Stimme und des Sprechens – und damit auch dem Komplex des poetischen Sprechens. In »Zeugnis« ist es die Schwester, die mehr noch als Vater und Mutter das Ich, in dessen Vorstellung, dazu anhält, Ja zu ihr zu sagen, mit seinem »Zeugnis« zu ihr zu stehen, trotz ihrer nur mehr »nächtlichen«, nur mehr »lautlosen« Stimme: [...] Asche, Wind meiner Schwester in meinem Haar, es weht rückwärts, rückwärts, nächtlicher Wind in meinem Tag bin ich da um zu sagen Ja ihrer nächtlichen Stimme, Ja ihrer lautlosen, Ja dem der verlorengeht im Haus ihrer Abwesenheit dem das abfällt vom Schatten der Wände auf die Furcht meiner Stimme zu sagen Ja am wohnlosen Ort.

Existieren, wohnen an einem »wohnlosen Ort«, an dem man nicht wohnen kann – wenn nicht zu der »Schweigesprache« (Alexander von Bormann), von 29 30 31

32

Tuvia Rübner: Abschied. In: ders.: Granatapfel. Frühe Gedichte. Mit einem Nachw. von Hans Otto Horch. Aachen: Rimbaud 1995, S. 32. Tuvia Rübner: Was geht vorbei. In: ebd., S. 33. Vgl. das Nachwort von Hans Otto Horch, ebd., S. 59. Tuvia Rübner: Meine kleine Schwester wacht und schläft. In: ders., Wüstenginster (wie Anm. 21), S. 6. In den »Anmerkungen zu den Gedichten«, S. 61, gibt es zum ersten Vers den Hinweis auf das Hohelied 5,2: »Ich schlief, aber mein Herz war wach.« Vgl. Horch, Nachwort (wie Anm. 29), S. 60. Rübner, Ein langes kurzes Leben (wie Anm. 1), S. 82.

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der oben die Rede war, und zu ihren Andeutungen und ihren allenfalls indirekten Fingerzeigen, dann nötigt die Konfrontation mit dem »Vergangenen/Unvergangenen« (Amir Eshel) die Sprache unter Umständen zur Paradoxie – »nächtlicher Wind // in meinem Tag«33 –, mithin zu einer »offen, direkt« anmuten Sprechweise,34 deren eigentliches Charakteristikum hier, in den Gedichten Rübners (und in denen anderer), indessen die Unauflöslichkeit des Widerspruchs ist (während in früheren Jahrhunderten der Widerspruch sich auf einer höheren Ebene noch mochte auflösen lassen). »[...] grau / blüht das Land« heißt es in dem auf »Zeugnis« folgenden Schlussgedicht der Sammlung Rauchvögel, »Unwahrer Morgen«,35 in einem Gedicht, das von einem ›toten Mund‹ spricht und das mit seinen Paradoxien – eher skeptisch – just auf Sprache und Dichtung zielt: Silbe, zerbrochen, [...] Vor Grabaufgang steigt auf das Lied, Rauch der Lieder.

Die Skepsis kann bis zur Selbstnegation des Gedichts gehen: Es gibt Dinge, die Schrift schrumpft unter ihnen zusammen. Es gibt Dinge, die Worte schrecken vor ihnen zurück. Es gibt ein Gedicht, das ist ein Ungedicht.36

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In Tuvia Rübner: Vor dir der Regen. Zeugnis. Zwei Gedichte. Warmbronn: Keicher 1994, o. P., lauten die beiden Verse: »[...] nächtlicher Wind // in meinem Tag ich bin da um zu sagen«. Der Verzicht auf die Inversion »bin ich« verdeutlicht die Zusammengehörigkeit der beiden Elemente »nächtlicher Wind« und »in meinem Tag«. Uwe Pörksen: Der Sturm aus der Vergangenheit. Über Tuvia Rübner. Stuttgart: Steiner 2003, S. 19. Tuvia Rübner: Unwahrer Morgen. In: ders., Rauchvögel (wie Anm. 13), S. 61. Tuvia Rübner: Ungedicht. In: ders.: Wer hält diese Eile aus. Gedichte. Aachen: Rimbaud 2007, S. 39. Mit anderem Zeilenumbruch auch in Rübner: Von Luft zu Luft. Vierzehn Gedichte. Mit zwei Zeichnungen und einer Anm. von Christoph Meckel. Warmbronn: Keicher 2003, S. 5.

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Dennoch vollzieht sich diese Selbstnegation paradoxerweise in einem Gedicht. Der Schlussvers ist aufgrund der identifizierenden Gleichsetzung (»das ist«) umkehrbar: das Ungedicht ist ein Gedicht – trotz seines poetischen Unvermögens. Angesichts des Rückbezugs zahlreicher Gedichte auf ihr eigenes poetisches Sprechen kann man, zum »Abendlied« zurückkehrend, die schon angedeutete Überlegung bekräftigen, dass, abgesehen vom Verweis des Titels auf das lyrische Genre, auch das wie beschwörend anmutende Rufen – »Weshalb rufe ich die Toten / aus der Asche?« – zugleich ein poetisches Sprechen meint und dass der Schluss es nicht nur der Sprache im Allgemeinen, sondern insbesondere der Dichtung aufträgt, sich der Begegnung mit dem »Unsagbare[n], über das nicht geschwiegen werden darf« (Hans Otto Horch), zu stellen.37 In einer Vorbemerkung zu Gedichten Rübners, die in der Zeitschrift Akzente erschienen sind, erinnert der eingangs erwähnte Werner Kraft an eine LyrikAnthologie aus den zwanziger Jahren, in deren Nachwort Rudolf Borchardt gemeint habe, er habe Rückerts Kindertotenlieder nicht aufnehmen können, weil diese »entsetzliche Menschenschreie, aber keine Gedichte« seien. Und mit Bezug auf Rübners Gedichte fügt Kraft, »tief ergriffen«, hinzu, »daß die entsetzlichen Menschenschreie selbst das Gedicht wurden«.38

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Horch, Nachwort (wie Anm. 29), S. 59. Werner Kraft: Vorbemerkung. In: Tuvia Rübner: Gedichte. Übers. von Manfred Winkler. In: Akzente 34 (1987), H. 2, S. 140.

Jakob Hessing

Deutscher Erzähler, jüdische Geschichte Zu W. G. Sebalds Roman Austerlitz

I. W. G. Sebald kam 1944 in Wertach zur Welt, einem Dorf im Allgäu, wo die Erwachsenen es vermieden, vom Krieg oder gar von der Schoa zu reden. Erst an der Universität machte er sich mit den historischen Tatsachen vertraut, aber anders als seine Kommilitonen der sechziger Jahre probte er keinen Aufstand gegen die Eltern; statt dessen ging er aus Deutschland fort, ließ sich in England nieder und lehrte bis zu seinem Tod im Dezember 2001 als Germanist an der Universität von East Anglia. Weder seine Forschungsarbeit noch seine Prosa lassen einen Zweifel daran – der Schock, den die nationalsozialistischen Verbrechen in ihm auslösten, führte zu seiner Auswanderung. Einer seiner Essaybände trägt den Titel Unheimliche Heimat.1 Unter den Autoren, die dort zur Sprache kommen, finden wir Joseph Roth und Jean Améry, zwei österreichische Juden, die von den Nazis nicht nur ins Exil, sondern auch in den Tod getrieben wurden, und ein anderer Jude aus Österreich, Sigmund Freud, hat auf die semantische Verknüpfung zwischen »unheimlich« und »Heim« hingewiesen. Ein Erlebnis aus unserer Vergangenheit, – etwas, das wir von ›zu Hause‹ kennen –, ist seither verdrängt worden; es kann erst wiederkehren, als es sich verändert hat, ›un-heimlich‹ geworden ist: Hinter der Verfremdung taucht eine alte Erfahrung auf, die man nur sehr ungern wahrnimmt. Es ist ein Vorgang, der sich auch in W. G. Sebalds Leben beobachten lässt. An der Universität war er erstmals mit der Vergangenheit seines Landes konfrontiert; hinter den Gräueltaten, dem »Unheimlichen«, erkannte er das Schweigen, das im Dorf geherrscht hatte, als er ein Kind war; und als er begriff, was man zu Hause verborgen hatte, entschloss er sich zur Auswanderung. Die Essays in Unheimliche Heimat entstanden zum großen Teil in den 1980er Jahren, und der Band erschien 1991. Im Folgejahr veröffentlichte Sebald Die Ausgewanderten,2 vier Erzählungen über Menschen, die im 20. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten ihr Land verließen, ohne eine neue Heimat zu 1 2

W. G. Sebald: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Salzburg, Wien: Residenz-Verlag 1991. W. G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main: Eichborn 1992.

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finden. Das Buch machte ihn als Prosaschriftsteller berühmt, und die Verbindung zu seiner akademischen Arbeit ist offensichtlich. Als Forscher hatte er die Spur einer Katastrophe verfolgt, die sich durch die deutsche und deutschjüdische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zog; als Schriftsteller gestaltete er Figuren, die dieser Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Teilweise waren sie wirklichen Personen nachgebildet, denen er begegnet war, und ihre Biographien konstruierte er aus dem Zusammenspiel von Vergessen und Erinnerung. Im Mittelpunkt der Erzählung, die Die Ausgewanderten abschließt, steht der Maler Max Aurach.3 Als jüdisches Kind in München aufgewachsen, wurde er 1939 nach England geschickt, und nach dem Krieg übernimmt er ein Studio im alten, heruntergekommenen Hafen von Manchester. Der deutsche Erzähler, der ebenfalls in England lebt, schildert seine hartnäckige Arbeit an der Staffelei und beschreibt, wie er seine Bilder gleichzeitig zu malen und zu zerstören scheint: Sein heftiges, hingebungsvolles Zeichnen, bei dem er in kürzester Frist oft ein halbes Dutzend seiner aus Weidenholz gebrannten Stifte aufbrauchte, dieses Zeichnen und Hinundherfahren auf dem dicken, lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem Zeichnen verbundene andauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige, nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion. Es wunderte mich immer wieder, wie Aurach gegen Ende eines Arbeitstages aus den wenigen der Vernichtung entgangenen Linien und Schatten ein Bildnis von großer Unmittelbarkeit zusammenbrachte [...]4

Aurachs Arbeitswut ist seine Antwort auf eine Trennungsangst, die er niemals überwunden hat. 1939 musste er seine Eltern in Deutschland zurücklassen, 1941 wurden sie von den Nazis umgebracht, und als Maler ist er verzweifelt darum bemüht, die Bilder einer Vergangenheit heraufzubeschwören. Aber es gelingt ihm nicht, er scheint nur Staub zu produzieren, und seine Kunst darf vielleicht als ein performativer Akt verstanden werden – die Angst hinter den Bildern, die er nicht gestalten kann, setzt sich ständig in eine Metapher für seine ermordeten Eltern um. Und doch ist es »ein Bildnis von großer Unmittelbarkeit«, das er schließlich zustande bringt. Es ist seine eigene Poetik, die Sebald uns vorführt: Wie Aurach sucht auch er seine Figuren in einer Landschaft des Todes zu gestalten, die er immer wieder erforscht, und in Die Ausgewanderten begegnen uns einige von ihnen. Anders als der Maler ist es freilich nicht Sebald, der sie auslöscht, sondern sie selbst sind es, die sich im Laufe der Erzählungen wieder zurücknehmen. Der Arzt Dr. Selwyn, der Volksschullehrer Paul Bereyter, Sebalds fiktiver Großonkel Ambros Adelwarth – sie alle begehen auf die eine 3

4

W. G. Sebald: Max Aurach. In: ders., Die Ausgewanderten (wie Anm. 2), S. 217355; hier und im Folgenden wird die Lizenzausgabe zitiert, die 1994 im Fischer Taschenbuch Verlag erschien. Ebd., S. 238f.

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oder andere Weise Selbstmord, aber bevor sie aus dem Leben scheiden, prägt Sebald sie unserem Gedächtnis auf unvergessliche Weise ein.

II. Von einem Mann auf der Suche nach seinen Eltern erzählt auch Austerlitz, das letzte Werk, das Sebald zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat. Der Roman erschien 2001, kurz vor seinem tödlichen Autounfall. Wie Max Aurach wird Jacques Austerlitz als Kind aus dem von den Nazis besetzten Europa nach England geschickt; auch seine Eltern kommen im Holocaust um; und weder Aurach noch Austerlitz kommen auf der verzweifelten Suche nach ihrer verlorenen Identität zu einem Ende. Zwischen den Narrativen um Aurach und Austerlitz bestehen mehrfache Korrespondenzen, und hier soll gezeigt werden, wie Sebald zehn Jahre nach Die Ausgewanderten einige Themen der frühen Erzählung wieder aufnimmt und vertieft. Aurachs Studio liegt nahe am einstigen Hafen von Manchester, und Sebald macht sichtbar, wie verfallen die Gegend nun ist. Im 19. Jahrhundert war Manchester die Welthauptstadt der industriellen Revolution gewesen, und obwohl es sechzig Kilometer von der Küste entfernt war, wurden Kanäle gebaut, um es mit dem Meer zu verbinden. Im zwanzigsten Jahrhundert ging das alles zur Neige, der Hafen verwahrloste, und die Ruinenlandschaft wählt Aurach zum Hintergrund für seine Versuche, mit den Trümmern des eigenen Lebens zu Rande zu kommen. Auch in Austerlitz spielen Ruinen eine zentrale Rolle. Wie Walter Benjamin liest Sebald die Moderne als eine Katastrophengeschichte, aber in seinem letzten Roman ist es kein Künstler, der ihr begegnet. Jacques Austerlitz wählt einen anderen Weg in die Vergangenheit, er studiert die Baugeschichte Europas. Die Ruinenlandschaft, in der der Maler einst seine Bilder zu Staub zerrieb, wird für ihn zum Gegenstand einer intellektuellen Analyse. Wie in dem Text über Aurach tritt ein deutscher Erzähler auch hier an einen Juden heran und schreibt auf, was er von ihm erfährt. Zum ersten Mal trifft er ihn in den späten 1960er Jahren in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs von Antwerpen. Austerlitz macht dort seine photographischen Aufnahmen und Notizen, er führt den Erzähler in die Besonderheiten des Gebäudes ein und bringt zugleich zur Sprache, was sich im Laufe des Romans als ein zentrales Thema erweisen wird. Es sei nur folgerichtig, sagt er, daß uns an den erhobenen Plätzen, von denen im römischen Pantheon die Götter auf den Besucher herabblicken, im Bahnhof von Antwerpen in hierarchischer Anordnung die Gottheiten des 19. Jahrhunderts vorgeführt werden – der Bergbau, der Verkehr, der Handel und das Kapital. […] Und unter all diesen Symbolbildern, sagte Austerlitz, stehe an höchster Stelle die durch Zeiger und Zifferblatt vertretene Zeit. An die zwanzig Meter oberhalb der kreuzförmigen, das Foyer mit den Bahnsteigen verbindenden Treppe [...] befinde sich genau dort, wo im Pantheon in direkter Ver-

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längerung des Portals das Bildnis des Kaisers zu sehen war, die Uhr; als Statthalterin der neuen Omnipotenz rangiere sie noch über dem Wappen des Königs und dem Wahlspruch Eendracht maakt macht.5

Diese neue Allmacht der Zeit ist aufs engste mit der Erfindung der Eisenbahn verknüpft. Tatsächlich, sagte Austerlitz, gingen ja bis zur Synchronisierung der Eisenbahnfahrpläne die Uhren in Lille und Lüttich anders als die in Gent oder Antwerpen, und erst seit der um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Gleichschaltung beherrsche die Zeit unbestrittenermaßen die Welt.6

Auf den ersten Blick mag das eine Ableitung aus empirischen Befunden sein, in den 1960er Jahren scheint Austerlitz vorzunehmen, was wir heute eine kulturwissenschaftliche Studie nennen würden. Aber das ist nicht alles, und zunächst fällt der Widerstand auf, den Austerlitz dieser von ihm konstatierten Allmacht der Zeit entgegensetzt. Nach ihrer ersten Begegnung in Antwerpen bleiben sie bis 1975 im Kontakt, dann geht der Erzähler auf den europäischen Kontinent zurück. Sie verlieren sich aus den Augen, aber viele Jahre später, im Dezember 1996, treffen sie sich in London wieder und machen einen Spaziergang durch den Park und das Königliche Observatorium in Greenwich.7 Das einst mächtige British Empire hatte sich hier ins Zentrum der Welt gesetzt, hatte selbstherrlich festgelegt, dass der Nullmeridian durch das Observatorium verlaufe, und Austerlitz kann darüber nur spotten. »Die Zeit«, so sagt er, sei von allen unseren Erfindungen weitaus die künstlichste und, in ihrer Gebundenheit an den um die eigene Achse sich drehenden Planeten, nicht weniger willkürlich als etwa eine Kalkulation es wäre, die ausginge vom Wachstum der Bäume oder von der Dauer, in der ein Kalkstein zerfällt […].8

Ein Sonnentag, so fährt er fort, sei alles andere als eine präzise Maßeinheit, und dann wird er sehr persönlich: Tatsächlich, sagte Austerlitz, habe ich nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht. Eine Uhr ist mir immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, wie etwas von Grund auf Verlogenes, vielleicht weil ich mich, aus einem mir selber nie verständlichen inneren Antrieb heraus, gegen die Macht der Zeit stets gesträubt und von dem soge5 6

7 8

W. G. Sebald: Austerlitz. München, Wien: Hanser 2001; hier und im Folgenden wird die Lizenzausgabe zitiert, die 2003 im Fischer Taschenbuch Verlag erschien; S. 21f. Ebd., S. 22. Obwohl Austerlitz zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass er ein Flüchtling aus dem von Hitler besetzten Europa war, verwendet er hier den Begriff »Gleichschaltung« aus dem nationalsozialistischen Wortschatz; das ist freilich nur ein Kunstgriff des deutschen Erzählers, denn in Antwerpen sprach er mit Austerlitz auf Französisch. – Auch das flämische »Eendracht maakt macht« kann als eine versteckte Anspielung auf das berüchtigte »Arbeit macht frei« gelesen werden. Ebd., S. 148ff. Ebd., S. 149f.

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nannten Zeitgeschehen mich ausgeschlossen habe, in der Hoffnung, wie ich heute denke, sagte Austerlitz, daß die Zeit nicht verginge, nicht vergangen sei, daß ich hinter sie zurücklaufen könne, daß dort alles so wäre wie vordem oder, genauer gesagt, daß sämtliche Zeitmomente gleichzeitig nebeneinander existierten, beziehungsweise daß nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre, das Geschehene noch gar nicht geschehen ist, sondern eben erst geschieht, in dem Augenblick, in dem wir an es denken [...].9

Der Historiker der europäischen Architektur will die Geschichte vernichten, und in einem gewissen Sinn hat er es bereits getan. Einige Monate nach ihrem gemeinsamen Besuch in Greenwich kommt der Erzähler noch einmal nach London, und Austerlitz beschreibt ihm den Unwillen, den seine endlosen Notizen schon seit Jahren in ihm ausgelöst hätten. Eines Abends hätte er sie alle in seinen Garten hinausgetragen und dort vergraben. Es war ein entscheidender Augenblick im Leben von Jacques Austerlitz, und wir müssen einen genaueren Blick auf die Umstände werfen, unter denen er eingetreten ist.

III. In der ersten Phase ihrer Bekanntschaft, etwa im Zeitraum von 1966 bis 1975, geht Austerlitz in seinem Studium der europäischen Baugeschichte völlig auf. Aber 21 Jahre später, als sie sich zufällig wieder begegnen, hat er sich verändert, und er teilt es dem Erzähler auch gleich mit. »Eigentlich, sagte er, habe ich längst meine architektonischen Studien aufgegeben [...].«10 In einer langen Nacht in einer Hotelbar erzählt er jetzt seine Lebensgeschichte, beschreibt seine unglückliche Kindheit und Jugend in Wales und spricht von seinem besten Freund, den er damals hatte. Am folgenden Tag machen sie ihren Spaziergang in Greenwich, und schließlich berichtet er vom Tod dieses Freundes, der mit seinem Flugzeug abgestürzt sei. Es war ein schlimmer Tag, als ich von dem Absturz in den Savoyer Alpen erfuhr, und vielleicht der Beginn meines eigenen Niedergangs, meiner im Laufe der Zeit immer krankhafter werdenden Verschließung in mich selber.11

Sein Freund stirbt in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, etwa zu dem Zeitpunkt, an dem Austerlitz und der Erzähler sich in Antwerpen kennenlernen. Mit dem Schock scheint eine Latenzzeit eingesetzt zu haben, die jetzt, zwei Jahrzehnte später, zu Ende geht. Anfang 1997, – einige Monate nach ihrem zufälligen Wiedersehen in der Hotelbar und ihrem Spaziergang in Greenwich –, lädt Austerlitz den Erzähler in sein Haus nach London ein, und hier verbringen sie zwei Tage miteinander. Austerlitz berichtet ihm von seinem vorzeitigen 9 10 11

Ebd., S. 151f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 172f.

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Ruhestand im Jahre 1991,12 von einer tiefen Krise, die ihn am Schreiben hinderte und schließlich zum Begräbnis seiner Notizen führte,13 und von einer merkwürdigen Zeit in seinem Leben, die auf diese Ereignisse folgte. Die Aufgabe seiner architektonischen Studien kommt einer existenziellen Wende gleich, und im Sommer 1991 überkommt Austerlitz eine große Unruhe. Zu jener Zeit, nach dem Zerstörungswerk im Garten und dem Ausräumen des Hauses, war es auch, daß ich mich, um der in zunehmendem Maße mich plagenden Schlaflosigkeit zu entkommen, auf meine Nachtwanderungen durch London machte.14

Obwohl er seinen Beruf aufgegeben hat, neigt er noch immer dazu, die Baugeschichte der Stadt zu referieren, nur interessieren ihn jetzt die Menschen –, die Lebenden und die Toten –, die ihren Ort verloren, während London wuchs und wuchs. »Um 1860 und 1870 herum«, sagt er, vor Beginn der Bauarbeiten an den beiden nordöstlichen Bahnhöfen, wurden [Londons] Elendsquartiere gewaltsam geräumt und ungeheure Erdmassen, mitsamt den in ihnen Begrabenen, aufgewühlt und verschoben, damit die Eisenbahntrassen [...] herangeführt werden konnten bis an den Rand der City.15

Während eines ganzen Jahres, bis zu seinem Zusammenbruch im Sommer 1992, wandert er durch das nächtliche London, und die Eisenbahnschienen scheinen die Spuren zu sein, denen er folgt. Immer wieder führen sie ihn an einen bestimmten Ort. »Liverpool Street Station, zu der es mich auf meinen Wanderungen unwiderstehlich [...] hinzog«, sagt er, »war [...] einer der finstersten und unheimlichsten Orte von London, eine Art Eingang zur Unterwelt, wie vielfach bemerkt worden ist.«16 Am Ende der 1980er Jahre wurde der Umbau der alten Station begonnen, und Austerlitz, damals noch an den architektonischen Einzelheiten interessiert, besichtigte die Bauarbeiten regelmäßig. Jetzt aber kommt er aus anderen Gründen an diesen Ort, er nimmt nach seinen nächtlichen Wanderungen oft den Zug und fährt zu diesem Bahnhof. Jedesmal, sagte Austerlitz, wenn ich auf dem Rückweg ins East End in der Liverpool Street Station ausgestiegen bin, habe ich mich ein, zwei Stunden zumindest dort aufgehalten, saß mit anderen, am frühen Morgen schon müden Reisenden und Obdachlosen auf einer Bank oder stand irgendwo an ein Geländer gelehnt und spürte dabei dieses andauernde Ziehen in mir, eine Art Herzweh, das, wie ich zu ahnen begann, verursacht wurde von dem Sog der verflossenen Zeit.17

12 13 14 15 16 17

Ebd., S. 178. Ebd., S. 181ff. Ebd., S. 186. Ebd., S. 194. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189f.

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Und in der Tat – es ist eine lang vergessene Erinnerung, die an diesem unheimlichen Ort schließlich erwacht. An der Liverpool Street Station war Austerlitz als vierjähriges Flüchtlingskind in England eingetroffen, hier hatten ihn zwei fremde Menschen in Empfang genommen, um ihn in Wales als ihr Pflegekind aufzuziehen. Hier hatte er seine Eltern endgültig verloren, hier waren sie in Vergessenheit geraten, und von hier aus würde er sich mehr als ein halbes Jahrhundert später auf seine lange Reise in die Vergangenheit machen: Liverpool Street Station ist der Angelpunkt des Dramas um Vergessen und Erinnerung, das uns Sebald in seinem letzten Roman vor Augen führt.18 Hier soll uns interessieren, wie diese neue Bewusstheit zustande kommt. Nach einer Nachtwanderung tritt Austerlitz an einem Sonntagmorgen hinter den Bauzaun vor der Innenfassade des Bahnhofs, er betritt den Ladies’ Waiting Room, – in der viktorianischen Ära, in der man ihn gebaut hatte, waren die Wartehallen noch nach Geschlechtern getrennt –, und plötzlich fühlt er sich von seiner Vergangenheit umgeben, er sieht einen kleinen Jungen auf einer Bank sitzen und ein Ehepaar, das gekommen ist, um ihn abzuholen. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche [...].19

Einige Monate zuvor hatte er im Königlichen Observatorium in Greenwich noch der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die Zeit nicht vergehe und dass man ungehindert in sie eintreten möge, aber in Wirklichkeit hatte er schon lange vorher, auf der Liverpool Street Station im Jahr 1992, genau diese Erfahrung gemacht. Jetzt berichtet er dem Erzähler darüber und fügt einige Worte über den Ort hinzu, an dem ihm das widerfahren war: Ich entsinne mich, sagte Austerlitz, daß [...] die Frage mich quälte, ob ich in das Innere einer Ruine oder in das eines erst im Entstehen begriffenen Rohbaus geraten war. In gewisser Hinsicht ist ja damals, als in der Liverpool Street der neue Bahnhof förmlich aus dem Bruchwerk des alten herauswuchs, beides richtig gewesen [...].20

Ein Bahnhof, locus classicus der Moderne, an dem sich Austerlitz und der Erzähler schon zu Beginn des Romans begegnen, verwandelt sich in eine Ruinenlandschaft wie diejenige, in der der Maler Max Aurach in Die Ausgewanderten die Bilder seiner Vergangenheit heraufzubeschwören sucht. Im Bahnhof ist die Zeit allmächtig, aber in einem singulären Augenblick, in dem einer von ihnen gleichzeitig zerstört und wieder aufgebaut wird, öffnet sich die Zeit, und

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Auch in späteren Jahren kehrt Austerlitz offensichtlich noch zur Liverpool Street Station zurück. Als er 1996 dem Erzähler zufällig wieder begegnet, sitzt er in der Bar des Great Eastern Hotel, das in der Nähe des Bahnhofs liegt; vgl. ebd., S. 61. Ebd., S. 200. Ebd., S. 199.

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die Vergangenheit strömt in ihren offenen Raum.21 W. G. Sebalds Liverpool Street Station ist unheimlich in einem mehrfachen Sinne des Wortes: Hier holen Austerlitz die Schrecken seiner Kindheit ein; und hier hat ein neues Heim sein altes Heim abgelöst, hier haben ihn die Pflegeeltern von seinen biologischen Eltern abgeschnitten.22 Die unerwartete Offenbarung seiner Vergangenheit trifft Jacques Austerlitz wie ein zweiter Schock, und im Sommer 1992 erleidet er einen Zusammenbruch, an den er sich später nicht mehr erinnern kann. Nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt erholt er sich 1993 wieder, die Suche nach seinen verlorenen Wurzeln führt ihn nach Prag, der Stadt seiner frühen Kindheit, und schließlich nach Terezín, wo seine Mutter ums Leben gekommen ist, als es noch Theresienstadt hieß. Im letzten Teil des Romans trifft der Erzähler ihn noch einmal in Paris, wo Austerlitz nach Spuren seines Vaters sucht, der seit dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich verschollen ist. Es ist eine Suche nach den Eltern, die nie an ihr Ziel kommen kann. Austerlitz’ Reise in die Vergangenheit führt in eine Sackgasse und kommt zu spät, um seinem einsamen, unglücklichen Leben noch eine Wende zu geben. »Tatsächlich hatte ich das Gefühl«, sagt er an der schon zitierten Stelle, an der er im Ladies’ Waiting Room seinem eigenen Ich aus früheren Zeiten begegnet, »als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit.«23 Bald wird er manches über die Anfänge seines Lebens erfahren, aber es ist zugleich auch seine Schlussphase. »Ich entsinne mich«, sagt er, daß mir, indem ich den Knaben auf der Bank sitzen sah, durch eine dumpfe Benommenheit hindurch die Zerstörung bewußt wurde, die das Verlassensein in mir angerichtet hatte im Laufe der vielen vergangenen Jahre, und daß mich eine furchtbare Müdigkeit überkam bei dem Gedanken, nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes.24

Als sie sich einige Jahre später zum letzten Mal in Paris treffen, übergibt er dem Erzähler seinen Londoner Hausschlüssel. »Ich könne dort, wann immer ich wolle, sagte er, mein Quartier aufschlagen und die schwarzweißen Bilder studieren, die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben.«25 Der Roman steht im Zeichen der Melancholie, und es gibt Gründe, anzunehmen, dass der Erzähler in ihm die Stimme eines Verstorbenen aufgezeichnet hat.

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Die Bedeutung des Bahnhofs wird in der Sebald-Forschung oft betont; vgl. Sigurd Martin/Ingo Wintermeyer (Hg.): Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Es verwundert daher auch nicht, dass seine Kindheit im Haus des calvinistischen Predigers Emyr Elias und seiner Frau von schier unerträglicher Härte war. Sebald, Austerlitz (wie Anm. 5), S. 200f. Ebd., S. 202. Ebd., S. 414.

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IV. W. G. Sebalds Protagonisten sind die Toten: Das trifft auf Austerlitz zu, und auch auf Die Ausgewanderten. Nur der Maler Max Aurach ist dort noch am Leben, als der Erzähler seinen Text über ihn schreibt. Alle anderen – Dr. Selwyn, Paul Bereyter, Ambros Adelwarth – sind bereits gestorben; das gibt dem Erzähler die Freiheit, nicht nur aufzuzeichnen, was er aus ihrem Munde oder von dritter Seite über sie erfahren hat, sondern auch eine eigene, von den dargestellten Figuren unabhängige Perspektive einzubringen. In Die Ausgewanderten spielt die Autobiographie des Erzählers eine mehr oder weniger ausgeprägte Rolle. Dr. Selwyn lernt er kennen, als er nach seiner Auswanderung in England auf Wohnungssuche geht; Paul Bereyter war sein Lehrer in der Volksschule; Ambros Adelwarth war sein Großonkel, ein Mitglied seiner Familie. Die Verknüpfung der eigenen Person mit den Protagonisten ermöglicht es ihm, der Erzählung ihre Richtung zu geben – in Dr. Selwyns Nachbarschaft zu wohnen, selbständige Erkundigungen über Paul Bereyters Leben einzuholen, Familienmitglieder über seinen Großonkel zu befragen –, in Austerlitz aber tritt der Erzähler weitgehend zurück. Er bleibt passiv, und nur der Zufall oder eine nicht weiter motivierte Einladung seitens seines Gesprächspartners führt ihn mit dem Erforscher der europäischen Baugeschichte zusammen. Schon in Die Ausgewanderten, mehr noch aber in Austerlitz, steht der Protagonist im Vordergrund, nicht der Erzähler. Es entsteht der Eindruck, als erinnere der Erzähler sich an Dr. Selwyn, einen seiner früheren Bekannten, der schließlich Selbstmord begangen hat; als gehe er auf den Spuren Paul Bereyters, eines weiteren Selbstmörders; als rekonstruiere er die Vita seines seit langem verstorbenen Großonkels. Diese Technik lässt die Gestalten plastisch hervortreten, und jedes Detail im Bild der Protagonisten verstärkt das Gefühl ihrer Realität. Es scheint, als gebe es sie wirklich und als sei der Erzähler ein Forscher, der sie so objektiv wie möglich sichtbar zu machen versuche. Diesem Kunstgriff W. G. Sebalds widmet die Forschung große Aufmerksamkeit, und hier sei nur auf die Fotografien hingewiesen, die er seinen Texten beigibt, um das Mitgeteilte scheinbar ›empirisch‹ zu belegen.26 Seine Protagonisten sind keineswegs objektive Wiedergaben historischer Personen, sie sind die literarischen Erfindungen eines Autors, und nicht ihnen, sondern seinem Stellvertreter im Text, dem Erzähler, lässt er das letzte Wort. Auch der späte 26

Vgl. hierzu Martin/Wintermeyer (Hg.), Verschiebebahnhöfe der Erinnerung (wie Anm. 21); dort besonders die Beiträge von Andrea Gnam: Fotografie und Film in Sebalds Erzählung Ambros Adelwarth und seinem Roman Austerlitz (S. 27-48) und Thomas von Steinaecker: Zwischen schwarzem Tod und weißer Ewigkeit. Zum Grau auf den Abbildungen W. G. Sebalds (S. 119-136) sowie Mark R. McCulloh: Understanding W. G. Sebald. Columbia: University of South Carolina Press 2003; dort besonders das erste Kapitel »Blending Fact, Fiction, Allusion and Recall: Sebald’s ›Literary Monism‹« (S. 1-25).

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Roman, in dem der Erzähler zurücktritt und von seinem Gewährsmann Jacques Austerlitz anscheinend völlig abhängig ist, macht das sehr deutlich. Der Roman beginnt nicht mit einem Blick auf den Protagonisten, sondern mit der Ankunft des Erzählers in Antwerpen. Er fühlt sich nicht wohl, ist »von Kopfschmerzen und unguten Gedanken geplagt«, geht in den Tiergarten, um sich zu erholen, betritt dort das Nocturama. Es dauert lange, bis er »die verschiedenen Tiere erkennen konnte, die hinter der Verglasung ihr von einem fahlen Mond beschienenes Dämmerleben führten«:27 Eine unausgesprochene Not des Erzählers ist es, die der Begegnung mit Austerlitz vorangeht, und auch viele Jahre später, als sie sich 1996 abermals begegnen, ist es ähnlich. Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich [...] bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich geschwunden war [...] – die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur.28

Er fährt zum Augenarzt nach London, und dort, – in der Bar des Hotels an der Liverpool Street Station, wo er nach der Behandlung auf seinen Zug wartet, um nach Hause zu fahren –, sitzt Jacques Austerlitz. Es ist die jeweils eigene Not, die sie zusammenführt, und die Frage, ob der Erzähler seinen Protagonisten oder der Protagonist seinen Erzähler gesucht hat, muss offen bleiben. Am Ende des Romans fährt der Erzähler noch einmal nach Belgien, an die Orte ihrer ersten Begegnung, und er liest dort ein Buch, das Austerlitz ihm bei ihrer letzten Begegnung in Paris gegeben hat – den Bericht eines Juden, der in Europa vergeblich nach den Spuren seiner verlorenen Familie sucht.29 Auf den ersten Blick scheint Jacques Austerlitz die einzige Stimme zu sein, die hier zur Sprache kommt, aber der erste Blick täuscht. Der Erzähler hat sich zurückgezogen, und dennoch bleibt er deutlich sichtbar. Immer wieder mischt er dem Protagonisten seine eigene Stimme bei, spricht dabei auch stellvertretend für den Literaturwissenschaftler W. G. Sebald und fügt hinzu, was dem von seinen jüdischen Wurzeln abgeschnittenen Jacques Austerlitz gar nicht mehr bewusst sein konnte. Auf der Suche nach seinen Eltern ist er nach Prag gekommen, und dort betritt er ein Amt, um die Adresse seiner Kindheit zu erfragen. Am Eingang, in einer Szene voll schwarzen Humors, macht Sebald ihn zum Wiedergänger des Josef K., der bei Franz Kafka nie eine Antwort auf seine Fragen erhält: Man mußte sich weit hinabbeugen zu dem viel zu niedrigen Schalter, wenn man mit dem Türhüter sprechen wollte, der allem Anschein nach in seinem Verschlag auf

27 28 29

Sebald, Austerlitz (wie Anm. 5), S. 9f. Ebd., S. 54f. Ebd., S. 418ff.

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dem Fußboden kniete. Obzwar ich meinerseits bald dieselbe Stellung einnahm, gelang es mir auf keine Weise, mich verständlich zu machen, sagte Austerlitz [...] .30

Versteckter ist ein anderer Hinweis, den Sebald über den Kopf seines Protagonisten hinweg an den Leser richtet. Am Ende des Romans besucht der Erzähler ihn ein letztes Mal in Paris, und Austerlitz erwähnt eine Adresse, an der er schon einmal – vor vielen Jahren, zu Beginn seines Studiums – in der Stadt gewohnt hat: In meiner ersten Pariser Zeit, ausgangs der fünfziger Jahre, so sagte er, indem er sich mir zuwandte, hatte ich ein Zimmer bei einer älteren, beinahe durchsichtigen Dame namens Amélie Cerf im Haus Nr. 6 der rue Emile Zola, nur wenige Schritte vom Pont Mirabeau, dessen unförmige Betonmasse ich noch heute manchmal in meinen Angstträumen sehe.31

Das Haus Nr. 6 in der rue Emile Zola war die letzte Adresse, an der Paul Celan in Paris lebte, der Pont Mirabeau vermutlich die Brücke, von der er sich in die Seine stürzte. Aber das weiß nur W. G. Sebald, nicht Jacques Austerlitz, der diesen Dichter nicht kannte, und lange auch sein großes Thema nicht, die Schoa. Erst in seinen letzten Lebensjahren wagte er sie wahrzunehmen. Vorher noch, nach dem Besuch in der Stadt seiner Herkunft, lässt Sebald ihn zum zweiten Mal den Weg von Prag nach London machen. Es ist eine Wiederholung der Flucht, die ihm einst das Leben gerettet hat und zugleich der Beginn seines Unglücks war. Sie führt an den Ufern des Rheins entlang, und dort heißt es: Ja und dann, fuhr Austerlitz fort, irgendwo hinter Frankfurt, als ich zum zweitenmal in meinem Leben einbog ins Rheintal, ging mir beim Anblick des Mäuseturms in dem sogenannten Binger Loch mit absoluter Gewißheit auf, weshalb mir der Turm im Stausee von Vyrnwy immer so unheimlich gewesen war.32

Austerlitz bezieht sich hier auf ein Erlebnis aus seiner Kindheit in Wales. Im Stausee von Vyrnwy hatte sein Pflegevater, der Prediger Elias, ihm einst das Dorf Llanwddyn gezeigt, in dem er zur Welt gekommen war und dessen Überreste auf dem Grund des Sees noch zu sehen waren. Das Kind hatte das falsch verstanden, es hatte geglaubt, die Bewohner des Dorfes seien im See ertrunken, und Elias sei der einzige Überlebende dieser Sintflut gewesen. Der Turm im Stausee war ihm wie ein schreckliches Wahrzeichen dieser Katastrophe erschienen,33 doch später, als er den Mäuseturm im Binger Loch sah, begriff er seine Angst vor dem Turm von Vyrnwy auf neue Weise: Den Turm im Rhein erkannte er als ein Stück seiner verdrängten Flucht aus Prag wieder, und den 30 31 32 33

Ebd., S. 213. Ebd., S. 363. Ebd., S. 325. Vgl. ebd., S. 79ff.; der Damm des Stausees wurde 1888 fertig gestellt, das Dorf Llanwddyn wurde vor der Überflutung des Tals evakuiert und an anderer Stelle neu aufgebaut.

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Turm in einem anderen Wasser als seine un-heimliche Verwandlung, die aus der Erinnerung aufgetaucht war. So stellt es sich am Ende seines Lebens aus der Perspektive von Austerlitz dar. Aber auch hier gibt es eine Perspektive des Erzählers, die dem Bericht des Protagonisten ein anderes Wissen zur Seite stellt. Der Mäuseturm im Binger Loch findet sich an einer weiteren Stelle in der deutschen Literatur, und sie sei hier zunächst zitiert: Das war Hattos Mäuseturm und der Kahn schoß eben durch den Binger Strudel. Die schöne Sara ward dadurch etwas aus ihren Träumereien gerüttelt, und schaute nach den Bergen des Ufers, auf deren Spitzen die Schloßlichter flimmerten, und an deren Fuß die mondbeleuchteten Nachtnebel sich hinzogen. Plötzlich aber glaubte sie dort ihre Freunde und Verwandte zu sehen, wie sie mit Leichengesichtern und mit weißwallenden Totenhemden schreckenhastig vorüberliefen, den Rhein entlang [...].

Das steht in Der Rabbi von Bacherach,34 Heinrich Heines unvollendetem Romanfragment, das von einer anderen Rheinfahrt erzählt. In der Pessach-Nacht haben zwei Männer eine Kinderleiche ins Haus des Rabbi gebracht, und er flieht mit seiner Frau, um den Mördern zu entkommen, die am nächsten Tag über die Gemeinde herfallen werden. Als Austerlitz zum zweiten Mal von Prag nach London fährt, wiederholt er eine Flucht, und der Erzähler verlängert dieses Déjà-vu nun bis in Heines 19. Jahrhundert hinein, und weiter bis ins Mittelalter eines deutsch-jüdischen Rabbi. Er öffnet die Perspektive des Protagonisten und fügt Jacques Austerlitz seiner langen Ahnenreihe ein.

34

Heinrich Heine: Der Rabbi von Bacherach. In: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München 1997, Bd. 1, S. 473.

Deborah Vietor-Engländer

What’s in a Name? What is Jewishness? New Definitions for Two Generations: Elsa Bernstein, Anna Gmeyner, Ruth Rewald and Others

In the Jewish Chronicle of March 8, 2007 (»Hitler, Mog and me«) one of the best-known writers of children’s books in Great Britain, Judith Kerr, explains that she only discovered that she was Jewish at the age of nine when the family fled Berlin in 1933 (her father in February, she and her mother and brother in March).1 The author of the article, Alan Montague, comments, quoting Kerr: Perhaps that’s why she talks about the Jews as if she isn’t one: ›They are somehow separate, however much one wants not to be. I think if it hadn’t been for the Holocaust one wouldn’t give it a thought, quite honestly. After that, one is a Jew. You’ve got to say so. And you owe it to the ones who didn’t get away.‹2

In October 2007 Judith Kerr also mentions her father Alfred Kerr’s comment in 1933 on Else Ury, the Jewish author of the popular children’s series Nesthäkchen: »Else Ury ist ein Schwein.« At the time, Judith was reading Ury’s 39th and last published book Jugend voraus in exile in Switzerland.3 Ury’s first nationalistic children’s book, Nesthäkchen und der Weltkrieg had been published in 19224 (an English translation appeared recently in New York5) and the second in 1933. Judith Kerr called it a book for Hitler. It was. But Alfred Kerr was wrong to condemn her. She was a German nationalist and what these books show quite simply is that she had no feeling of Jewish identity at all. Alfred Kerr probably could not imagine how this could be the case, but it was. The fact that Ury wrote nationalistic books did not save her: she was murdered by the Nazis for her Jewish origin on April 12, 1943 in Auschwitz.6 The purpose of this paper is to suggest that race and genealogy should not influence how one defines a writer and to question artificial constructions of Jewish identity. In the case of several of the writers under consideration – and 1 2 3 4 5 6

Jewish Chronicle March 8, 2007. Ibid. Judith Kerr: Zeitzeugenbericht. Im Exil die Sprache verloren. Spiegel Online www.spiegel.de (October 16, 2007). Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg, eine Erzählung für Mädchen von 8-12 Jahre. Berlin: Meidinger Jugendschriften-Verlag 1922. Else Ury: Nesthäkchen and the World War: a Novel. New York: Universe 2006. Marianne Brentzel: Nesthäkchen kommt ins KZ. Frankfurt am Main: P. Fischer 1996.

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Deborah Vietor-Engländer

here I would like to include Judith Kerr and Elsa Bernstein – it was Hitler who made them into Jews and in the case of Elsa Bernstein he did not even succeed in the concentration camp. If literary historians treat the three German-speaking women writers I intend to examine as Jews, then they are ascribing an identity to them and ignoring much more nuanced identities: those that the women gave themselves or the changes in and development of their personal identity. Although it might be understandable that Elsa Porges-Bernstein is included in the list of female Jewish dramatists in the 19th century, she still did not identify herself as Jewish. Let us begin with the question of her birth identity. Elsa Porges-Bernstein was born on October 28, 1866 in Vienna. Her family moved to Munich when she was one year old. It was rumoured that her father, the music director and creator of the Porges choir, Heinrich Porges (1837-1900), was an illegitimate son of Franz Liszt (1811-1886). She is continually referred to as Liszt’s grandchild and assumptions have been made and copied by researchers without groundwork.7 The historical facts are as follows: Heinrich Porges was born on November 25, 1837. In that year (indeed from 1835 to 1839) Liszt was living with Comtesse Marie d’Agoult and they had three children. Cosima (later Wagner) was born on December 25, 1837. Is Liszt likely to have had children by two different women a month apart while in a permanent relationship? There is no evidence that he knew Charlotte Porges (1801-1869) or Simon Porges (1801-1869). All we can say for certain is that both Liszt and Wagner were friends of Heinrich Porges, who was a devoted disciple of Wagner. Heinrich’s parents came from Prague and were of Jewish origin, but Heinrich and his wife left their children unaware of this. They brought up their children in the Protestant faith, admired the Lutheran Bible, celebrated Christmas and behaved as did most Jewish couples seeking assimilation at the time. When the children discovered that they were not of Christian origin their father explained to them that they, as parents, had wanted their children to decide on their faith for themselves in due time.8 Elsa’s sister Gabriele, who was two years her junior,9 insisted on being christened a Protestant immediately as she wished to be confirmed the following year. Elsa and her parents were christened later. Both Porges sisters seem to have had genuine and fervent Protestant convictions. Elsa had known Max Bernstein since she was thirteen; he was twelve years older than she. As he was Jewish with no thought of baptism, their marriage in 1890, when Elsa was 24, took place in a registry office and Max agreed to leave the religious education of future children to her.10 7

8 9 10

Ulrike Zohoniasson-Baierl: Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer. Eine deutsche Dramatikerin im Spannungsfeld der literarischen Strömungen des Wilheminischen Zeitalters. Berlin, Frankfurt am Main, New York: Peter Lang 1985, p. 27. Elsa Bernstein: Das Leben als Drama – Erinnerungen an Theresienstadt. Ed. by Rita Bake and Birgit Kiupel. Dortmund: Edition Ebersbach 1999, pp. 98-99. Born on November 26, 1868. Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), pp. 100-101.

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Elsa Porges began to train as an actress in 1883 before she was seventeen. However, she was forced to abandon her acting career in 1887 because of eye trouble and the threat of blindness. Nonetheless this early training gave her a great sense of the practical aspects of theatrical performance, which stood her in good stead when she began writing plays after her marriage. Her husband, a successful lawyer, playwright and critic, supported a prosperous household with four servants. She bore three children (Eva in 1894, Maria, who died at the age of four months, in 1897 and Hans Heinrich in 1898). Max Bernstein’s own plays were performed in Munich and Berlin but he also tried to advance his wife’s literary career in every possible way. With his support Elsa Bernstein, whose eyesight was continually worsening, wrote a total of fourteen plays between 1891 and 1910. She used the male and gentile pseudonym Ernst Rosmer (derived from Johannes Rosmer in Ibsen’s play Rosmersholm) and was considered a very promising dramatist by critics.11 Elsa Bernstein portrayed women’s lives and women’s problems (marital rape, venereal disease, blindness, mental illness) from a perspective outside the male realm of observation, but Jewish questions did not seem relevant to her.12 The pseudonym was mentioned by critics13 and she took curtain calls as the author of her plays.14 The pseudonym hid her Jewish ancestry and background from a wider public – I say Jewish ancestry deliberately, as there can be no question of belief – and the pseudonym disguised the fact that she was doubly marginalized 11 12

13

14

See note 13. Helga W. Kraft/Dagmar C. G. Lorenz: From Fin-de-siècle to Theresienstadt. The Works and Life of the Writer Elsa Porges-Bernstein. New York: Peter Lang 2007, p. 5 and p. 183. Paul Schlenther in: Magazin für Litteratur 4 (1893), p. 223 and in: Theater im 19. Jahrhundert. Ausgewählte theatergeschichtliche Aufsätze. »Otto Brahm«, pp. 53-91, posthumously Berlin: Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte 1930 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte; 40. Ed. by Hans Knudsen), p. 80: »Die Dame nennt sich noch Ernst Rosmer. Ihr wahrer Name wird aber nicht lange unbekannt bleiben, und so weit er in die Welt dringt, so weit wird man nach einem zweiten weiblichen Dramatiker von dieser Kraft und Innigkeit vergeblich suchen. […] Ernst Rosmer oder (fort mit der Maskerade) Frau Elsa Bernstein ist unter den Berufensten eine Auserwählte.« Berliner Briefe, November 17, 1895 and Oktober 18, 1896, both in Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt. Ed. by Günther Rühle. Berlin: Aufbau-Verlag 1997, pp. 94-96 and p. 213: »Interessanter fast als das Stück erschien mir die Verfasserin, eine feine, schlanke Dame im schwarzen Kleid, mit hellstem weichem Blondhaar, dessen Ungefärbtheit auch einem argwöhnischen Haarbetrachter bald einleuchtet; ein feiner, zugleich milder und schalkhafter Zug um den jungen Mund; sichere aber noch mädchenhafte Bewegungen. Der angebliche Ernst Rosmer heißt im Leben bekanntlich Elsa Bernstein und ist die Frau des vortrefflichen Verteidigers Max Bernstein. Man kannte sie hier in engeren Kreisen, seit die Freie Bühne ihr erstes Schauspiel ›Dämmerung‹ spielte. Die anmutige Erscheinung der Dame, die eine Schönheit im landläufigen Sinne dennoch nicht zu nennen ist, wirkte bei der Menge der Hörer mit, die sie so häufig an die Rampe baten.«

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as female and Jewish and thereby increased her chances of success.15 Critics tried to use their inside knowledge against her; for example Richard Wrede, in the periodical Die Kritik, was not above an anti-Semitic stab or two in his 1895 review of Tedeum, making references to the author, »Frau Rechtsanwalt Bernstein,« who was certain to know about the morally indefensible behaviour of Jewish lawyers from experience.16 Her pseudonym was in no sense a closely guarded secret but convenient for her when she chose subjects that had been taboo. The best known of her plays remained Königskinder (1895) because of Engelbert Humperdinck’s opera based on her play. The plays were performed until the 1920s but then the demand from theatres petered out in favour of post-imperial playwrights. Despite an operation in 1918, Elsa Bernstein’s eyesight did not improve and by the time her husband died in 1925 she was almost blind. Her unmarried sister Gabriele became her eyes. Max Bernstein died as a result of an appendix operation on March 10, 1925, leaving debts of approximately 800 marks. One can only presume that he lost his money during the time of inflation in Germany in 1922/3. In 1919 Elsa Bernstein’s daughter Eva had married Klaus, Gerhart Hauptmann’s third son by his first marriage. This was to prove significant.17 After 1933 Elsa Bernstein’s life changed markedly. She was defined racially as Jewish, although she had no feeling of Jewish identity. Her son Hans Heinrich was permitted to leave for the U.S.A. He tried to make a living as a lawyer in New York and sent his mother 25 Marks a month. But even receiving this sum became problematic as time went on, as Elsa explains in a letter written in February 1940.18 The Bernstein family (Elsa, Gabriele, Eva) ap15 16

17

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Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p. 3. Richard Wrede in: Die Kritik (1895) 4. Quartal, quoted by Hermann Sudermann: Verrohung in der Theaterkritik. Berlin, Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1902, p. 22: »›Tedeum‹ bekommt noch einen pikanten Beigeschmack dadurch, daß uns Frau Rechtsanwalt Bernstein (dies ist bekanntlich der bürgerliche Name des Verfassers) den Rechtsanwalt Dr. Löwenfeld (eine Figur im Stück; Anm. der Verf.) servirt. Ich kann das verstehen, aber nicht billigen. Jedenfalls würde ich, wenn ich schon einmal Propaganda pro domo mache, meinen Liebling nicht so moralisch ekelhaft handeln lassen. Der Abschied Löwenfelds von seiner Geliebten ist unnütz roh. Trotzdem haben wir nicht die Überzeugung, daß dieser Abschied von den galanten Schweinereien des Junggesellenthums ein dauernder sein müsse. Vielleicht ist der edle Mann mehr unkünstlerisch als unrichtig gezeichnet. Die Verfasserin muß es ja wissen.« Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p. 24. Eva Bernstein-Hauptmann, born November 8, 1894 in Munich, died on September 23, 1986 in Würzburg; Klaus Hauptmann (1889-1967). Franz von Wesendonk: Wenn die Krebse auf den Bergen pfeifen. Briefe der Frau Elsa an den Soldaten Franz. Mittenwald: Mäander Edition 1977, pp. 206-7, Elsa Bernstein to Franz von Wesendonk dated »München, im Februar 1940«: »Die Devisenstelle macht Schwierigkeiten, mir die kleine monatliche Unterstützung von meinem Sohn auszuzahlen. Ich machte eine Eingabe, wies auf mein Alter hin, auf meine Blindheit, auf meine völlig mittellose Schwester. Man sagte mir, es könne Monate

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pealed to Winifred Wagner for help on several occasions and their appeals were not in vain. In 1937 Elsa Bernstein and Gabriele Porges were to be turned out of their flat and Winifred Wagner intervened successfully. The eviction was postponed until 1939 when they moved to a smaller flat.19 They were then told in July of 1939 that they would have to leave this one too and appealed to Winifred Wagner a second time. She secured postponement of a second move for another year.20 Elsa Bernstein’s daughter Eva also appealed to Winifred, because she, as a »rassische Volljüdin,« had been expelled from the »Reichsmusikkammer« and from 1935 onward, after the passing of the Nuremberg Laws, was no longer allowed to work or give concerts. Winifred Wagner told her to emphasize her Aryan blood, as she was blond, fair-skinned and blueeyed, and she suggested sending in a photograph as well. Winifred Wagner’s efforts and her precise advice proved fruitless, but at least Eva was not deported.21 With the outbreak of war the noose tightened more and more. In the autumn of 1941 Elsa Bernstein appealed to Winifred once again to help her and Gabriele to secure visas to join her son in the U.S.A. Winifred was successful in obtaining one visa to the U.S.A. via Switzerland for Elsa Bernstein but not for Gabriele. Elsa refused to leave without Gabriele and the visa expired. In November 1941 the sisters still had some degree of protection through Winifred Wagner.22 However, by then Elsa could no longer communicate with

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dauern, bis ich einen Bescheid erhalte.« Bernstein’s son changed his name to BerntAtkinson and died on February 18, 1980. Jürgen Joachimsthaler: Max Bernstein. Kritiker, Schriftsteller, Rechtsanwalt (18541925). Frankfurt am Main: Peter Lang 1995, Teil II, p. 759. Wesendonk, Wenn die Krebse auf den Bergen pfeifen (see note 18), p. 188. Wesendonk, Wenn die Krebse auf den Bergen pfeifen (see note 18), p. 195, dated »Harlaching, im August 1939«: »Am 1. August ein Telegramm von Winifred, daß sie an maßgebender Stelle Rücksichtnahme für uns erreicht habe.« Brigitte Hamann: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München, Zürich: Piper 2002, pp. 333-4, letter from Winifred Wagner to Eva Hauptmann: »Dabei betonen Sie in erster Linie den starken Prozentsatz Ihres arischen Blutes, denn soweit ich mich erinnere, sind Sie blond, hellhäutig etc. Schicken Sie ein Bild mit ein – es besteht eine Verordnung, wonach das Erscheinungsbild sehr oft ausschlaggebend bei Entscheidungen Ihrer Art ist. Sodann würde ich alle arischen Ahnen zusammenkramen – trotzdem aber die Verdienste Ihres Großvaters (Porges) um Wagner ins rechte Licht setzen. […] Es hört sich alles schrecklich dämlich an, was ich Ihnen da schreibe, aber Sie sollen wissen, daß ich Ihnen gerne helfen würde.« Note p. 661 only lists 1936-7 without date. Wesendonk, Wenn die Krebse auf den Bergen pfeifen (see note 18), p. 233, Elsa Bernstein to Franz von Wesendonk undated: »München, im November 1941«: »Der Dir bekannte Schutz, der sich auf das Andenken unseres Vaters gründet, ist weiterhin wirksam. Mich stimmt es nachdenklich, daß man in Deutschland Wagner heißen muß, – sofern man unbeteiligt – um Zivilcourage zu haben. Aber was rings um einen vorgeht, ist so über alles Maß grauenvoll und himmelschreiend! Benimmt einem jegliche Lust am Leben.«

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her son in the U.S.A. and her only desire was to be allowed to die in peace.23 It was a hard winter; Gabriele was ill, they had very little heating and only just enough to eat.24 In June 1942 Elsa Bernstein and Gabriele Porges asked Winifred Wagner to help them obtain »Aryanisation«, but Winifred’s letter to the Minister of Justice had no effect.25 In September 1941 Reinhard Heydrich was appointed deputy »Reichsprotektor« for the Protectorate of Bohemia and Moravia. He declared martial law and initiated the anti-Jewish campaign, ordering mass deportations of Jews and the establishment of the Theresienstadt camp. Deportations were speeded up after his assassination (May 27, 1942; he died at the beginning of June) and the sisters were deported to Theresienstadt on June 26th.26 Gabriele did not survive even one month in the camp; she died of a bowel infection on July 25th. Elsa Bernstein’s sacrifice of the visa to the United States had been in vain; she was unable to protect them both and Gabriele’s health gave way in the camp. Losing her was the wound that never healed23 until Elsa Bernstein’s own death. However Winifred Wagner did not leave Bernstein in the lurch and succeeded in obtaining the status of »prominent« for her. At the time Elsa Bernstein herself did not know that this change of status entailed the move to the »Prominentenhaus.«27 Elsa Bernstein’s memoir of Theresienstadt (written on a typewriter for the blind after her release out of a need to record events in the camp for her family) remains a vital source of information on her sense of identity or lack of it. Those who like her lived in the »Prominentenhaus« valued and used titles such as Professor or Dr. and Geheimrat or Baron. Bernstein took the jokes that circulated in the camp about the VIPs and their use of titles with considerable humour. When a new detail of cleaners was formed to clean the »Prominentenhaus,« she noted that one of these cleaners was an art historian from the Pinder-Kolleg in Munich, whom she knew as well as other people who had held high positions.28 Her memoir reproduces the atmosphere of Wilhelminian patriarchal society and its hierarchy exactly. She refers to the inmates of the camp in general as »die Juden«, as »jüdische Arbeitskräfte« and on one occa23 24 25 26

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Ibid., p. 234, Elsa Bernstein to Franz von Wesendonk undated: »München, im Dezember 1941«. Ibid., p. 238-9, Elsa Bernstein to Franz von Wesendonk undated: »München, im Februar 1942«. Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth (see note 21), pp. 450-2 and note p. 6 and p. 666. Zdenek Lederer: Ghetto Theresienstadt. London: Edward Goldston & Son Ltd 1953, p. 257. Deportation list, Gabriele II/10-498; deportation noted. »Die Wunde in mir bricht wieder auf, unheilbar…« (when the day of her death approaches). Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p. 84 and p. 171. Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p. 44: »Prominentenhaus, was ist das?« See also H. G. Adler: Theresienstadt 1941-1945 – Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. 2nd revised ed. Tübingen: J. C. B. Mohr/Paul Siebeck 1960, pp. 31012. Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p.73.

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sion as »östliches Gesindel,«29 as if they were part of another world which was not hers. She insisted that the Germans could categorise her as Jewish but would not be able to turn her into a Jew in the camp: Loyalty for her German culture and language, so often expressed in her memoir, as well as her resistance to being identified as a Jew along with the masses of her fellow-prisoners, prevented her from facing up to her predicament without illusion.30

She rejects anything relating to Orthodox Jewry as even more alien. An Orthodox child contemptuously refuses a biscuit she offers him using the Yiddish word »trefe« (non-kosher), which is new to her.31 One fellow-inmate tries to teach her Hebrew; she is totally indifferent to his efforts.32 She comments appreciatively in reference to her own husband, quoting an anti-Semitic remark made about him by Theodor Fontane: »except for the name, the Bavarian element had absorbed the racial element entirely.«33 The same applies to Leo Baeck, who in her view »had no racial traits.«34 When her friend Franzi obtained some torn Jewish prayer books for use as toilet paper, she was sure that the God of Israel would forgive her, as if this God were a totally alien element to her, which indeed he was.35 Her only feelings toward the rabbi at the funeral of a friend who converted to Christianity were resentment at the few indifferent words of rejection that accompanied him to the grave. »The Jews would have had every reason to pay tribute and last respects to their descendant. But the apostate, the convert was rejected to the end. A chapter in the tragi-comedy of Theresienstadt.«36 It is my contention that Elsa Bernstein had never felt anything but German until 1933 and that her Protestant religion was her primary identifier. Her form of quiet rebellion was to maintain her religious belief as a Protestant and her independent faith in the Protestant God. Teaching was forbidden in the camp but informal lectures were given anywhere where a few people could gather together. Elsa Bernstein was asked to lecture to the Protestant congregation37 on »Christianity in my Life« and »Memories« (of Liszt, Peter Cornelius and Wagner) and she continued to express her Christian faith 29 30 31 32 33 34 35

36

37

Ibid., p. 59, p. 81 and p. 153. Kraft/Lorenz, From Fin-de-siècle to Theresienstadt (see note 12), p. 188. Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p. 79. Ibid., p. 52. Ibid., p. 101: »bis auf den Namen habe das Bajuvarische alles Rassische in ihm aufgesogen...« Ibid., p. 91: »Dr. Baeck, groß und schlank, ohne jedes rassische Merkmal.« Ibid., p. 69: »Und wenn Franzi, die alles fertig bringt, nicht einige zerrissene Gebetbücher aufgetrieben hätte – ich bin überzeugt, der Gott Israels wird es mir verzeihen.« Ibid., pp. 72-3, here in translation from Elena Makarova, Sergei Makarov und Victor Kuperman: University Over the Abyss – the Story Behind 489 Lecturers and 2309 Lectures in KZ Theresienstadt 1942-1944. Jerusalem: Verba Publishers Ltd 2000, p. 276. See Makarova/Makarov/Kuperman, University Over the Abyss (see note 36), p. 374.

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in the camp. However, after her death in 1949 she was left with no identity at all. The urn with her ashes was placed in her father’s grave without her name on it. Only the name of Heinrich Porges appeared.38 When the opera based on her best-known work Königskinder (see above) was performed in Zürich in October 2007, no reference was made to her as the author.39 Two other young women writers of a later generation, both from prosperous assimilated Jewish families, can be fruitfully compared with Elsa Bernstein. All three married Jewish husbands who were academics (two lawyers and a biologist, not necessarily all rich but with a certain degree of security) and all three began to publish in their twenties (except for Elsa Bernstein’s first play, which was printed when she was ten).40 Anna Gmeyner was born in Vienna in 1902. Her father was a solicitor, of Jewish ancestry but totally assimilated.41 The family celebrated Christmas and Anna Gmeyner had a Catholic godmother. She too, like Bernstein, wrote her first play at the age of ten and her interest was more for intellectual and cultural pursuits and for the rights of humankind than for anything else. She registered as a student at the University of Vienna in 1920 and studied German literature, English literature and botany for two semesters. In 1924 she met and married a young Jewish biology student, Berthold Wiesner, in a registry office. Her daughter Eva (born in 1925) doubted that her mother had ever been in a synagogue in Vienna and described the bond between her parents as a common feeling of unhappiness and a longing to get away from home. They first went to Berlin, where she felt much happier than in Vienna, but then Wiesner became a research fellow at Edinburgh University and in 1926 his wife followed him there with their small daughter. The General Strike of 1926 in Britain was of great significance to her; she interviewed miners and as a result wrote a play about them: Heer ohne Helden. Her husband was not particularly supportive of her writing and thought that she neglected their small daughter. They separated in 1927 and were divorced a year later when their daughter was three. Eva spent her early childhood shuttling back and forth in trains between her parents, her grandparents, a children’s home in Vienna and then a Catholic convent in the same city. Gmeyner had no qualms about leaving Eva in Catholic hands for long periods of time and Eva was happiest there.42 Heer ohne Helden was first performed in Dresden in 1929 and then in Berlin on January 26, 1930.43 The Arbeiter-Illustrierte-Zeitung printed the 38 39 40 41 42 43

Bernstein, Das Leben als Drama (see note 8), p. 29, München Ostfriedhof M-li-94. The »right to a grave« expired in 1988. Neue Zürcher Zeitung. October 23, 2007. Zohoniasson-Baierl, Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer (see note 7), p. 28. Interviews with Eva Ibbotson, Anna Gmeyner’s daughter. Eva Ibbotson: When love flourished in M for medical textbooks. In: The Guardian. July 9, 2006. It was directed by Brecht’s friend Slatan Dudow, using Erwin Piscator’s »Gruppe junger Schauspieler,« including Ernst Busch.

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»Miners’ song« from the end of the play which was set to music by Hanns Eisler and recorded as sung by Ernst Busch. This was the beginning of Gmeyner’s career as a writer and despite her poverty she felt that she was able to do interesting work in Berlin.44 She researched her second play Zehn am Fließband in the Siemensstadt suburb of Berlin. This play featured a negative or at least problematic Jewish figure, the worker Markowski, who invented a machine that was likely to put a number of other workers out of work.45 Markowski could be used for anti-Semitic propaganda just as the negative Jewish figure Kaftan in Walter Mehring’s Der Kaufmann von Berlin, and Paul Kornfeld’s Jud Süß with its problematic title figure. There are certainly no signs that Gmeyner wished to express any positive aspects of Jewish identity or indeed any personal feelings of Jewish identity at all in her first two plays. The same is true for her play Automatenbüfett, which ran in Berlin from December 1932 to May 27, 1933. It received an honourable mention for the Kleist Prize in 1932 and was praised, unusually, by both the influential theatre critics Alfred Kerr and Herbert Jhering.46 By the last performance Anna Gmeyner was no longer in Germany. She worked in France and then went to England with her mother and her daughter. Her second husband Jascha Morduch (also Jewish) had a British passport and her first husband was still in Scotland, so they could share the care of their daughter. In 1934 Gmeyner began writing a novel concerned specifically with the fate of a Jewish child within the framework of the destinies of five children.47 The German title was Manja, the American title was Five Destinies. Apart from Jewish figures in some of the stories told to her daughter48 and the character Markowski in Zehn am Fließband, this was her first attempt at the portrayal of a Jewish figure.49 The novel begins with the nights during which each of the five children are conceived in different circumstances: by rape, by indifference, in love and in hate, in five families in completely different social and political situations in the Weimar Republic. As the novel unfolds, the friendship between the Jewish girl Manja and the four boys from five different milieus develops and the effect that their relationships with Manja has on each of them is portrayed within the context of the National Socialist rise to power. Franz is severely punished for associating with her: 44

45 46 47 48 49

Anna Gmeyner: A House with Two Doors. Unpublished MS »Deutsches Filmmuseum«, pp. 15-16 see Birte Werner (ed.): Café du Dәme. Bern, New York: Peter Lang 2006, p. 409. Birte Werner: Illusionslos Hoffnungsvoll. Die Zeitstücke und Exilromane Anna Gmeyners. Göttingen: Wallstein 2006, p. 44 and p. 79. Ibid., pp. 52-53. Anna Gmeyner: Manja. Second ed. Mannheim: Persona Verlag 1987. Interviews with Eva Ibbotson. Andrea Hammel: Everyday Life as Alternative Space in Exile Writing. The Novels of Anna Gmeyner, Selma Kahn, Hilde Spiel, Martina Wied and Hermynia Zur Mühlen. Bern: Peter Lang 2008, p. 94.

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Er hat etwas auszustehen gehabt für seine Freundschaft mit Manja. Das Judengör und die Polnische, wie oft hat er das gehört. […] Wieviel Prügel […] denn die Mauer war ein Geheimnis. […] Morgen, wenn Manja fort ist und sein Vater ihn hauen wird, und wie hauen […] die Prügel morgen werden weh tun und morgen wird er heulen dabei.50

Manja uses Third Reich terminology similar to »Judengör« when trying to define herself as someone who is not suitable to associate with the others: »Ich bin ein […] vorderasiatisch-orientalisch, ostbaltisches, innerasiatisches, nordisch-hamitisches Negergemisch […] es steht in den Büchern und alle sagen es.«51 She has absorbed the linguistic jargon of her environment. The book describes the illegitimate conception of the Jewish child, Manja, her mother’s marriage to an elderly Jewish businessman to legitimise her and ends with the rape of Manja52 and her subsequent suicide. The significance of the book for us is that it is Gmeyner’s first attempt to portray the lives of Jews in Germany. I would contest that Gmeyner cannot be treated as a German-Jewish writer before this book. The need to illuminate a Jewish child’s situation developed in exile in England. Gmeyner travelled to Germany once in 1934 and observed anti-Semitism there with acute sensitivity. It was then that she felt the need to write about it. Manja was published by Querido in Amsterdam in 1938 and by Alfred A. Knopf in New York in 1939 under the pseudonym Anna Reiner. The New York edition stated that the assumed name of Reiner was to protect members of her family still living under the swastika. Owing to the fact that she used several names: Anna/Anni/ Any Gmeyner/Gmeiner, Anna Wiesner, Anna Morduch, Anna Reiner and Gmeyner-Wiesner and Wiesner-Gmeyner, her work was not forbidden in Germany until 1938. Ruth Rewald (1906-1942) was four years younger than Anna Gmeyner but her situation was very similar. She was born in Berlin into a non-religious Jewish family and like Gmeyner went to university (in her case studying law in Heidelberg) where she met her future husband Hans Schaul, who was also Jewish. She did not complete her law degree; they married in December 1929 when she was 23. Unlike Gmeyner’s marriage, hers proved to be a stable one. As Rewald wished to concern herself with youth welfare, she worked as a nursery assistant in a children’s day care home in the working-class Berlin district Prenzlauer Berg for several months in 1930, in order to gain practical experience working with children living in poverty. In 1931 her first children’s book Rudi und sein Radio, concerned with new media, radio and aeroplanes, appeared and was an immediate success.53 She also published a number of short stories in various papers in 1932 and early 1933. Her second book 50 51 52 53

Gmeyner, Manja (see note 47), p. 173. Ibid., p. 330. Ibid., p. 181. Stuttgart, D. Gundert Kinderbuchverlag, Reihe Sonne und Regen im Kinderland contains two stories: Rudi und sein Radio, pp. 5-32 and Peter Meyer liest seine Geschichte vor, pp. 33-62.

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Müllerstraße. Jungens von heute54 appeared in 1932 and was warmly greeted by reviewers. It is a proletarian story with no Jewish elements at all. Like Anna Gmeyner, Ruth Rewald was concerned with the situation of the underprivileged in general just before the Nazis came to power and at the time when her own career was starting. After Hitler came to power the »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« of April 7, 1933 affected her husband Hans Schaul as a non-Aryan – he could no longer work as a lawyer in Berlin or indeed anywhere in Germany, so they were forced to leave the country. Her publisher Gundert had accepted her next book, Achtung Renate, in early 1933, but at the end of May, she left for Paris. Her husband followed. Gundert wrote on November 3, 1933 that it would be impossible to publish the book under the new conditions and suggested that she write something different.55 Rewald had lost her German audience before she had really had a chance to communicate what she had to contribute to children’s literature. In Paris she took over a share in a bookshop, tried translating and giving lessons while her husband worked as a photographer. Her early books are not concerned with Jewish identity, but this situation changed abruptly after their departure from Germany. When she wrote to Gundert in July and in November 1934 that she was working on a new book,56 she was referring to the story of Janko, a boy who comes from Mexico to a small German town.57 The stateless outsider finds himself in a German school among classmates who cannot imagine what statelessness is. Just as Gmeyner did when writing Manja in 1934 or Hermynia Zur Mühlen did in her novel Unsere Töchter die Nazinen, written shortly after she left Germany in 1933, Rewald tried from outside to give an image of what she thought present-day Germany was like inside. All three writers tended to idealise certain aspects of the Third Reich and to assume that there was more resistance to the regime than was in fact the case. Rewald’s small town setting is used to portray various reactions to strangers: mistrust, contempt – yet there is understanding and goodness from some. In the small imaginary world within the school, the various teachers represent its facets: the headmaster who wishes primarily to obey the rules but can be reasoned with, the art teacher who wants exact copies instead of creative work, and Larsen, the history teacher who influences Janko most of all. It is to Larsen that he addresses his letter six years later at the end of the book after his return to Mexico:

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56 57

Also Stuttgart, D. Gundert Kinderbuchverlag. Dirk Krüger: Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald und die Kinder- und Jugendliteratur im Exil. Frankfurt am Main: Dipa-Verlag 1990, p. 85. Ibid., p. 91, contract with the publisher October 25, 1934. Ruth Rewald: Janko, der Junge aus Mexiko. Strasbourg: Sebastian Brant-Verlag 1934, new edition: Mühltal: VWM-Verl. Wagener 2002 (Jüdische Bibliothek; 5).

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Ich wäre gern bei Tante Bianca, bei Klattki und bei Ihnen geblieben. Aber als jene Entscheidung des Jugendamtes kam, fühlte ich mich durch die Räder einer Maschine gepackt, deren Räderwerk nicht durch Vernunft, Einsicht und Liebe getrieben war, sondern durch Zufälle, Mißverständnisse und Blindheit.58

While writing Janko, Rewald attempted to obtain a visa for the USA and the replies to her letters have survived. She received a very abrupt and dismissive letter from an American professor of social work,59 whom she had approached about the possibility of being a social worker in the US. Another letter from the »Comité National de Secours aux Réfugiés Allemands Victimes de l’Antisémitisme« indicates that there was no hope whatsoever of a US visa. Her bureaucratic struggle expressed itself in a paragraph in Janko, which described the power of files and of bureaucracy in general: Mit den Akten hat es eine besondere Bewandtnis. […] Nicht mehr der Mensch, über den da berichtet wird, formt das Papier, sondern das Papier formt den Menschen und seine Zukunft. […] Auch sie ist zunächst nur ein Stück Papier, aber sie wird lebendig und ergreift auf eine unheimliche Weise Gewalt von dem Menschen, von dem dort geschrieben ist. Und was dort geschrieben ist, das haben zwar Beamte, lebendige Menschen geschrieben, aber hinter ihnen standen dabei die Staaten, die Interessen, die Gesetze und die Zufälle, und sie führten die Hand des Schreibers.60

Rewald’s world is not as starkly black and white as that of Zur Mühlen. Her books included the portrayal of issues such as statelessness, bureaucracy and mistrust towards outsiders. All could be seen as relating to Jews in Germany after 1933, but she does not explicitly portray the situation of Jews. This is different from Anna Gmeyner’s exact portrayal of Jewish characters in Manja. Rewald had by mid-1935 given up hope of being able to cross the Atlantic and later wrote to Gundert that she was doing office work and helping in a dental surgeon’s office.61 On May 16, 1937 Rewald’s daughter Anja was born in Paris. She left her in Paris and went to Spain to rejoin her husband there until February 1938, commenting: »Ich denke an meine Heimat, an Deutschland. Dort ist es vergnüglich, den tanzenden weißen Sternen zuzusehen. Hier denkt man mit Schrecken dran.“62 Germany is still home for her and so are the Christian customs of her childhood. Back in Paris her father wrote to her at the end of 1938:

58 59 60 61 62

Ibid., new ed., p. 90. Krüger, Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald (see note 55), pp. 170-71. Rewald: Janko, der Junge aus Mexiko (see note 57), new ed., p. 87. Krüger, Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald (see note 55), p. 157. Ibid., p. 233.

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Es ist nett, daß Du die Sitte des Weihnachtsbaums für das Kind aufrechterhältst. Wann werden wir mal zusammen Weihnachten feiern können?!? Dann soll aber Anja einen ganz großen und herrlich geschmückten Baum bekommen.63

After the outbreak of the war Ruth Rewald and Anja were evacuated (in June 1940) to Sainte-Anne (near St. Nazaire) and then in November to SaintRosiers-sur-Loire. A postcard to her husband, who was interned in Djelfa, described their Christmas there in 1941. It was to be their last together. In June 1942 she wrote to him when the star was introduced with the word »race« in inverted commas: »Ansonsten trage ich jetzt das Emblem meiner ›Rasse‹.« She adds an uncomplimentary description of a Jewish couple she is forced to live with: Abgesehen davon, daß ich das Pech hatte, mit einem alten jüdischen Haushaltsehepaar hier anzukommen, die unerträglich sind, geht es uns gut. Ihr Verhalten fällt auch auf mich zurück. Sie profitieren davon, daß sie bemitleidet werden, was sie mir noch suspekter macht. […] Die Leute sind egoistisch, feige, tränenvoll, klebend.64

This letter indicates her unhappiness at being associated with such people, but it was not to be for long. A month later she was arrested and deported to Auschwitz. She was gassed there in July 1942 at the age of 36. Her daughter Anja was deported on January 25, 1944 and sent to Auschwitz to die on February 10, 1944. She was not quite seven. Ruth Rewald was murdered because of her Jewish origin; she did not, however, deal with Jewish themes in her writing. The German author Elisabeth Langgässer was prepared to let her illegitimate daughter be sent to Auschwitz rather than risk anything for herself or the rest of her family. Cordelia was born in 1929 as a result of Elisabeth Langgässer’s relationship with Hermann Heller who was Jewish. Heller was married and broke off all contact with Langgässer when he heard about the pregnancy, but he paid child support and his name was on the birth certificate. Langgässer’s own father Eduard came from an old Mainz Jewish family, but he had been baptised. Hence, her daughter Cordelia had three Jewish grandparents and was by definition a »Volljüdin.« Langgässer married Wilhelm Hoffmann in July 1935 just before the Nuremberg Laws were passed in September. From then on she was protected by her »priviligierte Mischehe« but in May 1936 she was excluded from the Reichsschrifttumskammer.65 She appealed to Hinkel and Goebbels to let her continue to publish basing her appeal »mit deutschem Gruß« on her mother’s Aryan ancestors, her Aryan

63 64 65

Ibid., pp. 157-58. Ibid., pp. 268-69. Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. 1984 in Swedish, 1986 in German, München: DTV 1989, p. 41.

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half-brother and her Aryan husband. However, her appeal was fruitless.66 From September 1, 1941 Jews were obliged to wear a yellow star. Langgässer sent her daughter to live in a »Judenhaus« so that the family would not have to have a star on the door. When claiming privileged status as someone persecuted by the Nazis in 1946, she argued that she was not responsible for this, as her husband had refused to keep Cordelia with the family given the circumstances.67 Cordelia Edvardson commented later about her mother: »Wie stets erdichtete und erschuf sie sich ihre eigene Wirklichkeit, die Welt, deren sie gerade bedurfte.«68 Elisabeth Hoffmann, Cordelia Edvardson’s daughter, confirmed this fifteen years later.69 In the spring of 1944 Cordelia was deported, first to Theresienstadt and then she became Number A 3709 in Auschwitz. This is where Cordelia found her Jewishness, she wrote afterwards. This was where she was allowed to be one of the group: »In Theresienstadt durfte sie dabei sein«.70 Ruth Klüger describes a similar experience in the same camp.71 After the war Cordelia’s mother made use of her daughter’s deportation and suffering to achieve the status of »Opfer des Faschismus« for herself. She did not realise that her daughter had discovered in the camps that there was a possibility of living an included instead of an excluded life. Cordelia left Catholicism and returned to Judaism72 and ultimately during the Yom Kippur war settled in Israel and felt that she had come home: »als sie in die verdunkelte Stadt kam, wußte sie, daß sie heimgekommen war. […] sie war ein Teil ihres Volkes, ein Glied im Bund des unauslöschlichen Siegels.«73 The most extreme example for the practice of literary historians wrongfully ascribing a Jewish identity to an author who did not identify herself as Jewish is a recently published book that tries to construct a Jewish history for Thomas Mann’s children. Viola Roggenkamp’s Erika Mann - eine jüdische Tochter. Über Erlesenes und Verleugnetes in der Frauengenealogie der Familie Mann66

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71 72 73

Ursula El-Akramy: Wotans Rabe: Elisabeth Langgässer, ihre Tochter Cordelia und die Feuer von Auschwitz. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik 1997, pp. 114-5, see also p. 35. Ibid., pp. 73-75. Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer (see note 65), p. 25. Elisabeth Hoffmann: Mutter und Tochter in »finsteren Zeiten«. Elisabeth Langgässer und Cordelia Edvardson: ein deutsch-jüdisches Schicksal im Dritten Reich. In Barbara Bauer/Waltraud Strickhausen (ed.): »Für ein Kind war das anders«: traumatische Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland. Berlin: Metropol 1999, p. 90. Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer (see note 65), p. 79. See also Svenja Grauert: Die Grenze zwischen Täter und Opfer: Cordelia Edvardson, Eugen Kogon und Tadeusz Borowski. In: Exil (2007), 1, p. 46. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992, p. 89. Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer (see note 65), p. 121. Ibid., p. 128 und p. 130.

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Pringsheim74 consists of 250 pages about something which did not exist. Katia Mann was of Jewish origin but never wished to acknowledge it: »Juden waren die anderen Juden,«75 says Roggenkamp. She is quite right and this is how Katia Mann and Elsa Bernstein both felt. Golo Mann claimed in his memoirs that he did not know that his mother and her family were Jewish and that his mother told him that as a child she did not know either.76 Roggenkamp feels it is essential to write a book about something that Erika Mann never felt she was: Erika Mann übernahm die Verleugnung des Jüdischseins von ihrer Mutter. In der verinnerlichten Verleugnung gehörte das Jüdische dennoch zu ihr […] Erika Mann hat vermutlich über ihr Jüdischsein nie gesprochen, sie hat es nach außen hin negiert.77

And not only outwardly. Jewish rituals were totally alien to Erika Mann, just as they were to her mother and to her grandmother. Her great-grandfather Ernst Dohm had studied Protestant theology before making a reputation as a journalist. People are defined by their traditions, their environment and their own decisions and not by the Nazi definition of blood and race that Roggenkamp uses. It was the Nazis who were unable to respect the way individuals defined themselves and destroyed six million human beings in the name of racial purification and the extermination of sub-humans. Roggenkamp’s book is another and very recent example of the straitjacket attitude to Jewish identity and the use of a racial definition to label women instead of looking at what they themselves felt they were. One should consider Sir Ernst Gombrich’s opinion, expressed in 1996, that the relevance of the concept of Jewish identity is more than questionable and that in his opinion the notion of Jewish culture can be seen as an invention of Hitler and his fore-runners and after-runners.78 I have shown that in the cases of Anna Gmeyner, Ruth Rewald and Cordelia Edvardson their experiences after 1933 changed their consciousness and that this was directly reflected in their works, but this does not apply to Elsa Bernstein or Erika Mann, their self-definition never included their Jewish background. This should be accepted by literary historians and the label »German-Jewish woman writer« should not be applied to them.

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Viola Roggenkamp: Erika Mann – eine jüdische Tochter. Über Erlesenes und Verleugnetes in der Frauengenealogie der Familie Mann-Pringsheim. Zürich: ArcheVerlag 2005. Ibid., p. 91. Ibid., p. 15. Ibid., p. 83 und p. 91. www.gombrich.co.uk; The Gombrich Archive. Ernst Gombrich: Reflections on the Jewish Catastrophe. November 17, 1996.

Joseph A. Kruse

Auf eine finstere Zeit bezogen Die Shoah in autobiographischen und literarischen HeineVerweisen bei den Franzosen Ernest Weill und Gilles Rozier

I.

Heine als Deutungshilfe: Literarische Wirkungen und poetische Bezüge

Wie man mit Dichtern durchs Jahr kommt und somit gar durchs Leben gehen kann, zeigen seit langem Kalender mit Dichternamen, die entsprechend dem ins Auge gefassten Ziel der literarischen Anregung wie Erbauung ausgewählte, eben passende Zitate enthalten, über die sich nachzudenken lohnt. Goethe hat in dieser Hinsicht beispielsweise Schule gemacht. Autoren werden zu ständigen Begleitern im Taschenformat, bieten in minimalen Textauszügen die kleine Hilfe zum Weltverständnis für jeden Tag. Im religiösen Kontext sind solche brevierartigen Anthologien aus Bibelworten oder sonstigen heiligen Schriften ebenfalls üblich und zweifellos die Anregung gewesen für vergleichbare Publikationen auf dem säkularen Gebiet der Dichtung. Auch für Heine haben sich zahlreiche kalenderunabhängige Möglichkeiten ergeben, in parzellierten Happen ein breiteres Publikum zu erreichen.1 Der dankbare Leser kann sich dadurch bei vielen Gelegenheiten an eine passende Formulierung seines poetischen Begleiters erinnert fühlen. Was auf harmlose Weise für die Vermarktung und durch die geschmeidige Darbietungsform des Dichters zu einer der Überlebensmöglichkeiten der literarischen Tradition geworden ist, gilt natürlich auch auf manchmal untergründige Weise für die Gesamtrezeption Heines selbst, und zwar ebenso erstaunlicher- wie glücklicherweise bei den unterschiedlichsten Autoren und in Arbeiten bis in die jüngste Gegenwart hinein. Ein Schriftsteller wie Heine, dessen Wirkungsgeschichte reich ist an internationalen Erfolgen, kann sich somit auch heute noch behaupten, und das gerade auf dem manchmal nicht zu Unrecht beklagten Felde der französischen Aufnahme seines Werks. Denn immerhin zählt er, obgleich hauptsächlich deutscher Schriftsteller, gewissermaßen auch zur Literaturgeschichte seines Gastlandes, in dem er von 1831 bis zu seinem Tode im Februar 1856 gelebt hat. 1

An zwei Beispielen, die für solche Bedürfnisse bzw. Verlagsangebote im Rahmen von sogar eigens dafür vorgesehenen Reihen stehen, war der Verf. nicht unschuldig: »Heine für Gestreßte« und »Heine für Boshafte«. Frankfurt am Main: Insel 2005 und 2008.

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Joseph A. Kruse

Zwei jüngere französische Titel, wobei der erste sogar zuerst auf Deutsch präsentiert wurde und der andere gleich nach seinem Erscheinen in Paris auch als deutsche Übersetzung herauskam, sollen hier als Exempel für eine besondere Form der Aufnahme von Heine-Anspielungen bzw. des autobiographischen wie literarischen Verweises auf ihn vorgestellt werden, wobei Heine in den gänzlich unterschiedlichen Darstellungen des schwierigsten Kapitels der deutschen Geschichte, der Shoah, gewissermaßen einen wirklich positiven, dabei ebenso prophetischen wie dichterischen Bezugspunkt zu bilden vermag. Es handelt sich einmal um das Buch von Ernest Weill mit dem Titel Die Loreley oder der verfluchte Mythos. Lebenserinnerungen eines elsässischen Juden 1915-1945, das 2008 publiziert wurde und die ersten dreißig Jahre des 1915 geborenen, über 90jährigen Verfassers, eines bedeutenden Vertreters der französischen und internationalen Vermögensverwaltung, autobiographisch beschreibt.2 Zum andern wird der fünf Jahre zuvor erschienene, im deutschen Sprachraum mit Interesse aufgenommene Roman des französischen Romanciers Gilles Rozier Eine Liebe ohne Widerstand aus dem Jahre 2003 herangezogen, der als fiktionales Werk des 1963 geborenen Direktors des Hauses für jiddische Kultur in Paris die deutsche Besatzungszeit thematisiert.3 Heine war während des Dritten Reiches auf keinen Fall zu domestizieren: Als Jude, als Exilant in Paris und als politischer Schriftsteller entsprach er dem Regime in keiner Weise, außer etwa durch seine besonders oft vertonte frühe Lyrik des Buchs der Lieder von 1827, darin vor allem das als zweiter Text des Zyklus »Die Heimkehr« zum Volkslied gewordene Loreley-Gedicht »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«.4 Also konnte er auch nicht dienstbar gemacht werden, wie das bei anderen Dichtern der deutschen Literaturgeschichte versucht worden ist. Nicht umsonst wurde Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, wie der Untertitel lautet, überschrieben mit jener Feststellung, auf die unsere Überschrift

2 3

4

Aus dem Französischen von Tilmann Moser. Gießen: Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag 2008, 168 Seiten. Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Un amour sans résistance« bei Denoël in Paris; aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Köln: DuMont 2003; hier wird die 1. Auflage der Taschenbuchausgabe verwendet (München: btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH 2005, 141 Seiten). – An deutschen Rezensionen vgl. z. B. die Besprechung von Sabine Dultz aus dem Münchner Kurier vom 26.2.2004, von Martina Meister aus der Frankfurter Rundschau vom 24.3.2004 und Steffen Richter in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27.4.2004. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (= DHA). In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973-1997, 16 Bde., hier Bd. I, S. 206-209. Im Folgenden wird die Ausgabe mit Sigle, Band- und Seitenzahl im Text zitiert. – Vgl. die beiden Beiträge zur Heine-Rezeption im Nationalsozialismus von Martin Hollender und Hartmut Steinecke im Heine-Jahrbuch 47 (2008), S. 155-172 und 173-205.

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anspielt: Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945.5 Heine dagegen muss dort unweigerlich den Hauptvertreter einer deutschen Literarhistorie abgeben, der herausgedrängt und verschwiegen werden sollte. Umso bemerkenswerter ist seine Präsenz in den beiden in Rede stehenden französischen Bänden aus den letzten Jahren, in denen sein Name und bestimmte seiner Gedichte in zutiefst bewegender bzw. irritierender Weise auf eine finstere Zeit, nämlich die Shoah, bezogen werden und den Ausdruck bilden für die Unsterblichkeit der Heineschen Poesie.

II. Autobiographisches und fiktionales Schreiben sowie erfundene Autobiographien Heine selbst ist ein Meister der Autobiographie. Man kann sogar behaupten, dass seine gesamte literarische Ausgangsposition durch das autobiographische Schreiben bedingt ist und dieses nicht erst in den Geständnissen oder im Memoiren-Fragment der späten Jahre Gestalt annimmt. Für diese Einschätzung mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen.6 Doch soll durchaus angemerkt sein, dass auch die Autobiographie ihre von der angeblichen Realität durchaus distanzierten und sogar fiktionalen Elemente besitzt. Die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller merkt im Rahmen ihrer Paderborner Vorlesungen von 1989/1990 zu dem für alle Verfasser geradezu intimen Thema »Gedanken zum Schreiben« bei der Beschäftigung mit dem Problem »Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt« zu Recht an: »So kommt es, daß selbst Autobiographisches, Eigenes im engsten Sinne des Wortes, nur noch vermittelt, nur noch im weitesten Sinne des Wortes mit meiner Autobiographie zu tun hat.« Ihre Begründung für diese Behauptung lautet: »Schon aus dem einfachen Grund, daß ich selber nur noch vermittelt mit mir zu tun habe, wenn ich über mich schreibe.« Und schließlich heißt es nach einem Beispiel für das unvermeidliche Auseinanderfallen von der schreibenden und der damit, viele andere Facetten besitzenden, durchaus identischen Person: »Man könnte sagen: Die Person, die schreibt, ist eine erfundene Person. Auch für sich selbst.«7 Zum 5

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Ausstellung und Katalog: Bernhard Zeller in Zusammenarbeit mit Friederike Brüggemann, Eva Dambacher, Hildegard Dieke und Friedrich Pfäfflin. 2 Bde. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft e.V. 1983 (Marbacher Kataloge; 38). Vgl. Verf.: Familien-Bande. Heines Versuch, seine Memoiren zu schreiben. Mit einem Blick auf die Heine-Verwandtschaft bis heute. In: Das Jerusalemer HeineSymposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hg. von Klaus Briegleb und Itta Shedletzky. Hamburg: Dölling und Galitz 2001, S. 17-35; weiterhin Jakob Hessing: Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns. Göttingen: Wallstein 2005 mit den beiden spiegelbildlich angelegten Teilen »Gelebter Text« und »Moderner Jude«. Herta Müller: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie die Wahrnehmung sich erfindet. Berlin: Rotbuch 1991, S. 43f.

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gleichen Problem von Biographie, Autobiographie und Klatsch hat der israelische Autor Amos Oz in seiner hauptsächlich in Jerusalem spielenden Familien-Saga Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, die ähnlich wie Salman Rushdies im für die indische Geschichte als Schlüsselroman zu lesenden Werk Mitternachtskinder (engl. 1981, dt. 1983) die staatliche Unabhängigkeit und zahlreiche individuelle Lebensläufe miteinander verquickt, viel Erhellendes beigetragen und die Abhängigkeiten wie Differenzen von Erlebnis und Dichtung auf poetische Weise reflektiert.8 Ein Autor wie Weill, als Elsässer in Bonn geboren und »im Glück und in der Sorglosigkeit am Ufer des Rheins« (S. 167) aufgewachsen, wird sich demnach auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nah an der erlebten Realität halten und sie dennoch fiktionalisieren. Ein Schriftsteller wie Rozier greift in seinem Roman, der zur Hauptsache zwei Jahrzehnte vor seiner Geburt handelt, ihm (oder uns) aber gewissermaßen zu Anfang des 21. Jahrhunderts anfänglich bei Schumanns Heine-Vertonung von »Schöne Wiege meiner Leiden« erzählt wird (S. 7; vgl. DHA I, 59-61), von vornherein zur Fiktion, gerade weil er für den Roman die Textgestalt des autobiographischen Berichts einer erfundenen Person benutzt. Er selber ist, als französischer Jude aus Grenoble und aufgrund der eigenen halb polnischen Familiengeschichte, persönlich begreiflicherweise dem Thema der deutsch-jüdisch-französisch-polnisch-jiddischen Geschichte besonders verbunden.

III. Der Lebensbericht (1915-1945) eines elsässischen Juden unter der Signatur der Loreley Literarische Figuren und Motive haben sich häufig genug selbständig gemacht und wurden bereits innerhalb der Literatur weitertransportiert. Die Sage von der Loreley und ihre romantische Erfindung im Gedicht verdankt vor allem Clemens Brentano eine erste greifbare Existenz. Heine hat den Stoff aufgenommen und daraus zu Anfang des dritten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts jenes unvergessliche Volkslied geschaffen, das aus dem Zirkel subjektiven Nichtwissens und Glaubens dem Sonnenuntergang über dem Gipfel des Loreleyfelsens bei St. Goarshausen ein personifiziertes weibliches Denkmal der Verführungsmacht setzt, an dem die männliche Sehnsucht scheitert. Heines Loreley-Gedicht und -gestalt als Höhepunkt dieses deutschen Mythos vom Untergang in jenem so bedeutenden Strom mit seinen romantischen Konnotationen zu begreifen, wie der Rhein es für das europäische Bewusstsein inzwischen geworden war, lag in der Tat nahe. Besonders die Betrach8

Vgl. das 5. Kapitel des ausdrücklich als »Roman« bezeichneten Buches von Oz; die hebräische Originalausgabe erschien 2002, die deutsche Übersetzung von Ruth Achlama 2004; hier wird auf das Taschenbuch, erschienen Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 53-59 verwiesen.

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tung aus jüdisch poetischer Sicht wie z.B. bei der Lyrikerin Rose Ausländer hat diese Sichtweise dann viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg festgeschrieben. Weill beschreibt die ersten dreißig Jahre seines Lebens eigentlich nur im umfangreichen Anfangsteil seines Buches (S. 19-138) unter dem Titel »Zu beiden Seiten des Rheins«. Damit spielt er unwillentlich auf ein Heine-Gedicht aus dem Nachlass an, das sich genau, hellsichtig, bitter und virtuos der deutsch-französischen Problematik widmet. Das aus je sechs Zeilen gebildete zweistrophige Gedicht »Diesseits und jenseits des Rheins« (DHA III, 276), das Heine nicht, wie ursprünglich geplant, seiner Gedichtsammlung Romanzero von 1851 einverleibt hat, stellt tatsächlich »das halsbrecherische Kunststück eines poetischen Salto mortale« dar und beweist, dass der Dichter »auch an den Wassern Babylons« geweint hat.9 Wie sehr gerade ein Grenzgänger wie Weill, dessen elsässischer Namensvetter, der deutsch-französische Schriftsteller und Journalist Alexander Weill, Mitte des 19. Jahrhunderts übrigens zu Heines Freunden zählte, solchen Stereotypen beider Nationen zum Opfer fiel, belegen der holzschnittartige historische Bericht über sein Leben als junger Jurist, französischer Offizier und Kriegsgefangener in französischen und deutschen Lagern sowie die anschließenden Reflexionen des zweiten Teils, der den Obertitel des Buches als Verallgemeinerung des individuellen Falles einfach wiederholt, somit der in Frankreich überhaupt immer noch präsenten Loreley10 und dem zu Beginn als Motto oder Auftakt der Erinnerungen abgedruckte Heine-Gedicht »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« (S. 15; DHA I, 207-209) das leitende Motiv zuerkennt und eine eigene Unterschrift als thematische Abgrenzung wählt. In der Betrachtung der deutschen Katastrophe heißt es, an die Loreley-Metapher des Vorwortes (S. 14) wieder anknüpfend: »Das deutsche Volk machte sich nicht klar, dass es selbst auf dem Kahn war, der auf den Felsen zuglitt. Die Deutschen begannen nur, aus der Ferne in den flammenden Reden des Führers den Gesang der Sirene wahrzunehmen […]« (S. 153). Weill erinnert an die Bücherverbrennung, der (nach seiner Erinnerung) Heine und Erich Maria Remarque zum Opfer gefallen wären (S. 155). Und schließlich heißt es über Hitler: »Er verführte sie wie die Loreley mit ihrem Gesang die Fischer, deren Boote an den Klippen des Rheins zerschellten« (S. 166). 9

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Renate Schlesier: Heines Gedicht »Diesseits und jenseits des Rheins«. In: »…und die Welt ist so lieblich verworren«. Heinrich Heines dialektisches Denken. Festschrift für Joseph A. Kruse. Hg. von Bernd Kortländer und Sikander Singh. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 341-357, hier S. 354. Vgl. beispielsweise den auf französische Erwartungen zugeschnittenen und daher veränderten Titel des Ausstellungskatalogs der großen Heine-Ausstellung in Düsseldorf und Paris: Ich Narr des Glücks. Heinrich Heine 1797-1856. Eine Ausstellung zum 200. Geburtstag. Hg. von Joseph A. Kruse unter Mitwirkung von Ulrike Reuter und Martin Hollender. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1997 als: La Loreley et la Liberté. Heinrich Heine 1797-1856 un poète allemand de Paris. Paris: Les Éditions du Cerf 1997.

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Während also im ersten Teil vier Abschnitte dem Lebenslauf vom Schüler über das Jurastudium, die Offiziersausbildung, die Gefangenschaft und die Befreiung einfach folgen und somit den biographischen Orten bzw. mit dem Krieg verbundenen Schauplätzen aufmerksam Revue passieren lassen, enthält der sehr viel kürzere zweite Teil unter der Überschrift »Der Nationalsozialismus: Zufall oder ein Endstadium in der deutschen Geschichte?« (S. 141-166) Weills abwägende Gedanken zu seinem Lebenstrauma. Die Schilderung der ersten jungen Phase von dreißig Jahren mit ihren zahlreichen Stationen ist also nur vor der allgemeineren Folie von Krieg und Frieden, jüdischer Existenz im europäischen Kontext und politischen Verirrungen wie humaner Gesellschaftsauffassung zu lesen. Sehr lebendig, mit sachlichem Humor und aus tiefer Menschlichkeit wird der Weg von Deutschland nach Frankreich und jeweils wieder zurück geschildert: Die Stationen Bonn (»Eine deutsche Erziehung«), Auxonne nahe Dijon, Straßburg, Saint-Maixent, Hagenau, Bordeaux, Hoffen und das Departement Maas (»Rückkehr zu den Quellen«), Nancy und Bosserville sowie die weiteren Lager von Münster, Colditz an der Mulde bei Leipzig und Lübeck (»Gefangener bei den Deutschen«) erhalten eine aus lebhaften Anekdoten mit respektablen Umrisszeichnungen der handelnden Personen bestehende, auch dokumentarisch gültige Prägung, bis schließlich Paris, Dausse im Département Lot-et-Garonne und wieder Paris (»Freiheit, liebe Freiheit«) diese an eine Kette von Ortsnamen geknüpften hochmoralischen Erinnerungen beenden. Die Zeit in den Lagern hatte dem Offizier teilweise aufgrund seiner jüdischen Herkunft verschärfte Bedingungen gebracht, insgesamt aber sein Leben gerettet, während sein Vater in Auschwitz umgekommen war. Hingewiesen sei auf die einmal eigens benannte intensivere Beziehung des Autors zu Heine, wie sie nach der Befreiung in Lübeck sich ausdrückt, als Weill der feinen, errötenden Gastgeberin nicht »ohne Bosheit« seine »Vorliebe für die Gedichte Heinrich Heines« gesteht, die diese »nicht besaß«, ihm jedoch »am anderen Morgen beim Frühstück brachte« (S. 129).

IV. Der Roman einer französisch-jüdischen Geheimbeziehung in mehrfachem Sinn Dem autobiographisch empfundenen Fluch der Loreley, den Heine in romantische Verse gegossen hat, entspricht die fiktionale Darstellung des mehrfach gebrochenen betörenden Segens, der mit der Wirkmächtigkeit von HeineTexten verbunden sein kann, wie es Rozier in den acht Kapiteln seines kleinen, von kolportagehaften Elementen der höheren Art nicht ganz freien Romans Eine Liebe ohne Widerstand in eine rätselhafte Form zu bringen vermocht hat. Als Motto geht dem Buch das Heine-Gedicht »Ein Fichtenbaum steht einsam« voraus (S. 5; DHA I, 165), das im Roman eine Hauptrolle spielt. In der IchErzählung beginnt fast sechs Jahrzehnte (vgl. S. 62) nach dem Ende des Zwei-

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ten Weltkriegs in einer kleinen französischen, an einem Fluss gelegenen Provinzstadt mit nahen Bergen, wo sich die gesamte Geschichte zutrug, bei einer Tasse Tee ein ausführliches Geständnis. Wegen des männlichen Autors Rozier, aber auch wegen einer seltsam schwebenden und vagen, gewissermaßen geschlechtsunspezifischen Erzählhaltung, könnte dieses leicht einem älteren, ja steinalten Mann statt einer der Vergangenheit verfallenen greisen Frau, ausgestattet mit einem Deutschstudium in Heidelberg im Jahre 1930, zugeschrieben werden. Erzählt wird von einer französischen, seit mehr als zwanzig Jahren pensionierten Person mit dem ehemaligen Beruf eines Deutschlehrers am städtischen Mädchengymnasium die Geschichte einer nur als gering eingestandenen Kollaboration durch Übersetzungen. Berichtet wird von einer achtjährigen völlig unerotischen, nie vollzogenen Ehe mit Claude (ein für beide Geschlechter zu verwendender Vorname, der den ohne Anteilnahme geheirateten Partner bezeichnet, welcher sich schließlich das Leben nimmt). Vor allem aber geht es um ein im Keller des Hauses sich leidenschaftlich auslebendes, über zweieinvierteljähriges Verhältnis mit einem von der erzählenden Person vor der Gestapo geretteten, offenbar einige Jahre jüngeren attraktiven, blauäugigen polnischen Juden namens Herman, der Heines Gedichte auf jiddisch auswendig kennt und dem das Erzähl-Ich nicht ohne Raffinesse das im alten Logis versteckte Bändchen mit jiddischen Heine-Gedichten zu verschaffen weiß sowie dadurch selber Jiddisch lernt. Also eine Beziehung, die von Kellerversteck, Geheimnis und Geheimhaltung, von Not, verzweifelter Nähe und gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist. Während die Schwester Anne, Witwe eines erschossenen Kollaborateurs, mit dem deutschen SS-Mann Volker Hammerschimmel im ersten Stock des Hauses der Mutter (der Vater ist kriegsbedingt in Deutschland arbeitsverpflichtet und dort der Liebhaber einer augenblicklich allein stehenden Bäuerin) exzessiven und lautstarken Sex betreibt, hat sich die erzählende Person im Keller hinter den Weinregalen längst einen Schutz- und Leseraum für ihre ebenfalls exzessiven verschwiegenen Lektüren der deutschen, inzwischen offiziell verbotenen Literatur eingerichtet, darunter vor allem Heine, aber auch die leitmotivisch verwendete Novelle Tod in Venedig von Thomas Mann. In diesem dumpfen Kellerloch ist dann der junge polnische Jude all die Zeit hindurch versteckt und befriedigt als Beischlafopfer die berichtende, übermäßig ihm verfallene Person in außerordentlicher Weise, die dabei im Liebesgenuss gleichzeitig ihre Macht und keineswegs nur Mitleid an dem Gast ausübt und obendrein dem literarischen Zauber der Heine-Gedichte, vor allem auch in jiddischer Übersetzung, erliegt. Durch so viele Komplikationen und einen Fetischismus, der in pikanter Weise mit der Unterwäsche des jungen Ehepaares Claude und Ich-Erzähler zum erzwungen abwechselnden Gebrauch durch den im Schweigen verborgenen Herman verbunden ist, liegen gewisse Parallelen zum Aufsehen erregenden französischen Roman Die Wohlgesinnten des 1967 geborenen amerika-

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nisch-jüdischen Autors Jonathan Littell aus den Jahren 2006/2008 vor.11 Dieses in jedem Sinne große Buch erzählt ebenfalls aus der Perspektive eines allerdings sehr viel höhere Verantwortung tragenden Täters, des SS-Offiziers Maximilian Aue, das sich unaufhaltsam entwickelnde, völlig unbegreifliche Geschehen der Shoah und lebt unter anderem, bei aller faszinierend chronikalischen und dokumentarischen Fülle bei der Darstellung der Entstehungsgeschichte des Holocaust, von den Hinweisen auf die homosexuellen und inzestuösen Verflechtungen des Protagonisten. Dass zwei jüdische Autoren der jüngeren Generation, die nach ihrer privaten Lebensweise mit jeweils Frau und Kindern den üblichen bürgerlichen Vorstellungen entsprechen, sich auf ebenso gewagte wie gekonnte Weise gleichzeitig ein für die Zeit des Dritten Reiches nicht ungefährliches Tabuthema, nämlich die Homoerotik, und damit verknüpft der Frage des unentwirrbar scheinenden Zusammenhangs von Sexualität, Gewaltausübung und todbringender Konsequenz im Kontext der Shoah widmen, ist jedenfalls bemerkenswert. Beide liefern erfundene, fiktionale Autobiographien als Zeugnisse aus einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte. Littell folgt offensichtlich, wie er eingesteht, literarisch viel lieber der Linie von de Sade, Baudelaire, Genet und natürlich Foucault, auf keinen Fall jedoch etwa der deutschen Literatur mit »Heine und Goethe«; dem Vorwurf der Kolportage begegnet er schlicht mit dem Hinweis auf die Psychoanalyse, um das »Spiel der Triebe« im Totalitarismus besser zu verstehen.12 Rozier ist zweifellos von ähnlichen Absichten geleitet, nur verbindet er die sexuelle Besessenheit im Romangeschehen mit einer Vorliebe für die deutsche Literatur und zumal mit Heines Gedichten. Während bei Littell der Mord an Millionen Juden vom deutsch-französischen Erzähler, der mittlerweile in Frankreich lebt, nach Jahrzehnten in einer reuelosen Beichte minutiös auf den ins System sich integrierenden einzelnen Täter und Mitläufer bezogen und somit als sich steigernde Individualhistorie geschildert wird, spitzt der Ich-Erzähler oder die Ich-Erzählerin (wofür möglicherweise mindestens so viele Signale aus dem Familiengeflecht und der Ehegeschichte sprechen wie für einen Mann, der motivisch gewissermaßen der ältere Held auf der Suche nach dem Knaben in Thomas Mannscher Manier wäre)13 ihre gelegentlich geradezu grotesk wirkende Geschichte aus der

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Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin: Berlin Verlag 2008, 1383 S.; die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Les Bienveillantes« bei Èditions Gallimard, Paris. Artikel »Wohlgesinnte« [gez. Kil]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Mai 2008. Von Juden, Zigeunern und Homosexuellen, die systematisch von SS-Männern (»sie wussten nur noch die Zahl, nicht Maßeinheit, aber was soll’s, Hauptsache, die Summe stimmt«) liquidiert wurden, ist im Roman ausdrücklich die Rede (S. 127), sodass die Gruppe der Außenseiter bewusst auch mit der sexuellen Komponente präsent ist. – Der Informationstext auf der dem Titelblatt jener von mir benutzten deut-

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Résistance zu. Es wird gegen Ende die Ermordung des SS-Mannes durch den Ich-Erzähler berichtet, dessen Leiche dann unter dem Boden des Verstecks heimlich verschwinden muss, sodass Herman es über dem Grab kaum noch aushält. Kurz vor der Befreiung verlässt Herman vorzeitig, von der erzählenden Person ausstaffiert, in der SS-Uniform Volkers das Haus und wird von Gewehrkugeln von Widerstandskämpfern als mutmaßlicher deutscher Feind erschossen. Die Rettungsgeschichte über den Juden im Keller mit allen bizarren Begleiterscheinungen hat damit nicht weit vom Fluss, wo sich Herman umziehen sollte, ihr tragisches Ende gefunden. Es werde nicht nur »von zwei skandalösen Liebesverhältnissen« erzählt, sondern es gehe dem Autor auch um die »Austauschbarkeit von Personen (Mann/Frau, Jude/SS-Mann) und Sprachen (deutsch/jiddisch) sowie die Relativierung von Begriffen (gut/böse).«14 Die Grundierung durch die deutsche Literatur, ihre Dichter und Texte, besonders aber Heinrich Heine, beispielsweise auch durch das Gedicht »Aus meinen Tränen fließen« (S. 109; DHA I, 135), als Kontrast zum Alltag in finsteren Zeiten mit ihren dennoch erotischen, heimlichen Höhepunkten, die dem ironischen Titel seinen privaten Sinn geben, zeigt eine Präsenz des deutschfranzösischen Dichters aus Düsseldorf in einer Weise, die trotz der manchmal an den Kitsch grenzenden Darstellung jene in unserem Zusammenhang mehrmals berufene Überlebenskraft Heines unter Beweis stellt. Ein Hinweis auf eine kryptische Auflösung der menschlichen Konflikte mag die angestrebte Verwirrung der Gefühle andeuten: »Ein Fichtenbaum steht einsam« wird zum Ausdruck der Liebe ohne Widerstand im Keller: »ich der Fichtenbaum, er die Palme. Der Fichtenbaum ist männlich, die Palme aber weiblich. Von ihm habe ich gelernt, dass dieses Gedicht durch einen Text des Talmud inspiriert wurde, eine traditionelle jüdische Legende. Dieser Gedanke schockierte mich. Heine, der große deutsche Dichter, war Jude. Ich wusste es. Ich hatte nicht daran gedacht, ehe ich Herman kennen lernte.« (S. 113) Natürlich bilden, auch das sei zugestanden, im Buch von Littell, was ähnlich für das von Rozier gilt, »Obzönität und Banalität, Massaker und Pornographie« ein »unauflösliches Amalgam«.15 Was für den Roman von Rozier mit seiner Mischung aus Phantasie, Literatur und amoralischem Fallbeispiel im Hinblick auf die Bewältigung der Realität gilt, kann ohne Zweifel für den autobiographischen Bericht von Weill, wenigstens was das Verhältnis von Historie und metaphorischer Überhöhung angeht, genauso konstatiert werden. Jedenfalls mögen beide Beispiele auf ihre Weise zeigen, dass aus der Literatur am Ende jenes Verständnis für Unbegreifliches entspringt, dem wir die noch so schwer zu erlangende, wenigstens versuchsweise Ordnung der Dinge verdanken.

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schen Ausgabe voraus liegenden Seite geht übrigens schlichtweg von einem männlichen Liebespaar im Keller aus. http://www.dieterwunderlich.de/Rozier_liebe.htm (Feb. 2009), S. 6. Vgl. Anm. 12.

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Die Belletristikabteilung der »Germania Judaica«

Die »Germania Judaica, Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums« wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Damit zählt die wissenschaftliche Spezialbibliothek neben der Bibliothek des Leo Baeck Institute, New York, zu den ältesten Sammlungen dieser Art weltweit. Für alle, die sich mit der Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums befassen, sei es aus wissenschaftlichem oder aus privatem Interesse, ist die »Germania Judaica« eine Einrichtung, die für jedes Bedürfnis der Forschung Materialien bereithält. Dabei wurde der Bibliothek zu Beginn keine große oder gar dauerhafte Wirkung vorhergesagt. Gerade die Anfangsjahre waren geprägt von Existenzangst aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten. Der Bestand wuchs, die Leserschaft wuchs – wie das Ganze dauerhaft finanzieren? Dabei wurden die Gründe, eine wissenschaftliche Bibliothek als instrumentelles Hilfsmittel gegen den Antisemitismus zu gründen, sicher nicht in Frage gestellt, wohl aber belächelt. Am 17. Juni 1958 weilte Martin Buber (1878-1965) zum letzten Mal in Köln. Dem großen Religionsphilosophen zu Ehren beging die Stadt einen Empfang auf dem Stadtschiff »Köln«. Für eine kleine Gruppe engagierter Bürger war dies der richtige Rahmen und die Gelegenheit für die Bekanntgabe einer Idee zur Gründung einer Institution, die später den Namen »Germania Judaica, Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums« tragen sollte. Diese Gruppe, heute würde man sie als »Bürgerinitiative« bezeichnen, wollte ein Instrument schaffen, um dem wieder aufkeimenden oder immer noch vorhandenen Antisemitismus etwas entgegen setzen zu können. Man wollte kämpfen gegen alteingesessene Vorurteile, gegen Nichtwissen und falsches Wissen über das Judentum. Ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund für die dringend notwendige Einrichtung einer Spezialbibliothek war die Tatsache, dass es einen steigenden Informationsbedarf im Hinblick auf die Geschichte des deutschen Judentums bei gleichzeitig fehlenden Informationsmöglichkeiten gab. In jenen Jahren existierte keine Einrichtung, die noch existierendes oder bereits neu erschienenes Material konzentriert anbot. Weder an Universitäten noch an Bibliotheken konnte man sich allumfassend über Kultur und Geschichte der Juden in Deutschland informieren. Martin Buber hörte sich das Vorhaben an und befragt nach seiner Meinung, sagte er:

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Ich habe in meinem ganzen Leben nie gegen etwas gekämpft, auch nicht gegen den Antisemitismus, nicht mal in der bösen Zeit. Warum soll ich es jetzt tun? Man muß eine Sache nur richtig d a r s t e l l e n, dann ergibt sich alles von selbst. So fasse ich den Kampf auf. [...] Sehen Sie, man muß lebendig werden lassen, was man vertreten will.1

Die Lebenseinstellung Martin Bubers wurde Programm für die Arbeit des Vereins und der Bibliothek »Germania Judaica«. Die »Idee« hatten die Schriftsteller Heinrich Böll und Paul Schallück, der Journalist Wilhelm Unger, der Kulturdezernent der Stadt Köln, Kurt Hackenberg, der Buchhändler Karl Keller und der Verleger Ernst Brücher bereits im Januar 1958. Im Juli 1959 nahm die Bibliothek dann ihre Arbeit auf. Standort war eine Wohnung in der Merlowstraße in Köln. Finanziert wurde die Bibliothek in den Anfangsjahren durch Mitgliederbeiträge, private Spenden und Spenden aus der Wirtschaft. Doch trotz der öffentlichen Anerkennung und der bedeutenden Arbeit des Vereins flossen diese Zuwendungen mit den Jahren immer spärlicher, so dass nach und nach die verschiedenen Aktivitäten des Vereins eingestellt werden mussten. Erst Mitte der 1970er Jahren übernahmen das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Köln den größten Teil der laufenden Kosten der Bibliothek in ihre Etats. Die finanzielle Sicherung der Einrichtung wurde dadurch entscheidend gesichert. Ein weiterer Grund für den »Berg-auf-Trend« war auch die Tatsache, dass die »Germania Judaica« 1979 die Möglichkeit bekam, mit ihren Beständen in den Neubau der Zentralbibliothek am Neumarkt zu ziehen. Ein genialer Schritt, wie sich schnell herausstellte. Im Herzen der Stadt erfüllte sich der Anspruch der Gründerväter, dass die Bibliothek für alle zugänglich sein sollte, mit einer direkten räumlichen Verbindung zur Stadtbibliothek und vor allem – mit einem »schrankenlosen« Zugang zu den Beständen. Der »Germania Judaica« brachte dieser Standort einen enormen Zuwachs an Leserinnen und Lesern und eine vermehrte Aufmerksamkeit. Schnell füllten sich die Regale im neuen Freihandbereich und im Magazin. 1.000 bis 1.500 neue Titel wurden pro Jahr hinzu erworben und eingearbeitet. Heute besitzt die Bibliothek eine Sammlung von ca. 90.000 Bänden, wobei der Bestand von 500 deutsch-jüdischen Zeitungen und Zeitschriften den »Schatz« der »Germania Judaica« darstellt.2 Hinzu kommen ca. 120 laufende aktuelle Periodika. Die Mittel für die mittlerweile wieder drei Angestellten der Bibliothek und für den Sachetat erhält der Verein seit 2006 von der Stadt Köln. 1 2

Germania Judaica. Bulletin der Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums 1 (1960/61), Nr. 1, S. 2-4. Dieser Bestand bildete zusammen mit dem Bestand der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Sondersammelgebiet Judaica, den Hauptteil des von der DFG geförderten Projektes »Compactmemory«, der retrospektiven Digitalisierung deutsch-jüdischer Periodika.

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Die erste Geschäftsführerin der »Germania Judaica«, Dr. Jutta BohnkeKollwitz, beschreibt anschaulich die Anfänge der Bibliotheksarbeit.3 Der Grundstock der Sammlung waren 180 geschenkte Bände, die nun in ein System gebracht werden mussten. Von Anfang an stand fest, dass auch die Belletristik ein fester Bestandteil der Sammlung sein sollte. Für eine wissenschaftliche Spezialbibliothek durchaus ungewöhnlich, aber dies entsprach zum einen einer »Volksbücherei«, die die »Germania Judaica« ja auch sein sollte. Zum anderen dachte man aber auch an die Möglichkeit, den Germanistik-, Anglistik- und Literaturwissenschaftsstudenten für ihre Forschungen die entsprechenden Primärquellen an die Hand zu geben. Die dazu gehörende Sekundärliteratur wurde ebenfalls archiviert in der Systemgruppe »Die Darstellung von Juden in der Literatur und (später ergänzt) im Film«. Maßgebend für die Anschaffung eines Romans, einer Novelle oder eines Gedichtbandes war (und ist es noch immer), dass entweder ein jüdischer Autor oder eine jüdische Autorin zu einem jüdischen Thema schreibt oder dass ein nichtjüdischer Autor oder eine nichtjüdische Autorin ein jüdisches Thema behandelt. Bei manchen Autorinnen oder Autoren war es keine Frage, ihre Werke anzuschaffen, wie z. B. bei den Werken von Else Lasker-Schüler, Arthur Schnitzler, Franz Kafka oder Heinrich Heine. Aber bei weniger bekannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern, oder bei neuen Namen – wie konnte man feststellen, ob sie jüdisch waren? Viele Fragen und Probleme dieser Art beschäftigten die Mitarbeiter in den Anfangsjahren der Bibliothek. Was heute zählt, ist ein stetig wachsender Bestand, der mit den Gesamtausgaben, Anthologien und Reihen, den Gedichten und Dramen, den Romanen und Novellen und den Kinder- und Jugendromanen an die 5000 Titel zählt. Dazu gehören noch die Hefte der Jüdischen Lesehefte und alle Bände der Bücherei des Schocken-Verlages. Ein Blick in das erste Akzessionsbuch der »Germania Judaica« aus dem Jahre 1959/1960 zeigt die Herkunft der ersten Titel für die Bibliothek. Es waren größtenteils geschenkte Exemplare der Wiener Library in London oder des Leo Baeck Instituts in New York – zumeist historische Darstellungen des Judentums, des Antisemitismus und einige regional- und lokalhistorische Titel. Belletristische Bücher, Romane, Novellen, Gedichte oder Dramen tauchen kaum auf. Laut systematischem Katalog der »Germania Judaica« war das erste belletristische Buch, das eingearbeitet wurde, ein Roman über Juden in Deutschland nach 1945: Ein Jude spricht für Deutschland von Schelomo Bar Eljokum aus dem Jahre 1949.

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Vgl. Jutta Bohnke-Kollwitz: Die Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums Germania Judaica e. V. Teil 1: Die Anfänge. In: »Zuhause in Köln...«. Jüdisches Leben 1945 bis heute. Hg. von Günther B. Ginzel und Sonja Güntner. Köln: Böhlau 1998, S. 161-163.

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Wilhelm Jensens Novelle Die Juden zu Köln aus dem Jahre 1897 wurde Anfang 1960 eingearbeitet.4 Hilfreich bei der Beschaffung der belletristischen Literatur war auch die Bibliographie des Leo Baeck Yearbook, die ab dem Jahre 1956 auch eine Kompilation der belletristischen Literatur (fiction and poetry) auflistet. Die »Germania Judaica« sammelt die Belletristik von den Anfängen der deutsch-jüdischen Literatur,5 also seit der Zeit der Aufklärung. So besitzt sie Schriften von Moses Mendelssohn, Salomon Maimon und Issachar Behr Falkensohn, von Moses Ephraim Kuh, aber selbstverständlich auch die relevanten Schriften Gotthold Ephraim Lessings. Aus der Zeit der Romantik sind es vor allem die Schriften von Heinrich Heine, Ludwig Börne oder Berthold Auerbach, auch wenn gerade bei den beiden letzteren aus den unterschiedlichsten Gründen das Judentum keine zentrale Rolle in ihren Romanen und Novellen spielte. Auch Fanny Lewald soll hier mit ihren Romanen und Erzählungen und mit ihren autobiographischen Schriften genannt werden. Die Schriftsteller der sogenannten »Jüdischen Renaissance«, Martin Buber, Ludwig Jacobowski, Jakob Wassermann oder Arthur Schnitzler, füllen die Regale der »Germania Judaica« ebenso wie die Vertreter der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Joseph Roth, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig und die Autoren der Exilliteratur, Karl Wolfskehl, Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger. Stellvertretend für die Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit sollen hier Nelly Sachs, Paul Celan und Wolfgang Hildesheimer genannt werden. Den Abschluss bilden die aktuellen deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren Maxim Biller, Raphael Seligmann und Barbara Honigmann. Besonders stolz ist die Bibliothek auch auf die zahlreichen Bände zur sogenannten Ghettoliteratur, ein spezifisch jüdisches Genre der Literatur, das zumeist in Erzähltexten jüdisches Leben im Ghetto beschreibt.6 Ebenfalls zum Bestand gehören die Romane, Dramen und Novellen mit eindeutig antisemitischem Inhalt, wie die z. B. die Machwerke von Artur Dinter. Weiterhin sammelt die Bibliothek die deutschen Übersetzungen der modernhebräischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts (Amos Oz, Zeruya Shalev aber auch Batja Gur, Ora Sem-Ur und Shulamit Lapid), oder die Origi4

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Der Titel wurde mit Hilfe unseres Exemplars Ende 2008 wieder neu im Kiepenheuer & Witsch-Verlag aufgelegt. Wilhelm Jensen: Die Juden von Cölln. Mit einem Vorwort von Frank Schätzing. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte vgl. auch: Hans Otto Horch: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte?« Prolegomena zu einem Forschungsprojekt. In: German Life and Letters 49,2 (1996), S. 124-135. Vgl. hierzu: Gabriele von Glasenapp/Hans Otto Horch: Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 3 Bände. Tübingen: Niemeyer 2005 (Conditio Judaica; 53-55).

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nale und Übersetzungen aus der jüdisch-amerikanischen Literaturszene (Philip Roth, Bernard Malamud, Irene Dische und Lily Brett). Es kommt selten vor, dass in den letzten Jahren »wieder-entdeckte« Autoren oder Autorinnen, wie z. B. Fanny Lewald, Ruth Landshoff-Yorck oder Irène Némirovsky, nicht bereits seit etlichen Jahren in der »Germania Judaica« mit ihren Romanen vertreten sind. Wertvolle Originale können so aber immer wieder durch Nachdrucke ergänzt und für die Leser zugänglich gemacht werden. In Anbetracht der Vielzahl der Romane und Novellen kann hier nur ein kleiner Ausschnitt aus der Belletristik-Abteilung der »Germania Judaica« gezeigt werden. Zusammen mit den anderen Sammelgebieten bildet der Gesamtbestand der Bibliothek ein einzigartiges Instrument zur Erforschung aller Aspekte der deutsch-jüdischen Kultur und Geschichte. Für viele Benutzer der Zentralbibliothek Köln fand die erste »Begegnung mit dem Judentum« und der »Germania Judaica« mit der Ausleihe eines Romans oder einer Novelle statt. Bei vielen blieb es nicht bei dieser ersten Begegnung. Über die Jahre sind sie zu treuen Benutzern der Bibliothek geworden, die sich nun seit Jahren mit der deutsch-jüdischen Literatur, Geschichte und Kultur beschäftigen. In dieser Hinsicht verwirklichte sich der 50 Jahre alte Plan der Gründerväter und -mütter der »Germania Judaica«, dass die Bibliothek auch eine »Volksbücherei« sein sollte. Bleibt zu hoffen, dass der »Germania Judaica« auch die nächsten 50 Jahre diese wichtige Klientel erhalten bleibt. Um es den Benutzern leichter zu machen, werden in Kürze Teile der Belletristik aus ihrem Magazin-Dasein »befreit« und im Freihandbereich aufgestellt.

Achim Jaeger

Kleine Leute, große Leute: Versuche einer Annäherung an deutsch-jüdische Literatur und Geschichte in der Schule Im Reich der Zwerge Ludwig Strauß, der 1892 in Aachen geborene Literaturwissenschaftler, der von 1929 bis 1934 als Dozent an der Technischen Hochschule Aachen arbeitete, dann nach Israel übersiedelte und 1953 in Jerusalem starb, war auch Dichter. In einer kurzen, 1959 posthum publizierten Erzählung mit dem Titel Das Reich der Zwerge1 beschreibt dieser auf poetische Weise, wie er als kleiner Junge »auf vielen Spaziergängen an der Hand der Erwachsenen und mit ihnen zusammen« die Schönheiten des Aachener Lousberges genoss. Dabei habe er jedoch »zwei wunderbare Eigenschaften«, die dieser Berg für ihn besaß, den Erwachsenen verschwiegen. Uns interessiert nun hier insbesondere die »zweite geheime« Eigenschaft des Lousberges, nämlich, »daß seine der Stadt abgewandte Seite unmittelbar an das Reich der Zwerge grenzte«. Der Ich-Erzähler beobachtet als Kind in der parabolischen Landschaft Erstaunliches, denn die »Wege dieser Ebene waren entfernt genug, um alle Menschen und Tiere, die sich auf ihnen bewegten, winzig klein erscheinen zu lassen«. An einem Sonntagnachmittag entfernt sich der in Träumerei versunkene Junge einmal von der Gesellschaft, die einen Familienausflug in den Wald unternimmt, und macht eine bemerkenswerte Entdeckung: Da erblickte ich, wie mir schien, in unermeßlicher Ferne unter mir den Weg, einen winzigen, weißlichen Streif, und auf ihm gingen Zwerge, ja das Zwergenreich hatte sich über die Grenzen, in die es gehörte, ausgedehnt und war in den Stadtwald gedrungen, in den Bezirk der Menschen eingebrochen. Und mit wachsendem Schrecken sah ich, daß die Puppen, die da unten in zierlicher Prozession wanderten, den Menschen meiner Gesellschaft genau glichen. Unverkennbar waren die Gestal1

Ludwig Strauß: Fahrt und Erfahrung. Geschichten und Aufzeichnungen. Mit einem Nachwort von Werner Kraft. Heidelberg, Darmstadt: Lambert Schneider 1959, S. 911. Zitiert wird nach dem Wiederabdruck in: Ludwig Strauß. Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. von Tuvia Rübner und Hans Otto Horch. Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 73, Bd. 1, 2, 3/1, 3/2, 4. Göttingen: Wallstein 1998, 2000, 2001, hier Bd. 1: Ludwig Strauß: Prosa und Übertragungen. Hg. von Hans Otto Horch, S. 297-299. Vgl. dazu auch: Ludwig Strauß 1892-1992. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Hg. von Hans Otto Horch. Tübingen: Max Niemeyer 1995 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte; 10).

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ten des Vaters, der Mutter, der Geschwister, der Bekannten, unverkennbar und hoffnungslos entfremdet.2

Der Junge, »unter den Kindern, die mitgingen, das jüngste«, schreit, dass die Brust »zu bersten drohte, und da blieben die Zwerge stehen und schauten hinauf; sie riefen und hatten die Stimmen der Eltern, sie winkten und hatten ihre Bewegungen«. Das Kind ist fassungslos, handlungsunfähig, kann nichts als verharren und schreien. Schließlich wird der Sohn gerettet und bemerkt dabei: »Der Vater kam, rufend und scheltend, näher, und siehe er wuchs im Näherkommen, und als er bei mir war, hatte er seine rechte Größe. [...] Der Zauber war gewichen, die Zwerge waren wieder zu Menschen geworden«. Derartige Metamorphosen und existentielle Grenzerfahrungen führen vor Augen, dass bisher Vertrautes plötzlich als ›fremd Wahrgenommenes‹ irritierend und als vermeintlich ›Fremdes‹ wirken kann. Die magische Transformation der Menschen in Zwerge und ihre Rückverwandlung lassen zudem das Motiv der ›kleinen und großen Leute‹ ebenso anklingen wie die Phänomene von Integration und Ausgrenzung, konkretisiert in der Zugehörigkeit des IchErzählers zur Gruppe der Wanderer resp. der Isolation von der Gesellschaft. Wird hier aus kindlicher Sicht auch die Problematik von ›Identität‹ berührt, so kann dies auf eindrückliche Weise vermitteln, wie sehr unser Selbst- und Weltverständnis von bestimmten Perspektiven, (Selbst-) Wahrnehmungen und identifikatorischen Lesarten geprägt ist. Eine Veränderung der Sichtweise vermag die Wahrnehmung dementsprechend völlig zu verändern. Einige der poetischen Motive möchte ich aufgreifen und im Folgenden Beispiele für die Beschäftigung mit deutsch-jüdischer Literatur und Geschichte im Schulunterricht vorstellen. Mögen sie illustrieren, wie – durchaus im Sinne Ludwig Geigers3 – Perspektivwechsel, etwa von der ›nationalen‹ Sicht auf Literatur und Geschichte hin zu einer interkulturellen, europäischen oder kosmopolitischen, praktisch initiiert werden können. Denn in schulischem Kontext können Texte fokussiert und genauer unter die Leselupe genommen werden, zumal es im Unterricht ja auch darum geht, Literatur sowie Quellenmaterialien zu analysieren, zu ›entschlüsseln‹ und bei einer Interpretation neue Perspektiven des Textverständnisses zu eröffnen. Es sollen hier nun bestimmte Aspekte hervorgehoben und dabei speziell Verbindungen zwischen literaturund kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre an der Universität und der 2 3

Ludwig Strauß: Im Reich der Zwerge (wie Anm. 1), S. 298, sowie im Folgenden S. 299. Ludwig Geiger: Die Juden und die deutsche Literatur. (Einleitung zu Universitätsvorlesungen Winter 1903/4). In: ders.: Die Deutsche Literatur und die Juden. Berlin: Georg Reimer 1910, S. 1-24. Vgl. dazu auch Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« (1837-1922). Frankfurt am Main, Bern, New York: Peter Lang 1985 (Literarhistorische Untersuchungen; 1).

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Vermittlung entsprechender Inhalte an einem anderen Ort des Lernens, nämlich der Schule, aufgezeigt werden.

Zwerge auf den Schultern von Riesen Wenden wir uns dem Themenfeld der deutsch-jüdischen Literatur und Geschichte zu, so ist es erforderlich, zunächst den Terminus ›deutsch-jüdische Literatur‹ zu definieren. Hans Otto Horch und Itta Shedletzky verwenden den Begriff in einem spezifischen Sinn, nämlich dahingehend, dass er »das literarische Werk jüdischer Autoren in deutscher Sprache« bezeichne, in dem explizit oder implizit in irgendeiner Form jüdische Substanz erkennbar ist – als jüdische Thematik, Motivik, Denkformen oder Modelle. Diese jüdische Substanz – im Sinn einer Auseinandersetzung mit jüdischer Tradition oder jüdischer Existenz – entfaltet sich bei den meisten Autoren innerhalb eines dominierend deutschen kulturellen Bewußtseins. Deutsch-jüdische Literaturgeschichte umfasst aber nicht nur die Produktion, sondern auch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte; die mediale Komponente (Publizistik, Verlagswesen u.a.) spielt gleichfalls eine große Rolle für ein umfassendes Verständnis des Phänomens.4

Was ist und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte?,5 fragte Hans Otto Horch 1992 bei Antritt der ›Ludwig-StraußProfessur‹ für deutsch-jüdische Literaturgeschichte an der RWTH Aachen. Seither hat er als Wissenschaftler und Autor, als Herausgeber insbesondere der Schriftenreihe Conditio Judaica und Mitherausgeber der Zeitschrift Aschkenas, als Referent, Organisator von Tagungen und Initiator von Projekten wie Compact Memory6 auf eindrucksvolle und vielfältige Weise Beiträge zur Beantwortung dieser Frage vorgelegt.

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5

6

Hans Otto Horch/Itta Shedletzky: Die deutsch-jüdische Literatur und ihre Geschichte. In: Neues Lexikon des Judentums. Hg. von Julius H. Schoeps. Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1992, S. 291-294, hier S. 291. Hans Otto Horch: Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte? In: Alma Mater Aquensis. Berichte aus dem Leben der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (1993/94), S. 193-199. Vgl. auch ders.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte? Prolegomena zu einem Forschungsprojekt. In: German Life and Letters. New Series Vol. XLIX, No. 2, April 1996, S. 124-135. Hans Otto Horch/Till Schicketanz: »Ein getreues Abbild des jüdischen Lebens«. Compact Memory – Ein DFG-Projekt zur retrospektiven Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 2001, Bd. 12: Haskala und Öffentlichkeit. Im Auftrag des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien hg. von Julius H. Schoeps, Karl E. Grözinger, Willi Jasper und Gert Mattenklott. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 387405. Vgl.: http://www.compactmemory.de (Feb. 2009).

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Wissenschaftliche Arbeitsergebnisse bilden im Wesentlichen den Fundus, aus dem auch Lehrer, gleichsam als »Zwerge auf den Schultern von Riesen« sitzend, fachlich schöpfen können. Die wohl auf Bernhard von Chartres († nach 1124) zurückgehende Allegorie bringt aus Sicht des selbstkritischen Gelehrten plastisch zum Ausdruck, wie sehr die eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Arbeiten von den Leistungen der jeweiligen Vorgänger profitieren. Es ist sicher von unschätzbarem Vorteil, wenn bereits an der Universität wertvolle, grundlegende wissenschaftliche und menschliche Erfahrungen gesammelt werden konnten, sobald die praktische Überlegung anzustellen ist, wie innerhalb schulischer Rahmenbedingungen Aspekte der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte didaktisch reduziert an Schüler zu vermitteln wären. Gelegenheit zur Annäherung an unseren Gegenstand bot etwa die 1985/86 von Hans Otto Horch organisierte Aachener Ringvorlesung »Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur«.7 Erinnert sei des weiteren an die Vorlesungen zur deutsch-jüdischen Literatur, die ihren Widerhall in Studienbriefen für die FernUniversität Hagen8 fanden, oder an die spannenden und tief prägenden interdisziplinären Seminarveranstaltungen zu »Judenbildern in der deutschen Literatur und Geschichtsschreibung«, die Edith Wenzel, Hans Otto Horch und Dietrich Lohrmann im Wintersemester 1993/94 gemeinsam an der RWTH Aachen realisierten. Ebenso wirken Erkenntnisse, wie sie während der Gastvorträge von Arnold Paucker, Walter Grab und vielen anderen namhaften Wissenschaftlern sowie bei den lebhaften Diskussionen auf der Tagung »Jüdische Selbstwahrnehmung« in Luxemburg 1996 gewonnen werden konnten, oder der intensive wissenschaftliche Austausch auf den Symposien des trilateralen Forschungsschwerpunktes »Differenzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozeß der Modernisierung« in Boldern bei Zürich und in Wien noch langfristig nach. Ganz abgesehen von den zahlreichen persönlichen Gesprächen und der Zusammenarbeit mit Hans Otto Horch und den Mitarbeitern am DFG-Forschungsprojekt »Diskurse deutsch-jüdischer Zeitschriften im Spannungsfeld von Akkulturation, Antisemitismus und jüdischer Identitätssuche 1870-1933/38«.9 Von diesen Eindrücken – das darf an 7

8 9

Hans Otto Horch (Hg.): Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Tübingen: A. Francke 1988. Vgl. darüber hinaus die aktuelle Bibliographie unter http:// www.germlit.rwth-aachen.de/36.html (Feb. 2009). Hans Otto Horch: Deutsch-jüdische Literatur. Studienbrief FernUniversität Gesamthochschule in Hagen. (T. 1-3.2). Hagen 1995-2002. Vgl. dazu: Michael Böhler/Hans Otto Horch (Hg.): Kulturtopographie deutschsprachiger Literatur. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen: Max Niemeyer 2002, bes. S. 1-7. Achim Jaeger/Beate Wunsch/ Hans Otto Horch: »Die Macht der vollendeten Thatsachen«. Die deutsch-jüdische Presse und der Erste Basler Zionistenkongreß. In: Jakob Hessing/Alfred Bodenheimer (Hg.): Jüdischer Almanach 1998/5758 des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1997, S. 138-157. Achim Jaeger/ Wilhelm Terlau/Beate Wunsch: Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den Ersten Zionistenkongreß, die ›Ostjudenfrage‹ und den Ersten Weltkrieg in

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dieser Stelle wohl mit Dankbarkeit gesagt werden – profitiert die alltägliche schulische Arbeit des Verfassers bis heute. Bei Planung und Durchführung von Unterricht bilden sie eine fundierte Basis.

Deutsch-jüdische Literaturgeschichte im ›Haus des Lernens‹ Mit »Brezeln, Feigen, Rosinen und Mandeln«, habe man »in den ersten Tagen die neuen Schulkinder anzulocken und wie eine junge Pflanzung zu hegen« gesucht, berichtet der Humanist Johannes Butzbach (1478-1526) in seiner Chronika eines fahrenden Schülers und verweist dabei auf die Worte des Horaz: ›Geben doch die freundlichen Lehrer seit alters Plätzchen den Kindern, daß sie die Anfangsgründe des Wissens mit Freude bereit sind zu lernen‹. Auch jüdischen Kindern wurde im Mittelalter die Freude an der Schule im wahrsten Sinne des Wortes versüßt. Schon für das 11. Jahrhundert ist belegt: Bei der Einschulung in den Cheder, also die Elementarschule, erhielten die neuen Schüler eine Schiefertafel, auf der die Buchstaben des hebräischen Alphabetes aufgeschrieben waren. Diese waren mit Honig bestrichen, den man abschlecken durfte.10 Lernen soll Freude machen, ist aber nicht immer ein Zuckerschlecken, es erfordert auch intellektuelle Anstrengung und Kraft zum kritischen Urteil. Im »Haus des Lernens« unserer Tage, also der Schule als einem Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam leben, lehren und lernen, sollten Lehrer nicht mehr vorrangig »Wissensvermittler« sein, sondern »Lernberater« und »Lernhelfer«. In der gebotenen Kürze sind hinsichtlich der Komplexität unseres Themas weitere grundsätzliche Voraussetzungen zu bedenken. Zunächst ist festzuhalten, dass bei der Vermittlung obligatorischer Unterrichtsinhalte auf der Sekundarstufe I und II in unterschiedlichen Schulformen die jeweiligen Richtlinien und Lehrpläne der einzelnen Bundesländer zugrunde liegen, in unserem Fall die jeweils geltenden Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen. Abgesehen von der entsprechenden Obligatorik sind zudem die schulinternen Lehrpläne sowie das Schulprogramm zu berücksichtigen.

10

der deutsch-jüdischen Presse. Hg. von Hans Otto Horch. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte; 45). Vgl. dazu: Wanderbüchlein des Johannes Butzbach, genannt Piemontanus. Aus dem Leben eines fahrenden Schülers. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Leonhard Hoffmann. Textgrundlage: Johannes Butzbach: Chronika eines fahrenden Schülers oder Wanderbüchlein. Aus der lateinischen Handschrift übersetzt von D. J. Becker, Regensburg 1869. 2. Aufl. Berlin: Union 1988, S. 13f. sowie etwa Achim Jaeger: Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen »Widuwilt« (»Artushof«) und zum »Wigalois« des Wirnt von Gravenberc. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literaturund Kulturgeschichte; 32), S. 220 und ebd., Anm. 151.

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Haben bislang im Allgemeinen deutsch-jüdische Literatur und auch deutschjüdische (Regional-) Geschichte im Schulunterricht zumeist doch noch viel zu wenig Beachtung gefunden, wie beispielsweise die LBI-Kommission für die Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland unlängst feststellte,11 so werden diese Themen tatsächlich immer nur einen relativ begrenzten Teil des Spektrums der Stundentafel abdecken können. Andererseits sind deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte sowie Geschichte prinzipiell schon interdisziplinär ausgerichtet, weshalb sich in schulischem Kontext insbesondere zwischen den Fächern Deutsch und Geschichte hervorragende Kooperationsmöglichkeiten ergeben können. Darüber hinaus ließen sich (regionale) Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte nach Möglichkeit auch durch Zusammenarbeit mit den Fächern Politik, Sozialwissenschaften, Religion und Philosophie, den Sprachen, Kunst, Musik u.a. vermitteln. Schülerinnen und Schülern ganz unterschiedlicher Alterstufen und diverser Schulformen wurden in den letzten Jahren auf vielfältige Weise an die hier im Mittelpunkt stehenden Inhalte herangeführt.12 Es ließen sich einige, mitunter außergewöhnliche Projekte realisieren, von denen hier nur eine Auswahl präsentiert werden kann. Im Verlauf der Unterrichtsreihe »Aspekte deutschjüdischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert im Raum Düren«13 stand 1997 die deutsch-jüdische Regionalgeschichte im Mittelpunkt. Textgrundlage war der von Heinrich Böll verfasste Essay Die Juden von Drove.14 Höhepunkt der Reihe war sicher eine Exkursion in den unweit der Kreisstadt Düren gelegenen Ort Drove, wo Karl-Josef Nolden, den Böll in seinem Essay explizit 11

12

13

14

Vgl. LBI-Kommission für die Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland: Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht. Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit sowie Lehrerbildung und Lehrerfortbildung. In: LBI-Information 10 (2003). (Text auch leicht zugänglich unter http://www.lernen-aus-der-geschichte.de [Feb. 2009]). Vgl. auch Chaim Schatzker: Die Juden in den deutschen Geschichtsbüchern: Schulbuchanalyse zur Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1981 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung; 173). Realisiert wurden entsprechende Unterrichtsvorhaben seit 1995 am Berufskolleg Nelly Pütz in Düren, am St. Angela Gymnasium in Düren, der Gesamtschule Niederzier-Merzenich, der Käthe-Kollwitz-Realschule in Aldenhoven und am Stiftischen Gymnasium in Düren. Zu der 1997 am St. Angela Gymnasium Düren realisierten Unterrichtsreihe vgl. Achim Jaeger: Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert im Raum Düren: regionalgeschichtlich orientierte Unterrichtsreihe in einer Klasse 10. (Masch. Typoskript, Zweite Staatsarbeit). Heinrich Böll: Die Juden von Drove. In: Jutta Bohnke-Kollwitz/Willehad Paul Eckert/Frank Golczewski/Hermann Greive (Hg.): Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959-1984, S. 487-497. Vgl. dazu jetzt die mit historischen Fotos versehene Fassung des Böll-Textes in: Reiner Nolden/Karl-Josef Nolden/Klaus Schnitzler: Sie waren Nachbarn, Freunde, Kameraden. Zur Geschichte der Juden von Drove. Düren: Hahne & Schloemer 2008.

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erwähnt, den Jugendlichen die lokale Geschichte eindrücklich nahebrachte. Mit Neomi Naor wurde seinerzeit eine Referentin eingeladen, die zur jüdischen Lokalgeschichte15 gearbeitet hat und die auch bezüglich des jüdischen Lebens nach 1945 in der Region Auskunft geben kann. Als im Rahmen einer im Oktober 2006 am Stiftischen Gymnasium Düren realisierten Projektwoche ›Jüdische Lebensentwürfe‹ im Mittelpunkt des Interesses standen,16 berichtete Neomi Naor über das Leben der Dürener Familie Mayer. Dabei stellte sie heraus, dass zwei Söhne bis 1938 Schüler des Stiftischen Gymnasiums gewesen waren und Bernd (Abraham) Mayer seine alte Schule vor einigen Jahren noch einmal besuchte, um Gespräche mit Schülern zu führen.17 Für die am Projekt teilnehmenden Schülerinnen und Schüler bestand darüber hinaus Gelegenheit, die Synagogen in Aachen und Köln zu besuchen und einen Einblick in das aktuelle Leben dieser beiden jüdischen Gemeinden zu erhalten. Einen sachkundigen Rundgang durch das historische ›jüdische Köln‹ ermöglichte die beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) tätige Judaistin Monika Grübel, mit der bereits eine jahrelange Zusammenarbeit besteht. In Gastvorträgen und Unterrichtsbesuchen wurden bisher insbesondere Aspekte des jüdischen Lebens im Rheinland und das vom LVR getragenen Projekt der ehemaligen Synagoge in Rödingen thematisiert.18 Zum Abschluss der Projektwoche gab Ludger Dowe sowohl über den Dürener jüdischen Friedhof als auch über die Initiative »Stolpersteine in Düren« Auskunft19 und Lorenz Peter Johannsen stellte der Arbeitsgruppe in einem Vortrag sein Buch über den Dürener Kinderarzt Karl Leven (1895-1942) vor.20 Eine ähnlich intensive Auseinandersetzung mit regionalen Aspekten deutsch-jüdischer Geschichte war 2003 innerhalb des kunstpädagogischen Begleitprogramms zur Aachener Ausstellung »Ex oriente. Isaak und der weiße Elefant. Bagdad – Jerusalem – Aachen. Eine Reise durch

15

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Neomi Naor/Nika Robrock: Erinnerung. Eine Dokumentation über die Jüdinnen und Juden in Düren von 1933 bis 1945. Materialien aus dem Stadtgebiet von 1933. Düren: Hahne & Schloemer 1994. Organisation und Durchführung erfolgte in Zusammenarbeit des Verfassers mit den Kolleginnen und Kollegen Gaby Bröcker, Karin Kriewen-Overath und Bruno Reuter. Vgl. dazu auch Achim Jaeger/Franz Schrott: Von der frühneuzeitlichen Lateinschule zum Stiftischen Gymnasium. In: Das Stiftische Gymnasium Düren. Eine Traditionsschule im 21. Jahrhundert. Neue Beiträge zu Geschichte und Gegenwart unserer Schule. Herausgegeben vom Stiftischen Gymnasium Düren. Düren: Hahne & Schloemer 2008, S. 125-158. Im Herbst 2008 übernahm das Stiftische Gymnasium Düren eine Patenschaft für einen Stolperstein, der an das Schicksal der ermordeten Familienmitglieder erinnern soll. Monika Grübel: Synagoge und Vorsteherhaus Titz-Rödingen. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Köln: Rheinland-Verlag 2001. Ludger Dowe: Die jüdischen Friedhöfe im Kreis Düren. In: Jahrbuch des Kreises Düren 1989, S. 87-96. Lorenz P. Johannsen: Kinderarzt Karl Leven. Lebensspuren – Todesspur. Teetz: Hentrich & Hentrich 2005 (Jüdische Memoiren; 13).

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drei Kulturen um 800 und heute« in Form interkulturellen Lernens möglich.21 Erfreulich ist, dass in aktuellen Schulbüchern beispielsweise der Aachener Jude Isaak, der den weißen Elefanten von Bagdad zu Karl dem Großen nach Aachen brachte, einen prominenten Platz hat oder auch die oben genannte ehemalige Synagoge von Rödingen Erwähnung findet. Hinweise erfolgen ebenso auf Moses Mendelssohn, Henriette Herz oder Rahel Levin oder die Internetseite »Gabriel Riesser«, ein praxisorientiertes Pilot-Projekt des LeoBaeck-Instituts.22 Was den Bereich der Literaturgeschichte betrifft, so mag für die alltägliche Praxis wohl gelten, dass Schüler auf der Unter- und Mittelstufe sowie auf der Sekundarstufe II Werke deutsch-jüdischer Autoren überwiegend über die in den Schulbüchern gedruckten Texte und vom jeweiligen Fachlehrer zusätzlich in den Unterricht eingebrachten Materialien kennen lernen. Es hat sich nach meinem Eindruck als sehr fruchtbar erwiesen, die entsprechenden Stoffe in Bezug auf Epochen und Gattungen weit zu streuen. Um die Inhalte möglichst fächerübergreifend mit lokalen oder regionalen Verhältnissen in Verbindung zu bringen, bietet sich eine historische »Spurensuche« vor Ort an, wobei auch die örtlichen Archive konsultiert werden, um Recherchen zu betreiben.23 Zudem besuchten Schulklassen im Rahmen von Unterrichtseinheiten die jüdischen Friedhöfe in Rödingen, Düren oder Aldenhoven, wo der Heimatforscher Willi Dovern erläuterte, dass sich Spuren der Familiengeschichte der Anne Frank, deren Großeltern bekanntlich in Aachen lebten, auch im Kreis Düren finden lassen.24 Es sind hier auch Jugendbücher jüdischer und nicht-jüdischer Autoren anzuführen, die Aspekte der deutsch-jüdischen Geschichte thematisieren. So entstanden bei Projektarbeiten im Rahmen des Deutschunterrichts nicht nur 21 22

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Vgl. Achim Jaeger: Weiße Elefanten als Kulturträger. Interkulturelle Projektarbeit zur Aachener Ausstellung »Ex oriente«. In: Jahrbuch des Kreises Düren 2005, S. 95-100. So etwa im Unterrichtswerk Das waren Zeiten, an dem der Verf. als Berater fungierend mitarbeitet. Vgl. Das waren Zeiten. Ausgabe Nordrhein-Westfalen. Unterrichtswerk für Geschichte an Gymnasien, Sekundarstufe I. Band 2 für die 7./8. Jahrgangsstufe. Vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Brückner und Harald Focke. Bamberg: C. C. Buchners Verlag 2009, S. 7ff., S. 41, S. 103f., S. 154f. und S. 206f. Hilfreich erweisen sich etwa die Unterrichtsmaterialien I, Juden im Kreis Düren. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft der Geschichtsvereine im Kreis Düren. 2. Aufl. Düren 2002 (vgl. http://www.duereninfo.de/AGV/UMat2002.pdf [Feb. 2009]) sowie die Datenbanken der Dürener Geschichtswerkstatt: http://www.geschichtswerkstattdueren.de (Feb. 2009). Vgl. Willi Dovern: Die Wurzeln der Tagebuchschreiberin Anne Frank in Aldenhoven, Niedermerz, Warden und Güsten. In: Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte. Hg. von Günter Bers in Verbindung mit der Joseph-Kuhl-Gesellschaft für die Geschichte der Stadt Jülich und des Jülicher Landes. Jülich: Verlag der Joseph-KuhlGesellschaft für die Geschichte der Stadt Jülich und des Jülicher Landes 2001, Bd XII (2002), S. 116-119.

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Lesetagebücher etwa zu Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, sondern auch zu Hans Peter Richters Damals war es Friedrich oder Willi Fährmanns Es geschah im Nachbarhaus.25 Die von Fährmann geschilderten fiktiven Ereignisse beruhen auf der Xantener »Buschhoff-Affäre«, die 1892 für internationales Aufsehen sorgte. Im Verlauf eines Unterrichtsprojekts konnte nach eingehender Archivrecherche die Aufmerksamkeit der Schüler schließlich auf einen ähnlich gelagerten, fast völlig vergessenen Fall gelenkt werden, der in Jülich aktenkundig ist.26 Es mag dies ein Beispiel dafür sein, dass die ›große‹ Geschichte den Schülern durch Bezüge zu ihrer Region gewissermaßen ›verkleinert‹ und anschaulich vermittelt werden kann, so dass sie sich direkt angesprochen fühlen und dadurch besser in der Lage sind, die Geschichte kritisch zu reflektieren.

Von Menschen und Büchern: »Lesung und Gespräch« Deutsch-jüdische Literatur und Geschichte sind Teil umfassenden Lernens. Im Rahmen einer 2001 initiierten und seither laufenden Reihe »Lesung und Gespräch« konnten bereits zahlreiche Autorinnen und Autoren eingeladen werden, die auch jüdische Themen, Aspekte von Integration und Ausgrenzung sowie der europäischen Literatur und Kulturgeschichte zur Sprache brachten und zur Diskussion stellten. Der heute in Israel lebende Sally Perel (Hitlerjunge Salomon) versuchte bei seiner Lesung in Käthe-Kollwitz-Realschule Aldenhoven Gedanken von Aussöhnung, Toleranz und Mitmenschlichkeit zu vermitteln.27 Zu erwähnen sind hier als prominente Gäste der letzten Jahre zudem Willi Fährmann und Karin Gündisch sowie mehrere Stipendiaten der Heinrich-Böll-Stiftung, nämlich Vasile Baghiu, Nicolae Coande, Zsófia Balla mit Csaba Báthori, Patricia Suarez, Reet Kudu und Daniel Bănulescu, des weiteren die Autorinnen Fatma Bläser (Hennamond) und Dagmar Trodler oder der bekannte Kulturwissenschaftler und Publizist Hermann Glaser. Der renommierte Autor Dieter Kühn stellte nach Lesungen auf der Frankfurter Buchmesse, im Jüdischen Museum Berlin, im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Jüdischen Museum Frankfurt sein jüngstes Werk Gertrud Kol25 26

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Willi Fährmann: Es geschah im Nachbarhaus. Die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer tapferen Freundschaft. Würzburg: Arena 1968. Achim Jaeger: Ein ›Zeichen der Zeit‹. Zum Ritualmord-Vorwurf gegen die Eheleute David Levi (Jülich 1840). In: Neue Beiträge Jülicher Geschichte. Hg. von Günter Bers in Verbindung mit der Joseph-Kuhl-Gesellschaft für die Geschichte der Stadt Jülich und des Jülicher Landes. Bd XIV (2003). Jülich: Verlag der Joseph-KuhlGesellschaft für die Geschichte der Stadt Jülich und des Jülicher Landes 2003, S. 127-141. Vgl. Achim Jaeger: Wer ist hier fremd? Interkultureller Dialog: eine Aufgabe für die Schule. In: Jahrbuch des Kreises Düren 2002, S. 95-100.

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mar. Leben und Werk, Zeit und Tod28 im November 2008 am Stiftischen Gymnasium in Düren vor und brachte den Zuhörern eine der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen nahe. Diese öffentliche Veranstaltung war zugleich Bestandteil eines auf mehrere Jahre angelegten »Denkwerk-Projekts« der Robert Bosch Stiftung.

»Denkwerk-Projekt« und Wissenstransfer im Deutschunterricht Das von Hans Otto Horch und Thomas Bein initiierte »Denkwerk-Projekt« der Robert Bosch Stiftung, das im Bereich der Geisteswissenschaften einen »Wissenstransfer im Deutschunterricht« zwischen der RWTH Aachen und Schulen der Region29 befördern soll, hat zwei thematische Schwerpunkte: Die Deutschjüdische Literaturgeschichte und die mittelalterliche Fachliteratur. In Unterrichtseinheiten und Vorträgen gibt es für die Schüler viel zu entdecken, beispielsweise, dass es neben der ›poetischen‹ mittelalterlichen Literatur auch eine umfangreiche volkssprachliche Fachliteratur gibt, die geeignet ist, kulturelle Kontexte einer vergangenen Zeit zu erschließen. Dies wurde sehr eindrücklich von Thomas Bein dargelegt, als er im Rahmen der Stadtmauer-AG des Stiftischen Gymnasiums, die seit einigen Jahren den auf dem Schulgelände erhaltenen Abschnitt der Stadtmauer erforscht und sich darüber hinaus mit der allgemeinen Stadtgeschichte, der mittelalterlichen Alltagskultur und Literatur beschäftigt, einen öffentlichen Vortrag hielt, dessen reizvoller Titel »Das Gehirn als Kühlschrank« auf eine Stelle in Konrad von Megenbergs berühmten Buch der Natur Bezug nahm.30 Zudem soll im »Denkwerk-Projekt« die deutsch-jüdische Literatur im Deutschunterricht verstärkt und nachhaltig zum Gegenstand des Lernens gemacht werden. So wurde in den Schuljahren 2006/07 und 2007/08 Teilnehmern von Deutschkursen der 11. Jahrgangsstufe die Möglichkeit geboten, den Blick für die Dimensionen des Arbeitsfeldes »Deutsch-jüdische Literaturgeschichte« zu öffnen. Den Schülern wurde zunächst eine Auswahlliste vorgelegt, in der Vertreter unterschiedlichster Gattungen und Themen der deutschjüdischen Literatur angeführt waren. Es sollten dann Autorenpersönlichkeiten in einer Präsentation knapp porträtiert und im Anschluss daran durch ausgewählte Texte vorgestellt werden. Im Schuljahr 2006/2007 enthielt eine Zusammenstellung jeweils Kurzbiographien und Texte folgender Autorinnen und 28 29

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Dieter Kühn: Gertrud Kolmar. Leben und Werk. Zeit und Tod. Frankfurt am Main: S. Fischer 2008. Beteiligt sind am Denkwerk-Projekt folgende Schulen: St. Angela Mädchengymnasium Düren, Stiftisches Gymnasium Düren, Gymnasium Haus Overbach Jülich, Mädchengymnasium Jülich und Einhard-Gymnasium Aachen. Vgl. dazu: Achim Jaeger unter Mitarbeit von Ruth Floßdorf: Entdeckendes Lernen vor Ort: Das »Stadtmauer-Projekt« am Stift. In: Das Stiftische Gymnasium Düren (wie Anm. 17), S. 227-255.

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Autoren: Rose Ausländer, Maxim Biller, Max Brod, Paul Celan, Hilde Domin, Heinrich Heine, Walter Hasenclever, Henriette Herz, Jakob von Hoddis, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Mascha Kaléko, Ruth Klüger, Günter Kunert, Marcel Reich-Ranicki, Rafael Seligmann, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Stefan Zweig. Im darauffolgenden Schuljahr 2007/2008 dokumentierte der zweite von den Schülern erstellte Reader Lebensdarstellungen und Texte von Rose Ausländer, Jurek Becker, Wolf Biermann, Elias Canetti, Paul Celan, Hilde Domin, Erich Fried, Heinrich Heine, Henriette Herz, Edgar Hilsenrath, Franz Kafka, Mascha Kaléko, Ruth Klüger, Getrud Kolmar, Günter Kunert, Else Lasker-Schüler, Fanny Lewald, Marcel Reich-Ranicki, Nelly Sachs, Ludwig Strauß, Kurt Tucholsky, Franz Werfel und Stefan Zweig. Mit Ludwig Strauß und Walter Hasenclever wurden zwei Aachener Autoren in diesen ›Kanon‹ einbezogen, die leicht regionale Bezüge ermöglichten. Entsprechend der Zielsetzung des Programms »Denkwerk: Schüler, Lehrer und Geisteswissenschaftler vernetzen sich« gelang es, Schülern einen Einblick in aktuelle geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zu ermöglichen und ihnen in Ansätzen den Wert der Perspektivenvielfalt von dort vertretenen Disziplinen für die Beantwortung wesentlicher gesellschaftlicher Fragen zu vermitteln.31 Die Erkenntnis, dass die manchen Schülern anfangs ›fremd‹ erscheinende deutsch-jüdische Literatur und Geschichte – für nicht-jüdische Schüler ebenso wie für jüdische – auch Teil ihrer eigenen kulturellen Tradition ist, und darüber hinaus europäische und globale Dimensionen eröffnet, kann wohl als nachhaltiger Impuls für einen Perspektivwechsel angesehen werden. Fest steht jedenfalls, was auch die LBI-Kommission konstatierte: Deutsch-jüdische Geschichte ist ein »integraler Bestandteil« der deutschen Geschichte, ohne den diese unvollständig bleibt. Gleiches gilt für die deutsch-jüdische Literaturgeschichte. In einer zunehmend zusammenwachsenden Welt sollten bei Überwindung einer lediglich nationalen Perspektive deutsch-jüdische Literatur und Geschichte zumindest unter europäischen Dimensionierungen noch stärkere Beachtung finden. Dies bekräftigen auch Schülermeinungen zu den angezeigten Projekten, die etwa hervorheben, dass bisher nicht bewusste geschichtliche Zusammenhänge und Aspekte der individuellen Verarbeitung einer gemeinsamen Vergangenheit deutlich geworden seien. Die Beschäftigung mit vielen, den Schülern weitgehend unbekannten Autoren sei mehr als informativ und lehrreich gewesen: Der Einblick in Zusammenhänge der deutsch-jüdischen Literatur habe auch die Augen für so manches Halbvergessene geöffnet, das niemals in Vergessenheit geraten solle. Ein ihnen auf den ersten Blick recht klein erscheinender Bestandteil der Literaturgeschichte wirkte auf die Schüler 31

Dabei erwies es sich als sehr hilfreich, dass Hans Otto Horch freundlicherweise einen seinerzeit noch unpublizierten Aufsatz zur Verfügung stellte, der die Thematik grundlegend betrifft. Vgl. Hans Otto Horch: Juden in der Literatur. Deutschsprachige Literatur jüdischer Autoren von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. In: Arno Herzig/Cay Rademacher (Hg.): Die Geschichte der Juden in Deutschland. Hamburg: Ellert & Richter 2007, S. 288-299.

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Achim Jaeger

– unter veränderter Perspektive und bei näherer Betrachtung – zunehmend größer, vielseitiger und weniger ›fremd‹ als zuvor wahrgenommen. Sichtbar wurden so unterschiedlichste Facetten eines literarischen Kosmos, der durch eigene Lektüre und Forschung weiter entdeckt werden möchte. Die dem ein oder anderen Schüler gleichsam als in der Ferne stehende »Zwerge« anmutenden Texte resp. Autoren sind – um mit Ludwig Strauß zu sprechen – »wieder zu Menschen geworden«: Juden erscheinen nicht mehr vorzugsweise als Objekte und Opfer der deutschen Geschichte, sondern als »Träger einer eigenen Kultur und als Mitgestalter der modernen Welt«.32 Nachdem nun schon viel von kleinen und großen Leuten die Rede war, soll mit Günter Kunert ein deutsch-jüdischer Dichter hier das letzte Wort haben: LEUTE Kleine Leute, große Leute gab es gestern, gibt es heute, wird es sicher immer geben, über, unter, hinter, neben dir und mit und ihm und ihr: Kleine, Große sind wie wir. Größer als ein Großer kann aber sein ein kleiner Mann. Klein und groß sagt gar nichts aus, sondern nur, was einer draus für sich selbst und alle macht. Darum habe darauf acht: Wer den andren hilft und stützt und sich nicht nur selber nützt, hat das richtige Format – ob ein Zwerg er oder grad lang wie eine Latte ist oder einen Meter mißt. Kleine Leute, große Leute gab es gestern, gibt es heute.33

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LBI-Kommission, Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht (wie Anm. 11), S. 4. Günter Kunert: Leute. In: Menschengeschichten. Texte, Lebensbilder, Erzählungen, Gedichte, Beispiele, Märchen, Comics, Rätsel, Bilder, Fotos. Hg. von Hans-Joachim Gelberg. Drittes Jahrbuch der Kinderliteratur. Weinheim: Beltz 1975, S. 196.

Rachel Heuberger

Arche Noah der Erinnerung – Jüdisches Kulturerbe online

Es versteht sich von selbst, dass Forschung nur auf der Grundlage von Quellen durchführbar ist und die Qualität ihrer Ergebnisse von der nachhaltigen Zugänglichkeit zu Informations- und Textquellen abhängt. Durch den Einsatz von innovativen und zukunftsorientierten Instrumenten der Literatur- und Informationsversorgung können einzelne Wissenschaftsdisziplinen in ihrer Entwicklung jedoch zusätzlich fördernde Impulse erhalten. Es ist das Verdienst von Prof. Hans Otto Horch, diesen Beitrag für die Jüdischen Studien geleistet und mit der Umsetzung der beiden Digitalisierungsprojekte Compact Memory (www.compactmemory.de) und Virtuelle Judaica-Sammlung (www.judaicafrankfurt.de) die bis dahin vorhandene Informationslücke dieser Disziplin geschlossen zu haben. Mit der Datenbank Compact Memory, die von Prof. Horch initiiert wurde, und der Datenbank Virtuelle Judaica-Sammlung, die er gemeinsam mit der Verfasserin durchführt, wurden für die Erforschung der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturwissenschaften Mittel zur Verfügung gestellt, die das Konzept der internetgestützten Informationsversorgung als integralen Bestandteil und richtungsweisenden Imperativ dieser Disziplinen etabliert und diese damit auf den neuesten technologischen Stand geführt haben. Es sei mir deshalb an dieser Stelle erlaubt, diesen persönlichen Beitrag zu veröffentlichen, der die Bedeutung der beiden neu geschaffenen Datenbanken für die Jüdischen Studien, aber auch für zahlreiche weitere Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften, zum Inhalt hat und Prof. Horchs zentrale Rolle beschreibt, ohne dessen Weitsicht und innovative Planungen diese Projekte nicht zu Stande gekommen wären. Compact Memory, das Internetarchiv jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum, das mittlerweile ein unverzichtbares Informationsinstrument geworden und aus dem Forschungsalltag der entsprechenden Disziplinen nicht mehr wegzudenken ist, wurde vor mehr als 10 Jahren von Prof. Horch in die Wege geleitet. Bereits 1998 – als noch zahlreiche Vertreter der Geisteswissenschaft Ablehnung gegen moderne Technologien äußerten – erkannte er den zukünftigen Nutzen einer internetgestützten Informationsversorgung für die Jüdischen Studien und begann seine Idee der Digitalisierung deutsch-jüdischer Zeitschriften in die Tat umzusetzen. In einem Brief an die Verfasserin im Juni 1998 schrieb er: Es wäre sicher ein unschätzbarer Gewinn für alle im Bereich Jüdischer Studien Forschender […], wenn dieses Archiv deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur mög-

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Rachel Heuberger

lichst vollständig in digitaler Form zugänglich wäre, sei es in graphischer Gestalt, sei es als elektronisch lesbarer Text.

Noch im Oktober desselben Jahres fand die erste Sitzung zum geplanten Projekt statt, an der auch die zukünftigen Kooperationspartner teilnahmen. Zeitungen und Zeitschriften haben für die Geschichtsforschung eine eminente Bedeutung, denn als Primärquellen bieten sie dem Historiker und Kulturwissenschaftler wie kaum ein anderes Medium unmittelbare Informationen an. Obwohl in der Regel als aktuelles Informationsmedium geschaffen, sind die alten Periodika rückblickend unverzichtbare und unerschöpfliche Quellen, die direkte Einblicke in die Vergangenheit gewähren. Ihr Studium bietet dem Historiker […] die Möglichkeit, sich in die Atmosphäre der betreffenden Zeit zurückzuversetzen, in jenen Wissensstand, in jenes materielle wie mentale Umfeld, aus dem heraus zu einem bestimmten Zeitpunkt Entscheidungen getroffen oder Haltungen zu aktuellen Problemen eingenommen, verändert oder erzwungen worden sind.1

Das Periodikum dient somit als Instrument, um »aus der Perspektive der seinerzeitigen Gegenwart heraus auf die Handlung einer bestimmten Zeit zu blicken«.2 Für die jüdischen Periodika trifft dies in ganz besonderem Maße zu. In Anbetracht der nationalsozialistischen Zerstörungspolitik des jüdischen Kulturerbes besitzen sie einen herausragenden Stellenwert als Zeugnis und Quelle des einstmals blühenden jüdischen Lebens in seiner pluralistischen Ausprägung.3 Sie stellen somit für die Erforschung des Judentums in der Neuzeit generell und für den deutschsprachigen Raum ganz speziell ein gar nicht zu überschätzendes Quellenreservoir dar, auf das wohl alle, die sich mit der Geschichte der Juden und ihren Auswirkungen befassen, immer wieder zurückgreifen. Da in diesen Periodika alle religiösen, politischen und sozialen Richtungen innerhalb des Judentums vertreten sind und alle Bedürfnisse – wissenschaftliche, berufliche, literarische, pädagogisch-didaktische – artikuliert werden, lassen sich die Periodika, wie es im Jüdischen Lexikon (1927) heißt, als »ein getreues Abbild des jüdischen Lebens« interpretieren.4 Im deutschsprachigen Raum hat es seit 1

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Fritz Fellner: Die Zeitung als historische Quelle. In: Zeitungen im Wiener Fin de Siecle. Eine Tagung der Arbeitsgemeinschaften »Wien um 1900« der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Hg. von Sigurd Paul Scheichl und Wolfgang Duchkowitsch. München: Verlag für Geschichte und Politik 1997, S. 59-73, hier S. 72. Ebd. Hans Otto Horch, Till Schicketanz: »Ein getreues Abbild des jüdischen Lebens«. Compact Memory – Ein DFG-Projekt zur retrospektiven Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 12 (2001), S. 387-405. G[eorg] H[erlit]z, Mendel], P[robst]: Presse jüdische. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Hg. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner. Berlin: Jüdischer Verlag 1927-1930. Bd. 4 (1930), Sp. 1102-1110, hier Sp. 1107-1109.

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1806, als die erste deutschsprachige jüdische Zeitschrift Sulamith erschien, bis zum Jahre 1938, als die bis dahin noch existenten jüdischen Periodika von den Nazis verboten wurden, (sieht man einmal vom offiziös noch geduldeten und missbrauchten Jüdischen Nachrichtenblatt ab, das erst 1943 sein Erscheinen einstellte), rund 5.000 jüdische Periodika gegeben. Trotz des besonderen Stellenwerts für die Forschung sind diese Quellen jedoch schwer zugänglich.5 Die große Mehrzahl dieser Periodika ist mittlerweile in einem äußerst schlechten Erhaltungszustand und in der Regel in vollständigen Jahrgängen nur an wenigen Bibliotheken zu finden. Selbst dann sind sie meist nur in verschiedenen Formen (Original-Papierausgabe, Reprint, Mikrofilm und -fiche) zu nutzen, was sowohl für die Benutzer (die für die Durchsicht verschiedene Materialien bestellen und an verschiedenen Arbeitsplätzen einsehen müssen) als auch für das Bibliothekspersonal einen erheblichen zusätzlichen Arbeits- und Zeitaufwand bedeutet. Zudem handelt es sich um Quellenmaterial, das von den Forschern wegen seines hohen Informationswertes häufig frequentiert wird, und zwar in der Regel nur in einzelnen Segmenten, nämlich den gesuchten Aufsätzen und Nachrichten. Von daher bot sich dieser Textkorpus geradezu für die Digitalisierung, die Dokumentation und die zentrale Bereitstellung im Internet an.6 Aus finanziellen Gesichtspunkten ist die Digitalisierung der Zeitschriften die einzige ökonomisch vertretbare Möglichkeit, Archiv- und Bibliotheksbestände der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen und ihrem drohenden Verfall und damit endgültigen Verlust entgegenzuwirken. Das Internetarchiv Compact Memory wurde durchgeführt als Gemeinschaftsprojekt des Lehr- und Forschungsgebiets Deutsch-Jüdische Literaturgeschichte der RWTH Aachen unter Leitung von Prof. Dr. Hans Otto Horch, der Germania Judaica, einer Fachbibliothek zur deutsch-jüdischen Geschichte in Köln unter Leitung von Frau Dr. Annette Haller und der Judaica-Abteilung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.7 Das Aachener Lehr- und Forschungsgebiet Deutsch-Jüdische Literaturgeschichte befasste sich seit seiner Gründung 1992 schwerpunktmäßig mit der Rolle jüdischer Periodika und hatte bereits mit einem Digitalisierungs-Pilotprojekt der Alljüdischen Revue Die Freistatt Erfahrungen gesammelt.8 Die Universitätsbibliothek Frankfurt am 5 6

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Rachel Heuberger: Die Bestände der Judaica-Sammlung auf dem Weg ins Internet. In: Tribüne 39 (2000), H. 154, S. 35-38. Hans Otto Horch, Till Schicketanz, Kay Heiligenhaus: Compact Memory – Ein Projekt zur retrospektiven Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum. In: Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hg. von Michael Nagel. Hildesheim: Olms 2002, S. 351–359. Vgl. (7.1.2009). Vgl. (7.1.2009). Vgl. auch Hans Otto Horch, Till Schicketanz: »Volksgefühl und Jüdischkeit« – Julius und Fritz Mordechai Kaufmanns ›Alljüdische Revue‹ Die Freistatt. In: Wortverbun-

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Rachel Heuberger

Main ist zuständig für die Sondersammelgebiete »Wissenschaft vom Judentum« und »Israel« und besitzt den größten Bestand an wissenschaftlicher Literatur zum Thema Judentum und Israel in der Bundesrepublik Deutschland.9 Bereits Ende der 90er Jahre hatte die Bibliothek die historische Sammlung Jiddische Drucke, die rund 800 Werke in jiddischer und judendeutscher Sprache aus dem Zeitraum 16. bis Anfang 20. Jahrhundert enthält, digitalisiert und in einem Online-Portal bereitgestellt und damit zum ersten Mal die jiddische Literatur in umfassender Weise im Internet verfügbar gemacht.10 Die enge Kooperation zwischen dem Lehrstuhl, der die Verantwortung für die technische Durchführung übernahm und den Bibliotheken, deren umfangreiche Bestände an jüdischen Periodika die Materialbasis des Unternehmens boten, wirkte sich für die Erstellung der Datenbank äußerst positiv aus, die klare Aufgabenverteilung und Zuständigkeitsabgrenzung einerseits und der ständige gegenseitige Austausch bezüglich der Inhalte und Verfahrensweisen andererseits generierten einen reibungslosen und effizienten Ablauf, ohne den die Umsetzung der ungeheuren Datenmengen in so kurzer Zeit nicht möglich gewesen wäre.11 Das auf sechs Jahre angelegte und im Frühjahr 2006 abgeschlossene Projekt wurde unter dem Namen »Retrospektive Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum« von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und war in dem eigens geförderten Bereich »Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme/Kulturelle Überlieferung« angesiedelt, in dessen Rahmen der sukzessive, nachhaltige Aufbau und Ausbau einer Verteilten Digitalen Forschungsbibliothek angestrebt wird.12 Damit war auch die Erschließungsebene der Periodika vorgegeben, nämlich die Fokussierung auf ihre mediale Grundlage ohne weitergehende semantische Aufbereitung, so wie es für moderne Editionsvorhaben aller Art typisch ist. Für die Datenbanklösung und Anwendungssoftware zeichnete die Aachener Firma semantics unter ihrem Geschäftsführer Kay Heiligenhaus verantwortlich, die mit der von

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den – Zeitbedingt. Perspektiven der Zeitschriftenforschung. Hg. von Wolfgang Hackl und Kurt Krolop. Innsbruck: Studien-Verlag 2001, S. 183-197. Zur Geschichte der Sammlung vgl. Rachel Heuberger: Bibliothek des Judentums. Die Hebraica- und Judaica-Sammlung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main – Entstehung, Geschichte und heutige Aufgaben. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1996. Zu Sammelauftrag und Aufgaben des Sondersammelgebiets vgl. (7.1.2009). Vgl. (7.1.2009) sowie Rachel Heuberger: Die Internetbibliothek der Jiddischen Drucke der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. In: ZfBB. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 53 (2006), H. 34, S. 133-137. Vgl. Hans Otto Horch: Compact Memory. Ein DFG-Projekt zur retrospektiven Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum. In: ZfBB. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 53 (2006), H. 3-4, S. 177-180. Zum Förderprogramm vgl. (2.1.2005).

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ihr entwickelten scantoweb software Visual Library die strukturierte Erfassung, Indizierung und Bereitstellung der Materialien im Internet implementierte.13 Die der Langzeitarchivierung dienende Verfilmung und die Digitalisierung der Quellen wurde von externen Dienstleistern übernommen. Das Fachportal Compact Memory erlaubt den Zugriff auf 118 Zeitschriften und Zeitungen des deutschsprachigen Raums zwischen 1806 und 1938. Die Datenbank ermöglicht das Blättern in den einzelnen Heften ebenso wie die gezielte Suche nach bestimmten Schlüsselbegriffen wie Titel, Verfasser, Schlagwort für eine begrenzte Anzahl von Zeitschriften sowie eine VolltextRecherche für Zeitschriften in Antiquaschrift. 500.000 monatliche Treffer und ein hohes Google-Ranking dokumentieren die internationale Beachtung und Nutzung des Portals ebenso wie die Aufnahme in das Online-Archiv der UNESCO zur Sammlung und Wahrung des World Digital Heritage. Die außerordentlich positive Resonanz auf Compact Memory führte zur Entwicklung einer weiteren Datenbank, die Virtuelle Judaica-Sammlung, in der die äußerst produktive Kooperation zwischen dem Lehr- und Forschungsgebiet Deutsch-jüdische Literaturgeschichte unter Prof. Horch, dem Sondersammelgebiet Jüdische Studien der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, verantwortet durch die Verfasserin, und semantics unter Kay Heiligenhaus fortgeführt wurde. Als vierjähriges Projekt angelegt, ist das Vorhaben von der DFG im Juni 2006 erstmals bewilligt und seitdem finanziert worden. Die Datenbank hat den historischen Judaica-Bestand an Monographien der Frankfurter Universitätsbibliothek zum Inhalt, der die gesamte Literatur zur Wissenschaft des Judentums seit ihren Anfängen Ende des 18. Jahrhunderts bis 1933 umfasst. In diesem Zeitraum war die gängige Sprache der Wissenschaft des Judentums deutsch, sodass der überwiegende Teil der Werke in Deutsch verfasst ist. Die Virtuelle Judaica-Sammlung komplettiert damit die bereits in der Datenbank Compact Memory digitalisierten Zeitschriften und bildet gemeinsam mit dieser ein für die modernen Jüdischen Studien unersetzliches Quellenarchiv. Durch großzügige Spenden Frankfurter Juden zu Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, hatte sich die Sammlung unter der Leitung von Prof. Dr. Aron Freimann (1871–1948), der sie von 1898 bis 1933 betreute und in seinen vielfältigen Eigenschaften als Bibliothekar, Gelehrter und Biograph für ihren außergewöhnlichen Bestand sorgte, bis 1933 zur bedeutendsten Fachbibliothek des europäischen Kontinents entwickelt.14 Der Bestand konnte noch im Jahre 1932 von Prof. Freimann in einem Katalog der Judaica veröffentlicht werden, der an die 18.000 Eintragungen enthält.15 1968 erschien ein fast unveränderter 13 14 15

Vgl. (7.1.2009). Rachel Heuberger: Aron Freimann und die Wissenschaft des Judentums. Tübingen: Max Niemeyer 2004 (Conditio Judaica; 51). Katalog der Judaica und Hebraica. Stadtbibliothek Frankfurt am Main. Erster Band: Judaica. Hg.von Aron Freimann. Frankfurt am Main 1932.

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Nachdruck des Judaica-Katalogs, der sich von der Erstausgabe nur durch das Weglassen der ursprünglichen Signaturen unterscheidet. Bis heute gilt Freimanns Judaica-Katalog, der auf Grund von zahlreichen Verlusten nicht mehr als akkurates Bestandsverzeichnis dienen kann und sich daher nicht mehr als Nachweis, sondern ganz bewusst als bibliographisches Handbuch versteht, als »die größte abgeschlossene Bibliographie der jüdischen Wissenschaft aus der Weimarer Republik und zugleich als der beste und umfangreichste JudaicaFachkatalog einer deutschen Bibliothek überhaupt.«16 Im Dritten Reich blieb die Sammlung im Großen und Ganzen unangetastet, da sie vertragsgemäß dem nationalsozialistisch ausgerichteten Institut für die Erforschung der Judenfrage zugeordnet wurde, de facto aber als getrennter Bestand in der Bibliothek erhalten blieb. Während die Mehrzahl der hebräischen Bücher durch die Kriegseinwirkungen zerstört wurde, hat sich die Judaica-Sammlung zum größten Teil erhalten und gilt heute international als eine der bedeutendsten Spezialbibliotheken ihrer Art. Dennoch sind auch in diesem Bereich Verluste durch Kriegseinwirkungen, Auslagerungen und steigende Nutzung eingetreten, sodass die Sammlung nicht mehr die Vorkriegsvollständigkeit besitzt. Mit der Datenbank Virtuelle Judaica-Sammlung werden die ca. 18.000 überwiegend deutschsprachigen Werke zum Judentum erschlossen, digitalisiert und online angeboten. Zum einen werden die in der Frankfurter Bibliothek vorhandenen Quellen mittels Verfilmung nachhaltig und langfristig gesichert. Zum anderen werden die Kriegsverluste mittels Fernleihe durch die Bestände anderer Bibliotheken auf digitale Weise ergänzt. Die renommierte »FreimannSammlung« vor dem Krieg wird so durch Komplettierung virtuell wiedererstellt und eine umfangreiche online zugängliche Bibliothek der Literatur der Wissenschaft des Judentums geschaffen, die in ihrer Vollständigkeit eine kaum zu überschätzende Ressource für die Jüdischen Studien darstellt. Hierbei werden die Quellen gleichzeitig fachgerecht bibliothekarisch erschlossen und online katalogisiert, um den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Nutzer zu entsprechen. Das Internet-Portal präsentiert die Literatur in einer systematisch geordneten Datenbank, entsprechend dem Aufbau des Freimann-Kataloges. Somit kann der Nutzer sowohl ganz gezielt nach Autoren, Titeln und Stichworten suchen, als auch in der Datenbank virtuell »stöbern«, in dem er themenbezogen durch die Liste der Buchtitel blättert und von einem Werk auf andere ähnlichen Inhalts gelenkt wird. Durch die geleistete Strukturdatenerfassung des Werkes erhält der Nutzer einen strukturierten Überblick des Werks, gleichzeitig werden so alle Schlagwörter der einzelnen Buchkapitel erfasst und stehen der Suchfunktion auch für Texte in Fraktur zur Verfügung. Über standardisier16

Werner Schochow: Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft. Eine Geschichte ihrer Organisationsformen unter besonderer Berücksichtigung der Fachbibliographie. Berlin (F.U. Phil. Diss, 1961) 1966, S. 125.

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te Schnittstellen ist die Sammlung in übergeordnete Such- und Archivsysteme eingebunden, mittels derer der Nutzer weitere Informationen erhält. Die inhaltsbezogene Verknüpfung ermöglicht den Verweis auf die entsprechende Sekundärliteratur gleicher Thematik, so dass der Nutzer auch über Titel neuerer Werke informiert wird, die in der Frankfurter Universitätsbibliothek oder in der Deutschen Nationalbibliothek vorhanden sind. Die automatische Verknüpfung der Personen mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia liefert dem Nutzer auf der Stelle zusätzliche biographische Informationen über die Verfasser. In beiden Projekten wurde und wird strikt auf die normkonforme Katalogisierung der bibliographischen Daten geachtet, was bei unselbständig erschienener Literatur einen weitaus höheren Arbeitsaufwand als bei Monographien erfordert, aber auch für letztere ist der personelle und finanzielle Aufwand um ein Vielfaches höher als etwa der Einsatz automatisierter Texterkennungsprogramme. Doch gerade die intellektuelle formale und sachliche Erfassung der bibliographischen Daten gewährt den wissenschaftlichen Wert der Datenbank, die eine volle inhaltliche Erschließung und damit Informationen liefert, die weit über eine reine Formalerschließung hinausgehen. So können inhaltliche Bezüge zwischen einzelnen Werken hergestellt und den Nutzern exaktere Suchmöglichkeiten angeboten werden. Diese arbeits- und kostenintensive Erschließung ist angesichts chronischer Ressourcenverknappung gerade in öffentlichen Einrichtungen wie den Universitäten immer schwieriger zu finanzieren. Das weltweit große Interesse auch an diesem zweiten Digitalisierungsprojekt der Monographien lässt sich bereits heute an der Nutzung der erst in ihrem Anfangstadium befindlichen Frankfurter Virtuellen Judaica-Sammlung erkennen. Beide Datenbanken sind jedoch weit mehr als eine optimierte Informationsversorgung durch digitale Bereitstellung von Ressourcen in open access, sie greifen in die Mechanismen der kollektiven Erinnerung ein. Prof. Horch hat es in seinem Vortrag bei der Präsentation der Datenbank auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2008 folgendermaßen formuliert: Ein moralischer Aspekt kommt hinzu, der uns besonders wichtig ist: Durch das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg wurde der Frankfurter Bestand um etwa ein Fünftel dezimiert, ein Verlust, der durch Zukäufe auch nicht entfernt ausgeglichen werden kann. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Sammlung ist nur möglich, indem durch nationalen und internationalen Fernleihverkehr die fehlenden Titel beschafft, digitalisiert und im Internet als »Frankfurter Digitale Judaica-Bibliothek« bereitgestellt werden. Die Virtualität des Internet-Mediums erweist sich hier als einzige Chance, einen kulturellen Schatz wieder zu präsentieren, der durch die Katastrophe der Nazi-Barbarei scheinbar endgültig zerstört wurde. Auch diese Möglichkeit ist hervorzuheben – sie gehört zu den positivsten kulturellen Aspekten, die das Internet zu bieten hat.

Gegenwärtig bildet das Internet den globalen Raum, der die kulturelle Überlieferung in einer Weise bewahrt, die gar nicht zu überschätzen ist. Als Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit leisten diese Projekte einen entscheidenden Beitrag zur Vermittlung des jüdischen geistigen Erbes und lassen jüdi-

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Rachel Heuberger

sche Lebenswelten als integralen Bestandteil europäischer Kultur wieder auferstehen. Sie haben eine wichtige Funktion bei der Auswahl der Dinge, an die wir uns morgen erinnern werden und können so den Inhalt einer zukünftigen »Arche Noah der Erinnerung« beeinflussen.

Klaus Werner

›Schlesisch-Mähren‹. Landschaft als Text

Zunächst: Schlesisch-Mähren gibt es nicht oder allenfalls in Gänsefüßchen. Man kennt aus der Geschichte die geographisch und politisch fixierten österreichischen Kronländer Schlesien und Mähren – Bestandteile des cisleithanischen Bereichs der k. und k. Monarchie, die diesseits oder, locker gesagt, ›links‹ von der Leitha lagen –, Kronländer, die auch in der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten tschechoslowakischen Republik als Teilgebiete verwaltungspolitisch separat weiterlebten, bis in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das handtuchschmale Slezsko mit der großräumigen Provinz Morava zusammengeschlossen wurde. Das österreichische Troppau gleich tschechische Opava ging dadurch seines langjährigen Status als LandesteilHauptstadt verlustig, Brno (Brünn), die Hauptstadt Mährens, erhielt auch die ›Hoheit‹ über Schlesien. Mein Modell nun, Schlesisch-Mähren in Gänsefüßchen, stellt sich her, wenn man sich vornimmt, einen bestimmten Streifen der Ostregion des heutigen Tschechien als ein Ganzes, als ein Ganzes in Nord-Süd-Richtung, erkundend wahrzunehmen. Dann nämlich, ungefähr auf der Strecke Opava (Troppau) – KromČĜíž (Kremsier), erschließt sich ein kulturgeschichtliches Terrain, das in seinen Erscheinungsformen so aufregend ist, dass man sich fragt, wieso es nicht längst – dem ungleich bekannteren Böhmen auf dem Fuße – Eingang in die touristischen Top-Listen und fachmännischen Geheim-Tipps gefunden hat. Wer aber außer jenen Deutschen, die hier lebten und nach dem Rat- und Fehlschluss problematischer Dekrete vertrieben worden sind, hat in der wissenschaftsfröhlichen Bundesrepublik davon Kenntnis und wüsste aus dem Stand das Exklusivste aufzuzählen? Ich hätte es nicht gekonnt. Denn als ich vor einem guten halben Jahrzehnt erstmals in das südlich von Opava gelegene »Kuhländchen« (Moravské KravaĜsko) und weiter südwestlich in die »Hanna« (Haná) fuhr, hatte ich mich geprüft, was mir aus dem Stand einfallen würde zu diesen Gebieten, deren Zauber einen nicht spektakulär überfällt, sondern (mit Jakob Julius David zu reden) unmerklich ›beschleicht‹ – zu Landstrichen mit fassadenschmucken Kleinstädten, deren oft von malerischen Laubengängen umsäumte Ringplätze sehr beredt Vergangenheit, Historie bezeugen: Fulnek (Fulnek) zum Beispiel und Nový Jiþín (NeuTitschein), Hranice (Mährisch Weißkirchen) und KromČĜíž (Kremsier), PĜerov (Prerau) und, etwas abseits, ProstČjov (Prossnitz).

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Um es vorerst ein wenig ins Komische zu drehen: Viel mehr als ein kurioser Anklang – der junge Tempelherr im Nathan, war das nicht ein »Filnek«Spross? – und die undeutliche Erinnerung an eine Kadettenanstalt in einem gewissen Weißkirchen, in der sich, halbwüchsig, zwei spätere deutsche Schriftsteller abgequält hatten, kam bei diesem Überlegen nicht heraus... Nachgetragen werden muss vielleicht, dass ich, selber Ost-Deutscher, als Germanist vieles weitere andere ›Östliche‹ – in gelehrter Benennung: Ostmittel- und Südosteuropäische – habe erleben dürfen. Weiterung meiner Gastlehrtätigkeit im rumänischen Cluj-Napoca – dem früheren k. und k. Klausenburg – war die Begegnung mit der Bukowina gewesen, Spätfolge meines Unterrichts im polnischen Kraków (Krakau) und polnischen Wrocáaw (Breslau) die Beschäftigung mit Galizien. Ich habe das Glück gehabt, die in der Geisteswissenschaft seit geraumer Zeit ›vielbeschrienen‹ Territorien polyethnischer, vielsprachiger und multikultureller Prägung langjährig kennenlernen und den Schicksalen ihrer Bewohner regelrecht nachspüren zu können. Ein zwiespältiges Glück allerdings, weil ich dabei zwar einerseits eine Ahnung von der potenziellen (historisch großteils ausgelöschten) Völker-Opulenz jener ›Gegenden‹ erhielt, ›in denen Menschen und Bücher lebten‹, andererseits aber auch einen Begriff von Lebensläufen bekam, auf die man sich ihres Groteskseins wegen keinen Reim zu machen vermag. Seit mehr als fünf Jahren zudem nun das tschechische Opava.1 Hier halte ich wie vor Jahrzehnten schon in Rumänien und periodisch noch immer in Polen für die einheimischen Germanistikstudenten literaturgeschichtliche Vorlesungen und Seminare ab. Und hier, in Tschechien, habe ich im Interesse einer stärkeren akademischen Berücksichtigung der Verquickt- und Enggeführtheit von Geistes- und Gesellschaftsgeschichte erwogen, ob für das Bewusstmachen ihres Zusammenhangs nicht auch Lehrformen geeignet sein könnten, die über die geläufigen Veranstaltungen zwischen vier Wänden buchstäblich hinausgehen. Und so bin ich auf den Gedanken verfallen und gegenwärtig dabei, meine Entdeckungen im Schlesisch-Mährischen zur Grundlage eines ›gemeinnützigen‹ hochschulpädagogischen Projekts zu machen, das, neben anderem, eine Art Anschauungsunterricht vorschlägt, der die angesprochenen grundlegenden Korrespondenzverhältnisse zwischen Kultur- und Realhistorie quasi auch feldforscherisch: per Exkursion ins Sichtbare und Vorfindliche vermitteln könnte. Hinführen könnte zu einem – das ›prodesse‹ mit dem ›delectare‹ verbindenden – Entziffern regionaltypischer Figurationen und Pa1

In dem sich für mich insofern ein Bogen schließt, als just dieses schlesische Troppau in den 1870er Jahren – als es aufgrund der Polonisierung der Universität im galizischen Lemberg für Österreich darum ging, eine deutschdominierte HochschulAlternative anderswo zu schaffen – im erfolglosen Wettbewerb mit dem bukowinischen Czernowitz gestanden hatte. Und ein kleines buchenswertes Déjà-vu kam hinzu, als ich feststellte, dass der als Professor an der Czernowitzer Universität tätig gewesene namhafte Anglist und Theodor-Herzl-Vertraute Leon Kellner zuvor, in den 1890er Jahren, als Pädagoge an der Troppauer Staatsoberrealschule lehrte.

›Schlesisch-Mähren‹. Landschaft als Text

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noramen, zum Übersetzen von Landschafts›texten‹ und dem Wiedererzählen der in ihnen vergegenständlichten geistig-kulturellen Spannungen und Kompensationen. Befähigen könnte, die Zeit im Raum zu lesen2 oder – zum Beispiel – sich klar zu machen, wo, und wie, die Literatur »spielte«.3 Halten wir kurz inne: Opava, bis 1918 Troppau, bewohnt gewesen von Deutschen, Juden und Tschechen, heute fast ausschließlich von letzteren, schlimm zerstört gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, kommt dank tschechischer Wiederaufbauleistungen und Instandsetzungen in seinem Charakter jener Bürger- und Villenstadt zunehmend gleich, in der viele Geschäftsleute und Unternehmer, vor allem der Textil- und Baubranche, siedelten. Gemessen am nur ein paar Dutzend Kilometer entfernten ehemaligen Industrie-Moloch Ostrava (der sich inzwischen allerdings erheblich beruhigt, unverblümter gesprochen: mit allen unerwünschten sozialen Folgen weithin stillgelegt zeigt), wirkt Opava wie eine Idylle, aber keineswegs verzwergt: Abgesehen von prächtigen Barockpalais aus der österreichischen Kaiserzeit und riesigen Schul- und Verwaltungsgebäuden aus der k. und k. Ära begegnet man auf Schritt und Tritt so turmhoch-frommen Zeugen der Vergangenheit, dass man von dieser großen Klein- oder kleinen Großstadt rasch den Eindruck eines historischen Schaufensters gewinnt. Aber wohl auch zu Troppau würde dem Nichtspezialisten auf Anhieb nicht allzu viel einfallen. Und wenn, dann vermutlich nicht allzu Schmeichelhaftes. Vielleicht hat man vom sogenannten Fürstenkongress gehört, der 1820 im Nachgang der Karlsbader Beschlüsse Zar, Kaiser und König von der höchst unheiligen russisch-österreichisch-preußischen Feudal-Allianz hier vereinte – vereinte in der Abwehr und Verfolgung »demagogischer« nationalfreiheitlicher Bestrebungen in Europa (wie die sagten, die die wirklichen Demagogen waren). Oder der sonst Interessierte hat Kunde vom Fall des ordnungsrenitenten Psychoanalytikers Otto Gross4 – von der Tatsache, dass im Zuge eines Entmündigungsverfahrens dessen Vater Hans Gross – prominenter universitärer Vertreter der österreichischen Kriminologie – ihn aus der Berliner Boheme2 3 4

Siehe Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München, Wien: Carl Hanser 2003. Siehe Franco Moretti: Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte. Köln: DuMont Buchverlag 1999. Erneuter merkwürdiger Brückenschlag: Otto Gross ist 1877 in Czernowitz geboren, wo sein Vater vor der Übernahme einer Kriminalistikdozentur in Graz Erster Staatsanwalt war. (Siehe Franz Jung: Einleitung zu Werk und Leben von Otto Gross. In: Otto Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hamburg: Edition Nautilus 2000, S. 21.) Er vermehrt, wenn man so will, damit die Zahl der psychologisch oder psychoanalytisch tätig oder jedenfalls auffällig interessiert gewesenen Intellektuellen, die – wie Wilhelm Reich und (dessen Cousine) Klara Blum, Robert Flinker und (die Schwester Kubi Wohls) Salomea Ungar-Wohl, Helene Deutsch und Manès Sperber – aus bukowinisch-galizischen Kronländern stammen.

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Szene hatte entführen, zunächst in eine Wiener Privatklinik einweisen, dann aber, als sich die Proteste namentlich aus Kreisen linksaktivistischer deutscher Expressionisten beängstigend mehrten, Anfang 1914 in die Troppauer LandesIrrenanstalt hatte schaffen lassen, weil dort der angekündigte anarchistische Akt einer Befreiung des Internierten kaum zu gewärtigen war.

Freilichtmuseum katholisch Ideenprogression ist von Troppau/Opava nicht ausgegangen, jedenfalls nicht als sogenannte Strömung. Aber »kulturfroh«5 und präsentabel war es immer – zu Zeiten sowohl der (österreichisch-ungarischen) Doppelmonarchie als auch der Ersten (tschechoslowakischen) Republik. Zwei Einrichtungen gleich hohen Ranges stehen noch heute dafür: das Landes-Archiv und das Landes-Museum. Das Landesarchiv, untergebracht im großen, mehrflügligen ehemaligen Jesuitenkolleg, umfasst neben anderem eine unschätzbare Sammlung schlesischer und mährischer Landtafeln mit wertvollsten Illustrationen, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen, und Hunderte Geburtsmatrikeln schlesischer und mährischer Gemeinden, worunter die aus Freiberg (PĜíbor) – unweit des schon genannten Nový Jiþín (Neu-Titschein) gelegen – den Eintrag zu Sigmund Freud enthält, was der rührige Archivar ZdenČk Kravar nicht ohne Stolz ›kredenzt‹.6 Das Landesmuseum, dessen Schau-Abteilung ein Neorenaissance5

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Ein, in anderem Zusammenhang verwendetes, Wort der lesenswerten, weil gewitzten und, trotz ihres eigenen privilegierten Status als Gutsbesitzerstochter und ›Schlossherrin‹ (bei Moravská Ostrava/Mährisch Ostrau), sozial wachen schlesischen Autorin Maria Stona (die – bezüglich mährischdeutscher Dichter – daher vermutlich auch nicht zufällig mit Marie von Ebner-Eschenbach befreundet war). Siehe Maria Stona: Eine Fahrt nach Karpathorußland. Troppau: Adolf Drechsler [1936], S. 8. Ablichtungen davon durften 2007 die Teilnehmer unserer Opavaer EichendorffTagung nach Hause tragen; und für mich selbst schloss sich erneut ein Bogen, als mir der Geburts-Eintrag schwarz auf weiß bestätigte, was ich schon ungefähr zu wissen glaubte: dass nämlich Freuds Großeltern väterlicherseits und seine Großmutter mütterlicherseits aus den galizischen Städten Tysmienica beziehungsweise Brody stammen – bei welch letzterer man sofort Joseph Roth assoziiert –, und mir der Beschneidungs-Eintrag darüber hinaus verriet, dass zu dieser Feier als »Beystände« ein gewisser »Lipe Horowitz und dess. Schwester Frl. Mina« eigens aus dem bukowinischen »ýernowitz« angereist sind. Arnold Zweig – dessen notorische ›Freundschaft mit Freud‹ ihren Niederschlag im genau so betitelten Erinnerungsbuch gefunden hat – glaubte, als er im Spätsommer 1948, unmittelbar nach seinem palästinensischen Exil, in die Tschechoslowakei reiste, um den Geburtsort Freuds kennenzulernen, noch davon ausgehen zu müssen, dass Freuds Geburtsakten unauffindbar seien. Vgl. in Arnold Zweig: Freundschaft mit Freud. Ein Bericht. Berlin: Aufbau 1996 [Berliner Ausgabe. Bandbearbeitung: Julia Bernhard], das 23. Kapitel (»Besuch in Freuds Kindheit«), besonders S. 204f.

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bau beherbergt, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den Wiener Architekten Scheiringer und Kachler errichtet, im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört und in den 1950er Jahren originalgetreu wieder aufgebaut wurde, ist reich an naturgeschichtlichen, pflanzen- und tierbiologischen Exponaten, berührt vor allem aber durch landständige religiöse Plastiken aus Mittelalter und früher Neuzeit. Und besitzt die Kopie eines von den Jesuiten im 17. Jahrhundert in Auftrag gegebenen wandgroßen Ölgemäldes (der Maler ist unbekannt; das Original wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört), das der Heiligen Jungfrau Maria und den Heiligen Alexander und Valentin huldigt, deren Schutz es zu verdanken sei, dass die Jesuitenkirche aus dem Troppauer Stadtbrand von 1689 unversehrt hervorgegangen ist. Man sieht, wie die Gnadenstrahlen dieser Drei das Gotteshaus quasi immunisieren. Doch gibt das Bild darüber hinaus die Wahr- und Charakterzeichen der Stadt so einladend wieder, dass wir – ausgerüstet mit seiner postkartengroßen Reproduktion – regelrecht verführt sind, uns auf den Weg, auf zunächst kurzen Weg per pedes zu machen und erste kulturhistorische Anschauung per Erkundungsgang durchs Zentrum von Opava/ Troppau aufzunehmen. Und der bestätigt denn auch jenes alte Gemälde in dem Sinne, dass sich die Stadt auch heute noch als ein faszinierendes Kirchen-Ensemble darbietet, als Türmepark und Klösterfeld, deren Beschaffenheit den Besucher eine deutliche katholische Dominanz erkennen lässt. Die Tatsache fehlender konfessioneller Viel- oder wenigstens Mehrfalt ist, hinsichtlich jüdischer Religiosität, das Ergebnis deutscher Geschichte: Die große Troppauer Synagoge ist niedergebrannt worden.7 Auch innerkonfessionelle (christkirchliche) Differenzierung fällt kaum in den Blick, was deshalb verwundert, weil man anderswo, nur ein wenig südlich von Opava bereits, Anderes entdecken kann. Zwar hatte im schlesischen Troppau die lutherische Reformation Fuß fassen können, und das nicht nur episodisch, sondern über ein halbes Jahrhundert hinweg und durchaus streitbar. Auf Dauer aber vermochte sich der Protestantismus gegenüber (Olmützer) bischöflicher und (Wiener) kaiserlicher Macht nicht zu behaupten; und bei der Bestrafung seiner Unbotmäßigkeit verfuhr man dann entsprechend ungnädig und nachhaltig: Das Herzogtum Troppau wurde 1613 dauerhaft dem katholisch standfesten Haus der Liechtensteiner zugeschlagen. Und so schlängeln wir uns heute durch eine wunderbare – wenn auch konfessionell keineswegs kunterbunte – Kulisse von Sakralbauten, kraft der wir wie durch das Brennglas jenes Gemäldes Gotteshäuser und Klöster der allein7

Helmut Krommer (1891-1973), der namhafte Graphiker – Sohn des langjährigen stellvertretenden deutschen Bürgermeisters von Troppau und Vater der deutschjüdischen Autorin Anna Krommer –, hat sie, vor seinem Weggang ins Exil, innerhalb einer Serie Troppauer Zeichnungen zum Glück wenigstens bildkünstlerisch verewigt. Eine Doublette dieser Lithographie hängt im Opavaer »Café Kramer«, das sich gewissermaßen im Fuß des 1618 fertiggestellten Stadtturms (des späteren »Schmetterhauses«, sprich: Melde-, also Rathauses) eingerichtet findet.

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seligmachenden ›christlichsten‹ Religion in Augenschein nehmen können. Nicht weniger als fünf ihrer Kirchenorden hatten in Troppau ihre Niederlassungen. (Und der Franziskaner- und der Deutsche Orden unterhalten sie noch heute). Da gibt es aus gotischer Zeit die Heilig-Geist-Kirche der Franziskaner und die St.-Wenzelslaus-Kirche der Dominikaner samt jeweiligen Klostergebäuden, Anlagen jener zwei Orden großer Namen, die, obwohl im selben Jahr 1215 vom Papst abgesegnet, nicht nur sehr ungleich in Habitus und Lebenspraxis waren: Auch weltanschaulich divergierten sie erheblich, und ihre Troppauer Parallel-Existenz wäre ein gefundener Anlass für einen studentendienlichen Exkurs in den mittelalterlichen Universalienstreit, bei dem sie sich unversöhnlich in Realisten und Nominalisten schieden. Da sind ferner, gleichfalls aus gotischer Zeit, die vom Deutschen Orden gebieterisch hingesetzte und gewaltig aufgeführte Mariä-Himmelfahrts-Kirche aus schlesischem Backstein (der eigentlich für das geographisch ›jenseitige‹, einst preußische Schlesien typisch ist) und die vergleichsweise schlichte, Johannes dem Täufer gewidmete Kirche der Johanniter respektive späteren Malteser. Einige dieser Gotteshäuser zeigen ihr ursprüngliches Antlitz und Äußeres – der Dominikaner- und der Deutschordenskirche ist ihr gotisches »Altsein« auch heute noch ohne weiteres anzusehen –, im Inneren aber sind sie durchweg barockisiert worden. Was diesen selbst, den Barock, angeht, steht in Opava zudem ein originales Prachtstück auf dem (Nieder-)Markt, nämlich die dem römischen Mutterbau nachgebaute St.-Adalbert-Kirche der Jesuiten, die fünfte in der Reihe bedeutender historischer Kirchen und ohne Zweifel die schönste. Übrigens geht die Rede, dass sich sommers nirgendwo sonst solch fulminante Wolken im Schöpfungsfrohlocken auftürmen wie hinter der Troppauer Jesuitenkirche. Ich neige dazu, das aus eigener Anschauung zu bestätigen, zumal ich dank Enzensberger weiß, dass ja auch blühende Kirschbäume jubeln können wie Bräute.

Schneise diachron Machen wir uns, auf einer nächsten Etappe kulturhistorischen Anschauungsunterrichts, in angekündigter Nord-Süd(west)-Linie automobil auf weiteren Weg, kündigt uns schon nach kürzerer Strecke ein Aufmacher die Stadt Fulnek an, den Wirkungsort Jan Amos Komenskýs, des berühmten Pädagogen, Traktatschreibers und Erneuerers von Kirche und Glaubenspraxis. Und da schießt es einem wieder in den Sinn, dass man in Tschechien – und eben auch in Mähren, wo wir jetzt sind – sich auf einem Boden bewegt, auf dem bereits gut einhundert Jahre vor Luther Reformation stattfand. Man sollte sie sich vergegenwärtigen, diese europäische Schrittmacher-Rolle tschechischer Geschichte. Denn was sich Hus und die Utraquisten ›ausgedacht‹ bzw. zu Ende gedacht haben, war Vorlauf, ideengeschichtlicher, emanzipativer Vorlauf, auch wenn er sich

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(namentlich bei Hus) intentionell gar nicht gegen die katholische Kirche als solche gerichtet hat und (auch nach Hus) keineswegs durchgehend im säkularisierenden Sinne etablierte. Gut zweihundert Jahre immerhin blieben die Stützpunkte der böhmischen und mährischen Brüder, die sogenannten Brüder-Gemein(d)en, hierzulande eingewurzelt und hielten sie Platz: Bis zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, nach der Niederlage der böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg, unerbittlich die Rekatholisierung einsetzte und mit ihr das verheerende »Temno« (die sogenannte Verdunkelung) der tschechischen Geschichte begann. Viel konfessionsgeschichtliche Spannung ist also unter den Füßen, wenn man, wie wir jetzt, nordmährische Kleinstädte besichtigt! Fulnek, wie Opava stark kriegszerstört gewesen, reißt zwar allein schon hin durch die Wucht, die sein Anblick bietet – das wehrhafte Rathaus auf dem Ring und die Doppeletage zweier Schlösser ›auf dem Berge‹ –, aber es lässt darüber hinaus auch die soeben angesprochenen Widersprüche nacherlebbar werden: Das Schul- und Bethaus der Brüderunität, in dem Comenius drei Jahre predigte und lehrte, bevor er 1621 fliehen musste, erinnert eindrucksvoll an jene neue, andere heilsgläubige Grundlegung, die anti-hierarchisch auf der Bibel und keiner Autorität sonst mehr aufbaute und in ihrem egalitären Abendmahlsverständnis eine sozialkritische Stoßrichtung enthielt. Später errichtete Denkmäler bezeugen demgegenüber den Vollzug der Gegenreformation: Auch in Fulnek ziehen – neben barocker Zentralkirche und Kapuzinerkomplex – eine Dreifaltigkeitssäule und sehr drastisch und detailversessen ausgeführte Märtyrerstatuen der beiden Heiligen Sarkander und Nepomuk die Aufmerksamkeit auf sich. (Rilkes freundlich-ironisches Gedicht »Heilige« über das Massenaufkommen der Nepomuke im Lande sollte bei solcher Besichtigung mit allem Respekt zur Hand sein.) Erscheinen in Fulnek die konfessionellen Kämpfe und Gegensätze der Vergangenheit auf gleicher Fläche und engsträumig präsent, sind sie im Einzugsgebiet unseres Nord-Süd-Ausflugs gewissermaßen auch Ort gegen Ort ablesbar. Während wir Lehr-Einrichtungen der protestantisch orientierten Brüdergemeinden in Fulnek, in Hranice (Mährisch Weißkirchen) oder etwa auch in der einladenden Oberstadt von PĜerov (Prerau) begegnen, treffen wir anderswo auf die armenfreundlichen Gegen-Lehr-Stätten der katholischen Piaristen (die in Prag bekanntlich auch der junge Rilke in Anspruch nahm): so im Freudschen PĜíbor (Freiberg) mit glanzvoll wiederhergestellter Aula, als noch nicht wieder restaurierter Riesenbau in Lipník nad Beþvou (Leipnik)8 sowie in KromČĜíž, das seiner katholischen Exemplarizität zum Trotz insofern die Iro8

Hier war der – 1822 in dem auf unserer Strecke liegenden Heinzendorf (Hynþíce) nahe Odrau (Odry) geborene – Troppauer Gymnasiast und spätere Wegbereiter der Vererbungslehre: der Brünner Augustinermönch und spätere Augustinerabt Gregor Mendel 1833/34 Piaristenschüler. (Der Bauernhof, auf dem Mendel geboren wurde – ein sehenswert restauriertes Anwesen –, ist heute ein EU-gefördertes Begegnungsund Veranstaltungszentrum.)

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nie der Religionsgeschichte in sich trägt, als es noch im 15. Jahrhundert als die radikalste hussitische Stadt in Mähren galt. Ähnlich Widerspruchsvolles und Spannungsreiches könnten die weltlichen Repräsentationsbauten der Adelsgeschlechter auf unserer Route und den von ihr abzweigenden Nebenstrecken erzählen: Eine weitere schöne Merkwürdigkeit der mährischen Kleinstädte besteht nämlich darin, dass sehr häufig mitten in ihrem Zentrum oder ihm sehr nahe ein ansehnliches Schloss steht. Aus den Namen seiner Eigentümer kann man mit ziemlicher Gewissheit ableiten, ob und über welch einen Zeitraum hinweg es ein pro- und seit wann ein gegenreformatorisches Besitztum war. Solche Extrapolation verliefe dann etwa so: Vom feingliedrigen Renaissanceschloss im urbanen Kleinod Nový Jiþín (NeuTitschein) erfährt man, dass es lange in der Hand der Žerotins war, und vermag mit diesem Namen dann sofort hussitische oder jedenfalls utraquistische Sympathie zu assoziieren; die Renaissanceschlösser in Hranice (Mährisch Weißkirchen), einer weiteren Städte-Perle, sowie in ProstČjov (Prossnitz)9 künden von der Herrschaft der Pernsteins, was uns in derselben namensassoziativen Konklusion Toleranz gegenüber den Brüdergemeinden, ja deren Förderung vermuten lässt. Sobald in den Besitzerlisten dagegen Namen wie beispielsweise die der prominenten Liechten- oder Dietrichsteins auftauchen, kann man davon ausgehen, dass dies das (re)katholisierende Schlusswort auf protestantische Vorgeschichten oder Interludien bedeutete. Das Schloss im herrlichen KromČĜíž (Kremsier) – es führt kein Weg an solchen Epitheta vorbei! – strahlt dagegen Permanenz, katholische Permanenz, aus. Konfessionell war es, zumal als Lieblingsresidenz der Olmützer Bischöfe im 16. und 17. Jahrhundert, der Gegenpol zum brüdergemeinschaftlichen Fulnek, dem anderen Trutzpunkt der Diagonale, auf der wir von Opava gekommen sind. Wenigstens beider kulturelle Hinterlassenschaft stimmt – oberhalb religiösen Haders – versöhnlich: Der volksfreundliche Wahl-Fulneker Comenius, von Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität warmherzig unserem Gedächtnis empfohlen, hat uns, neben anderen Kopf- und Seelengütern, die der schlesischen Barockdichtung vorausgehende Lehre vom ›Labyrinth der Welt‹ hinterlassen, die man angesichts des grundgleich eitlen Heute ›mit heißer Müh‹ studieren sollte. Die standes- und machtbewussten Olmützer Bischöfe in Kremsier haben ihrerseits, als Konservative, für Bewahrung des Merkenswerten gesorgt. Ihre begehbare – man sagt, rund neunzigtausend Bände umfassende – Bibliothek ist eine wissenschaftliche, vornehmlich theologische, Fundgrube, ihre Gemäldesammlung – sie gilt in Tschechien als die wertvollste nach Prag – ein Kunstschatz. Man muss sie gesehen haben, diese mehreren Hundert Bilder alter Meister, von denen beinahe jedes für sich einen Pilgergang wert wäre: darunter Arbeiten von Lucas Cranach dem Älteren, Jan Breughel, Hans von Aachen, van Dyck, Veronese und – jener beklemmende Tizian, der die Häutung des Marsyas ›schildert‹! Bei dessen fahlfarbigem Anblick wird 9

ProstČjov (Prossnitz) ist Geburtsort von Edmund Husserl, Max Zweig und JiĜí Wolker.

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es einem Leipziger Germanisten gar nicht anders ergehen können, als dass sich da Fäden zu spinnen beginnen zu den ähnlich getönten Marsyas-Studien ostdeutscher Prosaschreiber wie Franz Fühmann und Thomas Brasch.10 Kehren wir, um uns auch kurioser Kulturlandschafts-›Inschriften‹ auf dieser Schneise des Diametralen bewusst zu werden, noch einmal nach Fulnek zurück. Um von dort nach Nový Jiþín zu gelangen, gibt es zwei Möglichkeiten: weiter flachhin durch Kunín (Kunwald) oder über den Berg durch Suchdol nad Odrou (Zauchtel). Kunwald und Zauchtel waren vormals zu einer Ortschaft vereinigt und ihre Brüdergemeinde, wie auch die Fulneksche, kraft vorausgegangener deutscher Kolonisierung in diesem mährischen Gebiet überwiegend deutschsprachig. Das mit der Gegenreformation einhergehende Verbot brüderischer Gottesdienste schwor sie auf die Praxis eines Scheinkatholizismus ein, der es verdiente, als kollektiv durchgestandene ›Irreführung der Behörden‹ gewürdigt zu werden. Als es durch Verschärfung der Rekatholisierung anfangs des 18. Jahrhunderts noch einmal besonders ungemütlich zu werden drohte, zogen viele der brüdergemeinschaftlich Gesinnten die Konsequenz und exilierten in die Lausitz, wo sie zu Mitbegründern der Herrnhuter und zu deren Missionierungsaktivisten wurden.11 Soweit zur fixierten Geschichte. Was, wenn man in Suchdol aussteigt, ›sieht‹ man davon heute? Eben: konfessionsgeschichtlich Kurioses. Die mächtige, ins Auge fallende Kirche aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts – seinerzeit einer der größten protestantischen Bauten im Lande – ist (noch immer) katholisch; die schmächtige und eigentlich aus der Wahrnehmung herausfallende Kirche aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts protestantisch. Und das erklärt sich wie folgt: Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts, lange nach katholischer ›Okkupation‹ der gewaltigen protestantischen Wehrkirche, das Toleranzpatent Josephs II. zur Anwendung gelangte, erklärten sich drei Viertel der scheinkatholisch-gehorsam gewesenen 10

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Apropos Literarisches. Aus Kremsier selber stammen: der deutschsprachige jüdische Gelehrte Max Grünfeld (1856-1933), in dessen Sammlung Mährische Dorfjuden auch zwei revolutionsironische Anekdoten enthalten sind, die auf die historische Tatsache Bezug nehmen, dass Kremsier (genauer: der Repräsentationssaal des bischöflichen Schlosses!) für kurze Zeit Tagungsstätte des österreichischen Märzparlaments gewesen ist (bevor dieses mit Militärgewalt aufgelöst wurde), sowie Adolph Donath (1876-1937) – ein Herzl-Vertrauter wie der oben erwähnte Leon Kellner –, der sich außer mit seinen Judenlieder[n] auch als Verfasser von Abhandlungen über die Psychologie des Kunstsammelns, die Technik des Kunstfälschens sowie zeitgenössische bildende Künstler einen Namen gemacht hat. Der Zauchteler Gemeindeprediger David Nitschmann wurde 1735 sogar zum Bischof der in Herrnhut erneuerten Brüder-Gemein(d)e ordiniert; und von David Zeisberger (1721-1808), einem Nachfahren der Zauchteler Exilanten, der als der »Indianerapostel« von Nordamerika und als Erforscher der Irokesensprache bekannt geworden ist, heißt es, dass zu den von ihm zum (protestantischen) Christentum Bekehrten ein Eingeborener gehört habe, der in Coopers Lederstrumpf-Romanen als Chingachgook (›Die große Schlange‹) wiederkehrt! Letzteren Hinweis verdanke ich Friedrich Goedeking, Frýdek-Místek.

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Einwohner von Zauchtel-Kunwalde für brüdergemeinschaftlich-herrnhutisch. Da diese Religionsvariable im Patent aber nicht ›vorgesehen‹, im Klartext: vergessen worden war, nahmen sie vorlieb mit dem Nächstliegenden, Teilverwandten: der Augsburgisch-Lutherischen Konfession. Ihre großartige Kirche, soll sagen: Kirche von großer Art, bekamen sie dennoch nicht zurück, nur jener bescheidene Ersatzbau entstand...

Luginsland als Rufinsland Das katholische Freilichtmuseum Troppau, die konfessionsgeschichtliche Diametralschneise Fulnek–Kremsier haben wir kennengelernt; an einer Adelsadresse, die Platz der Musen und des kulturellen Austauschs war, sind wir vorbeigefahren: in Grätz (Hradec nad Moravicí) nahe Opava mit dem über dem Tal gelegenen, weithin sichtbaren Schloss der Fürsten Lichnowsky, die, wie andere Nobelgeschlechter auch (zum Beispiel die Eichendorffs), ›Mehrsitzer‹ mit verschiedenen Dependancen waren. »Wie Schloß Grätz aus der öden, schweren Landschaft sich mit Hügeln, Park, Wald und Strom überraschend dem Auge darbietet [...]«, staunte Cosima Wagner.12 Schloss Grätz war, um es kulturhistorisch zutreffend zu benennen, ein Mäzenatenhaus offener Türen – jedenfalls was zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert den ältesten und jüngsten der Lichnowskyschen Karls angeht –, war ein Haus mit aufgeklärten Herrschern – was nicht identisch sein muss mit politisch progressiver Haltung, wie Eduard und vor allem Felix lehren –, und so figuriert es in dieser schlesischmährischen Landschaft als ein territorialer Magnet, der, indem er Kunstschaffende anzog, Kultur-Raum schuf, was der Gegend geistesgeschichtlichen Kredit garantiert und ihr über die Namen, deren Träger hier gastierten, Beachtung (wenn nicht ›Unsterblichkeit‹) sichert. Mit Grätz verhält es sich ja nicht wie mit Geburtsorten Prominenter, die allein der Tatsache wegen, dass in ihnen ein nachmals Wichtiger zur Welt kam, Ruhm einstreichen. Die Besucher von Grätz haben dort oder im Troppauer Umfeld auch gewirkt und Spuren hinterlassen.13 Bei einem später Berühmten hat sich 12

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Zitiert nach der neuesten wissenschaftlichen Arbeit, die grundsätzlich und detailliert über die Lichnowskys Auskunft gibt: Iveta Rucková: Das Adelshaus der Lichnowskys. Eine kulturelle Kontinuität. Ostrava: Ostravská univerzita v OstravČ 2007, S. 102 (Spisy Filozofické Fakulty Ostravské Univerzity/Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität Ostrava; 171). Wenn ich in dem prachtvollen klassizistischen Gebäude, in dem einst die Landesregierung von Österreich-Schlesien residierte und das heute zur PhilosophischNaturwissenschaftlichen Fakultät der Schlesischen Universität Opava gehört, Klavier spiele, ›rieselt‹ es mir oft über den Rücken: Denn ich weiß, dank Rucková bzw. Racek, den sie zitiert (siehe Anm. 12, S. 40), gleich nebenan, in der angrenzenden Franziskanerkirche, war 1811 der Lichnowsky-Gast Beethoven an der Aufführung seiner C-Dur-Messe beteiligt!

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das Grätzer ›Wirken‹ freilich noch in einem, wie es bei ihm heißt, jugendlichen »Visiren« gehobenen Daseins erschöpft: Oft von Lubowitz aus (dem heutigen polnischen Lubowice) mit seinem Bruder Wilhelm bei Onkel und Tante in Troppau zu Besuch, machte der 18jährige Joseph von Eichendorff just in demselben Jahr 1806, in dem, erstmals, auch Beethoven auf Grätz geweilt hat, die Bekanntschaft mit den Lichnowskys, und zwar mit dem jüngeren Bruder des (bekannteren) Fürsten Karl Alois: dem Grafen Moritz (und dessen Frau), und vermerkte dazu im Tagebuch: »[...] wir [...] mit der Tante u. Comtesse bey der Gräfin Lignovski. Manoevre des schönen Windspiels u. des zotigen Spitzchens. Nach Tische Wilhelms Gesang zum Clavier u. Guitarre – Das schöne Cabinett mit den Portraits u. Gemählden – Unsere Toilettenvisiten bey der Comteß Siedlnitzki vor dem großen Spiegel. Das schöne Clavierspielen des Grafen Lignovski.«14 Das trug sich in der ersten Generation der mäzenatischen Lichnowskys zu: Fürst Karl [Carl] Alois, der bei Mozart Unterricht nahm und selber komponierte, hat sich die Förderung so großer und unterschiedlicher Geister wie Haydn, Goethe, Forster und Beethoven angelegen sein lassen und unter anderem den zweimaligen Aufenthalt des Letztgenannten in Grätz bzw. Troppau veranlasst.15 Könnte man in Bezug auf den Fürsten Karl Alois daher salopp vom »Beethoven«-Lichnowsky sprechen, so bei Felix Lichnowsky – jenem Manne, dessen Charakterbild bedenklich schwankt in der Geschichte – vom »Liszt«Lichnowsky. Denn nicht nur, dass er mit Liszt in den 1840er Jahren befreundet war und ihn, gleichfalls zweimal (1846 und 1848), nach Grätz brachte, wo dieser an seiner symphonischen Dichtung »Hungaria« gearbeitet hat – Liszt umgekehrt hat ihm eine seiner musikalischen Rhapsodien »Heroide funèbre« gewidmet16 und ihn mithin einer Ehrung würdig befunden, die ihm andere 14

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Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Bd. 5: Tagebücher. Autobiographische Dichtungen. Historische und politische Schriften. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 178. Nicht nur in Lubowitz und Troppau, vielerorts in Schlesisch-Mähren haben die Eichendorffs mit Liegenschaften und Herrschaftssitzen Zeichen gesetzt. Das schöne Schloss Krawarn (KravaĜe) unweit Troppaus ist vor allem mit dem Namen Adolphs von Eichendorff, Josephs Vater, verknüpft, der, wie bekannt, keine glückliche Verwalterhand hatte und diesen Besitz bereits 1782, also noch vor Josephs Geburt, veräußern musste. Dafür tummelte sich Joseph in jungen Jahren des öfteren auch in Schillersdorf (ŠilheĜovice) nahe Hultschin (Hluþín), wo sein reicher Onkel Johann Friedrich ein großes klassizistisches Schloss errichten ließ, und erwarb als preußischer Beamter schließlich sein eigenes Gut in Sedlnitz (Sedlnice) bei Freiberg (PĜíbor), das nach glaubwürdigen Belegen zum Lieblingsaufenthalt des Spätromantikers wurde. Beethoven hat auf Karl Lichnowskys lebenslange Unterstützung bekanntlich mit Dedikationen, unter ihnen die Klaviersonate Pathétique Op. 13, reagiert (und übrigens auch den Klavierkomponisten Moritz, den schon erwähnten jüngeren der beiden Lichnowsky-Brüder, mit derartigen Danksagungen bedacht). Siehe zu diesen Angaben Rucková, Das Adelshaus der Lichnowskys (wie Anm. 12), S. 74, die sich hierbei auf Boženek und Sitwell bezieht.

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Zeitgenossen, wohl zu Recht, verweigert hätten: Denn der 1848 von Aufständischen in Frankfurt am Main ermordete Lebemann und politische ›Rechtsaußen‹ Felix Lichnowsky ist satirischer Vor-Wurf nicht nur jenes Schnapphahnski, auf den mehrfach in Heines Atta Troll angespielt wird, sondern auch der Titelfigur in Georg Weerths »Roman« Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski, von dem 2006 eine Neuauflage im Berliner VerbrecherVerlag erschienen ist: Eine amüsantere Nomen-est-omen-Interferenz kann man nicht erfinden! Man sieht: Natürlich schillern die Lichnowskys. Der 1845 in München verstorbene Eduard Lichnowsky etwa ist Autor einer von Metternich (!) veranlassten achtbändigen Geschichte des Hauses Habsburg (1218-1493), deren Faksimileausgabe von 197317 in der unserer Fakultät integrierten ÖsterreichBibliothek vorliegt. Schaut man hinein, wird man überwältigt von deren Faktenreichtum und Detailtreue. Aber man riecht auch sehr schnell ihren ungefilterten, dogmatisch versprühten christlich-konservativen Geist. Auch der 1928 in Kuchelna (Chuchelná) verstorbene Karl Max Lichnowsky war Konservativer, aber im Unterschied zu Eduard (und Felix, zu dem er einen Lebensabriss verfasste) einer mit politischen und ökonomischen Antennen ›ins Offene‹. Über seine Wirtschaftsmethoden (sein Landwirtschaftsinstrukteur Paul Püschel ist Modernisierer unter – Lenin geworden!)18 hat August Scholtis, der als junger Mann Schreibgehilfe in der Kuchelnaer Kanzlei der Lichnowskys war, Interessantes berichtet. Über seine diplomatische Konzeption erteilte Lichnowsky selber Auskunft, vor allem in seinem Memorandum Meine Londoner Mission 1912-1914 (eine Denkschrift, auf die sich 1919 der verhaftete Räterepublikaner Ernst Toller bezog!);19 dort umreißt er seine botschafterlichen Aktivitäten zur Pazifizierung der deutsch-britischen Beziehungen und zur Verhinderung des Kriegs – Aktivitäten, deren indiskrete Veröffentlichung seinen Hinauswurf aus dem preußischen Herrenhaus zur Folge hatte. 17 18 19

E[duard] M[aria] Lichnowsky: Geschichte des Hauses Habsburg. [8 Teile.] Neudruck der Ausgabe 1836[-1844]. Osnabrück: Otto Zeller 1973. Siehe August Scholtis: Ein Herr aus Bolatitz. Lebenserinnerungen. München: Paul List 1959, S. 223-225. »Ich reiste damals [1917] nach Berlin, wo ich durch Studium der Lichnowsky Broschüre [...] in meiner Kriegsgegnerschaft befestigt wurde; da ich hierdurch die Überzeugung erlangte, daß Deutschland nicht[,] wie ich bisher geglaubt hatte, einen reinen Verteidigungskrieg führte.« Ernst Toller: Gesammelte Werke. Hg. von Wolfgang Frühwald und John M. Spalek. Bd. 4: Eine Jugend in Deutschland. 2. Aufl. München, Wien: Carl Hanser 1996, S. 240. Auf Lichnowskys Denkschrift wird auch Bezug genommen in den (1927 erschienenen) Erinnerungen Oskar Maria Grafs an die Münchener revolutionären Jahre. Siehe das XIII. Kapitel (»Pegu«) des Zweiten Teils (»Schritt für Schritt«) von: Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. 3. Aufl. Berlin, Weimar: Aufbau 1979, bes. S. 299ff. Den Hinweis verdanke ich Michael Haase, Berlin.

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Sich mit dem letzten Karl von Lichnowsky beschäftigen20 heißt auch dessen, weit jüngerer, Ehefrau Mechtilde begegnen, mit der eine Persönlichkeit aus diesem Adelskreis in das Kulturleben des 20. Jahrhunderts trat, die man ohne weiteres als Lichtgestalt apostrophieren darf. Selber eine gedanklich und sprachlich Großes vermögende Autorin (siehe allein nur Kindheit!),21 die sich auch auf Kleines verstand (siehe ihre dichte Skizze Beethoven in Grätz),22 wollte sie literarische Mittlerin sein und sensible Mäzenin. Sie hat sich hilfsbedürftigen Schriftstellern (dem frühen Rilke, dem jungen, radikalen Johannes R. Becher) gegenüber solidarisch verhalten und zu den Zeitereignissen (nicht zuletzt zur nationalsozialistischen Diktatur) unverblümt Stellung genommen. Und: Sie hat im Dialog und, oft freundschaftlicher, Verbindung mit der Elite deutscher Schriftsteller und Kulturschaffender gestanden (Heinrich Mann, Sternheim, Werfel; Ludwig von Ficker, Alfred Kerr), Hofmannsthal 1910 nach Grätz23 und Karl Kraus in den 1920er Jahren zu sommerlichen Aufenthalten nach Kuchelna,24 dem Parallelsitz zu Grätz, gezogen. Das vom jungen Eichendorff im Grätzer Schloss an Schönem und Luxuriösem Registrierte und vieles – eigentlich alles – Andere ist heute zugänglich. Dank Achtung gebietender Außen- und Innenrestaurierung des klassizistischen Schloss-Komplexes (zu dem auch ein vom Ende des 19. Jahrhunderts datierendes verspieltes Ensemble aus riesigem Neu-Schloss und scheinaltem Turm im historistischen Stil gehört) ist die ganze Fülle an Zimmern und Funktions20

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Karl Max Lichnowsky, der Neffe von Felix Lichnowsky, hat mit Cosima Wagner, der Ehefrau Richard Wagners und Tochter Franz Liszts (der, wie angeführt, wiederum mit Felix Lichnowsky befreundet war), eine freundschaftliche Beziehung unterhalten, die insofern traditionsstützende Bedeutung hatte, als sie die Bemühungen des Hauses Lichnowsky um Musik und Musiker fortsetzen half und nun auf die Wagnersche Linie lenkte. Siehe auch dazu näher bei Rucková, Das Adelshaus der Lichnowskys (wie Anm. 12), S. 101-105. Um die Gunst Karl Max Lichnowskys hat sich übrigens auch Gerhart Hauptmann bemüht, der in Fortsetzung der Begegnungen beider in Berlin und in Erwiderung eines im Juni 1902 erfolgten Besuchs Lichnowskys in Agnetendorf seinerseits im September desselben Jahres Grätz besuchte. In Hauptmanns Notizbuch heißt es dazu etwas kryptisch: »Eindrücke wechselnd. Vormittagsspaziergang mit L[ichnowsky][,] dem kranken Adler. Der Menschenhunger. Gräfin Redern, Graf Redern, Graf Lerchenfeld, Graf v[on] Eulenburg. Bismarck hat die Dynastie gefestigt. Monarchische Idee«. (Martin Machatzke [Hg.]: Gerhart Hauptmann. Tagebücher 1897 bis 1905. Frankfurt am Main: Propyläen 1987, S. 600.) Mechtilde Lichnowsky: Kindheit. Berlin: S. Fischer 1934. In: Mechtilde Lichnowsky: Zum Schauen bestellt. Esslingen: Bechtle 1953, S. 112118. Siehe auch: Hartmut Cellbrot/Ursula Renner (Hg.): Hugo von Hofmannsthal – Mechtilde Lichnowsky. Briefwechsel. In: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 5/1997. Freiburg: Rombach 1997, S. 147-198. Siehe auch: Friedrich Pfäfflin/Eva Dambacher (Hg.): »Verehrte Fürstin«. Karl Kraus und Mechtilde Lichnowsky. Briefe und Dokumente. 1916-1958. Göttingen: Wallstein 2001.

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räumen (selbst die Privatkapelle von Karl Max und Mechtilde Lichnowsky) samt ihren Original-Interieurs zum Schauobjekt geworden. Ein polnischer Kollege und ich hatten besonderes Glück: Besuchermangel, verursacht durch Sau-Wetter (welch Ausdruck mit Blick auf die fürstlichen Jagdexponate hier legitimiert sei), stattete uns mit dem Privileg einer Privatführung ohne Absperrungen aus. Soll heißen: Wir durften sehr nahe ›rangehen‹, ja sogar ›rausnehmen‹! Und das haben wir denn auch getan. Genau draufgeschaut auf die respektablen Altbestände aus den Lichnowskyschen Gemälde-Kollektionen und, fast mehr noch, auf deren Moderne-Sammlung: Wer, gebürtiger Dresdner wie ich, hätte in Grätz den »Brücke«-Maler Otto Mueller mit charakteristischen »Zwei Mädchen am See« vermutet, wer ein großformatiges Öl-Porträt Mechthildes von Kokoschka und ein ebensolches Karl Maxens von Liebermann? (Picassos »Blue Boy« ist freilich nicht mehr da; Mechtilde Lichnowsky hat ihn in den dreißiger Jahren veräußern müssen.) Und selbstverständlich haben wir aus der viele Tausend Bände umfassenden und erstmals vor systematischer Aufarbeitung stehenden Lichnowskyschen Bibliothek Einzelnes ›rausgenommen‹ und aufgeblättert: Bände der hier vorhandenen Diderot-d’Alembertschen Enzyklopädie oder des »Zedler« oder der, zuerst deutsch erschienenen, böhmischen Geschichte Palackýs... Was für Hochgefühle!

Belletristischer Subtext Wir haben Figurationen und Panoramen gesucht, um Zeit im Raum lesen zu können, und sie im historischen Städtebild Opava-Troppaus, in einer das Diachrone und Diametrale aufschließenden Schneise durch Schlesisch-Mähren und in einem ganz und gar unkafkaesken Schloss gefunden, das Zutritt nicht verwehrte, sondern epochenlang kultivierte, wodurch es zu einem Fixpunkt ideell-musischer Zeitzeugenschaft geworden ist. Haben wir dabei Sichtbar-Vorfindliches als beredten Verweis auf vergegenständlichte Geschichte wahrgenommen, könnten wir, im Umkehrverfahren, zuletzt auch einmal probieren, das bereiste Terrain durch die Folie abrufbarer Lektüre zu betrachten: durch die Folie der Literatur zum Beispiel, die hier »spielte«. Wir würden dann erleben, wie sich Bildwelt weltbildlich und Sinnliches sinnhaft anreichern und gegenwärtige Landschaft, die ja doch zu einer Art Palimpsest geworden ist – nämlich zu einer Mischung aus authentischen Zeugnissen und ›Übermalung‹ gleich Überbauung –, sich unter der Hand verwandelt, indem sie verschwundene Kerntexte, ihre vorgängigen Gesichter, wieder herzeigt. Erstens: Auch das schlesisch-mährische Land konturierte sich sozialgeschichtlich als Welt der Arbeit, in der im 20. Jahrhundert die Klassengegensätze in aller Schärfe aufbrachen. Machten wir von unserer in Opava beginnenden Hauptroute aus einen Ausfallschritt nach Osten, Richtung Ostrava (Mährisch Ostrau), und nach Südwesten, Richtung ProstČjov (Prossnitz), würden wir das

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zwar noch immer auch realiter an (heute meist schon: ehemaligen) Gruben und Hochöfen erkennen, mit den Poemen zweier Autoren im Kopf – oder deren Texten vor Augen – aber zwingend in die Landschaft hineinzulesen vermögen. Denn was der 1867 im österreichischen Troppau geborene tschechoslowakische Postbeamte Vladimir Vašek alias Petr Bezruþ (d. h. Peter Ohnehand) um die Jahrhundertwende mit seinen mehrfach erweiterten Schlesische[n] Lieder[n] unternahm, die ihm internationalen Ruhm eintrugen, war Zuhalten auf wirkliche Wirklichkeit. Sprachmächtig und poetisch so eigenwillig, dass die 1917 im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienene erste deutsche Ausgabe sich eine Vorrede Franz Werfels zu sichern vermochte, in der es emphatisch heißt, dieser tschechische Dichter gleiche einer »grimmige[n] Hussitenseele, die ihren Gott verloren hat«: Jetzt tauche er wieder auf als »Dämon, Revenant und Inkarnation des Volks=Schicksals«.25 Seine – von Leoš Janáþek teils zu Chorwerken vertonten – Balladen von der sozialen Unterdrückung und ethnischen Diskriminierung tschechisch-schlesischer Bergleute und Bauern haben ihr Pendant in der gesellschaftskritischen Lyrik JiĜí Wolkers vom anderen Ende unserer Exkursionsroute gefunden. 1900 in einer wohlhabenden katholischen Familie im österreichischen Prossnitz (bei Olmütz) geboren (wo er mit gerade einmal 24 Jahren auch starb), wurde Wolker nach religiös-poetischen Anfängen zum konzeptiven tschechischen Vertreter einer literarischen Tendenz, die man unter jener ›proletarisch-revolutionären Dichtung‹ der 1920er Jahre rubrizieren kann, auf deren Position ja auch viele deutsche bürgerliche Autoren von Becher bis Anna Seghers übergegangen sind. Weiter: Auch hier, am ›Rande‹ Mitteleuropas, fand statt, was in der deutschsprachigen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts widergespiegelt ist: die epochentypische Verkehrung von Bildung durch den träumezerstörenden Drill in einer hierarchisch gestuften und kapitalseligen adels-bourgeoisen Ordnung, die auf Leistung und Gehorsam der sogenannten Tüchtigen setzte und musische ›Taugenichtse‹ in die Isolation trieb. Kein Ort, nirgends, fand sich mehr für die Tonio Krögers: Im Mikrokosmos der Mährisch Weißkirchener Militär-Oberrealschule und Kadettenanstalt – wie er in Rilkes Turnstunde und Musils Törleß gestaltet ist – zeigt sich uns auch Schlesisch-Mähren einbezogen in eine Topographie der negativen Zucht. Kraft literarischen Filters lässt sich unter exemplarischer Kleinstadt-Biederkeit, neben Kirche, Rathaus, Schloss und Bürgerbauten gleichschöner Fasson ein altes Frustrations-Areal ausmachen. Mit Musil vermögen wir dann auch zu sehen, was er seinem Tagebuch anvertraute: »MW-Hranice«:26 »(Das A-loch des Teufels.)« »Kavalleriekadetten u. Militäroberrealschüler. Die wahre Geschichte des Törleß.«27 25 26 27

Franz Werfel: Vorrede. In: Die schlesischen Lieder des Petr Bezruþ. Verdeutscht von Rudolf Fuchs. Leipzig: Kurt Wolff [1917], S. XIV. Lies: »M[ährisch]W[eißkirchen]-Hranice«. Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 953.

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Lektüre erinnert uns andererseits aber auch daran, dass im selben mährischen Literatur-Spiel-Raum ein gewisser Franz Freiherr von Trotta und Sipolje, Sohn des kaiserrettenden Helden von Solferino, als Bezirkshauptmann ganz und gar überzeugt Posten für die österreichische Monarchie stand und seinen Sprössling Carl Joseph mit großen Erwartungen in just jene Mährisch Weißkirchener Ertüchtigungsanstalt schickte, die Rilkes und Musils Helden beschädigte. Schließlich: Ins deutsche literaturgeschichtliche Bewusstsein eingegangen ist Schlesisch-Mähren vor allem natürlich als Projektionsfläche von Geschichten, deren gesellschaftliche und existenzielle Spezifik von einem Zwei-, dann Dreigestirn kritischer Realisten des 19. Jahrhunderts gestaltet worden ist, die Bescheid wussten, da sie von hier stammten, hier siedelten oder sich längerfristig hier aufhielten: Und so treten, von unseren Vorsatzpapieren aufgerufen, deren Erzählhelden vor den Horizont dieser Landschaft und verleihen ihr das passgerecht mährische Gepräge: Zur Stelle sind das ›Gemeindekind‹ Pavel und die Božena der Marie von Ebner-Eschenbach28 – Figuren einer österreichischen Autorin, die sommers in Zdislawitz (Zdislawice) knapp südlich von Kremsier und winters in Wien lebte und ausgestattet war mit einem sympathetischen Gefühl für ihre mährischen Nachbarn –,29 die oft mythisch grundierten Originale, Eigenbrötler und Selbsthelfer Ferdinand von Saars, der nördlich Brünns, von den Schlössern seiner Gönner in Blansko (Blansko) und Raitz (Rájec), literarisch Ausschau hielt und die ›Troglodytin‹ Maruschka, den ›Doctor‹ Trojan und den Brauer von Habrovan literarisch einfing, sowie das vielköpfige Ensemble des gegenüber den Vorgenannten fast dreißig Jahre jüngeren Jakob Julius David, gebürtig aus Mährisch Weißkirchen, aufgewachsen in Fulnek, Gymnasiast in Troppau, Teschen und Kremsier, dann Journalist und Schriftsteller in Wien, eines heute leider halbvergessenen Autors, den zu kennen lohnt: Geschlagene und Streitbare aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges; der großherzige Taugenichts Cyrill [Cyril] Wallenta und die couragierte Bäuerin Ruzena Capek [RĤžena ýapek]; durch das Höferecht verfeindete deutsche Brüderpaare; die einfältige junge Slowakin Lowisa (aus dem verstörenden 28

29

Wie Ebner-Eschenbachs Božena heißt auch das – ganz andere – Prosastück des 1933 geborenen Peter Härtling, der, als auf beiden Augen klar sehender Nachgeborener, sich verpflichtet fühlte, die schlimmen Weiterungen in der Beziehung von Tschechen und Deutschen seit dem 19. Jahrhundert, also deren Zerwürfnis, einmal nicht am Beispiel der Unterdrückung von Tschechen durch Österreicher und (Nazi-)Deutsche, sondern an der (nach dem Zweiten Weltkrieg typisch gewesenen) Ausgrenzung einer – der Deutschensympathie verdächtigten – Tschechin durch Tschechen zu gestalten. Siehe Peter Härtling: Božena. Eine Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994. »Es beleidigte mich, wenn ein Tadel gegen sie ausgesprochen wurde; es kränkte mich, wenn man mit Härte gegen sie verfuhr.« (Marie von Ebner-Eschenbach: Autobiographische Schriften I. Meine Kinderjahre. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren. Kritisch hg. und gedeutet von Christa-Maria Schmidt. Tübingen: Max Niemeyer 1989, S. 274 [Marie von Ebner-Eschenbach. Kritische Texte und Deutungen. Hg. von Karl Konrad Polheim; 4].)

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Erzähl-Fragment Filippinas Kind) und – das Bekannteste zuletzt – der Maler Florian Petersilka mit dem Bauernmädchen Hanka, das am Ende in dessen Hanna-Landschaftsbildern tragisch aufgehoben sein sollte... Jakob Julius David war es auch, der den tschechischen Osten auf die poetische Formel brachte: »[...] arm an allem, was blendet, aber Menschen freundlich, sie reichlich nährend und von ihnen geliebt und mit jener Innigkeit umfaßt, die den nimmer läßt, den sie einmal beschlichen hat.«30

30

J[akob] J[ulius] David: Die Hanna. Filippinas Kind. Das Ungeborene. Halluzinationen. München, Leipzig: R. Piper u. Co. 1908, S. 189 (J[akob] J[ulius] David: Gesammelte Werke. Hg. von Ernst Heilborn und Erich Schmidt; 6).

Liste der Beiträger

Prof. Dr. J. Friedrich Battenberg Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64289 Darmstadt, Deutschland Prof. Dr. Sigrid Bauschinger 7 Pease Place, Amherst, MA 01002, USA Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer Institut für Theaterwissenschaft, Dept. Kunstwissenschaften der Ludwig Maximilians-Universität, Georgenstr. 11, 80799 München, Deutschland Dr. Ingrid Belke Im Schüle 10, 70192 Stuttgart, Deutschland Prof. Dr. Alfred Bodenheimer Universität Basel, Institut für Jüdische Studien, Leimenstrasse 48, 4051 Basel, Schweiz Prof. Dr. Dieter Breuer Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, 52056 Aachen, Deutschland Dr. Hanna Delf von Wolzogen Theodor-Fontane-Archiv, Villa Quandt, Große Weinmeisterstr. 46/47, 14469 Potsdam, Deutschland Prof. Dr. Jürgen Egyptien Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, 52056 Aachen, Deutschland Prof. Dr. Anat Feinberg Hochschule für Jüdische Studien, Friedrichstr. 9, 69117 Heidelberg, Deutschland

538

Liste der Beiträger

Dr. Rainer Funk Internationale Erich Fromm-Gesellschaft, Literarische Rechte- und Nachlassverwaltung von Erich Fromm, Erich Fromm-Archiv, Ursrainer Ring 24, 72076 Tübingen, Deutschland Dr. Holger Gehle Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, 52056 Aachen, Deutschland Prof. Dr. Mark H. Gelber Department of Foreign Literatures and Linguistics, Ben-Gurion University, Beer Sheva 84105, Israel Prof. Dr. Axel Gellhaus Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, 52056 Aachen, Deutschland Dr. Gabriele von Glasenapp Goethe-Universität, Institut für Jugendbuchforschung, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main, Deutschland Prof. Dr. Karl E. Grözinger Institut für Jüdische Studien, Universität Potsdam, Köhlerstr. 36, 12205 Berlin, Deutschland Dr. Annette Haller Germania Judaica, Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums, Josef-Haubrich-Hof 1, 50676 Köln, Deutschland Prof. Dr. Arno Herzig Universität Hamburg, Historisches Seminar, Von-Melle-Park 6, 20146 Hamburg, Deutschland Prof. Dr. Jakob Hessing The Institute of Arts and Letters, Faculty of Humanities, Hebrew University of Jerusalem, Mt. Scopus, Jerusalem 91905, Israel Dr. Rachel Heuberger Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Bockenheimer Landstraße 134-138, 60325 Frankfurt am Main, Deutschland

Liste der Beiträger

539

Prof. Dr. Daniel Hoffmann Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Germanistisches Seminar II (Lehrstuhl Herwig), Universitätsstr. 1, 40225 Düsseldorf, Deutschland Dr. Achim Jaeger Hansemannstr. 33, 52351 Düren, Deutschland Daniel Jütte Historisches Seminar, Universität Heidelberg, Grabengasse 3-5, 69117 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. Andreas Kilcher Professur für Literatur- u. Kulturwissenschaft, ETH Zürich, Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, HG E 67.4, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz Prof. Dr. Florian Krobb Department of German, National University of Ireland, Maynooth, Maynooth, County Kildare, Irland Prof. Dr. Joseph A. Kruse Landeshauptstadt Düsseldorf, Heinrich-Heine-Institut (41/201), Bilker Straße 12-14, 40213 Düsseldorf, Deutschland Prof. Dr. Hanni Mittelmann Dept. of German Literature, Hebrew University of Jerusalem, Mt. Scopus, Jerusalem 91905, Israel Prof. Dr. Gunnar Och Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Bismarckstr. 1 B, 91054 Erlangen, Deutschland Prof. Dr. Monika Richarz Bogotastr.18, 14163 Berlin, Deutschland Prof. Dr. Hans-Jürgen Schrader 173, route d'Aïre, 1219 Aïre/Genève, Schweiz Prof. Dr. Georg-Michael Schulz Uni Kassel, Fachbereich 2, Institut für Germanistik, Georg-Forster-Straße 3, 34127 Kassel, Deutschland

540

Liste der Beiträger

Dr. Hermann Simon Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28-30, 10117 Berlin, Deutschland Dr. Thomas Sparr Suhrkamp Verlag, Lindenstraße 29-35, 60325 Frankfurt am Main, Deutschland Prof. Dr. Bernhard Spies Johannes Gutenberg-Universität Mainz, FB 05 – Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, Jakob Welder Weg 18, 55099 Mainz, Deutschland Dr. Hauke Stroszeck Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, 52056 Aachen, Deutschland Dr. Deborah Vietor-Englaender Am Finther Weg 8, 55127 Mainz, Deutschland Prof. Dr. Manfred Voigts Gasteiner Str. 9, 10717 Berlin, Deutschland Prof. Dr. Henry Wassermann The Open University of Israel, 108 Ravutsky str., Raanana, 43107, Israel Prof. Dr. Liliane Weissberg Christopher H. Browne Distinguished Professor in Arts and Science, Department of Germanic Languages and Literatures, University of Pennsylvania, 745 Williams Hall, Philadelphia, PA 19104-6305, USA Prof. Dr. Markus Wenninger Institut für Geschichte, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Universitätsstr. 65, 9020 Klagenfurt, Österreich Prof. Dr. Edith Wenzel Zehntwerderweg 191, 13469 Berlin, Deutschland Dr. habil. Klaus Werner Vršovice 40, CZ-74761 RaduĖ, Tschechische Republik Dr. Michaela Wirtz Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, 52056 Aachen, Deutschland

Personenregister

Aachen, Hans von 526 Abdulhamid II. (Sultan) 210 Abusch, Alexander 360, 364 Adler, Guido 123 Adorno, Theodor W. 119, 121, 268, 332, 449 Ahlwardt, Hermann 188 Alighieri, Dante 382 Alsberg, Adolf 239 Améry, Jean 455 Anton, Herbert 141 Anz, Heinrich 96 Apollodorus 141 Ariosto, Ludovico 22, 26 Aristoteles 135 Arnheim, Rudolf 306, 312 Arnim, Achim von 47, 54, 196 Arnold, Wilhelm 36-37 Asch, Richard 233 Ascher, Abraham 273, 279 Ascher, Saul 276 Athias, Joseph 99 Aue, Hartmann von 23 Auerbach, Berthold 496 Auerbach, Jakob 79-80, 84 Ausländer, Rose 487, 509 Austin, William 47 Aventinus, Johannes 135 Bab, Julius 185 Babbi, Anna Maria 24-25 Bachofen, Johann Jakob 150-152 Baeck, Leo 260, 278, 473, 493, 495-496

Baghiu, Vasile 507 Balázs, Béla 306 Balla, Zsófia 507 Balzac, Honoré de 47 Banulescu, Daniel 507 Basnages, Jacques 403 Báthori, Csaba 507 Baudelaire, Charles 490 Bauer, Bruno 79 Bauer, Felice 225, 228 Bebel, August 188 Becher, Johannes R. 306, 352, 360, 531, 533 Becker, Jurek 509 Beckett, Samuel 259 Beckford, William Thomas 47 Beer-Hofmann, Richard 171 Beethoven, Ludwig van 300, 529, 531 Bein, Thomas 508 Beissel, Johann Conrad 104-105 Bendemann, Eduard von 258 Bender, Christian 80 Benjamin, Walter 221-222, 457 Benn, Gottfried 215, 218, 306 Benyoëtz, Elazar 259 Berg, Christian 197 Berger, Ludwig 307 Bergson, Henri 258, 260 Bernanos, Georges 259 Bernhard, Julia 317, 362 Bernhardi, August Ferdinand 60 Bernstein, Elsa 467-474, 481 Bernstein, Gabriele 468, 471-472

542 Bernstein, Hans Heinrich 469-470 Bernstein, Leonard 124 Bernstein, Max 468-470 Bertram, Adolf 279 Bezruþ, Petr Siehe Vašek, Vladimir Bialik, Chajim Nachman 221-222, 298-304 Bialik, Mania 298 Biermann, Wolf 509 Biller, Maxim 430, 496, 509 Birnbaum, Nathan 171 Bischoff, Doerte 207, 218 Bismarck, Otto von 143-144, 188 Blank, Artur 239 Bläser, Fatma 507 Bloch, Chajim 56, 197-201, 203205 Bloch, Ernst 258, 262, 268 Blumenfeld, Kurt 237 Boccaccio, Giovanni 22 Bohnke-Kollwitz, Jutta 495 Boiardo, Matteo Maria 22, 26 Böll, Heinrich 494, 504 Bölsche, Wilhelm 189 Borchardt, Albert 353 Borchardt, Rudolf 379, 382-388, 453 Bormann, Alexander von 444, 451 Börne, Ludwig 496 Botstein, Leon 118 Brahe, Tycho 199 Brandt, Gertrud 324-325, 332-333 Brandt, Heinz 324-325, 332 Brandt, Lili 325 Brandt, Richard 324 Brandt, Sabine 361 Brandt, Willy 275 Brandt, Wolfgang 325 Braque, Georges 258 Brasch, Thomas 527 Braun, Otto 275 Brecht, Bertolt 360 Breger, Claudia 207

Personenregister

Brentano, Bernard von 247 Brentano, Clemens 49, 57, 196, 486, Brentano, Franz 161 Brett, Lily 497 Breughel, Jan 526 Broch, Hermann 321 Brockelmann, Carl 271 Brockhaus, Friedrich Arnold 73 Brod, Max 179, 199, 230, 306, 315, 509 Broder, Henryk M. 278, 430, 434, 437-438, 441 Brücher, Ernst 494 Brumlik, Micha 437 Buber, Martin 47, 50, 56, 171, 177, 189, 259-260, 262, 266, 326, 493494, 496 Buch, Johannes von 3 Büchner, Georg 414 Buckle, Henry Thomas 137 Busch, Ernst 475 Buschhoff, Adolf 507 Buseck, Familie von 37-38, 40 Butzbach, Johannes 503 Cahen, Samuel 80 Caillois, Roger 47 Campe, Joachim Heinrich 134 Camus, Albert 259 Canetti, Elias 509 Carl, Johann Samuel 104 Carmoly, Eljakim 197 Cassirer, Paul 219 Cazotte, Jacques 47 Celan, Paul 259, 376, 403-404, 407, 410-414, 465, 496, 509 Celan-Lestrange, Gisèle 410, 413 Cézanne, Paul 258 Chamisso, Adelbert von 68 Charell, Eric 307 Chartres, Bernhard von 502 Chézy, Wilhelm von 196

543

Personenregister

Christian VI. (dän. König) 93-96 Claudian 141 Claudius, Matthias 448 Coande, Nicolae 507 Cohen, Hermann 241 Cohn, Ernst 271, 275 Cohn, Lotte 346 Cohn, Louis 272 Cohn, Willy 269, 272-273, 275-282 Comenius, Johann Amos 525-526 Corday, Charlotte 283 Cornelius, Peter 473 Correns, Erich 360 Corvé, Karl Ignaz 78 Cranach, Lucas der Ältere 526 Crémieux, Adolphe 76 D’Agoult, Marie 468 Däubler, Theodor 306 David, Jakob Julius 519, 534-535 Dawidowicz, Izik 363 Dehmel, Richard 185, 188 Delf, Hanna 261, 266 Delitzsch, Friedrich 210 Delmedigo, Joseph Solomon 82 D’Elpons, Friedrich Wilhelm 5962, 64, 70 Deutsch, Ernst 307 Dickens, Charles 47 Diesterweg, Adolph 133 Dietrichstein 526 Dinkelsbühler, Elisabeth 383 Dinter, Artur 496 Dippel, Johann Conrad 104 Dische, Irene 279, 432, 497 Dischereit, Esther 430 Döblin, Alfred 496 Dohm, Ernst 481 Domin, Hilde 509 Dörpfeld, Wilhelm 211 Dovern, Willi 506 Dowe, Ludger 505 Downes, Daragh 144

Durkheim, Émile 194 Dyck, Anthonis van 526 Ebner-Eschenbach, Marie von 196, 534 Eckhart, Meister 186, 189 Eckstein, Ernst 274-275 Edelmann, Johann Christian 104 Edvardson, Cordelia 479-481 Ehrenberg, Philipp 132 Ehrenberg, Samuel Meyer 137 Ehrenberg, Victor 132 Ehrenstein, Albert 306 Eichendorff , Wilhelm von 529 Eichendorff, Joseph von 529, 531 Eike von Repgow 3 Einstein, Alfred 125-126 Eisenmenger, Johann Andreas 75-76 Eisler, Gerhart 359 Eisler, Hanns 475 Elias, Norbert 273, 278-279 Eljokum, Schelomo Bar 495 Engelbert, Kurt 279 Engländer, David 324 Engländer, Sophie 324 Enzensberger, Hans Magnus 524 Erdle, Birgit 294 Ersch, Johann Samuel 73 Eschenbach, Wolfram von 23 Eshel, Amir 447, 452 Fabian, Hans-Erich 353 Fagius, Paulus 21, 24 Fahrenberg, Jochen 324 Fährmann, Willi 507 Falkensohn, Issachar Behr 496 Falkenstein, Graf Hoyer von 3 Fassbinder, Rainer Werner 430 Feiwel, Berthold 176-177 Felgenhauer, Paul 104 Feodora Prinzessin von SchleswigHolstein-SonderburgAugustenburg 207

544 Feßmann, Meike 207 Feuchtwanger, Lion 496 Feuchtwanger, Max 277 Fichman, Yaakov 298, 304 Ficker, Ludwig von 531 Finkel, Shimon 302-303 Finkielkraut, Alain 437 Fischer, Herbert 365 Fischer, Kuno 166 Fleischmann, Lea 430, 434-435 Fles, Barthold 313 Fließ, Wilhelm 159-162, 170 Fontane, Theodor 139-140, 142, 144, 146-152, 473 Foucault, Michel 490 Fouqué, Friedrich Baron de la Motte 68 Franco, Francisco 404, 414 Frank, Anne 506 Frankel, Jonathan 76 Frankel, Zacharias 76 Franzos, Karl Emil 249 Freimann, Aron 515-516 Freud, Sigmund 159-170, 259, 266, 318, 320, 322-323, 325, 329, 455, 522 Freund, Hans 353 Freytag, Gustav 133, 398 Fried, Erich 509 Friedländer, Rebecca 60 Friedrich der Große 69 Friedrich III. (Kaiser) 38 Friedrich IV. (dän. König) 93-94, 97 Friedrich V. (dän. König) 95 Frisch, Efraim 171 Fromer, Jakob 260 Fromm, Erich 323-332 Fromm, Naphtali 324 Fromm, Rosa 324 Fromm, Simon 324 Fühmann, Franz 527 Fürst, Julius 75, 77-78, 82

Personenregister

Gabler, Karlheinz 301 Galilei, Galileo 82 Galinski, Heinz 353 Gedelöcke, Jens Pedersen 87, 9193, 95-98, 102-112 Geiger, Abraham 76, 81, 84 Geiger, Ludwig 62, 500 Genet, Jean 490 Georg II. (Landgraf) 39 George, Stefan 259 Gerhardt, Paul 448 Gerke, Ernst 282 Gerlach, Georg Heinrich 39 Gerst aus Langsdorf 45 Gichtel, Johann Georg 98 Gilman, Sander L. 429 Glaser, Adolf 112 Glaser, Hermann 507 Glatzer, Nahum N. 131, 137 Glüsing, Johann Otto 98 Gmeyner, Anna 467, 474-478, 481 Gobineau, Arthur de 424 Goebbels, Joseph 479 Goethe, Johann Wolfgang von 47, 142, 146, 181-192, 383, 405, 483, 490 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 47 Goldmann, Samuel 435 Golinkin, Mordechai 128 Gombrich, Ernst 481 Gorelik, Lena 438-440, 442 Göring, Hermann 297 Grab, Walter 502 Gräf, Hans Gerhard 185 Grass, Günter 391-392 Grattenauer, Karl Wilhelm 60-61 Green, Julien 259 Greve, Ludwig 379-389 Grieshaber, Helmut Andreas Paul 380, 386 Groethuysen, Bernhard 258-259 Gross, Hans 521 Gross, Otto 521

Personenregister

Grossmann, Stefan 307 Grotewohl, Otto 357 Grübel, Monika 505 Grüber, Heinrich 354 Gruber, Johann Gottfried 73 Gryphius, Andreas 180 Gündisch, Karin 507 Gundolf, Friedrich 191, 338 Gur, Batja 496 Haber, Fritz 274 Hackenberg, Kurt 494 Hafftiz, Peter 63-64, 67-68 Hager, Kurt 360 Hainauer, Familie 272 Halevi, Jehuda 221 Hallensleben, Markus 207 Haller, Albrecht von 320 Haller, Annette 513 Hamburger, Ernst (später Ernest) 275 Hanke, Karl 282 Harden, Maximilian 154-157 Hartmann, Eduard von 161 Hasenclever, Edith 316 Hasenclever, Walter 305-316, 509 Haug, Johann Friedrich 100 Hauptmann, Gerhart 470 Hauptmann, Klaus 470 Hauschner, Auguste 199 Hawthorne, Nathaniel 47 Hayek, Werner 271-273, 279-280 Hebbel, Friedrich 188 Heftman, Joseph 303 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 320 Heidegger, Martin 396, 410 Heilbrunn, Georg 356 Heiligenhaus, Kay 514-515 Heine, Heinrich 74, 133, 139-140, 142, 145-152, 167-170, 174, 197, 403, 410, 414, 483-491, 495-496, 509, 530 Heine, Thomas Theodor 211

545 Heinemann, Moses 79 Heines, Edmund 274 Held, Hans Ludwig 203-204 Heller, Hermann 479 Hemingway, Ernest 259 Herder, Johann Gottfried von 164165, 196, 278, 526 Hergesell, Julius Philipp 311 Hermann, Georg 171 Herz, Henriette 60, 506, 509 Herz, Markus 60 Herzl, Theodor 122, 128-129, 155157, 375 Heydrich, Reinhard 472 Heymans, Gustav 162, 164, 168-169 Heynatz, Johann Friedrich 134 Heyse, Karl Wilhelm Ludwig 134 Hildesheimer, Wolfgang 496 Hiller, Kurt 306, 315 Hilsenrath, Edgar 509 Hilsner, Leopold 205 Hindenburg, Paul von 273 Hinkel, Hans 479 Hirsch, Sara 197 Hirschfeld, Hirsch S. 82 Hirtz aus Münzenberg 45 Hitler, Adolf 275, 281, 315, 322323, 326, 329, 375, 422, 467-468, 477, 481, 487, 507 Hitzig, Julius Eduard 61 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 105 Hoddis, Jakob von 509 Hodler, Ferdinand 258 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 47, 49, 57-64, 66, 68, 70-71 Hoffmann, Hermann Andreas 36 Hoffmann, Wilhelm 479 Hofmannsthal, Hugo von 509, 531 Hogarth, William 108 Holberg, Ludvig 93-95 Hölderlin, Friedrich 188, 382 Holdheim, Gerhard 233

546 Holitscher, Arthur 199 Homer 141 Honigmann, Barbara 496 Horaz 382, 385-386, 503 Horch, Hans Otto 139-140, 247, 269, 351, 449, 453, 501-502, 508, 511, 513, 515, 517 Horkheimer, Max 323 Huber-Bindschedler, Bertha 259 Huelsen-Haeseler, Georg Graf von 210 Hülsenbeck, Richard 312 Humperdinck, Engelbert 470 Hunziker, Max 324 Hunziker-Fromm, Gertrud 327 Hus, Jan 524-525 Ibn Gabirol, Solomon 48 Ibsen, Henrik 469 Ingster, Oljean 364-365 Irving, Washington 47 Isaak aus Hallerndorf 43-44 Israel, Heinrich 91 Jacobowski, Ludwig 496 Janáþek, Leoš 533 Jannings, Emil 307 Jean Paul 61, 137, 399-400 Jensen, Wilhelm 496 Jessner, Leopold 297-298, 300-304 Jhering, Herbert 475 Joachim II. (Kurfürst) 63 Johann Georg (Kurfürst) 63-64 Johannsen, Peter 505 Johnson, Alvin 313 Joseph II. (Kaiser von Österreich) 319, 527 Joyce, James 259 Jungk, Peter Stephan 434 Kachler, Franz 523 Kafka, Franz 47, 221-230, 259, 266, 306, 464, 495-496, 509

Personenregister

Kaléko, Mascha 509 Kaminer, Wladimir 438, 440-441 Kamnitzer, Heinz 360 Kant, Immanuel 93, 133, 135, 137, 163 Kantorowicz, Gertrud 258 Karl der Große (Kaiser) 506 Karl V. (dt. Kaiser) 36, 38 Karpeles, Gustav 131 Karrenbrock, Lore 153 Keller, Gottfried 320 Keller, Karl 494 Kempe, Andreas 104-105 Kerr, Alfred 269, 467, 475, 531 Kerr, Judith 467-468, 507 Kitzelius, Henning 42-44 Klingemann, August 107 Klinger, Ruth 352 Klopfer, Balthasar Christoph 106 Klopstock, Friedrich Gottlieb 382 Klüger, Ruth 480, 509 Knobloch, Heinz 361-362 Knopf, Alfred A. 476 Kodoner, Jakob 51 Kokoschka, Oskar 215, 307, 532 Kollwitz, Käthe 507 Kolmar, Gertrud 283, 285, 287, 293-294, 509 Komenskýs, Jan Amos 524 Kornfeld, Paul 315, 475 Kortner, Fritz 300, 307 Köster, Albert 305 Kracauer, Siegfried 306 Kracht, Christian 317 Kraft, Werner 443, 453 Kramer, Lawrence 120 Kraus, Karl 208, 531 Krause, Johanna 324-325 Krause, Ludwig 324 Krause, Martin 324-325 Kravar, ZdenČk 522 Kudu, Reet 507 Kuh, Ephraim Moses 269, 496

Personenregister

Kühn, Dieter 507 Kunert, Günter 509-510 Lamprecht, Karl 305 Landauer, Gustav 181-191, 259 Landmann, Michael 268 Landshoff-Yorck 497 Lange, Ilse 362, 366 Langen, Albert 211 Langgässer, Eduard 479 Langgässer, Elisabeth 479-480 Langhans, Carl Ferdinand 269 Lapid, Shulamit 496 Lasker, Alfons 277 Lasker-Schüler, Else 171, 179, 207208, 211, 214-215, 217-220, 495496, 509 Lasker-Wallfisch, Anita 273, 277279 Lassalle, Ferdinand 276 Le Fanu, Joseph Thomas Sheridan 47 Lehrmann, Cuno 358 Leibniz, Gottfried Wilhelm 407 Lenin, Wladimir Iljitsch 530 Lenz, Hanne 367, 376 Lenz, Hermann 367-368, 370-373, 375-378 Leon, Moses de 82, 377 Leonhart Thurneisser zum Thurn (Leonhard Turnhäuser) 63-64, 66-67 Leonhard, Rudolf 191, 306 Leopardi, Giacomo 258 Lessing, Gotthold Ephraim 137, 409, 496 Leuschner, Margarete 186 Leven, Karl 505 Levi, Hermann 116-117, 421-422, 424 Levin, Rahel 60, 506 Levita, Elia 19-23, 31, 33 Levy, Sarah 61

547 Lewald, Fanny 496-497, 509 Lichnowsky, Eduard 528, 530 Lichnowsky, Felix 528-530 Lichnowsky, Karl Alois 529 Lichnowsky, Karl Max 530-532 Lichnowsky, Mechtilde 531-532 Liebermann, Max 532 Liesche, Hermann Friedrich 135 Lilien, Ephraim Moses 173, 177-178 Liliencron, Detlev von 188 Lipiner, Siegfried 118 Lippold alias Lipman ben Juda 6265, 67-68, 71 Lipps, Theodor 159-170 Liszt, Franz 117, 468, 473, 529 Littell, Jonathan 490-491 Livneh, Karl 353 Loeb, A. E. 81 Lohrmann, Dietrich 502 Löscher, Valentin Ernst 97 Loutzo, Helene von 208 Löw, Judah 197-205 Löwenthal, Richard 346 Lowositz, Isaac B. 80 Lubitsch, Ernst 307 Lubitsch, Fania 302 Lublinski, Samuel 171 Ludwig V. (Landgraf) 41 Ludwig X. (Landgraf) 36 Luther, Martin 97, 99, 137, 180, 524 Maaßen, Carl Georg von 61 Maeterlinck, Maurice 154 Magin, Christine 11 Mahler, Gustav 118, 121 Maillard, Katja 380 Maimon, Salomon 496 Maimonides, Moses 48 Malagoli, Roberta 260, 266 Malamud, Bernard 497 Maltzahn, Hans Adalbert von 219 Mandelkow, Karl Robert 181

548 Mandelstam, Ossip Emiljewitsch 413-414 Mann, Erika 480-481 Mann, Golo 481 Mann, Heinrich 181, 353, 360, 531 Mann, Katia 127, 481 Mann, Thomas 57, 120, 126-127, 320, 340, 480, 489-490 Mannheimer, Isaak Noah 84 Marat, Jean Paul 284 Marc, Franz 215, 217-218 Marc, Julia 61 Marquis de Sade, Donatien Alphonse François 47, 490 Martin, K. H. 307 Marx, Karl 318, 325 Masanetz, Michael 150 Masaryk, Tomáš Garrigue 204 Maturin, Charles Robert 47 Maudsley, Henry 161 Mauthner, Fritz 181, 183-184, 186 May, Richard 353 Mayer, Bernd 505 Mayer, Hans 398, 402 Medigo, Josef Salomo del 81 Megenberg, Konrad von 508 Mehring, Franz 181 Mehring, Walter 475 Mendelsohn, Erich 341-342, 347 Mendelssohn, Moses 137, 496, 506 Merimee, Prosper 47 Meskin, Aharon 302 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 530 Mevorach, Baruch 73 Meyer, Alfred Richard 306 Meyrink, Gustav 199, 204 Mittelmann, Hanni 429 Modena, Leon da 82 Montague, Alan 467 Morduch, Anna Siehe Gmeyner, Anna Morduch, Jascha 475

Personenregister

Morris, Max 185 Mose 69, 299 Moser, Friedrich Carl von 35-36 Moses, Julius 128 Mozart, Wolfgang Amadeus 320 Mueller, Otto 532 Müller, Hans von 64 Müller, Herta 485 Müller, Wilhelm 196 Müller-Rehm, Klaus 344-345 Münchhausen, Börries von 171, 173-174, 178 Musil, Robert 533-534 Muthesius, Hermann 340, 347-348 Nachama, Estrongo 365 Naor, Neomi 505 Napoléon Bonaparte 135, 188 Nathan, Serach ben 81 Némirovsky, Irène 497 Nepomuk, Johannes von 525 Neuman, Ronnith 435 Niels, Mette 91 Nieritz, Karl Gustav 196 Nietzsche, Friedrich 182, 187-188, 211, 258, 422 Nolden, Karl-Josef 504 Norden, Albert 358-360 Norlind, Ernst 190 Nörtemann, Regina 288 Novalis 53, 55, 188 Oertelt (Propst) 279 Oetinger, Friedrich Christoph 104105 Oppenheim, Gertrud 337 Osmund, Emanuel 137 Ovid 141 Oz, Amos 486, 496 Pannwitz, Rudolf 259 Paoli, Arturo 383, 388 Papen, Franz von 209

Personenregister

Paret, Peter 220 Paucker, Arnold 502 Paulli, Oliger 105 Peel, Sir William Robert Wellesley 297 Perel, Sally 507 Pestalozzi, Johann Heinrich 133 Petersen, Johann Wilhelm 103 Petersen, Johanna Eleonora 103 Petersen, Julius 185 Picasso, Pablo 219, 258, 532 Pick, Karl 315 Pigman, George W. 164 Pinthus, Kurt 305-316 Pisarek, Abraham 355 Piscator, Johannes 99 Platon 136, 258 Podewin, Norbert 359 Poe, Edgar Allan 47 Poelzig, Hans 340, 344, 347 Porges, Charlotte 468 Porges, Elsa Siehe Bernstein, Elsa Porges, Gabriele 471-472 Porges, Heinrich 468, 474 Porges, Simon 468 Pörksen, Uwe 379, 382 Posener, Julius 335-349 Posener, Ludwig 339-340, 342 Pulci, Luigi 22, 26 Püschel, Paul 530 Raabe, Paul 316 Raabe, Wilhelm 87- 90, 92-96, 98, 102, 107-113, 398 Rabinkow, Salman Baruch 325 Rathenau, Mathilde 154 Rathenau, Walther 153-157, 214, 220 Rebelsky, Klaus 361 Rednitz, Ernst 274 Reich-Ranicki, Marcel 509 Reinhardt, Max 307

549 Reitz, Johann Henrich 104 Remarque, Erich Maria 487 Rembrandt van Rijn 258, 409 Reuß, Heinrich 197 Rewald, Anja 478-479 Rewald, Ruth 467, 476-479, 481 Richarz, Monika 127 Richter, Hans Peter 507 Riesenburger, Martin 357, 364 Riesser, Gabriel 76, 79, 506 Rilke, Rainer Maria 412-413, 525, 531, 533-534 Robespierre, Maximilien de 283, 286, 290-295, 341 Roggenkamp, Viola 480-481 Rosenbach, Johann Georg 104 Rosenberg, Yehuda (Yudel) 55-56, 197, 200-201, 203, 205 Rosenfeld, Julius 237 Rosenzweig, Franz 266 Rosheim, Josel von 312 Rosmer, Ernst Siehe Bernstein, Elsa Roth, Joseph 243-244, 246-251, 253-256, 455, 496 Roth, Philip 497 Rother, Carl 279 Rothschild, Salomon 167 Rousseau, Jean-Jacques 188 Rovina, Hanna 302 Rowohlt, Ernst 306-307, 316 Rozier, Gilles 483-484, 486, 488491 Rubinstein, Josef 116-117, 421425, 427-428 Rübner, Tuvia 443-444, 446- 449, 452-453 Rudolf II. (Kaiser) 199, 202 Rushdie, Salman 486 Saalschütz, Joseph Levin 80, 84 Sachs, Nelly 496, 509 Sahl, Hans 415-418, 421, 424-427

550 Salinger, Jerome David 432 Salomon aus Buseckertal 39-41, 43-44 Salvador, Jacob 76 Santifaller, Leo 280 Sardi (Graf) 385, 388 Sarkander, Jan 525 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Graf Casimir von 100 Schäfer, Edith (Ethe) 314-315 Schaeffer, Emil 185 Schallück, Paul 494 Scharoun, Hans 347 Schaul, Hans 476-477 Scheiringer, Johann 523 Schenk, Heinz 363-365 Scherner, Karl Albert 164 Schiller, Friedrich 147, 151, 225, 297-300, 303 Schlegel, Friedrich 62, 141, 161 Schleicher, Kurt von 209 Schleiermacher, Friedrich 62 Schlomo ben Jizchak 48 Schlör, Joachim 362 Schlösser, Manfred 259 Schmidt-Wiegand, Ruth 10 Schnitzler, Arthur 495-496 Schoeps, Hans Joachim 88 Scholem, Gershom 82, 221-222, 259, 268, 376 Scholtis, August 530 Schottländer, Bernhard 270 Schulz von der Muehl, F. W. 155, 157 Schumann, Robert 486 Schwarzschild, Steven 353-355 Sebald, W. G. 455-457, 461-463, 464-465 Sebba, Shalom 301 Seghers, Anna 533 Seligmann, Erwin 241 Seligmann, Rafael 430-436, 496, 509 Sem-Ur, Ora 496

Personenregister

Servaes, Franz 171 Servet, Michel 320 Sessa, Karl Boromaeus Alexander 60 Severing, Carl 275 Shakespeare, William 68-70, 187, 304, 409 Shalev, Zeruya 496 Shedletzky, Itta 501 Shmeruk, Chone 25, 31 Sigmund (König) 38 Simmel, Georg 186, 191, 258 Simmel, Gertrud 258 Simon, Ernst 299, 326 Simon, Heinrich 258, 352 Simon, Marie 352 Simoni, Sally 365 Singer, Edmund 123 Singer, Ödön 358, 363, 365 Sochaczewer, Marie 365 Sommer, Margarete 354 Sonnenmann, Emmy 297 Sontheim, Heinrich 124 Spaeth, Johann Peter 105 Spalding, Georg Ludwig 135 Sparr, Thomas 447 Speer, Albert 326-327 Spener, Johann Jacob 105 Sperber, Manès 416 Spindler, Karl 196 Spinoza, Baruch 182, 189-191, 258, 260-261, 407 Staffenburger, Hedderich 42-43 Stamm, Daniel 41 Stein, Bernhard 324 Stein, Charlotte 324 Stein, Fritz 324 Stein, Martha 324 Stern, Fritz 273-276, 279 Sternburg, Wilhelm von 352 Sternheim, Carl 531 Steuermann, Eduard 315 Stevin, Simon 135

Personenregister

Stifter, Adalbert 188, 376, 403-411, 413 Strauss, Franz-Josef 326 Strauß, Ludwig 443, 499, 501, 509510 Stutz, Elfriede 396 Suarez, Patricia 507 Susman, Margarete 257-268, 403404, 408-411, 413 Svevo, Italo 126 Szondi, Peter 447 Tarsus, Paulus von 258, 261, 319 Taterka, Thomas 357 Tausig, Carl 116-117, 121 Tausk, Walter 269, 273-276, 278279, 281-282 Tausk, Werner 280-281 Tersteegen, Gerhard 104 Tgahrt, Reinhard 379, 388 Thiers, Adolphe 137 Thomasius, Christian 68 Tiberius Iulius Caesar Augustus 137 Tieck, Ludwig 49, 68 Timm, Erika 19, 25, 28, 31 Toller, Ernst 315, 530 Tolstoi, Alexei Konstantinowitsch 47 Trakl, Georg 215, 218, 448 Trient, Simon von 319 Trodler, Dagmar 507 Trohe, Hans Georg von (d. Ä.) 40 Tucholsky, Kurt 308, 437, 509 Uhse, Bodo 360 Ulbricht, Walter 358, 360 Unger, Wilhelm 494 Uris, Leon 440 Urquhart, Clara 329 Ury, Else 467 Van Gogh, Vincent 258 Vašek, Vladimir 533

551 Vax, Louis 50 Vecellio, Tizian 526 Veronese, Paolo 526 Vertlib, Vladimir 441 Vespasian 15 Vietor, Konrad 42 Vischer, Friedrich Theodor 164, 166, 184 Vischer, Robert 164-165 Viterbo, Egidio da 23 Vogelstein, Hermann 277 Vogelweide, Walther von der 320 Voltaire 107 Vulpius, Christiane 185 Wagner, Cosima 528 Wagner, Richard 115-129, 418, 421-424, 426-427, 468, 473 Wagner, Winifred 471-472 Walden, Herwarth 207-208, 215, 219 Wallas, Armin A. 415 Walser, Martin 58 Walz, Gustav Adolf 276 Wangenheim, E. Th. 80 Wassermann, Jakob 197, 496, 509 Weber, Alfred 325 Weber, Werner 388 Wedekind, Frank 211 Weerth, Georg 530 Weill, Alexander 487 Weill, Ernest 483-484, 486-488, 491 Weininger, Otto 393-394, 422, 435 Weisel, Leopold 198 Weiß, Konrad 40 Wenzel, Edith 502 Werfel, Franz 215, 306-307, 315316, 509, 531, 533 Werner, Abraham Gottlob 184 Werner, Anton von 211 Wertheim, Kurt 325 Wied, Pauline Fürstin zu 208

552 Wiesner, Anna Siehe Gmeyner, Anna Wiesner, Berthold 474 Wiesner, Eva 474 Wilder, Thornton 417 Wilhelm II. (Kaiser) 153, 155, 207212, 217-218, 220, 347 Wilhelm II. von Württemberg (König) 208 Wille, Bruno 189 Witkowsky, Gustav 237 Witz, Konrad 320 Witzenhausen, Josel 99 Wiznitzer, Manuel 361 Wolf, Jeanette 353 Wolff, Eugen 185 Wolff, Kurt 259, 306, 308, 310 Wolff, Theodor 306 Wolffsohn, Michael 436-437 Wolfskehl, Karl 171, 177, 258, 496 Wolker, JiĜí 533 Wood, James 246, 248 Wrede, Richard 470

Personenregister

Wunberg, Gotthart 246 Wundt, Wilhelm 305 York-Steiner, Heinrich 122-123 Yudelevitch, Tamar 302 Zech, Paul 306 Zeller, Bernhard 316 Zlocisti, Theodor 179 Zola, Emile 465 Zuckermann, Leo 359 Zunz, Leopold 76, 84, 131-138 Zweig, Arnold 197, 269, 317-322, 351-366, 414, 496 Zweig, Beatrice 352-353, 355, 361, 363-366 Zweig, Carl 355 Zweig, Hans 365 Zweig, Michael 317 Zweig, Regina 355 Zweig, Stefan 171, 413, 509 Zwingli, Ulrich 320