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German Pages 185 [192] Year 1997
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
8. Sonderheft
Herausgeber GEORG JÄGER,
München; D I E T E R Wien.
LANGEWIESCHE,
Tübingen;
ALBERTO MARTINO,
Wissenschaftlicher
Beirat
L.
BAEUMER,
Madison, Wisconsin;
BAUER,
München;
HERMANN BAUSINGER,
Göttingen; R O G E R Erlangen; M A R T I N B I R C H E R , Wolfenbüttel; W O L F G A N G B R Ü C K N E R , Würzburg; W E R N E R B U S C H , Berlin; H O R S T D E N K L E R , Berlin; W O L F R A M F I S C H E R , Berlin; H A N S F R O M M , München; H A N S N O R B E R T F Ü G E N , Heidelberg; G E R A L D G I L L E S P I E , Stanford, California; H E R B E R T G. G Ö P F E R T , München; K L A U S G R U B M Ü L L E R , Göttingen; W O L F G A N G H A R M S , München; RENATE VON H E Y D E B R A N D , München; H A N S - J O A C H I M K O P P I T Z , Mainz; H E L M U T KREUZER, Siegen; E B E R H A R D L Ä M M E R T , Berlin; V I C T O R L A N G E , Princeton, Ν . J . ; PETER LUNDGREEN, Bielefeld; W O L F G A N G M A R T E N S , München; J A N - D I R K M Ü L L E R , München; W A L T E R M Ü L L E R - S E I D E L , München; O T T O O E X L E , Göttingen; P A U L R A A B E , Halle; F R I T Z K. R I N G E R , Boston, Massachusetts; L U T Z R Ö H R I C H , Freiburg; P I E R R E P A U L SAGAVE, P A R I S ; N E L L O SAITO, Rom; G E R H A R D SAUDER, Saarbrücken; RUDOLF SCHENDA, Zürich; J Ö R G SCHÖNERT, Hamburg; ALPHONS S I L B E R M A N N , Köln; F R I T Z STERN, New York; PETER STROHSCHNEIDER, Dresden; H O R S T T H O M É , Stuttgart; J E A N - M A R I E V A L E N T I N , Paris; W I L H E L M VOSSKAMP, Köln E R N S T - P E T E R W I E C K E N B E R G , München; MANFRED W I N D F U H R , Düsseldorf; R E I N H A R D W I T T M A N N , München; D I E T E R W U T T K E , Bamberg; B E R N H A R D Z E L L E R , Marbach a. N . ; H A N S ZELLER, Fribourg; W O L F G A N G Z O R N , München. MAX
WILFRIED BARNER,
Tübingen;
K A R L BERTAU,
Mitglieder der Redaktion: Wien; München.
N O R B E R T BACHLEITNER, R U T H STUBENVOLL,
MARTIN HUBER,
München;
ALFRED N O E ,
Wien;
Literatur, Politik und soziale Prozesse
Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik
8. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Anschriften der Herausgeber Prof. Dr. Georg Jäger, Klenzestr. 26a, D-80469 München Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Im Rotbad 9, D-72076 Tübingen Prof. Dr. Alberto Martino, Peter-Jordan-Str. 145/1/5, A-1180 Wien Redaktionen Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3, D-80799 München Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft Berggasse 11/5, Al 090 Wien Redaktion
des Sonderheftes: Martin Huber
IASL erscheint in zwei Halbjahresbänden mit etwa 480 Seiten Umfang insgesamt. IASL veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache. Das Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Mitarbeiter werden ersucht, ihre Manuskripte satzfertig an die Redaktion einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch Autorkorrekturen verursachten Mehrkosten nur in beschränktem Maße trägt. Die Zeitschrift zahlt kein Honorar. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare
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IASL wird in Current Contents/Arts Index ausgewertet.
& Humanities und im Arts & Humanities
Citation
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur / Sonderheft] Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft. - Tübingen : Niemeyer. Reihe Sonderheft zu: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 8. Literatur, Politik und soziale Prozesse. - 1997 Literatur, Politik und soziale Prozesse : Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur : Sonderheft ; 8) ISBN 3-484-60409-3
ISSN 0175-9779
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten
Inhalt GREILING: »... dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme, Vortheil und Beförderung«. »Intelligenzblätter« in Thüringen
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Die Lesegewohnheiten des »gemeinen Mannes« um 1800 und die Anfänge von Volksbibliotheken
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»Mobil gemachte Feldbibliotheken«. Deutsche Enzyklopädien und Konversationslexika im 18. und 19. Jahrhundert
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Ernst Toller: Auf der Suche nach dem geistigen Führer. Ein Beitrag zur Rekonstruktion der >Politisierung< der literarischen Intelligenz im Ersten Weltkrieg . . . .
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A. W A L L A S : >Geist< und >Tat< - Aktivistische Gruppierungen und Zeitschriften in Österreich 1918/19
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WERNER
REINHART SIEGERT:
U W E PUSCHNER:
CHRISTA H E M P E L - K Ü T E R / H A N S H A R A L D M Ü L L E R :
ARMIN
Proletarische 1919-1923
R I C H A R D SHEPPARD:
the Sprechchor Anschriften
der Mitarbeiter
Feierstunden
and the Early History of 147 186
WERNER GREILING
»... dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme, Vortheil und Beförderung« »Intelligenzblätter« in Thüringen 1
Abstract In Thüringen, einer kleinstaatlich strukturierten und ländlich-kleinstädtisch geprägten Region, erschienen im 18. Jahrhundert zahlreiche »Intelligenzblätter«. Sie dienten dem Anzeigenwesen, der Nachrichtenvermittelung, einem aufklärerischen Räsonnement und der Sozialdisziplinierung. Von mittleren Gebildeten redigiert und in allen Schichten der Bevölkerung gelesen, beförderten die »Intelligenzblätter« den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft nachhaltig. In Thuringia, a region comprising several small states and of a rural or small town character, there appeared in the 18th century numerous gazettes. Their purpose was to carry advertisements, spread news, promulgate enlightening views, and encourage social discipline. Edited by people from the educated middle classes and read by all levels of society, these gazettes played a major role in the transition to a bourgeois society.
Endlich wird dem Zusammenhange des gesammeten Nahrungsstandes überhaupt ein wohleingerichtetes Intelligenzwesen erfordert. Es muß nämlich in allen ansehnlichen Städten wöchentlich ein gedruckter Bogen heraus kommen, in welchem von allen zu verkaufenden, zu verleihenden, zu verpachtenden und andern in den Nahrungsstand einschlagenden Sachen Anzeige und Nachricht gegeben wird. Den übrigen Raum können zwar gelehrte Abhandlungen einnehmen, wie zeither an verschiedenen Orten geschehen ist. Allein da die Abhandlungen aus der Rechtsgelehrsamkeit, Weltweisheit, Geschichte und dergleichen mit dem Nahrungsstande, welchem doch die Blätter gewidmet sind, keinen Zusammenhang haben; so sollte man bloß solche Abhandlungen daselbst einrücken lassen, die den Manufacturen, Fabriken und Gewerben, und überhaupt dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, zur Aufnahme, Vortheil und Beförderung gereichen. 2 D i e s e Vorstellungen v o m rechten Profil der Intelligenzblätter entwickelte J o h a n n Heinrich G o t t l o b v o n Justi in der Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner 1
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Staats-
Der Text folgt in wesentlichen Passagen einem Vortrag, den der Verfasser als Förderstipendiat des Historischen Kollegs im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft am 18. Juli 1994 in der Münchner Kaulbachvilla gehalten hat. Eine kürzere Fassung erschien 1995 in der Vortragsreihe des Kollegs unter dem Titel »Intelligenzblätter« und gesellschaftlicher Wandel in Thüringen. Anzeigenwesen, Nachrichtenvermittlung, Räsonnement und Sozialdisziplinierung. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameralwissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden, 1. Teil. Leipzig: Breitkopf 2 1758, S. 275 (§ 259).
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Werner
Greiling
wirthschaft. Justi, einer der bedeutendsten »Policey-Wissenschaftler« jener Zeit, war selbst Herausgeber eines Intelligenzblattes, der Göttingischen Policey-Amts Nachrichten. Im ersten Stück dieses Blattes hatte er ähnlich argumentiert und betont, »daß das Intelligenzwesen denen Commerden und Gewerben sehr nützlich und vortheilhaft sey«3. Das Medium, das sich zu dieser Zeit in Deutschland rasch ausbreitete, sollte also informieren und unterhalten, vor allem aber auf die praktischen Bedürfnisse der Menschen in Stadt und Land eingehen. Dabei hatte Justi durchaus den Veränderungsprozeß erkannt, der die ständische Gesellschaft in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erfaßt hatte. Er vollzog sich gleichzeitig auf verschiedenen, in vielfältiger Wechselbeziehung zueinander stehenden Ebenen und führte schließlich zu einem grundlegenden Gestaltwandel,4 zum Ubergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Er war gekennzeichnet von einem breiten Aufklärungsdiskurs und von markanten Veränderungen in Wirtschaft und Handel, von der Entstehung und Ausdifferenzierung eines neuen Bürgertums und von einer deutlich zunehmenden sozialen Mobilität. Er vollzog sich mit vielfältigen regionalen Unterschieden, mit Widersprüchen und Rückschlägen.5 In jenem halben Jahrhundert, in dem dieser Prozeß auch in Thüringen seine entscheidende Dynamisierung erfuhr, etablierte sich hier eine beachtliche Anzahl von »Intelligenzblättern«. Wenn im folgenden diverse Exemplare dieser publizistischen Gattung beleuchtet werden, liegt der Untersuchung nur am Rande ein zeitungs- bzw. kommunikationswissenschaftliches Interesse zugrunde. Vielmehr gelten unsere Überlegungen der Frage, welche Aspekte des gesellschaftlichen Wandels in Thüringen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts von den Intelligenzblättern widergespiegelt wurden, welche Impulse von diesen Periodika ausgingen und inwieweit die Genesis der bürgerlichen Gesellschaft von ihnen eine publizistische Förderung und Beschleunigung erfuhr. 1. Thüringen. Anmerkungen
zur Region
Thüringen, seit 1990 eines der fünf neuen Bundesländer, bildete im 18. Jahrhundert keineswegs einen einheitlichen, geschlossenen Staat.6 Vielmehr war diese Re3
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Johann Heinrich Gottlob von Justi: Von der Absicht und Einrichtung dieser Blätter, in: Göttingische Policey-Amts Nachrichten, 1. Stück vom 04. 07. 1755, S. 1. Vgl. Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 25) München: Oldenbourg 1993, S. 12f. Zu Grundproblemen und Tendenzen der Forschung dieses komplexen und sehr differenzierten Vorgangs sowie zur einschlägigen Forschungsliteratur vgl. ebd., S. 5Iff. u. S. 105ff. Vgl. Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens, Bd. 4: Kirche und Kultur in der Neuzeit. Köln, Wien: Böhlau 1972; Bd. 5, 1. Teil, 1. Teilbd.: Politische Geschichte in der Neuzeit [ 1 5 7 2 - 1 7 7 5 ] . Köln, Wien: Böhlau 1982; Bd. 5, l.Teil, 2. Teilbd., Politische Geschichte in der Neuzeit [ 1 7 7 5 - 1 8 2 8 ] . Köln, Wien: Böhlau
»... dem gesellschaftlichen Lehen der Menschen zur
Aufnahme«
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gion auf der überaus bunten Landkarte des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation ein rechter Flickenteppich, ein besonders zerstückeltes und kleinräumiges Territorium.7 Ein tüchtiger Wanderer war durchaus in der Lage, im Verlaufe eines Tages drei oder vier Landesgrenzen zu überqueren, insbesondere im Gebiet der Fürsten von Reuß. 8 Hier hatte sich »das Teilungsprinzip im 17. Jahrhundert bis zur Selbstpreisgabe ausgetobt«.9 Durch das Aussterben mehrerer Linien wurde die Zahl der Häuser in der Folge jedoch erheblich verringert. Hauptstadt des Fürstentums Reuß älterer Linie war Greiz. Reuß jüngerer Linie verzweigte sich nochmals, nämlich in Reuß-Gera, Reuß-Lobenstein, Reuß-Schleiz und ReußEbersdorf. Die Fürsten Reuß führten allesamt den Namen Heinrich. Am Ende des 18. Jahrhunderts haben wir es mit Heinrich XI. älterer Linie sowie mit Heinrich X X X . , Heinrich XXXV., Heinrich XLII. und Heinrich LI. jüngerer Linie zu tun. 10 Deutlich größer als die Fürstentümer Reuß und politisch wie kulturell weit bedeutsamer waren die Herzogtümer der Ernestiner.11 Mit dem Leipziger Teilungsvertrag zwischen Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht von Sachsen war die gemeinsame Regierung des wettinischen Stammhauses bereits 1485 beendet worden. 12 In der Folge durchliefen die Territorien der Ernestiner einen steten Wandel ihrer politisch-territorialen Gliederung.13 1984. Kleinere Darstellungen liegen vor von Peter Mast: Thüringen. Die Fürsten und ihre Länder. Graz, Wien, Köln: Styria 1992; Reinhard Jonscher: Kleine thüringische Geschichte. Vom Thüringer Reich bis 1945. Jena: Jenzig-Verlag 1993. Zur landesgeschichtlichen Forschungssituation vgl. Jürgen John: Gedanken über künftige F o r schungen zur Geschichte Thüringens. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 17/2 (1990), S. 2 1 - 4 9 . Jürgen J o h n (Hg.): Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert. Weimar, Köln, Wien: Böhlau 1994, bes. S. X I I I - L X I ; Hans Patze: B i bliographie zur thüringischen Geschichte. (Mitteldeutsche Forschungen 32/1 u. 32/2) 7
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2 Bde., Köln; Graz: Böhlau 1965/66. Vgl. Willy Flach: D i e staatliche Entwicklung Thüringens in der Neuzeit. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. 43 (Neue Folge 35). Jena 1941, S. 6 - 4 8 . Vgl. Berthold Schmidt: Geschichte des Reußenlandes, 2 Bde. Gera: Kanitz 1923/27. Alfred Pasold: Geschichte der reußischen Landesteilungen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Einführung der Primogenitur im Jahre 1690. Neustadt an der Orla: Wagner 1934. Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens (Anm. 6). Bd. 5, 1. Teil, 1. Teilbd., 561ff.; ebd., 2. Teilbd., S. 730ff. Willy Flach: D i e staatliche Entwicklung Thüringens (Anm. 7), S. 21. Vgl. auch Julius Gaul: Beiträge zur Landeskunde des Fürstentums Reuß ält. Linie, (phil. Diss.), Halle: C . A. Kaemmerer & C o . 1900. Vgl. Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens (Anm. 6). Bd. 5, 1. Teil, 1. Teilbd., S. 6ff.; Bd. 5, 1. Teil, 2. Teilbd., S. 615ff. Vgl. Karlheinz Blaschke: Die Leipziger Teilung von 1485 und die Wittenberger Kapitulation 1547 als grundlegende Ereignisse mitteldeutscher Territorialgeschichte. In: Jürgen J o h n (Hg.): Kleinstaaten und Kultur (Anm. 6), S. 1 - 7 . Vgl. Hans-Stephan Brather: Die ernestinischen Landesteilungen des 16. und 17. Jahrhunderts. D e r Umfang der ernestinischen Ämterbezirke 1 5 4 7 - 1 7 7 0 . (phil. Diss.) Jena 1951; Hans Herz: Zu einigen Problemen der Landesteilungen in Thüringen vom 16.
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Werner
Greiling
Mit einiger Ironie kann man durchaus davon sprechen, »daß die Teilungspolitik die einzige mit Konsequenz betriebene Form der damaligen thüringischen Politik überhaupt war«. 1 4 Eine gewisse Stabilität wurde erst im 18. Jahrhundert erreicht, nachdem man auch hier die Primogenitur eingeführt hatte. In jenem Zeitraum existierten die ernestinischen Herzogtümer Sachsen-Gotha-Altenburg, SachsenWeimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Hildburghausen und SachsenCoburg-Saalfeld. Dazu kam in Thüringen noch das Territorium der Grafen von Schwarzburg, das zwei getrennte Länderkomplexe am nordöstlichen Rand des Thüringer Waldes von Arnstadt über Rudolstadt bis Leutenberg sowie am Kyffhäusergebirge und an der Hainleite mit Sondershausen und Frankenhausen umfaßte. Im Verlaufe mehrerer Teilungen hatten sich 1599 zwei Herrschaften herausgebildet. 15 Dies waren die Unterherrschaft Schwarzburg-Sondershausen und die Oberherrschaft Schwarzburg-Rudolstadt. Beide besaßen einen Anteil am jeweils anderen Gebiet, nämlich Schwarzburg-Rudolstadt in der Unterherrschaft um Frankenhausen und Schwarzburg-Sondershausen in der Oberherrschaft um Arnstadt. Seit Einführung der Primogenitur im gesamten Haus Schwarzburg im Jahr 1713 überdauerten die Grafschaften Rudolstadt und Sondershausen ohne nennenswerte Gebietsveränderungen rund zwei Jahrhunderte. 16 Die größte Stadt und eigentliche Metropole Thüringens, Erfurt, gehörte bis 1802 politisch und verwaltungsmäßig zu Kurmainz. 17 Gleiches gilt für einige Gebiete des Umlandes. Danach kam Erfurt zu Preußen. Seit 1806 französisch, fiel die Stadt nach Napoleons Niederlage erneut an den preußischen Staat. Zwei freie Reichsstädte zählen im 18. Jahrhundert zu Thüringen, nämlich Mühlhausen und Nordhausen. Hinzu kommt noch einiger thüringischer Territorialbesitz von Kursachsen und von Hessen-Kassel. Diese Staaten verfügten über eine Fläche, die rund einem Fünfzigstel des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation entsprach. Nur um ein Geringfügiges höher war der prozentuale Bevölkerungsanteil. In den ernestinischen Herzogtümern lebten auf 7764 km 2 etwa 405000 Einwohner, in den zwei Fürstentümern Schwarzburg auf zusammen 1925 km2 rund 111000 Menschen. Erfurt als größte
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bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 46 (1992), Jena 1993, S. 1 4 7 - 1 5 9 . Willy Flach: Die staatliche Entwicklung Thüringens (Anm. 7), S. 17. Vgl. Kurt Herrmann: Die Erbteilungen im Hause Schwarzburg. (phil. Diss.) Halle: John 1919; Oskar Vater: Das Haus Schwarzburg. Rudolstadt: Keil 1894; Hans Patze/ Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens (Anm. 6), Bd. 5, 1. Teil, 1. Teilbd., S. 552 ff; 2. Teilbd., S. 722ff. Vgl. auch Hermann Schulze (Hg.): Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser. Bd. 3, Jena: Fischer 1883, S. 3 2 1 - 3 7 0 . Vgl. Wilhelm Horn: Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart. Ein Beispiel zur Verfassungsgeschichte und Sozialpolitik der deutschen Städte. Jena: Fischer 1904. Jürgen John: Erfurt als Zentralort, Residenz und Hauptstadt. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 46 (1992), S. 6 5 94.
»... dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme·
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Stadt Thüringens zählte am Ende des 18. Jahrhundert etwa 1 6 5 0 0 Einwohner, die Universitätsstadt Jena rund 4 500 und Ebersdorf, immerhin Metropole eines Fürstentums, lediglich 1 068, die sich auf 115 Häuser verteilten. Der gesamte Staat umfaßte weniger als 7 0 0 0 Seelen. 18 Ehemals ein Kerngebiet der Reformation, war Thüringen konfessionell ganz überwiegend protestantisch. Nennenswerte Ausnahmen sind das katholisch geprägte Eichsfeld sowie die Stadt Erfurt, in denen sich beide Konfessionen behaupten konnten. Thüringen definiert sich im 18. Jahrhundert also nicht politischdynastisch, sondern als alte, historisch gewachsene geographische Region 1 9 und zunehmend als ein Kulturraum. 2 0 Die politisch-territoriale Zerrissenheit hatte zweifellos manche Entwicklung erschwert und den thüringischen Staaten machtpolitische Marginalität verliehen. Treitschke sprach spöttisch von »der gemütlichen Anarchie eines patriarchalischen Völkchens, das den Ernst des Staates nie gekannt« habe. Thüringen sei »das gelobte Land des deutschen Kleinlebens«. 21 D o c h statt von Zersplitterung kann man durchaus auch von politisch-territorialer Vielfalt sprechen. Zudem zeigte sich zwischen den thüringischen Staaten das Phänomen einer intensiven »Vernetzung«, das mancherlei Möglichkeiten politischer Kommunikation zwischen den einzelstaatlichen Administrationen, aber auch den aufgeklärten Diskurs der Gebildeten einschloß. In dieser Hinsicht stellt die geopolitische Spezifik Thüringens also keineswegs ein Hindernis für politische Modernisierung dar. Mit einiger Berechtigung kann man sogar von besonderen Chancen sprechen, die insbesondere auf kulturellem Gebiet genutzt wurden. 2 2 18
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Vgl. August Schumann: Vollständiges Staats=Post und Zeitungs=Lexikon von Sachsen enthaltend eine richtige und ausführliche geographische, topographische und historische Darstellung aller Städte, Flecken, Dörfer, Schlösser, Höfe, Gebirge, Wälder, Seen, Flüsse etc. gesammter Königl. und Fürstl. Sächsischer Lande, mit Einschluß des Fürstenthums Schwarzburg, des Erfurtischen Gebietes, so wie der Reußischen und Schönburgischen Besitzungen. Bd. 2, Zwickau: Schumann 1815, S. 321 f. Zu Begriff und Problematik von »Region« vgl. u.a. Peter Steinbach: Zur Diskussion über den Begriff der »Region« - eine Grundsatzfrage der modernen Landesgeschichte. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31, Marburg 1981, S. 185-210; Otto Dann: Die Region als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 652-661; Ernst Hinrichs: Regionalgeschichte. In: Carl-Hans Hauptmeyer (Hg.): Landesgeschichte heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 1 6 - 3 4 . Helga Schultz: Überlegungen zur Rolle des Regionalen im Ubergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. In: J a h r b u c h für Regionalgeschichte, Bd. 17/1, Weimar 1990, S. 13ff. Vgl. Hans Patze: Land, Volk, Geschichte. In: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. 6, Köln, Wien: Böhlau 1979, S. 197ff. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (7. Auflage) Leipzig: Hirzel 1912, S. 395 u. S. 397. Vgl. die Beiträge bei Jürgen John (Hg.): Kleinstaaten und Kultur (Anm. 6). Hans Eberhardt: Thüringens staatliche Einheit in Vergangenheit und Gegenwart. In: 175 Jahre Parlamentarismus in Thüringen (1817-1992) (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, H. 1). Jena 1992, S. 107-121.
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Werner Greiling
2. Entstehung und Zweck der
Intelligenzblätter
O sagt mir doch geschwind! Ich mögte gern ein Zeugniss haben, Wo, wie und wenn mein Schatz gestorben und begraben. Ich bin von ie der Ordnung Freund gewesen, Mögt ihn auch todt im Wochenblättgen lesen. 23
Diese Worte legte Johann Wolfgang Goethe der Frau Marthe in den Mund, schon im »Urfaust«, also um 1775. Marthe zählt weder zu den gebildeten noch zu den privilegierten Schichten. Dennoch war ihr die Lektüre eines »Intelligenzblattes« nirgends sonst war eine gedruckte Todesnachricht von ihrem Liebsten zu erwarten - offenbar selbstverständlich. Anzeigen erschienen in den Intelligenzblättern zu den verschiedensten Lebensbereichen und Anlässen, zu Geburten, Eheschließungen und Todesfällen, zu Angeboten und Kaufgesuchen. Informiert wurde über das Brotbacken und das Bierbrauen, über die ortsüblichen Preise wichtiger Grundnahrungsmittel ebenso wie über Stellenangebote und die Termine der Markttage. Doch nicht nur Annoncen waren den Intelligenzblättern zu entnehmen, sondern eben auch obrigkeitliche Bekanntmachungen, diverse Nachrichten sowie Artikel zu Belehrung und Unterhaltung des Publikums. 24 In ihrem Ursprung gehen Intelligenzblätter auf sogenannte Adreß- und Intelligenz-Comptoirs zurück, deren Wiege in Frankreich stand. Die Idee hierzu wird dem Vater des berühmten Michel de Montaigne zugeschrieben. Montaigne schilderte in seinen »Essais« bereits 1580 derartige Einrichtungen. 25 Das erste »Bureau d'adresses et de rencontres« wurde 50 Jahre später von Théophraste Renaudot gegründet. Der französische Arzt, der als Vater des Journalismus in Frankreich gilt, 26 brachte es zum angesehenen »Conseiller, Médecin ordinaire et Historiographe du roi, Commissaire générale des pauvres du royaume, Maître et Intendant général des Bureaux d'adresse«. Renaudot hatte sich 1625 in Paris etabliert und ließ als erster die auf handschriftlichen Listen erfaßten Anzeigen, Angebote und Wünsche mit einem gedruckten »Inventaire du bureau d'adresses et de rencontres où peut donner et recevoir toutes les nécessités et commodités de la vie et société humaines« verbrei23
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26
Johann Wolfgang Goethe: Urfaust. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 39: Jugendschriften. Weimar: Böhlau 1897, S. 273f. Vgl. Die Intelligenzblätterkunde für den nicht unterrichteten Privatmann; enthaltend eine Beispielsammlung der vorzüglichsten Intelligenzartikel, eine kurze Anweisung sie richtig abzufassen, und ein alphabetisches Verzeichnis der bekanntesten Intelligenzexpeditionen, welche Anzeigen zur öffentlichen Bekanntmachung annehmen. Weimar: Gädicke 1802, bes. S . 2 - 1 6 . Vgl. Michel de Montaigne: Essais, Th. 1. Leipzig 1753, S. 402. Im französischen Original handelt es sich um das Kapitel »D'un défaut de nos polices«. Vgl. auch Johann Beckmann: Intelligenzblätter. In: Johann Beckmann: Beyträge zur Geschichte der E r findungen, 2. Bd., 2. Stück. Leipzig: Kummer 1785, S. 2 3 1 - 2 4 1 , bes. S. 235f. Vgl. Eugène Hatin: Histoire du journal en France 1 6 3 1 - 1 8 5 3 . Paris 2 1853, S. 26.
»... dem gesellschaftlichen
Leben
der Menschen zur
Aufnahme«
7
ten. 27 Dem folgten dann weitere »Feuilles du Bureau d'adresses«, gedruckte Anzeigenlisten, die wöchentlich herauskamen und die jedem Interessenten gegen ein Entgelt zugestellt wurden. 28 Die Bezeichnungen »Intelligenz-Comptoir« bzw. »Intelligenzblatt«, die dann knapp 100 Jahre später in Deutschland Verwendung fanden, sind vermutlich auf jenes »office of intelligence« zurückzuführen, für das 1637 John Innys in London ein Privileg von König Karl I. erhielt. 29 In Deutschland wurde die Idee eines »Intelligenzwerks« erstmals 1686 von Wilhelm von Schröder erörtert. 30 Mit ausdrücklichem Bezug auf das Vorbild England betonte Schröder insbesondere die wirtschaftspolitischen Aspekte eines solchen Unternehmens, das er der Obrigkeit als »Project Eines freywilligen ungezwungenen intelligenzwerks zur consolation der länder, ingroßirung der Commerden, propagirung der manufacturen, und Vermehrung ihro Kayserl. Majest. einkommen« 31 schmackhaft zu machen suchte. Als dann die Debatte über derartige Einrichtungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts erneut angefacht wurde, 32 verfügte man auch in Deutschland über konkrete Erfahrungen mit dem Intelligenzwesen. So konnte Johann Heinrich Gottlob von Justi jene Vorstellung vom Profil eines idealen Intelligenzblattes postulieren, die wir eingangs zitierten. 33 Die programmatischen Aussagen über die Aufgaben von Intelligenzblättern decken sich nicht in jedem Falle mit deren konkretem Erscheinungsbild. Grundsätzlich galt es jedoch, diverse Annoncen und Nachrichten zur Kenntnis des Lesers zu bringen. Begrifflich steht das lateinische »intellegere« Pate, das in diesem Zusammenhang »einsehen, Einsicht oder Kenntnis nehmen« bedeutet. Frühe Exemplare ihrer Gattung im deutschsprachigen Raum sind die Wöchentlichen Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten (1722) 34 sowie die Wöchentli-
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29 30
Vgl. Christian Bailly (éd.): Mémoires de Théophraste Renaudot. Paris: Albatros 1981, S. 5 3 - 5 6 . Folke Dahl/Fanny Petibon/Marguerite Boulet: Les débuts de la presse française. Nouveaux aperçus. Göteborg, Paris: Wettergren & Kerber/Raymann 1951. Vgl. Histoire générale de la presse française. Publiée sous la direction de Claude Bellanger, Jacques Godechot, Pierre Guiral et Fernand Terrou. T. I: Des origines à 1814. Paris: Presses Universitaires de France 1969, S. 8 3 - 9 5 ; Hjalmar Schacht: Zur Geschichte des Intelligenzwesens. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Litteratur und Kunst 61 (1902), Leipzig 1902, S. 5 4 5 - 5 5 2 ; S. 6 0 5 - 6 1 2 . Vgl. Johann Beckmann: Intelligenzblätter (Anm. 25), S. 237. Vgl. Wilhelm von Schröder: Fürstliche Schatz- und Rentkammer. Leipzig: Gerdesius
1686. 31
32
33 34
Zit. nach ders.: Fürstliche Schatz- und Rentkammer, nebst seinem Tractat vom Goldmachen, wie auch vom Ministrissimo oder Oberstaatsbedienten. Königsberg, Leipzig: Härtung 1752, S. 3 3 5 - 3 4 3 . Hier S. 335. Vgl. etwa Johann Heinrich Zedier (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Halle, Leipzig: Zedier 1749, S. 1 7 8 9 - 1 8 0 0 . Vgl. Anm. 2. Vgl. Alexander Dietz: Das Intelligenz-Blatt Frankfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten 1 7 2 2 - 1 9 0 0 . Frankfurt/M. 1922.
"Werner
8 cheti Hamburger schen Diarium
Frag-
und
Anzeigungs-Nachrichten
(1724).35 Dem
Greiling Wienneri-
( 1 7 0 3 ) w u r d e i m M ä r z 1 7 1 5 erstmals eine Anzeigenliste des » V e r -
s a t z - A m t e s « beigegeben, 3 6 aus der später ein eigenständiges Intelligenzblatt h e r vorging. In einigen deutschen Staaten w u r d e die G r ü n d u n g v o n Intelligenzblättern relativ früh gefördert u n d das »Intelligenzwesen« u n t e r staatliche Aufsicht gestellt. I n P r e u ß e n erging a m 6. J a n u a r 1727 eine königliche V e r o r d n u n g über die Schaffung v o n Intelligenzblättern. 3 7 Friedrich W i l h e l m I. wollte ein Intelligenzwerk wie in anderen europäischen H a u p t - u n d Handelsstädten errichten. E r f o r d e r t e die B e h ö r d e n auf, dieses U n t e r n e h m e n n a c h K r ä f t e n z u unterstützen. S c h o n a m 3. F e b r u a r 1 7 2 7 erschien die erste N u m m e r des Berliner Intelligenzblattes, das den Titel Wöchentliche
Berlinische
Frag-
und Anzeigungsnachrichten
trug. N o c h
i m gleichen J a h r folgten Intelligenzblätter in Stettin, in Königsberg, D u i s b u r g , Minden und Magdeburg.38 Dieser obrigkeitliche Eifer hatte m e h r e r e G r ü n d e . Selbstverständlich v e r s p r a c h m a n sich G e w i n n e aus d e m v e r o r d n e t e n A n z e i g e n m o n o p o l . Friedrich W i l h e l m I. hoffte aber auch auf den N u t z e n , der d u r c h die Intelligenzblätter » d e m H a n d e l u n d W a n d e l auch sonsten jedermänniglich in u n d außerhalb der Stadt [ . . . ] v e r -
35
Vgl. Joachim von Schwarzkopf: Uebersicht der sämmtlichen Intelligenz- und N a c h richtsblätter in Deutschland. In: Neues Hannöverisches Magazin, 60. Stück vom 2 7 . 0 7 . 1 8 0 1 , S. 9 6 1 - 9 7 6 ; 61. Stück vom 3 1 . 0 7 . 1 8 0 1 , S. 9 7 7 - 9 8 0 ; Joachim von Schwarzkopf: Ueber politische Zeitungen und Intelligenzblätter in Sachsen, Thüringen, Hessen und einigen angränzenden Gebieten. Gotha: Ettinger 1802; D i e Intelligenzblätterkunde für den nicht unterrichteten Privatmann (Anm. 24); Gerhardt Petrat: Das Intelligenzblatt - eine Forschungslücke. In: Elger Blühm/Hartwig Gebhardt (Hg.): Presse und Geschichte II. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung (Deutsche Presseforschung, Bd. 26). München u.a.: Saur 1987, S. 2 0 7 - 2 3 1 ; Holger Böning: Das Intelligenzblatt. Dokumentation zu einer literarisch-publizistischen Gattung der deutschen Aufklärung. Bremen 1991; Holger Böning: Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung des 18. Jahrhunderts. In: I A S L 19 (1994), H . 1, S. 2 2 - 3 4 ; Friedrich Huneke: D i e »Lippischen Intelligenzblätter« (Lemgo 1 7 6 7 - 1 7 9 9 ) , Lektüre und gesellschaftliche Erfahrung. Mit einem Vorwort von Neithard Bulst (Forum Lemgo. Schriften zur Stadtgeschichte, H . 4). Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1989, S. 2 0 7 - 240.
36
Vgl. Manfred Bobrowsky: Das Wiener Intelligenzwesen und die Lesegewohnheiten im 18. Jahrhundert. (Diss, masch.) Wien 1982, bes. S. 1 1 1 - 1 1 4 . Vgl. Günther Ost: Das preußische Intelligenzwerk. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 4 3 (1930), S. 4 4 - 7 5 . Hier S. 48f. Vgl. ebd., S. 52f. Ulrich Hagenah: Rheinische Intelligenzblätter von 1727 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zur Geschichte, zur Inhaltsanalyse und zur Typologie anhand ausgewählter Beispiele. Hausarbeit zur Prüfung für den höheren Bibliotheksdienst (MS). Köln 1990, bes. S. 4 8 - 1 2 3 ; Übergreifend auch Karl Bücher: Das Intelligenzwesen. In: K. B.: Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde. Tübingen: Laupp 1926, S. 8 3 - 1 0 6 ; Hubert Max: Intelligenzblatt - Intelligenzwesen. In: Walter Heide (Hg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. 2. Leipzig: Hiersemann 1940, S. 1 8 0 6 - 1 8 4 5 .
37
38
dem gesellschaftlichen
Lehen der Menschen zur
Aufnahme«
9
schaffet wird«. 39 Zugleich erkannte man die Chance, ohne großen Aufwand, ja, mit Gewinn staatlich kontrollierte »Sprachrohre« zu etablieren. Mit ihnen konnten amtliche Bekanntmachungen und königliche Dekrete veröffentlicht werden. 3. Intelligenzblätter
in
Thüringen
In Preußen spielten die Intelligenzblätter über die Jahrzehnte im wesentlichen jene Rolle, die schon bei ihrer Gründung intendiert war. In Thüringen hingegen war dies etwas anders. Hier kann man die Intelligenzblätter durchaus nicht ausschließlich als ein Instrument der Regierungen kennzeichnen. Sie waren auch nicht nur »Informations- und Ordnungsmittel kameralistischer Wirtschaftspolitik«. 4 0 Vielmehr entwickelte sich in einer Reihe von Fällen ein neuer Typus, der eine Kombination darstellte. Anzeigen- und Amtsblatt, politisches Nachrichtenorgan und moralische Wochenschrift gingen eine Verbindung ein. Zugleich nahmen die Blätter Aufgaben eines aufklärerischen Räsonnements wahr. Dadurch spielten sie nicht nur für Handel und Wirtschaft, sondern auch für die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im lokalen und regionalen Rahmen eine wichtige Rolle. »Ganz besonders durch die Intelligenzblätter werden die lokalen, regional begrenzten Öffentlichkeiten zu einer nationalen, die Grenzen der Kleinstaaten vernachlässigenden Öffentlichkeit verknüpft«, 41 meinte zuletzt Holger Böning. Wie in den thüringischen Intelligenzblättern Anzeigenwesen und Nachrichtenvermittlung, Räsonnement und Sozialdisziplinierung realisiert wurden, wie sie von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts den gesellschaftlichen Wandel begleiteten und beförderten, soll im folgenden skizziert werden. Die Unterschiede zwischen den Intelligenzblättern in Preußen und einigen nicht allen - in Thüringen haben verschiedene Ursachen. Der wichtigste Grund ist wohl darin zu sehen, daß die Intelligenzblätter in Thüringen als private Unternehmungen entstanden. 42 Ausnahmen sind lediglich ein sehr kurzlebiges Exemplar in Weimar 1734 und die Meiningische Wöchentliche Anfrage und Nachrich-
39
40 41
42
Zit. nach Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse, Teil I (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 5). Berlin: Colloquium Verlag 1969, S. 251. Friedrich Huneke: Die »Lippischen Intelligenzblätter« (Anm. 35), S. 28. Holger Böning: Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung (Anm. 35), S. 23. Vgl. Tabelle 1. Hubert Max macht in seiner Typologie bei letzteren noch die Unterscheidung zwischen »staatlich-privilegierten Unternehmen von Privatpersonen (Drukkern, Verlegern)«, bei denen »der Staat sich auf Überwachung und Förderung der Blätter beschränkt«, sowie »Privatunternehmen, wobei der Staat ebenfalls durch mehr oder minder stark ausgeübte Überwachung und Förderung Einfluß nimmt«. Vgl. H u bert Max: Intelligenzblatt - Intelligenzwesen (Anm. 38), S. 1812f.
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Werner
Greiling
Tabelle 1: Intelligenzblätter in Thüringen (Auswahl) Gründungsinitiative durch ... Weimar 1734 Erfurt 1746 Gotha 1751 Eisenach 1752 Jena 1752 Altenburg 1754 Weimar 1755 Meiningen 1763 Mühlhausen 1764 Coburg 1764 Frankenhausen 1765 Hildburghausen 1766 Nordhausen 1766 Greiz 1774 Lobenstein 1784
O Β Β Β Β Ρ Ρ Ο Β Ρ Β Ρ Β Ρ Ρ
O - Obrigkeit, Fürst; Β - Buchhändler, Verleger; Ρ - Publizist, Redakteur
ten, welche 1763 Herzogin Charlotte Amalie initiierte.43 Zwar wurden in Thüringen ebenfalls Dekrete und obrigkeitliche Verordnungen publiziert. Diese Funktion als »Sprachrohr« von Fürst und Regierung stand jedoch in der Regel nicht an erster Stelle. So prägten einige der thüringischen Blätter ein deutlich breiteres, komplexeres Profil aus als die »klassischen« Intelligenzblätter in Preußen. Im 18. Jahrhundert existierten in Thüringen fast zwanzig längerfristig erscheinende, als Intelligenzblätter klassifizierbare Periodika mit lokaler bzw. regionaler Ausrichtung. Damit ist Thüringen innerhalb des Alten Reichs quantitativ deutlich überrepräsentiert, was in erster Linie auf die eingangs erwähnte politisch-territoriale Zersplitterung zurückzuführen ist.44 Huneke verzeichnet in seinem Versuch einer Gesamtübersicht der »Intelligenzblätter deutscher Territorien im 18. Jahrhundert« 188 Gründungen in 166 Orten,45 Böning spricht gar von etwa 220 Intelligenzblättern im deutschsprachigen Raum. 46 Beide haben jedoch auch Periodika
43
44 45 46
Vgl. Nachricht von einem IntelligenzBlatt, welches auf gnädigsten Befehl der Durchlauchtigsten Fürstin und Frau, F R A U Charlotten Amalien, verwittibten Herzogin zu Sachsen etc. Unserer gnädigsten Frau OberVormünderin und LandesRegentin, künftighin in der Fürstl. Residenzstadt Meiningen wöchentlich ausgegeben werden soll. Meiningen 1763. Vgl. Anm. 6. Selbstverständlich blieben die Auflagenhöhen der Blätter relativ niedrig. Vgl. Friedrich Huneke: Die »Lippischen Intelligenzblätter« (Anm. 35), S. 2 0 7 - 2 4 0 . Vgl. Holger Böning: Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung (Anm. 35), S. 22; Holger Böning: Das Intelligenzblatt. Dokumentation (Anm. 35), S. 2 - 4 .
dem gesellschaftlichen
Leben der Menschen zur
Aufnahme«
11
einbezogen, deren Erscheinen wenige Monate nicht überdauerte bzw. die nicht eindeutig als Intelligenzblätter zu charakterisieren sind.47 Seit dem 3. Januar 1791 trat in Thüringen noch Der Anzeiger hinzu, ein täglich gedrucktes Intelligenzblatt mit überregionaler Wirkungsabsicht. Es war »bestimmt für alle und jede Nachrichten, Bekanntmachungen, Anfragen und Antworten, welche von der Art sind, daß entweder dem deutschen Publikum überhaupt damit gedient ist, sie zu erfahren; oder dem Einsender, sie in ganz Deutschland zu verbreiten«.48 Der Anzeiger stammte aus der Feder und dem Verlag von Rudolph Zacharias Becker in Gotha, dem wohl bedeutendsten deutschen Volksaufklärer.49 Er wollte mit seiner Gründung »das Bedürfnis eines allgemeinen Intelligenzblattes für alle und jede Gegenstände des bürgerlichen Lebens« befriedigen, es sollte gleichsam »zum öffentlichen Sprachsaal dienen« und mannigfaltigen Einfluß »auf das Band und den gemeinen Wohlstand der deutschen Bundes-Republik [! - W. G.] haben«.50 Damit hatte Becker zweifellos eine »Marktlücke« erkannt. Schon 1789 hatte er der Deutschen Zeitung ein Intelligenzblatt beigelegt, das in freier Folge erschien und es bis zum Jahresende auf acht Nummern brachte.51 Im Jahre 1790 wurde der Erscheinungsrhythmus wesentlich dichter, was Beckers Mitarbeiter Christian Carl André auf den Gedanken brachte, »aus dem prosperierenden Intelligenzblatt ein eigenes Unternehmen zu machen«.52 Allerdings waren ähnliche Versuche anderer Publizisten bis dahin faktisch gescheitert.53 Ende 1782 wurde in Erfurt die »Anzeige eines allgemeinen Thüringischen Intelligenzblattes« publiziert,54 die ein solches Organ vom Jahre 1783 an für die thüringische Region versprach und dafür ein sehr weites thematisches Spektrum vorsah. »Dieses Intelligenzblatt ist eigentlich ein Auszug aus allen in Thüringen und einigen angränzenden Landen herauskommenden Wochenblättern und enthält auch eigne Abhandlungen und Anzei47
48 49
50 51 52 53
54
F ü r Thüringen betrifft dies beispielsweise die bei Huneke und Böning angeführten Blätter in Kahla, Camburg und Gera. Der Anzeiger, Nr. 1 vom 03. Ol. 1791, S. 2. Vgl. [Rudolph Zacharias Becker]: Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute. Gotha/ Leipzig: Becker 1788. Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem »Noth- und Hülfsbüchlein«. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 5 6 5 - 1 3 4 4 . Der Anzeiger, Nr. 1 vom 03. 01. 1791, S. 1. Vgl. Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (Anm. 49), Sp. 7 6 1 - 7 6 4 . Ebd., Sp. 762. Dies gilt beispielsweise für zwei kurzzeitige Unternehmungen in Hamburg. Auch in Nürnberg war 1784 das Projekt einer »teutschefn] Intelligenz- und CorrespondenzZeitung nach vielen vergeblichen Unkosten nicht zu Stande« gekommen. Vgl. Joachim von Schwarzkopf: Uebersicht (Anm. 35), S. 963. Wiederholte Ankündigung einer allgemeinen Teutschen Intelligenzzeitung. In: Journal von und für Deutschland 4 (1787), 4. Stück, S. 4 0 3 - 4 1 4 . Vgl. Anzeige eines allgemeinen Thüringischen Intelligenzblattes, in: Erfurthisches Intelligenzblatt, 51. Stück vom 21. 12. 1782, S. 397f.
12
Werner
Greiling
gen. Dieses Intelligenzblatt ist dem Gelehrten sowohl, als dem Kauf und Handelsmann, dem Fabrikanten und dem Oekonomen nützlich und unterhaltend,« meinte 1783 die »Jenaische Politische Extra-Post«. 55 Trotz dieser wohlwollenden Reaktion auf das Erscheinen der ersten Stücke des »Thüringischen Intelligenzblattes« kam auch dieses Projekt im Gegensatz zu jenem von Becker über wenige Ausgaben nicht hinaus. Dies lag wohl vor allem daran, daß hier mit einem einzigen Blatt die Vielzahl territorialstaatlicher Organe gleichsam zusammengefaßt werden sollte. Becker hingegen hatte die spezifischen Möglichkeiten und notwendigen Selbstbeschränkungen eines solchen Periodikums weitaus klarer erfaßt. Zudem konnte er sich auf ein weitverzweigtes Korrespondentennetz stützen, das er sich für die Deutsche Zeitung aufgebaut hatte und das er, wie diese Zeitschrift selbst, auch zu Werbezwecken einzusetzen verstand.56 Ebenso wie viele andere Blätter wechselte »Der Anzeiger« zweimal seinen Namen, behielt jedoch ein relativ stabiles Profil. Von 1794 an lautete der Titel »Der Reichsanzeiger oder Allgemeines Intelligenzblatt zum Behuf der Justiz, der Policey und der bürgerlichen Gewerbe im deutschen Reiche, wie auch zur öffentlichen Unterhaltung der Leser über gemeinnützige Gegenstände aller Art«. Dies sollte den Anspruch unterstreichen, ein Intelligenzblatt für das gesamte Heilige Römische Reich zu sein. Im September 1806 stellte der Herausgeber in einer Anrede an seine Leser dann fest, daß das »ehrwürdige, heilig genannte, römische Reich deutscher Nation [...] ein Opfer der alles verzehrenden Zeit geworden« sei. »Unter diesen Umständen scheint es unschicklich zu sein, bei diesem allgemeinen Intelligenzblatt der deutschen Staaten den Titel und das Wappen des Reichs noch ferner beizubehalten.«57 Fortan kam Beckers Unternehmen als Allgemeiner Anzeiger der Deutschen an seine Leser. Weitere überregionale Periodika aus dem thüringischen Raum wie die berühmte Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena publizierten regelmäßig Beilagen mit dem Titel »Intelligenzblatt«. Sie enthielten jedoch vorwiegend Bücheranzeigen. Auf die spezifischen Interessen seiner Leserschaft ging auch jenes Intelligenzblatt ein, das als Beilage zu Bertuchs Journal des Luxus und der Moden ausgegeben wurde. Im folgenden sollen jene Intelligenzblätter zur Debatte stehen, die auf eine regionale bzw. lokale Verbreitung berechnet waren. Sie wurden - in dieser chronologischen Folge - zunächst in Weimar,58 sodann in Erfurt, Gotha und Eisenach, in
55 56
57 58
Jenaische Politische E x t r a - P o s t , Jena 1783, S. 56. Vgl. D e r Anzeiger, N r . 1 v o m 3. Januar 1791, S. 2; Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre ( A n m . 49), Sp. 762. Allgemeiner A n z e i g e r der Deutschen, Nr. 2 5 1 v o m 19. 0 9 . 1806, S. 3097f. Das erste Intelligenzblatt Thüringens kam bereits 1 7 3 4 heraus, überdauerte aber nur wenige M o n a t e . Von ihm wird noch mehrfach die R e d e sein. Eine systematische A u s wertung ist aufgrund der lediglich 32 überlieferten Ausgaben v o m 7. J a n u a r bis z u m 12. A u g u s t 1 7 3 4 allerdings kaum möglich. Vgl. J o a c h i m v o n Schwarzkopf: U e b e r politische Zeitungen ( A n m . 35), S. 44. Fritz Körner: D a s Zeitungswesen in Weimar ( 1 7 3 4 1849). E i n Beitrag zur Zeitungsgeschichte. Leipzig: Reinicke 1920, S. 1 6 - 3 4 .
»... dem gesellschaftlichen
Leben der Menschen zur Aufnahme«
13
Tabelle 2: Intelligenzblätter in Thüringen im 18. Jahrhundert (Auswahl) Gnädigst privilegiertes Altenburgisches Wochenblatt Altenburg, seit 1754 Arnstädtische wöchentliche Anzeigen und Nachrichten Arnstadt, seit 1768 (15. Oktober 1768) Coburger wöchentliche Anzeige Coburg, seit 1764 (Ol. Januar 1764) Eisenachische wöchentliche Nachrichten, von Policey- Gelehrten und andern Sachen Eisenach, seit 1752 (08. Januar 1752) Wöchentlicher Erfurtischer Anfrag- und Nachrichten-Zettul Erfurt, seit 1746 (22. Januar 1746) Wöchentliches Frankenhäusisches Intelligenzblatt Frankenhausen, seit 1765 (02. Januar 1765) Wöchentliche Gothaische Anfragen und Nachrichten Gotha, seit 1751 (05. März 1751) Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenzblatt Greiz, seit 1774 (21. Mai 1774) Hildburghäusische Wöchentliche Anzeigen Hildburghausen, seit 1766 (24. März 1766) Wöchentliche Jenaische Frag- und Anzeigen Jena, seit 1752 (12. Juni 1752) Lobensteinisches gemeinnütziges Intelligenzblatt Lobenstein, seit 1784 (01. März 1784) Meiningische wöchentliche Anfrage und Nachrichten Meiningen, seit 1763 (04. Juni 1763) Mühlhäusisches Wochenblat Mühlhausen, seit 1764 Wöchentliches Nordhäusisches Intelligenzblatt Nordhausen, seit 1766 Rudolstädtische Wöchentliche Anzeigen und Nachrichten Rudolstadt, seit 1769 (21. Februar 1769) Wöchentliche Weimarische Anzeigen Weimar, seit 1755 (05. April 1755)
Jena, Altenburg und erneut in Weimar, in Langensalza, Meiningen und Coburg, in Mühlhausen, Frankenhausen, Hildburghausen, Nordhausen, Arnstadt, Rudolstadt, Heiligenstadt, Greiz, Lobenstein sowie in Sondershausen herausgegeben.59 Zwi-
59
Vgl. Tabelle 2. Das Intelligenzblatt in Sondershausen, einem Zeitgenossen zufolge »unter aller Kritik«, überdauerte den Gründungsjahrgang 1795 nicht. Nach einem erneuten erfolglosen Intermezzo 1799 erschien in der schwarzburgischen Residenzstadt erst seit 1801 das »Intelligenzblatt für Schwarzburg-Sondershausen«. Vgl. Noch eine Beantwortung der Anfrage im Reichs-Anzeiger 1800, No. 137, S. 1771. In: Allgemeiner litterarischer Anzeiger oder: Annalen der gesammten Litteratur für die geschwinde Bekanntmachung verschiedener Nachrichten aus dem Gebiete der Gelehrsamkeit und Kunst, Nr. 111 vom 17. 07. 1800, S. 1988; Joachim von Schwarzkopf: Ueber politische Zeitungen (Anm. 35), S. 58f.
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Werner
Greiling
sehen der Gründung des Weimarer Intelligenzblattes von 1734 60 und der ersten Nummer des kurzlebigen Wochenblatts für Schwarzburg-Sondershausen vergingen mehr als sechs Jahrzehnte. Das früheste Intelligenzblatt von dauerhafter Existenz war der Wöchentliche Erfurtische Anfrag- und Nachrichten-Zettul. Wie er führten viele dieser Periodika den Namen »Intelligenzblatt« nicht oder nur zeitweise im Titel, verstanden sich jedoch ausdrücklich als solches. 6 ' Zu neuen Gründungen wie dem Saalfeldischen Wochenblatt (04. 04. 1801) kam es dann erst nach der Jahrhundertwende. Die meisten Blätter entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren. Viele von ihnen reflektierten bereits mit Beginn ihres Erscheinens über die selbstgewählte Aufgabe, einige publizierten programmatische Erklärungen über den Zweck ihrer Existenz. 62 »Diejenigen Blätter, welche die Vorfälle eines Landes und dessen Veränderungen in so fern sie angemerket zu werden verdienen, getreulich anzeigen, und vor alle Stände etwas in sich enthalten, können ohnmöglich ohne Nutzen gelesen werden und sich dahero mit recht der gütigsten Aufnahme getrösten«, 63 meinte etwa der Herausgeber der Coburger Wöchentlichen Anzeige im Januar 1764. Auch verallgemeinernde Reflexionen über das neue Medium finden sich frühzeitig. So verweist das Avertissement für das Weimarer Intelligenzblatt von 1734 bereits im Dezember des Vorjahres nicht lediglich auf die schon existierenden Blätter in Frankfurt, Berlin, Halle, Magdeburg, Minden und Cassel, sondern ausdrücklich auch darauf, daß »der berühmte Herr von Schröter [...] unterschiedene Projecte von diesen Intelligenz-Wesen, in seiner Fürstlichen Schatz- und RentCammer« 64 hinterlassen habe. Auch der »berühmte Geheimde Rath, und Cantzler, Herr von Ludewig zu Halle«, dessen Intelligenzblatt den Zeitgenossen als vorbildlich galt und der sich seinerseits über den Zweck und die optimale Gestaltung des Mediums »in einer absonderlich gedruckten Schrifft« geäußert habe, 65 findet lobende Erwähnung. Sowohl zwischen den »Gründungsdeklarationen« als 60
61
62
63
64
65
Der vollständige Titel lautete »Weimarische Nachrichten und Anfragen von PoliceyCommercien- und andern dem Publico dienlichen Sachen«. Verlegt wurde das Blatt vom Hochbuchhändler Siegmund Heinrich Hoffmann. Böning spricht davon, daß »im 18. Jahrhundert mindestens 283 unterschiedliche Titelformulierungen für Intelligenzblätter zu entdecken« seien. Vgl. Holger Böning: Das Intelligenzblatt. Dokumentation (Anm. 35), S. 4. Eine Dokumentation der Gründungsprogramme und Avertissements thüringischer Intelligenzblätter ist in Vorbereitung. Einleitung von dem Nutzen dieses Blattes. In: Coburger Wöchentliche Anzeige, Nr. 1 vom 01. Ol. 1764, unpag. Avertissement Das auf Hochfürstl. gnädigsten Befehl zu W E I M A R aufgerichtete I N T E L L I G E N Z - W e r c k , und die daher entstehende wöchentliche Policey- und C o m mercien=Gazette oder zeitung betreffende, Weimar 1733, unpag. Zu Schröder vgl. Anm. 30. Avertissement (Anm. 64), unpag. Vgl. auch Johann Peter von Ludewig: Unterricht von denen wöchentlichen Anzeigen, die auf königl. Majest. in Preußen allergnädigsten Special-Befehl, in dero Reich, Provincien und Landen, durch die so genannten Intelligenz-Zettel angeordnet. Halle 1729.
»... dem gesellschaftlichen
Leben der Menschen
zur
Aufnahme«
15
auch zwischen den Profilen, die die verschiedenen Blätter dann im Laufe ihres Erscheinens ausprägten, zeigen sich eine Reihe von Differenzen, die eine eingehende Erörterung durchaus verdienen. 66 4. Profillinien thüringischer 4.1. Das
Intelligenzblätter
Anzeigenwesen
Selbstverständlich nahm in allen thüringischen Intelligenzblättern das Anzeigenwesen einen zentralen Platz ein. Dies wurde meist ausführlich begründet und langatmig gegliedert. Das Weimarer Blatt von 1734 sah zusammen mit Regierungsverordnungen und Citationen immerhin 28 Rubriken vor, nämlich: ' I.) II.) III.) IV.) V.) VI.) VII.) VIII.) IX.) X.) XI.) XII.) XIII.) XIV.) XV.) XVI.) XVII.) XVIII.) XIX.) XX.) XXI.) XXII.) XXIII.) XXIV.) XXV.) XXVI.) XXVII.) XXVIII.)
66
67
Hoch Fürstliche Edicté, neue Verordnungen, und Anstalten. Citationes-Creditorum. Edictal-Citationes flüchtiger Personen. Alles was im Weimarischen Gerichtlich zu verkaufen. Alles was ausser den Sachsen=Weimarischen Gerichtlich zu verkauffen. Alles, was im Weimarischen ausser Gerichtlich an beweg= und unbeweglichen Güthern zu verkauffen. Alles, was ausser den Weimarischen an beweg- und unbeweglichen Güthern zu verkauffen. Alles, was in den Weimarischen zu vermiethen, oder zu verpachten. Alles, was außer den Weimarischen zu vermiethen etc. Wo Geld zu verleihen. Von wem, und wo Geld gesuchet wird. Sachen die gestohlen worden. Sachen die verlohren worden. Sachen die gefunden worden. Bediente die man verlanget. Personen so Dienste suchen. Neue Bedienungen, Chargen und Characteurs. Was vor Professionen, Künstler, und Handwercker, verlanget werden. Waaren und Güter, so verlanget werden. Allerhand neue Gelehrte, Kunst= und andere Erfindungen, wie auch Observationes und gelehrte Anmerckungen. Andere gelehrte Sachen, und neue Schrifften. Ankommende Personen in der Residenz-Stadt Weimar. Gebohrne, und Getauffte. Copuline. Gestorbene. Geträyde-Preiß, in Weimar, Jena, Erffurt und Büttstedt. Woll=Preiß. Bier= Brod= Fleisch= und Mehl=Taxe, und dergl.67
Aus Platzgründen kann dies - wie andere Phänomene auch - hier nur angedeutet werden. Die genauere Analyse muß einer größeren Arbeit vorbehalten bleiben, die in Kürze vorliegen wird. Avertissement (Anm. 64), unpag.
16
Werner
Greiling
Der Anzeigenteil anderer Intelligenzblätter in Thüringen war meist nicht ganz so breit gegliedert. Im Prinzip jedoch sah er sehr ähnlich aus. In Erfurt seit 1746 gab es zusätzlich Kategorien für »Lotterien« sowie für »Neue verlegte Bücher und gelehrte Sachen«. 68 Vertieft man sich in die Lektüre, werden in den diversen Anzeigen-Rubriken das Alltagsleben sowie Gewerbe und Handel der kleinstädtischländlichen Welt in der Region Thüringen sehr lebhaft widergespiegelt. Dabei handeln die einzelnen Ausgaben nur jeweils einen Teil der genannten Bereiche ab, je nach Angebot und Nachfrage, Bedürfnissen und Leistungen. In einigen Städten wurden die Redaktions- und Anzeigenstuben, die »Intelligenz-Comptoirs« also, zu regelrechten Informations- und Kommunikationszentren. Das oben genannte Weimarer Intelligenzblatt enthielt im Durchschnitt acht bis zehn Anzeigenrubriken pro Ausgabe. Damit wurde der Austausch erleichtert oder erst in Gang gesetzt, der Handel wurde koordiniert. In Hinsicht auf die vielfältigen Informationen über die Termine des Bierbrauens, des Brotbackens und der Markttage sowie über die Preise wichtiger Grundnahrungsmittel schrieb man 1763 in Meiningen recht treffend: Läßt sich aber vermuthen, daß ohne öffentliche Bekanntmachung einige Handwerker ihre Waaren an einen eben so, wie an den andern verkaufen werden? Die Erfahrung hat bisher ein anderes gelehrt. Ueber das alterum tantum ist verschiedentlich gewuchert worden. Diesem Unwesen kan am füglichsten durch ein IntelligenzBlatt gesteuert werden, w o jedermann mit einem Blick die wahren Preise des Korns, Weitzens etc. und folglich des Brodes, der Semmeln etc. erfahren kan. Der Tax des Fleisches soll allemal angeführet werden, so oft eine neue Schätzung erfolget ist. Wie verbindlich wird man sich dem Publico durch solche Nachrichten machen! 69
Selbst der Arbeitsmarkt konnte mit Hilfe der Intelligenzblätter gesteuert werden. So waren beispielsweise in Weimar Anzeigen eingerückt, mit denen in dem nahegelegenen Städtchen Bürgel »Zeug- und Strumpfwürker« sowie »ein Drechsel, Nagelschmidt, Beutler, Kirschner und Kannengießer« gesucht wurden. Ersteren wurde vom Magistrat »nicht nur alle Hülffe und Assistenz, sondern auch ein ganz freyes Bürger-Recht, und über dieß drey Jahr Freyheit von allen Bürgerlichen Oneribus, versprochen«. Drechsler, Nagelschmied, Beutler, Kürschner und Kannengießer warb man mit dem halben Bürgerrecht und mit zweijähriger Freistellung von bürgerlichen Abgaben. 70 Der Umfang der Anzeigen war in den meisten Intelligenzblättern trotz vieler Schwankungen tendenziell ansteigend. In Weimar erreichte er zeitweise etwa 50 Prozent einer Ausgabe, in anderen Blättern blieb er auf niedrigerem Niveau. Faktisch unterstützten die Intelligenzblätter in Thüringen mit ihrem Anzeigenteil die Ausbildung und Weiterentwicklung eines lokalen und regionalen Marktes. Sie waren, wie Justi es für Göttingen erhofft hatte, »denen Commercien und Gewer68
69 70
Vgl. Erfurtischer Anfrag- und Nachrichten-Zettul, Nr. 1 vom 22. 01. 1746, unpag. Insgesamt umfaßte das Blatt 14 Rubriken. Nachricht (Anm. 43), unpag. Weimarische Nachrichten (Anm. 60), Nr. 5 vom 04. 02. 1734, S. 37.
»... dem gesellschaftlichen Lehen der Menschen zur Aufnahme«
17
ben sehr nützlich und vortheilhaft«. 7 1 Mit ihnen konnten Elemente der Eigentumsfreiheit sowie der H a n d e l s - und Vertragsfreiheit eingeübt w e r d e n . 7 2 Preise, Geldkurse und diverse andere ökonomische Daten blieben kein Geheimwissen von »Insidern«, sondern wurden in die Sphäre der Öffentlichkeit gehoben. 7 3 D e r Wirtschaft
wurden
Impulse
verliehen, wenngleich
die Intelligenzblätter
des
18. Jahrhunderts in ihrer Mehrzahl das Bild eines n o c h wenig umfangreichen, ganz auf die Bedürfnisse der örtlichen und regionalen Bevölkerung sowie des H o f e s ausgerichteten traditionellen Gewerbes vermitteln. W a s J o h a n n Heinrich L u d w i g Bergius 1770 notierte, trifft also grundsätzlich auch für Thüringen zu: Das Intelligenzwesen gehöret mit zu dem Zusammenhange des Nahrungsstandès. Dieser Zusammenhang kommt hauptsächlich auf die Beförderung des Absatzes, und auf einen lebhaften Umlauf an; der Umlauf aber bestehet in einem oft wiederholten Zusammenfluß des Geldes und der Waaren. Nun müssen die Käufer und Verkäufer, oder diejenigen, so Arbeit und Dienste verlangen, einander hiervon öffentliche Nachricht geben können. 7 4
4.2. Nachrichtenvermittlung Anders als in Preußen oder in Sachsen kam den Intelligenzblättern in Thüringen in ihrer Mehrzahl auch eine wichtige Funktion bei der Nachrichtenvermittlung z u . 7 5 Einige Herausgeber hatten v o n vornherein eine Rubrik » Z e i t u n g s - N a c h r i c h ten« oder »Zeitungs-Extract« vorgesehen. Andere bemerkten dieses Bedürfnis ihrer Leser im Laufe der Zeit und befriedigten es. So w a r beispielsweise der Wöchentliche
Erfurtische
Anfrag-
und Nachrichten-Zettul
zunächst ein »klassisches«
Intelligenzblatt ohne politische Nachrichten. 1769 änderte es jedoch N a m e n und Profil. N u n m e h r brachte es ausdrücklich auch politische Meldungen. Ahnlich war es in C o b u r g , Greiz, Jena, Meiningen und Weimar. 7 6
71
72 73
74
75
76
Johann Heinrich Gottlob von Justi: Von der Absicht und Einrichtung dieser Blätter. In: Göttingische Policey-Amts Nachrichten. 1. Stück vom 04. 07. 1755, S. 1. Vgl. Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (Anm. 4), S. 23ff. Vgl. Holger Böning: Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung (Anm. 35), S. 25. Johann Heinrich Ludwig Bergius (Hg.): Policey- und Cameral-Magazin in welchem nach alphabetischer Ordnung die vornehmsten und wichtigsten bey dem Policey- und Cameralwesen vorkommende Materien nach richtigen und vernünftigen Grundsätzen practisch abgehandelt und durch landesherrliche Gesetze und hin und wieder wirklich gemachte Einrichtungen erläutert werden, Bd. 5. Frankfurt/M.: Andräische Buchhandlung 1770, S. 204. Vgl. Günther Ost: Intelligenzwerk (Anm. 37). Werner Greiling: »Einem Volke, welches die Bastille rasirt«. Intelligenzblätter und Kulturtransfer in Thüringen, Bayern und Sachsen. In: Cahiers d'Études Germaniques. Revue Semestrielle, 1995, Nr. 28, S. 1 1 5 - 1 3 1 . Vgl. Tabelle 3.
Werner
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Greiling
Tabelle 3: Politische Berichterstattung in Intelligenzblättern Thüringens im Gründungsjahr / später Arnstadt 1768 Coburg 1764 Eisenach 1752 Erfurt 1746 Frankenhausen 1765 Gotha 1751 Greiz 1774 Hildburghausen 1766 Jena 1752 Lobenstein 1784 Meiningen 1763 Mühlhausen 1764 Nordhausen 1766 Rudolstadt 1769 Weimar 1755
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Entnommen wurden die Nachrichten, wie es damals gängige Praxis war, anderen, überregionalen Blättern. Einige Redakteure gaben gelegentlich auch ihre Quellen an, unter denen sich die »Erlanger Real-Zeitung«, die »Leipziger Zeitungen«, die »Hanauer Neue Europäische Zeitung« und natürlich die »Staats-und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten« befanden. Der Zeitverzug war oft beträchtlich, die Authentizität der Meldungen eingeschränkt. Doch das Nachrichtenbedürfnis der Leserschaft war ganz offensichtlich größer. Daß »die politischen Nachrichten [...] nichts andres als Lückenbüßer« 7 7 waren, kann für die entsprechenden thüringischen Blätter keineswegs bestätigt werden. Besonders im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zeigt sich eine quantitative Zunahme des Nachrichtenwesens. Dies bedeutete auch eine wachsende Politisierung der thüringischen Intelligenzblätter und damit eine Erweiterung von Öffentlichkeit in den Staaten der Region. Diese Tendenz, die sich in den siebziger und achtziger Jahren schon vielfach zeigt, wird durch einen regelrechten »Politisierungsschub« verstärkt, der durch die Französische Revolution von 1789 ausgelöst wird. Bis dahin lag der Schwerpunkt politischer Meldungen aus dem Ausland im Osten und Südosten Europas. Mit dem Sturm auf die Bastille avancierte Frankreich schlagartig zum zentralen Nachrichtenthema. Die vielfältigen Neuigkeiten vom unerhörten Geschehen an der Seine verschoben bei den meisten Blättern sogar die bisherigen Relationen zwischen Anzeigenteil, allgemeineren Artikeln und dem »Nachrichten-Extract«. In Arnstadt führte dies dazu, daß man seit 15. Januar 1794 zusätzlich zu den samstäglichen »Wöchentlichen Anzeigen und Nachrichten« jeweils mittwochs noch einen halben Druckbogen als »Arnstädti77
Hjalmar Schacht: Intelligenzwesen (Anm. 28), S. 606.
dem
gesellschaftlichen
Lehen
der Menschen
sehe Z e i t u n g « herausbrachte. D a d u r c h sollte -
zur
Aufnahme«
19
so der H e r a u s g e b e r H i e r o n y m u s
J a c o b T r o m m s d o r f - verhindert w e r d e n , daß nicht m e h r aus P l a t z g r ü n d e n » s o viele interessante Zeitungsartikel weggelassen o d e r v e r s t ü m m e l t gesaget w e r d e n dürfen«.78 Tabelle 4: Frankreichberichterstattung in thüringischen Intelligenzblättern Ereignisse Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 [Bastille] Die Hinrichtung Ludwigs X V I . am 21. Januar 1793 [Ludwig] D e r Staatsstreich Napoleons am 09. November 1799 [Napoleon] Aufgeführt ist die jeweils erste Meldung.
Altenburg Arnstadt Coburg Erfurt Frankenhausen Gotha Greiz Hildburghausen Lobenstein Meiningen Mühlhausen Nordhausen Rudolstadt Weimar
Bastille
Ludwig
Napoleon
kein Bericht 25. 07. 1789 08. 08. 1789 kein Bericht kein Bericht kein Bericht 14. 08. 1789 0 1 . 0 8 . 1789 kein Bericht 0 1 . 0 8 . 1789 29. 07. 1789 kein Bericht 28. 07. 1789 28. 07. 1789
kein Bericht 09. 02. 1793 02. 02. 1793 kein Bericht kein Bericht kein Bericht 08. 02. 1793 02. 02. 1793 kein Bericht 02. 02. 1793 06. 02. 1793 kein Berich 05. 02. 1793 02. 02. 1793
kein Bericht 23. 11. 1799 kein Bericht kein Bericht kein Bericht kein Bericht kein Bericht 23. 11. 1799 kein Bericht 23. 11. 1799 23. 11. 1799 kein Bericht 26. 11. 1799 27. 11. 1799
A u c h jetzt w a r die Berichterstattung nicht besonders aktuell. B r a c h t e n die g r o ß e n politischen Z e i t u n g e n in D e u t s c h l a n d ihre erste M e l d u n g v o m Bastillesturm z w i schen d e m 7. und 12. Tag n a c h d e m G e s c h e h e n , 7 9 k o n n t e m a n sie in A r n s t a d t elf 78
79
Arnstädtische Zeitung nebst wöchentlichen Anzeigen und Nachrichten, 1. Woche, 15. Ol. 1794, S. 1. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt: Die »Bastille«. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit. Frankfurt/M.: Fischer 1990, S. 203ff; Rolf Reichardt: Probleme des kulturellen Transfers der Französischen Revolution in der deutschen Publizistik 1 7 8 9 - 1 7 9 9 . In: Holger Böning (Hg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Deutsche Presseforschung 25). München u.a.: Saur 1992, S. 9 1 - 1 4 6 . Z u m Vergleich auch Ursula E. Koch: Französische Revolution und preußische Tagespublizistik 1789 am Beispiel der Berlinischen Nachrichten Von Staats- und gelehrten Sachen (gen. Haude- und Spenersche Zeitung) sowie der Schlesischen privilegirten Zeitung (Breslau). In: O t t o Büsch/Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789. Ergebnisse einer Konferenz. Berlin, N e w York: Colloquium Verlag 1991, S. 2 1 3 - 2 6 6 ; Ursula E. Koch/Ute Nawratil/Detlef Schröter: Französische Revolution und preußische Zeitungsberichte. Ein Pilotprojekt
Werner
20
Greiling
Tage nach dem 14. Juli, in Greiz dagegen erst vier Wochen später lesen. 80 Doch die politische Tendenz dieser Artikel ist meist erstaunlich aufgeschlossen. Die »Vainqeurs de la Bastille« hätten nach geltendem französischen Recht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wegen Mord und Aufruhr eigentlich bestraft werden müssen. Dafür plädierten auch die französischen Emigranten, die bald zahlreich nach Deutschland strömten. Wer eine solche Argumentation bei den Intelligenzblättern erwartet, die immerhin unter den Augen der thüringischen Fürsten erschienen, sieht sich jedoch getäuscht. Sie berichteten mit viel Sympathie für die Revolutionäre. Von Mord und Verräterei ist dagegen im Zusammenhang mit dem Verhalten des Gouverneurs der Bastille die Rede. Der Marquis de Launy wurde bekanntlich noch am 14. Juli massakriert. Die anfänglich positive Berichterstattung über die Revolution wird im weiteren Verlauf des Geschehens allerdings distanzierter. Spätestens mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 schlägt sie endgültig um. Quantität, Qualität und Aktualität der Nachrichtenvermittlung in den Intelligenzblättern fielen selbstverständlich unterschiedlich aus. Einem Vergleich mit großen politischen Zeitungen der damaligen Zeit halten sie nicht stand. Aber sie waren oft das einzige Medium, das den Handwerker und Landmann überhaupt erreichte. Gerade für das Ende des Säkulums wird davon berichtet, daß es - als Folge der Aufklärung - eine »Allgemeinheit des Zeitungslesens unter denjenigen Ständen« gebe, »welche wenig oder gar keine wissenschaftliche Cultur haben«. 81 Der Nachrichtenteil konnte in vielen Intelligenzblättern Thüringens über längere Zeit einen festen Platz behaupten. Es paßt in dieses Bild, wenn das »Gnädigst privilegirte unterhaltend-gemeinnützige Greizer Intelligenz-Blatt« im Jahre 1789 seinen Nachrichtenteil mit der folgenden Uberschrift versah: »Interessante Neuigkeiten für solche, die entweder gar keine Zeitung lesen oder sie doch nicht ganz verstehen.« 82
4.3.
Räsonnement
Betrachtet man die Berichterstattung über die Französische Revolution, wird deutlich, daß die Grenzen zwischen Nachrichtenvermittlung und Räsonnement mitunter recht fließend waren. In den neunziger Jahren wurde in einigen Blättern schon prononciert politisch räsoniert. Man bezeugte diversen Ereignissen in Frankreich seine Sympathie, erörterte die Notwendigkeit oder Möglichkeit politischer Veränderungen in Deutschland, debattierte über die französische Verfas-
80 81
82
zur historischen Inhaltsanalyse. In: Holger Böning (Hg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit, S. 1 9 9 - 2 4 9 . Vgl. Tabelle 4. Joachim von Schwarzkopf: Ueber Zeitungen. Ein Beytrag zur Staatswissenschaft. Frankfurt/M.: Varrentrapp & Wenncr 1795, S. 75. Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenzblatt. Nr. 1 vom 03. 01. 1789, S. 3.
»... dem gesellschaftlichen
Leben der Menschen zur
Aufnahme«
21
sung. Derartige Bemerkungen machen oft nur wenige Sätze oder kleinere Textteile aus. Aber sie bringen deutlich eine subjektive Meinung ein, von Herausgebern, Redakteuren oder von Korrespondenten. Das Frankenhäusische Intelligenzblatt im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt hatte nicht über die Französische Revolution berichtet. Im Januar 1793 publizierte es jedoch einen Artikel über die Sächsischen Bauernunruhen, in dem es genau diese Kombination aus Revolutionsberichterstattung und politischem Räsonnement in einigen Zeitungen und Intelligenzblättern anspricht. Der Verfasser monierte, daß die »meisten deutschen Zeitungen [...] so eifrig selbst die unverbürgtesten Gerüchte von Volksaufruhr und Meuterey, Revolutions-Gräuelen, Ungehorsam usw. verbreiten und nacherzählen«, während sie von der »Kriegszucht und Treue deutscher Krieger, dem Pflichteifer einzelner Untertanen und der Entschlossenheit und Milde des Landesregenten [...] kaum ein paar Zeilen bemerkten.« 83 In den sechziger und siebziger Jahren fand sich Räsonnement noch nicht in dieser politisierten Form in den Intelligenzblättern. Dennoch: Auch damals waren allgemein aufklärerische Beiträge sowie Texte zur praktischen Aufklärung für viele Intelligenzblätter selbstverständlich. In Erfurt etwa wurden regelmäßig längere Artikel eingerückt und für jeden Jahrgang mit einem Register erschlossen. 84 So erwarb der Abonnent eines Intelligenzblattes über die Jahre ein Kompendium mit aufklärerischen, belehrenden und moralisierenden Aufsätzen. Einige Titel des sehr breiten Themenspektrums seien genannt: »Einige Gedanken über die Erziehung«, 85 »Von dem moralischen Nutzen öffentlicher Intelligenzblätter«, 86 »Sind unsere Lese=Gesellschaften der Litteratur zuträglich oder hinderlich?«, 87 »Wohlgemeinte Gedanken über die Frage: O b es einem Lande nützlich sey, daß man die Ausfuhre des Getraides aus demselben verbiethe?« 88 Diese und ähnliche Texte finden sich auch in weiteren thüringischen Blättern. In der »Coburger Wöchentlichen Anzeige« existierte eine spezielle Abteilung mit »Allerley Verbesserungen theils der Oeconomie, theils anderer nützlichen Sachen«. 89 Viele Beiträge in thüringischen Intelligenzblättern sind der Volksaufklärung zuzurechnen. Insbesondere in ländlichen und kleinstädtischen Gegenden stellen die Blätter selbst gleichsam »Medien einer praktischen, sehr alltagsbezoge-
83
84 85 86 87 88 89
[Heinrich August Ottokar Reichard]: Die Sächsischen Bauern-Unruhen 1790. In: W ö chentliches Frankenhäusisches Intelligenz-Blatt, 4. Stück vom 21. Ol. 1793, S. 4 9 - 6 2 ; 5. Stück vom 28. 01. 1793, S. 6 5 - 7 6 , hier S. 7 4 - 7 6 . Der gleiche Text, mit zwei weiteren Fußnoten allerdings, erschien in: Revolutions-Almanach von 1793, Göttingen: Dieterich 1792, S. 5 8 - 8 0 . Vgl. dazu unsere knappe Fallstudie. Vgl. Erfurthisches Intelligenz-Blatt, 13. Stück vom 30. 03. 1771. Ebd., 1. Stück vom 07. 01. 1769, S. 5 - 7 . Ebd., 22. Stück vom 01. 06. 1782; 23. Stück vom 08. 06. 1782. Ebd., 11. und 12. Stück 1771. Coburger Wöchentliche Anzeige, Nr. 1 vom 01. 01. 1764, unpag.
Werner
22
Greiling
nen Aufklärung« 9 0 dar. Doch es gibt auch Artikel wie »Von dem politischen Verhältnisse der verschiedenen Stände«. 91 Hier beginnt bereits in den siebziger und achtziger Jahren der Ubergang zu einer politisierten Aufklärung, zu einem auf Staat und Gesellschaft gerichteten Diskurs. Eine neuere Arbeit zum Pressewesen in Norddeutschland bezeichnet die Intelligenzblätter gar als »die wichtigsten lokalen Beförderungsmittel der Aufklärung publizistischer Art«. 9 2
4.4.
Sozialdisziplinierung
Der Terminus Sozialdisziplinierung ist in unserem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht am Platze. Dies ist auch keineswegs ein Widerspruch zu dem geschilderten aufklärerisch-politischen Räsonnement. Zum einen publizierten mehrere Intelligenzblätter und diverse gelehrte Beilagen Beiträge zur zeitgenössischen »Policeywissenschaft«. Sie befaßte sich »mit der A r t und Weise, die innere Ordnung und Glückseligkeit des Staats zu erhalten und zu befördern«. 9 3 Der Begriff der »Policey« ist hier also nicht in seiner späteren, gewissermaßen defensiven Bedeutung gefaßt. Vielmehr geht es um jenen »strukturbildende[n] Vorgang der Fundamentaldisziplinierung in Staat und Kirche, in Wissenschaft und Kultur«, 9 4 der beispielsweise von den diversen Polizeiordnungen der Frühen Neuzeit intendiert war. Viele Zeitgenossen betrachteten das »Intelligenzwesen« ausdrücklich als
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Holger Böning/Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1990, S. 713. Vgl. auch Holger Böning: Das Intelligenzblatt als Medium praktischer Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte der gemeinnützigen-ökonomischen Presse in Deutschland 1768-1780. In: IASL 12 (1987), S. 107-133. Erfurthisches Intelligenz-Blatt, 41. Stück vom 10. 10. 1778, S. 327; 42. Stück vom 17. 10. 1778, S. 332-335; 43. Stück vom 24. 10. 1778, S. 341-344. Ulrike Möllney: Norddeutsche Öffentlichkeit und Französische Revolution. In: Holger Böning (Hg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit (Anm. 79), S. 159. Wilhelm Gottlieb Tafinger: Ueber den Zweck des teutschen Polizey- und Cameralrechts. Tübingen: Cotta 1787, S. 8. Gerhard Oestreich: Strukturprobleme der frühen Neuzeit, Berlin 1980. S. 345. Vgl. auch Gerhard Oestreich: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: G. O.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 179-197. Stefan Breuer: Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault. In: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 45ff; Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff »Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit«. In: Zeitschrift für historische Forschung, 14 (1987), H. 3, S. 2 6 5 302.
dem gesellschaftlichen
Lehen der Menschen
zur
Aufnahme«
23
»eine öffentliche Policeyanstalt, welche von der Anordnung des Landesherrn abhänget«. 95 In den Intelligenzblättern wurden Überlegungen zur Verbesserung der Verwaltungs- und Regierungstätigkeit vorgetragen. Man gab Anregungen für verschiedene Handlungsbereiche in Politik, Wirtschaft und Kultur, debattierte über Recht und Religion. Eine neuere Arbeit zu diesem Phänomen vertritt die Ansicht, daß Intelligenzblatt und Polizeiwissenschaft in einem engen Zusammenhang gesehen werden müssen, daß sie eine »aufklärerische Disziplinierungsöffentlichkeit« 96 bilden. Zwar bleibt der Verfasser einen wirklich zwingenden, auf breiter Quellenbasis dokumentierten Beweis für diese zugespitzte These schuldig 97 , doch ist der Aspekt der Sozialdisziplinierung fraglos tatsächlich Bestandteil der Intelligenzblätter. Dies wird auch durch die Analyse einiger thüringischer Blätter bestätigt. Unterschiede sind dem differierenden Gesamtprofil geschuldet, das die Blätter jeweils ausgeprägt hatten und das sich natürlich nicht trennen läßt von den Intentionen und Möglichkeiten der beteiligten Herausgeber und Redakteure. So lief beispielsweise der schon erwähnte Aufsatz »Von dem politischen Verhältnisse der verschiedenen Stände« darauf hinaus, das Zusammenleben in der Gesellschaft »vernünftig« zu organisieren, o h n e die gegebene Ordnung zu gefährden. Nichtprivilegierte Schichten galt es im Rahmen der ständischen Gesellschaft nicht durch Repression, sondern durch elementare soziale Sicherheit zu disziplinieren. Gleichsam im Vorgriff auf eine öffentliche Sozialpolitik sollte etwa die Subsistenz der Bauern auf eine stabile Grundlage gestellt werden, 98 ohne jedoch ihre Rechte allzuweit auszudehnen. »Die persönliche Freyheit könnte eingeschränkt seyn; Grund und Boden kann andern zu gehören; aber die Pflichten und Abgaben müssen bestimmt werden, und zwar allemal so, daß ein fleißiger Arbeiter seinen nöthigen Unterhalt behält.« 99 Gehen in derartigen Texten Elemente einer gemäßigten Aufklärung mit Überlegungen zur sozialen Disziplinierung des dritten Standes einher, trugen - aus einer anderen Perspektive freilich - auch die Verordnungen und obrigkeitlichen Dekrete zur Disziplinierung bei, die in fast allen thüringischen Blättern publiziert wurden. Obwohl diese Organe bis auf die genannten Ausnahmen in Weimar 1734 und in Meiningen keine staatlichen Gründungen darstellten, gaben sie sich da-
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Johann Heinrich Ludwig Bergius (Hg.): Policey- und Cameral-Magazin (Anm. 74), S. 204. Thomas Kempf: Aufklärung als Disziplinierung. Studien zum Diskurs des Wissens in Intelligenzblättern und gelehrten Beilagen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. (Cursus. Texte und Studien zur deutschen Literatur 2) München: iudicium verlag 1991, S. 17. Vgl. auch Holger Böning: Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung (Anm. 35), bes. S. 2 8 - 3 1 . Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung (Anm. 94), S. 13ff. Von dem politischen Verhältnisse der verschiedenen Stände (Anm. 91), S. 333.
24
'Werner Greiling
durch doch allmählich einen »halboffiziösen« Anstrich. Dies erhöhte ihr Renommee, und es führte zur Unterstützung durch die Obrigkeit. Mitunter erweiterte es auch den Absatz der Blätter, insbesondere dann, wenn die Regierung für bestimmte Berufsgruppen wie Notare und Arzte oder für Zünfte und für die einzelnen Gemeinden ein Pflichtabonnement anwies. Die sogenannten »Hohen Verordnungen« betrafen zum Teil ganz praktische Fragen des Gemeindelebens, etwa Regelungen für das Bierbrauen oder eine »Verordnung, die Beschädigung der Anpflanzungen in Wäldern betreffend«. 100 Anders gelagert sind Beispiele wie ein »Geschärftes Verbot des Gassenbettelns« vom 3. Februar 1776 oder die »Hiesige Verordnung wegen nächtlicher Unruhen der Handwerkspursche« vom 1. Oktober 1770, beide in Erfurt. 101 In vielen ähnlichen Dekreten ging es um Gebote und Verbote. Es wurden rechtliche und soziale Normen gesetzt, erneut verdeutlicht oder auch nur in Erinnerung gerufen. Auch damit leisteten die Intelligenzblätter einen Beitrag zur Disziplinierung der Gemeinschaft.
5. Fallstudie:
»Gnädigst privilegirtes
Greizer
Intelligenz=Blatt«
Das Greizer Intelligenzblatt entstand vergleichsweise spät. Die Gründungswelle der fünfziger und sechziger Jahre war schon abgeebbt, als am 21. Mai 1774 in der reußischen Residenzstadt eine »Probe zu einem Greizer Intelligenz=Blatt« erschien. 102 Die Ausgabe im Umfang von vier Quartseiten beinhaltete acht verschiedene Rubriken und wandte sich mit einem »Avertissement« an das Publikum. Darin lieferte der Herausgeber David Benjamin Klug eine ganze Reihe grundsätzlicher Informationen für potentielle Leser und Inserenten und verdeutlichte auch die Ziele, die er mit der Gründung des Blattes verfolgte. Er kündigte an, daß »hauptsächlich einheimische Angelegenheiten« verhandelt werden soll-
100 101
Erfurthisches Intelligenz-Blatt, 49. Stück vom 05. 12. 1789, S. 385. Im Erfurthischen Intelligenz-Blatt wurden seit 1770 die darin publizierten »In- und ausländischen Verordnungen und Patente« mit einem jährlichen Register erschlossen. Vgl. auch Wolfram Suchier/Else Theile: 25 Jahre Leute und Leben in Erfurt zur Friderizianischen Zeit: Register zum Erfurtischen Intelligenzblatt 1 7 4 6 - 1 7 7 0 (Erfurter Genealogischer Abend. Wissenschaftliche Abhandlungen, H. 8). Erfurt: Koenig 1934; Wolfram Suchier/Else Theile: Erfurts Einwohner und ihr Gesichtskreis zu Dalbergs Zeit im Spiegel der amtlichen Lokalpresse: Register zum Erfurtischen Intelligenzblatt 1 7 7 1 - 9 5 (Erfurter Genealogischer Abend. Wissenschaftliche Abhandlungen, H. 11/ 12). Erfurt: Koenig 1938.
102
Eine detaillierte Spezialuntersuchung zum »Greizer Intelligenzblatt« liegt nicht vor. Vgl. lediglich die knappen Ausführungen bei Werner Querfeld: Kultur- und Vereinsleben in der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Partikularismus in Deutschland. (Beiträge zur mittelalterlichen, neueren und allgemeinen Geschichte 27) Jena: Fischer 1957, S. 1 0 2 - 1 0 5 .
103
Probe zu einem Greizer Intelligenz= Blatt, No. 1 vom 21. 05. 1774, S. 3f. Hier S. 3.
»... dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme«
25
David Benjamin Klug hatte das »Avertissement« als »Hochgräflich ReußPlauenschen Stadt- und Landrichter« unterzeichnet. Ahnlich wie die Herausgeber und Redakteure anderer thüringischer Intelligenzblätter zählte er zur Schicht mittlerer »Gebildeter«, die insbesondere im lokalen bzw. regionalen Rahmen für den Aufklärungsdiskurs und für die Ausprägung von »Öffentlichkeit« von großer Bedeutung waren. Gleiches trifft auf seinen Nachfolger bei der Herausgabe des Intelligenzblattes Christian Gottlob Jähring zu, der im »Hauptberuf« als Konsistorialrat und Schulinspektor wirkte. Klug stützte sich bei Abfassung des »Avertissements« offensichtlich auf seine Kenntnis diverser anderer thüringischer Intelligenzblätter, die in den schwarzburgischer Fürstentümern und in den ernestinischen Herzogtümern längst zu einer selbstverständlichen Einrichtung des öffentlichen Lebens geworden waren. In den Fürstentümern Reuß allerdings war es das erste seiner Art. Erst zehn Jahre später folgte in den Fürstentümern Reuß jüngerer Linie mit dem »Lobensteinischen gemeinnützigen Intelligenzblatt« ein entsprechendes Pendant. 104 Druck und Verlag des Blattes erfolgten in der Hochfürstlichen Hofbuchdruckerei Greiz, die von Matthias Sieghart geführt wurde. Im Jahre 1784 übernahm hier Carl Heinrich Henning die Geschäfte. 105 Ausgegeben wurde das Intelligenzblatt zunächst jeweils samstags und seit April 1778 freitags. 106 War es zunächst nur im Greizer Intelligenzcomptoir zu erhalten, konnte man es wenig später auch in Gera, Schleiz und Zeulenroda beziehen. Hier hatte der Verleger entsprechende Korrespondenten gewonnen. 107 Auch die Städte Plauen und Glauchau wurden zeitweise mit dem Blatt beliefert. »Fast ein ieder nur mittelmäßiger Ort in Deutschland hat sein Intelligenz-Blat, und da diese Blätter nichts anderes als Anzeigen für das Publicum sind; so kann man sie nach dem Verhältnisse der letztern füglich in drey Classen eintheilen«, schrieb das »Wöchentliche Frankenhäusische Intelligenzblatt« 1765. »Die erste enthält die Intelligenz-Blätter von bloß gelehrten Sachen [...] In der andern Classe stehen diejenigen, die nur Nachrichten von Policey-Wirthschafts und andern dahin einschlagenden Dingen liefern, dergleichen die Leipziger, Hallischen, Erfurtischen, Gothaischen und Eisenachischen sind. In die dritte Classe endlich gehören die vermischten Anzeigen, die von allen etwas enthalten.« 108 Dieser Einteilung zufolge zählte das Greizer Intelligenzblatt zur dritten Kategorie, zu jenen Blättern also, die sich weder auf gelehrte Sachen noch auf Policeyund Wirtschaftsangelegenheiten beschränkten. Die Probenummer umfaßte die folgenden Rubriken: »I. Gelder werden ausgeliehen.«, »II. Zu verkauffen.«, »III. Zu vermiethen.«, »IV. Zu verleihen.«, »VI. Getraide Preiß in Greiz.«, »VII. 104 105 106 107 108
Vgl. Lobensteinisches gemeinnütziges Intelligenzblatt, 1. Stück vom Ol. 03. 1784. Vgl. Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenz-Blatt, Nr. 1 vom 02. 01. 1784, S. 2. Vgl. ebd., Nr. 15 vom 10. 04. 1778. Vgl. ebd., Nr. 40 vom 02. 10. 1778, S. 160. Von den Intelligenz-Blättern überhaupt und der Einrichtung des gegenwärtigen. In: Wöchentliches Frankenhäusisches Intelligenz-Blat, 1. Stück vom 02. 01. 1765, S. 1.
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Werner
Greiling
Geburts- und Taufliste.« und »VIII. Gestorben.« 109 Unter der Ziffer V. wurde auf weitere Bereiche späterer Ausgaben verwiesen: »Künftig folgen mehrere Articul, als: Verlohren; Gefunden; Gestohlen; Beförderungen; Dienste und Arbeit so man suchet und anbiethet; Policey= Forst= und Wirthschafts Sachen; Gelegenheiten; Geld=Cours und dergleichen mehr.«110 Bereits die zweite Nummer modifizierte die Gliederung der Probeausgabe. Betrachtet man die wichtigsten Rubriken, wird deutlich, daß sich das ursprünglich geplante Profil des Blattes über einen längeren Zeitraum im wesentlichen hielt, wenngleich die strenge Gliederung in diverse Artikel aufgegeben und die Form insgesamt gelockert wurde. Von Anfang an waren Gesuche und Gebote zum Verleih von Geldern sowie Verkaufsanzeigen von Immobilien enthalten. Auch Berichte über Naturkatastrophen wurden relativ regelmäßig eingerückt. Bereits von der zweiten Nummer an zählten auch gemeinnützige Artikel zum Inhalt des Blattes, so über Landwirtschaft, Ökonomie und diverse Alltagsfragen. Zehn Wochen später wurden dann erstmals Buchanzeigen aufgenommen.111 Sodann folgten in lockeren Abständen gelehrte und allgemein interessierende Anfragen, die mit knappen Abhandlungen und Aufsätzen beantwortet wurden, und seit dem 13. Stück auch literarische Beiträge.112 Schon von der zweiten Nummer an wurden unter dem Kopf des Titelblattes zudem sehr häufig kurze Sprüche oder Gedichte als Motto eingerückt. Zu den ersten Abhandlungen mit aufklärerischer Tendenz zählte der Aufsatz »Etwas über Mädgen Schulen«, in dem der Verfasser für eine gründlichere Erziehung und Ausbildung der Mädchen plädierte, die bislang deutlich hinter der der Jungen zurückstehe. 113 Ebenfalls auf das Allgemeinwohl ausgerichtet waren auch »Gedanken über die Verschönerung der Städte, mit einer historischen Nachricht, wie seit 1763 die vornehmsten Hauptstädte in Europa sich allmählig verbessert und verschönert haben« 114 , die der Herausgeber dem Deutschen Museum von 1776 entnahm. Und schließlich wurden - neben der Veröffentlichung weiterer Texte zu ähnlichen Themen - die Bestrebungen der Aufklärung auch dadurch gefördert, daß das Intelligenzblatt in Anzeigen auf Schriften wie Rudolph Zacharias Beckers Noth= und Hülfsbiichlein für Bauersleute sowie auf entsprechende Periodika hinwies. 115 Besondere Aktivitäten entwickelte dabei der Hauslehrer Jo109 110 111
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Probe zu einem Greizer Intelligenz=Blatt, N o . 1 vom 21. 05. 1774, S. 1 - 3 . Ebd., S . 2 . Vgl. ebd., Nr. 12 vom 06. 08. 1774. In dieser Ausgabe wurde das Blatt erstmals durch einen zweiseitigen Anhang erweitert. Vgl. die Fabel in: Ebd., Nr. 13 vom 13. 08. 1774, S. 55, sowie das Gedicht »Der Schwarze, in der Zuckerplantage«. In: Ebd., Nr. 14 vom 20. 08. 1774, S. 60. Als Quelle wird bei letzterem der »Göttinger Musenalmanach« von 1774 angegeben. Etwas über Mädgen Schulen. In: Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenzblatt, Nr. 15 vom 15. 04. 1775, S. 5 7 - 5 9 . Vgl. ebd., Nr. 14 vom 05. 04. 1777, S. 54f.; Nr. 15 vom 12. 04. 1777, S. 58f.; Nr. 16 vom 19. 04. 1777, S. 63f. Vgl. ebd., Nr. 31 vom 01. 08. 1788, S. 20; ebenda, Nr. 34 vom 22. 08. 1788, S. 136.
»... dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme«
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hann Samuel Schindler, der mehrere aufklärerische Lesezirkel betrieb und über Annoncen im Intelligenzblatt auch den Verkauf von Aufklärungsliteratur organisierte. Im zweiten Novemberheft des Gründungsjahrgangs veröffentlichte David Benjamin Klug eine Kaiserlich-Königliche Verordnung, was ganz offensichtlich auf eigene Initiative geschah. 116 Eine erste quasi amtliche Anzeige betraf im Februar 1775 einen Toten unbekannter Herkunft, der nicht identifiziert werden konnte und dessen Anverwandte das Gräflich-Reuß-Plauische Amt in Untergreiz auf diesem Wege informieren wollte. 117 Die Rubrik »Mandate und Verordnungen« war dann erstmals in Nummer 37 des zweiten Jahrgangs präsent, 118 tauchte danach aber nur sehr sporadisch in dem Blatt auf. Zeitungsnachrichten, zunächst über die Türkei, Rußland und Polen, wurden seit Februar 1775 eingerückt. »Weil viele Leser dieser Blätter einen kurzen Zeitungsextract darinnen zu finden wünschen, soll heute, so viel der Raum verstattet, ein Anfang damit gemacht werden,« 1 1 9 hatte der Herausgeber dazu lapidar angemerkt. Politische Nachrichten gehörten von da an zum regelmäßigen Inhalt des Greizer Intelligenzblattes. Weitgehend auf den europäischen Raum konzentriert, waren sie im Umfang zunächst eher knapp bemessen und auf der letzten Seite piaziert. Im Verlaufe des ersten Jahrzehnts weiteten sie sich quantitativ deutlich aus und rückten 1784 teilweise schon auf die erste Seite vor. Zur Ausweitung des Nachrichtenwesens trug auch die Tatsache bei, daß das Blatt seit 1781 hin und wieder seinen Umfang auf acht Seiten verdoppelte und 1786 gar durchgängig zu je acht Seiten erschien. Im Jahr darauf schwankte man dann wieder zwischen vier und acht Seiten, um allmählich zum alten Umfang zurückzukehren. In den ersten Jahrgängen waren die weitgehend aktuellen Meldungen mit »Zeitungs-Extract« oder »Zeitungs-Nachrichten«, später auch mit »Politische Nachrichten« bezeichnet. Die Tendenz der Meldungen über Frankreich im Greizer Intelligenzblatt unterscheidet sich jedoch von der vieler vergleichbarer Blätter in Thüringen. Im Jahre 1788 war noch relativ ausführlich und zudem an zentraler Stelle berichtet worden. So schrieb man beispielsweise im August 1788: »In vielen Provinzen dieses Königreichs sieht es weit kritischer aus als jemals, und der Hof zu Versailles befindet sich in der größten Unruhe. Mehrere vornehme Beamte sind in die Bastille gesetzt und ihre Stellen andern gegeben worden.« 1 2 0 Seit Beginn der Revolution fielen die Nachrichten ziemlich knapp und schon frühzeitig auch deutlich antirevolutionär aus.
116 117 118 119 120
Vgl. ebd., Nr. 26 vom 12. 11. 1774, S. 105f.; Nr. 27 vom 19. 11. 1774, S. l l l f . Vgl. ebd., Nr. 8 vom 25. 02. 1775. Vgl. ebd., Nr. 37 vom 16. 09. 1775. Ebd., Nr. 5 vom 04. 02. 1775, S. 20. Ebd., Nr. 32 vom 08. 08. 1788, S. 122f.
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Werner Greiling
Tabelle 5: Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenzblatt Quantitative Aufteilung der Rubriken 1774 1779 1784 1789 1794 1799 1804 1809 1814 Mandate und Dekrete Amtliche Bekanntmachungen Edictal-Citationes Subhastationes Annoncen Gelehrtes/praktische Aufklärung Literarisches Zeitungsnachrichten Geboren/Gestorben/Copulierte Lotteriesachen Marktpreise Avertissement/Redaktionelles Allg. Nachrichten/Verschiedenes Geldkurse Meteorologisches
12
41 174 39 —
25 21 38 14 106 48 —
—
—
—
13 173
54 203 41 128 75
11 236
—
210 43 18 12 13 15 —
21
—
51
—
—
144 99 219
34 145
8 142
—
—
26 46 177 131
118 69
20 86 50 232 45
—
—
—
35
59
22
24
38
11
28
—
24
—
8
16
—
—
208
—
14
19
—
—
—
—
160*
—
139 97
—
* zweiseitige Beilage.
Seit 1791 benutzte m a n im Greizer Intelligenzblatt für die Rubrik mit aktuellen Meldungen wieder den Titel »Politische Nachrichten«. Seit der N u m m e r 14 v o n 1 8 0 2 wurde diese Abteilung ohne Begründung völlig aufgegeben. 1 2 1 Selbst ein Ereignis wie die Schlacht bei Jena und Auerstedt im O k t o b e r 1806, das sich in unmittelbarer geographischer Nachbarschaft vollzog und zugleich weltpolitische Dimension besaß, w u r d e nicht im zeitlichen Kontext gemeldet und kommentiert, sondern erst mit einigem Abstand in retrospektiver Betrachtung gleichsam historisch abgehandelt. 1 2 2 Eine Gesamtsicht auf die quantitative Verteilung der Rubriken des »Gnädigst privilegirten Greizer Intelligenzblatts« macht deutlich, 1 2 3 daß sich dessen H e r a u s 121
122
123
Vgl. ebd., Nr. 14 vom 13. 04. 1802. Das Blatt hätte regulär schon am 9. Februar herauskommen müssen. Nach einem schweren Brand in Greiz am 6. Februar 1802, dem etwa zwei Drittel der Häuser und auch das untere Greizer Schloß zum Opfer fielen, war jedoch der Erscheinungsrhythmus gestört. Nummer 15 erschien dann am 17. April 1802. Vgl. Einige charakteristische Szenen aus den Schlachten bei Jena und Auerstädt, in: Ebd., Nr. 22 vom 0 3 . 0 6 . 1808, S. 8 5 - 8 7 ; Nr. 23 vom 10.06. 1808, S. 8 9 - 9 1 ; Nr. 25 vom 2 4 . 0 6 . 1 8 0 8 , S. 9 7 - 9 9 ; Nr. 26 vom 0 1 . 0 7 . 1 8 0 8 , S. 1 0 1 - 1 0 3 ; Nr. 27 vom 0 8 . 0 7 . 1 8 0 8 , S. 105f.; Nr. 28 vom 1 5 . 0 7 . 1 8 0 8 , S. 109f.; Nr. 29 vom 2 2 . 0 7 . 1 8 0 8 , S. 113f.; Nr. 30 vom 29. 07. 1808, S. 1 1 7 - 1 1 9 ; Nr. 31 vom 05. 08. 1808, S. 1 2 1 - 1 2 3 ; Nr. 32 vom 12. 08. 1808, S. 125-127; Nr. 33 vom 19. 08. 1808, S. 1 2 9 - 1 3 1 ; Nr. 34 vom 26. 08.1808, S. 133f. Vgl. die Tabelle 5. Die Ziffern geben die Zeilenzahl für die Nummern 15 und 16 der angegebenen Jahrgänge an, wodurch also keine absolute Repräsentativität gewährleistet ist, tendenzielle Aussagen jedoch möglich sind.
dem gesellschaftlichen
Lehen der Menschen zur
Aufnahme«
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geber in hohem Maße für Bildung, Aufklärung und politische Information der Leserschaft zuständig fühlten. Das Anzeigenwesen hingegen spielte hier von Anfang an eine Nebenrolle, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Vermutlich wollte man in Greiz mit Annoncen, Marktpreisen und Personalnachrichten sowie mit gelegentlichen Informationen über amtliche Bekanntmachungen, Lotteriesachen, Geldkurse und meteorologische Dinge dem Grundprofil der Intelligenzblätter jener Zeit gerecht werden. Das eigentliche Ziel bestand jedoch offensichtlich in der Etablierung einer lokalen und regionalen Öffentlichkeit und in einem damit verbundenen gelehrt-aufklärerischen, dabei aber populär ausgerichteten öffentlichen Diskurs. Der Regierungsantritt Heinrichs X I X . ä.L. zu Beginn des Jahres 1817 brachte für das Greizer Intelligenzblatt, das am 28. Februar 1817 letztmals in seiner bisherigen Gestalt erschien, 124 eine wichtige Veränderung. Unter dem gleichen Datum verkündete nämlich der neue Fürst: Zu Beförderung der Gemeinnützigkeit des hiesigen Intelligenz-Blattes finden Wir Uns bewogen, dasselbe zum Amts- und Verordnungs-Blatt dergestalt zu bestimmen, daß in demselben alle Landes-Gesetze, mit Ausnahme der für den Raum dieses Blattes etwa zu ausführlichen Verordnungen, nicht weniger alle und jede andere besonders polizeiliche Verfügungen, Anempfehl- und Warnungen zur zweckmäßig schleunig und möglichst allgemeinen Kenntnis des Publicums, im Abdruck erscheinen sollen.
Ferner ordnete er an: So wie nun dieses Blatt bereits ohnehin von Unsern Administrativen Behörden gehalten wird, also verstehen wir uns gnädigst, daß ein gleiches, sofern es nicht bereits geschehen, nunmehro von den Patrimonial-Gerichten, auch wenigstens von den größeren Dorfgemeinden Unseres Landes beobachtet werde. 1 2 5
Damit wurde in Reuß-Greiz wie in einer Reihe weiterer thüringischer Staaten der Wandel vom ursprünglichen Intelligenzblatt zum offiziellen Regierungsblatt vollzogen. 126 Seit dem 7. März 1817 erschien das Fürstlich Reuß-Plauische Amtsund Verordnungs-Blatt, das neben den allgemeinen Bekanntmachungen regelmäßig Mandate, Verordnungen, Verfügungen und die sonstigen amtlichen Bestimmungen publizierte. Daneben wurde jedoch eine Reihe der bisherigen Rubriken beibehalten, so daß sich in dem Blatt nach wie vor auch Personenstandsanzeigen, allgemein-praktische Hinweise, Getreide- und Lebensmittelpreise sowie nicht zuletzt diverse erbauliche Aufsätze und literarische Texte finden. Trotz des nunmehr offiziellen Status' behielt man damit in Greiz, im Gegensatz zu vielen anderen Amts- und Regierungsblättern, den bisherigen Intelligenzblattcharakter für relativ lange Zeit noch weitgehend bei. Das Blatt kam weiterhin einmal pro Woche im Umfang von vier Quartseiten im Verlag der Hofbuchdruckerei heraus. Im Jahre 1856 änderte es den Titel in Fürstlich Reuß-Plauisches Amts- und Nachrichtshlatt, 124 125 126
Vgl. Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenz-Blatt, Nr. 9 vom 28. 02. 1817. Fürstl. Reuß-Plauisches Amts- und Verordnungs-Blatt, Nr. 10 vom 07. 03. 1817, S. 1. Vgl. Tabelle 8.
Werner Greiling
30 u m dann 1891 z u m ursprünglichen N a m e n Fürstlich Verordnungsblatt
Reuß-Plauiscbes
Amts-
zurückzukehren. Mit der Auflösung des Fürstentums
und Reuß
älterer Linie im Jahre 1918 stellte auch das ehemalige Intelligenz- und spätere Regierungsblatt sein Erscheinen ein. 1 2 7
6. Das Lesepublikum D i e Adressaten der Intelligenzblätter entstammten allen sozialen Schichten. A u s drücklich richteten sie sich auch an unterbürgerliche Kreise, an die ländliche B e völkerung und an städtische Unterschichten. Das Wirtshaus, die Gemeinde und die abendliche gesellige Runde boten Möglichkeiten zu gleichsam »kollektiver« Lektüre. Dies erfolgte auch und gerade dort, w o die Alphabetisierung bislang nur Teile der Bevölkerung erfaßt hatte. 1 2 8 D e r Gastwirt, der Pfarrer, ein Dorfschreiber o d e r der Schulmeister übernahmen häufig die Rolle eines Vorlesers, ganz gleich o b es sich bei den Periodika u m Zeitschriften, Zeitungen oder eben u m Intelligenzblätter handelte. In den Gasthöfen [...] ist die einzige und liebste Art der Unterhaltung die ekelhafteste politische Kannegießerei. Gewöhnlich tritt ein Sprecher dieser Parlamenter auf, liest eine oder mehr Zeitungen vor, und illustriert jede Zeile mit hochweisen Anmerkungen. Dies ist nun Feuer ins Pulver. Im Augenblick ergreift die Wut zu kannegießern die ganze ehrsame Gesellschaft, es wird berechnet, wieviel die Nationalversammlung alle Tage koste, wieviel der König von Frankreich alle Tage zu verzehren habe usw. Leidenschaftlich schwellen die Adern der Streiter, und eine dickere Rauchwolke steigt aus ihren Pfeifen. Aristocraten und Democraten, Royalisten und Nonkisten stehen Mann für Mann, und nicht selten mußten schon die Köpfe der Gegenparthey das politische Gleichgewicht von Europa sehr handgreiflich empfinden. 129 So spottete 1792 G e o r g Friedrich R e b m a n n über diese A r t gemeinschaftlicher Zeitungsrezeption. U n d auch Joachim v o n Schwarzkopf berichtete fast zeitgleich v o m e n o r m gewachsenen »Deutschen Lesetrieb«. »In den Dorfschenken und Werkstätten, in der Säbeltasche des Kammerhusaren und in dem Reifrocke der Zofe, findet man Z e i t u n g e n . « 1 3 0 Intelligenzblätter stellten dabei ein M e d i u m dar, das tatsächlich breiteste, sozial differenzierte Kreise erreichte. Als 1811 in Sachs e n · Weimar-Eisenach für alle Gemeinden ein Zwangsabonnement des inzwischen 127
128
129
130
Vgl. Werner Querfeld: Kultur- und Vereinsleben in der Stadt Greiz (Anm. 102), S. X X I I I und S. 105. Auf die Problematik von Alphabetisierung bzw. »Literarisierung« im 18. und 19. Jahrhundert kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Vgl. Etienne François: Alphabetisierung und Lesefähigkeit in Frankreich und Deutschland um 1800. In: Helmut Berding/Etienne François/Hans-Peter Ullmann (Hg.): Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 4 0 7 - 4 2 5 (mit weiterführender Literatur). Georg Friedrich Rebmann: Briefe über Erlangen, Bd. 1. Frankfurt, Leipzig 1792, S. 139f. Joachim von Schwarzkopf: Ueber Zeitungen (Anm. 82), S. 75f.
»... dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme«
31
Tabelle 6: Intelligenzblätter in Thüringen (Auswahl) Verkaufspreis pro Ausgabe/Quartal Altenburg Arnstadt Coburg Eisenach Erfurt Frankenhausen Greiz Hildburghausen Jena Lobenstein Meiningen Mühlhausen Nordhausen Rudolstadt Weimar (1734) Weimar (1755)
1 GGr. 3 Pf. 6 Pf. 1 Kr. 3 Pf. 1 GGr. 6 Pf. [4 Pf.] [7 Pf.] [6 Pf.] 4 Pf. 6 Pf. 4 Pf. 3 Pf. 1 GGr. 3 Pf.
8 3 4 10 3 11
GGr. GGr. GGr. Kr. GGr. GGr.
[4 8 [6 3 4 4 3
GGr.]* GGr. GGr.]* GGr. GGr. GGr. GGr.
* Diese Zahlen sind auf eine Ausgabe und ein Quartal umgerechnet. Die originale Angabe lautet 8 Gute Groschen pro Halbjahr. ** Die originale Angabe lautet 1 Taler pro Jahrgang. Umrechnung: 1 Reichstaler = 24 Groschen à 12 Pfennige
halboffiziösen Weimarischen Wochenblatts eingeführt wurde, verfügte die herzogliche Regierung ausdrücklich: »Ein Schultheiß oder Vorsteher jeden Orts soll das Wochenblatt in einer Gemeindeversammlung deutlich vorlesen oder vorlesen las131
sen.« Schließlich kam einer breiten Rezeption auch der Kaufpreis der Intelligenzblätter entgegen. Er lag im allgemeinen zwischen drei und sechs Pfennigen pro Ausgabe. 132 Da man davon ausgehen kann, daß oftmals mehrere Familien das Blatt gemeinsam hielten, war es praktisch für jeden Interessenten erschwinglich. Das Greizer Intelligenzblatt mit dem relativ hohen Stückpreis von sechs Pfennigen wies in seiner ersten Ausgabe ausdrücklich auf die Möglichkeit einer solchen »kollektiven« Lektüre hin: »Wer das Blatt nicht eigenthümlich behalten kann, sondern im Umlauf nach Zeitungsart nur Lesen will, zahlet wöchentlich nur 3 Pfennige; und wird zu schleuniger Beförderung jede Gesellschaft oder Rolle nicht mehr als 8 Mann halten.« 133
131 132 133
Weimarisches Wochenblatt, Nr. 1 vom 02. 01. 1811, S. 1. Vgl. Tabelle 6. Probe zu einem Greizer Intelligenz-Blatt, Nr. 1 vom 21. 05. 1774, S. 4.
32
Werner
7. Akteure
des
Greiling
Intelligenzwesens
Herausgeber und Redakteure von Intelligenzblättern erlangten nur in wenigen Fällen überregionale Bekannt- oder gar Berühmtheit. Männer wie der Hallenser Universitätskanzler Johann Peter von Ludewig, dessen Wöchentliche Hallische Frage- und Anzeigungs-Nachrichten seit 1729 vielen späteren IntelligenzblattGründungen zum Vorbild dienten und die auch in Thüringen eifrig rezipiert wurden, Justus Moser als Redakteur der Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen134 und Christian Wilhelm von Dohm als Beiträger an den Lippischen Intelligenzblättern135 sind allesamt eher die Ausnahmen von der Regel. In Thüringen gehören die Herausgeber und Redakteure der Intelligenzblätter eher in die zweite oder gar dritte Reihe gebildeter Publizisten. Dennoch ist ihre soziale Physiognomie, soweit sie sich heute noch ermitteln läßt, durchaus von Interesse. 136 Tabelle 7: Akteure des Intelligenzwesens in Thüringen Staatliche Beamte Geistliche Lehrer Freiberufler Verleger/Buchhändler
11 4 1 (7)9 8
Das »Personal« der thüringischen Intelligenzblätter ist schon insofern uneinheitlich, da sich die Profile der Blätter zum Teil erheblich voneinander unterschieden und auch die Aufgabenbereiche, welche Herausgeber bzw. Redakteure zu bewältigen hatten, keineswegs einheitlich waren. Das breite Spektrum zwischen Anzeigenannahme und Verbreitung der Viktualienpreise, Mitteilung obrigkeitlicher Verfügungen und politischen Nachrichten, literarischen Beiträgen und aufklärerischem Räsonnement erforderte eine vielseitige Persönlichkeit mit Organisationstalent und Pragmatismus. Je nach örtlicher Situation mußte der Herausgeber bzw. der Redakteur auch im Intelligenz-Comptoir präsent sein. Oftmals widmete sich dieser mehr praktischen Seite des Unternehmens jedoch der Verleger des Blattes, der im »Hauptberuf« meist Drucker oder Buchhändler war. 137 Das redaktionelle »Personal« des thüringischen Intelligenzwesens ähnelt in seiner sozialen Struktur dem des Zeitschriftenwesens überhaupt. Dabei sind im wesentlichen vier Gruppierungen auszumachen, nämlich die mittlere Beamtenschaft, die Geistlichkeit, Buchhändler und Freiberufler. 138 Die beim Zeitschriftenwesen 134 135 136
137
138
Vgl. Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815 (Anm. 39), S. 253. Vgl. Friedrich Huneke: Die »Lippischen Intelligenzblätter« (Anm. 35), bes. S. 81ff. Das biographische Material zum thüringischen Intelligenzwesen konnte infolge des unbefriedigenden Forschungsstandes nicht komplett zusammengetragen werden. Dennoch sind die Aussagen in ihrer Grundtendenz gesichert. Druck und Verlag der Intelligenzblätter waren in den thüringischen Kleinstaaten oft noch in einer Hand vereint. Vgl. die Tabelle 7.
dem gesellschaftlichen
Leben
der Menschen zur
Aufnahme«
33
in Thüringen quantitativ äußerst große Gruppe der Universitätsprofessoren fehlt hier völlig. Buchhändler bzw. Verleger waren selbstverständlich in noch weitaus größerer Anzahl an den meisten Intelligenzblättern in Thüringen beteiligt. Da jedoch kaum zu ermitteln ist, inwieweit sie im konkreten Fall auch Redaktionsarbeit leisteten, sind hier nur diejenigen einbezogen, die sich ausdrücklich auch als Herausgeber verstanden. Wenngleich sich unter den Akteuren des thüringischen Intelligenzwesens keine großen Namen wie Dohm oder Moser befinden, handelt es sich doch keineswegs um Männer, welche nur die merkantile Seite des Intelligenzwesens im Blick hatten oder die bestenfalls als Gelegenheitsjournalisten arbeiteten. Einige von ihnen überschritten den Horizont der kleinstaatlichen »Provinz« durchaus und entwikkelten neben ihrem »Hauptberuf« und neben der Mitarbeit am Intelligenzblatt auch weitergehende publizistische Aktivitäten. Diese gingen mitunter weit über den Rahmen jener kleinen thüringischen Städte, die Erscheinungsorte von Intelligenzblättern waren, hinaus. In einigen Fällen handelt es sich um Gebildete, die mit großer Selbstverständlichkeit und zum Teil mit beachtlicher Produktivität am zeitgenössischen öffentlichen Diskurs teilnahmen. Sie arbeiteten an den Periodika anderer Herausgeber mit, legten selbständige Publikationen vor und fungierten gleichsam als Vermittler zwischen dem Diskurs in nationaler Dimension und jenem, den sie mit dem Intelligenzblatt in lokaler und ansatzweise in regionaler Ausweitung ausgeprägt und mitgestaltet hatten. Männer wie Johann Friedrich Brömel, Hermann Christoph Gottfried Demme, Christian August Hankel und Johann Carl Eberhard sind fast völlig in Vergessenheit geraten. Sie trugen jedoch zur Etablierung von Öffentlichkeit in Thüringen und zur Verbreitung von aufklärerischem Gedankengut Erhebliches bei. Deshalb seien hier knappe bio-bibliographische Daten beigefügt, die einige Redakteure bzw. Herausgeber thüringischer Intelligenzblätter in einem recht interessanten Licht erscheinen lassen. Hermann Christoph Demme (1760-1822) aus Mühlhausen studierte in Jena und Leipzig Theologie und Philosophie. 139 Im Jahre 1785 wurde er in seiner Vaterstadt Subkonrektor am Gymnasium, 1796 wurde er zum Pfarrer ordiniert und wenig später Superintendent. Im Jahre 1801 avancierte Demme zum Generalsuperintendenten des Herzogtums Altenburg. Schon 1787, also noch in seiner Mühlhäuser Zeit, wurde Demme als besuchender Bruder im dritten Grad Mitglied der Gothaer »Loge zum Rautenkranz«. Das Mühlhäusische Wochenblatt war in den ersten drei Jahrzehnten seiner Existenz wenig profiliert. »Obrigkeitliche Bekanntmachungen, geschäftliche Anzei-
139
Vgl. Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland, Bd. 2, Lemgo 1796, S. 36; Bd. 9, Lemgo 1801, S. 233; Bd. 13, Lemgo 1808, S. 266; Bd. 17, Lemgo 1820, S. 397; Bd. 22, Lemgo 1829, S. 592f.; Reinhart Siegert: Artikel »Demme«. In: Walther Killy (Hg.): Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 3, München, Gütersloh 1989, S. 23.
34
Werner
Greiling
gen und Nachrichten von den neuesten Weltereignissen hatten beinahe den ganzen Raum gefüllt«, da »das >Wochenblatt< eigentlich nur ein Unternehmen des Buchdruckers war, der auf Mitarbeit aus der Bürgerschaft nicht zählen konnte.« 140 Als Demme die Redaktion des Blattes übernahm, änderte er nicht nur den Namen in Neues Mühlhäusisches Wochenblatt, sondern er hegte zugleich den Plan, dieses zu einem Mittelpunkt des geistigen Lebens in der Freien Reichsstadt zu machen. Das Intelligenzblatt sollte in Mühlhausen also jene Rolle spielen, die diverse gelehrte Zeitschriften und aufklärerische Journale in der Öffentlichkeit Deutschlands bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten einnahmen. Dazu wurden der Umfang von vier auf acht Seiten erweitert, die eigentlichen Intelligenznachrichten enger gedruckt und Aufsätze zu unterschiedlichsten Fragen des Lebens sowie Texte zur Belehrung der Leserschaft eingerückt. Obwohl Demme seine Herausgeberschaft durch die Beförderung zum Superintendenten schon nach einem Jahr wieder aufgab, gebührt ihm das Verdienst, »das Blatt auf eine gewisse geistige Höhe gebracht« zu haben.141 In seinen geistlichen Amtern, die er ausübte, setzte Demme mancherlei Neuerungen im Kirchen- und Schulwesen durch. Als Autor hatte er sich nicht nur am »Mühlhäusischen Wochenblatt« beteiligt, sondern eine weit darüber hinausgehende publizistische Tätigkeit entfaltet. Darin zeigt er sich »als markanter, dabei maßvoller u. toleranter Vertreter der protestantischen Aufklärung«. 142 Er war Mitarbeiter diverser Periodika, unter ihnen Beckers Reichs-Anzeiger, die Nationalzeitung der Teutschen, Wielands Der Te utsehe Merkur, Bertuchs Journal des Luxus und der Moden sowie das Magazin für Prediger,143 Als Hauptwerk Demmes gilt Der Pächter Martin und Sein Vater.144 Diese anonym erschienene Arbeit erlebte mehrere Auflagen und stellt eine Sammlung von Reflexionen, moralischen Geschichten und Gedichten dar. Unter der Vielzahl der abgehandelten Themen finden sich unter anderem ausführliche Überlegungen zu einer »Gesellschaft freier Männer«. Diese war aufklärerischen Prinzipien wie Geselligkeit und Nützlichkeit verpflichtet. Die Organisation erfolgte nach demokratischen Regeln. Es herrschte Gleichberechtigung aller Mitglieder, und der Vorstand wurde in geheimer Wahl bestimmt.145 Neben dem Pächter Martin erschienen ebenfalls anonym oder unter dem Pseudonym Karl Stille eine ganze Reihe
140
141 142
143
144
145
Wilhelm Wintruff: Die Anfänge des Mühlhäuser Zeitungswesens, in: Mühlhäuser A n zeiger, 21. 11. 1913. Ebd. Reinhart Siegert: Artikel »Demme«. In: Walther Killy (Hg.): Literatur-Lexikon (Anm. 139), Bd. 3, S. 23. Eine Auflistung der Aufsätze bei Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland (Vgl. Anm. 140). [Hermann Christoph Gottfried Demme]: Der Pächter Martin und Sein Vater. 2 Bde. Leipzig 1792/93. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 1 2 2 - 1 7 2 .
»... dem gesellschaftlichen
Leben
der Menschen
zur
Aufnahme«
35
weiterer Schriften, 146 mit denen Demme bei den Zeitgenossen beachtlichen Erfolg hatte. 147 Auch als Generalsuperintendent strebte Demme eine weitreichende gesellschaftliche Wirksamkeit an. Ein Beispiel hierfür ist die am 22. 10. 1805 gehaltene und unmittelbar danach publizierte »Predigt bey Eröffnung des Landtags zu Altenburg«. Darin begrüßte er die Abgeordneten ausdrücklich als Männer, die »das Recht und die Pflicht haben, im Namen des Volks, als seine Stellvertreter, zu sprechen«. 148 In einer Mischung aus religiöser Ermahnung und philosophisch-politischer Reflexion sprach er dann den Vertretern der Stände ins Gewissen und warnte nachdrücklich davor, daß »Laune und Willkür an die Stelle der Gesetze träten«. »Ist hingegen der Staat, was er sein sollte, bemühen sich Regenten und Untertanen, Obere und Untergebene, ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, herrscht unparteiische Gerechtigkeit im Lande, ist das Gesetz über Alle, muß jeder ohne Ausnahme vor der Heiligkeit des Gesetzes sich beugen, sind eines jeden Rechte möglichst gesichert, sucht man zu verbessern, was der Verbesserung bedarf, und so die gemeinschaftliche Wohlfahrt immer vester zu begründen: wer wollte dann nicht gern Mitglied eines solchen Staats sein? - und wer wollte nicht willig und freudig an seinem Teile beitragen, daß der Zweck geselliger Verbindung immer vollkommener erreicht werde?« 149 Johann Friedrich Brömel (1743 —18 1 9), 150 Fürstlich Lobensteinischer und Gräflich Ebersdorfischer gemeinschaftlicher Superintendent sowie Pastor primarius in Lobenstein, war Herausgeber des dortigen Intelligenzblattes. Er trat außerdem mit mehreren belletristischen Schriften hervor, worunter sich ein Singspiel befand, 151 er publizierte Texte zur Bildung der Jugend 152 und verfaßte zahlreiche 146
Vgl. u. a. [Hermann Christoph Gottfried Demme]: Karl Stille's Erzählungen, 2 Bde., Riga 1792/93; [Hermann Christoph Gottfried Demme]: Sechs Jahre aus Carl Burgfeld's Leben. Freundschaft, Liebe und Orden, von dem Verfasser des Pächter Martins, Leipzig 1793; Hermann Christoph Gottfried Demme: Pächter Martin und die moralische Anwendung der Französischen Revolution; nebst Anhang über die Abschaffung der französischen Sprache im gemeinen Leben, und eine Elegie, Göttingen 1796; Hermann Christoph Gottfried Demme: Abendstunden im Familienkreise gebildeter und guter Menschen, 2 Bde., Gotha 1804/05.
Vgl. Alexandra Schlingensiepen-Pogge: Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungstheologie am Vorabend der Industriellen Revolution, Göttingen, Berlin, Frankfurt/M. 1967. 1 4 8 Hermann Gottfried Demme: Predigt bey Eröffnung des Landtags zu Altenburg am 22sten October 1805. Altenburg 1805, S. 5f. 1 4 9 Ebd., S. 27. In seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte er fast nur noch theologische Schriften. Vgl. u. a. Hermann Gottfried Demme: Neun Reden zur Todtenfeyer in Altenburg. Gotha 1817. 150 Ygi Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland, Bd. 1, Lemgo 1796, S. 448f.; Bd. 13, Lemgo 1808, S. 177. 151 Vgl. Johann Friedrich Brömel: Hermione; ein Singspiel in fünf Aufzügen, Nürnberg 1778; Johann Friedrich Brömel: Nichts oder Etwas, nachdem es dem geneigten Leser beliebt, Leipzig/Schleiz 1780. 152 Vgl. Johann Friedrich Brömel: Dialogen; ein Beytrag zur Bildung der Jugend. 2 Bde., Nürnberg 1779/80. 147
Werner Greiling
36
historische Arbeiten. Letztere veröffentlichte er in seinem Intelligenzblatt. 153 Darüber hinaus wirkte auch Johann Friedrich Brömel an diversen Zeitschriften mit,
zu denen die Nationalzeitung der Teutschen und die Sächsischen
Provinzialblätter
zählten. 1 5 4 Christian August Hankel (1729-1808) aus Frankenhausen, der es zum Fürstlich Schwarzburg-Rudolstädtischen Hof- und Konsistorialrat in seiner Heimatstadt brachte, 1 5 5 legte neben seiner Arbeit am Intelligenzblatt, das er lange Zeit leitete, ebenfalls mehrere selbständige Schriften vor. Darin behandelte er vorwiegend religiöse Themen. 1 5 6 Zudem steuerte Hankel Aufsätze, Gedichte und Rezensionen zu diversen Zeitschriften bei. Und Johann Karl Eberhard (um 1 7 2 0 - 1 8 0 1 ) schließlich, Assessor am Schwarzburg-Sondershäusischen Konsistorium in Arnstadt, 1 5 7 war Herausgeber der Arnstädtischen wöchentlichen Anzeigen und Nachrichten, aber auch Verfasser selbständig erschienener belletristischer und belehrender Texte. 1 5 8 Auch im thüringischen Intelligenzwesen ist also der Typ des »mittleren Gebildeten« aktiv, der seinen Lebensunterhalt als Beamter, als Geistlicher oder als Schullehrer sicherte, jedoch durchaus auch weitergehende, über den Horizont der eigenen Existenz hinausreichende publizistische Ambitionen hegte. Als Schriftsteller und Journalisten gehörten sie meist in die zweite oder gar dritte Reihe. Sie waren Repräsentanten einer gemäßigten, auf die unteren und mittleren Schichten des Volkes gerichteten Aufklärung. Mit vielfältigen Verbindungen zu anderen Autoren, zu Verlegern, Buchhändlern und Zeitschriftenherausgebern zählten sie zu dem sich immer weiter verdichtenden Netz einer literarisch-publizistischen Öffentlichkeit, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Thüringen ausprägte und die in der Folge Anzeichen einer deutlich zunehmenden Politisierung zeigte.
153
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158
Vgl. Allgemeines Register über alles zur Reußischen Geschichte Gehörige in den 22 Jahrgängen des Lobensteinischen Intelligenzblattes, in: Lobensteinisches Intelligenzblatt, 52. Stück vom 28. 12. 1805, S. 211ff. Vgl. Sächsische Provinzialblätter. Hg. von Friedrich Graf von Beust, Leipzig 1797ff.; Altenburg 1 8 0 0 - 1 8 0 3 . Vgl. Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland, Bd. 3. Lemgo 1797, S. 72f. Vgl. Christian August Hankel: Betrachtungen über die Spuren der göttlichen Vorsehung bey den ehelichen Verbindungen, Frankenhausen 1754; Christian August Hankel: Versuch, einige in dem Stammbaume der hochadelichen Familie von Kettelhodt vorkommende alte Würden zu erläutern, Frankenhausen 1770. Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland. Bd. 2. Lemgo 1796, S. 131; Bd. 9. Lemgo 1801, S. 266. Vgl. Johann Karl Eberhard: Der teutschen Banise sonderbare Lebensgeschichte, Leipzig 1752; Johann Karl Eberhard: Naturgeschichte der Spann- und Blüthraupe, Arnstadt 1796.
»... dem gesellschaftlichen
Leben
der Menschen zur
Aufnahme«
37
8. Ausblick Im 18. und frühen 19. Jahrhundert haben die Intelligenzblätter innerhalb des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens der Region Thüringen einen spezifischen, gleichberechtigten Platz eingenommen. 159 Eine Ursache für den vergleichsweise hohen Anteil an politischer Berichterstattung ist darin zu suchen, daß in Thüringen keine wirklich wichtigen, überregional verbreiteten politischen Zeitungen verlegt wurden. Eine gewisse Ausnahme stellt lediglich die Gothaische privilegierte Zeitung dar, die seit 1691 erschien. 160 Die Jenaische Zeitung, bereits 1674 gegründet, doch überregional kaum verbreitet, verschmolz 1795 mit dem Jenaer Intelligenzblatt. 161 Den zahlreichen Zeitungsgründungen in Erfurt war kein dauerhafter Erfolg beschieden. 162 Andererseits jedoch brachte die Region Thüringen ein reichhaltiges Zeitschriftenwesen hervor. Städte wie Jena, Erfurt, Gotha, Weimar und Altenburg hatten als Verlagsorte auch überregional einen guten Klang. Von den Anfängen bis 1830 kamen hier annähernd 500 Zeitschriften heraus, 163 von kurzlebigen, wenig erfolgreichen Blättern bis zu solch berühmten und wichtigen Journalen wie Christoph Martin Wielands Der Teutsche Merkur oder die Allgemeine Literatur-Zeitung.164 Viele thüringische Zeitschriften haben die Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit in Deutschland wesentlich mitgeprägt. 165 Der thüringische Anteil am Gesamtkorpus deutscher Zeitschriften beträgt im Zeitraum bis 1830 etwa sieben Prozent, der Bevölkerungsanteil lag bei rund drei Prozent. Nun mag der heuristische Wert derartiger Zahlenspielereien begrenzt sein. Sie deuten jedoch zumindest an, daß sich in Thüringen auch »unterhalb« der klassischen Literatur eines Goethe
159
160
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162 163
164
165
Vgl. auch Holger Böning: Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung (Anm. 35), S. 32. Die von Böning bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts veranschlagte weitgehend ungeschmälerte Bedeutung der Intelligenzblätter kann für Thüringen allerdings nicht bestätigt werden. Vgl. ebd., S. 24. Verlegt von August Boetius, nach dessen Tod 1697 von seinem Schwiegersohn Jakob Mevius fortgeführt. Vgl. Erhardt Albert: Die Geschichte der Jenaischen Zeitung. Jena: Neuenhahn 1935, S. 39f. Vgl. Martin Wähler: Die Entwicklung des Erfurter Zeitungswesens. Erfurt 1920, S. 25. Vgl. Joachim Kirchner (Hg.): Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830 (Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes bis 1900 1). Stuttgart: Hiersemann 1969. Vgl. Paul Hocks/Peter Schmidt: Literarische und politische Zeitschriften 1 7 8 9 - 1 8 0 5 . Von der politischen zur Literaturrevolution. Stuttgart: Metzler 1975, S. 1 2 - 1 8 . Vgl. Franz Schneider: Pressefreiheit unf politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848 (Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft 24). Neuwied, Berlin: Hermann Luchterhand 1966, bes. S. 5 5 100; Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991 (Erstauflage: 1962); Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, bes. S. 2 6 8 - 2 8 9 .
38
Werner Greiling
Tabelle 8: Die Umwandlung thüringischer Intelligenzblätter in offiziöse Regierungsblätter (Auswahl) COBURG 1764 Coburger Wöchentliche Anzeige 1803 Coburger Wochenblatt 1807 ERFURT 1746 1769 1804 GOTHA 1751 1830 GREIZ 1774 1817
Herzoglich-Sachsen-Coburg-Saalfeldisches Regierungs- und Intelligenzblatt Wöchentlicher Erfurtischer Anfrag- und Nachrichten-Zettul Erfurthisches Intelligenz-Blatt Wöchentliches Erfurtisches Intelligenzblatt (preuß.) Wöchentliche Gothaische Anfragen und Nachrichten Regierungs- und Intelligenzblatt für das Herzogthum Gotha Gnädigst privilegirtes Greizer Intelligenzblatt Fürstlich Reuß-Plauisches Amts- und Verordnungs-Blatt
HILDBURGHAUSEN 1766 Hildburghäusische Wöchentliche Anzeigen 1810 Herzoglich Sächsisches Regierungs- und Intelligenzblatt LOBENSTEIN 1784 Lobensteinisches gemeinnütziges Intelligenzblatt (bis 1805) 1818 Gemeinnütziges Lobenstein= und Ebersdorfer Intelligenzblatt 1829 Amts- und Nachrichtenblatt für das Fürstentum Lobenstein und Ebersdorf MEININGEN 1763 Meiningische Wöchentliche Anfrage und Nachrichten 1826 Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt RUDOLSTADT 1769 Rudolstädtische Wöchentliche Anzeigen und Nachrichten 1809 Fürstlich Schwarzburg Rudolstädtisches gnädigst privilegirtes Wochenblatt SONDERSHAUSEN 1795 Wochenblatt für Schwarzburg-Sondershausen 1823 Regierungs- und Intelligenzblatt WEIMAR 1755 Wöchentliche Weimarische Anzeigen 1811 Weimarisches offizielles Wochenblatt 1817 Großherzogliches Sachsen-Weimar-Eisenachisches Regierungsblatt
und Schiller eine umfangreiche, qualifizierte und äußerst differenzierte literarischpublizistische Kultur entwickelt hatte. Im Gesamtkomplex des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens sind die Intelligenzblätter als eine eigenständige Gattung zu verorten, deren Exemplare je nach Spezifik Elemente der Zeitungen und Zeitschriften integrierten und im wesentlichen auf das lokale und regionale Umfeld ausgerichtet waren.
»... dem gesellschaftlichen
Lehen der Menschen zur
Aufnahme«
39
Der dramatische Veränderungsprozeß, dem die ständische Gesellschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unterworfen war, führte letztlich auch in Thüringen zur Ausprägung der bürgerlichen Gesellschaft. Doch auch in dieser Region verlief die Entwicklung durchaus widersprüchlich. Sie vollzog sich auf verschiedenen Ebenen und erlitt auch Rückschläge. Ein Beispiel dafür sind die »Provisorischen Bestimmungen hinsichtlich der Freiheit der Presse« 166 vom September 1819 als Teil der sogenannten »Karlsbader Beschlüsse«. Vorher war Pressefreiheit in mehreren thüringischen Staaten für kurze Zeit faktisch realisiert, in Sachsen-WeimarEisenach durch die Verfassung von 1816 sogar garantiert worden. 167 Die Entwicklung und Modernisierung der Gesellschaft ließ sich durch die Karlsbader Beschlüsse jedoch nicht mehr aufhalten, auch nicht in der kleinstaatlich strukturierten und ländlich-kleinstädtisch geprägten Welt Thüringens. Die hiesigen Intelligenzblätter wurden zwischen 1800 und 1830 in offizielle Regierungsblätter umgewandelt, sie wurden gleichsam domestiziert. 168 Für den aufklärerischen öffentlichen Diskurs verloren sie damit weitgehend ihre Bedeutung. Dagegen wurde ihr Status offiziell weiter aufgewertet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jedoch hatten sie den gesellschaftlichen Gestaltwandel in Thüringen nicht nur begleitet und widergespiegelt, sondern auch nachhaltig befördert. In Thüringen waren es ganz zweifellos zum beträchtlichen Teil die Intelligenzblätter, die den selbst bei unteren Schichten von Joachim von Schwarzkopf konstatierten »Lesetrieb« 169 im ausgehenden 18. Jahrhundert befriedigten und dessen Resultate zu verantworten hatten. »Die Würkungen dieser Universal-Lectüre äussern sich in gesellschaftlichen und überhaupt in allen bürgerlichen Verhältnissen, und kaum kann man auf dieses Gemälde die Farben zu stark auftra-
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Vgl. Ernst Rudolf Huber (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1 8 0 3 - 1 8 5 0 . Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1978, S. 1 0 2 - 1 0 4 . Vgl. Grundgesetz über die landständische Verfassung des Großherzogthums SachsenWeimar-Eisenach vom 5. Mai 1816. In: Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hg.): Die Verfassungen des teutschen Staatenbundes seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit. Mit geschichtlichen Erläuterungen und Einleitungen, 2. Abtlg. Leipzig: Brockhaus 1847, S. 7 5 8 - 7 7 7 . Vgl. Tabelle 8. Joachim von Schwarzkopf: Ueber Zeitungen (Anm. 81), S. 74. Ebd., S. 76.
R E I N H A R T SIEGERT
Die Lesegewohnheiten des »gemeinen Mannes« um 1800 und die Anfänge von Volksbibliotheken"" Abstract Seit etwa 1780 wandten sich in Deutschland frühe Volksbibliotheken mit einem aufklärerischen Lesestoffangebot an den »gemeinen Mann«. Doch dieser war als Lesepublikum schon damals nicht so homogen, daß seine Leseinteressen mit einem Einfachstangebot wirklich hätten kanalisiert werden können. From about 1780 onwards, early public libraries offered a range of enlightening literature to the »common man«. But the »common men« comprising this readership were even at that time not so homogeneous and their reading interests could therefore not be formed by a selection of simple reading material.
0. Drei Fallbeispiele 0.1 David Claus 0.2 »Der Pfarrer in der Bauernstube« 0.3 Die vier »Gelehrten« 1. Die häusliche Bibliothek des »gemeinen Mannes« und seine Lesegewohnheiten 1.1 Buchbesitz bei den Protestanten 1.2 Buchbesitz bei den Katholiken 1.3 Die Bücher und ihr »Sitz im Leben« Zwischenbilanz: Volkslektüre in Deutschland am Ende des 18. Jhs. und die Chancen zur Einflußnahme durch Bibliotheken 2. Die Anfänge öffentlicher Bibliotheken für das »Volk« im Spiegel der volksaufklärerischen Literatur 2.1 Theorie und Utopie 2.2 Praktische Versuche
* Erweiterte Fassung des Vortrage »Bibliotheken in der Literatur der Volksaufklärung« beim Bibliothekshistorischen Seminar »Bibliotheken in der literarischen Darstellung/ Libraries in Literature« des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte, Wolfenbüttel, 10.-11. 10.1994.
Die Lesegewohnheiten 0. Drei
des »gemeinen
Mannes« um 1800
41
Fallbeispiele
0.1 David Clans Beginnen wir mit einem Bild, das typisch scheint für Rokoko und Schäferidylle. Es zeigt einen Hirten mit seiner Herde. Die Herde weidet friedlich; der Hirte sitzt im Schatten eines Baumes, den treuen Hund neben sich, und liest ein Buch. Vielleicht ist es Johann Kaspar Veithusens Taschengesangbuch für Hirten im freien Feld} . . . . Buchillustrationsidylle, könnte man meinen. Doch die Szene spielt nicht in Arkadien: im Hintergrund erblickt man die Domtürme von Halberstadt; es weiden keine herzigen Lämmlein, sondern ein kapitales Rind und eine Ziege; keine Schäferin weit und breit; und der Hirte sieht mit Regenhut und Gamaschen gar nicht nach anakreontischer Leichtigkeit des Lebens aus. Es handelt sich um einen ganz realen Hirten, David Klaus aus Halberstadt ( 1 7 1 8 - 1 7 9 3 ) , allerdings einen ungewöhnlichen Mann, so ungewöhnlich, daß der Halberstadter Pfarrer Johann Werner Streithorst ihm eine Monographie widmete. 2 David Klaus war selbst Sohn eines Hirten. Er hatte aber doch ordentlich die Schule besucht, und er las tatsächlich auf der Weide neben seiner Herde, 3 zunächst die Bücher seines Vaters, nämlich »Allerley Historienbücher, mitunter auch Romane«. 4 Er selbst brachte im Lauf seines Lebens eine Bibliothek von 1 1 0 0 - 1 2 0 0 Titeln zusammen, vor allem durch Kauf aus der Versteigerung von Nachlässen. So machten ihm Meiers, von Loens, Brockes und Hoffmannswaldaus Schriften, der Froschmäusler, die Geschichte der Schildbürger, Robinson Krusoe, Bücher, worin allerley Anecdoten enthalten waren, besonders die Gespräche im Reich der Todten viel Vergnügen. Die Geschichte zog ihn sehr an, besonders aber die Kirchen- und Gelehr-
1 2
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Johann Kaspar Veithusen: Liederverse, oder Taschengesangbuch für Hirten in freiem Feld (mehrere Auflagen vor 1812). Johann Werner Streithorst: David Klaus. Ein Sittenbuch für gute Leute in allen Ständen. Halberstadt: Streithorst/Waisenhaus 1796 [2.A. 1798, 3.A. 1841]; die Abbildung (Originalgröße 58 χ 24 mm) dort unter dem Frontispiz-Porträt. Das Lesen neben dem Viehhüten ist uns auch aus Jakob Bosshards Autobiographie (1804/1810, vgl. Anm. 41) und der Biographie von Anna Louisa Karsch (1792) bekannt; der Hirte Valentin Jameray hatte ein Faible für Landkarten. Der Pädagoge Snethlage behauptet gar 1799 von seiner Muster-Inspektion Lienen bei Osnabrück: »Gehen dann die Kinder zum Viehhüten heraus, so nehmen sie allenthalben ihr Buch mit. Und so sehe und höre ich sie in der ganzen Gemeinde, wohin ich komme, in den Wiesen und Kämpen [Flurstücken] mit ihren Büchern gehen und lesen, und wo mehrere zusammen sind, sich einander aufsagen und corrigiren.« - Eine interessante frühe Darstellung in der Bildenden Kunst findet sich bei Walther Killy (Hg.): LiteraturLexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 14. Gütersloh, München: Bertelsmann 1993, S. 259: »Lesende Hirtin. Kupferstich von Johann Daniel Herz d.J. (vermutlich kurz nach 1755)«, schon damals mit der aufklärerischen Bildunterschrift: »Wann Esel, Ochß und Schaf im kühlen Schatten stehn,/Und bey dem klaren Bach der stillen Ruh genießen, /Pfleg ich mir meine Zeit durch lesen zu versüßen, /Um nicht in gleichem Paar mit meinem Vieh zu gehn.« Streithorst: Klaus, 1796 (Anm. 2), S. 4.
Reinhart
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Siegert
tengeschichte. [...]. Seine Hauptbücher in diesem Fach waren Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, und Jöchers Gelehrtenlexikon. 5
Prunkstück seiner Bibliothek war jedoch die berühmte 8-bändige Berleburger Bibel, eine Bibelausgabe, die wegen ihrer spekulativen und sektiererischen Kommentare berüchtigt ist.6 Als David Klaus seinen Mittelsmann zur Auktion schickte, muß ihm zumute gewesen sein wie einem Bibliotheksdirektor, der heute ein Gebot für eine Gutenberg-Bibel abgibt: er gab dafür zwei Jahresgehälter aus. Und damit nicht genug: für seine todkranke Schwester erstand er ein zweites Exemplar, damit sie das geschätzte Werk in ihrem schwerem Krankenlager stets zur Hand habe. Die Berleburger Bibel war zwar nicht gerade ein Werk, das aufklärerische Volksbildungsfreunde gern in der Hand »lesender Landleute«7 sahen, aber Klaus' Seelenhirte und Biograph Streithorst konnte zur Lektürewirkung versöhnlich anmerken: So sehr ich überzeugt bin, daß eine deutliche Erkenntniß der Religion weit vorzuziehen, und eine bilderreiche Religionslehre nicht anzurathen ist, so hat mich doch das Exempel dieses Mannes, wie so manches andre, gelehrt, daß die Wahrheit auch unter dieser oder jener Hülle sehr wirksam seyn kann, wenn nur alles aufs Praktische oder auf die Ausübung angelegt ist; daher man vorsichtig in seinem Urtheil über Andersdenkende seyn muß. 8
David Claus las nicht nur für sich und exzerpierte aus Büchern, er suchte die Buchkultur auch zu verbreiten, indem er Bücher verschenkte oder unter seinem Ankaufspreis weiterverkaufte. Im Ruhestand fungierte er als Vorleser im Halberstadter Altersheim; die Lektüre dafür wählte er mit Sorgfalt aus und schaffte sie oft auf eigene Kosten an. Zu Recht konnte sein Biograph von ihm sagen: »Welch ein Mann im groben Kittel!« 9 0.2 »Der Pfarrer
in der
Bauernstube«
Der Pfarrer kommt an einem Wintertag in eine Bauernstube; alles arbeitet (spinnt). Pfar. >Da sehe ich ja auch ein Buch. Muß etwa die, die dabei sitzet, hieraus den anderen vorlesen?< Bauer. >Kennen eure Hochwürden die alte Salome nicht? Die ist die Vorlese5 6
7
8 9
Ebd., S. 8f. Vgl. Theologisches Handwörterbuch (Calwer Kirchenlexikon). Bd. 1. Calw, Stuttgart: Vereinsbuchhandlung 1891, S. 183. Reinhard Wittmann: Der lesende Landmann. Zur Rezeption aufklärerischer Bemühungen durch die bäuerliche Bevölkerung im 18. Jh. In: Der Bauer Mittel- und Osteuropas im sozioökonomischen Wandel des 18. und 19. Jhs. [...]. Hg. von Dan Berindei [u.a.]. (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, [Bd. 2]) Köln, Wien: Böhlau 1973, S. 142-196; später auch in Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jh. Tübingen: Niemeyer 1982, S. 1 - 4 5 . Streithorst: Klaus, 1796 (Anm. 2), S. 7. Ebd., S. 59.
Die Lesegewohnheiten
des »gemeinen
Mannes«
um
1800
43
rinn [...]; bei Tage giebt sie mir wohl recht auf meine kleinefn] Kinder acht, und Abends im Winter liest sie immer fleißig den übrigen bei der Arbeit vor.< Pfar. >Was ist denn das für ein Buch, aus welchem sie vorliest?< Bauer. >Sie hat uns das Buch selbst in das Haus gebracht. Es ist eine Legende der Heiligen.« Pfar. >Ich sehe es schon. Es ist die Legende des Paters Ribadeneira. Woher hast denn du das Buch bekommen, Salome ?< Salome. >Ich habe es von meinen Aeltern geerbt, die es sich auf Anrathen eines Paters Missionarius angeschaft haben.< Natürlich sind die wundersamen Heiligenlegenden des Paters Ribadeneira (SJ, 1 5 2 6 - 1 6 1 1 ) nicht gerade das, was der aufgeklärte Pfarrer für zeitgemäß hält. E r verwendet den ganzen Abend darauf, die Bauernfamilie zu vernünftigerer L e k t ü r e zu bringen, insbesondere den im nächsten Kloster v o m Legendenlesen (auch d o r t liegen in der Gesindestube als einziges B u c h Ribadeneiras Heiligenlegenden aus) verdorbenen Knecht. Z u m Glück k o m m e n ihm Bauer und Bäuerin zu Hilfe: Bauer. >Eure Hochwürden Herr Pfarrer sagen gerade das, was ich der Salome schon so oft gesagt habe. Ich habe auch schon oft gesagt, daß mir ein anderes Buch lieber wäre. Es kommen ja in diesem Buche einige Sachen vor, die man kaum glauben kann. Das weiß ich, daß mich mein Pfleger in Arrest, oder in das Spital stecken ließe, wenn ich das eine und das andere nachahmen wollte, was darinn von einigen Heiligen geschrieben steht. [.. .].< Bäurinn. >Mir kömmt allzuoft darinn etwas vor, was ich nicht hätte laut lesen lassen, wenn ich es ehe gewußt hätte; weil es gar so unsauberlich beschrieben ist. Auf Kinder muß man ohnehin Acht haben, daß sie sich nichts solches merken. Es ist aber weiter für die erwachsenen Purschen und Dirnen gar nicht nützlich, wenn ihnen die Exempel so garstig daher erzählet werden.< Pfar. > 0 mein Bauer und meine Bäurinn! was habe ich für eine Freude, daß ihr so redet, und auf dieses Buch nicht viel haltet. Ich werde euch ein besseres Buch in die Stube stiften, welches ihr vorlesen lassen könnt.< 10 Diese Szene ist natürlich fiktional, und der A u t o r (selbst katholischer Geistlicher) macht das Glück des aufgeklärten Pfarrers perfekt, als er seinen bisher gänzlich buchbesitzlosen Bauern freudig ausrufen läßt: » F ü r solche Bücher ist mir kein Geld leid«. Realistisch dürfte jedoch die dargestellte Lesesituation sein. W i r finden hier jeweils ein interessiertes Zuhör-Publikum geschart u m eine laut vorgelesene E i n Buch-Bibliothek vor. Es gibt keine Lektüreauswahl und kein Entrinnen vor dem kollektiven Genuß. D e r Pfarrer des O r t s erscheint als Retter vor überaltertem Lesestoff - in dieser literarischen Fiktion.
0.3 Die vier
»Gelehrten«
In einer theologischen Zeitschrift derselben Zeit finden wir unter der Rubrik » P a storalkorrespondenz« den Bericht eines Landpfarrers: »Ich habe in meiner G e -
10
Josef Valentin Eybel: Die Heiligen nach den Volksbegriffen. Bd. 2. Leipzig: Rohrmoser und Bergmeister 1791: »IV. Der Pfarrer in der Bauernstube« (S. 2 8 3 - 3 6 1 ) , Zitate: S. 2 8 3 - 2 9 1 .
Reinhart Siegert
44
meine vier Bauren, welche das ganze D o r f nur die Gelehrten nennt, weil sie sich im Winter immer Bücher in der Stadt miethen, die sie des Abends gesellschaftlich lesen, und nach ihrer Art commentiren.« 11 Doch die Freude ihres Pfarrherrn über dieses Zeichen geistigen Interesses bleibt nicht ungetrübt: zu seinem Schrecken erfährt er, daß sie aus der Leihbücherei 12 die Briefe Uber die Bibel im Volkston von C . F. Bahrdt entliehen haben, ein Werk der radikalsten theologischen Aufklärung, das ihre Neugier reizt und das er ihnen nur unter Aufwand von viel Diplomatie und Pastoralklugheit entwinden kann. Drei Fälle - und ein weites Spektrum für Buchbesitz und Buchnutzung des »gemeinen Mannes«: vom Büchernarren aus der Unterschicht über die kollektiven Ein-Buch-Leser bis zu denen, die auf Bucheigentum verzichten konnten, nicht, weil sie so wenig lasen, sondern weil sie ihr extensives Leseinteresse durch gezielte Leihbibliotheksnutzung zu stillen wußten.
1. Die häusliche Bibliothek des »gemeinen Mannes« und seine
Lesegewohnheiten
1.1 Buchbesitz bei den Protestanten Einige Bücher besaßen aber sicher auch die »Bücher-Mieter«. Im protestantischen Bereich war das nämlich vorgegeben durch Luthers Vorstellung vom allgemeinen Priestertum insbesondere des Hausvaters und von den darauf beruhenden Visitationsrichtlinien. So schreibt Johann Georg Tobler: Die meiste Kenntniß seines Volkes sammelte er [der aufgeklärte Pfarrer Gotthold] bei der Hausbesuchung. Die Sitte fordert nämlich, daß jeder angehende Prediger, nach seinem Amtsantritte einen sogenannten Hausbesuch hält, welcher alle zwei Jahre wiederholt wird. Er geht in diesem Falle zu jeder Haushaltung, schreibt ihre Mitglieder, deren Erbauungsschriften, den Fortschritt der Kinder, welche er besonders prüft, ein, und ermahnt alle Hausgenossen in einer kleinen Anrede zu einem ehrbaren, besonnenen und christlichen Betragen. 13
Was in dieser Schweizer Quelle »Sitte« genannt wird, war meist unverhohlene Pflicht. Die Oldenburger »Hausvisitationsartikel« von 1662 fordern als Pflichtbestand jedes evangelischen Haushaltes - die Bibel (oder zumindest das Neue Testament) 11
12
13
Johann Heinrich Zimmermann: Nachricht von einem Gespräch eines Landpredigers mit einigen Bauren über die Briefe im Volkston [Titelformulierung nach dem Inhaltsverzeichnis], In: Journal für Prediger, Bd. 17 (Halle 1785/86), S. 2 9 1 - 3 0 2 . Leihbüchereien waren zu dem Zeitpunkt noch nicht die Roman-»Giftbuden« von später, sondern hatten oft ein enzyklopädisches, durchaus bildungsorientiertes Angebot, vgl. Reinhard Ligocki in Werner Arnold/Peter Vodosek (Hg.): Bibliotheken und Aufklärung. (Wolfenbütteler Schriften zur Gesch. des Buchwesens, Bd. 14) Wiesbaden: Harrassowitz 1988, S. 181. J[ohann] G[eorg] Tobler: Gotthold[J der wackere Seelsorger auf dem Lande. Seitenstück zum Goldmacherdorf [von Heinrich Zschokke], Aarau: Sauerländer 1820, S. 64 [so recte statt Druckfehler: 46],
Die Lesegewohnheiten -
des »gemeinen
Mannes«
um
1800
45
den Katechismus
-
Gesangbuch samt Gebetbuch
-
eine Hauspostille. D e r Pfarrer hatte bei den Hausvisitationen zu prüfen, ob diese Bücher v o r h a n -
den waren und » o b in solchen B ü c h e r n auch gehörig gelesen werde«, insbesondere täglich ein Stück aus dem Katechismus. 1 4 In Baden war diese Kontrolle ausdrücklich jährlich vorgeschrieben, und Analphabeten waren von der Buchbesitzpflicht nicht ausgenommen, da schließlich in jedem Haushalt jemand
lesen
k ö n n e . 1 5 Die bei diesen Hausbesuchen geführten Visitationsprotokolle sind aus manchen Regionen erhalten, 1 6 der darin stereotyp aufgeführte Standardbuchbesitz wird auch durch die amtlichen Teilungsinventare nach Todesfällen 1 7 und d u r c h viele literarische Zeugnisse bestätigt. 1 8
14
15
16
Wilhelm Norden: Die Alphabetisierung in der oldenburgischen Küstenmarsch im 17. und 18. Jh. In: Ernst Hinrichs/Wilhelm Norden: Regionalgeschichte. Probleme und Beispiele. (Veröff. d. Hist. Kommission für Niedersachsen und Bremen 34) Hildesheim: Lax 1980, S. 1 0 3 - 1 6 4 . Hier S. 112f. Karl Friedrich Gerstlacher: Sammlung aller Baden-Durlachischen, das Kirchen- und Schulwesen, das Leben und die Gesundheit der Menschen [...] betreffenden Anstalten und Verordnungen. Bd. 1. Karlsruhe: Schmieder 1773, S. 121 (Erlaß vom 1 1 . 1 0 . 1 7 5 4 ) . Anna Löffler-Herzog: Bildungsstand der Thurgauer Bevölkerung im Anfang des 18. Jhs. In: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, H. 72 (Frauenfeld 1935), S. 1 - 4 0 ; Marie-Louise v. Wartburg-Ambühl: Alphabetisierung und Lektüre. Untersuchung am Beispiel einer ländlichen Region [»Zürcher Landschaft«] im 17. und 18. Jh. (Europ. Hochschulschr. Reihe 1, 459) Bern u.a.: Lang 1981; Ernst Hinrichs: Lesen, Schulbesuch und Kirchenzucht im 17. Jh. In: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. [...]. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, S. 1 5 - 3 3 .
17
Die ältere Literatur bei Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem »Noth- und Hülfsbüchlein«. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 5 6 5 - 1 3 4 4 . Hier Sp. 985f. (auch als Separatdruck unter demselben Titel Frankfurt/M.: Buchhändlervereinigung 1978 [mit identischer Paginierung]). Nachzutragen sind seitdem u. a.: Günter Berger: Inventare als Quelle der Sozialgeschichte des Lesens. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (Heidelberg 1981), S. 3 6 8 - 3 8 0 ; Etienne François: Buch, Konfession und städtische Gesellschaft im 18. Jh. Das Beispiel Speyers. In: Mentalitäten und Lebensverhältnisse, 1982 (Anm. 16), S. 3 4 - 5 4 ; Hans Medick: Buchkultur auf dem Lande: Laichingen 1748 - 1 8 2 0 . [...]. In: Hans Erich Bödeker [u. a.] (Hg.): Der Umgang mit dem religiösen Buch. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 101) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 1 5 6 - 1 7 9 .
18
Einige Beispiele: Wöchentliche Blätter zum Unterricht und zur Erbauung gemeiner Christen. [Hg.: Georg Jakob Schäblen], Bd. 1 (Oettingen 1770), St. 1; [anonym]: Meine ohnmaßgebliche Meynung vom Kalender. In: Westphälische Beyträge zum Nutzen und Vergnügen, 1790, St. 19, Sp. 1 4 5 - 1 5 2 . Hier: Sp. 148; [Matthäus Reiter]: Gedanken über das allgemeinste Mittel, aufgeklärtes praktisches Christenthum, und vernünftigen Gottesdienst unter dem Volke zu verbreiten [...]. In: Mainzer Monat[s]schrift von geistlichen Sachen, Jg. 2 (Mainz 1786), Bd. 1, S. 3 2 2 - 3 3 4 . Hier S. 325.
46
Reinhart
1.2 Buchbesitz
bei den
Siegert
Katholiken
I m katholischen B e r e i c h ist die Lage insofern schwieriger, als hier keine d o g m a tisch b e g r ü n d e t e n V o r g a b e n vorliegen -
außer d e m V e r b o t des Besitzes v o n B i -
beln in der L a n d e s s p r a c h e . 1 9 D e n n o c h stoßen wir auch hier in zeitgenössischen Texten auf einen ziemlich konstanten K a n o n : D i e gewöhnliche Familienlektüre besteht in Pater Martin von Cochem's oder einem ähnlichen Leben der Heiligen, in Goffine's Handpostille, im hinkenden Boten mit dem großen Einmaleins und verschiedenen Volksbüchern: der gehörnte Siegfried, die vier Haimonskinder, das Schloß Xaxa, die treue Genovefa und Till Eulenspiegel. 2 0 A n die Stelle v o n Bibel o d e r N e u e m T e s t a m e n t treten in diesem K a n o n also Heiligenlegenden. A u ß e r d e m s t ö ß t man z u m i n d e s t im katholischen Süden auf H i n weise auf einen geringeren Alphabetisierungsstand und oft auf ein auffallendes Rückständigkeitsgefühl: In Preußen und Sachsen kann jedermann lesen. Der Bauer weis Gellerts Fabeln auswendig, hat gewöhnlich seine kleine Bibliothek, und das Kind singet Weißens Lieder; der Bauer ist dort im Stand, die Landsverordnung, deren Kanzleysprache der unsrige unmöglich begreifen kann, sich zu erklären. B e y uns können ganze Dörfer nicht lesen. Kein Buch mit einer guten Moral! Kein Buch nur mit den ersten Kenntnißen der Landwirthschaft, oder mit den ersten Gesundheitsregeln! - Das ende, wer da kann! Mir vergehen die Worte vor Kummer! 2 1 In dieser Kraßheit entsprach der protestantische Vorsprung allerdings sicher nicht d e r Realität.
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Zum Bibelverbot vgl. Friedrich Kapp/Johann Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 3. Leipzig: Börsenverein d. Dt. Buchhändler 1909, S. 397; Klaus Schreiner: Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation. In: Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 2 5 7 - 3 5 4 , bes. S. 287ff.; J o h n L. Flood: Subversion in the Alps: Books and Readers in the Austrian Counter-Reformation. In: T h e Library. Sixth Series, Volume X I I , No. 3, Sept. 1990, S. 1 8 5 - 2 1 1 ; ein zeitgenössischer Beleg: Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung 1789, Bd. 1, Sp.449.
20
P[eter] Norrenberg: Chronik der Stadt Dülken [...]. In: P. N . Beiträge zur Localgeschichte des Niederrheins. Bd. 3. Viersen und Dülken 1874, Kapitel: »Eine Wanderung durch Dülken in den zwanziger [1820er] Jahren«, S. 132. Dazu Anm. Norrenbergs: »Hier und da wird auch wohl ein Ritter- oder Räuberroman gelesen. Im Ganzen aber ist ein Bedürfniß zu geistiger Unterhaltung durch die Leetüre nicht bemerkbar.«
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Lorenz Westenrieder: Ueber unsere Erziehung. Ein Fragment für die Nachwelt. In: Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur 2 (München 1780), S. 1 1 3 9 - 1 1 6 4 . Hier: S. 1151, zit. nach Wilhelm Haefs: Staatsmaschine und Musentempel. In: Wolfgang Frühwald [u.a.] (Hg.): Zwischen Aufklärung und Restauration. (FS W. Martens) Tübingen: Niemeyer 1989, S. 8 5 - 1 2 9 . Hier S. 128.
Die Lesegewohnheiten des »gemeinen Mannes« um 1800
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1.3 Die Bücher und ihr »Sitz im Leben« Die A r t der Bücher in der Bibliothek des »gemeinen Mannes« w a r also bei K a t h o liken und Protestanten ähnlich: ein geistlicher Grundbestand, dazu der Kalender und eventuell ein paar »Volksbücher« v o m Kolporteur. U b e r Zahl und Platz der Lesestoffe schreibt Berthold A u e r b a c h noch 1856: Ueber der Stubenthüre ist noch in manchen Häusern in Stadt und Dorf ein Brett, worauf Bücher zur Erbauung und Erheiterung liegen. Man darf es wol[!] auch als ein Sinnbild ansehen, daß man beim Eintritt in eine Häuslichkeit die gesammelte Einheit dessen[,] was den Familiengeist bestimmt, über sich habe. 22 Oder: [...] Bücher [...], die denn gemeiniglich, wenn welche vorhanden, als eine kleine Hausbibliothek, auf dem Bord über der Stubenthür leicht zu finden sind. 23 Oder: Nicht weit davon befindet sich die kleine Bibliothek, aus etwa einem halben Dutzend Büchern bestehend. An der schönsten und heitersten Stelle paradirt der Appenzeller Kalender. 24 Gelegentlich ist auch v o n anderen Bücheraufbewahrungsorten die Rede. Das B e t t eines reichen niederdeutschen Bauern wird so beschrieben: Kein eigentliches Bette, sondern ein wahres Gebäude. Der Himmel hatte so viel Holzwerk, wie manches kleine Haus kaum hat. Oben darauf war die Hausbibliothek: Hauspostillen; besonders Luthers Hauspostille, eine große Bibel, Gesangbücher, usw. 25 Dieser Ehrenplatz war üblicherweise N ü s s e n oder Äpfeln vorbehalten. A b e r auch spezielle B u c h m ö b e l k o m m e n vor. So ließ der Bauer Bölke in Berkau bei W i t t e n berg für seine Büchersammlung einen alten N u ß b a u m fällen und daraus v o m Dorftischlermeister ein Spezialmöbel anfertigen, einen Klappschrank, der gleichzeitig als Schreibtisch diente, ein Prachtstück, das z u m Familienerbstück w u r d e . 2 6 D i e Buchbeschaffung erfolgte nur ausnahmsweise beim Buchbinder. D e r hatte zwar für kleinere Ortschaften das M o n o p o l für die »seriöse« Literatur i n n e 2 7 22
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Berthold Auerbach: Schatzkästlein des Gevattersmanns. Stuttgart, Augsburg: Cotta 1856, S. III. Journal für Prediger, Bd. 10, 2. St. (Halle 1779), S. 173. Der gemeinnützige Schweizer, Jg. 3 (Zürich 1819), S. 145 (als typisch für die »Wohnung des Alt St. Gallischen Landmannes«). J[ohann] A[ugust] Efphraim] Goeze: Eine pure Dorfreise zum Unterricht und Vergnügen der Jugend. Leipzig: Weidmann 1788, S. 186. Heinrich Kühne: Der Bücherschrank des Flämingbauern. In: Marginalien. ZS f. Buchkunst u. Bibliophilie 77 (1980), S. 6 5 - 7 1 . - Ähnliches bei Ulrich Bentzien: Zwei NachlaßVerzeichnisse aus Radgendorf bei Zittau (1776, 1779). In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 16 (1973), S. 1 6 8 - 1 9 4 . Zeitgenössisch formuliert ζ. B. in [Gottfried Heinrich Scholl]: Ueber Volksblätter. Tübingen: Heerbrandt 1799, S. 26.
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Siegert
(Heftchenliteratur wurde vor allem bei Kolporteuren erstanden). Neue Bücher wurden jedoch fast nur für den Schulunterricht und zu Geschenkzwecken für besonderen Anlässe gekauft: für die Konfirmation von Patenkindern oder für Hochzeiten in erster Linie. Dann aber wurden die Bücher über die Generationen »herunter geerbt«, wie Thomas Abbt einmal formuliert hat, 28 und Zuwachs erfolgte weitgehend nur »aus dem Nachlaß der Verstorbenen in Auktionen«, wo auch Bauern gern billig Bücher ersteigerten, »besonders, wenn sie noch dazu beschlagen, oder mit silbernen Hacken[!] gezieret sind«. 29 Durch Auktionen und Büchertrödler verirrten sich zwar gelegentlich auch aus einem Landpfarrers- oder Amtmannsnachlaß Bücher in bäuerliche Hände, die man nie dort suchen würde 3 0 und die durchaus gesichtskreiserweiternd hätten wirken können; generell aber ergab sich daraus vor allem eine enorme Uberalterung des Buchbestands in Privathaushalten. Als Philipp Heinrich Schuler seine beispielhafte Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen von der Reformation bis zum Ende des 18. Jhs. schrieb, war für ihn dieser Umstand die Rettung aus dem mit öffentlichen Bibliotheken nicht lösbaren Quellenproblem: Alte Prediger- und Kirchen-Bibliotheken, die Vorraths-Kammern der Antiquarien, die Krämer-Buden, w o ein großer Theil dieser Schriften bereits seinem Untergang preißgegeben ist, und vorzüglich die Bauren-Hütten, worin diese Tröster - wegen ihres gewöhnlich wohlfeilen Ankaufs noch einen festen Sitz haben, waren beynahe für mich die einzigen Quellen [.. .]. 31
Darin lag ein schwerwiegendes Hindernis für alle Versuche, über Lesestoffe neue Gedanken ans »Volk« zu vermitteln: Erst dann, wenn nach unsernf!] Absterben die neueren guten Predigten, in Städten und Dörfern verauctionirt und wohlfeil verkauft werden, können wir hoffen, mehrere, auch unter dem Volk anzutreffen. [ . . . ] Bis jetzt kamen wohl auf diesem Wege alte verlegene Schriften unter das Volk, aber keine neuere Erbauungsbücher. 3 2
Das überbesetzte und daher notleidende Buchbinderhandwerk wußte ein Lied von diesem zähen und sparsamen Festhalten an den hergebrachten Lesestoffen zu singen: manch ein Zunftgenosse müsse sich
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Thomas Abbt: Vom Verdienste, Berlin und Stettin: Nicolai 1765, zit. nach: 18. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse. [...] hg. von Walther Killy. (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse) Teilband 2. München: Beck 1983, S. 889. Journal für Prediger (Anm. 23). Vgl. Münchner Tagsblatt 1803, 2.Hälfte, S. 455f., zit. bei Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Berlin [West]: de Gruyter 1964, S. 83, Anm. 294. Philipp Heinrich Schuler: Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen, insonderheit unter den Protestanten in Deutschland. Th. 1 - 3 . Halle: Gebauer 1792; 1793; 1794; Ergänzungsband 1799. Zitat: Th. 1, 1792, S. VI. Ueber die Ursachen, warum das Volk noch immer die Postillen den neueren populären Predigtsammlungen vorzieht. Von einem Prediger im Hessischen. In: Journal für Prediger, Bd. 32 (Halle 1796/1797), S. 2 2 5 - 2 3 9 . Hier S. 237.
Die Lesegewohnheiten des »gemeinen Mannes« um 1800
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von Dorf zu Dorf mit dem 2 und 3ten Einband urgroßväterlicher Charteken, zerrissener Α Β C-Bücher oder Catechismen gegen den Lohn eines elenden Mittagessens beim Bauer, vom Hunger-Tod retten. 33 A m E n d e des 1 8 . J h s . wird jedoch in bevorzugten, stadtnahen Gebieten etwas B e w e g u n g registriert: Unter den altenburgischen Bauern giebt es sehr viele helle und offene Köpfe. Die Lesesucht fängt auch bereits unter ihnen an sich zu verbreiten. In der Nähe der Stadt Altenburg findet man schon einige, die nach ihrer Art ansehnliche Bibliotheken besitzen. 3 4 E s gebe unter ihnen L e u t e v o n beträchtlichen geographischen und historischen Kenntnissen, die die Fähigkeiten ihres Pfarrers sehr wohl zu beurteilen w ü ß t e n . 3 5 O d e r aus Kursachsen: Man muß sich wundern, daß der sächsische Bauer von Natur gern liest. Man findet Journale und andere Schriften bei ihnen, und ich kenne sogar einige, welche von der in der nächsten Stadt befindlichen Lesebibliothek Gebrauch machen. 3 6 Selbst aus dem sonst nicht gerade schlagzeilenträchtigen O b e r s c h w a b e n wird vermeldet: Gehe in die Hütte des gemeinsten Mannes und dürftigsten Taglöhners, du wirst bei ihm ein Bibliothekchen antreffen, das er vielleicht ungleich eifriger und fleißiger benützt, als unsere Zeitgenossen die neuern für sie geschriebenen Bücher. E s seien jedoch die alten Tröster. So ungenießbar auch immer diese, jetzt von jedem Gebildeten und Aufgeklärten verachteten und zurückgesetzten Schriften eines Skrivers, Arndts, Ringmachers, Habermanns und anderer, die für die allgemeine Erbauung geschrieben haben, seyn mögen: so waren sie doch vor fünfzig Jahren noch in ungleich allgemeinerm Umlauf, als jetzt alle neuern für das Volk geschriebnen Bücher, selbst das Noth- und Hülfsbüchlein nicht ausgenommen [...]; außerdem lese jetzt auch das »Volk« extensiv statt intensiv, so daß die neuen Schriften eine geringere Wirkung erzielten. 3 7 Die Situation hatte also selbst hier ihre Statik verloren und w a r unübersichtlicher geworden. 33 34
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Johann Adam Weiß: Ueber das Zunftwesen [...]. Frankfurt/M.: Brönner 1798, S. 97f. Karl Friedrich Kronbiegel: Ueber die Kleidertracht, Sitten und Gebräuche der Altenburgischen Bauern, Altenburg 1793, zit. nach Neue allgemeine deutsche Bibliothek 10 (Kiel 1794), S. 202. [Anonym]: Ueber den Charakter der altenburgischen Bauern. In: Sächsische Provinzialblätter 13 (Altenburg und Erfurt 1803), S. 1 8 6 - 2 0 4 . Hier S. 189. Friedrich Ernst von Liebenroth: Fragmente aus meinem Tagebuche, insbesondere die sächsischen Bauernunruhen [1790] betreffend. Dresden und Leipzig: Richter 1791, S. 146. Ueber das religiöse und sittliche Verderben unsers Zeitalters [...]. Herausgegeben von J . M. R. [d.i. Johann Martin Kutter, Ravensburg]. Biberach: Knecht 1805, S. 86. - Kutter war evangelischer Stadtpfarrer in der gemischtkonfessionellen Reichsstadt Ravensburg; seine Beobachtungen werden sich nicht einfach aufs katholische Umland verallgemeinern lassen. Interessant ist an obigem Zitat auch, daß das »Volk« nicht zu den
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Von einer Individualisierung der Lektüre des »Gemeinen Mannes« wird man trotzdem noch nicht sprechen können. Denn zur Lektüre gehört nicht nur der Lesestoff, sondern auch ein Raum, Licht, Zeit und Ruhe. Die zeittypische Nutzungsart war daher unter den Verhältnissen des 18. Jhs. die Gemeinschaftslektüre mit lautem Vorlesen. Und dieser Umstand konnte mehr Einfluß auf den Effekt haben als die A r t des Lesestoffes: Fraget irgend einen ordentlichen Menschen in unsern Dörfern: ob er lesen kann? und hundert gegen Einen werden sich beleidiget halten, daß ihr zweifeln könnet, ob sie auch wol eine vermeintlich so gemeine und leichte Sache begriffen haben. Aber lasset nur diese Eingebildeten einen Versuch ihrer Geschicklichkeit im Lesen anstellen, und sich durch die Probe rechtfertigen; so wird es sich schon zeigen, daß die allermeisten sich eine Fertigkeit zugetrauet haben, von der sie weit entfernet sind. [...]. Herstottern und herdröhnen können noch wol die Meisten von unsern Landleuten etwas aus einem Buche; allein wer den Ton und die Declamation je angehöret hat, worinn fromm seyn wollende Hausväter des Sonntags nach Tische eine Predigt aus ihrer Hauspostille laut herzulesen pflegen [...], dem bleibt es unbegreiflich, wie ein so widerliches, unnatürliches, übelverbundenes Geklöne und Geleyer den mindesten lichtvollen und zusammenhangenden Gedanken erwecken, und das Herz mit weisen, wirksamen Vorsätzen der Tugend und Gottseligkeit erfüllen soll. [...]. Was hilft so ein Gelese? 38 Wer mehr, Qualifizierteres oder still lesen wollte, tat sich schwer mit seiner sozialen Umwelt. Der Bücherwurm Andreas Posch berichtet aus seiner Lehrlingszeit, wie die Hausgenossen auf seinen Drang, die gesamte Freizeit mit Lektüre zu verbringen, mit Unwillen reagierten. In der warmen und hellen Jahreszeit wich er schließlich in die Kirche aus, weil man glaubte, mein Aufenthalt daselbst geschehe aus Andacht, und sich ein Gewissen daraus machte, mich ohne Nothwendigkeit darin zu stören. Endlich rieth ein Priester, der mein Lesebuch untersuchte, meinem Lehrherrn, mir das Lesen öffentlich zu erlauben, mit der Versicherung, daß ich nicht mehr davon abzubringen sey, und daß durch dieses Verboth mir jede andere Verrichtung verhaßt werden würde. Er erlaubte es mir, und die Andacht in der Kirche hörte sich auf. 39 Doch nicht immer stieß der Drang nach ausgedehnter individueller Lektüre auf soviel Verständnis. Der Pädagoge Bernhard Heinrich Honcamp berichtet aus der Zeit um 1800 von seinem Vater: Er selbst, der sehr gern las, getraute sich nicht recht, es zu thun. Es war ihm Seilers >Lesebuch für den Bürger und Landmann< zu Händen gekommen, eine sehr nützliche
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»Zeitgenossen« gerechnet wird! - Auch die Umgebung der zitierten Textstelle ist in unserem Zusammenhang ergiebig. Johann David Polchow: Instruction für die Lehrer an den Capitularschulen des Hochstifts Lübek. Lübeck: Donatius i.K. 1793, S. 69f. Ebd. S. 90: »So wird demnach durch schlechtes Lesen aller Unterricht, alles Vergnügen, aller wahre Nutzen bey den Meisten vereitelt, welchen doch gute Volksbücher und Religionsschriften unsern Leuten in einer solchen Fülle anbieten, und jede an sich noch so heilsame und belehrende Leetüre sinkt herab zum unnützen Zeitvertreib.« Andreas Posch: Gedichte und Lebensgeschichte des Naturdichters Andreas Posch. Wien: Selbstverlag 1821, S. X.
Die Lesegewohnheiten
des »gemeinen
Mannes«
um
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Volksschrift, die in verständlicher Sprache Belehrungen über reale Gegenstände enthielt, z . B . über Erdbeschreibungen [sie], den gestirnten Himmel, den menschlichen Körper, die Naturlehre, Landwirtschaft usw. Mein Vater fand viel Vergnügen an dem Buche; denn so etwas Interessantes hatte er noch nie gelesen. Endlich aber las er etwas ganz Unglaubliches, nämlich die Sonne stehe still und die Erde bewege sich um dieselbe; und als am andern Morgen der Vikarius in unser Haus kaum, fragte ihn mein Vater: Herr Vikarius, was halten Sie davon: in diesem Buche steht, die Sonne stehe still usw. O Magister, rief der Vikarius, das ist ein ketzerisches Buch; ins Feuer damit! Und mein Vater warf sein Lieblingsbuch sofort in die Glut des Ofens. 4 0 3 0 0 J a h r e nach C o l u m b u s wäre hier die E r d e durch Lesen fast von einer Scheibe zur Kugel geworden! Bei dem Schweizer Kleinbauernsohn J a k o b Bosshard wurde sie es wirklich. A b e r auch er, der in seinem Lesehunger acht Wegstunden weit ging, u m ein seltenes B u c h zu entleihen, mußte sich über Leseverbot und
Bücherverbrennung
d u r c h seine Eltern hinwegsetzen, mußte seine Lektüre hinaus aufs freie Feld verlegen und schließlich einen Gebildeten finden, der ihm das Gelesene durch einen G l o b u s veranschaulichte. 4 1
Zwischenbilanz:
Volkslektüre
cen zur Einflußnahme
in Deutschland
durch
am Ende
des 18.]hs.
und die
Chan-
Bibliotheken
Das »Volk« als Lesepublikum war also in Deutschland am E n d e des 18. Jhs. gespalten. F ü r die große Masse bedeutete L e k t ü r e laute Gemeinschaftslektüre aus einem statischen, überalterten, fast ganz auf geistliche Lesestoffe beschränkten B u c h b e sitz. V o n dieser L e k t ü r e war keine innovative und emanzipatorische Qualität zu erwarten. Ausnahmen von der Wiederholungslektüre altbekannter geistlicher L e sestoffe waren meist nur der Kalender und (vor allem in der Zeit der F r a n z ö s i schen Revolution) Zeitungen. 4 2 E i n e zunehmende Minderheit jedoch auch im »Volk« bestand aus Viellesern. E r s t bei ihnen sind größere Probleme mit der Lesestoffbeschaffung und n o c h 40
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F. C . Honcamp/J. Schröder: Bernhard Heinrich Honcampf,] weiland Schullehrer zu Welver bei Soest. Dargestellt mit Benutzung einer von ihm angefangenen Selbstbiographie, Hamm 1861, S. 14, zit. nach Margret Rosenbaum: Untersuchungen zur Veränderung der Lage und des Selbstverständnisses des Lehrers. Diss. Köln 1970, S. 180, Anm. 7. Heinrich Boßhard, eines schweizerischen Landmannes, Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben. [Th. 1]: Winterthur: Steiner 1804. Th. 2: o . O . [St.Gallen]: Selbstverlag 1810. - Reprint von Bd. 1 u. 2 in 1 Bd.: Elsau: Gemeindeverwaltung, 1988. Hier besonders Th. 1, S. 7 - 3 3 ; jedoch auch viele interessante andere Stellen zur emanzipativen Kraft und sozialen Problematik individueller Lektüre. Es ist schwer abzuschätzen, inwiefern die in Volkskalendern gar nicht so seltene Exotik (seltene Tiere, Trachten fremder Völker, ausländische Städte) und die oft auf vordergründige Kriegsberichterstattung konzentrierte politische Tagespresse der Zeit auch bewußtseinserweiternd wirken konnte.
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größere mit dem sozialen Umfeld anzunehmen; erst bei ihnen ist aber auch eine (gesucht oder ungesucht) emanzipatorische Lesewirkung zu erwarten. Diese Minderheit muß für die frühe Volksbibliothek völlig außer Betracht bleiben. Nirgends ist bei den Zeitgenossen vom Konzept einer Volksbibliothek mit Shakespeare, Schiller, Montesquieu oder Kant im Bestand die Rede. Eine flächendeckende Befriedigung der Leseansprüche dieser Minderheit wäre nicht realisierbar gewesen. Sie war in der Praxis auch nicht notwendig: alle bekannten Vielleser fanden ihre bürgerlichen Mentoren (Öffnung von Privatbibliotheken) oder den Zugang zu Organisationsformen des Lesens, die sonst städtischen Bevölkerungsschichten vorbehalten blieben (Lesegesellschaften, Leihbibliotheken). Dieser Gruppe ist auch - im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten - zuzutrauen, daß sie gemeinschaftliche Lesestoffbeschaffung selbst organisierte. Solche Organisation ist insbesondere für Zeitungslektüre in Form von Gemeinschaftsabonnements zur Zeit der Französischen Revolution nachgewiesen. Ausdrücklich »für's Volk« bestimmte Lesestoffe dürften hingegen für ihre eigene Wahl höchstens dann eine Rolle gespielt haben, wenn sie bei akzeptabler Qualität besonders billig oder besonders leicht erreichbar waren oder wenn diese Gruppe versucht hätte, auch für weniger Lesegeübte ein Angebot zu organisieren. Daß diese Minderheit ihre Lesestoffe selbst suchte, erschien zumindest konservativeren Zeitgenossen gefährlich; die Züricher »Ascetische Gesellschaft« debattierte z.B. über das Thema: »Wie hat sich ein Pfarrer zu verhalten, wenn er hört, dass jemand in seiner Gemeinde schädliche Bücher liest, und das Gift derselben heimlich ausstreut?«, 43 und J. R. G. Beyer in Erfurt spricht gar davon, es seien in Zeiten der Französischen Revolution »selbst unter den gemeinen Mann und in die Hand des Landmanns Schriften gekommen, die für ihn das waren, was ein scharfes Messer in der Hand des Kindes ist«. 44 Die erstgenannte, weit größere Gruppe der Wenigleser wurde hingegen Zielgruppe der ersten Volksbibliotheken. 45 Doch diese mußten nach dem, was wir oben über die Lesepraxis dieser Zielgruppe erfahren haben, anderen Anforderungen genügen als Volksbibliotheken des späten 19. Jhs., die insbesondere den Lesehunger von wißbegierigen und unterhaltungssuchenden Arbeitern befriedigen 43
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45
[Johann Jakob Hess]: Abriss von dem Ursprung, der Verfassung und den Arbeiten der Ascetischen Gesellschaft in Zürich. Zürich: o.V. 1790, S. 119. Johann Rudolph Gottlieb Beyer: Ueber das Bücherlesen, in so fern es zum Luxus unsrer Zeiten gehört. (Acta Academiae Electorialis [...] Erfurti. tom. 12 [1794/95], commentatio 10) Erfurt 1796, S. 13. Peter Vodoseks vorläufige Datierung dieses Begriffs auf 1799 (Vodosek: Volksbibliotheken (Anm. 47), S. 135) kann ich um 9 Jahre vorverlegen: der früheste mir bekanntgewordene Beleg steht in Patriotisches Wochenblatt. Feuille hebdomadaire patriotique (Hg.: Johann Friedrich Simon), Beilage zu St. 16, Straßburg 1790. »Volks-Bibliothek« ist dort sogar sehr schön definiert: »Ich verstehe unter diesem Ausdrucke eine hinreichende Sammlung nützlicher und mit Geschmacke geschriebener Bücher, welche den minder bemittelten Stadt- und Landbewohner ohne Unterschied der Religion, ohnentgeldlich gegen einen Einsatz zur Sicherheit geliehen werden« (S. 141).
Die Lesegewohnheiten
des »gemeinen Mannes« um 1800
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sollten. Beim Land»volk« des späten 18. Jhs. hingegen war kaum mit einer Nachfrage zu rechnen: - bei traditionellen Erbauungsbüchern (zu denen für den häuslichen Gebrauch auch das Gesangbuch zu rechnen ist) bestand kein Bedarf an Bibliotheksleistungen - Zeitungen und Kalender (der weltliche Teil der gängigen Volkslesestoffe also) sind ephemere, wenn nicht gar Verbrauchs-Schriften, die allenfalls gleichzeitig von mehreren, aber nicht von vielen Lesern nacheinander genutzt werden können. Daraus ergab sich fast zwangsläufig, daß am Anfang der Volksbibliotheken nicht Bibliotheken standen, die auf Bedürfnisse reagierten, sondern Bibliotheken, die pädagogischen und/oder ideologischen Anliegen zu Breitenwirkung verhelfen wollten. Diese frühen Bibliotheken für eine breite Leserschicht stellen denn auch eine Kombination von Leseanreiz und indirekter Zensur dar in Form von Schulbibliotheken (für Heranwachsende) und Volks- oder Gemeindebibliotheken (für Erwachsene). Ihr Lesestoffangebot repräsentierte nicht das, was der »gemeine Mann« gern las, sondern was er lesen sollte. Im Idealfall hätten sie außer der Bereitstellung von Lesestoffen auch Beratung, Leseraum und -licht und sogar einen Vorlesedienst 46 anbieten müssen. Denn Buchausleihe setzte voraus, daß im Zuhause des Lesers wenigstens jemand im Stande war, einen neuen, bisher unbekannten Lesestoff verständlich vorzulesen. Insofern ist die Ausleihbibliothek Kennzeichen einer höheren Lesekultur; eine Lesegesellschaft mit Vorleser konnte sozial prinzipiell weiter reichen. Sie ist allerdings auf andere Weise eingegrenzt: ein nach Alter, Geschlecht und Sozialstatus bunt gemischtes Publikum dürfte in der ländlichen Gesellschaft außerhalb der engsten Nachbarschaft wenig wahrscheinlich gewesen sein. Dafür hatte sie den Vorteil, wegen der geringen Vorlesegeschwindigkeit und der gemeinschaftlichen Rezeption mit einer sehr kleinen Bücherzahl auszukommen und zum Gelesenen Verständnishilfen geben zu können. Selbstverständlich galt auch für die bescheidensten Formen, daß für Etat, Aufbewahrungsraum, Ausleih- oder Vorlesepersonal und Auswahl der anzuschaffenden Schriften eine Lösung gefunden werden mußte.
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Immer wieder angeregt und auch in der Praxis belegt sind Vorleseveranstaltungen durch die Dorfpfarrer. Aber auch für kommerzielle Vorleseinstitute findet sich eine Anregung ([anonym]: Königlich Hungarisches Agrikultur-Zeitungsinstitut. In: Johann August Schlettweins Archiv für den Menschen und Bürger. Bd. 6 (Leipzig 1783), S. 420-422).
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Reinbart
2. Die Anfänge öffentlicher Bibliotheken volksaufklärerischen Literatur 2.1 Theorie und
für das »Volk« im Spiegel
Siegert
der
Utopie
Den »Volksbibliotheken in der Spätaufklärung«, die in ihrer Organisationsstruktur bereits an unsere heutigen Öffentlichen Bibliotheken erinnern, hat bereits Peter Vodosek in einem gründlichen und materialreichen Aufsatz nachgespürt;47 ich kann seine Ergebnisse aus anderen Quellen nur bestätigen und ergänzen. Den frühesten mir bekannt gewordenen Vorschlag zu einer Volksbibliothek finden wir bereits 1766 in Johannes Toblers kleiner aufklärerischer Dorfutopie Idee von einem Christlichen Dorfe. Dort wird in einem Anhang eine Gemeindebibliothek beschrieben: In ihrem Gemeind-Hause steht eine kleine Bücher-Sammlung: Etliche Exemplare von Tissot; etliche von einer guten Ausleg-Bibel; etliche von einer Anleitung, die Kinder auf dem Dorfe wohl zu ziehen; etliche von den besten Büchern über den Feldbau. 48
»Etliche Exemplare«: Offenbar ist in diesem frühesten Zeugnis bereits an eine Ausleihbibliothek für häusliche Lektüre gedacht, nicht an eine Vorlesebibliothek. Kein Wunder, denn dieses Textzeugnis stammt aus der Region um den Züricher See, aus einer der Gegenden also, wo wegen ganz besonders günstiger Rahmenbedingungen (hohe Alphabetisierungsrate, starke Verkehrsbeziehungen zwischen Stadt und Land, Marktorientierung) die Volksaufklärung zuerst virulent wurde. Uberraschend daran ist allerdings, daß hier zu einem Zeitpunkt, wo die Inventare fast nur geistlichen Buchbesitz nachweisen, für das »Christliche Dorf« weltliche Lesestoffe reklamiert werden. Uber organisatorische Details schweigt sich Tobler aus. Fünfzehn Jahre später finden wir in einem Aufsatz Wohlgemeynter Vorschlag einer zu errichtenden Schul- und Gemeinde-Bibliothek auf dem Lande49 bereits detaillierte Vorschläge für die Lösung der praktischen Probleme. Aufbewahrt werden soll die Bibliothek in der Schule, da sie auch zur Weiterbildung des Schulmeisters dienen soll. Auswahl, Bücheraufsicht und Katalogisierung soll Sache des Pfarrers sein, »weil er mehr Bücherkenntniß, als irgend ein anderer in der Ge-
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Peter Vodosek: Volksbibliotheken in der Spätaufklärung. In: Werner Arnold/Peter Vodosek (Hrsg.): Bibliotheken und Aufklärung. (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 14) Wiesbaden: Harrassowitz 1988, S. 1 3 5 - 1 7 5 (mit Bibliographie). [Johannes Tobler]: Idee von einem Christlichen Dorfe. Zürich 1766, zit. n. Böning/ Siegert: Volksaufklärung 1 (Anm. 85), Sp. 298. - Tissot: Simon André Tissots Avis au peuple sur la santé, französisch 1761 und in vielen folgenden Auflagen in dreizehn Sprachen, das klassische Werk am Beginn der medizinischen Volksaufklärung. [anonym]: Wohlgemeynter Vorschlag einer zu errichtenden Schul- und GemeindeBibliothek auf dem Lande. In: Collecten für Prediger, sonderlich auf dem Lande, Bd. 3 (Quedlinburg 1781), St. 3, S. 5 3 6 - 5 7 3 . Hier: S. 542.
Die Lesegewobnheiten
des »gemeinen
Mannes«
um 1800
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meinde haben kann und muß.« Auch die Finanzierung wird ganz ihm aufgehalst. Für die Anschubfinanzierung schlägt der anonyme Autor vor, der Ortspfarrer solle Geld oder Bücher aus seiner eigenen Bibliothek spenden, die Erlaubnis des Konsistoriums zum Einsatz von Mitteln aus dem Kirchenärar einholen oder aber Drittmittel einwerben: Spenden der Gemeindemitglieder bei festlichen Anlässen oder aber eine Spende des Kirchenpatrons. U m den Dauerbetrieb zu finanzieren, soll der Pfarrer die Gemeindemitglieder bitten, für Schulkinder, Konfirmanden, bei Sterbefällen, beim Erntedankfest jeweils eine kleine Spende an die Bibliothekskasse zu entrichten; er soll sich an Autoren gemeinnütziger Bücher mit der Bitte um Freiexemplare wenden; auch Lesegebühren werden erwogen. Die Gemeindebibliothek soll »zum gemeinnützigen Gebrauch der Gemeinde bestimmt« sein und »einem jeden Gliede derselben dasjenige Buch, welches es verlanget, und darinn befindlich ist, zum Lesen mitgetheilet werden.« Weitere solche Vorschläge zur Einrichtung von Dorfbibliotheken finden sich in den folgenden Jahren. 5 0 Von den Zeitgenossen öfter zitiert wird der von H. G . Zerrenner: Auf der Pfarre wäre ein besonderer Schrank zu dieser Bauernbibliothek, und der Prediger wäre Bibliothekar. [...]. - Jeder Bauer könnte, nachdem er einen Zettel selbst schriftlich, über den Empfang des Buchs, von sich gestellt[!], oder unter einen solchen Zettel seinen Namen geschrieben [hat], jedes Buch auf 4, 6, 8 Wochen - denn Zeit muß der Landmann zum Lesen haben - bekommen. 5 1
Das setzt nicht nur Lesefähigkeit, sondern einen hohen Grad von Schriftlichkeit im Alltag voraus. Und er hat den Pferdefuß der meisten dieser Vorschläge: er baut ganz auf einen engagierten und beliebten Pfarrer und mutet ihm Zusatzarbeit zu. Ein Rezensent kann sich denn auch die etwas hämische Anmerkung nicht verkneifen: »Wie leicht doch alles aufs Papier geschrieben ist! O b denn in Beyendorf
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Ζ. B. Christian Friedrich Mylius: Nachrichten von einigen in Jena errichteten neuen Literarischen Anstalten [...], Jena: Heller 1785, S. 5 8 - 6 3 ; Johann Christoph Bernhard: Vorschläge zu einer wirtschaftlichen Policey der Dörfer, neueste Aufl., o. O.: o.V. 1787, S. 173; [anonym]: Ueber Volksaufklärung. In: Gemeinnützige Aufsätze aus den Wissenschaften für alle Stände, zu den Rostockschen Nachrichten, Jg. 1788, St. 4 1 - 4 8 , S. 1 6 1 - 1 9 0 . Hier: S. 1 8 7 - 1 9 0 ; Friedrich Kleine: Nachricht von der neuen Erziehungsbibliothek zu Soest, nebst Bemerkungen über Volksbildung durch Leseanstalten, Leipzig: o.V. 1800; August Slevogt: Vorschlag zum nutzbaren Lesen für den Landmann. In: Sächsische Provinzialblätter 13 (Altenburg und Erfurt 1803), S. 1 0 9 120; (Heinrich Sautier): Die arme, brave Marie, Th. 6, Freiburg: o.V. 1803, S. 190f. (Plan einer »Städtischen Volksbibliothek«).
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H[einrich] Gfottlieb] Zerrenner: Volksaufklärung. Uebersicht und freimüthige Darstellung ihrer Hindernisse nebst einigen Vorschlägen^] denselben wirksam abzuhelfen. Ein Buch für unsre Zeit. Magdeburg: Scheidhauer 1786, S. 131. - Zerrenner hat dann diesen Gedanken in seinem Volksbuch (Magdeburg: Scheidhauer 1787) weiter entwikkelt (Th. 1, S. 41 - 4 7 ) .
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und Sohlen [Zerrenners Pfarrdörfern] nun wirklich eine solche Bauernbibliothek ist? Ob denn Herr Z. gar keine Schwierigkeiten gefunden hat?«52 Neben Schule und Pfarrhaus wird sogar das Wirthaus als Standort des Bibliotheksschrankes vorgeschlagen;53 die Spannweite der Vorschläge reicht von frommen Kirchenbibliotheken54 bis zur Propagierung von Volksbibliotheken als »wirksamstem Mittel« zur Herausbildung eines revolutionären staatsbürgerlichen Bewußtseins.55 Selbsthilfe durch genossenschaftliche Organisation wird selten einmal erwogen. Ein diesbezüglicher Vorschlag, als Bericht über eine Vereinsgründung eingekleidet, steht in der Deutschen Zeitung. Unter »Gesetze einer christlichen Gesellschaft von Bedienten beyderlei Geschlechts, welche im Jahr 17.. in Berlin errichtet worden« finden wir dort: 2. Jedes Mitglied soll außer der Bibel und dem Gesangbuche sich noch ein erbauliches oder lehrreiches anderes Buch anschaffen, und zwar jedes ein anderes. Wer erst zur Gesellschaft tritt, muß ein solches nehmen, das noch keiner hat, und alle Mitglieder sollen einander auf Verlangen ihre Bücher leihen. 56
Gelegentlich kommt auch ein ganz allgemeiner Aufruf zum gemeinsamen Kauf von Lesestoffen vor, der aber eher hilflos wirkt, wenn er nicht mehr zu bieten hat als eine Liste von aufklärerischer Literatur, die zur Erstausstattung einer »Dorfbibliothek« dienen soll, und den Schlußsatz: »Hier sind also, liebe Landleute, etliche Bücher, die ihr euch auf meine Empfehlung sicher kaufen könnt. Sie sind vor [= für] euch.«57 Am bekanntesten ist wohl die literarische Fiktion in R. Z. Beckers Noth- und Hiilfsbüchlein, dem aufklärerischen Volksbuch par excellence.58 Becker ist vorsichtiger: er setzt auf eine Vorlese-Bibliothek und macht einen ganz konkreten Vorschlag. In einer Beispielerzählung heißt es: In einem wohlbekannten Dorfe hatte der Prediger eine Lesegesellschaft von 12 lehrbegierigen jungen Bauersmännern, nebst dem Schulmeister und ihm selbst angestellt. Diese kamen alle Sonntage Nachmittags auf zwey Stunden in des Predigers Wohnung 52
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Rezension zu H. G. Zerrenner: Volksbuch, Magdeburg 1787. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 79 (Berlin und Stettin 1788), S. 554-559. Hier: S. 555. Irene Jentsch: Zur Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland am Ende des 18. Jhs., Diss. Leipzig 1937, S. 65. Z. B. A e g i d i u s ] Jais: Valter[!] und Gertraud, Würzburg: Stahel 1809, S. 45. Patriotisches Wochenblatt (Anm. 45), Beilage zum 23. St., Straßburg 1790. Wegen der freigelassenen Daten und utopisch anmutender Einzelheiten scheint mir die tatsächliche Existenz dieser Gesellschaft unwahrscheinlich, trotz der Schlußzeile »Berlin, den . . . 17.. (Hier folgten 150 Nahmen von Bedienten und Mägden, nebst den Nahmen ihrer Herrschaften.)«. Mir scheint es näherliegend, eine auf Ermutigung zugeschnittene Fiktion anzunehmen als einen anonymisierten Tatsachenbericht. Quelle: Deutsche Zeitung, Jg. 5 (Gotha 1788), S. 304-306. Neuestes Schlesisches Allerlei, St. 19 (Bunzlau 1790), S. 301, unter der Überschrift »Eine Dorfbibliothek«. Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (Anm. 17).
Die Lesegewohnheiten
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zusammen, und lasen die Zeitungen und allerhand nützliche Schriften, die der Prediger aussuchte. Jedes Mitglied von der Gesellschaft zahlte dafür jährlich einen Gulden: nur der Schulmeister war frey; dafür las er den andern ein Stück ums andere vor. Ueber das Gelesene sprachen sie hernach unter einander, jeder sagte seine Meinungf,] und der Prediger erklärte dieß und jenes, was etwa den Bauersmännern nicht deutlich war. 5 9
Und damit aus dieser literarischen Fiktion möglichst leicht Wirklichkeit werden konnte, bot Becker selbst die fiktive »Mildheimische Schul- und Gemeindebibliothek« als reales Sonderangebot an: 48 Bücher einschließlich Landkarten und Combo-Arrangements für die Dorftanzkapelle als Komplettangebot, »fix und fertig eingebunden, in einem dazu passenden verschlossenem Schranke, den man gleich in der Schulstube an der Wand befestigen kann«, und das Ganze für nur 25 Reichstaler - 30 % unter dem üblichen Buchhandelspreis für die ungebundenen Bücher! 6 0 2.2 Praktische
Versuche
Das klingt alles utopisch - nach wohlmeinenden Ratschlägen von Menschenfreunden, die selbst nicht in Verlegenheit sind, durch eigene finanzielle Opferbereitschaft die Vorschläge an einem konkreten Ort ins Werk zu setzen. Doch der Autor des oben zitierten detaillierten Vorschlags von 1781 schließt mit der Mitteilung, in der eigenen Gemeinde habe er »bereits die erste Anlage zu einer solchen Bibliothek [...] auf meine eigene Kosten gemacht« (S. 549). Ahnliche Hinweise finden sich in der Literatur der Zeit öfter. So empfiehlt Christian Wilhelm Oemler in seinen BeyträgefnJ zu der Pastoraltheologie für angehende Landgeistliche 1783 bei der Abhandlung des Themas: »6. Wie kann ein angehender Prediger die bäuerische Grobheit nach und nach bey seiner Gemeinde besiegen?« eine Lesegesellschaft für Landleute; er habe damit selbst als Landprediger gute Erfahrungen gesammelt. 61 Und der Theologe, Volksschriftsteller und Pädagoge Johann Ferdinand Schlez berichtet aus seiner Praxis als Landpfarrer in Ippesheim (Franken): D a nun neuerlich Herr Inspector Zerrenner den Vorschlag that, eine Lesebibliothek für das Volk anzulegen, so machte ich auch sogleich [...] einen kleinen Anfang durch einige
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[Rudolph Zacharias Becker]: Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute, [Th. 1], Gotha: Deutsche Zeitung/Leipzig: Göschen 1788 (Reprint: Nachdruck der Erstausgabe von 1788. Hrsg. und mit einem Nachwort von Reinhart Siegert. [= Die bibliophilen Taschenbücher 207]. Dortmund: Harenberg 1980), S. 350f. [Rudolph Zacharias Becker]: Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute. Th. 2. Gotha: Becker 1798, S. 3 6 6 - 3 6 8 (mit Abdruck der Titelliste, gegliedert in »I. Zum alleinigen Gebrauch der Schullehrer«, »II. Lesebücher für Kinder in der Schule und zu Hause zu gebrauchen«, »III. Lesebücher zur Belehrung und zum Zeitvertreib an WinterAbenden für Erwachsene«). Christian Wilhelm Oemler: Beyträge zu der Pastoraltheologie für angehende Landgeistliche. Th. 1. Jena: Cröker 1783, S. 1 4 1 - 1 8 8 . Hier bes. S. 181.
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Volksschriften, die künftig von Beyträgen des Aerariums und einzelner Bürger, vermehrt werden sollen, da das Volk sie mit so vieler Begierde lies't [.. .]·62 Peter Vodosek hat ländliche Volksbibliotheken der Zeit aufgelistet im Steintal (Vogesen), Schüttenitz (Böhmen), Stedtfeld (bei Eisenach), Schnepfenthal (bei G o tha), Miltitz (bei Meißen), Ippesheim (Franken), Rappershausen (Rhön), Eichfeld (bei Volkach/Franken), Cismar (Holstein), Homburg (Mark). 63 Das läßt sich ergänzen um die 1784 schon 20 Jahre bestehende Dorflesegesellschaft in Boilstädt (bei Mühlhausen/Thüringen), 64 um Engelbrechtsmünster (Bayern), 65 Alach (bei Erfurt), Leuna und Spergau (beides bei Merseburg), 66 Schwerstedt (bei Weimar), 6 7 Burscheid (bei Solingen, 1803) 6 8 und Menslage (oldenburgisches Münsterland); 69 f ü r das 19. Jh. um Eggenfelden (Niederbayern), 70 Lohma an der Leine, 71 Neukirchen (bei Eisenach), 72 Weißbach (Hohenlohe), 73 Schlitz (Hessen) 74 und Thal 62
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Johann Ferdinand Schlez: Landwirthschaftspredigten. Ein Beytrag zur Beförderung der wirthschaftlichen Wohlfahrt unter Landleuten, 1788, Vorrede, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Schlez: Landwirthschaftspredigten, Th. 1, 2., verb. Aufl., Heilbronn und Rothenburg o.d.T.: Ciaß 1794, S. 29; die zugrundeliegende Anregung von Zerrenner bei Vodosek: Volksbibliotheken, 1988 (Anm. 47), S. 145f. (vgl. Anm. 51). Vodosek: Volksbibliotheken, 1988 (Anm. 47), S. 154-161 mit Einschränkung bezüglich Stedtfeld (Genaueres dazu bei Felicitas Marwinski: Von der »Societas litteraria« zur Lesegesellschaft. Gesellschaftliches Lesen in Thüringen während des 18. und zu Beginn des 19. Jhs. [...], T . l - 2 , Phil. Diss. Jena 1982 [masch.], S. 213). Deutsche Zeitung, Gotha 1784, S. 143. Eingerichtet durch den Aufklärer Anton von Bucher, der dort 1778-1813 katholischer Pfarrer war (Wittelsbach und Bayern [Katalog], Bd. III.2, München und Zürich 1980, S. 45). Alle drei bei Jentsch: Zeitungslesen, 1937 (Anm. 53), S. 62. Deutsche Zeitung, Gotha 1791, Sp. 535-537, zit. b. Marwinski: Societas, 1982 (Anm. 63), S.213f. Paul Luchtenberg: Johannes Löh [1752-1841] und die Aufklärung im Bergischen. Köln und Opladen: Westdt. Verlag 1965, S. 139f. Karl-Heinz Ziessow: Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert. Das Kirchspiel Menslage und seine Lesegesellschaften 1790-1840. »Textteil« und »Dokumente und Kommentare«. (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen H.12 und 13) Cloppenburg: Museumsdorf 1988. Werner K. Blessing: Umwelt und ländliche Mentalität im ländlichen Bayern im 19. Jh. In: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), S. 1 - 4 2 . Hier: S. 31. Michael Knoche: Volksliteratur und Volksschriftenvereine im Vormärz. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), S. 1-130. Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Gotha 1841, Bd. 2, Sp. 4257f. K(arl) Schümm: Aus der Kirchengeschichte von Weißbach, o.O. o.J. [1959], S. 73, 80, 96f. Der bereits erwähnte Volksaufklärer und namhafte Pädagoge Johann Ferdinand Schlez hat dort in seinem neuen, größeren Wirkungskreis (er war vom Dorfpfarrer in Franken zum obersten Geistlichen der Grafschaft Schlitz mit ausdrücklichem Reformauftrag aufgestiegen) auch seine kleine Ippesheimer Dorfbibliothek in größerem Stil weitergeführt: die heutige Pfarrbibliothek in Schlitz (Hessen) zeigt noch beachtliche Reste davon.
Die Lesegewohnheiten
des »gemeinen Mannes« um 1800
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(Sachsen-Gotha). 75 Systematische Untersuchungen für einzelne Regionen fehlen bisher mit einer: 76 Ausnahme: allein für Schleswig-Holstein um 1800 hat Franklin Kopitzsch 42 Lesegesellschaften nachgewiesen, 77 von denen zumindest die in Cismar, Dissau/Curau, Flintbek, Marne, Neukirchen, Rundhof und Witzwort sich ausdrücklich an einfache Leser wandten und die in Eiderstedt, Keitum, Rellingen, W y k und ein »Nordangler Leseverein« ihnen vermutlich zumindest offenstanden. Das Füllen einer Landkarte mit topographischen Punkten wäre freilich nur Vorarbeit für das eigentlich Interessante: zu verfolgen, was diese Bibliotheken und Lesegesellschaften in den Köpfen des angesprochenen Publikums verändert haben; schließlich waren weitaus die meisten von ihnen nicht Antwort auf ein geäußertes Leseinteresse, sondern der Versuch, über einen Leseanreiz gezielt eine Mentalitätsveränderung im aufklärerischen Sinne zu bewirken. Das war wohl auch der Grund, warum viele von ihnen nach dem Wegzug oder Tod ihres Initiators abrupt endeten, und der Grund für Lothar Sonntags These, die Französische Revolution habe die Grundlagen für die praktische Umsetzung aufklärerischer [Bibliotheks-JIdeen zerstört. 78 Die Zahl der uns bekannten Fälle ist allerdings zu klein für ein abschließendes Urteil. Immerhin erfahren wir nicht nur von Widerstreben und Passivität des »Volkes«. So heißt es 1801 von der Nachfolgerin der erwähnten Bibliothek in Marne: Immer mehrere Orts- und Kirchspielseinwohner interessiren sich für das Anfangs blos für Schulen und deren Lehrer bestimmte Institut, und man scheint immer mehr auf
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Peter Vodosek: Beispiele staatlicher Förderung von öffentlichen Bibliotheken in Deutschland im 19. und 20. Jh. In: Paul Kaegbein/Peter Vodosek (Hrsg.): Staatliche Initiative und Bibliotheksentwicklung seit der Aufklärung. (Wolfenbütteler Schriften zur Gesch. d. Buchwesens Bd. 12) Wiesbaden: Harrassowitz 1985, S. 21-56. Hier: S. 24 und 50-53. Felicitas Marwinskis sonst opulente Darstellung der Lesegesellschaften in Thüringen (Anm. 63) behandelt Dorflesegesellschaften unter Hinweis auf die Quellenprobleme nur ganz knapp (S. 212-214) und geht dabei kaum über Jentsch: Zeitungslesen, 1937 (Anm. 53) hinaus. Interessant ist daneben der Versuch des Jenaer Studenten J. C. M y lius, auch reiche Bauern als Mitglieder für eine städtische Lesegesellschaft zu werben (Marwinski S. 55-61). Franklin Kopitzsch: Organisationsformen der Aufklärung in Schleswig-Holstein. In: Hartmut Lehmann/Dieter Lohmeier (Hrsg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat. 1770-1820. (Kieler Studien zur dt. Lit.gesch., Bd. 16) Neumünster: Wachholtz 1983, S. 5 3 - 8 5 , Liste: S. 74. - Zu den ländlichen Lesegesellschaften eingehender ders.: Lesegesellschaften und Aufklärung in Schleswig-Holstein. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Bd. 108 (Neumünster 1983), S. 141-170. Hier v.a. S. 160-167. Lothar Sonntag: Der Anteil der Volksbibliotheken an den Volksbildungsbestrebungen des deutschen Bürgertums vom Ende des 18.Jhs. bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 92 (1978), S. 361-374, 4 2 9 436. Hier: S. 372; vgl. Vodosek: Volksbibliotheken 1988 (Anm. 47), S. 163.
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Unterstützung des Publikums rechnen zu können; so daß es das Ansehen gewinnt, diese Leseanstalt werde bald eine noch umfassendere Bestimmung erhalten, nicht blos eine Schul-, sondern mehr und mehr eine Gemeindebibliothek werden. 79
Und der behutsam als Volksaufklärer agierende Pastor Johannes Löh konnte schon kurz nachdem er in seinem Pfarrdorf Burscheid einen Leseverein gegründet hatte, einen Buchbinder dafür gewinnen, in der Thielenmühle die erste Leihbibliothek in einem Dorfe des Bergischen Landes einzurichten. Damit muß für den aufklärerischen Literaturtransfer, den wir bisher vor allem als idealistischen Zuschußbetrieb kennengelernt haben, hier eine ökonomische Basis bestanden haben, obwohl auch für die Leihbibliothek der Pastor als ständiger Berater beim Ankauf von Büchern tätig blieb.80 Sogar für den Idealfall einer »Bibliothek fürs >VolkPhysikalischen Lexikon< hatte ich aus dem Koffer genommen; in solchen Fällen ist ein Wörterbuch die willkommenste Begleitung, w o jeden Augenblick eine Unterbrechung vorfällt, und dann gewährt es wieder die beste Zerstreuung, in dem es uns von einem zum andern führt. 21
Im Gegensatz zu den Fachlexika richtete sich ein anderer Lexikontyp - wie schon die Titel dokumentieren - beinahe ausschließlich an einen klarumrissenen Personenkreis,22 so beispielsweise die beiden schon erwähnten Nachschlagewerke, das Studenten=Lexicon und das Frauenzimmer-Lexicon. Letzteres wandte sich an »dreyerley Classen Frauenzimmer [...], als nehmlich, das haushältige und sorgfältige, das curiose und galante, und endlich das gelehrte Frauenzimmer.«23 Daß der Frau als Benützerin von Lexika insbesondere seit dem 19. Jahrhundert von Seiten der Verleger erhöhte Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, belegt die Tatsache, daß das in Leipzig zwischen 1796 und 1808 in sechs Bänden erschienene Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtige Zeit unverändert auch unter dem Titel Frauenzimmer=Lexikon zur Erleichterung der Conversation und Leetüre herausgegeben wurde. Da die allgemeinen Nachschlagewerke - Universal- und Konversationslexika - thematisch keinen Begrenzungen unterlagen, waren sie folgerichtig an ein viel breiteres, vielschichtigeres Publikum adressiert. Wurde das Universallexikon für den gelehrten Laien verfaßt, den es in diejenigen »Disziplinen einführen will, 19 20
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Ebd., S. 1060f. Compendiöses Gelehrten-Lexicon. Nebst einer Vorrede Hn. D.Johann Burchard Menckens. Leipzig: Friedrich Gleditsch u. Sohn 1705, Vorrede. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Bd. 10: Autobiographische Schriften II. München: Beck 7., neubearb. Aufl. 1981, S. 255 u. 687. So z. B. auch Wilhelm Weiß: Kinder Conversations-Lexikon in 425 Artikeln. Dillingen: Verlag Joseph Friedrich 1849. Amaranthes: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexikon (Anm. 14), Vorrede S. 3.
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in denen er kein F a c h m a n n ist«, s o will im G e g e n s a t z d a z u das Konversationslexikon » d e n interessierten, aber nicht speziell gebildeten L e s e r « a n s p r e c h e n , 2 4 also » d e n T h e i l des Publicums, der keine P r o f e ß i o n v o n den Wissenschaften m a c h t , aber d o c h ein F r e u n d der L e c t u r e und nützlicher Kenntnisse ist, für den M a n n v o m Stande, Soldaten, K a u f m a n n , und für den s c h ö n e r n Theil des menschlichen G e s c h l e c h t s . « 2 5 D a s erste bedeutendere L e x i k o n dieser A r t in Süddeutschland, das v o n d e m N ü r n b e r g e r D i a k o n F e r d i n a n d R o t h verfaßt w u r d e und im späten 18. J a h r h u n d e r t in zwei Auflagen erschien, w a n d t e sich dabei b e w u ß t an » L e s e r aller K l a s s e n « . 2 6 R o t h -
der Volksaufklärung verbunden -
wollte das gesamte
»lesende P u b l i k u m « - v. a. die » U n s t u d i e r t e n « 2 7 - erreichen und nicht allein den aufgeklärten, gebildeten » B ü r g e r « . In dieser H i n s i c h t stellte R o t h s L e x i k o n eine A u s n a h m e dar; die Konservationslexika, insbesondere die beiden bedeutendsten des 19. J a h r h u n d e r t s , der Brockhaus
und der Meyer,
w a r e n gezielt an »die gebilde-
ten S t ä n d e « , 2 8 w o m i t in erster Linie das adelig-bürgerliche
Bildungsbürgertum
gemeint war, bzw. an »die Gebildeten eines jeden S t a n d e s « 2 9 adressiert.
24 25
Kossmann: Deutsche Universallexika (Anm. 9), Sp. 1575. Heinrich Martin Gottfried Köster (Hg.): Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real=Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten. Bd. 1. Frankfurt/M.: Varrentrapp Sohn & Wenner 1778, Vorrede S. 2. Hierzu Jürgen Voss: Deutsche und französische Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts. In: Werner Schneiders (Hg.): Aufklärung als Mission. Akzeptanzprobleme und Kommunikationsdefizite. (Das Achtzehnte Jahrhundert, Suppl. 1) Marburg: Hitzeroth 1993, S. 2 3 8 247. Hier S. 2 4 3 - 2 4 5 .
26
Johann Ferdinand Roth: Gemeinnütziges Lexikon für Leser aller Klassen, besonders für Unstudierte; oder kurze und deutliche Erklärung, sowohl in den vornehmsten Wissenschaften und Künsten, als in gesellschaftlichem Umgange gebräuchlichen Redensarten, Ausdrücken und Kunstworte. 2 Bde. Nürnberg: Six 1787/88 (neu verb. Aufl. Nürnberg: Grattenauer 1791, 3. verb. Aufl. 1805/06 u. Halle: Rengersche Buchhandlung 1807).
27
Ebd. B d . 1, Vorrede (S. 2). Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände. (ConversationsLexicon). In zehn Bänden. Leipzig: F. A. Brockhaus, 5. Original=Ausgabe 1819. Zu seinem Herausgeber s. Gerhard Hense: Friedrich Arnold Brockhaus ( 1 7 7 2 - 1 8 2 3 ) . In: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Presseverleger des 18. bis 20. Jahrhunderts. (Publizistik-Historische Beiträge 4) Pullach: Verlag Dokumentation 1975 S. 9 1 - 1 0 1 ; s. auch den zunächst 1980 erschienenen instruktiven Essay von Walther Killy: Der Brockhaus von 1827. In: W. K : Von Berlin bis Wandsbeck. Zwölf Kapitel deutscher Bürgerkultur um 1800. München: C . H . Beck 1996, S. 1 9 8 - 2 3 5 ; Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Hg. von Joseph Meyer. Bd. 1 - 4 6 u. 6 Suppl. Bde. Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia: Bibliographisches Institut 1 8 4 0 - 1 8 5 5 . Vgl. auch: Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Hg. von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten. 12 Bde. Köln: Louis Bruère 1 8 2 4 - 1 8 3 3 .
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Allgemeines deutsches Conversations=Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes. Hg. von einem Vereine Gelehrter. 10 Bde. Leipzig: Verlag Gebrüder Reichenbach 1833-1837.
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Die Politisierung weiter Bevölkerungskreise im Vormärz und in der Revolution von 1848 führte nicht nur zu der Einsicht, daß »ein Conversations=Lexikon für alle Stände brauchbar sein muß«, 30 sondern insbesondere zu der Uberzeugung, daß das Konservationslexikon nicht blos ein Handbuch für die sogenannte gebildete Welt sein [soll], um Alle, die sich zu ihr rechnen, in den Stand zu setzen, über die Interessen der Zeit verständig zu sprechen. Die Zeit ist auf den Punkt gekommen, wo eine große Anzahl Derer, die sonst nicht zu der gebildeten Welt< gerechnet wurden, das Bedürfniß fühlen, sich über die Interessen aufzuklären, die sie so gut berühren als die Gebildeten. D e r kleine Kaufmann, der Handwerker, der kleine Fabrikant hat so gut nöthig, wie der Civil= und Militärbeamte, der große Fabrikherr, der große Kaufmann die Fortschritte der Wissenschaft, des Lebens und des Staats kennen zu lernen. 31
Bereits ein Jahrzehnt zuvor umriß Karl von Rotteck, zusammen mit Karl Welcker Herausgeber des bedeutenden liberalen Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, im Vorwort des ersten Bandes diese Aufgabe, »nicht nur den Gelehrten, sondern allen Gebildeten im Volk, allen die politische Mündigkeit Erstrebenden in allen Bürgerclassen eine willkommene Gabe zu bieten«. 32 Mit dieser Funktionsbestimmung des Lexikons durch Karl von Rotteck ist der vorläufige Höhepunkt eines mehrstufigen Entwicklungsprozesses erreicht, der vornehmlich für das allgemeine fachübergreifende Nachschlagewerk galt und seinen Anfang zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm. Mit den vielschichtigen Wandlungsprozessen des 18. Jahrhunderts erfährt das Lexikon eine umwälzende, neue Bedeutung, indem es über die bloße Zusammenfassung von Wissensstoffen33 hinausging und nun »mancherlei theoretische Einsichten und Beurteilungskriterien zur Verfügung« stellte, »die einer kritischen Betrachtung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse dienlich sein konnten« 34 und dies vor allem auch sollten. Wie die Moralischen Wochenschriften und die vielfältige Zeitschriften- und Reiseliteratur leisteten die bedeutenden Nachschlagewerke des Aufklärungszeitalters einen - bisher unzureichend gewürdigten - publizistischen Beitrag zur Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft und zur Artikulierung einer öffentlichen Mei30
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33 34
Wigand's Conversations=Lexicon. Für alle Stände. Von einer Gesellschaft deutscher Gelehrten bearbeitet. Bd. 1. Leipzig: O t t o Wigand 1846, Vorwort, S. V. Bereits ein Jahr vor diesem erschien ein: Volks-Conversationslexikon. Umfassendes Wörterbuch des sämmtlichen Wissens. Bearbeitet von Gelehrten, Künstlern, Gewerbe- und Handeltreibenden, und hg. von der »Gesellschaft zur Verbreitung guter und wohlfeiler Bücher«. 18 Bde. Stuttgart: Riegersche Verlagsbuchhandlung 1 8 4 4 - 1 8 4 6 . Ebd., Vorwort S. IV. Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften. Bd. 1. Altona: Hammerich 1834, Vorwort S. X X V I I . Hierzu Kossmann: Deutsche Universallexika (Anm. 9), Sp. 1 5 5 5 - 1 5 6 0 . Utz Haltern: Politische Bildung und bürgerlicher Liberalismus. Zur Rolle der Konversationslexika in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 6 1 - 9 7 . Hier S. 65; hierzu auch Monika Estermann: Lexika als biblio-kulturelle Indikatoren. Der Markt für Lexika in der ersten Jahrhunderthälfte. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 2 4 7 - 2 5 8 .
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nung. 3 5 In Wechselbeziehung mit der Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihrem politischen Anspruch stehen wissenschaftliche und pädagogische Aufklärung. Die Lexika suchten diesen Ansprüchen gerecht zu werden, indem sie das tradierte Bildungsangebot erweiterten; polemisch bringt der Kanzler der Universität Halle, Johann Peter von Ludewig, 1731 in seiner Vorrede zum ersten Band des Zedlerschen Universal-Lexicons*6 diesen Sachverhalt zum Ausdruck: Die hohe Schulen, da allerhand Wissenschaften gelehret und getrieben werden/nennet man deswegen UNIVERSITAETEN und ihre Lehren heissen STVDIUM VNIVERSALE. Und gleichwohl mag man von unserm V N I V E R S A L - L E X I C O N sagen: daß dessen Gräntzen viel weiter, als die Academische Wissenschaften/so viel derer auch seyn mögen/reichen. Der Leser findet alhier/nach alphabetischer Ordnung/nicht allein was zur T H E O L O G I E ; IVRISPRVDENZ; MEDICIN; PHILOSOPHIE; HISTORIE; MATHESI u.a. Dingen/welche auf hohen Schulen getrieben werden/gehörig: sondern auch viele Hof= Cantzeley= Jagd= Forst= Kriegs= und Friedens=Sachen; wie nicht minder dasjenige/was die Künstler und Handwercker, auch Hauswirthe und
35
Herausragendes Beispiel hierfür im Frankreich des 18. Jahrhunderts ist die zwischen 1750 und 1780 erschienene »Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers«; s. hierzu Eberhard Weis: Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Encyklopädie. (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 14) Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1956; Manfred Höfler (Hg.): La lexicographie française du XVIIIe siècle. Actes du Colloque International de Lexicographie dans la Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ( 9 - 1 1 octobre 1979) (Wolfenbütteler Forschungen 18) Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1982, u. Frank A. Kafker (Hg.): Notable Encyclopedias of the Late Eighteenth Century. Eleven Successors of the Encyclopédie. (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 135) Oxford: Voltaire Foundation 1994. Vgl. auch allgemein Ernst Manheim: Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. u. eingeh v. Norbert Schindler. (Kultur und Gesellschaft. Neue historische Forschungen 4) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1979 sowie die Ausführungen und Literaturhinweise von Lucian Hölscher: Öffentlichkeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 4. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 413-467, und Rudolf Schlögl: Öffentlichkeit. In: Helmut Reinalter (Hg.): Lexikon zu Demokratie und Liberalismus 1750-1848/49. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 224-231.
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S. hierzu Herbert G. Göpfert: Zedlers »Universal-Lexicon«. In: H. G. G.: Vom Autor zum Leser. Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1977, S. 63-75; Kossmann: Deutsche Universallexika (Anm. 9), S. 1563ff., und Peter E. Carels und Dan Flory: Johann Heinrich Zedler's Universal Lexicon. In: Frank A. Kafker (Hg.): Notable Encyclopedias of the Seventeenth and Eighteenth Centuries: Nine Predecessors of the Encyclopédie. Oxford: Voltaire Foundation 1981, S. 1 6 5 196; Voss: Enzyklopädien (Anm. 25), S. 238-241; Horst Dreitzel: Zedlers »Großes vollständiges Universallexikon«. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 18 (1994), S. 117124; zu seinem Verleger s. Gerd Quedenbaum: Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Zedier 1706-1751. Ein Buchunternehmer in den Zwängen seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Buchhandels in 18. Jahrhundert. Hildesheim, New York: Olms 1977.
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Kaufleute im Gebrauch/woran insgemein auf hohen Schulen nicht gedacht zu werden pfleget. 37 Ludewig will damit die Aufmerksamkeit auf diejenigen Bereiche des bürgerlichen Lebens lenken, die von den klassischen Bildungsträgern bisher nicht ausreichend gewürdigt wurden; 3 8 sie gilt es im Sinne des aufgeklärt-absolutistischen Nützlichkeits- und Fortschrittsdenkens einer breiten Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Dies führte zu einer zweiten - pragmatischen - Aufgabe der Lexika im 18. Jahrhundert: Der Privatmann soll in den Stand gesetzt werden, sich rasch, bequem und gründlich über Grundsätzliches informieren zu können: 3 9 Sind die einzeln Artikel eines Realwörterbuchs mit deutscher Gründlichkeit [ . . . ] abgefaßt, sind sie [...] alles erschöpfende Quintessenz dessen, was in neuern Zeiten brauchbares, über diese oder jene Materie gesagt worden, zeigen sie, wie allemal geschehen sollte, zugleich die besten Bücher an, w o man weiter nachlesen kann, so wird dadurch viel Zeit erspart, und der Mangel einer großen Bibliothek ersetzt. 40 Diese Feststellung, in der die Grundsätze des Aufbaus eines Lexikonartikels - die auch heute noch Gültigkeit haben - zusammengefaßt sind, führte den schon mehrfach zitierten Gewährsmann Christian Heinrich Schmid zu der Forderung, daß jede Stadt [ . . . ] in der That die ganze Folge dieser Wörterbücher auf öffentliche Kosten anschaffen [sollte], damit jeder Einwohner sich in erforderlichen Fällen daraus belehren könnte. Vortreflich ist die Verfügung in den preußischen Landen, wo alle Cameralcollegien die Krünitzische Encyclopädie 41 auf gemeine Kosten kaufen müssen. 42 37
38
39
40 41
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Zedier, Bd. 1, Halle und Leipzig 1742, Vorwort S. 6; vgl. hierzu Johann Gottfried Gruber (Anm. 8), S. IX: »So kam es denn, daß in des verflossenen Jahrhunderts letztem Viertel Universitäten und Encyclopädien sich einander berührten; ja man hätte Grund, zu behaupten, daß die Universität, die nicht hinter ihrer Zeit zurückblieb, zu einer lebendigen Encyclopädie wurde. Lehren und Lernen selbst ward encyclopädisch. [...] Genau genommen aber läßt sich die Universität kaum mit einer systematischen Encyclopädie vergleichen, sondern höchstens mit einer in alphabetischer Ordnung.« Vgl. hierzu z. B. auch Johann Christoph Gottsched (Hg.): Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Zum Gebrauch der Liebhaber derselben. Leipzig: Fritsch 1760, Vorwort. Dies veranlaßte schon Johann Theodor Jablonski 1721 zu seinem Lexikon; vgl. Johann Theodor Jablonski: Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften. Leipzig: T. Fritschen 1721 (3., stark verm. Aufl. Königsberg u. Leipzig: Zeisens Witwe u. Hartungs Erben 1767), Vorbericht: »Der bequeme Gebrauch derselben, indem sie ohne Mühe finden lassen, was man suchet, hat sie angenehm gemacht, und der Nutz, weil sie in einer Kürtze lehren, was man zu wissen verlanget, hat ihren Gebrauch angepriesen.« Verzeichniß (Anm. 10), S. 1061. Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats=, Stadt=, Haus= und Landwirtschaft. 242 Bde. Berlin: J.Pauli 1773-1858 (Microfiche-Ausgabe Hildesheim: Olms 1982). Hierzu: Annette Fröhner: Technologie und Enzyklopädismus im Ubergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Johann Georg Krünitz (1728-1796) und seine Oeconomisch-technologische Encyklopädie. (Mannheimer Historische Forschungen 5) Mannheim: Palatium im J & J Verlag 1994; Ulrich Troitzsch:Johann Georg Krünitz. In: Wilhelm Treue u. Wolfgang König (Hg.) Berlinische Lebensbilder. Techniker. (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 60) Berlin: Colloquium Verlag 1990 , S. 1 - 1 4 . Verzeichniß (Anm. 10), S. 1061.
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E s sind dann v o r allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Lesegesellschaften -
als bürgerliche Organisationsformen der Aufklärung - , die Lexika
z u m G r u n d s t o c k ihrer Bibliotheken machen; so heißt es in den Statuten der 1802 gegründeten Münchener Lesegesellschaft »Museum«, daß »als Hülfsmittel [ . . . ] die nöthigen Diktionäre, [ . . . ] topographische, statistische und historische W ö r t e r bücher [ . . . ] beigeschafft« werden sollen. 4 3 D e m g e m ä ß finden sich im 1818 ausgefertigten Bibliothekskatalog immerhin 2 8 verschiedenartige F a c h - und Sachlexika, W ö r t e r b ü c h e r und allgemeine Nachschlagewerke; gemessen am Gesamtbestand der Bibliothek sind dies 1818 3 , 7 % und zwei Jahrzehnte später 2,3 % der vorhandenen B ä n d e . 4 4 N i c h t nur J o h a n n Christoph Adelungs Versuch gen
grammatisch-kritischen
Wörterbuchs
der
Hochdeutschen
eines
vollständi-
Mundart
konnte
hier benutzt werden, sondern ebenso die bis z u m J a h r 1818 erschienenen 88 Bände der bereits erwähnten Oeconomischen Krünitz, ferner das zehnbändige Encyklopädische lage der Originalausgabe des
Encyclopädie Wörterbuch
von J o h a n n G e o r g und die vierte Auf-
Brockhaus.45
Eine neue E p o c h e des Lexikons in Deutschland beginnt zu E n d e des 18. J a h r hunderts mit dem Erscheinen des »Konversationslexikons«, »das gegenüber der E n c y c l o p ä d i e als einer planmäßigen Bestandsaufnahme des Wissens unter übergreifenden philosophischen Gesichtspunkten ein auf zuverlässige
Information
und breite aktuelle Bildung abzielendes Nachschlagewerk sein will.« 4 6
43 44
45
46
Verfassung des Museums in München, o . O . (München) 1803, § 3. Uwe Puschner: Die Gesellschaft »Museum« ( 1 8 0 2 - 1 8 4 7 ) . Bemerkungen zu einer Münchener Lesegesellschaft in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens. In: Buchhandelsgeschichte 1982, S. Β 49 - Β 56. Hier S. Β 51f. Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch=kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. 5 Bde. Leipzig: Breitkopf 1 7 7 4 - 1 7 8 6 ; Encyclopädisches Wörterbuch oder alphabetische Erklärung aller Wörter aus fremden Sprachen, die im Deutschen angenommen sind, wie auch aller in den Wissenschaften, bey den Künsten und Handwerken üblichen Kunstausdrücke. Bearb. von einer Gesellschaft Gelehrten. 10 Bde. Zeitz und Naumburg: Gottlob Heinrich Heinse 1 7 9 3 - 1 8 0 3 ; Conversations=Lexikon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, 10 Bde. Altenburg und Leipzig: F. A. Brockhaus 4. Orig. Ausg. 1817. Haltern: Politische Bildung (Anm. 34), S. 66f.; s. auch Ernst Herbert Lehmann: Geschichte des Konversationslexikons. Leipzig: F. A. Brockhaus 1934, und Georg Meyer: Das Konversationslexikon, eine Sonderform der Encyclopädie. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildungsverbreitung in Deutschland. Diss. phil. Göttingen 1965. Frühformen dieses spezifischen Lexikontyps erschienen bereits im frühen 18. Jahrhunderts, Z.B.Johann Hübner: Reales Staats- Zeitungs- und Conversationslexicon. Leipzig: Gleditsch'sche Verlagsbuchhandlung 1704 (4. Aufl. 1709; 31. Aufl. 1825; Microfiche-Edition der Ausgabe von 1737. München: K. G . Saur Verlag 1992), und Antonio Moratori (Hg.): Bequemes Correspondenz- und Conversations-Lexicon. Nürnberg: Peter Conrad Monath 1727. Zum »Hübner« s. Walther Killy: Große deutsche Lexika und ihre Lexikographen 1 7 1 1 - 1 8 3 5 . Hederich, Hübner, Pierer. München: K. G. Saur Verlag o . J . (1993), S. 1 2 - 1 9 .
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Das Konversationslexikon entstand aus dem Bedürfnis heraus, die wissenschaftlichen Errungenschaften und Erkenntnisse der E p o c h e sowie deren spezifische Begriffe, ihre Terminologie, die in das Alltagsleben und die schaftliche -
außerwissen-
Sprache eingedrungen waren, allgemeinverständlich zu erläutern
und dem Laien benützbar und nutzbar zu machen: Zu einer Zeit, in welcher ein allgemeineres Streben nach Geistesbildung, wenigstens nach dem Schein derselben (zu gleicher Zeit die Ursache und die Folge der immer mehr sich verbreitenden Annäherung der Geschlechter und Stände in ihren Begriffen an einander), das Weib wie den Mann, den Nichtgelehrten wie den Gelehrten in einen gemeinschaftlichen Conversations=Kreis führt, in welchem man gewisse gemeinschaftliche Begriffe und Kenntnisse bei einem jeden schon aus Höflichkeit voraussetzt, deren Mangel zwar nicht selten Statt findet, aber doch ohne Scham nie verrathen wird, zu einer solchen Zeit muß ohne Zweifel ein dem gegenwärtigen Umfange der Conversation angemessenes Wörterbuch für dieselbe mehr als jemahls nothwendig und nützlich sein. 47 Zunächst und v o r allem als »Rathgeber und Helfer« konzipiert, entwickelte sich das Konversationslexikon im 19. Jahrhundert z u m »tüchtigen Werkzeug zur intellektuellen E m a n z i p a t i o n « . 4 8 Bedingt durch »den lebhafteren Verkehr der Völker unter sich«, »durch die allgemeiner und klarer gewordene Theilnahme an den Interessen des Staats, der Kirche, der Wissenschaft, der Kunst und des bürgerlichen Lebens überhaupt«, 4 9 befördert von der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts, wuchs das K o n versationslexikon - wie überhaupt das allgemeine Nachschlagewerk - nun in die Rolle eines Bildungsträgers und Wissensvermittlers sozusagen für den » H a u s b e darf«. 5 0 Die acht Auflagen in 1 8 0 0 0 0 Exemplaren und fünf Sprachen, die der Brockhaus
in knapp 30 Jahren (bis 1837) erfuhr 5 1 und die Wertschätzung durch
47
Renatus Gotthelf Löbel u. Christian Wilhelm Franke (Hg.): Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtige Zeit. T. 1. Leipzig: F. A. Leupold 1796 (1. Aufl. des »Brockhaus«), Vorrede, S. IV. Vgl. hierzu die Kritik von Johann Samuel Ersch: »Das weit verbreitete Conversationslexikon kann mit einer allgemeinen Encyclopädie schon deshalb nicht verglichen werden, weil es sich, seinem Zwecke gemäß, vorzüglich auf eine Auswahl von Gegenständen geselliger Unterhaltung beschränkt.«; Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. T. 1. Leipzig: Gleditsche'sche Verlagsbuchhandlung 1818, Vorbericht (von Johann Samuel Ersch) S. VIII.
48
Joseph Meyer: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Bd. 1. Hildburghausen, Amsterdam, Paris und Philadelphia: Bibliographisches Institut 1840, Vorwort (von Joseph Meyer) S. VIII und X I I . Friedrich Christian August Hasse: Einleitung. Ueber die Entwicklung des höheren geselligen Lebens in Europa, vorzüglich durch das Schriftenthum (die Literatur) in der neueren Zeit. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations=Lexicon). Bd. 1. Leipzig: F. A. Brockhaus 5. Original=Ausgabe 1819, S. X I - X X X I I . Hier S. X X X . Meyer: Das große Conversations-Lexicon (Anm. 48), S. VI. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2. München: C . H. Beck 1987, S. 525; Wolfgang von Ungern-Sternberg: Medien. In: Christa Berg u.a. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 3. Hg. v. Karl-Ernst Jeismann u. Peter Lundgreen. München: C. H. Beck 1987, S. 3 7 9 - 4 1 6 . Hier S. 393.
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Tb
die Zeitgenossen - selbst von lexikalischen Konkurrenzunternehmen 5 2 - mögen dies belegen. Die Intention der Verleger, Herausgeber und Verfasser der Lexika entsprang dem Wunsch, dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, sich selbständig Wissen anzueignen; 53 demgemäß verstand Joseph Meyer das von ihm herausgegebene Conversations-Lexicon wie jede Realencyclopädie »als eine Vorschule für den Universal=Unterricht, der unsere Kinder von der Tyrannei des Pedantismus befreien und den Vortheilen allgemeiner Bildung zuführen wird.« 5 4 Die Forderungen einer breiten Allgemeinbildung, der »intellectuellen Gleichheit« und der »Entwickelung der Volks=Intelligenz« sind nach Meyer die grundlegenden Voraussetzungen, um »die öffentliche Wohlfahrt auf breitern, vernünftigem und dauerndem Grundlagen [zu] befestigen.« 55 Diese von der Aufklärung übernommene Idee, daß die Prosperität des Staates vom Bildungsniveau seiner Bürger abhängig sei, erhebt das Konversationslexikon zum gesellschaftspolitischen, emanzipatorischen Instrument, indem »dem deutschen Volk ein Werk in die Hand« gegeben wird, das, »im Dienste der Wahrheit, des Rechts und der Freiheit verfaßt, den Lesern ein Mittel biete, die geistigen Bewegungen unserer Zeit in 52
53
54 55
Vgl. z.B. Heinrich August Pierer (Hg.): Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Bd. 1. Altenburg: H. A. Pierer 2., völlig umgearb. Auflage 1841 (1. Aufl. 1824-1836; Microfiche-Edition München: K. G. Saur Verlag 1992), Vorwort (von Heinrich August Pierer) S. XXXIX f.; Allgemeines deutsches Conversations=Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes. Hg. von einem Vereine Gelehrter. Bd. 1. Leipzig: Gebr. Reichenbach 1840, Vorwort, S. I. Zum Pierer s. Killy: Große deutsche Lexika (Anm. 46), S. 24-35. Beispielhaft hierfür sei der Dichter Friedrich Hebbel erwähnt, der sich in seinem Geburtsort Wesselburen im Norderdithmarschen im Haus (1827-1835) seines Dienstherrn Johann Jakob Mohr autodidaktisch in dessen Bibliothek bildete: Hier liest er auch im »Brockhaus« in der Ausgabe von 1820. Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel. Wesselburen. Lebenszeugnisse und dichterische Anfänge. Berlin: Erich Reiß Verlag 1925, S. 124 (An Christinen, London, 14. 6. 1862, Nr. 440), und Rolf Engelsing: Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert. In: R. E.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 4), S. 180-224 u. S. 297-304. Hier S. 212f. Ein weiteres Beispiel gibt Ludwig I. von Bayern. Aus den überlieferten Leihscheinen der Bayerischen Staatsbibliothek wird deutlich, daß er nicht nur ein häufiger Benutzer war, sondern auch ein intensiver Rezipient von Lexika. So ließ er 1840 und 1847 den 8. und 43. Band des Zedier, 1840 den Pierer (Bde. 2 u. 9), 1841 den 2. Band des Universallexikons aller Wissenschaften und Künste und 1842 das Rotteck-Welckersche Staatslexikon ausleihen. Bayerisches Hauptstaatsarchiv Nachlaß Ludwig I. 52/2/8. Zu Karl May als Benutzer von Pierers Universallexikon s. Rudi Schweikert: Eins, zwei, drei: »Welch eine Ueberraschung! Das war ja das Vater unser!« Ein artistischer Trick Karl Mays: Nachschlagen und Erzählen. Vom Beten und Erzählen in fremden Zungen. In: Die Hören. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 40 (1995), Nr. 178, S. 4 5 52. Meyer: Das große Conversations-Lexicon (Anm. 48), S. VI. Ebd., S. VI; vgl. auch Wigand's Conversations=Lexicon, Bd. 1, Leipzig 1846, Vorwort.
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ihren Ursachen, Gründen, Richtungen und Resultaten deutlich zu erkennen und zu würdigen.« 5 6 Vor allem in den beiden Jahrzehnten v o r und nach der Revolution v o n 1848 verdichten sich diese Anstrengungen, durch das Lexikon »politische Bildung im liberalen Sinne möglichst breiten Bevölkerungsschichten zu vermitteln.« 5 7 Carl v o n Rotteck drückt dies bereits im V o r w o r t der ersten Auflage des Staatslexikons v o n 1834 mit den Worten aus, daß durch dieses Werk »alle der verständigen Beurteilung fähige oder zu solcher Fähigkeit mit Erfolg heranzubildende Bürger [...] in den Stand« gesetzt werden sollen, »die Rechte und Pflichten auszuüben, welche ihnen in der Eigenschaft als aktive Bürger eines konstitutionellen Staates oder überhaupt als mündige Bürger oder die Mündigkeitserklärung ansprechende Bürger eines Rechtsstaates zustehen.« 58 U n d er fährt fort: »Für alle diese Zwecke erscheint die lexikalische Form weit passender und entsprechender als die des schulgerecht systematisirenden Lehrbuches.« 5 9 Dem Lexikon des aufgeklärten 18. und des vormärzlichen 19. Jahrhunderts kommt damit eine - bisher unzureichend gewürdigte - Funktion im gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozeß zu: Es ist Bildungsträger neuer Wissens- und Erkenntnisstoffe 6 0 mit dem pädagogischen Ziel, dem »mündigen« bzw. dem mit Hilfe des Lexikons zur Mündigkeit gelangenden Bürger weltanschauliche Werte zu vermitteln. 6 1 Vor allem in den 1840er Jahren wächst das (allgemeine) Lexikon in die Rolle eines ideologischen »Lehrbuches« hinein: »Selbst in politischer Beziehung«, schreibt Wilhelm Binder aus katholisch-konservativer Sicht, scheinen uns die Encyclopädien, welche in den Bereich unserer Concurrenz treten [...], nicht die Garantien zu geben, die ihnen den besondern Beifall der Regierungen erwerben, oder sichern könnten. Wenn wir auch, mit Ausnahme eines neuesten Leipziger Machwerkes, das wir unbedingt als communistisch=radical bezeichnen müßen, keinem derselben geradezu umwälzende Tendenzen unterschieben wollen: so erblickt doch selbst ein nur halbwegs geöffnetes Auge, namentlich in den neuesten Fortsetzungen 56 57 58 59 60
61
Wigand's Conversations=Lexicon, Vorwort S. Vf. Haltern: Politische Bildung (Anm. 34), S. 75. Rotteck/Welcker: Staats-Lexikon (Anm. 32), Bd. 1, Vorwort S. XXIV f. Ebd., Bd. 1, S. XXVI. »Das Universal=Lexikon soll nun vorzüglich ein Handbuch sein, das jedem Privatmann als Hülfsbuch beim Lesen wissenschaftlicher Werke und bei jedem Verhältniß des Lebens Auskunft gibt, ein Nachschlagebuch, das über alle Dinge unterrichtet, die ihm entweder unbekannt sind, oder über die er nähere Erläuterung wünscht, indem die Details dem Gedächtniß entfallen sind, ein Spiegel, der die Vielseitigkeiten des Lebens treu wiedergibt, ein Hausbuch für Jedermann, eine compendiose Bibliothek, ein wissenschaftlicher Nothhelfer für alle Fälle.«; Heinrich August Pierer (Hg.): Universal-Lexikon (Anm. 52), Vorwort, S. XXVIII. »Das Staatslexikon hat sich hiernach wirklich zur Aufgabe gesetzt, nicht nur den Gelehrten, sondern allen Gebildeten im Volk, allen die politische Mündigkeit Erstrebenden in allen Bürgerclassen eine willkommene Gabe zu bieten.« Carl von Rotteck. In: Rotteck/Welcker: Staats-Lexicon (Anm. 32), Bd. 1, Vorwort, S. XXVII.
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mancher derselben, nicht nur deutliche Spuren jener auflösenden, liberalen Propaganda, der nichts Altes heilig ist, die, wenigstens dem Principe nach revolutionär, fremdes Eigenthum an sich reißen, Bestehendes anzutasten und zu untergraben strebt. 62 E s verwundert daher nicht, daß Karl Welcker die Neuauflage des Staatslexikons 1846 mit einem V o r w o r t » U e b e r das heutige Fürstenthum und Bürgerthum, über ihre und des Staatslexikons Aufgabe« einleitet und die liberalen M a x i m e n
-
»staatsbürgerliche Repräsentatiwerfassung und [ . . . ] politische Vereinigung z u ihrer gesetzlichen E r k ä m p f u n g und Vertheidigung« - auf »das Panier [ . . . ] für das Staatslexikon« schreibt. 6 3 U n d wenn im selben J a h r 1 8 4 6 Binders Allgemeine alencyclopädie
Re-
mit der Begründung erschien,
daß die große Mehrzahl deutscher Katholiken es sich bis anher gefallen ließ, Encyclopädien zu ihrem Gebrauche zu haben, welche theils in direct feindlicher, ultraprotestantischer und die Geschichte entstellender, Weise abgefaßt sind, theils eine gewisse Indifferenz, jedoch immer mit protestantischen Voraussetzungen, an der Stirne tragen, 64 so wird an diesen Beispielen der konfessionell-weltanschauliche
Politisierungs-
p r o z e ß deutlich, dem - analog zu Staat und Gesellschaft - das L e x i k o n von nun an zunehmend ausgesetzt w a r . 6 5 In diesem Betrachtungsrahmen gewinnt das L e x i k o n zwischen Aufklärung und 4 8 e r Revolution - und wohl auch darüber hinaus - vergleichbar den Zeitschriften dieser E p o c h e n für die historisch orientierten Wissenschaften mehrdimensionalen Quellencharakter, im kulturgeschichtlichen wie auch im Bereich einer allgemeinen
62
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Ideengeschichte
und
insbesondere
einer
Geschichte
der
politischen
Wilhelm Binder (Hg.): Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland. Bd. 1. Regensburg: Manz 1846, Vorwort S. V. Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.): Supplemente zur ersten Auflage des Staatslexikons. Bd. 1. Altona: Hammerich 1846, Vorrede S. 6. Im Vorwort des ersten Bandes der Erstauflage des Staatslexikons schreibt Rotteck: »Unsere Losung daher ist: Gerechtigkeit, Wahrheit, Gemeinwohl, innige, dem Geist des constitutionellen Systems entsprechende Vereinbarung der wahren Rechte und Interessen, der Regierung, allernächst also der Thronen, mit jenen der Völker.«Politisierung< der literarischen Intelligenz im Ersten Weltkrieg
Abstract Der Aktenbestand aus dem (von der Forschung bislang unberücksichtigten) ersten Ermittlungsverfahren gegen Ernst Toller im Frühjahr 1918 bildet die Grundlage für eine Rekonstruktion des Wegs zur Politik, der Toller nach Kriegsende zu den bekannten Aktivitäten in der Münchner Räterepublik führte. Die Rekonstruktion stellt zugleich einen Baustein zu einer empirisch gehaltvollen Theorie des politischen Verhaltens der expressionistischen Schriftsteller zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik dar. The surviving records of the first preliminary proceedings against Ernst Toller in spring 1918 (so far neglected by researchers) form the basis of a reconstruction of the political path which led Toller after the Armistice to his wellknown involvement with the Munich Räterepublik. At the same time, this reconstruction represents one major element of an empirically supported theory of the political behaviour of Expressionist authors between the German Empire and the Weimar Republic.
I.
» F r ü h e r habe ich mich f ü r Politik nicht mehr interessiert, als dies bei Angehörigen meiner Bildungsstufe üblich ist«, 1 gab der 24jährige U n t e r o f f i z i e r E r n s t Toller während der Vernehmung zu Protokoll, die anläßlich der Voruntersuchung gegen » K u r t Eisner und G e n o s s e n « wegen versuchten Landesverrats a m 4. F e b r u a r 1918 stattfand. Ein Jahr später w u r d e Toller Vorsitzender der bayerischen U S P D und spielte k u r z darauf eine f ü h r e n d e Rolle in der Münchner Räterepublik, derentwegen er zu einer fünfjährigen Festungshaft wegen Hochverrats verurteilt wurde. Während das Hochverratsverfahren in der Toller-Literatur ausführlich d o k u m e n tiert ist, 2 blieb das erste Ermittlungsverfahren wegen versuchten Landesverrats bislang gänzlich unbeachtet. 1
2
Niederschrift der Vernehmung Tollers, 4. 2. 1918. Oberreichsanwalt am Reichsgericht (zitiert als O R A / R G ) , C 24/18. In: Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten. In der Vernehmungsniederschrift steht »interßiert«. - Die Orthographie in den Zitaten haben wir der heutigen Schreibweise angepaßt (ss = ß, c = k, etc.) So z. B. die Materialsammlung in Bd. 6: Der Fall Toller. Kommentar und Materialien in der Ausgabe: Ernst Toller: Gesammelte Werke in 6 Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald und John W. Spalek. München, Wien: Hanser 1979. Zitiert als GW, Bandangabe und Seitenzahl; Kurt Kreiler: Die Schriftstellerrepublik. Zum Verhältnis von Literatur und Politik in der Münchner Räterepublik. Ein systematisches Kapitel politischer Literaturgeschichte. Berlin: Klaus Guhl 1978; Hansjörg Viesel (Hg.): Literaten an der
Ernst Toller: Auf der Suche nach dem geistigen
Führer
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In diesem Verfahren wurde Toller dringend verdächtigt, gemeinschaftlich mit anderen zu München im Januar und Februar 1918 durch Handlungen, die einen Anfang der Ausführung des von ihnen beabsichtigten, jedoch nicht zur Vollendung gekommenen Verbrechens enthalten, den Entschluß getätigt zu haben, als Deutscher vorsätzlich während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges der Kriegsmacht des Deutschen Reiches Nachteil zuzufügen. 3 Toller habe versucht, so der umständliche Text der Anklage, in »fortgesetzter Ausführung eines einheitlichen Vorsatzes, im einverständigen Zusammenwirken mit anderen einen über das Reich sich erstreckenden Massenstreik der in Rüstungsbetrieben beschäftigten Arbeiter herbeizuführen«. 4 Dieses Ermittlungsverfahren 5 ist nicht allein als biographisches Detail von Bedeutung. In dem umfangreichen Konvolut der Ermittlungen des Oberreichsanwalts befindet sich nicht nur historisch, sondern auch literarhistorisch aufschlußreiches Material, 6 das wichtige Informationen über die weltanschauliche Orientierung und die >Politisierung< Tollers während des Weltkriegs enthält. Gerade diese formative Phase in der Entwicklung Tollers findet in dessen deutlich stilisierten autobiographischen Arbei-
ten - der Autobiographie Eine Jugend
in Deutschland,7
und den Briefen aus dem
Gefängnis ( G W 5) - eine ebenso geringe Beachtung wie in den größeren Biographien von Wolfgang Rothe 8 und Richard D o v e 9 sowie den zahlreichen biographischen Skizzen, 1 0 die Tollers politischer Orientierung meist erst in und nach der Münchner Räterepublik explizite Beachtung schenken. Für die Zeit des Welt-
3 4 5
6
Wand. Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1980, S. 361-370. Ebd. Ebd. Das Verfahren gegen Toller wurde anfänglich vom Landgericht München betrieben und war noch nicht in das gegen »Eisner und Genossen« vor dem Oberreichsgericht in Leipzig eingebunden. Ebenso wie Tollers ziviler oder militärischer Status (»Student« oder »Unteroffizier«) blieb längere Zeit strittig, ob das Landgericht in München oder ein Militärgericht zuständig sei. Erst mit Schreiben vom 31. 3. 1918 zog der Oberreichsanwalt das Verfahren »gemäß § 9 Abs I Satz 1 MStGO in Ansehung des ihm [Toller] zu Last gelegten Verbrechens« an sich. Vgl. Oberreichsanwalt, 31. 3. 1918 an den Untersuchungsrichter des Reichsgerichts beim Kgl. Landgericht München I. In: ORA/RG, C 24/18. In den Akten sind einige handschriftliche (Ur-)Fassungen von Toller-Gedichten überliefert, vgl. dazu demnächst: Christa Hempel-Küter: »Anklag ich Euch!« Zur >Politisie-
rung des lyrischen Ichs< in der frühen Lyrik Ernst Tollers.
7
8
9 10
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Amsterdam 1933. Zitiert nach GW 4 (Anm. 2). Im Text als A mit Seitenangabe. - Zur Problematik des Umgangs mit einer Autobiographie als Quelle vgl. auch Peter Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung. Autobiographie der Zwanziger Jahre. München, Wien: Carl Hanser 1978. Ernst Toller in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Dargestellt von Wolfgang Rothe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1983. Richard Dove: Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland. Göttingen: Steidl 1993. Bis zum Jahr 1979 ist die wissenschaftliche Literatur zu Leben und Werk Tollers dokumentiert in GW VI, 238-240; neuere Arbeiten in Dove: Toller, S. 347.
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Christa Hempel-Küter/Hans-Harald
Müller
kriegs werden häufig nur summarisch die Bedeutung des Kriegserlebnisses und der Einfluß Max Webers, Gustav Landauers und Kurt Eisners hervorgehoben. Weshalb Toller jedoch Anschluß an so verschiedenartige charismatische Persönlichkeiten suchte, wurde ebensowenig untersucht, wie sein keineswegs gradliniger Weg zur Politik, der für sein politisches Verhalten in der Weimarer Republik und im Widerstand nicht ohne Folgen blieb. Im Folgenden wollen wir versuchen, Tollers weltanschauliche und politische Orientierung bis zum Ende des Jahres 1918 vor allem anhand der (erst nach der deutschen Vereinigung zugänglichen 11 ) Prozeßunterlagen zu rekonstruieren. 12 Unser Beitrag versteht sich zugleich als Fallstudie zu einer (noch nicht vorliegenden) empirisch gehaltvollen Theorie des politischen Verhaltens der literarischen Intelligenz im Kaiserreich und der Weimarer Republik. 13
II. Ernst Toller, »das Kind am Rande«, 14 durchlebte eine Kindheit und Jugend, die recht früh durch das Bewußtsein geprägt wurde, einer Minderheit anzugehören. Ernst Hugo Toller wurde am 1. Dezember 1893 in Samotschin, Kreis Kolmar, Provinz Posen, im Königreich Preußen geboren. Er war das jüngste von drei Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die zur deutschsprachigen Minderheit innerhalb des mehrheitlich von Polen bewohnten Gebietes gehörte. Innerhalb dieser Minderheit am Rande des Reichsgebietes bildeten wiederum die Juden die Minorität. Ein gravierendes Problem des in privilegierten Verhältnissen Heranwachsenden - Tollers Vater war recht wohlhabend und in Samotschin als Stadt-
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D e n Hinweis auf die A k t e gegen »Eisner u n d G e n o s s e n « verdanken wir dem Berliner Kollegen O t t o k a r L u b a h n . Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß wir bei der A u s w e r t u n g der Prozeßunterlagen, insbesondere auch der psychiatrischen Gutachten, berücksichtigt haben, daß es sich bei ihnen stets auch u m strategische Einlassungen zur Erringung v o n Prozeßvorteilen handelt, deren Wahrheitsgehalt in jedem Fall einer kritischen A b w ä g u n g bedarf. Eine weitere solche Fallstudie liegt vor in: H a n s - H a r a l d Müller: Intellektueller Linksradikalismus in der Weimarer Republik. Seine Entstehung, Geschichte und Literatur dargestellt am Beispiel der Berliner G r ü n d e r g r u p p e der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands. K r o n b e r g / T s . : Scriptor 1977. - Z u einer empirisch gehaltvollen Theorie des politischen Verhaltens der Intellektuellen zwischen Kaiserreich und N a tionalsozialismus liegt hinreichend empirisches Material vor; ein entscheidendes P r o blem der Konzeptualisierung einer solchen Theorie liegt zweifellos in dem bislang nie hinreichend explizierten Begriff der >PolitisierungJude< rufen« (A, 21). Carmely bezeichnet Toller als einen Vertreter der »Gruppe von Juden-wider-Willen, die erst durch die Behandlung, die ihm seitens der Umwelt widerfährt, an ihre Herkunft erinnert werden«. 15 Nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges meldete Toller sich trotz seiner labilen physischen Konstitution unverzüglich als Freiwilliger, weil es »für ihn selbstverständlich war«, wie ein Psychiater im Frühjahr 1918 einen entsprechenden Bericht Tollers zusammenfaßte, »zur Fahne zu eilen, schon um als Jude zu zeigen, daß er als Deutscher fühlte«. 16 Zu einem unbekannten Zeitpunkt während seines Fronteinsatzes schrieb Toller aber an das zuständige heimatliche Gericht, »es möge ihn aus der Liste der jüdischen Gemeinschaft streichen« (A, 227). 17 »Es seien >innere Gründe< gewesen. Es sei nicht richtig gewesen, daß ihm seine Konfession geschadet habe, >d. h. dochPolitisierungsIch möchte, daß du mit Herrn Ernst Toller bekannt wirst, der auf mich den Eindruck von etwas sehr Ungewöhnlichem gemacht hat ...unpolitisch< in den Krieg gezogene, nun aber zum Pazifismus bekehrte jüngste Generation aus Jugendbewegung und Expressionismus betraf. »Den Plan eines bestimmten Berufes hatte er vor Kriegsausbruch noch nicht.« (G). Vgl. Angeschuldigten-Vernehmungen vom 1 8 . 4 . 1 9 1 8 , 1 9 . 4 . 1 9 1 8 , 2 0 . 4 . 1 9 1 8 , 22. 4 1 9 1 8 und 23. 4. 1918. In: ORA/RG, C 24/18. Im Text zitiert als V. Das Protokoll umfaßt 50 Typoskriptseiten. So wird Toller in G zitiert.
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schlossen wurde, die französische Grenze. In Deutschland meldete er sich trotz seines instabilen Gesundheitszustandes unverzüglich freiwillig zum Kriegsdienst. Die Motive für diesen Schritt hat er später nie genauer dargelegt. Die Vermutung liegt nahe, daß der 21jährige Toller wie seine Altersgenossen den Krieg als Schicksal und Heilsbringer begrüßte, die ihn aus persönlichen Problemen, Orientierungskrisen und Vereinzelung erlösen sollten. 37 »Ich habe nur einen Wunsch, ich will nach Deutschland« (A, 48), vermerkt er lakonisch in der Autobiographie. Ob er tatsächlich, wie es 1918 im Psychiatrischen Gutachten hieß, »zur Fahne« eilte, »schon um als Jude zu zeigen, daß er als Deutscher fühlte« (G), läßt sich nicht klären. Diese - für deutsche Juden zu Kriegsbeginn bekanntlich nicht untypische - Motivation schließt er in seiner Autobiographie zumindest nicht aus: »Der Kaiser kennt keine Parteien mehr, hier steht es schwarz auf weiß, das Land keine Rassen mehr, alle sprechen eine Sprache, alle verteidigen eine Mutter, Deutschland« (A, 50). Toller kam als Kriegsfreiwilliger zum 1. Bayrischen Fuß-Artillerie-Regiment. Am 30. 3. 1915 wurde er zum Gefreiten ernannt, 38 im gleichen Monat meldete er sich aus der Etappe dann freiwillig an die Front, um der unerträglichen Untätigkeit zu entkommen (A, 55). 13 Monate kämpfte Toller als Kanonier vor Verdun, erhielt möglicherweise eine Tapferkeitsauszeichnung 39 und wurde am 16. 3. 1916 zum Unteroffizier befördert. 40 Im April 1916 meldete er sich freiwillig zur Infanterie. Als der Major des badischen Zuges, dem er unterstellt war, ihn fragte, was er gegen die Artillerie habe, entgegnete er, so berichtet er in der Autobiographie: »Wir schießen und wissen nicht, auf wen. Die drüben schießen, wir wissen nicht wer. Ich will den Feind sehen, gegen den ich kämpfe« (A, 63). In einem psychiatrische Gutachten werden die folgenden Gründe für diese Entscheidung genannt: »Er konnte den Stellungskrieg nicht mehr mitmachen. Er fing damals schon an, an den Nerven zu leiden. [...] Der Stellungskrieg zermürbte seine Nerven. Er wollte raus in den Bewegungskrieg« (G). Nach kurzem Einsatz 37
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Durch eine solche Orientierungskrise ist zumindest der Protagonist Friedrich in Tollers erstem Drama, Die Wandlung (1918), charakterisiert. Auf der Suche nach Heimat (»Wo habe ich meine Heimat, Mutter?«), die - durch die Anspielung auf Ahasver nicht nur die geographische, sondern auch die religiöse Heimat meint, mit Vaterproblemen (»Er hat mir meine Jugend versperrt«) und mit Mutterproblemen (»Kann ich dich heute Mutter heißen, da du meine Seele aussetztes, wie törichte Mütter ihr nacktes Kind«), ohne bürgerlichen »Brotberuf«, mit Beziehungsproblemen (»Ich bin allein stark genug, ganz allein. Ich brauche niemand«) begrüßte Friedrich den Krieg als »Befreiung aus dumpfer quälender Enge«: »Nun kann ich meine Pflicht tun. Nun kann ich beweisen, daß ich zu ihnen gehöre.« (abgedruckt in GW 2 [Anm. 2], S. 7 - 6 1 ; alle Zitate erste Station, erstes Bild, S. 17, 18, 19, 20, 21). Auszug aus der Kriegs-Stammrolle. In: ORA/RG, C 24/18. Diese bei Rothe: Toller (Anm. 8), S. 133 ohne weitere Belege erwähnte »Tapferkeitsauszeichnung« für das Jahr 1915 ist in dem »Auszug aus der Kriegs-Stammrolle, die eine Rubrik «Orden, Ehrenzeichen und sonstige Auszeichnungen» enthält, nicht verzeichnet. In: ORA/RG, C 24/18. Auszug aus der Kriegs-Stammrolle, ebd.
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bei der Infanterie beantragte er seine Versetzung zu einem Fliegerkorps (G). In der Autobiographie begründet Toller diesen Schritt: »nicht aus Tapferkeit, nicht einmal aus Lust am Abenteuer. Ich will aus der Masse ausbrechen, aus dem Massenleben, aus dem Massensterben« (A, 73). Bevor es jedoch zu einer Versetzung kam, brach Toller zusammen. In der Autobiographie nehmen die Greuel seiner Kriegserfahrungen einen recht breiten Raum ein; ihre Beschreibungen gleichen bis in Details den Kriegserinnerungen anderer Infanteristen an der Westfront (ζ. B. Jünger, Schauwecker, Renn). Nach seinem Zusammenbruch verbrachte Toller zwei Monate in einem Krankenhaus in der Nähe von Straßburg, dann weitere zwei Monate in einem Sanatorium in Ebenhausen bei München und schließlich noch zwei Monate in einer Rekonvaleszenten-Kompagnie in der Nähe von Mainz. Am 15. Januar 1917 wurde er zum Studium nach München beurlaubt und zunächst bis zum 1. 4. 1917 vom Militärdienst zurückgestellt. 41 »Die meisten Studenten sind Krüppel und Kranke, die der Krieg freigab«, schreibt Toller in der Autobiographie; sein Studium fand »nicht in der Limonadenromantik der Alt-Heidelberg-Filme« (A, 80) statt. Dennoch wollte er in den ersten Wochen seines Studiums den Krieg nur noch vergessen: »Der Krieg? Das Wort verschattet meine Augen, seit Wochen habe ich keine Zeitungen mehr gelesen, ich will nichts wissen vom Krieg, nichts hören« (A, 75). Wie in Grenoble war Toller auch in München sowohl in der Juristischen als auch in der Philosophischen Fakultät immatrikuliert. 42 Neben verschiedenen einführenden Seminaren in die Rechtswissenschaft hatte er allerlei Seminare in der Deutschen Philologie belegt. So standen auf seinem Studienplan Seminare und Vorlesungen bei Friedrich von der Leyen, 43 Fritz Strich 44 und Franz Muncker; 45 allein bei Arthur Kutscher 46 besuchte er vier Veranstaltungen. Arthur Kutscher 41 42
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Ebd. Nach Auskunft von Frau Prof. Dr. Laetitia Böhm (Archiv der Ludwig-MaximiliansUniversität zu München) war Toller bereits seit dem WiSe 1914/1915 in München immatrikuliert, vom 1 6 . 8 . 1 9 1 4 bis zum 2 8 . 1 1 . 1 9 1 6 wurde er dort aber als »im Heere« geführt. (Schreiben vom 12. 9. 1994). Friedrich von der Leyen ( 1 8 7 3 - 1 9 6 6 ) ; 1 8 9 9 - 1 9 0 6 Privatdozent in München; 1906 bis 1920 (unterbrochen durch Gastprofessuren in den USA) Extraodinariat in der älteren Abteilung der Universität München; 1 9 2 0 - 1 9 3 7 (vorzeitig emeritiert) Ordinariat für Deutsche Philologie, besonders ältere Germanistik, Altnordisch und Deutsche Volkskunde in Köln; nach 1945 Honorarprofessur in Köln für Volkssage und Volksdichtung; 1 9 4 7 - 1 9 5 3 ordenti. Professur in München. Fritz Strich ( 1 8 8 2 - 1 9 6 3 ) ; 1 9 1 0 - 1 9 1 5 Privatdozent in München; 1915 ao. Prof. in München; 1 9 2 9 - 1 9 5 3 Ordinariat für neuere deutsche Sprache und Literatur in Bern. Franz Muncker ( 1 8 5 5 - 1 9 2 6 ) ; seit 1879 Privatdozent in München; 1 8 9 0 - 1 8 9 6 ao. Prof. für Deutsche Philologie (neuere, insbesondere deutsche Literaturgeschichte); seit 1896 ordenti. Professor in München. Arthur Kutscher ( 1 8 7 8 - 1 9 6 9 ) ; seit 1907 Privatdozent in München, 1 9 1 5 - 1 9 4 5 (suspendiert) Extraordinariat für Deutsche Literaturgeschichte in München; im Juni 1947 rehabilitiert und wieder Extraordinarius in München.
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nahm im Münchner Kulturleben bekanntlich eine exponierte Stellung ein; wegen seiner ausgeprägten Theaterleidenschaft und einer engen Bekanntschaft mit vielen Schriftstellern verband er das Studium der Germanistik mit Theaterbesuchen, Dichterlesungen und mit Aufführungen und Lesungen der Studenten. 4 7 Uber den Kutscher-Kreis machte Toller die Bekanntschaft von literarisch ambitionierten Gleichaltrigen. In seiner Autobiographie erinnert er sich: Einmal in der Woche lädt Kutscher die Studenten in ein Gasthaus. Thomas Mann, Karl Henckell, Max Halbe lesen aus ihren Werken, Frank Wedekind singt im harten Stakkato seine herrlichen diabolischen Balladen. Nachher gehen wir stundenlang durch die nächtlichen Straßen, wir schleudern uns die Modeworte der Literaturkritik an den Kopf, wir verteidigen und verdammen Schriftsteller. Jeder hat die Schublade voll mit Manuskripten, jeder träumt von Ruhm, jeder hält sich für begnadet und auserwählt (A, 74). Spätestens in München dürfte Toller einen genauen Einblick in die aktuelle Literaturszene und die jüngsten Entwicklungen des Expressionismus gewonnen haben. Bei den von Kutscher organisierten Lesungen lernte Toller aber auch bereits erfolgreiche Dichter wie wie Rainer Maria Rilke kennen, und er erhielt Zugang zum Hause der Familie Thomas Mann. O b w o h l Thomas Mann, wie Toller sich in seiner Autobiographie erinnert, ihm damals einen »langen Brief« (A, 75) zu seinen ersten Versen geschrieben habe, 4 8 scheint Toller keinen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben. 4 9 D e r von 1914 bis 1917 reichende Lebensabschnitt, der in biographischen Skizzen gern mit Uberschriften wie »Vom Patrioten zum Pazifisten« 5 0 versehen wird, war in Tollers Biographie in der Tat von dramatischen Zäsuren gekennzeichnet: D e r sensible, literarisch ambitionierte Heranwachsende entfloh der Enge des provinziellen kleinstädtischen Lebens in Bromberg und begann ein Studium in Grenoble. Von dort aus zog er wenige Monate später freiwillig für Deutschland in den Krieg. Wie viele seiner Altersgenossen, die von ungleich stabilerer Konstitution waren, war Toller den physischen und psychischen Belastungen des Grabenkrieges an der Westfront auf die Dauer nicht gewachsen; er brach zusammen. Als er nach seiner Wiederherstellung in München sein Studium wieder aufnahm,
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Vgl. dazu z.B. die Aufstellungen: »Exkursionen des theaterwissenschaftlichen Oberkurses« und »Aufführungen des Kutscher-Kreises«. Für Arthur Kutscher. Ein Buch des Dankes. Hg. von Herbert Günther. Düsseldorf: Pflugschar-Verlag 1938, S. 3 2 4 328 und S. 331-334. Rothe: Toller (Anm. 8), S. 34 erwähnt - ohne Beleg - eine schriftliche »ausführliche, wohlwollende Begutachtung«. Im Zusammenhang mit der Proklamation der Räterepublik in München erinnert Thomas Mann sich später in seinem Tagebuch: »Die Erlasse sind von dem ehemaligen Studenten Toller aus Ostpreußen gezeichnet, der uns einmal Eier schickte.« Thomas Mann: Tagebücher 1918-1921. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M.: S. Fischer 1979, S. 191. Rothe: Toller (Anm. 8), S. 31-42; Dove: Toller (Anm. 9), S. 3 4 - 4 7 : Vom Patriotismus zum Pazifismus 1914-1917.
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wandte sich stärker der Literatur zu und suchte, wie er in der Autobiographie schreibt, nach dem »Geheimnis«, dem »Gesetz« und »Sinn« hinter den Dingen (A, 80). Seine Versuche, das Kriegserlebnis zu verdrängen, schlugen fehl: »Ich atme den Frieden und die Sonne, ich will den Krieg vergessen. Aber ich kann ihn nicht vergessen. Vier, sechs Wochen geht es, plötzlich hat er mich wieder überfallen, ich begegne ihm überall« (A, 76). Der Krieg, von dem er sich im August 1914 eine sinnstiftende Wende in seinem Leben als Deutscher und Jude versprochen haben mag, erschien ihm nun als traumatischer Einschnitt nicht nur in sein Leben, sondern auch in das der emphatisch als »Brüder« (A, 70) bezeichneten Soldaten aller Nationen. Toller reagierte sensibel und empört auf die im Krieg erlebten Schrecken und Leiden, er suchte nach einem allgemeinen Sinn hinter dem Geschehen, doch von einer Wende zum Pazifismus oder gar zur Politik war er noch weit entfernt.
IV. In der Zeit vom 29.9. bis zum 2.10. 1917 nahm Toller an einer Tagung auf der Burg Lauenstein in Thüringen teil.51 Diese Tagung wurde von der Vaterländischen Gesellschaft 1914 in Thüringen, dem Dürerbund und der Comenius-Gesellschaft veranstaltet 52 und von dem Verleger Eugen Diederichs organisiert. Diederichs hatte sich als Verleger und als Mentor der deutschen Jugendbewegung seit längerem energisch für die Erneuerung von Kunst und Kultur eingesetzt und widmete sich in diesem Zusammenhang besonders intensiv der Pflege der Volkskunst wie der Unterstützung der unterschiedlichsten Reformbewegungen; eine Zielvorstellung, die ihn bei diesen Aktivitäten leitete, war eine »Kritik der Moderne, genauer: des modernen Rationalismus«. 53 Die Lauensteiner Tagung stand unter dem Thema: Das Führerproblem im Staat und in der Kultur. Diese Veranstaltung war die zweite ihrer Art. Bereits vom 29. Mai bis zum 31. Mai 1917 hatte sich als »eine Art Brainstorming interessierter Persönlichkeiten« 54 zum Thema 51
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Entgegen verschiedenen Darstellungen in der Sekundärliteratur nahm Toller, schenkt man nicht nur seiner Autobiographie, sondern vor allem den Vernehmungsprotokollen im Zusammenhang mit der Voruntersuchung wegen versuchten Landesverrats Glauben, nur an diesem zweiten Treffen teil. Vgl. Anm. 242 auf S. 344 zu Eugen Diederichs: Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen. Düsseldorf und Köln: Eugen Diederichs Verlag 1967. Gangolf Hübinger: Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne. In: Troeltsch-Studien. Bd. 4: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Hg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf. Güterloh: Gerd Mohn 1987, S. 92-114. Hier S. 92. - »Kein Verleger hat im wilhelminischen Deutschland das Potential des Buchmarktes so wie Eugen Diederichs für seine kulturkritischen und kulturpolitischen Ziele ausgeschöpft.« (Ebd.) Dieter Krüger: Nationalökonomen im wilhelmischen Deutschland. Göttingen: Vande-
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»Sinn und Aufgaben unserer Zeit« 55 ein ähnlich zusammengesetzter Kreis auf der Burg Lauenstein zusammengefunden und vor allem über das Thema des Einleitungsreferats Uber die deutsche Staatsidee debattiert. 56 Wie beim ersten Treffen hatte Diederichs auch zu der Herbstveranstaltung zum einen die intellektuelle Elite der deutschen Soziologie und Geisteswissenschaften eingeladen - u.a. Friedrich Meineke, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies und Max Weber - , zum anderen einige Schriftsteller wie Richard Dehmel, Karl Bröger und Walter von Molo; insgesamt etwa zwischen 50 bis 60 Personen. 57 Toller nahm, wie Karl Bröger und andere junge Künstler als Vertreter der Jugend an diesem Treffen teil. 58 Auf welche Weise Toller, der bis zu diesem Zeitpunkt weder durch eine bedeutende Veröffentlichung noch durch Aktivitäten in der Münchner Studentenschaft hervorgetreten war, in den illustren Kreis der Eingeladenen geriet, hat sich bislang nicht ermitteln lassen. 59 Nach einer Zeugenaussage Max Webers, auf der Tagung einer der Hauptredner, war Toller wie andere junge Männer als »Vertreter studentischer Verbände« 60 geladen. Die wichtige Rolle der Jugend bei diesen Zukunftsgesprächen hatte der Initiator Eugen Diederichs bereits nach der ersten Tagung in einem Brief an Walter von Molo hervorgehoben: »Besonders wirkte die neue Jugend auf die Herren Gelehrten, die sich von ihr sagen lassen mußte, sie beschäftigte sich jetzt mit Deutschlands Zukunft, nur weil sie ein schlechtes Gewissen< hätten.» 61 In einem anderen Brief beklagte Diederichs, daß der »schöpferischpolitische Mensch« auf der Tagung noch zu wenig repräsentiert gewesen wäre, »er wurde nur in der Jugend und unvollkommen vertreten, nämlich, von einem starken Gefühl für die Eigengesetzlichkeit des Lebens herkommend, die Bindung hoeck & Ruprecht 1983 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Hg. von Helmut Berding, Jügen Kocka, Hans-Ulrich Wehler; Bd. 58), S. 235. 55
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Vgl. die Einladung. In: Eugen Diederichs Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen hrsg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs. Jena: Eugen Diederichs Verlag 1936, S. 292. Vgl. dazu auch die Briefe Eugen Diederichs vor bzw. nach der Tagung an Friedrich von der Leyen vom 12. 5. 1917, an Walter von Molo vom 7. 6. 1 9 1 7 und an Max Weber vom 22. 7. 1917, ebd., S. 293, 2 9 3 - 2 9 4 , 2 9 4 - 2 9 6 . Vgl. die Angabe bei Hübinger: Kulturkritik (Anm. 53), S. 112.
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Doves Hinweis in: Toller (Anm. 9), S. 48, »die Einladung zu einer solchen Versammlung läßt vermuten, daß er [Toller; d. V.] schon einigen Eindruck auf die etablierten literarischen Kreise Münchens gemacht hat«, läßt sich nicht erhärten. Aussage Max Weber, Heidelberg, 1 2 . 3 . 1918. In: O R A G / R G C 24/18. - Uns liegt kein Nachweis über eine Mitgliedschaft oder Mitarbeit von Toller in einer Münchner Studentenorganisation vor. Theodor Heuss, ebenfalls Teilnehmer der Tagung, erinnert sich in seiner Autobiographie an Toller als »der junge Kommunist [...], ein im Grunde zarter Enthusiast, der nach ein paar Jahren zu einer politisch-militärischen Führungsrolle ansteigen sollte, der er nach seiner Natur gar nicht gewachsen sein konnte«. Theodor Heuss: Erinnerungen. 1 9 0 5 - 1 9 3 3 . Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins 1963, S. 215. Eugen Diederichs an Walter von Molo, 7. 6. 1917. In: Diederichs: (Anm. 52), S. 293.
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an das Du zu suchen und damit das Überindividuelle des Staates zu bejahen«. 62 Diederichs äußerte den Wunsch, »daß zum nächsten Kongreß noch recht viele neue Köpfe auftauchen, die dem fehlenden dritten Typus nahestehen«. 63 Daß Diederichs mit der Konzeption dieser Tagungen die Idee einer »vaterländischefn] Gesellschaft« in Form von »Lern- und Altersgemeinschaft mit der alten Generation« 6 4 verband, ahnten vermutlich nur wenige in seine Ziele Eingeweihte. A n anderer Stelle formulierte Diederichs diesen Plan expliziter: Es ist meine feste Uberzeugung, ein neues intensives Staatsleben kommt nur herauf mit neuen Menschen, einem neuen Lebensgefühl, entsteht nicht aus der Sachlichkeit, die reine Sachlichkeit ist, sondern aus Sachlichkeit, die Erfüllung durch die Idee will. So ist mein [...] Standpunkt religiös, aber nicht von jener Religion, die den anderen überzeugen will, sondern die vorleben möchte; und wenn es mir meine Arbeitskraft gestattet, will ich eben dieses Experiment mit der Vaterländischen Gesellschaft in Thüringen machen, einerlei, ob es glückt oder nicht. Irgendwie eine Gemeinschaft im Sinne Lagardes muß herauskommen, keine Gemeinschaft mit Paragraphen, sondern eine solche des Lebensgefühls. Ich rechne dabei eigentlich aber nur mit der neuen akademischen Jugend, die nach dem Kriege nach Jena kommen wird, wenn, und eben weil dort etwas los ist, was über Reden und Kritik hinausgeht. 65 Auf der zweiten Tagung kam es zu einem Eklat: zahlreiche Tagungsteilnehmer opponierten gegen den der Vaterlandspartei angehörenden Max Maurenbrecher, 66 mit dem Diederichs Ende 1 9 1 7 endgültig brach. 67 Toller, der von den politischen Implikationen und Intentionen dieser »vaterländischen« Tagung nichts wußte, war mit sehr hoch gesteckten Erwartungen nach Lauenstein gefahren, wurde durch die Begegnung mit den deutschen Geistesgrößen jedoch tief enttäuscht, weil sie bei weitem nicht so radikal gegen den Krieg und revolutionär waren, wie er unterstellt oder erhofft hatte. »Große Worte w u r den gesprochen. Nichts geschah« (A, 80). Gleichwohl ließ er sich von der A t m o 62
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Diederichs unterscheidet in: der erste Typ = kritisch-intellektualistisch, der zweite Typ = konservativer kollektivistisch, der dritte Typ = schöpferisch-politisch. Eugen Diederichs an Max Weber, 22. 7.1917, in: Ebd., S. 295. Eugen Diederichs an Max Weber, 22. 6. 1917, ebd. S. 295. Eugen Diederichs an Ernst Krieck, 7. 1. 1918, ebd. S. 306. Eugen Diederichs an Max Weber, 22. 7. 1917, ebd., S. 296. Max Maurenbrecher (1874-1930); Theologe und Publizist, zunächst im Kreis von Friedrich Naumann tätig; trat 1907 aus der evangelischen Kirche aus und stellte sich in den Dienst freireligöser Gemeinden (1909 bis 1916 in Erlangen und Mannheim); während des Ersten Weltkriegs Mitglied der Vaterlandspartei, dann der Deutschnationalen Partei; 1917 Wiedereintritt in die Kirche; ab 1919 Pfarrer in der reformierten Gemeinde in Dresden; 1920-1924 Schriftleiter der »Deutschen Zeitschrift«, seit 1925 als Pfarrer tätig. Seine Haltung war antiliberal, antisemitisch und deutsch-völkisch. Eugen Diederichs erklärte zu dem Bruch mit Maurenbrecher: »Ich habe im Dezember 1917 mein Verhältnis zur Thüringer Vaterländischen Gesellschaft 1914 gelöst, da ihr Organisator und Redner, Dr. Max Maurenbrecher in rapider Entwicklung bei den Alldeutschen und ihrer Vaterlandspartei landete, die [...] innenpolitisch nach rückwärts und nicht nach vorwärts orientiert sind.« Eugen Diederichs: Vom neuen Geist. In: Die Tat, 9. Jg., Nr. 11, Febr. 1918, S. 953-955. Hier S. 954.
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Sphäre und dem Ambiente der Tagung faszinieren: Vorträge im Rittersaal, Diskussionen im Burghof; Spaziergänge im Thüringer Wald und Gespräche mit Richard Dehmel bedeuteten für ihn die Höhepunkte (A, 79). Der einzige aber, der Toller auf Burg Lauenstein aufgrund seines Charakters, seines Charismas und seines ethischen Engagements nachhaltig beeindruckte, war die beherrschende Gestalt der Tagung: Max Weber. 68 Toller, den nach geistiger Orientierung und Führung dürstete, folgte Max Weber kurzentschlossen nach Heidelberg, wo er sich unmittelbar darauf, am 6. 10. 1917, für das Studium der Rechtswissenschaft immatrikulierte. 69 Auf seinen Belegbögen finden sich neben wenigen allgemeinbildenden Seminaren 70 ausschließlich rechtswissenschaftliche und volkswirtschaftliche Veranstaltungen. In Tollers Autobiographie - und auch in Doves Biographie - wird die kurze Studienzeit in der »Doktorenfabrik« (A, 80) Heidelberg eher als kurzweilige Episode verbucht, deren Pointe ein Dissertationsthema über die »Schweinezucht in Ostpreußen« darstellt, das ihm von dem »alten gutmütigen Professor Gothein« (A, 80) empfohlen worden sei. Gegen diese Anekdote ist indes eine Aussage Tollers aus dem Jahr 1918 zu setzen: Ich beabsichtigte mir den Doktortitel in der Volkswirtschaft zu erwerben und befaßte mich auch bereits mit Vorarbeiten für eine Doktordissertation, welche das Thema M o derne Zeitschriften als Ausdruck modernen Gesellschaftsempfindens und ihre wirtschaftliche Grundlagen behandeln sollte (V).
Mit dem deutschen Zeitungswesen hatte Toller sich bereits in seinem ersten Münchner Studiensemester in einer Veranstaltung bei Friedrich von der Leyen auseinandergesetzt.71 Nicht nur an Tollers Studienplan läßt sich eine Verlagerung seiner Interessen in den Bereich der Politik und Volkswirtschaft feststellen. In Heidelberg begann er erstmals, seine moralische Empörung in Aktionen umzusetzen, die in den Bereich der Politik hineinreichten, obwohl sie durch Emotionalität und Geltungsdrang mindestens ebensosehr bestimmt waren wie durch politische Ziele. Es handelt sich um zwei Aktionen Ende des Jahres 1917, die in der Toller-Literatur
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Max Weber ( 1 8 6 4 - 1 9 2 0 ) ; Volkswirtschaftler und Soziologe; 1893 Prof. in Berlin, 1894 in Freiburg; 1 8 9 7 - 1 9 0 3 in Heidelberg; 1919 in München; Mitbegründer der DeutschDemokratischen Partei und Befürworter einer nationalen Demokratie. Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1 8 9 0 - 1 9 2 0 . Tübingen: Mohr, 2. Aufl. 1974. Vgl. Anmeldung zur Immatrikulation an der Universität Heidelberg. In: StudentenPersonalakten Ernst Toller 1917/18. Universitäts-Archiv Heidelberg. WS 1917/18: Psychologie bei Jaspers; 1917: Die deutsche Philosophie von Kant bis Nietzsche (Einführung in die Probleme der Gegenwart) bei Ricke« (Vgl. Belegbögen in: Studenten-Personalakten Ernst Toller. Universitäts-Archiv Heidelberg.) Das deutsche Zeitungswesen und die deutsche Bildung. Vgl. Belegbogen für das Studienjahr 1916/17 I. In: Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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häufig im Zusammenhang pauschal abgehandelt werden: 7 2 die aus Solidarität mit dem Münchner Gelehrten Förster unternommene Aktion gegen die Vaterlandspartei71 und die Gründung eines Kulturpolitischen Bundes der deutschen Jugend. Die Aktion gegen die Vaterlandspartei kann als eine unmittelbare Konsequenz der Lauenstein-Tagung betrachtet werden. Neben sozialistischen und pazifistischen Studenten nahm Toller in Heidelberg an »Webers Sonntagen« teil, die als »Nachwirkung der Lauensteiner Tage« 74 stattfanden. Uber diese »Weber-Sonntage« kam Toller in Heidelberg in Kontakt mit einem studentischen Freundeskreis »von etwa 10 bis 15 Studenten und Studentinnen, die unter sich philosophische, wirtschaftliche und sozialpolitische Fragen allgemeiner A r t wissenschaftlich« (V) besprachen, wie Toller später zu Protokoll gab. Eine konkrete Aktion des Freundeskreises bestand darin, öffentlich für den Münchner Pädagogen und Hochschullehrer Friedrich Wilhelm Förster 75 einzutreten, der vor allem von Seiten der Vaterlandspartei wegen seiner wiederholten Äußerungen angegriffen wurde, daß der Krieg »nicht bloß durch militärische Mittel entschieden« werden könne; 7 6 ferner war Förster wegen seines entschiedenen Eintretens für eine »föderalistische deutsche Weltpolitik« im Sinne Konstantin Frantz' 7 7 wiederholt attackiert w o r den - so auch von der Studentenschaft der Universität München. Gemeinsam verfaßte der Heidelberger Freundeskreis ein Flugblatt 78 an alle Studenten, das den Titel trug »Der neue Fall Förster als Anlaß zum Protest gegen die Einschränkungen der politischen Freiheit der Studierenden in Deutschland« (V); dieses Flugblatt, das sich für eine »uneingeschränkte politische Bewegungsfreiheit« 79 für Stu72 73
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So bei Rothe: Toller (Anm. 8), S. 35-38; Dove: Toller (Anm. 9), S. 52-54; beide verlassen sich auf die irreführenden Passagen in Tollers Autobiographie (A, 82-84). Die Deutsche Vaterlandspartei wurde 1917 gegründet und bestand bis Dezember 1918. Gegen die Friedenresolution des Reichstages vom 19. 7. 1917 trat sie für einen >Siegfrieden< ein. Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: J. C. Mohr Paul Siebeck 1926, S. 613. Friedrich Wilhelm Förster (1869-1966); Pädagoge; 1901 Prof. in Zürich, 1914-1920 Prof. in München; ging dann aufgrund politischer Angriffe in Schweizer »Exil«, lebte seit 1940 in den USA; »ein international denkender Pädagoge und christlicher Moralphilosoph«. (Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deuschen Mandarine 1890-1933. München: Klett-Cotta im Deutschen Taschenbuch Verlag 1983, S. 198). Friedrich Wilhelm Förster: Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland. Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland. Stuttgart: Verlag »Friede durch Recht« 1920, S. 17. Ebd., S. 14. - Konstantin Frantz (1817-1891) war als entschiedener Befürworter des Föderalismus (entgegen Bismarckscher Konzeption) zur Aufrechterhaltung der politischen Stablilität für einen mitteleuopäischen Staatenbund eingetreten. Zunächst als Flugblatt, dann am 10. 11. 1917 in der Münchner Zeitung abgedruckt. Vgl. Hinweis in GW 6 (Anm. 2), S. 29. Der neue Fall Förster als Anlaß zum Protest gegen die Einschränkung der politischen Freiheit der Studierenden in Deutschland. Für 135 Studierende der Universität Heidelberg gez. Ernst Toller, cand. jur.; Elisabeth Harnisch, cand. rer. pol. Abgedruckt in: GW 6 (Anm. 2), S. 29-31.
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Führer
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denten und Dozenten einsetzte, war von 135 Studierenden der Heidelberger Universität unterzeichnet worden. Es wurde versucht, diesen Aufruf an allen deutschen Universitäten zu verbreiten. Diese Aktion war es, nicht aber - wie bislang immer in der Toller-Literatur behauptet 80 - der beinahe gleichzeitig verbreitete Aufruf zur Gründung eines Kulturpolitischen Bundes der deutschen Jugend, der zu ernsten Schwierigkeiten für Toller und seine Freunde in Heidelberg führte. Mit dem Angriff auf die Vaterlandspartei nahmen Toller und seine Kommilitionen Kritikpunkte auf, wie sie auch von Teilnehmern der Lauenburger Tagung artikuliert worden waren. Am 19. 7. 1917 hatte der Deutsche Reichstag die bekannte »Friedensresolution« verfaßt, in der es u.a. hieß: »Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Aussöhnung der Völker. [...] Nur der Wirtschaftsfriede wird einem freundschaftlichen Zusammenleben der Völker den Boden bereiten.« 81 Gegen diese moderaten Töne wandten sich sofort nationale Gruppen, allen voran die im September 1917 gegründete Deutsche Vaterlandspartei, die sich bereits in ihrem Gründungsaufruf für eine »kraftvolle Reichsregierung« eingesetzt hatte, »die nicht in schwächlichem Nachgeben nach innen und außen, sondern in deutscher Standhaftigkeit und unerschütterlichem Glauben an den Sieg die Zeichen der Zeit richtig zu deuten weiß«. 82 Eugen Diederichs kritisierte zur gleichen Zeit die Agitation der Vaterlandspartei für den »Siegfrieden«, weil diese den Glauben anfache, es sei unsere wichtigste Existenzbedingung, sogenannte militärische Sicherheiten zu erlangen, denn auch in Zukunft sei das Ringen körperlicher Kräfte zwischen den Völkern das Entscheidende; die Entwicklung unseres wirtschaftlichen Lebens erfordere Rücksichtslosigkeit anderen Völkern gegenüber zum Nutzen der eigenen Volksgenossen. Vom Umdenken durch den Weltkrieg ist bei ihr noch nicht das Geringste zu bemerken. [...] Sieger wird im Weltkrieg nur jenes Volk sein, dem für die neuen Aufgaben der Weltkultur Führer erwachsen. 83
In dieselbe Richtung geht der - allerdings mit mehr jugendbewegter Emphase formulierte - Aufruf von Toller und seinen Kommilitonen an die Studenten aller deutschen Universitäten, in dem sie sich »gegen die Grundsätze« der Vaterlandspartei wandten und ihrerseits »folgende kultursittliche Forderungen« aufstellten: Wir verwahren uns gegen die Anmaßung der Deutschen Vaterlandspartei und ähnlicher Strömungen, Sonderinteressen mit dem Wort >vaterländisch< zu decken und zu schützen. Wir wissen, daß unsere Kultur von keiner fremden Macht erdrückt werden kann,
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So Frühwald/Spalek: G W 6 (Anm. 2), S. 2 9 - 3 4 ; Rothe: Toller
Dove: Toller (Anm. 9), S. 52-54. 81
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(Anm. 8), S. 1 6 - 1 9 ;
Stenogr. Berichte des Reichstages, Bd. 310, S. 3573; zitiert nach: F. A. Krummacher: Die Auflösung der Monarchie. In: Walter Tormin (Hg.): Die Weimarer Republik. Hannover: Fackelträger-Verlag, 12. Aufl. 1973, S. 46. Gründungsaufruf der Deutschen Vaterlandspartei vom 2. 9. 1917; zitiert nach ebd., S. 47. E. D. [Eugen Diederichs]: Gedanken zur Zeit. In: Die Tat, 9. Jg., Heft 11, Febr. 1918, S. 9 7 6 - 9 7 7 . Hier S. 976 und S. 977.
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verwerfen aber auch den Versuch, andere Völker mit unserer Kultur zu vergewaltigen. Statt Machterweiterungen Vertiefung der Kultur, die Menschlichkeitssittlichkeit zum Inhalt hat. Statt geistloser Organisation Organisation des Geistes. 84 Dieser Aufruf sorgte - nicht nur in Heidelberg - für erhebliche Aufregung; so gründete sich als Reaktion in J e n a eine Studentengruppe der Vaterlandspartei
von
über 100 Mitgliedern; 8 5 der »Ausschuß der Heidelberger Studentenschaft« distanzierte sich von dem Aufruf mit dem Hinweis, er habe »von jeher auf streng nationalem B o d e n gestanden, und die Teilnahme am Streite politischer Parteien abgelehnt«, 8 6 und ein a n o n y m e r Heidelberger »Universitätsprofessor« ereiferte sich, daß sich die Aufrufe »schon durch ihre phrasenhafte Sprechweise [ . . . ] als Äußerungen unklarer Köpfe ohne geschichtliche und politische Bildung« erwiesen und »einen erschreckenden Mangel an vaterländischem Empfinden« Gegen diesen V o r w u r f wehrte sich Toller in Diederichs
bekundeten. 8 7
Tat:
Schon immer wurde unbequemer Gesinnung der Vorwurf >nicht vaterländisch oder >würdelos< gemacht! Ist der >nicht vaterländisch^ der den friedlichen Bund freier selbständiger Völker erstrebt? Heißt das schon die Schändlichkeiten irgendwelcher Regierungen beschönigen zu wollen? Heißt das schon den Frieden um j e d e n Preis erstreben? - Dann hätte unsere deutsche Sprache jeden Sinn verloren. 88 W i e im Falle F ö r s t e r s , 8 9 den Toller und seine Kommilitonen verteidigen wollten, schaltete sich auch hier die Oberste Heeresleitung ein: Mehrere der Heidelberger A u f r u f - U n t e r z e i c h n e r wurden vom G e n e r a l - K o m m a n d o des badischen A r m e e K o r p s aus Heidelberg ausgewiesen (V). In Tollers autobiographischen Erinnerungen w e r d e n die Vorgänge dramatisch dargestellt: D a greift die Oberste Heeresleitung ein. Sie warnt die deutsche Jugend vor Verführungen, die Militärbehörden beginnen zu arbeiten. Osterreichische Studentinnen, die dem Bund angehören, müssen binnen vierundzwanzig Stunden Deutschland verlassen. Alle männlichen Mitglieder werden zum Bezirkskommando bestellt. Selbst die, die bei jeder Siebung von neuem dienstuntauglich befunden wurden, sind plötzlich kriegsverwendungsfähig und werden in die Kasernen geschickt (A, 84). 84
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Aufruf, gezeichnet von Ernst Toller, hier zitiert nach dem Abdruck in: Die Tat, 9. Jg., Heft 11, Febr. 1918, S. 9 7 7 - 9 7 8 . Hier S. 978. Vgl. Eugen Diederichs: Vaterlandspartei und Heidelberger Studentenschaft. In: Die Tat, 9. Jg., Heft 11, Febr. 1918, S. 9 7 7 - 9 8 0 . Hier S. 978. Erklärung der Heidelberger Studentenschaft. In: Heidelberger Tageblatt Nr. 298, 18. 12. 1917. Ein Universitätsprofessor. Zitiert in: Eine »vaterländische« Kundgebung Heidelberger Studenten. In: Deutsche Zeitung Nr. 624, 19. 12. 1917. - Vgl. zu den Vorgängen in Heidelberg und den Versuchen, die studentischen Aktivitäten auch auf München auszudehnen sowie zu Tollers öffentlichem Auftreten in diesem Zusammenhang den Bericht des Stellv. Generalkommandos (vom 1 3 . 2 . 1 9 1 8 ) an das K. Kriegsministerium München, betr. Friedensbewegung; hier Aktivitäten der Studierenden der Hochschulen. In: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 30 Berlin C Tit. 95, Geht. 7, Nr. 15854. Abgedruckt in: Die Tat, 9. Jg., Heft 11, Febr. 1918, S. 9 7 8 - 9 7 9 . Hinweis in Förster: Mein Kampf (Anm. 76), S. 17.
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Eine zweite Aktion dieser Kommilitonengruppe, die »um die gleiche Zeit« (V) stattfand, bestand in der »Gründung eines kulturpolitischen Bundes der Jugend in Deutschland, in welchem die positiven kulturellen Bestrebungen, die unser Kreis verfolgte, verwirklicht werden sollten« (V). Wie die studentischen Aktion für Förster und gegen die Vaterlandspartei sollte der Bund für die »Menschlichkeit«, für einen »von gestaltendem Geist beherrschter Organismus« anstelle »willkürlicher Organisation« 9 0 eintreten. Der Bund wandte sich indes an eine andere Zielgruppe als die studentische Aktion. Während diese an alle Studenten an deutschen Hochschulen gerichtet war und in erster Linie die Forderung nach akademischer Meinungsfreiheit für Studenten und Dozenten erhob, definierte sich der kulturpolitische Bund als eine »übergreifende Organisation« mit der Erwartung, daß einmal »aus dem Bund der Jugend [ . . . ] ein Volksbund werden« solle. 91 A m 24. 11. 1917 wurde die Heidelberger Ortsgruppe des Bundes gegründet, Toller wurde zu ihrem Leiter gewählt. 9 2 Er versandte die Leitsätze an eine Reihe von Professoren und Studenten (V); später gab er an, »zum Teil herzliche Sympathiekundgebungen« (V) erfahren zu haben. Nicht Sympathieerklärungen, sondern recht kritische Äußerungen zu den Leitlinien lassen sich indes in den überlieferten Prozeßakten finden: Friedrich Wilhelm Förster erklärte in einer polizeilichen Vernehmung, er habe zu den Leitsätzen »eine teils etwas kritische, teils etwas zustimmende Antwort gegeben«; 9 3 Max Weber gab zu Protokoll, er habe es überhaupt abgelehnt, mit Toller über die Leitsätze, die er »in vielen Punkten für eine unreife Arbeit« gehalten habe, allein zu sprechen und stattdessen eine allgemeine Aussprache »im Kreise seiner Gesinnungsgenossen« vorgeschlagen. »Da diese allgemeine Besprechung abgelehnt« worden war, sei er auf die Leitsätze überhaupt nicht eingegangen. 94 Eugen Roth, der mit Toller seit seinem Studium in München befreundet war, hatte die Leitsätze ebenfalls erhalten; er bekundete später, er habe sich »brieflich« mit Toller »über den Inhalt dieser Aufrufe auseinandergesetzt«, weil er »seinen Auffassungen nicht ganz zustimmte«. 9 5 Mit der Forderung nach »Revolutionierung der Gesinnung« ordnet sich der Aufruf in eine Vielzahl ähnlicher zeitgenössischer programmatischer Manifeste 9 6 90 91 92
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Ernst Toller: Leitsätze für einen kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland. Abgedruckt in: GW 1 (Anm. 2), S. 31-34. Hier S. 31. Ebd., S. 34. Angabe von Toller am Ende der Leitsätze, ebd., S. 34. - Uber weitere Ortsgruppen des Bundes ist nichts bekannt. »Die Gründung des Bundes von Tollers Gnaden stand lediglich auf dem Papier. Dieser durch die Toller-Legende geisternde Bund hat, genau besehen, nicht einen einzigen Tag existiert«, urteilte Tollers Biograph Wolfgang Rothe in: Toller (Anm. 8), S. 37 vermutlich zu Recht. Zentralpolizeistelle Bayern, 4. 4. 1918 an K. B. Gericht der Stellv. 1. Inf. Brigade München; Bericht über die Einvernahme Prof. Dr. Förster. In: ORA/RG, C 24/18. Grossh. Amtsgericht II, Heidelberg, 12. 3. 1918; Zeugenvernehmung Prof. Max Weber. In: ORA/RG, C 24/18. Zeugenaussage Eugen Roth. In: ORA/RG C 24/18. Den Charakter dieser Manifeste hat Stark: Für und wider den Expressionismus (Anm. 13), S. 30 bündig zusammengefaßt: »Mit dieser eigentümlichen Synthese aus
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aus Kreisen der Expressionisten und der Jugendbewegung ein. Die Proklamation einer »Revolutionierung der Gesinnung« oder einer Revolution des Geistes fand sich musterhaft vorgebildet im Werk Gustav Landauers, das - neben dem Nietzsches - von kaum zu überschätzendem Einfluß auf das Denken und die Programmatik des expressionistischen Aktivismus war. Mit Landauer, der schon häufiger die Rolle eines Mentors für die engagierte Jugendbewegung übernommen hatte, nahm Toller von Heidelberg aus Kontakt auf; 97 Landauers Aufruf zum Sozialismus (1911) hatte ihn nach seinen eigenen Worten »entscheidend berührt und bestimmt« (A, 84). Die Heidelberger Zeit ist für Tollers Entwicklung aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung: zum einen, weil er überhaupt den Schritt von der moralischen Empörung zur Praxis tat, zum anderen, weil er - ähnlich wie der Kreis um die Zeitschrift Aufbruch des Jahres 1915 - diese Praxis an einer idealistischen Revolution des Geistes orientierte, deren revolutionäres Subjekt die Jugend war. Daß nur die junge Generation für eine Veränderung der Welt in Frage kam - das glaubte er auf der Lauensteiner Tagung gelernt zu haben: N u r die Jungen wollen Klarheit. Reif zur Vernichtung scheint ihnen diese Welt, sie suchen den Weg aus den schrecklichen Wirren der Zeit, die Tat des Herzens, das Chaos zu bannen, sie glauben an den unbedingte, unbestechlichen Geist, der seine Verpflichtung lebt und der Wahrheit. [ . . . ] Tagelang wird geredet, diskutiert, draußen auf den Schlachtfeldern Europas trommelt der Krieg, wir warten, warten, warum sprechen diese Männer nicht das erlösende Wort, sind sie stumm und taub und blind, weil sie nie im Schützengraben gelegen, nie die verzweifelten Schreie der Sterbenden, nie der Klage zerschossener Wälder gehört, nie die trostlosen Augen verjagter Bauern gesehen haben? (A, 77 und 7 8 / 7 9 )
Tollers Engagement in Studentenkreisen, die dem >linken< Flügel der Jugendbewegung nahestanden, war die Konsequenz aus seiner Uberzeugung von der Notwendigkeit einer Revolution des Geistes, die von der Jugend geführt werden müsse. Obwohl sich in den Leitsätzen des kulturpolitischen Bundes der Jugend vereinzelte konkrete Forderungen fanden, war ihr Duktus von einem ethischen, antipolitischen Impuls bestimmt. Letztlich ging es Toller, wie der Mehrzahl der Aktivisten, nicht um eine Realisierung konkreter Ziele im Bereich der Politik, sondern um eine Entdifferenzierung der Bereiche von politischer Praxis und geistiger bzw. ethischer Auseinandersetzung, nämlich um eine Subsumtion der Politik unter die - freilich nie kodifizierten - Regeln des Geistes: Es liegt uns fern, >Parteipolitik< zu treiben. Politik treiben heißt für uns: sich für das Geschick seines Landes sittlich mitverantwortlich zu fühlen und dementsprechend zu handeln. Wer diese Aufgabe nicht erfüllt, hat das mit seinem Gewissen abzumachen. -
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sozialethischer Verantwortung, egoistisch-vitaler Selbstbehauptung, künstlerischem Führungsanspruch und kryptoreligiösem Sendungsbewußtsein hat man sich vor allem zu befassen, wenn man den der expressionistischen Bewegung eigenen Willen zur politischen Macht historisch beurteilen und verstehen möchte.« Vgl. Brief an Gustav Landauer (1917). Abgedruckt in: G W 1 (Anm. 2), S. 3 4 - 3 7 .
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Es gibt keine irgendwie begrenzte Sittlichkeit, die für die gesamte Menschheit tätig ist. Es gibt nur e i n e n G e i s t , der in der gesamten Menschheit lebt. Auch wenn er oft verschüttet ist. 98
V. Die dramatischen Ereignisse" in Heidelberg, die den Aktionen gefolgt waren, erlebte Toller im Krankenhaus; Ende November war er an seinem »alten Leiden (Herz- und Nervenstörungen) und an Bronchialkartarrh« (V) erkrankt; Weihnachten 1917 wurde er entlassen und begab sich dann aufgrund eines Ohrenleidens nach Berlin in eine Klinik, in der er eine gute Woche blieb. A m 1. Januar 1918 ging er zur weiteren Rekonvaleszenz ins Sanatorium Grunewald in Berlin (V). Das Berlin der Jahreswende 1917/18, das Toller kennenlernte, war geprägt durch die Hungerkrawalle aufgrund der desolaten Ernährungslage der Bevölkerung 1 0 0 und durch die politischen Streiks der Munitionsarbeiter für einen sofortigen Frieden ohne Annexionen. 1 0 1 Toller verkehrte in pazifistischen Kreisen und nahm aufgrund einer Empfehlung von Max Weber 1 0 2 Kontakte zu dem Reichstagsabgeordneten Georg Gothein auf, um bei ihm wegen des Vorgehens der Militärbehörden gegen die Heidelberger Studenten zu intervenieren. Im Januar 1918 lernte Toller in Berlin den sozialdemokratischen Politiker Kurt Eisner 103 kennen. Im Zusammenhang mit dem späteren Prozeß wegen versuchten Landesverrats versuchte das Reichsgericht nicht nur zu konstruieren, daß Eisner um die Jahreswende 1917/18 nach Berlin gereist sei, um dort die »Streikbewegung zu studieren«, sondern auch, »um mit den in der Streikbewegung führenden Personen in 98 99
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Ernst Toller: [Erwiderung], Abgedruckt in: Die Tat, 9. Jg., Heft 11, Febr. 1918, S. 9 7 8 979; nach Angaben von Toller (A, 83) im Berliner Tageblatt erschienen. Dove: Toller (Anm 9), S. 54 dramatisiert in seiner Biographie noch die Eigendarstellung Tollers in A, 84. Rothe: Toller (Anm 8) bezweifelt diese Version: »Von Haftbefehl und Fahndung ist allerdings nichts bekannt - möglicherweise handelt es sich bei seiner dramatischen Flucht um eine seiner Selbststilisierungen.« Auch Marianne Weber: Weber (Anm. 74), S. 613 erwähnt eine Verhaftung: »Als Toller und seine Gefolgschaft beginnen, für den Generalstreik zu agieren, wird er verhaftet. Weber beantragt darauf seine eigene Vernehmung und bewirkt Tollers Befreiung. Daß die jungen Leute von der Universität fortgewiesen werden, kann er nicht verhindern.« - In Marianne Webers Erinnerungen scheinen sich die Ereignisse in Heidelberg mit denen in München vermischt zu haben. Vgl. Denkschrift des Reichsgesundheitsamtes vom Dezember 1918; abgedruckt in: Untersuchungsausschuß. 4. Reihe, Bd. 6, S. 391 f; in Auszügen abgedruckt in: Krummacher, Die Auflösung (Anm. 81), S. 52 und 53. Vgl. ebd., S. 51-52. Aussage Max Weber, 12. 3. 1918. In: ORA/RG C 24/18. Vgl. Einleitung: Kurt Eisners Persönlichkeit. In: Die halbe Macht den Räten. Ausgewählte Aufsätze und Reden. Eingeleitet und herausgegeben von Renate und Gerhard Schmölze. Köln: Jakob Hegner 1967, S. 7 - 5 2 .
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Fühlung zu treten«. Besonders hervorgehoben wurde in diesem Zusammenhang, daß Eisner sich in Berlin mit dem »Unteroffizier Ernst Toller« getroffen habe, »der dann später bei der Münchner Streikbewegung als Redner und Verfasser von Flugblättern sich beteiligte«. 104 Diese Konstruktion, mit der vermutlich ein nationales Verschwörungskomplott begründet werden sollte, 1 0 5 entbehrt jeder Grundlage. Sowohl Toller als auch Eisner bestritten sie entschieden und glaubwürdig. 1 0 6 Toller scheint in Berlin schnell gänzlich in den Bann der Persönlichkeit Kurt Eisners geraten zu sein. Eisner, ein aktivistischer Schriftsteller und Politiker, der Kontakte zur Arbeiterklasse besaß und für seine pazifistische Uberzeugung im Gefängnis gesessen hatte, entsprach im Frühjahr 1918 Tollers Idealbild des geistigen Revolutionärs eher als der akademische Gelehrte Max Weber und löste diesen als Idol ab. Auf einem der aktivistischen Kongresse in Berlin, die unter dem M o t t o Arbeiter
der Faust und der Stirn vereinigt
Euch stattfand, soll Toller, der
sich Eisner angeschlossen hatte, seinen ersten öffentlichen Auftritt gehabt haben. 1 0 7 Während des Sanatorium-Aufenthalts in Berlin-Grunewald beschäftigte sich Toller unter dem Eindruck der politischen Unruhen in Berlin offenbar erstmals auch mit der Kriegs(schuld)frage. Er las Broschüren, »darunter die belgisch-englische Schuldfrage von einem Mecklenburgischen Edelmann, die Denkschrift eines Unbekannten zu den Ausführungen des Reichskanzlers und die Völkerschiedsgerichtsfrage, das Exposé eines ungenannten (nämlich eines kommandierenden Generals), >Fernau, durch zur Demokratien ( V ) . 1 0 8 Die Lektüre dieser Schriften ver104
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Stellvertr. Generalkommando IbAK - Abwehrabteilung, 9. 2. 1918. In: O R A / R G C 24/18. Vgl. dazu Dove: Toller (Anm. 9), S. 64 - 65. Wörtlich sagte Kurt Eisner aus: »Den Toller kenne ich erst seit kurzer Zeit, ich glaube seit Jan. ds. Js [!], er hat zu jener Zeit in Berlin ein Drama vorgelesen und ich wurde ersucht, dabei teilzunehmen, war aber verhindert. Ich habe ihn dann am gleich oder nächstfolgenden Tag persönlich gesprochen und erst damals kennen gelernt. Ich glaube nicht, daß ich mit Toller in Gedankenaustausch über die Bewegungen der unabhängigen Sozialdemokratie getreten bin. Es könnte dies nur in ganz allgemeiner Form geschehn [!] sein. Die Frage, ob ich Toller aufforderte oder anregte, mit nach München zu kommen u. ob ich versuchte, ihn dort für den Streik zu interessieren, muß ich mit Nein beantworten.« (Aussage Kurt Eisner, 7. 3. 1918. In: O R A / R G , C 24/18). Rothe: Toller (Anm. 8), S. 4 0 - 4 1 . - Wir konnten für diesen Auftritt keine Belege finden. - Eine erste öffentliche Rede hat Toller nach eigenen Aussagen bereits im September 1917 auf der Veranstaltung auf der Burg Lauenstein gehalten. (G). Gemeint sind vermutlich: Hermann Fernau: Durch! zur Demokratie. Berlin-Bümplitz: Beutelin 1917; Hans Georg von Beerfelde: Michel wach auf! Aufdeckung der Fälschungen des deutschen Weißbuchs 1914. Berlin: Neues Vaterland 1919; Karl Max von Lichnowsky: Die Schuld der deutschen Regierung am Kriege. I. Meine Londoner Mission (1912-1914). Originaltext-Nachdruck der in Deutschland verbreiteten Görlitzer Original-Ausgabe. Mit einer Nachschrift dieser Angabe. Vorwort von Hermann Rösemeier. II. Die Dokumente Dr. Muehlons. (Seine Briefe und Zeitungsartikel). Berlin 1918. - Von diesen Büchern und Broschüren kursierten bereits während des Krie-
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wirrte ihn; er war nämlich, wie er im Untersuchungsverfahren zu Protoll gab, »bis dahin der Uberzeugung gewesen, daß das deutsche Reich nur einen Verteidigungskrieg führe, durch die Lektüre der genannten Broschüren kamen mir aber erhebliche Zweifel, ob dies tatsächlich der Fall sei« (V). Seine »erregte und verwirrte Stimmung« (V) sei noch durch die in Berlin grassierenden Gerüchte verstärkt worden, daß von verschiedenen Seiten, so von der deutschen Vaterlandspartei, Einfluß auf eine weitgehende Annexionspolitik der deutschen Regierung ausgeübt werde: »Ich glaubte, daß dieser Standpunkt der Regierung eine ungeheuerliche Schädigung des deutschen Volkes in sich schließe, den Krieg mit all seinen entsetzlichen Folgen verlängern und den Keim zu zukünftigen Kriegen in sich enthalte« (V). Nach Beendigung seiner Kur im Sanatorium Grunewald reiste Toller Mitte Januar 1918 nach München. Für diese Reise gab es offenbar mehrere Gründe. Zum einen befürchtete Toller, aufgrund der Vorkommnisse in Heidelberg wieder zum Heeresdienst eingezogen zu werden, deshalb wollte er seine weitere Freistellung in München persönlich betreiben. Gleichzeitig wollte er sich in München für die Gründung einer dortigen Ortsgruppe des Kulturpolitischen Bundes des Jugend in Deutschland einsetzen (V). Ein entscheidendes Motiv für diese Reise dürfte aber Tollers Wunsch gewesen sein, dem charismatischen Arbeiterführer Kurt Eisner nach München zu folgen, wie er wenige Monate zuvor Max Weber nach Heidelberg gefolgt war. In München suchte er zumindest unverzüglich die Verbindung zu Eisner. 109 Unter dem Eindruck der Kriegsschuld-Broschüren, die er während seines Sanatorium-Aufenthaltes durchgearbeitet hatte und die ihn »vollständig von der Mitschuld der deutschen Regierung am Krieg« (V) überzeugten, entwarf Toller noch im Zug auf der Fahrt von Berlin und München die literarische Skizze »Tragödie der Zeit«, in der er »diejenigen in ihrer Unmenschlichkeit bloßstellte, die die kommende Offensive nicht bloß als eine traurige Notwendigkeit betrachteten, sondern über sie jubelten« (V), wie er später zu Protokoll gab. Diese in heftiger Erregung geschriebene Skizze bildete später die Grundlage für jenen »Aufruf an das deutsche Volk« (V), auf den die Anklage den Vorwurf des Landesverrats stützte. Zur Charakterisierung des für Toller und geistesverwandte Aktivisten spezifischen Konzepts von >Politisierung< scheint es uns von entscheidender Bedeutung, daß die Grundlage für den >politischen< »Aufruf an das deutsche Volk« eine literarische Skizze bildete: auch dieser Umgang mit Textsorten ist ein wichtiges Indiz dafür, daß Toller glaubte, das Feld der Politik den Kommunikationsregeln der literarischen Auseinandersetzung schlicht subsumieren zu können. 110 Im
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ges Abschriften; so bestätigt Toller in V, daß er die Lichnowsky-Denkschrift gelesen habe, bevor sie gedruckt war. Vgl. Aussage Eisners vom 7. 3. 1918. In: ORA/RG, C 24/18. Auf Grund seiner konkreten politischen Erfahrungen in der Münchner Räterepublik scheint Toller recht bald zu der Einsicht gelangt zu sein, daß diese Auffassung naiv war. Ein Indiz dafür ist die Umdeutung der Textsortenbeziehung, die er aus der Retro-
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Untersuchungsverfahren bekannte sich Toller als Verfasser der folgenden Passagen des bislang ungedruckten Aufrufs. 1 1 1 [ . . . ] Frau, niemals hast Du deinen Mann geliebt, sonst müßten dich seine Schmerzensschreie, die er in jener großen Offensive brüllen wird, aus dem Schlaf jagen und dich zur Raserei bringen - daß du hinausläufst auf die Straße und schreist, namenlos schreist! Du Mutter, bist schlecht, unsagbar schlecht. Wie könntest Du ruhig schlafen, da du wissen müßtest, daß bei jener >großen Offensive< dein Kind zum Krüppel geschossen und zu kotigen Fleischfetzen oder gar tierischen Tod erleidet, wahnsinng wird. Wie ist es denn möglich, daß ihr ruhig seid. [ . . . ] Glaubt nicht den Pfaffen, die euch einreden, Gott wolle nicht die Liebe, sondern brutale Macht. Gott wolle nicht gerechten Völkerfrieden, sondern Massenmord. Diese Pfaffen sind die elendsten Schurken, die der Erdboden je getragen hat. Glaubt nicht den Zeitungsschreibern, jenen verrotteten verantwortungslosen Burschen, die, selber Knechte, Euch bestellte moschusstinkende Beruhigungsmittel geben, damit auch Ihr Knechte bleibt. Aber ihr brauchtet doch nicht Knechte zu sein! [ . . . ] Euer Schweigen ist gräßlicher als das Schmerzgebrüll der Brüder, denen man die Augen mit teuflichem Flammenwurf ausbrannte. Was Ihr tun sollt? Aufwachen! [ . . . ] Genug! Wir wollen nicht Euere Knechte und Mitschuldigen sein. Wir wollen einen gerechten Frieden, wir wollen friedliches Leben freier und selbständiger Völker! 112 Die politisch aufgereizte Atmosphäre in München löste bei Toller eine hektische Betriebsamkeit aus. Er machte Besuche, diskutierte mit Bekannten über politische Fragen, traf auch Eisner wieder und besuchte dann am Sonntagmorgen, den 27. 1. 1918, eine USPD-Versammlung in den Kolosseumsbierhallen, auf der Eisner die Hauptrede hielt. Uber die Wirkung dieser politischen Versammlung gab Toller später zu Protokoll: Die von Eisner vorgetragenen Tatsachen hatten mich jedoch in eine starke Erregung gebracht. Nach der Rede ging ich zu Eisner. Meine Erregung muß ihm aufgefallen sein, da er suchte, mich zu beruhigen. Ich selbst habe in der Versammlung das Wort nicht ergriffen, ich wäre in meiner Erregung hierzu auch gar nicht im Stande gewesen (V).
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spektive vornimmt: »1917 war das Drama [Die Wandlung; d.V.] für mich Flugblatt. Ich las Szenen daraus vor im Kreise junger Menschen in Heidelberg und wollte sie aufwühlen (>aufhetzen< gegen den Krieg!), ich fuhr nach der Ausweisung aus Heidelberg nach Berlin und las hier wieder das Stück. Immer in der Absicht, Dumpfe aufzurütteln, Widerstrebende zum Marschieren zu bewegen, Tastenden den Weg zu zeigen . . . und sie alle zu gewinnen für revolutionäre sachliche Kleinarbeit. In Eisners Zusammenkünften vor dem Januar-Streik 1918 verteilte ich Zettel, auf denen gewisse Szenen der >Wandlung< gedruckt standen, in Streikversammlungen las ich in meinen Reden Fetzen daraus vor.« Ernst Toller: Bemerkungen zu meinem Drama »Die Wandlung«. In: Der Freihafen. Blätter der Hamburger Kammerspiele. 2. Jg. 1919, Heft 10, S. 145 — 146. Zitat S. 145. Erklärung Tollers. In: Niederschrift über die Vernehmung des Unteroffiziers Ernst Toller, München 8. 2. 1918. In: ORA/RG, C 24/18. Vollständige Abschrift des zweiseitigen Flugblattes. In: ORA/RG, C 24/18.
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In einem ähnlichen Erregungszustand ergriff Toller dann am folgenden Tag, den 28. 1. 1918, auf einer Versammlung der USPD im Goldenen Anker in München das Wort: »Während der Ausführungen [...] kam mir der Gedanke, ob ich nicht selbst die Versammelten einmal aus den rein parteipolitischen Erörterungen zu höheren menschlichen und sittlichen Erwägungen emporheben könne« (V). Auch aus dieser Aussage Tollers wird deutlich, daß er nicht beabsichtigte, in der Konkurrenz der politischen Parteien konkrete Ziele zu realisieren, sondern das Feld der Politik zu vergeistigen und zu versittlichen. Sein Beitrag begann mit dem Verlesen einiger Passagen aus dem »Aufruf der russischen Soldaten an die deutschen Soldaten zur Einleitung eines Waffenstillstandes« (V), den er einige Wochen zuvor von einem deutschen Soldaten erhalten hatte. Bei diesem Flugblatt war es offenbar weniger der politische Inhalt, als die »allgemeine einfache menschliche Sprache«, die ihn »sehr ergriffen hatte« (V), insbesondere Abschnitte wie der folgende: Wir alle sind Kinder der Mühe, wir alle sind Kinder der Not, wir glaubten, daß wir dem Elend des Lebens dadurch entfliehen könnten, daß wir uns gegenseitig töteten, das könne nicht sein, wir wollen die Schmach der Vergangenheit vergessen, einen ehrlichen Waffenstillstand schließen und uns brüderlich umarmen (V).
Solche Sätze entflammten Toller zu einer Rede, in der er ausführte: »es sei erbärmlich, wenn manche Leute, ohne eine Verständigung abzuwarten, auf jeden Fall eine Offensive wünschten«. Toller »schilderte die Schrecken des Krieges« und gab seiner »Entrüstung Ausdruck, daß es noch Menschen gäbe, die sich über das Kommen der Offensive freuen könnten«. In seiner Aussage schilderte Toller weiter: »Auch wandte ich mich gegen die Geistlichen und Journalisten, welche den Krieg verherrlichten und ethisch zu motivieren suchen. Hier verlas ich auch einzelne Sätze aus der Manuskript meiner Skizze, welche die Grundlage für den >Aufruf an das deutsche Volk< gebildet hatte« (V). Die weiteren politischen Aktivitäten Tollers, die dem Ermittlungsverfahren zu entnehmen sind, sollen hier nur summarisch in dem Kontext wiedergegeben werden, der zu ihrer Charakterisierung notwendig ist: Tollers Engagement in einem politischen Kontext endete sehr bald mit seiner Verhaftung am 3. 2. 1918, an die sich ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Landesverrats anschloß, das sich vor allem auf die folgenden Anklagepunkte stützte: Aufruf zum Streik, Herstellung und Verbreitung des Flugblattes Kameraden, des Aufrufs An das deutsche Volk und Verbreitung der Lichnowsky-Denkschrift. Toller wurde in der Militärarrestanstalt Leonrodstraße in München inhaftiert. Die Staatsanwaltschaft versuchte, seinen Prozeß in das laufende Verfahren gegen »Kurt Eisner und Genossen« wegen Landesverrates einzubinden und betonte damit die politische Bedeutung der Vergehen Tollers. Am 6. 4. 1918 wurde die Untersuchungshaft gegen Toller aufgrund ärztlicher Gutachten aufgehoben, das Ermittlungsverfahren wurde aber weitergeführt. Toller wurde wieder zum Militärdienst eingezogen und dem Neu-Ulmer Ersatzbataillon zugewiesen. Mit
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25. 1. 1918 27. 1. 1918 28. 1. 1918 30. 1. 1918
31. 1. 1918
1.2. 1918
2. 2. 1918
3. 2. 1918
Christa
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Müller
Öffentliche Streikversammlung in München. Toller spricht auf einer Veranstaltung in der Universität in Sinne des Kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland und verliest den Aufruf »An das deutsche Volk«. Große Streikversammlung der USPD in den Kolosseumsbierhallen; Toller hört den Hauptredner Kurt Eisner. Abends: Versammlung der Metallarbeiter in der Schwabinger Brauerei; Diskussionsabend im »Goldenen Anker« mit Streikenden; Toller als Redner; er spricht über die Schrecken des Krieges. Vormittags: Versammlung der Buchdrucker in den Kolosseumsbierhallen; Werktätigenversammlung in den Rapp-Werken. Seit dem 30. 1. 1918 sind die Münchner Arbeiter im Aufstand, über 8 000 Arbeiter aus den kriegswichtigen Betrieben Krupp, Rappmotoren und den bayerischen Flugzeugwerken sind in den Streik getreten. Vormittags: Versammlung der Krupp-Arbeiter in der Schwabinger Brauerei; Versammlung der USPD im Wagner-Bräu an der Sonnenterrasse; nachmittags und abends in der Mathäserbierhalle Versammlung der Rappmotorenwerke, danach der bayerischen Flugzeugwerke, danach »wilde Versammlungen«; eine geplante Gründung einer Münchner Ortsgruppe des Kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland kommt nicht zustande. Kurt Eisner, Sonja Lerch, Albert Winter, Johann Baptist Unterleitner, Emilie und Betty Landauer werden verhaftet. Toller spricht auf einer Versammlung der Arbeiter der Schwabinger Brauerei über den Krieg und den Streik als Mittel, den Frieden zu erzwingen. Während der Versammlung wird bekannt, daß Eisner verhaftet worden ist. Es wird eine Delegation gewählt, die bei der Polizei vorstellig werden soll; gleichzeitig wird eine zweite Delegation für den Fall gebildet, daß die erste keinen Erfolg hat. Toller wird in die zweite Delegation gewählt. Nach Schluß der Versammlung zieht eine Demonstration zu Polizei. Nachdem die erste Deputation mit dem Polizeidirektor gesprochen und erklärt hat, daß in den nächsten Tagen ein Bescheid erfolgen werde, löst sich die Versammlung auf. Im Anschluß an die Demonstration entwirft Toller gemeinsam mit anderen das Flugblatt Kameraden. Nachmittags findet eine weitere Versammlung in der Schwabinger Brauerei statt; im Anschluß ein Demonstrationszug zu den Maffeiwerken, an dem sich auch Toller beteiligt. Die zweite Eisner-Deputation, zu der auch Toller gehört, geht zum Polizeipräsidenten. Versammlung streikender Arbeiter auf der Theresienwiese. Toller gibt das Resultat einer Besprechung der Arbeiterdeputation mit dem Polizeipräsidenten über die Entlassung der Verhafteten (Eisner und Genossen) bekannt. Im Gewerkschaftshaus tagt ein Streikausschuß, der die Bildung einer Deputation anregt, die zum Ministerpräsidenten gehen und die Forderungen der Streikenden vortragen solle. Toller wird in die Deputation gewählt (gehört ihr später wegen seiner Verhaftung aber nicht an). Die für den Abend geplante Lesung aus dem Drama Der Entwurzelte (es handelte sich dabei um Szenen aus dem Drama Die Wandlung) und einiger Gedichte im Kunstsaal Steimke findet nicht statt. Weitere Versammlung auf der Theresienwiese. Toller verliest auf einer Versammlung das Gedicht an eine Mutter. Mittags wird Toller verhaftet.
Ernst Toller: Auf der Suche nach dem geistigen
Führer
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einem gerichtlichen Beschluß vom 4.7. wurde eine stationäre psychiatrische B e o b achtung angeordnet, 113 um festzustellen, ob Toller für seine Taten verantwortlich oder ob der § 51 S t G B auf ihn anzuwenden sei. Ein umfangreiches psychiatrisches Gutachten, das aufgrund der vorliegenden Zeugenaussagen, diverser Krankenberichte und der mehrtägigen stationären Beobachtung Tollers erstellt wurde, verneinte zwar eine Strafausschließung im Sinne des § 5 1 . Gleichzeitig betonte es aber: »Vom medizinischen Gesichtspunkte aus ist ihm daher, falls er schuldig befunden werden sollte, gewiß in weitgehendem Maße der milderne Umstand seiner disharmonischen Veranlagung, seiner Erregbarkeit, Begeisterungsfähigkeit, aber auch Kritiklosigkeit, und seines Eigensinns und seiner Leichtgläubigkeit im Sinne der Idee, in die er sich gerade verbissen hatte, sowie seiner Neigung zu hysterischen Reaktionsweisen, seine starke Beeinflussbarkeit durch das Milieu und seiner abnormen Neigung, sich hervorzutun, zu Gute zu halten« (G). Das Verfahren gegen Toller wurde eingestellt, im September 1918 wurde er als kriegsuntauglich endgültig aus dem Militärdienst entlassen. 114
VI. »Wir jungen Menschen warten auf das Wort eines geistigen Führers, an den wir glauben« (A, 8 0 - 8 1 ) - diese Worte hatte Toller während des Weltkrieges an die Adresse Gerhart Hauptmanns gerichtet. Seiner idealistischen pazifistischen O r i entierung war Toller sich nach der Rückkehr aus dem Krieg sicher, gleichwohl war er unablässig auf der Suche nach einem geistigen Führer, der »den Weg [zeigt], der in die Welt des Friedens und der Brüderlichkeit führt« (A, 79). Durch die Zeitumstände und spezifische politische Konstellationen 1 1 5 wurde Toller nun selbst zum »Führer«, obwohl er, wie Max Weber ihn treffend charakterisierte, doch viel eher »eine Jüngernatur« 1 1 6 war. Weder Kurt Eisner noch Max Weber zeigten sich über den >Jünger< Toller erbaut. D e r fürsorgliche Weber gewann sehr bald den Eindruck, »daß Toller in seiner Erregtheit leicht Einflüssen anheimfallen könnte, die ihn bestimmen könnten, öffentlich für seine Meinung einzutreten«. 1 1 7 Kurt Eisner, dem Toller von Berlin nach München nachgereist war, gab zu Proto-
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Beschluß des 1. Strafsenats des Reichsgerichts Leipzig, 4. 7. 1918. In: ORA/RG, C 24/ 18. Vgl. Ernst Toller: Protokoll der Vernehmung vor dem Staatsanwalt am 4. 1919. In: Staatsarchiv München, Staatsanw. Nr. 2242. Abgedruckt in: Viesel (Hg.): Literaten an
der Wand {kam. 2), S. 361.
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So wurde er nach der Ermordung Eisners trotz seiner Jugend und politischen Unerfahrenheit zum Führer der Münchner USPD gewählt. Vgl. Stefan Grossmann: Der Hochverräter Ernst Toller. Die Geschichte eines Prozesses. Mit der Verteidigungsrede von Hugo Haase. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag 1919, S. 13. Ebd., S. 8. Aussage Max Weber, Heidelberg, 12. 3. 1918. In: ORA/RG C 24/18.
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Christa Hempel-Kiiter/Hans-Harald
Müller
koll: »Ich möchte noch bemerken; Herr Toller hat meine Beziehungen gesucht«. 118 War Toller vor dem Krieg eher von einem noch ungerichteten bohémienhaften literarischen Geltungsdrang beseelt, der mit einem leicht entflammbaren Gerechtigkeitsgefühl einherging, so geriet er nach dem Schock des traumatischen Kriegserlebnisses in eine Gewissensnot, die daraus resultierte, daß er seiner zunächst noch unpolitischen Empörung über den Krieg und seinem stark gefühlsbetonten Pazifismus unbedingt Ausdruck verleihen zu müssen glaubte. In dieser Situation suchte er bei einer beachtlichen Vielzahl von Persönlichkeiten Rückhalt und Unterstützung, die er für sittlich integre Kriegsgegner hielt, die ihm freilich unter Bedingungen des Kriegsrechts kaum zu helfen vermochten. Viele Äußerungen, die die von Toller aufgesuchten Personen im Ermittlungsverfahren zu Protokoll gaben, zeigen, daß diese ihn eher als schutzbedürftiges Opfer denn als kompetenten Anwalt seiner ethischen Uberzeugungen betrachteten - wobei selbstverständlich berücksichtigt werden muß, daß es das Ziel der betreffenden Äußerungen gewesen sein mag, Toller (und sich selbst) zu entlasten und ihn als schuldunfähig darzustellen. Heinrich Mann hatte in einem Gespräch mit Toller den Eindruck gewonnen, »daß Toller ein jugendlich wirrer Kopf sei«. Toller habe »eine allgemeine kriegsfeindliche Gesinnung geäußert«, sei aber »früher begeisterter Militarist gewesen«, 119 erklärte er in seiner Zeugenvernehmung. Friedrich Wilhelm Förster erklärte zu Protokoll, er halte Toller »für einen edlen Menschen, aber auch für etwas phantastisch und eitel.« 120 Max Weber bezeugte, es könne »an der unbedingten Ehrlichkeit und Ernstlichkeit der Absichten Tollers gar kein Zweifel bestehen«. Er quälte sich anscheinend innerlich mit diesen Fragen [= sitttliche und religiöse Fragen, die Fragen der Gerechtigkeit und Erlaubtheit des Krieges; d.V.] ab. Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß er durch die Kriegseindrücke seelisch stark angegriffen und nervös erschüttert war. Er brachte dies auch in dichterischer Form zum Ausdruck. Persönlich war er oft sehr erregt. 121
Weber äußerte sich auch zu den pazifistischen Motiven Tollers: Toller erklärte, es sei verwerflich u. unwichtig, einen Frieden um jeden Preis zu propagieren, sowohl an sich als auch deshalb, weil lediglich dem Imperialismus anderer Nationen Vorschub geleistet würde. Er sprach sich in überaus abfälliger Weise über die Bestrebungen aus, die eigene Nation herunterzusetzen und über Neigungen - ich meine wenigstens, er gebrauchte den Ausdruck - Patriotismus mit umgekehrten Vor-
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Aussage Kurt Eisners am 7.3918 im Gefängnis Neudeck. Amtsgericht München, A b teilung für Strafsachen, Zeugen-Vernehmung in der Strafsache gegen Ernst Toller wegen Landesverrats. In: ORA/RG C 24/18. Aussage Heinrich Mann. Zentralpolizeistelle Bayern an das Κ. B. Gericht der stellver. 1. Inf.-Brigade in München, 4. 4 . 1 9 1 8 . In: ORA/RG C 24/18. Zentralpolizeistelle Bayern, 4. 4. 1918 [Einvernahme Prof. Dr. Förster], In: ORA/RG, C 24/18. Aussage Weber, 12. 3. 1918. In: ORA/RG, C 24/18.
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zeichen zu treiben. E r blieb jedoch bei seiner unreifen Meinung, daß es gelingen könne, lediglich durch sittliche Beeinflussung der öffentlichen Meinung des In- und Auslandes in absehbarer Zeit einen gerechten Frieden herbeizuführen. 122
Ganz offensichtlich hatten weder Max Webers noch der anderen Persönlichkeiten Mahnungen zur Zurückhaltung bei Toller Erfolg. Gegenüber dem vom Staatsanwalt bestellten Psychiater erklärte er nämlich: »Alle die Leute [...] tun heute so, als ob sie mich beruhigt hätten. In Wirklichheit haben sie mich vorwärts getrieben. Aber ich muß mich jetzt opfern.« 123 Weiter erklärte er dem Psychiater: »>Ja, es gibt eben höhere Ideen, denen man im Zwang dienstbar sein muß, die Idee der Sittlichkeit, des Ethos, des Allerhöchsten, des Menschseins, die Idee der Liebe.Geist< und >Tat< - Aktivistische Gruppierungen und Zeitschriften in Osterreich 1918/19* Abstract Der Aktivismus erstrebte die Umsetzung der ästhetischen und sozialen Reformkonzeptionen des Expressionismus in die politische Praxis der Revolutionsjahre 1918/19. Am Beispiel der aktivistischen Gruppierungen Österreichs, die sich um die Zeitschriften Der Strahl (>Bund der geistig TätigenBund der geistig TätigenGeist< zur >Tat< vollzieht. In Fortführung der idealistischen Tradition orientiert sich das Konzept des Aktivismus an der Fiktion der Einheit von Leben und Kunst sowie am Theorem der möglichen Umgestaltung des Lebens durch die Kunst. Kunst und Literatur figurieren in der aktivistischen Theorie als Motoren nicht nur der ästhetisch-kulturellen, sondern auch und vor allem der gesellschaftspolitischen Neuorientierung. Das Schlagwort >Geist und Tat< leitet sich von Heinrich Manns gleichnamigem - 1 9 1 1 veröffentlichtem - Essay ab, der die aktive, in das politische Leben eingreifende Rolle der französischen Intellektuellen in Kontrast zum Rückzug der deutschen Intellektuellen v o n der Politik setzt. Die engagierte * Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus und Aktivismus in Österreich (Universität Klagenfurt), gefördert vom »Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung< (FWF). Als Ergebnis dieses Projekts liegen unter anderem vor: Armin A. Wallas: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Osterreich. Analytische Bibliographie und Register. 2 Bde. München u.a.: K. G. Saur 1995. - Armin A. Wallas: Zeitschriften des Expressionismus und Aktivismus in Osterreich. In: Klaus Amann/Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. (Literatur in der Geschichte - Geschichte in der Literatur 30) Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994, S. 4 9 - 9 0 .
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Armin A. Wallas
Haltung der französischen Schriftsteller ist für Heinrich Mann ein Vorbild, das die deutschen Geistigen zum Kampf gegen Macht und Gewalt aktivieren soll: Die Zeit verlangt und ihre Ehre will, daß sie endlich, endlich auch in diesem Lande dem Geist die Erfüllung seiner Forderungen sichern, daß sie Agitatoren werden, sich dem Volk verbinden gegen die Macht, daß sie die ganze Kraft des Wortes seinem Kampf schenken, der auch der Kampf des Geistes ist. [...] Der Faust- und Autoritätsmensch muß der Feind sein. Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist. Denn der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er zersetzt, er ist gleichmacherisch; und über die Trümmer von hundert Zwingburgen drängt er den letzten Erfüllungen der Wahrheit und der Gerechtigkeit entgegen, ihrer Vollendung, und sei es die des Todes.1 Ausgehend von Heinrich Manns Aufruf entwarfen Kurt Hiller und Ludwig Rubiner die programmatischen Grundlagen des Aktivismus. Als Herausgeber der 2¿e/-Jahrbücher propagierte Hiller die Politisierung der Literaten; >tätiger Geist< ist für ihn die Umsetzung der intellektuell entworfenen Zielvorstellungen in die (gesellschafts-)politische Praxis unter Vermeidung politischer Doktrinen: »wir sind [...] heute keine Partei; wir treiben nicht quer; wir sind, was wir immer waren, Sozialisten. Aber freilich sind wir auch einiges über den Sozialismus hinaus. Wir sind Jugend, wir denken unabhängig, wir kleben an keiner starren Doktrin.« 2 Im Manifest Der Dichter greift in die Politik nimmt Rubiner gegen den materialistischen, fortschrittsoptimistischen Zeitgeist Stellung und fordert die Geistigen zum Protest gegen die bürgerliche Zivilisation auf: Der Geistige, der zum Volksmann wird, gibt von dem Geist ab. Er fühlt, er »schraubt sich herab«. Aber in Wahrheit setzt er das Verlorene um. Der Dichter wirkt tausendmal stärker als der Politiker, der im Moment vielleicht fetter effektuiert. Der Dichter ist der einzige, der hat, was uns erschüttert, Intensität. [...] Der politische Dichter glaube an sein Leben, an seinen Körper, an seine Bewegung. Der Dichter greift in die Politik, dieses heißt: er reißt auf, er legt bloß. Er glaube an seine Intensität, an seine Sprengungskraft.3 Für Alfred Wolfenstein, den Herausgeber des Jahrbuchs Die Erhebung, wiederum ist die Beteiligung der Intellektuellen an der Revolution gleichbedeutend mit dem Versuch, zu einer gesamtmenschlichen Erneuerung beizutragen: »Der Kampf um 1
2
3
Heinrich Mann: Geist und Tat. In: Pan 1 (1910/11), Η. 5, S. 137-143; wiederabgedruckt in: Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Stuttgart: Metzler 1982, S. 269-273. Hier S. 272; 1916 erschien dieser Essay als programmatische Einleitung des von Kurt Hiller herausgegebenen ersten Zie/-Jahrbuchs (Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist). Vgl. auch Wolfgang Paulsen: Expressionismus und Aktivismus. Eine typologische Untersuchung. Bern, Leipzig: Gotthelf 1935, S. 44 ff. Kurt Hiller: Wer sind wir? Was wollen wir? [1918]. In: K. H.: Politische Publizistik von 1918-33. Hg. von Stephan Reinhardt. Heidelberg: Wunderhorn 1983, S. 4 - 1 2 . Hier S. 9. Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. In: Die Aktion 2 (1912), Sp. 6 4 5 652 u. Sp. 709-715; wiederabgedruckt in: L. R.: Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908-1919. Hg. von Wolfgang Haug. (Sammlung Luchterhand 630) Darmstadt: Luchterhand 1988, S. 6 1 - 7 3 . Hier S. 71 u. 73.
>Geist< und Tat< - Aktivistische
Gruppierungen
und
Zeitschriften
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den Geist aber ist die volle glühende Aktivität. [...] Diese Revolution, wenn sie ihren notwendigen Unterschied gegen frühere erkennt und nicht eine kriegerische oder eine friedliche Revolution ist, muß Erneuerung des Menschen sein: Wille, im Menschen das Revolutionäre zu verewigen,«4 Abseits der Zentren des Aktivismus, Berlin und München, gab es auch in Osterreich eine breite aktivistische Strömung, die sich vor allem in Wien konzentriert hat. Die aktivistischen Gruppierungen Österreichs veröffentlichten ihre Zielvorstellungen in eigenen Zeitschriften wie Der Strahl, Neue Erde, Neue Gemeinschaft und Kunst- und Kulturrat (mit denen sich die folgenden Ausführungen, ohne Vollständigkeit erstreben zu wollen, beschäftigen werden), gründeten kulturpolitische Initiativen und Verbände und beteiligten sich - unter anderem im Rahmen der >Roten Garde< - an den revolutionären Ereignissen im November 1918. 5 Der österreichische Aktivismus entstand als Protestbewegung gegen den Krieg, die Korruption des politischen Systems und die Entfremdungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft. Getragen vom Erneuerungspathos des Expressionismus unternahmen es die Aktivisten, an der Verwirklichung ihrer Utopien, die von der Vision des Weltfriedens bis zu konkreten Vorschlägen etwa zur Reform des Unterrichtswesens reichten, mitzuwirken. Im Kampf um die Durchsetzung ihrer >geistpolitischen< Ziele standen die Aktivisten in Kontakt zu anarchistischen und sozialistischen Gruppierungen, wobei sich die Divergenz der politischen Standpunkte in der Unterschiedlichkeit der sozialistischen Systeme (Freilandsozialismus, Herrschaftsloser Sozialismus, Marxismus etc.) widerspiegelt. Das Mißtrauen der Aktivisten gegen politische Doktrinen, die Heterogenität der individuellen Auffassungen und der Mangel an politischer Durchsetzungskraft waren jedoch mitverantwortlich für das rasche Scheitern der Bewegung und die Desillusionierung der Intellektuellen, für die der Sieg der Real- über die Geistpolitik gleichbedeutend mit der Zerstörung ihrer Ideale war.
>Bund der geistig
Tätigem
Als Integrationsfigur des Wiener Aktivismus fungierte Robert Müller,6 der die institutionelle Infrastruktur zur Propagierung der aktivistischen Ideen schuf und 4
5
6
Alfred Wolfenstein: Der menschliche Kämpfer. In: Die Erhebung. Berlin: S. Fischer 1919, Bd. 1, S. 2 7 3 - 2 8 6 ; wiederabgedruckt in: A. W : Werke. Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Hg. von Hermann Haarmann u. Karen Tieth unter Mitarbeit von Olaf Müller. (Die Mainzer Reihe 5 3 / 5 ) Mainz: von Hase & Koehler 1993, S. 1 1 0 - 1 2 1 . Hier S. 117. Vgl. hierzu Ernst Fischer: Expressionismus - Aktivismus - Revolution. Die österreichischen Schriftsteller zwischen Geistpolitik und Roter Garde. In: Expressionismus in Österreich (Anm. *), S. 1 9 - 4 8 . Robert Müller (1887 Wien - 1924 Wien): Schriftsteller und Publizist; 1 9 0 7 - 1 9 0 9 Studium an der Universität Wien; 1 9 0 9 - 1 9 1 1 Aufenthalt in Amerika; 1 9 1 2 - 1 9 1 4 literarischer Leiter des >Akademischen Verbands für Literatur und Musik in Wien« und Mitherausgeber der Zeitschrift Der Ruf·, Teilnahme am Ersten Weltkrieg; 1915 Heirat mit
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Armin A. Wallas
in seinem essayistischen Schaffen das theoretische Grundgerüst der Bewegung entwarf. In der politischen Umbruchphase gegen Ende des Ersten Weltkriegs, die zum Zerfall der Habsburgermonarchie und zur Gründung der Republik DeutschÖsterreich geführt hat, sammelte Müller die aktivistischen Intellektuellen Wiens im Geheimbund >Die Katakomben Dieser Bund war als Forum zur Diskussion »pazifistisch-antimilitaristische[r] und marxistische[r] Ideen des Umsturzes« konzipiert und sollte ein breites Kulturprogramm entwerfen, das die aktivistischen Forderungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens beinhalten sollte; darüber hinaus war die >Katakombe< als Distributionsapparat für die Wiener expressionistischen Zeitschriften Der Anbruch (herausgegeben von Otto Schneider), Das Flugblatt (herausgegeben von Oskar Maurus Fontana und Alfons Wallis), Daimon/Der neue Daimon (herausgegeben von Jakob Moreno Levy), Die Rettung (herausgegeben von Franz Blei und Albert Paris Gütersloh) und Die neue Wirtschaft (herausgegeben von Erwin Müller) gedacht, die jeweils mit zumindest einem Repräsentanten im Bund vertreten waren/ Den Zeitschriften kam die Funktion zu, als Verbreitungsmedien der >neuen Ideen< zu wirken und das Ideenreservoir für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Aufgrund persönlicher Differenzen und ökonomischer Schwierigkeiten zerfiel die >Katakombe< bereits nach kurzer Zeit und wurde von zwei - ebenfalls von Robert Müller initiierten - Vereinigungen gefolgt, der >Literarischen Vertriebsund Propaganda Ges.m.b.H.< (Literaria) und dem >Bund der geistig TätigenLiteraria< als Wirtschaftsbetrieb (Sortimentbuchhandlung und Verlag) geführt wurde und einen Kompromiß zwischen ökonomischen Sachzwängen Olga Estermann; 1916/17 Redakteur der Belgrader Nachrichten·, 1918/19 Herausgeber der Österreichisch-Ungarischen Finanzpresse; 1918 Mitbegründer des >Bundes der geistig TätigenLiterariaTat< - Aktivistische
Gruppierungen
und
Zeitschriften
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und der Verpflichtung zur Verbreitung der neuen Kunst und Literatur anstrebte, 8 war der >Bund der geistig Tätigen< als Plattform zur Ausarbeitung eines aktivistischen Kulturprogramms gedacht. Der Bund konstituierte sich Mitte November 1918 und wurde am 13. Januar 1919 formell gegründet; dem Vorstand gehörten Franz Kobler 9 (als Präsident), Max Ermers, 1 0 Robert Müller, Fritz Zerner, 11 Dora Kobler, 12 Franz Ottmann 1 3 und Ernst Wagner 1 4 an; als Organ des Verbands er-
8
Zur >Literaria< vgl. Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Bd. 2: Belletristische Verlage der Ersten Republik. (Literatur und Leben NF 28) Wien, Köln, Graz: Böhlau 1985, S. 236-252. Die >Literaria< bestand von 1919 bis 1925 (seit 1922 als Aktiengesellschaft); als Geschäftsführer fungierten die Brüder Erwin und Robert Müller; 1921 erschien der Literaria-Almanack, dem 1924 der von Karl Oskar Piszk herausgegebene Künstlerhilfe Almanach der Literaria folgte; im Literaria-Verlag erschienen unter anderem die von Fritz Karpfen betreute dreibändige Buchreihe Gegenwartskunst (Bd. 1: Rußland\ Bd. 2: Skandinavien und Holland·, Bd. 3: Osterreichische Kunst) und Der brennende Mensch. Aus den Tagebüchern Anton Hanaks von L. W. Rochowanski.
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Franz Kobler (1882 Jungbunzlau/Böhmen-1965 Berkeley/Kalifornien): Jurist, Pazifist und Publizist; Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie und Geschichte in Prag, Wien und Berlin; Dr. jur.; 1914-1938 Rechtsanwalt in Wien; dem Kobler-Kreis im Wien der Zwischenkriegszeit gehörten unter anderem Felix Braun, Käthe Braun-Prager, Georg Ehrlich, Josef Floch, Martha Hofmann, Ernst Lissauer, Viktor Matejka, Robert Müller, Otto Stoessl und Ernst Waldinger an; 1938 Emigration in die Schweiz und 1939 nach England; Lehrtätigkeit am institute of Jewish Learning< (London); 1947 Ubersiedlung in die USA; Veröffentlichungen: Völkerfrühling in Osterreich (zusammen mit Franz Ottmann) (1916), Gewalt und Gewaltlosigkeit (1928), Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten (1935), Jüdische Geschichte in Briefen aus Ost und West (1938), Letters of Jews Through the Ages (1952). - Zu Kobler vgl. Evelyn Adunka: Franz Kobler (1882-1965): Rechtsanwalt und Historiker. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 5 (1994), S. 97-121.
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Max Ermers (eigentlich: Maximilian Rosenthal) (1881 Wien-1950 Wien): Kunsthistoriker und Journalist; Bruder des Verlegers E. P. Tal (Rosenthal); Studium in Zürich; Dr. phil.; 1919/20 Herausgeber der Zeitschrift Neue Erde (Wien) und Leiter des gleichnamigen Genossenschaftsverlags; 1920/21 Siedlungsreferent der Stadt Wien; Begründer und Leiter des Wiener Siedlungsamtes; Dozent an Wiener Volkshochschulen; Kunstkritiker und Redakteur des Tag (Wien); 1934/35 Herausgeber der Zeitschrift Die Zeit (Wien); 1939 Emigration nach England; Arbeit als Glasbläser (zusammen mit Fritz Lampi); 1949 Rückkehr nach Österreich; Veröffentlichungen: Österreichs Wirtschaftsverfall und Wiedergeburt (1923), Viktor Adler. Aufstieg und Größe einer sozialistischen Partei (1931); Allen gehört die Erde! Aufruf zu einem engeren Zusammenschluß der Menschheit (1950). - Zu Ermers vgl. Wilfried Posch: Die Wiener Gartenstadtbewegung. Reformversuch zwischen erster und zweiter Gründerzeit. Wien: Edition Tusch 1981.
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Fritz Zerner (1895 Wien-1951 Marseille): Physiker und Mathematiker; Dr. phil.; 1918-1920 Assistent an der Universität Wien und 1920/21 an der Technischen Hochschule Berlin; seit 1922 in Wien; 1938 Emigration nach Frankreich; 1942 Übertritt zum Protestantismus. Dora Kobler geb. Feigenbaum (1881 Warschau-1960 San Francisco): Übersetzerin; 1906 Heirat mit Franz Kobler; 1938 Emigration in die Schweiz und 1939 nach England; Präsidentin der Flüchtlingsorganisation >Marie Schmolka GroupBund der geistig Tätigen< in eine Politische Gruppe< (Leiter: Robert Müller), die sich mit Fragen des Rätesystems, dem Kampf gegen den Nationalismus etc. befaßte, eine >Gruppe für Zeitphilosophie< (Leiter: Ernst Müller), 1 6 die die aktivistische Idee in ihren Wechselwirkungen zu »anderen geistigen Bewegungen« der Zeit diskutierte, eine >Gruppe für bildende Kunst< (Leiter: Ernst Wagner; später abgelöst durch Emanuel Stwertnik), 17 die die Kunstausstellung des >Bundes der geistig Tätigen< im April 1 9 1 9 vorbereitet hat, eine >Gruppe für Musik< (Leiter: Anton H. Spiller), 18 die ein eigenes musikalisches Ensemble des Bundes gründen sollte, und eine »Literarische Gruppe< (Leiter: Franz Ottmann), die Vorträge und Lesungen organisierte und eine »intime Liebhaberbühne [...] zur Aufführung von Stücken, Szenen und Dialogen, in denen die geistige A r t zum Ausdruck kommt«, schaffen sollte. 19 Zum weiteren Programm des Bundes gehörten die Veranstaltung von Vorträgen und Lesungen; 20 des weiteren war die Errichtung einer »Akademie der geistig TätigenHagenbundesGeist< und Jat< - Aktivistische Gruppierungen
und Zeitschriften
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Im ersten Heft des Strahl legte der >Bund der geistig Tätigen< einen Programmentwurf vor, der die Forderungen der Wiener Aktivisten zu Fragen der äußeren und inneren Politik, der Wirtschaft, des Rechts, des Sexuallebens, der Erziehung und der Kunst enthält. 22 Die schlagwortartig aufgezählten Reformvorschläge ergeben ein synkretistisches, zeitgenössische Erneuerungsbewegungen (Jugendbewegung, Pädagogik, Genossenschaftsbewegung, Siedlungsbewegung, Gartenstadtbewegung, Rhythmische Gymnastik etc.) und Topoi der intellektuellen Diskussion (Sozialisierung, Autonomie, Völkerbund, allgemeine Nährpflicht, Jugend, Festspielidee etc.) rezipierendes Konzept, das auf der Idee einer übernationalen Erneuerung der Weltkultur beruht. Die Forderungen perspektivieren die Uberwindung der Welt des Krieges, des Nationalismus und des Völkerhasses durch eine Welt der friedlichen Kooperation gleichberechtigter Völker. Dem Entwurf der >Erde< als >Wirtschaftsganzes< entspricht im Bereich der Kunst die Idee des Gesamtkunstwerks, das die Grenzen zwischen den Künsten aufheben, die Kunst als »höchste[n] Ausdruck der Geistigkeit« dem >Volk< vermitteln und nach der Vereinigung von >Geist< und >Körper< streben soll. Der Jugend wird die Rolle einer Avantgarde der Gesellschaftsveränderung zugesprochen, und versucht, deren eigenständige Entwicklung durch eine Reform des Schulwesens (Selbstverwaltung, Abschaffung der Prüfungen, Förderung der Körperkultur etc.) zu gewährleisten.
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(Franz Kobler; 8. 12. 1918); »Uber geistige Bünde und ihre Programme« (Max Ermers; 22. 12. 1918); »Geist der Aufklärung oder Geist der Romantik?« (Edgar Zilsel; 5. 1. 1919); »Geistige Richtlinien in unserer Zeit« (Ernst Wagner; 19. 1. 1919); »Aktivismus, die Religion des Bewußtseins« (Robert Müller; 13. 2. 1919); »Kulturpolitik und Aktivismus« (Robert Scheu; 16. 3. 1919); »Der Nationalismus im europäischen Geistesleben« (Carl Techet; 8. 4. 1919); am 10. 6. 1919 fand als >1. Literarischer Abend< des Bundes eine Lesung mit Joseph Gregor zum Thema >Krieg< statt. Vgl. Anonym: Akademie der geistig Tätigen. In: Der Strahl 1 (1920), H. 2, S. 74f.: »Der Bund plant die Schaffung einer Akademie, deren Zweck darin bestehen soll, Wissen und Kenntnisse nicht in jener atomisierenden Weise zu vermitteln, wie es in den üblichen Volksbildungsinstituten geschieht, sondern im Zusammenhang mit dem Streben nach Einheitlichkeit des geistigen Lebens«; als Kursleiter waren vorgesehen: Max Fleischer (»Sozialphilosophie«), Joseph Gregor (»Uber moderne Dichtung«), Walther Klein (»Über Metaphysik der Tonkunst«), Ernst Müller (»Probleme und Methoden der Mathematik«), Hans Prager (»Über das Wesen der Philosophie«), Elijahu Rappeport (»Wissenschaft und Metaphysik«), Josef Leo Seifert (»Einführung in die slavische Gedankenwelt«), Carl Techet (»Ethnologische Probleme«) und Grete Wolf (»Über Betrachten und Gestalten von Kunstwerken«). Vgl. Anonym: Programmentwurf. In: Der Strahl 1 (1919), H. 1, S. 4 - 6 . - Die Idee eines >Bundes der Geistigen< wurde in Hillers Z/e/-Jahrbüchern vertreten; vgl. hierzu Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geistesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert. (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B/Untersuchungen 20) Frankfurt/M., Bern: Peter Lang 1981, S. 76ff. - Der >Bund der geistig Tätigen< bekannte sich auch zu dem am 21. 11. 1918 in der Weltbiibne veröffentlichten und im dritten Z¿e/-Jahrbuch (1919) nachgedruckten Programm des von Hiller geleiteten >Rats geistiger Arbeiten, vgl. Expressionismus (Anm. 1), S. 288-292.
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Die Programmatik des »Bundes der geistig Tätigen< beruht auf der Konzeption der Autonomie des Subjekts. Auf der Grundlage der Analyse der >Unrettbarkeit des Ichs« und der Ich-Dissoziation, wie sie die Literatur und Philosophie des Fin de Siècle (Ernst Mach, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr) und des zivilisationskritischen Expressionismus vorgelegt hatte, proklamieren die Aktivisten die »Wiedergeburt des Ich« unter Berufung auf Nietzsches Lehre vom »Ubermenschenc Der einsame Kämpfer, der Ubermensch und der neue Urchrist - in allen kündigt sich ein Menschentum an, dessen Kraft, aus verborgenen inneren Quellen fließend, die Welt zu meistern, nicht ihr auszuweichen, nicht ihr zu gehorchen gewillt ist. [...] Ein neues Gemeinschaftsbewußtsein entstand, geschwellt von tiefem Widerstreben gegen die Gewalt und von den Spannungen des Selbstbestimmungswillens und der Verantwortung. Ein neuer Mensch tritt hervor, revolutionär und mit dem Schein der Anmaßung schon in seinem Namen: der Geistige; nicht eben der mit Geist reich Bedachte, sondern der im Allwirken der Materie Geistesallgegenwärtige, Fanatiker seiner Verantwortung, der geistig Tätige, der Aktivist. 23
Die Hoffnungsfigur des >geistig Tätigen« wird zu einer Gegeninstanz gegen Krieg, Gewalt und Ubermacht der Materie stilisiert, die als Inkarnation des revolutionären Menschen die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums restituiert. Das durch das expressionistische Großstadt- und Kriegserlebnis bedingte Bewußtsein vom Zerfall des Ichs (Ubermacht der Dingwelt in Industrie und Technik, Industrialisierung des Todes in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, Erkundung der unbewußten Schichten des Menschen durch die Psychoanalyse, erkenntnistheoretische Verunsicherung, sozialhistorische Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter und Generationen) wird durch die pathetische Akklamation des >neuen Menschen« ersetzt. Im Unterschied zu dem vom messianischen Expressionismus entworfenen Bild des >neuen Menschen«, das die Utopie von der Aufhebung der Gegensätze und der Etablierung paradiesischer Zustände auf Erden assoziiert, versteht sich das autonome Subjekt des Aktivismus als Träger der revolutionären Idee und als ausführendes Organ konkreter Gesellschaftsveränderung. Im Rahmen der aktivistischen Ideologie gewinnt der Begriff des >Geistes< die Funktion einer rettenden Instanz, der die Aufgabe zugeschrieben wird, »die aus den Fugen geratene Welt wieder ein[zu]richten«. 24 Der Undurchschaubarkeit der Wirklichkeit wird die Fiktion der Selbstbestimmung der Person entgegengestellt. Das »gerettete Ich< unternimmt es nun, eine Neudefinition des Begriffs >Politik< zu entwerfen und neue Kategorien des »politischen Menschen« zu kreieren, indem 23 24
Anonym: [ohne Titel]. In: Der Strahl 1 (1919), S. 1 - 2 . Hier S. 1. Anonym: Unser erster Aufruf. An die Kulturmenschen aller Länder! In: ebd., S. 2 - 3 . Hier S. 3. Der Erste Aufruf der »Vorbereitenden Gruppe des Bundes der geistig Tätigen« erschien zusammen mit dem Programmentwurf auch als Flugblatt (Verlag »Die Wage«) und wurde im Januar 1919 der Wiener Wochenschrift Die Wage, herausgegeben von J. Ekstein (Ε. K. Stein), beigelegt.
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»Realpolitik« durch >Geistpolitik< ersetzt w i r d . >Geistpolitik< versteht sich als U b e r w i n d u n g der h e r k ö m m l i c h e n >RealpolitikGeistpolitik< repräsentieren somit die Gegensätze von >Massensuggestion< und »Selbstbesinnung«, »fatalistischer Resignation« u n d »Aufruf zur Selbstbestimmung«, »Isolierung« und »Bindung«, »gegenseitigem Kampf« u n d »gegenseitiger Hilfe«. 2 5 I m Kampf gegen die Vertreter der »Realpolitik« erstrebt der »Bund der geistig Tätigen« den Zusammenschluß der aktivistischen Intellektuellen zur »geistige[n] Internationale«. 2 6 Wenngleich das U n t e r n e h m e n letztlich gescheitert ist, entfaltete d e r B u n d eine rege Tätigkeit, u m mit aktivistischen G r u p p i e r u n g e n des In- u n d A u s l a n d e s Kontakt aufzunehmen: so veröffentlichte der Strahl das M a n i fest der französischen Intellektuellen u m H e n r i Barbusse an die »geistige[n] Kämpfer in aller Welt«, das im Februar 1919 i m Populaire erschienen war, 2 7 u n d publizierte die A n t w o r t des »Bundes der geistig Tätigen«; des weiteren kooperierte der B u n d mit der »Kulturpolitischen Gesellschaft« W i e n (Robert Scheu), der »Neuen Erde« W i e n ( M a x Ermers), der »Sozialistischen Vereinigung der geistigen Arbeiter« W i e n ( M a x Adler, Rudolf Goldscheid), der Künstlergruppe »Freie Bewegung« W i e n , der »Freien Arbeitsgemeinschaft Kunst- u n d Kulturrat« Salzburg (Joseph A u g u s t Lux), d e m »Allgemeinen Verband geistiger Arbeiter« Wien, d e m »Politischen Rat der geistigen Arbeiter« Berlin (Kurt Hiller), d e m »Politischen Rat geistiger Arbeiter« M ü n c h e n (Heinrich M a n n ) , dem »Rat der geistigen Arbeiter« M ü n c h e n ( L u j o Brentano), der Gruppe »Clarté« (Henri Barbusse), d e m »Internationalen Antimilitaristischen Verein« Utrecht (F. Dómela N i e w e n h u i s , Josef Giesen) und anderen Organisationen. Als Ziel des internationalen Zusammenschlusses der A k t i v i s t e n w i r d - w i e es in einem Brief an Heinrich M a n n heißt - die Vorbereitung der »geistigen Revolution« ins A u g e gefaßt: » W i r glauben, dass es die v o r l ä u f i g e A u f g a b e ist, den Geistigen einen bei W a h r u n g aller Individualität engen defensiven Zusammenschluss zu ermöglichen. Dieser soll die geistige R e v o lution inmitten eines U m s t u r z e s bloß materieller Verhältnisse w a h r e n . Es gibt kein Werben, kein demagogisches U b e r r e d e n z u einem P r o g r a m m , n u r ein s y m pathetisches Affilieren.« 2 8
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Vgl. ebd. Anonym: Unsere Antwort. An Henri Barbusse und seine Mitstreiter! In: Ebd., S. 8 9. Hier S. 9. Vgl. Henri Barbusse an die geistigen Kämpfer. In: Ebd., S. 6 - 8 ; vgl. auch Anonym: Unser zweiter Aufruf an Henri Barbusse und seine Freunde. In: Der Strahl 1 (1920), H. 2, S. 62-63, und Abdruck des Aufrufs für die >Clarté< von Barbusse (ebd., S. 6 3 66) und des Aufrufs für die Unabhängigkeit des Geistes von Romain Rolland (ebd., S. 66 - 67). Franz Kobler und Robert Müller an Heinrich Mann, Wien 20. 2. 1919, Heinrich Mann-Archiv, Akademie der Künste zu Berlin, HMA 2781; dem Brief liegt der als Flugblatt publizierte Erste Aufruf und Programmentwurf des »Bundes der geistig Tätigen« bei.
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Für Franz Kobler, den Vorsitzenden des >Bundes der geistig TätigenIrenetikagonalen< durch das >irenetische< Ideal. 31 Im Unterschied zu Koblers dynamischem Pazifismus postuliert Robert Müller den >Geist< als vitalistische Kategorie des Protests gegen das Bestehende, die dem Aktivismus Zusammenhalt verleiht, im Zuge der Konsolidierung der Bewegung jedoch überflüssig wird. 3 2 Wie divergent die Auffassungen der Wiener Aktivisten waren, zeigt sich in der Gegenüberstellung der relativistischen >GeistGeistes< von Josef Leo Seifert. 3 3 Für Seifert ist der >Geist< Ausdruck der Synthese, des Lebens und des Göttlichen, der die Grundlage zu einer Erneuerung der Religion bilden soll (als Vorbild des religiösen MenschenSynthetische< in sich trägt, betrachtet Seifert die Slawen). 34 Der Kabbaiist und Anthroposoph Ernst Müller wiederum reflektiert über die Dichotomie von >Zeit< und >Geist< und bemüht sich um einen Ausgleich zwischen >beschaulichem< und >tätigem< Menschen: »So nun können sich beide Reiche ergänzen und zusam-
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Franz Kobler: Der einzige Weg. In: Der Strahl 1 (1919), Η. 1, S. 10-13. Hier S. 11. Vgl. Franz Kobler: Irentik [sie!], die Lehre vom Frieden. In: Der Friede 3 (1919), H. 78, S. 609-610. Vgl. Franz Kobler: Zur Verständigung. Gewaltlosigkeit und Kampflosigkeit. In: Der Strahl 1 (1920), H. 2, S. 6 8 - 6 9 . In seiner Shakespeare-Interpretation untersucht Kobler das Spannungsverhältnis zwischen >Gewaltmensch< und >GeistigemBund der geistig Tätigen< bei der Protestkundgebung gegen das neue Wehrgesetz< im Wiener Großen Konzerthaussaal und wies in seiner Rede darauf hin, »daß es einen humanen Militarismus eben so wenig geben könne wie eine humanisierte Kriegführung«; einem zeitgenössischen Bericht zufolge erzeugte seine Rede intensive Wirkung auf das Publikum: »Wie ein elektrischer Funke zündeten die Worte Dr. Koblers im Gemüte der Zuhörer, und während er von den Nazarenern und ihrer edelmütigen Wahrung der höchsten sittlichen Menschheitsgüter, ihrem heldenmütigen Tode im Kampfe gegen den Krieg sprach - erhob sich die ganze imposante Versammlung und hörte stehend seine Ausführungen an«; vgl. - d : Die Protestkundgebung der Antimilitaristen, Friedensfreunde und Gegner des Kriegsdienstzwanges gegen das Wehrgesetz. In: Erkenntnis und Befreiung 1 (1919), H. 6, S. 1 5 - 1 6 . Hier S. 16. Vgl. Robert Müller: Geist? In: Der Strahl 1 (1919), H. 1, S. 13-16. Josef Leo Seifert (geb. 1884 Wien): Publizist und Politiker; Veröffentlichungen: Literaturgeschichte der Czechoslowaken, Südslawen und Bulgaren (1923), Die Weltrevolutionäre (1930), Sinndeutung des Mythos (1954). Vgl. Josef Leo Seifert: Autorität. In: Der Strahl 1 (1920), H. 2, S. 13-22.
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menschließen. Der Geist wird sich nicht in Weltfremdheit verlieren, aber auch das Tagewerk nicht in Stumpfheit ersticken.« 3 5 Das gesellschaftspolitische Engagement der Aktivisten äußerte sich in ihrer Sympathie für die revolutionäre Umgestaltung der Habsburgermonarchie, die am 12. November 1918 zur Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich geführt hatte. Die Ablösung der Monarchie durch die Republik und der Austausch der herrschenden Eliten bedeutete für sie jedoch erst den ersten Schritt zu einer grundsätzlichen, sämtliche gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Neuorientierung. Für Fritz Zerner ist eine Revolution nichts Endgültiges, sondern ein Faktor ständiger Beunruhigung, als deren Inhalt er die Bekämpfung der Konventionen und Werte der bürgerlichen Gesellschaft durch den schöpferischen Menschen< auffaßt. Zerner definiert den Begriff >Bürgertum< jedoch nicht als soziale, sondern als psychologische Kategorie und warnt vor der Verbürgerlichung der sozialistischen Revolutionäre: »Denn durch den Sieg der sozialen Revolution wird das revolutionäre Proletariat zum >Bürgertum< [...]. Die Umwandlung der revolutionären Masse in eine konservative, konterrevolutionäre war bisher das Ende jeder Revolution, alle Anzeichen weisen darauf hin, daß auch die sozialistische hievon keine Ausnahme machen wird.« U m diese »Tragik aller bisherigen Revolutionen« verhindern zu können, fordert er die »Abschaffung des Staates«, in dem er eine »tote Form«, die Institutionalisierung der gesellschaftlich sanktionierten Gewalt und den retardierenden Faktor zur Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsform erkennt. 36 Während Zerner eine anarchistisch inspirierte Kritik am Staat formuliert und die Gefahren analysiert, die einer auf institutionelle Veränderungen abzielenden und die ethisch-geistige Erneuerung außer acht lassenden Revolution drohen, greift Robert Scheu, 37 der Leiter der mit dem >Bund der geistig Tätigen* kooperierenden kulturpolitischen GesellschaftAktivismus< »die komplexeste Einstellung zum Leben« und den »Kampf gegen eine abstrakte, geistfremde, wohlgemerkt aber auch lebensfremde Politik, gleichgültig, ob diese von parlamentarischen oder absoluten Regierungen gehandhabt wird«. 4 0 Scheus Unterfangen, den Staat und die Gesellschaft auf der Grundlage eines vergeistigten Rätewesens neu aufzubauen, muß sich jedoch Zerners grundsätzlicher Kritik an der Unvereinbarkeit eines Zusammenwirkens von >Geist< und >Staat< stellen, die die Kompromittierung der Idee durch ihre Institutionalisierung analysiert. Allerdings gelang es den Aktivisten nicht, den angestrebten Einfluß auf die politisch-soziale Entwicklung auszuüben. Die Konsolidierung der neuen Machtverhältnisse erweckte den Eindruck einer bloß äußerlichen Veränderung, unter deren Fassade die Korruption des alten Systems fortlebte. So etwa drückt Stefan Zweig in einem an Robert Müller adressierten und im Strahl veröffentlichten Brief seine Enttäuschung über die Halbherzigkeit der Revolution wie auch seine Hoffnung auf eine moralische Erneuerung der österreichischen Verhältnisse aus: 41 Die deutsche Revolution, die jenen Scheidemann aus Dank zu ihrem Führer machte, kann uns ein Beispiel sein, wohin es führt, wenn die anständigen Menschen sich abseits stellen und bleiben. Und die unausbleibliche zweite Revolution in Wien (oder eigentlich die erste, wahrhaftige) kann nur fruchtbar werden, wenn sie auf unbeugsamen moralischen Prinzipien ruht. Wenn ihr junge Menschen auch nur im äußerlichen Euch mit der gegenwärtigen Korruption in Wien abfindet, so sehe ich keine Rettung. Denn nicht von politischen Parteien, sondern aus einem moralischen Instinkt muß die Rettung kommen. 42
Wenngleich die aktivistische Idee einen wichtigen Beitrag zur Infragestellung ideologischer Doktrinen, parteipolitischer Verengungen und revolutionärer Phraseologien geleistet und die Grundzüge einer revolutionären, die Wandlungen der modernen Wirklichkeit verarbeitenden Sozialutopie vermittelt hat, blieb ihr die politische Wirkung versagt. Die Gründe für das Scheitern des Aktivismus sind vielfältig und reichen von mangelnder Theoriebildung über den Mangel an politischer Organisation bis zu persönlichen Differenzen. In der Divergenz der Einzel39
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Rob[ert], Scheu: Wir und das Rätesystem. In: Der Strahl 1 (1919), Η. 1, S. 1 7 - 1 9 . Hier S. 18. Robert Scheu: Aussprache mit Thomas Mann. In: Der Friede 3 (1919), H. 75, S. 5 3 6 540. Hier S. 538f. Stefan Zweig fungierte als Kontaktperson des >Bundes der geistig Tätigem zu Henri Barbusse. Stefan Zweig: Ein Brief. In: Der Strahl 1 (1920), H. 2, S. 1 0 - 1 3 . Hier S. 12.
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konzeptionen spiegelt sich jedoch zugleich das aktivistische Modell der D y n a m i k und O f f e n h e i t der Gesellschaft wider. In seiner Bilanz des Aktivismus
stellt R o -
bert M ü l l e r die K o n f l i k t e innerhalb der Wiener Aktivisten dar und pointiert die subjektive Ausrichtung der Ideen: Die Aktivisten in Wien waren die ersten und gründlichsten Umordner, nicht Unordner; ihre Programme griffen so radikal zu, daß sich die Wirtschaftsrevolutionäre, Marxisten und Klassenkämpfer in den ursprünglich breit gesteckten Debatten dialektisch überhaupt nicht halten konnten [...]. Damals entstand eine Spaltung zwischen den MaterieIdeologen (Marxisten) und den Ideo-Materialisten. Die ganz brutalen Marxisten blieben weg; die feinen, die landauerschen Intellekte des Sozialismus, möchte man sagen, hielten ihre personelle Affinität zur aktivistischen Gemeinschaft selbst unterm Druck des Dogmatischen, denen sie verschrieben sind, aufrecht. Es bildeten sich die persönlichen Respekte und Sympathien, diese geistige Erotik (das ist nur eine Metapher), die für den Aktivismus charakteristisch geworden sind und sein historisches Schicksal formen werden, denn der Aktivismus besteht nur mit seinen genuinen Trägern, außerhalb ihrer, als Dogma, als Lehre, als Massen-Entzückung-Verzückung gar nicht. 4 3 Entsprechend der subjektivistischen, die A u t o n o m i e des Ichs restituierenden P r o grammatik des A k t i v i s m u s identifiziert Müller Person und Idee, w o d u r c h jedoch die Idee in G e f a h r gerät, den A n s p r u c h auf überindividuelle Geltung zu verlieren. Ein solches Bekenntnis zur radikalen Subjektivität v o n Wirklichkeitswahrnehmung und gesellschaftskritischer Positionsbestimmung beruht auf der Erkenntnis v o n der Relativität abstrakter Begriffe; der M u t zur O f f e n h e i t und Subjektivität kann z w a r die G e f a h r der Ideologisierung und Dogmatisierung der Idee vermeiden, n i m m t jedoch das Risiko der Wirkungslosigkeit auf sich. Für A n t o n K u h w a r e n die Aktivitäten des >Bundes der geistig Tätigen< A n l a ß zu einer heftigen Polemik gegen den Aktivismus, dem er v o r w a r f , das W o r t >GeistTat< z w a r proklamiert, sie jedoch nicht ausführt: Der Geist nimmt nichts von der Oberfläche. Er macht sich's nicht in anderer Leute Klischees bequem, an deren Zustandekommen er unbeteiligt war. Er wühlt auf und um, zerstört von Grund auf, um das Neue hinzubauen - oder will es zumindest. [ . . . ] Das Eigentliche, weiß er, wird nie politische Form. [ . . . ] O b z w a r - in Wien grassiert ja Ähnliches. Auch hier wird der Geist mit Bangigkeit inne, daß er tatenlos in der Ecke steht. A u c h hier sagt er: »Ich bin der Geist.« Der Aufruf eines >Bundes der geistig Tätigen*, dessen vorbereitende Gruppe in der Mariahilferstraße 112, Tür 20, ihren Sitz hat, k o m m t mir zu Gesicht. Er spricht von den Geistigen, meint aber [ . . . ] die Intelligenten. Was da über die Notwendigkeit ihrer Organisation steht und wie mit ihrer Zersplitterung die Herrschaft der Gewalt motiviert wird, klingt nicht übel. Begreiflich auch, daß idealistische Schrullenköpfe immer wieder auf eine Organisation der Intelligenz verfallen. Aber w e r da weiß, w i e blöd die meisten Intelligenten sind, erklärt sich die Oberherrschaft der Gewalt besser, als der Aufrufer mit ihrer Zersplitterung. Immer43
Robert Müller: Bilanz des Aktivismus. In: Ebd., S. 5 - 1 0 . Hier S. 8.
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hin, der Geist regt sich auch hier, rund um den Stephansturm. Aber es ist hier wie dort fin Berlin, A. d. V.] weder die richtige Regung noch der richtige Geist. Wäre er's - er müßte statt seines Namens ein Programm auf seine Fahne schreiben. Er wäre tätig, statt seinen Anspruch auf Tätigkeit anzumelden. 44 Im Bereich der Kunsttheorie enthält Der Strahl die Thesen des Bildhauers und Malers Ernst Wagner zur >neuen KunstGruppe f ü r bildende Kunst< des >Bundes der geistig Tätigen< organisierte Ernst Wagner eine expressionistische Kunstausstellung, die am 18. April 1 9 1 9 im Rahmen der Jahresausstellung der G e n o s s e n schaft bildender Künstler Wiens< im Künstlerhaus eröffnet wurde und bei der Werke von Sophie Korner, 4 6 Leopold Krakauer, 4 7 Grete Leitner, 48 Sophie Lou44 45
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Anton Kuh: Der Geist marschiert. In: Der Friede 2 (1918), H. 48/49, S. 529-530. Vgl. Ernst Wagner: Irrung und Richtung. Ein Kapitel aus dem Buche »Kunst und Evolution«. In: Der Strahl 1 (1920), H. 2, S. 2 2 - 2 5 . Sophie Korner (1879 Wien-1942 Izbica?): Malerin und Graphikerin; Studium an der Kunstschule für Frauen und Mädchen und an der Wiener Kunstgewerbeschule sowie bei Bernhard Pankok in Stuttgart; Reisen; Aufenthalte in Paris und in der ungarischen Künstlerkolonie Nagybánya; 1919-1921 Studium bei Johannes Itten am Bauhaus in Weimar; 1930 Mitglied der Bereinigung bildender Künstlerinnen Osterreichs< (Wien); 1942 nach Izbica deportiert und ermordet. - Zu Korner vgl. Stella Kramrisch: Sofie Korner. In: Die bildenden Künste 3 (1920), S. 104-107 (»ein Expressionismus der bewegten, abgegrenzten Farbfläche, die das Bild zu einem lebendigen Organismus werden läßt«, ebd., S. 105). - Sabine Plakolm-Forsthuber: Künstlerinnen in Österreich 1897-1938. Malerei - Plastik - Architektur. Wien: Picus 1994. Leopold Krakauer (1890 Wien-1954 Jerusalem): Maler und Architekt; Studium an der Technischen Hochschule und der Akademie der bildenden Künste in Wien; Teilnahme an Ausstellungen des >Hagenbundes< und der >Freien BewegungGeist< und Tal· - Aktivistische
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riè, 49 Anton Peschka, 50 Friedrich Thetter, 51 Ernst Wagner, Olga Wagner 5 2 und Grete Wolf 5 3 gezeigt wurden. 5 4 Begleitet wurde die Ausstellung durch Vorträge von Joseph Gregor, 55 Elijahu Rappeport 5 6 und Ernst Wagner. 57 Die Werke der ausgestellten Künstler suchen den Anschluß an die internationale Avantgarde und
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vgl. Elijahu Rappeport: Der Expressionist Leopold Krakauer. In: Der Jude 4 (1919/ 20), S. 374-378. - Hans Tietze: Moderne Kunstbewegung in Wien. In: Kunstchronik und Kunstmarkt NF 30 (1919), S. 702f. - Arpad Weixlgärtner: Leopold Krakauer. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst (1919). - Christa Illera: Der Architekt Leopold Kracauer 1890-1954. Diss. Wien 1992 (masch.). Grete Leitner: Malerin und Graphikerin in Wien. Sophie Lourié (geb. 1892 Wien): Malerin und Graphikerin in Wien. Anton Peschka (1885 Wien-1940 Wien): Maler und Graphiker; Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien; verheiratet mit Gertrud Schiele, der Schwester Egon Schieies; 1922-1938 Mitglied des >HagenbundesDer Wassermann« (Salzburg). Friedrich Thetter: Maler und Graphiker in Wien. Olga Wagner geb. Heger (geb. 1892 Wien): Malerin; verheiratet mit dem Bildhauer Ernst Wagner, später mit dem Schriftsteller Robert Bogyansky (geb. 1899 Wien; 1938 emigriert nach Frankreich), von dem sie 1938 geschieden wurde. Grete Wolf (1890 Witkowitz/Mähren-1971 Jerusalem): Malerin und Schriftstellerin; 1913 Verfasserin des Textbuchs zur Oper Sulamit von Paul von Klenau; Studium an der Kunstschule für Frauen und Mädchen und an der Wiener Kunstgewerbeschule sowie bei Adolf Hoelzel in Stuttgart; 1916/17 Studium bei Johannes Itten in Wien; 1920 Heirat mit Leopold Krakauer; 1925 Ubersiedlung nach Palästina. - Zu Wolf vgl. Fritz Tugendhat: Grete Wolf-Krakauer. In: Das Zelt 1 (1925), H. 10, S. 361-364. Adalbert F. Seligmann: Würthle, Wolf-Krakauer. In: Neue Freie Presse, 5. 10. 1927. Plakolm-Forsthuber: Künstlerinnen (Anm. 46). Vgl. Katalog der Jahresausstellung Künstlerhaus 1919. Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens 1919, S. 55-66. Joseph Gregor (1888 Czernowitz-1960 Wien): Schriftsteller, Theater- und Kulturhistoriker; Dr. phil.; seit 1918 Beschäftigung an der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien); Gründer und Leiter der Theatersammlung und des Archivs für Filmkunde der Osterreichischen Nationalbibliothek; Veröffentlichungen: Nacht (1920), Tanz (1920), Erben (1921), Brand (1923), Das Zeitalter des Films (1932), Weltgeschichte des Theaters (1933, 1949), Kulturgeschichte der Oper (1941), Kulturgeschichte des Balletts (1946), Geschichte des österreichischen Theaters (1948). Elijahu (Ernst) Rappeport (1889 Neutra/Ungarn -1952 Israel): Publizist und Mathematiker; Studium in Wien, Göttingen und Basel; Dr. phil.; Mitarbeiter der vom Jüdischen Hochschulausschuß in Wien« herausgegebenen Zeitschrift Esra sowie der jüdischen Zeitschriften Der Jude und Selbstwehr; Mitglied der Landarbeiter-Genossenschaft im Tal Jesreel/Palästina; befreundet mit Martin Buber; Veröffentlichungen: Das Buch Jeschna (1920), Loblieder (1923). - Rappeport hat zu den auf der Ausstellung gezeigten 21 Kohlezeichnungen von Leopold Krakauer Gedichte verfaßt. Als Rezeptionszeugnis einer Ausstellungsführung vgl. Hans Neugebauer: Die augenblicklichen Kunstströmungen. Eine Momentaufnahme. In: Neue Gemeinschaft 1 (1919), H. 9, S. 2: »So sagte bei einer Führung durch die Ausstellung des >Bundes geistig Tätigen [sie!] ein ausgestellter Künstler: >Bei der Betrachtung geistiger (soll heißen expressionistischer) Bilder werden Sie eine Melodie in sich aufstehen fühlen. Sie eine ureigene, Sie eine einstmals gehörte, Sie eine tief-bitterlich traurige, Sie eine herzensfroh jauchzende!Der Strahl< das Programm ihrer Wünsche und Hoffnungen verkünden, auch in dieser Künstlergruppe verlocken Pinsel und Farbe zu kühnen Versuchen. Das Innerste unserer Erlebnisse, das Allgemeinste ihrer Wirkungen: die Empfindungen von Furcht und Qual, von Freude und Sehnsucht, Heiterkeit und Trauer, sollen durch neue Mittel Ausdruck finden, die möglichst weit von jedem direkten Natureindruck entfernt sind. [...] Man vernimmt hier wohl die neue Botschaft, noch fehlt uns aber der Glaube, den sie erwecken soll. 62 Wohlwollender
nehmen
die zionistische
Wiener
Morgenzeitung63
und
der
Kunstpublizist Franz Ottmann (zugleich Vorstandsmitglied des >Bundes der geistig TätigenBund geistig Tätigen [sie!] nennt und den extremsten Expressionismus vertritt«. Vgl. Bruno Adler: Expressionistische Kunstausstellungen. (Neue Vereinigung - Bund der geistig Tätigen). In: Die Wage 22 (1919), H. 21, S. 518-522. Hier S. 520. Vgl. Ludwig Münz: Ausstellung des Bundes der geistig Tätigen (im Künstlerhaus). In: Der Friede 3 (1919), H. 69, S. 406. Vgl. Tobias Sternberg: Künstlerhaus. In: Aufschwung 1 (1919), H. 6, S. 104. Hartwig Fischel: Aus dem Wiener Kunstleben. In: Kunst und Kunsthandwerk 22 (1919), S. 277-283. Hier S. 280. Die Kritik der Wiener Morgenzeitung bezeichnet die Ausstellung als Ausdruck der »Kunst des Chaotischen«, versucht jedoch gleichzeitig, zu einem besseren Verständnis der neuen Kunst beizutragen: »Alles Alte zu stürzen, um aus Trümmern, Splittern und Atomen Neues zu schaffen, ist die Devise des neuzeitlichen Strebens [...]. Die Form
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Diese »Erregungslinien« und -Farben, die man auch das Urelement der gotischen Ornamentik erklärt hat, kann nun der Künstler mit Figuralem verbinden [...] - wie es hier Leitner, Lourié, Peschka, Wagner tun, oder er kann sich geradezu eine neue Zeichensprache für innere Erlebnisse gestalten, wie hier Krakauer und Wolf. [...] Linien und Formen sind hier ein Bild von Bewegung: von Strebungen, Hemmungen, Aufruhr, Verzicht, Kampf und Frieden [...]. Die Farben bauen sich zu eigenlebigen Farbenkörpern auf [...]. Da gibt es nur ein Untertauchen, langes, langes Untertauchen - Erfahrung, Begriffe, Sprache verschwinden, der Beschauer sinkt in jene musikalisch-tönende, grottenhaft leuchtende Tiefseezone seines Wesens hinab, aus der die bewußten Gefühle beständig gespeist werden. So zeigt Krakauer [...] die Selbstverbrennung des Künstlers, der Menschen. [ . . . ] Bei Grete Wolf waltet mehr das musikalische Element, die Farben scheinen durch das Medium der Töne hindurchgegangen, drücken, wie diese, unmittelbar ein Gefühl aus. 64 wird verabschiedet, Formlosigkeit, Hemmungslosigkeit für die unbegrenzte Herrschaft der Farbe angestrebt. So entstehen kaleidoskopartige bemalte Flächen von Farbenstreifen und Kreisen, von hin und her schießenden Lichtstrahlen durchzogen. [...] Das Publikum erstarrt vor diesem Schauspiel, wofern es nicht in Gelächter ausbricht. >Was ist das?< fragt alles erstaunt und vergißt, daß es sich hier nicht um ein >Was< handelt, kaum noch um ein >Wie< am ehesten um ein > Weshalb?« [...] Es käme vielleicht zur Antwort, daß der schaffende Geist in den Elementen der malerischen Mittel, im Pinselstrich, in der Geraden und der Kurve hinreichende Fähigkeit gefunden hat, seinem Wollen Ausdruck zu verleihen. Er strebt über die Gegenstände der Welt hinaus zum Metaphysischen, fühlt sich eins mit dem Kosmos [...]«, vgl. -1.: Expressionismus im Künstlerhaus. In: Wiener Morgenzeitung, 20. 4. 1919, S. 6. - In einer Zeitschrift der jüdischen Jugendbewegung wird in einer redaktionellen Notiz (vermutlich verfaßt von Eugen Hoeflich) heftig gegen das »wüste Kesseltreiben« der Wiener Presse gegen die Künstler des >Bundes der geistig Tätigen« protestiert und die »Unbescheidenheit« der Kritiker, »über den urjüdischen Krakauer, über die Grete Wolf und über die mütterliche Lourié (Abkömmling des großen Rabbi Lurja) zu schreiben«, kritisiert, vgl. Mitteilungen des Gesamtverbandes jüdischer Hochschüler Judäa, Wien (1919), H. 8, Zeitungsausschnitt im Nachlaß von Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich), Jewish National and University Library, Ms. Var. 365/B 72. - Vgl. auch Rappeport: Krakauer (Anm. 47), S. 374: »das Wiener Publikum [ . . . ] war entrüstet, schimpfte, tobte, lachte, fragte, ob dies Ernst oder Scherz sei, sah nichts von dem, was da war [...]. Die Wiener Zeitungen begannen, der Revolution wegen vorsichtig, da sie keine Ahnung hatten, was das solle, erst in ein paar allgemeinen Phrasen sich in der Mitte zu halten, doch allmählich ermutigt von der >Instinktsicherheit< des anderen Publikums, schimpften sie wacker auf die »Futuristen«, >KubistenExpressionistenBundes der geistig Tätigen«, vgl. ebd., S. 8: »Das Publikum [...] vermag meistens das Mißtrauen gegen diese Kunst im allgemeinen, gegen diese Künstler im besonderen, nicht zu besiegen. Kunst, die sich nicht an Gegenständen der Erfahrung messen läßt, ist ihm überhaupt keine Kunst [...], und so hält es die Aussteller für kalte Macher, für Schwindler, und glaubt, mit Hohn und widerwilliger Abkehr die hohe Idee der Kunst retten zu müssen.« - Vgl. auch Franz Ottmann: Frühjahrsausstellungen 1919. In: Die bildenden Künste 2 (1919), S. X I X - X X . Hier S. XX: »Ein gleicher Zug geht durch alle Teile: die Richtung auf ein Weltzentrum. Hintergrund ist stets der Sternenhimmel, Gegenstand der Mensch als Mikrokosmus. [ . . . ] Krakauer [...]; ganz architektonisch baut er seine Urformen auf, Mathematik ist da etwas Selbstverständliches, aber mit ihr auch, wie in religiös festgefügten Zeitaltern, Musik und Sternenahnung. Grete
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Die gegenstandslose Malerei der aus der Schule Johannes Ittens an der Wiener Kunstgewerbeschule kommenden Grete W o l f 6 5 transformiert visionäres Erleben in rhythmisch-bewegte Formensprache: »Die Bilder, die in jener Ausstellung zu sehen waren, schienen Darstellungen seltsamer Träume zu sein. Eine Welt von farbigen Kristallen türmte sich da in- und gegeneinander. Gebilde einer mystischen Geometrie, durchzuckt von fremdartig zackigen Lichtstrahlen, waren in diesen Bildern gebaut worden.« 6 6 Elijahu Rappeport interpretiert die Kunst Krakauers als Ausdruck jüdischen Erlebens: Jüdische Malerei bedarf zwar, um jüdisch genannt zu werden, nur menschlicher Wahrheit; gestaltet sich aber in irgendwelchem jüdischen Werke noch besonders das jüdische Exil und die jüdische Erlösungssehnsucht, so gewinnt es ein neues Interesse bei uns, das letzten Endes mit dem Werk als Kunsterscheinung nichts mehr zu tun hat. So ist es auch bei den Bildern Krakauers. Haben wir ihr Wesen einmal erfaßt, so scheint es uns jüdisch, weil es wesentlich ist; merken wir darüber hinaus das Gestalthaft-Historische daran, so gewinnt dies ein neues, aber nicht mehr malerisches Interesse. 67 Die Kunstausstellung des >Bundes der geistig Tätigen< repräsentiert - wenngleich in zum Teil unausgegorener und epigonaler Form - einen Markstein f ü r die in der österreichischen Kunst der Zwischenkriegszeit nur marginal ausgeprägte Kunst des Gegenstandslosen. 6 8 Innerhalb der aktivistischen Bewegung diente die avantgardistische Kunst dem Entwurf eines dynamischen Welt- und Menschenbildes, das den bürgerlichen Kunstbegriff in Richtung einer die Dissoziation der Welterfahrung rezipierenden Kunstauffassung überwindet.
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Wolf formt Unaussprechliches in rhythmisch bewegten Linien, Formen, Farben. [ . . . ] Die figurale Gruppe (Wagner, Lourié, Peschka) sucht heftig Empfundenes in heftigen Erregungslinien und Farben auszudrücken. Das Gemeinsame ist dieses freie Hinausströmen: etwas Slawisches, Orientalisches.« Grete Wolf war eine der ersten Schülerinnen Johannes Ittens in Wien, den sie vermutlich bereits während ihrer Ausbildung in Stuttgart kennengelernt hat; vgl. Johannes Itten: Tagebücher. Stuttgart 1913-1916; Wien 1916-1919. Abbildung und Transkription. Hg. von Eva Badura-Triska. Wien: Locker 1990, Bd. 1, S. 189; Bd. 2, S. 90. Tugendhat: Wolf-Krakauer (Anm. 53), S. 361. Rappeport: Krakauer (Anm. 47), S. 375. Vgl. zu dieser Problematik Erika Giovanna Klien 1900-1957. Hg. von Museum moderner Kunst (Wien), bearbeitet von Marietta Mautner Markhof. Wien: Museum moderner Kunst 1987. - Jürgen Schilling (Hg.): Wille zur Form. Ungegenständliche Kunst 1910-1938 in Osterreich, Polen, Tschechoslowakei und Ungarn. Wien: Hochschule für angewandte Kunst 1993. - Maria Stolberg: Das Wien der 20er Jahre. Neue Kunst zwischen Expression und Konstruktion. In: Günther Dankl/Raoul Schrott (Hg.): DADAutriche 1907-1970. Innsbruck: Haymon 1993, S. 171-185. - Èva Bajkay: Lajos Kassák und Sándor Barta. Zwei Vertreter von Dada Ungarn im österreichischen Exil. In: ebd., S. 187-199. - Christoph Bertsch/Markus Neuwirth (Hg.): Die ungewisse Hoffnung. Österreichische Malerei und Graphik zwischen 1918 und 1938. Salzburg, Wien: Residenz 1993.
>Geist< und >Tat< - Aktivistiscke Gruppierungen und Zeitschriften
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>Neue Erde< In enger Kooperation mit dem >Bund der geistig Tätigen< stand der von Max Ermers, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Aktivistenbundes, geleitete kultursozialistische Verband >Neue ErdeNeuen Erde< erstrebt die Erneuerung des Sozialismus und setzt sich zum Ziel, die Intellektuellen und Künstler f ü r die sozialistische Idee zu gewinnen: Sie sollen begreifen lernen, daß alle bisherige Weltgeschichte nur die Geschichte der Barbarei und der Unkultur war: Vorgeschichte einer solidarischen, ethischen Menschheit. Sie sollen begreifen, daß sich jetzt erst Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte, Schönheit verwirklichen können. Der Sozialismus ist eine ethische und ästhetische Angelegenheit. Wissenschaft, Kunst, Recht, Moral, Technik, Philosophie, Religion können erst in seinem Reiche echt werden und zu umfassender Entfaltung kommen. 7 1 Mit Hilfe einer solchen Interpretation, die den Sozialismus als ethische und ästhetische Erneuerungsbewegung und als »einzige[n] Weg zur Entkettung des Geistes, der Kultur, der Individualitäten« definiert, wird die sozialistische Idee mit den Erneuerungsvorstellungen von Expressionismus und Aktivismus, die ebenfalls eine ästhetisch-ethische Neuorientierung anstrebten, in Einklang gebracht. Den Künstlern wird die Aufgabe zugeschrieben, sich aus »Degenerierte[n] und Zeitfremdefn]« in »Führer und Weiser in eine edlere und schönere Zukunft« zu wandeln. 7 2 Als »Weiser, Seher, Gestalter« sind die Künstler aufgerufen, in einer Zeit der »Umwälzung und des Aufbaues der Zukunftsordnung« ihre Visionen zu entwerfen: »Schon rüsten sich die Geistigen des ganzen Erdenrunds, um bei der großen Umwälzung nicht beiseite zu stehen, um ihre ethisch-ästhetische Gerichtetheit bei der Neuordnung mit einwerfen zu dürfen.« 7 3 69
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Zum Genossenschaftsverlag >Neue Erde« vgl. Hall: Verlagsgeschichte (Anm. 8), S. 159-161. Die von Max Ermers herausgegebene Zeitschrift Neue Erde erschien in zwei Jahrgängen (Jg. 1, H. 1 - 3 6 ; Jg. 2, H. 1/2-11) vom 12.3. 1919 bis August 1920; im Untertitel nennt sie sich »Eine Wochenschrift für kulturellen Sozialismus« (1 [1919], H. 1 - 1 1 ) , >Kultursozialistische Wochenschrift« (1 [1919], H. 12-31/32), >Kultursozialistische Halbmonatschrift« [sic!] (1 [1919], H. 3 3 - 2 [1920], H. 5/6), >Kultursozialistische Halbmonatschrift [sie!] für Gesellschaftswissenschaft, Politik, Volkswirtschaft, Erziehung, Kunst« (2 [1920], H. 6 - 1 1 ) ; als Redakteur fungierte Ludwig Neumann und als Administrator Arthur Heydtmann; die beiden ersten Hefte gab Ermers in Gemeinschaft mit Karl Frank, Gertrud Mira, Ludwig Neumann und Käthe Pick heraus; die Redaktion befand sich in Wien VI, Linke Wienzeile 62 (1 [1919], H. 1-9/10) und in Wien VI, Gumpendorferstraße 63a (1 [1919], H. 1 1 - 2 [1920], H. 11). - Bibliographie in Wallas: Zeitschriften (1995) (Anm. *)> Bd. 1, S. 5 6 - 5 9 u. 344-361. Anonym: Unser erster Aufruf. In: Neue Erde 1 (1919), H. 1, S. 5 - 9 . Hier S. 6; dieser Aufruf wurde auch als Flugblatt gedruckt. Vgl. ebd., S. 6f. Max Ermers: Zur Erkennung der Zeit. In: Ebd., H. 1, S. 1 - 5 . Hier S. 1 u. 4.
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Die >Neue Erde< war bestrebt, publizistisch in die aktuelle Diskussion einzugreifen und in Kooperation mit den Lesern und Abonnenten der Zeitschrift, die sich zu regelmäßigen Zusammenkünften trafen, ein kultursozialistisches Arbeitsprogramm aufzustellen, das zu den wesentlichen Fragestellungen der Revolutionszeit Position beziehen sollte: Alle sind zur Mitarbeit aufgerufen, die Wesentliches und Durchdachtes zum Aufbau der sozialistischen Kultur beitragen können. [...] Zunächst soll über folgende Fragen gesprochen werden: Sozialisierungen, möglichst ins Einzelne gehend, z.B. des Großgrundbesitzes, Kleingrundbesitzes, Bergwerke, Wasserkräfte, Wohnhäuser, Fabriken, Kleinbetriebe, Heilorte, Aerztestand, Theater etc.; Sozialisierung durch Staat, Land, Gemeinde oder Genossenschaften; Rätesysteme und Diktatur, Jugendbewegung und Erziehungsreform, bodenreformerische Verwirklichungen, Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Kunst, Kunst und Gemeinschaft etc. etc. 74
Die Zielvorstellungen der >Neuen ErdeTatprogramm< verstehen, intendieren eine Synthese von Aktivismus und Sozialismus, die auf der Einsicht beruht, daß eine politisch-ökonomische Veränderung der Gesellschaft durch eine geistig-kulturelle ergänzt werden müsse.75 Das Programm der Neuen Erde proklamiert den Kampf »für den raschesten und vollständigen Aufbau der sozialistischen Gesellschaft auf freiester Grundlage durch Erweckung der lebendigen Anteilnahme und und [sie!] persönlichen Initiative jedes einzelnen«, um die »Schaffung einer solidarischen, brüderlichen Menschheit« vorzubereiten: Dabei erscheint ihr die Gestaltung des geistigen, ethischen und künstlerischen Lebens der künftigen Gemeinschaft ebenso wichtig als ihre wirtschaftlichen und politischen Formen. Für diese neue sozialistische Kultur sucht die >Neue Erde< Bausteine und Bauleute zu sammeln, die werktätige Menschheit und insbesondere die proletarischen Massen für ihre grosse Aufgabe zu erziehen, die Frauen und die Jugend zur Mitarbeit zu gewinnen und dafür [zu] sorgen, dass diesen am meisten unterdrückten Gruppen der Gesellschaft in der Zukunft ihr wahres Recht werde. 7 6
Die Beiträge der Neuen Erde nehmen zu Fragen der sozialistischen Theorie (Marxismus, Bolschewismus, Freiheitlicher Sozialismus, Freilandsozialismus, Syndikalismus, Klassenkampf, Diktatur des Proletariats, allgemeine Nährpflicht, jüdischer Volkssozialismus) sowie zu aktuellen Konzeptionen der Gesellschaftsreform (Genossenschaftswesen, Rätesystem, Sozialisierung, Gartenstadtbewegung, Siedlungsbewegung, Pazifismus, Jugendbewegung, Schulreform) Stellung und kommentieren die zeitgeschichtlichen Ereignisse der Revolutionszeit (Sozialisierungsmaßnahmen, Räterepublik in München und Ungarn, Putschversuche in Osterreich, österreichische Rätepolitik etc.). Max Ermers bemüht sich darum, die Sozialisierungsmaßnahmen und die Rätebewegung im aktivistischen Sinne zu in74 75
76
Anonym: A n die Mitarbeiter der neuen Erde! In: Ebd., Η. 1, S. 24. Vgl. etwa Max Ermers: Unser erstes Arbeitsprogramm. In: Ebd., H. 36, S. 5 2 5 - 5 3 0 ; zur Programmatik der Neuen Erde vgl. auch die Werbeanzeige: Neue Erde. In: Neue Gemeinschaft 1 (1919), H. 4/5, S. 6. Anonym: Die »Neue Erde«. In: Neue Erde 1 (1919), H. 9/10, S. 172.
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Gruppierungen
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terpretieren und auf sie E i n f l u ß zu n e h m e n ; für ihn ist es A u f g a b e der R ä t e o r d nung, eine » D e m o k r a t i e der Schaffenden« zu konstituieren, die er als » K u l t u r v e r fassung aller p r o d u k t i v e n M e n s c h e n , die nach einer erneuten, gesteigerten Vergeistigung und Verlebendigung aller Lebensgebiete Sehnsucht in sich tragen«, versteht. 7 7 B e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t w i d m e t e E r m e r s , der im April 1 9 2 0 z u m Siedlungsreferenten der Stadt W i e n und Leiter des Siedlungsamtes bestellt wurde, den P r o b l e m e n der Siedlerbewegung. 7 8 D e r A u f b a u einer s o z i a l e n Weltordnung< ist verknüpft mit einer Neugestaltung des kulturellen L e b e n s , die E r m e r s als W i e dergeburt und S y n t h e s e v o n griechischer K ö r p e r k u l t u r und mittelalterlicher Vergeistigung interpretiert, wenn er die Vision perspektiviert, »daß wir ü b e r G a r t e n stadtbewegung, J u g e n d g e m e i n d e n und expressionistische große
Freskenkunst,
über r h y t h m i s c h e G y m n a s t i k und K ö r p e r k u l t u r , ü b e r H a n d w e r k s f r e u d e und M o numentalbaukunst, ü b e r eine erneute festliche T h e a t e r - und M u s i k - K u l t u r , ü b e r Föderalismus und W e l t b ü r g e r t u m zugleich einem nordischen
Hellenentum
entge-
gengehen, das das L e b e n für J e d e n erst wieder lebenswert erscheinen l ä ß t « . 7 9 D i e von E r m e r s vertretene Auffassung des >Kultursozialismus< verknüpft die Idee der sozialistischen Gesellschaftsreform mit Traditionen der deutschen
Kulturkritik
(Friedrich N i e t z s c h e , R i c h a r d Wagner), die die Wiedervereinigung v o n >Körper< und >Geist< sowie die E r n e u e r u n g des M y t h o s
erstrebte (Idee des
Gesamt-
kunstwerks, Festspielidee, R h y t h m i s c h e G y m n a s t i k etc.). D i e K u n s t erhält im R a h m e n des kultursozialistischen G e d a n k e n g e b ä u d e s die Aufgabe, A u s d r u c k und vorantreibendes E l e m e n t der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu sein. 8 0 E r n s t Wagner, der Leiter der >Gruppe für bildende Kunst< des >Bundes der geistig Tätigenbourgeoisen< (realistischen bzw. impressionistischen) durch die >sozialistische< (abstrakt-visionäre) K u n s t vollzieht sich der Auffassung Wagners zufolge als Ü b e r w i n d u n g einer gegenständlich-nüchternen, asozialen und lebensfernen Kunstauffassung durch das K o n z e p t des G e s a m t k u n s t w e r k s , das K u n s t
und
H a n d w e r k , G e i s t und Körper, K u n s t w e r k und L e b e n zu einer neuen E i n h e i t v e r -
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Vgl. Max Ermers: Räteordnung heißt: Demokratie der Schaffenden. In: Ebd., H. 4, S. 6 1 - 6 8 . Hier S. 65. Vgl. hierzu Christine Zwingl: Die ersten Jahre in Wien. In: Peter Noever (Hg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts. Wien: Museum für angewandte Kunst 1993, S. 1 7 - 2 9 . Hier S. 19ff. - Wilfried Posch: Die Gartenstadtbewegung in Wien. Persönlichkeiten, Ziele, Erfolge und Mißerfolge. In: Bauforum (1980), H. 77/78, S. 9 - 2 4 . Max Ermers: Keine Diktatur des Proletariats! In: Neue Erde 1 (1919), H. 7 / 8 , S. 1 2 5 133. Hier S. 133. Für Gertrud Mira ist jedes Kunstwerk »ein soziales Werk«, vgl. Gertrud Mira: Gedanken über Kunst, Volk und Erziehung. In: Ebd., H. 2, S. 3 3 - 3 5 . Hier S. 33.
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einigt. D a r ü b e r hinaus wird die Aufhebung der Trennung von >Kunst< und >Volk< proklamiert und nach Wegen gesucht, die (abstrakte) Kunst dem a r b e i t e n d e n Menschen< zu vermitteln: Der arbeitende Mensch lerne sich an der Quelle der Kunst erquicken. E r suche sich selbst in Rhythmen und Kurven, in Lichtwellen und Farbchören zu erlauschen, er entdecke sich als Eigner all dieser Geständnisse. E r schreite durchs Kunstwerk in des Erlebens Essenz. Er erfühle das Weben des Zeitgeists. Immer spricht ja der Künstler die Zeit aus. [...] So erzogen, so sich selbst erziehend wird die Gemeinschaft reif zur Selbstschau im umfassenden Kunstwerk, dem kommenden Drama. Da schreitet der Held in die Räume der Freiheit. Katharsis und Gnade erhebt den Dichter zur geistigen Schau. Musik, Malerei, Plastik und Architektur schaffen zusammen das neue Festspiel, das in Akten der Weihe der freien Gemeinde Ziel und tiefste Bestimmung weist. 81 D i e K u n s t des angestrebten sozialistischen Zeitalters, die aus d e m »gewaltigsten Uebergangswirbel des Zeitstroms« 8 2 hervorgehen soll, beruht auf der U t o p i e v o n der Ganzheit des Lebens und der Vision von einer möglichen Erneuerung des Einzelmenschen und der Gesellschaft d u r c h R ü c k k e h r z u m Ursprünglichen, der mythischen Ungeschiedenheit von Kunst und Leben. Die Kunst erhält somit eine metaphysische Aura; ihre Funktion ist es, in einer säkularisierten Welt quasi-religiöse Bindungen zu restituieren, als identitätsstiftendes M e d i u m zu wirken und die Ideale des sozialistischen Gemeinschaftslebens z u m A u s d r u c k zu bringen. F ü r E r n s t W a g n e r äußert sich in der >neuen Kunst< der Wille zur Vergeistigung; die neue künstlerische Sprache sucht nach Möglichkeiten der Darstellung seelischer Bekenntnisse und der »Bindung von Ich und All«; der Künstler stößt in den Bereich des Ungegenständlichen als A u s d r u c k des Ubersinnlichen vor: Er erlebt geistige Imagination. [...] Er tritt ein ins Reich höherer Dimensionen. Seine Sprache wird sphärisch-vierdimensional. [...] Der schauende Geist enthüllt eine vorhegriffliche Welt. [...] Formgeheimnis lösen, heißt das Kunstwerk als Seelenbekenntnis erfühlen. [...] Die neue Kunst will das Dasein des Geistes, des Gleichnis die Form ist, durch sie enträtseln und enthüllen. Höchste Wirklichkeit sind ihr die Ursachen des Geistes. [...] Höhere, gesteigertere Formwerte prägt in sehnende Seelen die neuerwachte, weltneuschauende Imagination. 83 E r g ä n z e n d zu Ernst Wagners Plädoyer für die Schaffung einer visionär-schöpferischen K u n s t der Imagination als Ausdruck des nach Erneuerung strebenden Zeitgeists entwirft M a x E r m e r s ein Konzept zur Errichtung eines >Volksamtes der schönen Künste», das Richtlinien einer aktivistischen Kunst- und Kulturpolitik enthält. 8 4 E r m e r s intendiert die Zusammenführung von >Volk< und >KunstGeist< und Tat< - Aktivistische
Gruppierungen
und Zeitschriften
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er in Polemik gegen die atomisierenden Tendenzen des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters die utopische Vision einer Vereinigung der getrennten Bereiche im Geiste der »gegenseitige[n] Solidarität« 85 verkündet. Als weiteres Mittel zur Erwekkung des Gemeinschaftsgefühls dient die Festspielidee (als Vorbilder werden die rhythmisch-musikalischen Festspiele von Emile Jaques-Dalcroze in Genf und die Idee des Gemeinschaftstheaters genannt); dem Theater wird - in zeitgemäßer Adaption der Nationaltheateridee - die Erziehungsaufgabe zugewiesen, »zur geistigen Vereinheitlichung unseres zerrissenen und zerhämmerten Volkes« beizutragen und »die Individuen aus ihrer seelischen Vereinsamung zur geistigen Gemeinde« zu einigen. 86 Zur praktischen Durchsetzung der Idee, die Kunst »wieder« zur »Grundlage« und zum »Mittelpunkt eines lebenswerten und edlen Daseins« 87 zu machen, konzipiert Ermers das >Volksamt< als organisatorische Plattform einer umfassenden Kunsterziehung, die sämtliche Lebensbereiche erfassen sollte (Volkskunsträte als Kunstvermittler, Neugestaltung des Kunstunterrichts auf der Grundlage der Gesamtkunstwerksidee, Reform des Theater-, Museums· und Ausstellungswesens, Einrichtung von Kunstberatungsstellen und Volkskunstausschüssen etc.). Die Reformbestrebungen setzen sich zum Ziel, »die Kluft zwischen Kunst und Volk, zwischen Kunst und Leben zu überwinden«. 88 Im Unterschied zu Wagners mythisch-visionärer Auffassung von Kunst schreibt ihr Ermers die Propagation konkreter sozialrevolutionärer Utopien zu: Die soziale Gerechtigkeit, die völkerverbindende Kraft einer erhofften, vereinfachten Erdorganisation, der Neuanschluß an die Natur, die menschliche Brüderschaft, die gegenseitige Hilfe und Solidarität, die Schönheit und Fruchtbarkeit der Erde, die Fülle der verbindenden Gefühle und der Reichtum der Erlebnisse, die Ueberwindung der Gewalt durch den Geist der Freiheit... kurz die durch den Sozialismus ermöglichte befreitere Welterlebung und -erfassung bildet den Ideenkreis der Gegenwart und der nächsten Zukunft. 89
Die Museen sollen aus Orten der Kumulation und Archivierung disparater Kunstschöpfungen zu Erlebnisräumen umgestaltet werden, die eine lebendige Auseinandersetzung mit Kunst möglich machen; 90 dieser Vorschlag enthält bereits Ansätze zu Ermers' späterem Konzept des >Zeitkunstmuseumslinken< Flügels der österreichischen Sozialdemokratie und vertrat ihr Programm in O p position gegen die offizielle Parteilinie. Trotz zahlreicher Behinderungen (so etwa wurde den Parteikolporteuren untersagt, die Zeitschrift zu verbreiten) und finanzieller Schwierigkeiten konnte sich die Neue Erde eineinhalb Jahre lang halten. Wie es in der Einleitung zum zweiten Jahrgang heißt, waren Herausgeber und Redaktion bestrebt, »die >Neue Erde< allmählich so auszubauen, daß sie zu einer vollständigen Revue der neuen sozialistischen Kultur und Wirtschaftsordnung wird - nicht ohne Einfluß auf den Gang der sozialen Entwicklung«. 92 Mit dem >Bund der geistig Tätigen< verbanden die >Neue Erde< personelle Querverbindungen (Max Ermers, Ernst Wagner), aber auch programmatische Ubereinstimmungen im Bereich der aktivistischen Gesellschafts- und Kunsttheorie; die Nene Erde publizierte auch den Programmentwurf des Bundes, mit dessen Zielen sich Max Ermers in einer redaktionellen Einbegleitung solidarisch erklärte: Das Programm der >N[euen], E[rde].Bund der geistig Tätigen< stand die >Neue Erde< mit folgenden aktivistischen Gruppierungen in Kontakt: Sozialistischer Rat der intellektuellen Arbeiter< Prag, »Selbsterziehungsgemeinschaft werktätiger Jugend< Mehlis/Thüringen, >Clarté< und >Young DemocracyBrüderlichkeit< aufrief. 94 91
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Max Ermers: Das Zeitkunstmuseum als Haus der Künste. In: Karl Oskar Piszk (Hg.): Künstlerhilfe Almanach der Literaria. Wien-Leipzig: Literaria 1924, S. 49-55. Hier S. 52ff. Anonym: An unsere Leser! In: Neue Erde 2 (1920), H. 1/2, Umschlag. M[ax]. E[rmers].: Ein kultursozialistisches Programm. In: Neue Erde 1 (1919), H. 5, S. 100; vgl. Programmentwurf [des >Bundes der geistig Tätigen»]. In: Ebd., H. 5, S. 100-102; die Neue Erde publizierte auch die Antwort des Bundes an Barbusse: Die geistige Internationale. Antwort an Henry [sie!] Barbusse. In: Ebd., H. 2, S. 37 (der Aufruf von Barbusse erschien in H. 1, S. 22-23). Vgl. Das neue Weltbürgertum. Die erste internationale Kundgebung. In: Ebd., H. 21/ 22, S. 355-356.
>Geist< und >Tat< - Aktivistische
Gruppierungen
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Zeitschriften
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In den intellektuellen Kreisen Wiens stießen die Reformkonzeptionen und gesellschaftspolitischen Utopien der Aktivisten mitunter auf heftige Kritik. So etwa veröffentlichte der Architekt und Schriftsteller Paul Engelmann in der von Emil Szittya herausgegebenen Zeitschrift Horizont-Hefte einen zeitkritischen Aufsatz, in dem er die beiden wichtigsten aktivistischen Gruppierungen Wiens, die >Neue Erde< und den >Bund der geistig TätigenNeue Erde< ist eine Zeitschrift. [...] Ich schlage den Neuen vor, ihre Forderungen dahin zusammenzufassen: Abschaffung der von Gott auf absolutistischer Grundlage erschaffenen Welt, Wiederherstellung des Chaos, Aufstellung eines Programmentwurfes für eine neue Weltschöpfung durch den Bund der geistig Tätigen (philosophische Gruppe), Erlangung neuer Naturgesetze auf parlamentarischem Wege, Erneuerung der Menschheit durch Bolschewismus mit rhytmischer [sie!] Gymnastik, Einführung des Rätesystems in die katholische Kirche, Wahl Kurt Hillers zum Papst und Ausmalung der sixtinischen Kapelle mit Fresken, welche die neue Weltschöpfung darstellen.95
>Neue
Gemeinschaft
GemeinschaftBundes der geistig Tätigen< (Richard N. Coudenhove-Kalergi, Franz Kobler, Franz Ottmann, Ernst Wagner). Vgl. Franz Werfel: Die christliche Sendung. Ein offener Brief an Kurt Hiller. In: Die neue Rundschau 28 (1917), S. 92-105. Zur Illustration der hektischen Atmosphäre der Zeit vgl. folgende satirische Skizze: »Aufruf an die Aufrufer! Kameraden! Genossen! Mitkämpfer! Aufrufer aller Berufe, Leidenschaften, Tugenden! Beschwörer des Himmels, des Feuers, der Erde, des Wassers und der Zeitschriften! Ihr Sammler der Menschen, Tiere, Briefmarken, Zeitungsausschnitte! Ihr Aktivisten, Zionisten, Simultanisten und Konkubisten! Kein Tag darf vergehen, an dem nicht aufgerufen wird zu Sammlung, Zerstreuung, Bändigung, Entfesselung! [...] Ich bringe als Schlager den Aufruf der Aufrufe an die Aufrufenden! Vor allem fordere ich mehr Ausrufungszeichen für die Druckereien, denn aus Mangel an diesem wichtigsten expressionistischen Bildungsmittel muß ich diesen Aufruf un-
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>Geist< und Tat< - Aktivistische Gruppierungen und Zeitschriften
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zahlreiche Querverbindungen zwischen den Aktivisten und den Wiener Anarchisten um Pierre Ramus (Rudolf Großmann) und dessen Zeitschrift Erkenntnis und Befreiung,149 Der Aktivismus präsentiert sich nicht als ein einheitliches, theoretisch begründetes Denksystem, sondern als heterogenes Konglomerat eines literarisch-künstlerischen Protests, der aus dem Bedürfnis entstanden ist, einen Weg zur Umsetzung von Erneuerungs- und Reformvorstellungen in die politische Praxis der Revolutionszeit zu finden. Für Robert Müller stellt der Aktivismus »das Pathos zu einer Politik« dar, d.h. eine Bewegung, die sich in ihren Forderungen sowohl von denen der Tagespolitik, die auf eine Änderung des Objekts abzielt, als auch jenen der Dichtung, die die Erneuerung des Subjekts projektiert, unterscheidet: Der Aktivist ändert das Objekt an Ort und Stelle, um die Änderung des Subjektes zu ermöglichen, zu beschleunigen. [...] Wir mußten historisch und genetisch vom Expressionismus ausgehen, um den Aktivismus erfassen zu können. Der Expressionismus ist eine Erregung; Aktivismus der letzte Effekt dieses endemischen Willens unter Geistigen, die Welt nicht mehr beschaulich zu zerlegen und zu bewissenschaften, sondern sie geistig zu bewirtschaften. Der Aktivismus ist Geistwirtschaft am Erdball. 150
Als primär ethisch ausgerichtete Bewegung versteht sich der Aktivismus - wie Paul Hatvani in einer Besprechung des Buches Der Mensch in der Mitte von Ludwig Rubiner ausführt - als »Programm der Unbedingtheit« und als »Bekenntnis zum Bessern; zum Willen, die Welt besser zu machen«. 151 Eine kritische Würdigung der Chancen und Gefahren des Aktivismus hat Berthold Viertel 1918 in der Wiener Wochenschrift Der Friede veröffentlicht. 152 In dieser dreiteiligen Essayserie nimmt er die Besprechung des zweiten Ziel-Jahrbuchs, das Kurt Hiller unter dem Titel Tätiger Geist! herausgegeben hat, als Ausgangspunkt zu einer generellen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Aktivismus, den er zunächst als Beleg dafür bewertet, »daß die intellektuelle Jugend sich ihrer Situation bewußt zu werden beginnt« 153 und nach Wegen zu einer Uberwindung der Krise sucht. Die Gefahr, in die sich die Aktivisten begeben, liegt für Viertel in ihrer Tendenz zur Ideologisierung und im Willen zur Macht:
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terlassen! Schade! Er wäre sehr wirksam gewesen!!«, vgl. Anonym: [Aufruf an die Aufrufer!]. In: Der Friede 3 (1919), H. 66, S. 315. Vgl. Gerfried Brandstetter: Rudolf Großmann (»Pierre Ramus«). Ein österreichischer Anarchist ( 1 8 8 2 - 1 9 4 2 ) . In: Gferhard], Botz/H[ans], Hautmann/H[elmut]. Konrad/ J[osef]. Weidenholzer (Hg.): Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Wien-München-Zürich: Europaverlag 1978, S. 8 9 - 1 1 8 . Robert Müller: Die neue Erregung. (Aktivismus). In: Die Wage 21 (1918), H. 38, S. 6 1 5 - 6 1 9 . Hier S. 6 1 7 u. 619. Paul Hatvani: Der Mensch in der Mitte. In: Der Friede 2 (1918), H. 27, S. 1 2 - 1 3 . Hier S. 12. Vgl. Berthold Viertel: Tätiger Geist. In: Der Friede 2 (1918), H. 43, S. 3 9 5 - 3 9 8 ; fortgesetzt in: Ebd., H. 44, S. 4 2 5 - 4 2 8 ; H. 45, S. 4 4 7 - 4 4 8 . Ebd., S. 396.
144
Armin
A.
Wallas
Aber gerade weil sie, als Literaten, Schöpfung, geistige Tat im großen Sinne, Kunst und Idee (Religion) nicht vermögen, sind sie - diese illegitimen Kinder des Geistes - die eigentlichen, die ausschließlichen Aktivisten, wollen sie sich durch Realisierung legitimieren; darin unduldsam bis zur Pfaffenhaftigkeit, und areligiöse Pfaffen sind die bösartigsten. 154 Kurt Hillers Vision von einer >Herrschaft der Geistigen< hält Viertel für einen Irrweg, dem er die Forderung nach einer ethisch-religiösen >Wiedergeburt< durch »innere, schöpferische Umkehr« entgegensetzt. Viertel verdächtigt den Aktivismus Kurt Hillerscher Prägung, Ausdruck des Machtwillens und eines »mechanischen - nicht einmal politischen - Formalismus« zu sein: »Der Aktivismus will nicht etwa anregen, korrigieren, also funktionieren - er will herrschen, und das absolut!« 1 5 5 Trotz seiner Kritik richtet Viertel jedoch seine Hoffnung auf die Herausbildung eines »wahren AktivismusGeist< und Tat< - Aktivistische
Gruppierungen
und
Zeitschriften
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»das Wollen der Aktivisten in gar keinem Gegensatz z u m Z i o n i s m u s « ; 1 5 8 Julius R o t t e r s m a n n wiederum interpretiert das Erlösungsbedürfnis des Aktivismus als »etwas durchaus Jüdisches«, betont aber, daß sich die beiden Bewegungen dad u r c h unterscheiden, daß der Aktivismus eine universelle, die gesamte Menschheit umfassende Erneuerung und der Zionismus eine auf das J u d e n t u m beschränkte Regeneration anstrebt: Schon Max Brod hat einmal gesagt, daß der Weg zu El (Gott, Ziel) etwas Urjüdisches ist. Ziel bedeutet verwirklichter Geist, Gottesnähe, tätiges Gottschauen (mit Hiller zu reden: »Paradies auf Erden«). Unser Ziel aber ist Zion und nicht die Menschheit; Realität statt Abstraktion; eine Gemeinschaft nach Gottessinn, in der sich Geist dokumentiert und offenbart. An eine abstrakte, heute mehr als je prostituierte und vergewaltigte »Menschheit«, können und wollen wir uns zurzeit nicht verschenken [...]. Dereinst, »am Ende der Zeiten«, wird es eine Menschheit geben; wir werden, als Verwirklicher der Zionsidee als Gottesidee, zu Maschiachs Zeiten vielleicht in sie eingehen, uns mit ihr verschmelzen . . . 1 5 9 F ü r M a x B r o d schließlich erfüllt der Zionismus die beispielgebende Aufgabe, zu einer >Vergeistigung< des Nationalbegriffs beizutragen und eine auf dem G r u n d satz der sozialen Gerechtigkeit aufgebaute jüdische Gemeinschaft zu errichten: Ich bin Aktivist, indem ich eine gewisse Kategorie menschlichen Leids für vernunftdurchdringbar, aufhebbar halte. Aber ich rücke vom Aktivismus ab, sofern er [...] das Irrationale als Vorbedingung des Rationalen, das Nicht-Machbare als Basis jedes Machens unterschätzt. [...] Das Judentum will die Verwirklichung des Geistes auf Erden, in irdischer Materie, also auch in irdisch differenzierter Materie! Das Judentum verabscheut jene »Abstraktion«, die Werfel [...] so überzeugend bekämpft [...]. 1 6 0 In den Schriften der zionistischen Aktivisten wird versucht, der abstrakt-rationalistischen Ausrichtung des Aktivismus entgegenzuwirken, die aus dem J u d e n t u m ü b e r n o m m e n e n geistigen Grundlagen der Bewegung (Messianismus, Einheit von I m m a n e n z und Transzendenz, Höherstreben, Verwirklichung des Geistes, P r o phetismus, Erlösungssehnsucht) herauszuarbeiten und eine P r o g r a m m a t i k zu entwerfen, die eine geistige Erneuerung des Diaspora-Judentums ebenso umfaßt wie sie einen konstruktiven Beitrag z u m zionistischen Aufbauwerk in Palästina leisten sollte.
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1933/1938. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 2 5 1 - 2 5 9 . - Hans Otto Horch: Expressionismus und Judentum. Zu einer Debatte in Martin Bubers Zeitschrift »Der Jude«. In: Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Die Modernität des Expressionismus. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 1 2 0 - 1 4 1 . Adolf Caspary: Geist des Judentums und tätiger Geist. In: Jerubbaal 1 (1918), H. 6, S. 2 3 2 - 2 3 7 . Hier S. 233. Julius Rottersmann: Tätiger Geist. Zionismus und Aktivismus. In: Ebd., H. 8/9, S. 3 0 2 - 3 0 7 . Hier S. 304. Max Brod: Zionismus als Bekenntnis zur Menschheit. In: Der Friede 2 (1918), H. 38, S. 2 8 1 - 2 8 3 ; fortgesetzt in: Ebd., H. 39, S. 2 9 9 - 3 0 0 . Hier S. 281f.
Armin A. Wallas
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W ä h r e n d sich den zionistischen Aktivisten zumindest die M ö g l i c h k e i t b o t , ihre k o n k r e t e n Zielvorstellungen in die Schaffung eines jüdischen G e m e i n w e s e n s in Palästina zu integrieren, sah sich der universell ausgerichtete Aktivismus nach der K o n s o l i d i e r u n g der politischen Verhältnisse und der N i e d e r s c h l a g u n g der revolutionären E x p e r i m e n t e m i t d e m Scheitern u n d der Desillusionierung seiner Ideale k o n f r o n t i e r t . D i e Faktizität des historischen G e s c h e h e n s schien A n t o n
Kuhs
skeptischer A u f f a s s u n g recht zu geben: Daß Geist einst doch Tat werden könne, ist die Hoffnung, die ihn ewig schöpferisch macht. Aber im Augenblick, wo er ihr durch den Versuch, sich in die Politik »hineinzutragen«, vorgreift oder wo er ihr bloß näher kommt, zerschellt die Hoffnung. Die Geistigen, die sich nicht zum Kommunismus oder Nationalismus bekennen, sind darum im Rückzug zum Ästhetentum, zum Egozentrismus in Schönheit. Mit Unrecht. Denn die Wirklichkeit ist ja doch dieselbe, ob sie bloß erschaut oder mitbestimmt wird. Dem Hellseher und Augenöffner bleibt [...] noch immer die Feder. 161 D i e B i l a n z des A k t i v i s m u s w a r ernüchternd: es w a r d e m >Geist< nicht gelungen, z u r >Tat< zu werden, die K o n z e p t e blieben -
bis auf wenige A u s n a h m e n (etwa
die von M a x E r m e r s initiierten M a ß n a h m e n zur W o h n - und Siedlungsreform)
-
Papier, der geistige A u f s c h w u n g endete in Resignation. Anstelle der aktivistischen U t o p i e von sozialer Gerechtigkeit, einer globalen F r i e d e n s o r d n u n g und
der
U b e r w i n d u n g v o n H a ß und Gewalt durch die E t h i k der B r ü d e r l i c h k e i t hatten sich die >alten Mächte< in neuer F o r m konsolidiert, H o f f n u n g s t r ä g e r der B e w e gung wie G u s t a v L a n d a u e r u n d Kurt E i s n e r waren e r m o r d e t w o r d e n , die R ä t e r e p u b l i k e n in M ü n c h e n u n d U n g a r n waren ebenso wie der Berliner S p a r t a k u s - A u f stand niedergeschlagen w o r d e n , die gravierenden sozialen und politischen M i ß stände und K o n f l i k t e blieben nach wie v o r ungelöst. D e n Aktivisten w a r es augenscheinlich nicht gelungen, ihre Vision v o m >neuen Menschen< und der >neuen G e s e l l s c h a f t zu verwirklichen, dennoch aber d o k u m e n t i e r t sich in ihren M a n i f e sten, P r o g r a m m e n , Zeitschriften, Veranstaltungen u n d A k t i o n e n der v e h e m e n t e politische Wille, A u s w e g e aus der Krise zu finden und ein M o d e l l der geistigethischen E r n e u e r u n g zu kreieren. I h r W i r k e n zeigt die Alternativen auf, die es z u r politisch-sozialen E n t w i c k l u n g geben hätte k ö n n e n . N i c h t zuletzt ist es ein Beleg dafür, daß es -
entgegen dem langgehegten Vorurteil v o m u n p o l i t i s c h e n «
C h a r a k t e r der ö s t e r r e i c h i s c h e n Literatur« - auch in O s t e r r e i c h einen v o n breiter Basis getragenen Versuch gegeben hat, K u n s t und Politik, Expressionismus und Aktivismus in E i n k l a n g zu bringen, 1 6 2 u m auf dieser Grundlage einen von der avantgardistischen K u n s t u n d Literatur inspirierten gesamtgesellschaftlichen V e r ä n d e r u n g s p r o z e ß in die Wege zu leiten.
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Kuh: Der Geist marschiert (Anm. 44), S. 530. Vgl. hierzu auch das Kapitel Politisches Engagement« in Wallas: Zeitschriften (1994) (Anm. *), S. 76ff. - Vgl. auch Ernst Fischer/Wilhelm Haefs (Hg.): Hirnwelten funkeln. Literatur des Expressionismus in Wien. Salzburg: Otto Müller 1988; Heckner: Tropen (Anm. 6), besonders S. 9 1 - 1 6 7 .
RICHARD SHEPPARD
Proletarische Feierstunden and the Early History of the Sprechchor 1 9 1 9 - 1 9 2 3 1
Abstract: Although the German Independent Socialist Party (USPD) ( 1 9 1 7 - 1 9 2 2 ) never evolved a formal cultural policy, a group of influential »Kultursozialisten« initiated the so-called Proletarische Feierstunden - quasi-liturgical events using secular texts - in 1919/1920. The Sprechchorwerk was evolved as the centre-piece of these events, notably by Ernst Toller and Bruno Schönlank. This article is not only a thorough investigation of this twofold phenomenon in the context of the U S P D , it is also an analysis of what happened when the German Communist Party tried to adapt the Sprechchor form to its ideological needs in late 1921/early 1922 and the Majority Socialist Party assimilated both the Proletarische Feierstunde and the Sprechchor form after it merged with the U S P D in September 1922. Obwohl die U S P D ( 1 9 1 7 - 1 9 2 2 ) nie eine dezidierte Kulturpolitik entwickelte, schuf 1919/ 1920 eine Gruppe einflußreicher »Kultursozialisten« die sogenannten »Proletarischen Feierstunden« - quasiliturgische Veranstaltungen mit weltlichen Texten. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltungen standen die sogenannten »Sprechchorwerke«, von denen die bedeutendsten von Ernst Toller und Bruno Schönlank stammten. Der Aufsatz untersucht dieses komplexe Phänomen im Umkreis der U S P D und analysiert daran anknüpfende Ereignisse: den Versuch der deutschen Kommunisten 1919/1920 die »Sprechchor«-Form ihren ideologischen Bedürfnissen anzugleichen und die Übernahme der »Proletarischen Feierstunden« und der »Sprechchor«-Form durch die SPD nach deren Zusammenschluß mit der U S P D im September 1922.
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All the letters, documents and newspaper articles referred to in this piece will be collected and annotated in Richard Sheppard (ed.): Sprechchöre und Proletarische Feierstunden 1 9 1 9 - 1 9 2 3 . (Massenmedien und Kommunikation an der Universität-Gesamthochschule Siegen). Numerous people and institutions assisted me in assembling the material on which this article is based and I would particularly like to thank the following for their help: Herr Michael Freisager (Zurich), the literary executor of Felix Stößinger; Professor Dr. Ruth Gladstein (Haifa), the daughter of Leo Kestenberg; Frau Mira Lask (Berlin), the daughter of Berta Lask; Mrs. Eva Wilkin-Schönlank (London), the daughter of Bruno Schönlank; the Brandenburgisches Landesarchiv (Potsdam); the Bundesarchiv (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R ) (Berlin); the Deutsches Literaturarchiv (Marbach/Neckar), particularly Frau Ingrid Grüninger; the Friedrich Ebert-Stiftung (Bonn); the Fritz Hüser-Stiftung (Dortmund), particularly its Director Dr. Rainer Noltenius; the Landesarchiv (Berlin); the Märkisches Museum (Berlin) and the Stadt-Bibliothek (Vienna). Thanks are also due to the British Academy, the Alexander von Humboldt-Stiftung, the D A A D and Magdalen College, Oxford for the financial support which made the research possible.
Richard
148 1. The Origins and Originators of the »Proletarische
Sheppard
Feierstunden«
In 1924 and 1926, two early histories of the Sprechchorwerk asserted that this artform was »die Kunstform des Proletariats«2 and »die Kunst der proletarischen Bewegung«,3 a conclusion which had already been implicit in an anonymous article in the KPD's Die rote Fahne (DrF) of 9 April 1922.4 But the history of the Sprechchorwerk was closely linked with that of the so-called Proletarische Feierstunden which had been initiated by the Independent Socialist Party (USPD) in Spring 1920. These institutions were taken up by various communist organizations in Autumn 1921 and then used by the Majority Socialist Party (SPD) after its reunification with the moderate wing of the USPD at the »Einigungsparteitag« in Nuremberg on 24 September 1922. Because these two phenomena have been investigated more or less independently and from various ideological perspectives in five major publications,5 this article will synthesize their findings and develop them in the light of extensive archival and rare printed material that has recently come to light. The origins of the Sprechchorwerk and the Proletarische Feierstunden are complex and multi-levelled. Looking back in October 1923, Arthur Crispien (18751946) (who became Chairman of the USPD after the murder of Hugo Haase [1863-1919] in November 1919; led the moderate wing of the USPD until September 1922 and was a leading SPD Reichstag Deputy from 1922 to 1933), painted a somewhat romanticized picture of those origins. It had been »das Proletariat« which had »zunächst in Berlin im Großen Schauspielhaus die p r o l e t a r i s c h e n F e i e r s t u n d e n [geschaffen]«.6 But Richard Seidel (b.1882), an editor of Die Freiheit (DF), the central organ of the USPD, was probably more accurate when, in Spring 1920, he attributed the founding impetus to five middle-class individuals: Neue Wege in der Kulturpflege betrat die Verbands-Bildungskommission mit den Proletarischen Feierstunden. Zweierlei soll damit erreicht werden, einmal sollen die wirklichen Proletariermassen der Kunst zugeführt werden und zum andern Male soll die
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Valentin Hartig: Der Sprechchor. In: Jungsozialistische Blätter 3, no. 1 (January 1924), pp. 7 - 8 . Here p. 7. Fritz Rosenfeld: Gedanken zum Sprechchor. In: Die Arbeiter-Bühne 13, no. 7 (July 1926), pp. 4 9 - 5 0 . Here p. 49. onag.: Theater und Kunst. In: DrF, no. 169 (9 April 1922). Jon Clark: Bruno Schönlank und die Arbeitersprechchorbewegung. Cologne: Prometh Verlag 1984; Ludwig Hoffmann and Daniel Floffmann-Oswald: Deutsches ArbeiterTheater 1 9 1 8 - 1 9 3 3 : Eine Dokumentation. Berlin: Henschelverlag 1961; Wilfried van der Will and R o b Burns: Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik (2 vols). Frankfurt/Main: Ullstein 1982; Richard Weber: Proletarisches Theater und revolutionäre Arbeiter-Bewegung 1 9 1 8 - 1 9 2 5 . 2. Aufl. Cologne: Prometh 1978; Hannelore Wolff: Volksabstimmung auf der Bühne? Das Massentheater als Mittel politischer Agitation. Frankfurt/M., Berne, New York: Peter Lang 1985. Arthur Crispien: Proletarische Feierstunden. In: Vorwärts (VW), no. 493 (21 O c t o b e r 1923).
Proletarische
Feierstunden
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Kunst den Massen in wuchtiger Wirkung gegenübertreten. Durch Hilfe von großen, starken Künstlern wurde das erreicht, wie Tilla Durieux, Alexander Moissi, [Hermann] Scherchen, Kammersänger [Waldemar] Henke, durch Orgelspiel und Männerchöre. Vom Genossen [Leo] Kestenberg kam die Anregung, und in seiner Hand lag die geistige Leitung.7 The involvement of Alexander Moissi ( 1 8 8 0 - 1 9 3 5 ) , probably Germany's most distinguished actor of the Weimar years, almost certainly derived from the positive, not to say rapturous response provoked by the reading-evenings he staged for workers in Spring and Autumn 1919. 8 But that involvement rapidly evaporated in late Spring-Summer 1920 (i.e. shortly after the first Proletarische Feierstunde on 1 February 1920) when it earned him the reputation of being a C o m munist agitator. 9 Durieux's and Kestenberg's involvement had older and deeper roots and seems to have gone back to their experiences between 1907 and 1914, when they regularly performed before working-class audiences in Berlin: In den ersten Jahren meines Zusammenlebens mit Paul [Cassirer] lernte ich Leo Kestenberg kennen. Er war ein Schüler von Busoni, gab aber seine Konzertlaufbahn auf zu Gunsten anderer Interessen. Er beschäftigte sich viel mit Arbeiterfragen. Ich wollte, damals mein Klavierspiel noch nicht aufgeben und erbat von ihm Stunden. Im Verlauf dieses Unterrichts fragte er mich, ob ich ihn bei Vorträgen für Arbeiter unterstützen wollte, und ich sagte sofort zu. Der einzige probenfreie Vormittag war Sonntag. Ich fuhr mit ihm nun Sonntagvormittags in die Hasenheide, eine Arbeitergegend, und nach anderen Vororten Berlins, wo sich die großen Versammlungssäle befanden. Das Programm stellten wir sorgfältig zusammen, in dem Bestreben, nur das Beste zu bieten. Zuerst war ich sehr befangen, mehr als im Theater, als ich aber sah, mit welcher Dankbarkeit und mit welchem Interesse die Arbeiter unsere Leistungen aufnahmen, machte es mir bald ein großes Vergnügen. Kaum einen Sonntag ließ ich ohne Ausflug in die Arbeiterviertel vergehen. Das dauerte an, bis der Krieg diese Veranstaltungen unterbrach. Paul war mit diesen Vorträgen sehr einverstanden, aber seine Familie war außer sich. Wir wählten Melodramen, und Kerstenberg [sie] begleitete mich, ich rezitierte Goethe, Schiller, Dehmel, Herwegh, Chamisso. Dazwischen spielte Kestenberg klassische Musik.10
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[Richard] Seidel: USPD Jahresbericht für die Zeit 1. April 1919-31. März 1920 (Bezirksverband Berlin-Brandenburg). Berlin: [publisher unknown] 1920, pp. 2 3 - 2 4 . The only extant copy of this is to be found in the Bundesarchiv (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR), ZPA II 143/18. [O.V.]: Alexander Moissi spricht vor Arbeitern. In: DF, no. 145 (26 March 1919); S.: Moissi liest im Stadthaus. In: DF, no. 154 (31 March 1919); [o.V.]: Alexander Moissi vom Deutschen Theater... in: DF, no. 491 (9 October 1919); [o.V.]: Moissi gibt am Freitag... In: DF, no. 511 (22 October 1919); E[rich] B[aron]: Moissis »Klassischer Abend«. In: DF, no. 517 (25 October 1919). For a full account of Moissis brief, theatrical and inglorious involvement in the German Revolution, see: Richard Sheppard: »Der Schauspieler greift in die Politik«: Five Actors [Alexander Moissi, Max Weber, Ernst Hoferichter, Albert Florath, Ernst Friedrich] and the German Revolution 1917-1922. To appear in: Maske und Kothurn. Tilla Durieux: Meine ersten neunzig Jahre. Munich and Berlin: F. Α. Herbig 1971, pp. 111-113. See also Leo Kestenberg: Bewegte Zeiten: Musisch-musikalische Lebenserinnerungen. Wolfenbüttel, Zürich: Möseler 1961, p. 37.
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Richard
Sheppard
Durieux's post-war involvement with the Proletarische Feierstunden may also have been given additional impetus by her possible experience of the Proletarische Feierabende that were staged by the USPD in post-revolutionary Munich from 19 December 1918 until mid-April 1919, for she was in that city from 9 January until Autumn 1919 and was in close contact with at least two prominent USPD »Kultursozialisten« there - the playwright Ernst Toller (1893-1939) and the actor Ernst Hoferichter (1895-1966) (see note 9).11 Kestenberg's autobiography (note 10) makes no mention of the Proletarische Feierstunden let alone his involvement, and it seems plausible that like so many German intellectuals with a history of far left involvement during the revolutionary phase of the Weimar Republic, he played down the extent of that involvement during his later years. 12 Nevertheless, his autobiography does confirm that he left the SPD and joined the USPD immediately after it was formed in April 1917 (p. 35); that he felt drawn towards »utopischen Projekten« in the early Weimar years (p. 66); and that he took an active part »in den Arbeiter-Bildungsausschüssen« (p. 40) - a fact which is confirmed by his daughter's letter of 11 September 1994 (note 12). From this latter statement it seems probable that Kestenberg was an active member of the USPD's »Arbeiter-Bildungsausschuß« and, after Autumn 1922, the SPD's as well. Moreover, Seidels unequivocal statement quoted above is supported by one made in 1925 by Bruno Schönlank (1891-1965), probably the most important writer of Sprechchorwerke during the Weimar Years: In der Zeit des Aufgewühltseins der Massen nach dem Weltkrieg, in dem Ebben und Fluten der revolutionären Bewegung wurde der Sprechchor neu geboren, die Renaissance einer Kunstform oder kultischen Handlung, die weite Ausblicke verspricht. Es war Leo K e s t e n b e r g , der, wie schon so oft, auch hier Anreger gewesen ist, der fühlte, was in der Luft lag, daß die Massen ihrer Sehnsucht, ihrem Hoffen, ihrem Groll selber künstlerischen Ausdruck geben wollten. Neben Ernst T o l l e r und machem andern trat er auch an mich heran, denn >ein aus einer starken Gesinnung, aus einem sicheren Glauben geborenes Werk, das weit jenseits von aller ästhetisierenden BetrachtungsweltUmdichtung< vorhandener Lieder mit bekannten Melodien. Selbst die Kaiserhymne, >Heil Dir im SiegeskranzArbeiter all' erwacht [.. .]Die Kunst dem Volke< im Munde [führen]«. But at the same time he had also criticized them sharply on two counts: for offering ordinary people works of art that were two difficult for them to understand and for attempting to banish »Tendenzpoesie« from working-class festivals »als ob sie die Feindin aller >wahren Kunst< sei«. In contrast, Krille argued that it was necessary »dem Volke aus dem Schatze der gesamten Dichtung, auch der gegenwärtigen, das zu bieten, was seiner Weltanschauung entspricht, die heute eben nur die sozialistische ist« and then went on to define the »großen Gedanken des Sozialismus« as »die Idee der Gemeinschaft«. As we shall see, the Sprechchorwerk and the Proletarische Feierstunde arose precisely from this desire to steer a middle course between the Scylla of aestheticism and the Charybidis of »Tendenzkunst« by creating a sense of »Gemeinschaft« in a mass audience - a complex aim that was by no means always achieved. Scherchen summarized the problem in a letter of 26 March 1921 (note 17), just after conducting Bach's St. Matthew Passion in Leipzig: Was mich im Augenblick aber am meisten beschäftigt, ist folgendes: inwieweit sind die Passionsmusiken mit der Anteil habenden Gemeinde am ehesten Kunstschöpfungen der Masse, f ü r die Masse, inwieweit kann von hier die Grundlage zu einem neuen Massenkunstwerk unserer Tage gelegt werden? Die Gemeinde muß da sein, sie ist der Ausgangspunkt! (p. 37)
Third, as Wolff has shown, the roots of the »Massenschauspiel« in general and the quasi-cultic Sprechchorwerk in particular also go »bis in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg [zurück], als sich vor allem in der organisierten Arbeiterjugend Ansätze einer den religiösen Feiern entgegentretenden sozialistischen Fest- und Feierkultur< herausbildeten«: Ausgangspunkt war die gemeinsame Gedichtrezitation, die für feierliche Gelegenheiten eingeübt wurde, um dem >Gemeinschaftsempfinden< der Versammlung Ausdruck zu geben. Dann entstand in zunehmendem Maße eine Lyrik, die speziell für diesen Gebrauch bestimmt war und deren Umfang sich ständig erweiterte (note 5, p. 105).
Besides that, it is also highly likely that more than a few of those behind the postwar Proletarische Feierstunden had been inspired during their youth by the quasicultic, secular festivals which marked the pre-war Jugendbewegung. Certainly, Schönlank's and Toller's instinctive ability to grasp the point of and willingness to compose secularized, quasi-liturgical Sprechchorwerke for the USPD's Feierstunden must have had something to do with their involvement in that movement. 23 Fourth, a good number of the so-called »Kultursozialisten« of the pre-war SPD seem, like Kestenberg, to have gravitated instinctively to the U S P D after its 23
See Walther G. Oschilewski (ed.): Junge Menschen. 2. Aufl. Frankfurt/Main: dipaVerlag 1982, pp. 2 7 9 - 2 8 0 . C.f. also Wilfried van der Will and Rob Bums: Arbeiterkulturbewegung, vol. I, p. 168 and Richard Weber: Proletarisches Theater, pp. 1 3 1 - 1 3 2 (note 5).
154
Richard Sheppard
foundation in April 1917. The most prominent of these was, without a shadow of doubt, Kurt Eisner (1867-1919), the first republican Prime Minister of Bavaria who was murdered on 21 February 1919 in Munich. Eisner had not only been the principal organizer of the SPD's »Morgenfeiern« and »Jugendweihen« which took place in Berlin before 1914, he was also the author, probably in early 1919, of the first Sprechchorwerk to be published in Germany: Ihr Völker der Arbeit, zum Feiern herbei!24 But more importantly still, Eisner had, before the Great War, published several important essays in which he attempted, more or less systematically and explicitly, to formulate his ideas on the relationship between art, politics and the educational process. As will emerge, it is highly likely that these essays made a significant impact on people like Crispien, Kestenberg and the publisher and journalist Felix Stößinger (1889-1954), all of whom played a central role in setting up the USPD's Feierstunden and keeping them going even after the USPD had ceased to exist as a real political force. As the title of one of his collections of essays suggests - Feste der Festlosen (1906) - Eisner began from the assumption that the modern capitalist world had been de-mythologized. As a result, traditional religion had lost its power and become a collection of vestigeal, attenuated forms. 2 5 Consequently, Eisner argued that art now had three possible functions. It could either be reduced to mere entertainment whose sole purpose was to make time pass more quickly. 26 O r it could, as Eisner thought was true of Schiller's work, become »ein E r s a t z des Lebens«, a substitute for »die in der P r a x i s unerlaubte revolutionäre H a n d lung«. 2 7 O r it could function as a »Gottesdienst des Diesseits«; 28 take the place of traditional religion and so assist in the creation of »ein Paradies auf Erden [...] nicht ein Himmlisches«. 2 9 Eisner, of course, was an advocate of the third alternative and developed his ideas on the subject over a period of 30 years. In his view, the ideal art-form, drama above all, should speak to the »Allerheiligsten and Allerwesentlichsten der Menschenseele« 30 and function as a »große moderne Weltanschauungskunst« by embodying the ideal of Socialism - »die Essenz jedes fortschreitenden Geistes«. 31 Moreover, according to Eisner, this ideal art-form
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First published in: Gothaer Volksblatt, no. 92 (30 April 1919). Reproduced in: Wilfried van der Will and R o b Burns: Arbeiterkulturbewegung, vol. II, pp. 1 9 7 - 1 9 8 (note 5). Kurt Eisner: Goethefest (1899). In: K. E.: Feste der Festlosen. Dresden: Kaden Sc Comp. 1906, pp. 2 4 7 - 2 5 0 . Here pp. 2 4 9 - 2 5 0 . Kurt Eisner: Volkstheater - eine sociale Ehrenpflicht Berlins (1889). In: K. E.: Taggeist: Culturglossen. Berlin: Dr. John Edelheim Verlag 1901, pp. 2 4 3 - 2 5 8 . Here p. 248. Kurt Eisner: U b e r Schillers Idealismus (1905). In: K. E.: Gesammelte Schriften (2 vols). Berlin: Paul Cassirer 1919, vol. II, pp. 2 1 7 - 2 3 4 . Here pp. 228 and 230. Kurt Eisner: Goethefest, p. 249. Kurt Eisner: Volkstheater, p. 254. Kurt Eisner: Goethefest, p. 249 and Volkstheater, pp. 251 and 255. Kurt Eisner: Parteikunst (1896). In: K. E.: Taggeist (note 26), pp. 2 8 0 - 2 8 8 . Here pp. 287 and 286.
Proletarische
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Feierstunden
should bring about the »Einheit und Vollendung der Kräfte des Menschen im Bewußtsein der Menschheit« 32 and, like Beethoven's Ninth Symphony, be »die Revolution und die Erfüllung zugleich [...]«, i.e. speak of the possibility of a redeemed human society in the here and now. 33 Correspondingly, Eisner instinctively thought of art not as a private but as a collective matter so that in his eyes, the ideal audience at the ideal performance of the ideal work of art was not an assemblage of individuals but a »Kunstgemeinde«, citizens of a »pädagogischen Provinz« 34 who were liberated for a brief while from their state of oppression and enabled to experience the sense of harmony and fulfilment which would mark the future socialist utopia. As he said in his essay on Schiller (p. 228): »Die Kunst nun schafft im freien Spiel der Phantasie dieses Reich der sittlichen Freiheit als eine Art naturgesetzlicher Notwendigkeit, als Naturerscheinung«. By means of this theoretical strategy, which is a distillation of ideas taken from Kant's third critique, Nietzsche's Die Geburt der Tragödie and Wagner's theory of the »Gesamtkunstwerk«, Eisner was able to achieve two aims. O n the one hand he went beyond the SPD's aesthetic according to which art was essentially a means of individual »Bildung«, and on the other he developed a concept of revolutionary art which was more complex than that to be formulated by the K P D in August 1922 (according to which art was primarily a means of propaganda). 35 In his letter to Schönlank of 17 August 1920, Kestenberg had written enthusiastically about a recent visit to the Odenwaldschule (founded in 1910 in Oberhambach (Bergstraße) as a Landeserziehungsheim by Paul Geheeb). The aims of this institution were set out in its 1911 prospectus as follows: Der Leiter eines Erziehungsheimes jedoch, das in ländlicher Stille und schöner Natur, fern von der Unruhe und den erzieherisch vielfach störenden Einflüssen der Stadt liegt, hat es im Verein mit auserlesenen Mitarbeitern in der Hand, in der inselartigen Abgeschlossenheit seiner Anstalt eine Atmosphäre zu schaffen, die im ganzen und bis ins einzelste auf den Zweck des Unternehmens abgestimmt ist: die dem Heime anvertrauten jungen Menschenkinder zu religiös-sittlichen Charakteren zu erziehen, ihre körper-
lichen und geistigen Anlagen möglichst vollkommen
und harmonisch zu
entwickeln;
und alle auf diesen Zweck abzielenden Maßregeln äußerer und innerer Art lassen sich, wenn irgendwo, hier planmäßig durchführen.
It was just this kind of amalgam of secularized religiosity, aesthetics and educational philosophy which would fire the imaginations of the USPD's leading »Kul32
33 34
35
Kurt Eisner: Die Heimat der Neunten (1905). In: Κ. E.: Feste der Festlosen (note 25), pp. 2 9 1 - 2 9 4 . Here p. 291. Kurt Eisner: Die Heimat der Neunten, pp. 292 and 294. Kurt Eisner: Kommunismus des Geistes (1908). In: Κ. E.: Gesammelte Schriften (note 27), vol. II, pp. 1 5 - 2 6 . Here pp. 17 and 18. See [o.V.]: Kunst und Anschauungsmittel im Dienste kommunistischer Propaganda: Thesen, angenommen auf der 1. Reichsbildungskonferenz der KPD. In: Bildung und Propaganda: Mitteilungsblatt der Bildungsobleute und Kursuslehrer der K P D 1, no. 1 (September 1922), pp. 5 - 6 ; reproduced in: Richard Sheppard: Artists, Intellectuals and the USPD 1 9 1 7 - 1 9 2 2 : Some Preliminary Reflections. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 32 (1991), pp. 1 7 5 - 2 1 6 . Here pp. 2 1 5 - 2 1 6 .
Richard Sheppard
156 tursozialisten« after the W a r and generate the Proletarische
Feierstunden,
espe-
cially after Eisner had b e c o m e a political martyr. F o r many left-wing, middle class intellectuals, Eisner's aesthetico-political idealism outweighed his less than flawless competence as a practical politician and they came t o venerate him and his teachings in a manner verging on religious devotion. 3 6 Notwithstanding the practical and theoretical in-put, the U S P D ' s cultural p r o ject might never have got off the ground if M a x Reinhardt ( 1 8 7 3 - 1 9 4 3 ) and his associate Felix Holländer ( 1 8 6 7 - 1 9 3 1 ) had not put the Großes
Schauspielhaus
at the Party's disposal. Like Eisner, Reinhardt was committed to a quasi-cultic, redemptive conception of art and it was because of this that he acquired the Circus B u s c h in Berlin and commissioned the Dresden architect and t o w n - p l a n ner Professor H a n s Poelzig ( 1 8 6 9 - 1 9 3 6 ) to turn the building into a » G r o ß r a u m theater«. The long letter o f 15 August 1 9 1 7 which Reinhardt w r o t e t o Holländer ( f r o m Sils Maria of all places) 3 7 is saturated with an even profounder sense of cultural pessimism than that informing Goethefest
Eisner's
depiction
of modernity
in
(note 25). Nevertheless, the article which Reinhardt published in the
Berlin newspaper Der
Tag on 2 January 1 9 2 0 3 8 makes it clear that he, like so
m a n y of his contemporaries (including Eisner), saw the theatre as a major means of overcoming this pessimism and of breathing new life into the »Tausende[n] v o n Leuten in Berlin, [ . . . ] denen der Theaterbesuch ein notwendiges Bedürfnis ist« (p. 4 5 4 ) . A n d in an article that was first published in English in 1 9 2 4 , 3 9 Reinhardt was even more explicit: Alle, die im Theater sind - ob auf der Bühne oder im Zuschauerraum - , bemühen sich, bewußt oder unbewußt, sich selbst zu überwinden, sich selbst zu vergessen, über sich hinauszuwachsen. Sie suchen die Ekstase, den Rausch, den ihnen sonst nur die Droge geben kann. Es wäre schwer zu verstehen, weshalb der Staat und andere mächtige Einrichtungen, die es sonst als ihre Aufgabe betrachten, alle anderen Kunstgattungen zu fördern, lediglich das Theater vernachlässigen sollten, da es doch für sie von unvergleichlichem Nutzen sein kann. Es ist daher schwer zu verstehen, warum sie ungeheure Summen für Bibliotheken, Museen, Schulen und andere Einrichtungen des Erziehungswesens ausgeben, jedoch den Wert des Theaters geringschätzen, seine bloße Existenz dadurch gefährden, daß sie unmäßige Steuern erheben und damit dieses wunderbare Instrument den Spekulanten überlassen, die daraus ein mehr oder weniger gewinnbringendes Geschäft machen. Im antiken Griechenland und in Rom war es der Staat, der das Theater unterstützte und es mit der größten Sorgfalt kultivierte. Die Aufführungen jener Theater waren Festspiele für die ganze Nation, zugleich Vergnügen und zugleich Gottesdienst. Die Kirche, der wir die größten Meisterwerke aller Kunstgattungen verdanken, von der zugleich der Wiederaufbau unseres heutigen Thea-
36 37
38
39
Richard Sheppard: Artists, Intellectuals and the U S P D 1 9 1 7 - 1 9 2 2 , pp. 1 9 6 - 1 9 7 . Reproduced in: Max Reinhardt: Ich bin nichts als ein Theatermann, edited by Hugo Fetting. Berlin: Henschelverlag 1989, pp. 1 2 8 - 1 3 0 . Max Reinhardt: Uber Theaterreform: Ein Bericht. In: M. R.: Ich bin nichts als ein Theatermann, pp. 4 5 3 - 4 5 5 . Max Reinhardt: Uber die Kunst des Theaters. In: M. R.: Ich bin nichts als ein Theatermann, pp. 4 5 5 - 4 5 7 .
Proletarische
Feierstunden
157
ters ausgegangen ist, muß mit ihrer wunderbaren Eingebung die Kraft des Dramas erkannt haben, als sie in weiser Hochachtung neben die heiligsten Dinge das profane Schauspiel vom Teufel und dem Kaufmann stellte, um gleichsam noch den Einfältigsten unter ihren Einfluß zu bringen. Erst dem Puritanismus späterer Tage gelang es, das Drama wieder aus der Kirche zu vertreiben (pp. 455-456). Bearing in mind the profound impact which Eisner's ideas had among the »Kultursozialisten« of the USPD and the affinity between his and Reinhardt's quasisacral conception of the role of the theatre, it is entirely clear why Erich Baron ( 1 8 8 1 - 1 9 3 3 ) , one of the leading theatre critics of Die Freiheit, should have reacted as follows to the production of Aeschylus's Oresteia with which the Großes Schauspielhaus opened on 29 November 1919: Aber den großen Stil der feierlichen Menge, den soll uns das Theater heute urwüchsig schaffend wiederbringen. Nicht Aischylos hat gestern gesiegt, sondern das von neuen prachtvollen Möglichkeiten strotzende Haus. Weit mehr als die Greuel des im Blut erstickten Atridenhauses bewegte uns die Vorstellung, wie Schicksal und Drama von heute sich in diesen Räumen, von dichterischer Hand geballt, entladen würden. Hier liegen unabsehbare Möglichkeiten vor uns, daß auf diesem von Reinhardt nunmehr beschrittenem [sie] Wege sich Volk und Dichtung zu neuer Freiheit über Theaterkram und Bühnenplunder hinaus erleben werden. Shakespeare, Goethe und mehr noch, was in der Zeiten Hintergrunde schlummert... Nicht griechisches Theater, sondern Volksbühne im tiefsten und weitesten Sinne muß die Lösung sein. Trennende Wände müssen eingerissen werden. Bewegung, Zusammenwirkung von Geist und Masse sollen uns emportragen. Die Erregung und Spannung, die gestern über der festlich gestimmten Menge lag, ist nicht der Strom, der die Herzen entzündet und schneller schlagen läßt. Aber vieles ist schon gewonnen, wenn wir nicht mehr vor der >Guckkastenbühne< sitzen. Die dramatischen Vorgänge strahlen nach allen Seiten aus, in der Arena mit ihrem terrassenförmigen Szenenbau. Hier hat Reinhardt mit seinen Mitarbeitern nicht eine Nachahmung der griechischen Orchestra geschaffen, sondern mit einem gewaltigen technischen Apparat neue Raumwirkungen erstrebt und teilweise auch erzielt. [...] Daß aber die künstlerische Wirkung besonders durch Licht und Klang und farbiges Pathos in hohem Maße bereits erreicht wurde, wurde schon in der gestrigen Vornotiz gesagt. [...] Auch Reinhardt und [Karl] Vollmöller, der die >Orestie< übersetzte und bearbeitete, sehnen sich in der Zusammensetzung von Tausenden der Theaterbesucher nach einer Gemeinsamkeit von >mithandelnden, mitgerissen[en] und mitreißenden Bürgern und Volksgenossen*. Die Zeit wird Menschen und Werke vielleicht noch anders reifen und alle überlebten Bände frommer Scheu sprengen.40 Baron seems to have sensed that Reinhardt's new theatre was capable not simply of realizing the ideals of a theatre for the people on which the Volksbühne had been founded in 1890, but of going beyond those ideals by providing a space in which the enactment of a drama could generate a quasi-sacral sense of community - »Gemeinsamkeit«. Because Reinhardt was not uniformly popular with the German Left, 4 1 it seems at first sight surprising that he should have allowed the U S P D to use his new 40
41
Erich Baron: Die »Orestie« im Großen Schauspielhaus. In: DF, no. 580 (29 November 1919); c.f. Hans Poelzig: Der Bau des Großen Schauspielhauses. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), no. 585 (28 November 1919). Richard Sheppard: The SPD and the German Avant-Garde 1917-1922, p. 48, n. 160.
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Richard Sheppard
theatre for their Proletarische Feierstunden, especially as this provoked a certain amount of harassment by the police (who used technical objections like the minutiae of fire regulations and insufficient provision of cloakroom staff to try and prevent the first Feierstunden from taking place even though, under the Weimar constitution, censorship had officially ceased to exist). 42 Indeed, where the USPD was a relatively de-centralized party and imbued with anarchist ideas of power, Reinhardt's politics were so autocratic that he could conclude his gloomy letter to Holländer of 15 August 1917 with the ominous statement: »Aber w i r müssen auf den neuen Messias, der wahrscheinlich auch ein Tyrann sein wird, warten« (note 37, p. 130). But once the similarity between Reinhardt's conception of the theatre and the ideas of leading USPD intellectuals on the same subject is understood, then the apparent anomaly becomes more comprehensible. Other facts also become significant. First, both Moissi and Durieux were Reinhardt's two major stars in the early 1920s and Klaus Pringsheim (1883-1972), who regularly reported on musical events in Die Freiheit, was Director of Music in the Großes Schauspielhaus. All three must have exercised pressure on Reinhardt. So must Felix Holländer (who became General Director of all Reinhardt's Berlin theatres on 1 October 1920) since if one examines the reviews in the left-wing press of the production of Hauptmann's Die Weber which was staged by Karl Heinz Martin (1888-1948) in the Großes Schauspielhaus in late June 1921, presumably with Holländers blessing, then it seems highly likely that leading members of Reinhardt's Berlin team had not only promoted but also learnt something from the Proletarische Feierstunden in general and the performance of Toller's Sprechchorwerk Der Tag des Proletariats (21 November 1920) in particular (see below). For when staging Die Weber, Martin used split choirs; 43 transformed the theatre into »eine wirkliche und riesige V e r s a m m l u n g s h a l l e « 4 4 and turned the whole play, especially the Fourth Act, into a revolutionary statement with considerable contemporary resonance. 45 As a result, the production, like the early Proletarische Feierstunden, worried the police particularly because it opened only a few months after the suppression of the »März-Aufstände«. 4 6 Finally, when one remembers that Reinhardt particularly admired the work of Fritz von Unruh (1885-1970) 4 7 and had been prevented from staging his play Ein Geschlecht in the Deutsches 42
43 44 45 46 47
See the correspondence between the Berlin Police, the USPD and the Administration of the Großes Schauspielhaus to be found in the Brandenburgisches Landesarchiv, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 74, Th. 606 (Großes Schauspielhaus); also the USPD's Jahresbericht cited in note 7, pp. 24-25. Felix Stößinger: Die Weber: Im Großen Schauspielhaus. In: DF, no. 288 (23 June 1921). Max Hochdorf: »Die Weber« im Großen Schauspielhaus. In: VW, no. 288 (21 June 1921). Max Barthel: Die Weber. In: DrF, no. 279 (22 June 1921). See the police report dated 27 June 1921 in the file cited in note 42. See his letter to Holländer of 9 August 1917. In: Max Reinhardt: Ich bin nichts als ein Theatermann, pp. 126-127. Also Georgina A. Clark: Max Reinhardt and Fritz von Unruh and Michael Patterson: Reinhardt and Theatrical Expressionism. In: Margaret
Proletarische
Feierstunden
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Theater during the War, 48 then it is entirely logical that Felix Stößinger, who played an increasingly important part in the organization of the Proletarische Feierstunden from about the end of 1920, should have written to this very dramatist on 17 January 1923, 49 asking him to write a Sprechchorwerk for the Proletarische Feierstunden being staged by the Vereinigte] SPD. 2. The USPD's »Proletarische
Feierstunden«
1920-1922
The originators of the first Proletarische Feierstunden needed about a year before they realized the full potential of the artists at their disposal. After Moissi's first performance before a German working-class audience on 25 March 1919, when he recited a relatively conservative selection of texts, 50 the anonymous reviewer perceived his power to move an audience and concluded: »Gern würden wir eine Reihe von r e v o l u t i o n ä r e n [my emphasis] Dichtungen aus alter und neuer Zeit einmal aus Moissis Munde hören«. 51 And after Moissi's second performance, about a week later, the reporter - possibly S[tößinger], whose first signed article in Die Freiheit had appeared a week before, on 24 March - noted, in terms directly reminiscent of Eisner's theoretical essays, that Moissi had an almost priestly gift to transform a »Publikum« or a »Zuhörerschaft« into a »Gemeinde« which, by virtue of its sense of community, formed a model of socialist society: »ein Vorbild kommender Zeiten«. 52 Although these two reading-evenings seem to have been the result of Moissi's own initiative, during Summer 1919 the USPD's Arbeiterbildungsschule, probably encouraged by Kestenberg, decided to institutionalize such events and enlist the help of Scherchen, Durieux and the Arbeitersängerbund. The results of this were the events of 12 and 24 October and 30 November 1919 (note 8). At the first of these events, which took place in Berlin's Stadthalle, Moissi recited unspecified »revolutionäre Dichtungen« and choirs belonging to the Arbeitersängerbund opened and closed the event. At the second event, entitled »Klassischer Abend«, which took place in the Berlin Philharmonie, Moissi, by now in full retreat from revolutionary politics (note 9), read from Faust, Werther, Shakespeare's sonnets
48 49
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Jacobs and John Warren (eds): Max Reinhardt: The Oxford Symposium. Oxford: O x ford Polytechnic 1986, pp. 3 4 - 4 7 and 4 8 - 5 4 (especially p. 50). It was finally produced there on 22 December 1918. This letter is to be found in the Deutsches Literaturarchiv (Marbach/Neckar). Von Unruh's (presumably negative) reply is not preserved. These included Emile Verhaeren's poem Der Novemberwind (which was clearly used as an allegory of the German Revolution), Goethe's Erlkönig and Vanitasi Vanitatum Vanitasi, Tolstoy's Märchen Wieviel Erde gebraucht ein Menschf and an unspecified Taoist text. [O.V.]: Alexander Moissi spricht vor Arbeitern (note 8). S.: Moissi liest im Stadthaus (note 8). O n this occasion Moissi again recited (unspecified) texts by Goethe, Tolstoy and Verhaeren.
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Richard
Sheppard
and Heine's satirical poetry and recited Goethe's Mailied and Schiller's Die Kraniche des Ibykus. But the third evening, in which Moissi did not participate, was significantly different: it took place not in the evening but at 11.30 on a Sunday morning in the Großes Schauspielhaus which had opened on the previous day; it was entitled »Russische und revolutionäre Kunst«; it involved »eine Massenaufführung unter Leitung von Hermann Scherchen« and it drew upon the talents of Durieux, the Blüthner Orchestra and choirs belonging to the Arbeitersängerbund,53 Although not designated a Proletarische Feierstunde, the model for the events of 1920-1922 had been clearly established. We do not know whether the USPD's Arbeiterbildungsschule staged further such evenings during Winter 1919-1920, but the USPD's Jahresbericht (note 7) clearly suggests that Kestenberg was responsible for developing the concept of the Proletarische Feierstunde still further during this period for, according to Seidel, by Spring 1920 the theoretical basis of these events had been firmly laid down. They were to be »nicht nur neutrale Kunstveranstaltungen [...], sondern aufs engste mit dem Kampfe der Arbeiter, der sie aus materieller und ideeller Not befreien soll, verbunden werden« and they were to be »Stunden geistiger Erholung und Sammlung sein und in ihrem Ziel für unsere Kampfgemeinschaft die Partei, werben« - i.e. quasi-sacral events which aimed not to entertain but to heighten socialist consciousness. This kind of thinking was qualitatively more radical than that informing the Berlin Volksbühne whose director at the time was, paradoxically, the conservatively inclined actor Friedrich Kayßler (1874-1945). In accordance with the prevailing ethos of the Volksbühne and the (classically derived) cultural policy of the SPD, Kayßler regarded the theatre first and foremost as a »moralische Anstalt« whose primary task was the education of the individual through art. Consequently, it had to be above any party-political bias or political propagandizing.54 In contrast, Kestenberg and his collaborators conceived the Proletarische Feierstunde as a mass experience which would strengthen the feeling of revolutionary »Gemeinschaft« in Eisner's sense and inspire new members to join the USPD. Not surprisingly, the police were very worried when, on 28 January 1920 (note 14), Seidel applied for permission to stage the first Proletarische Feierstunde which he openly admitted was to be »dem Gedanken Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gewidmet«. On 13 January 1920, the Berlin police had opened fire on a large crowd of people who were protesting outside the Reichstag against the passing of the Betriebsrätegesetz, killing 42 and wounding 105, and they were clearly concerned that this unwonted art form might provoke further political disturbances. Although the first Proletarische Feierstunde was allowed to take place in the Großes Schauspielhaus, still under Reinhardt's direction, at 11 a.m. on Sunday, 1 February 1920, it fell short of the USPD's intentions inasmuch as the police, in 53 54
[O.V.]: »Russische und revolutionäre Kunst«. In: DF, no. 572 (25 November 1919). Richard Sheppard: The SPD and the German Avant-Garde 1 9 1 7 - 1 9 2 2 , pp. 5 3 - 6 0 .
Proletarische
Feierstunden
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a letter to Seidel of 31 January 1920,55 had forbidden any reference to Karl Liebknecht (1871-1919) and Rosa Luxemburg (1870 or 1871-1919), both of whom had been murdered by the Freikorps just over a year previously. Accordingly, the programme consisted of Die Internationale, unspecified poems by Bruno Schönlank (probably recited by Durieux), a speech by Arthur Crispien, 56 Bach's Β minor Prelude (played on the organ by Dr. Hans Lüdtke), unspecified poems by Goethe, the final scene of Faust II (probably recited by Moissi) and unspecified offerings by choirs of the Arbeitersängerbund (directed by Scherchen).57 Despite the cuts, the thinking behind the event was clearly set out in Crispien's speech: the Proletarische Feierstunden, he began, »sind uns nicht Stunden müßiger Beschaulichkeit oder leichter Unterhaltung, sondern ernste Stunden voller Weihe und Erhebung. Stunden, in denen wir eine neue Kraft sammeln und frische Zuversicht gewinnen für die große historische Mission, die das Proletariat erfüllen muß - und wird« (p. 115). Moreover, taking his cue from Eisner's ideas about the revolutionary role of collectively experienced art »in dürftiger Zeit«, Crispien characterized the Proletarische Feierstunden as oases of revolutionary socialist culture amidst the contemporary Berlin desert of »Entartung, Niedergang, oft Gemeinheit und Schweinerei« and as a significant step forward in the realization of the historical mission of the revolutionary proletariat »die Menschheit zu erlösen aus Barbarei, die Menschheit aus Mord und Brand zur höchsten Kultur zu führen« (p. 117). This Feierstunde was substantially repeated on 22 and 29 February 1920 - on both occasions in memory of August Bebel (1840-1913), one of the founders of German Social Democracy whose 80th birthday would have fallen on 22 February 1920.58 Despite the imminence of the Kapp-Putsch,59 police harassment was by now minimal; Rudolf Breitscheid (1874-1944), a USPD Reichstag Deputy and editor of the USPD's weekly Der Sozialist, took Crispien's place and gave an (unpublished) speech in memory of Bebel; and the organizers were able to include the so-called Russischer Rotgardistenmarsch (»Brüder, ergreift die Gewehre [...]«), almost certainly sung to the stirring setting which Scherchen had composed for Brüder zur Sonne [...] since he again conducted the massed, male-voice choirs.60 A further Proletarische Feierstunde about which nothing is known was projected for 25 April 61 and the first season ended with a 55
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Seidel's letter of 28 January 1920 and the response of the Berlin police are reproduced in the USPD's Jahresbericht (notes 7 and 14). The originals of both are to be found in the file cited in note 42. Arthur Crispien: Proletariat und Kunst. In: Der Sozialist 6, no. 6 (7 February 1920), pp. 1 1 5 - 1 1 8 . A programme is preserved in the file cited in note 42. [O.V.]: Proletarische Feierstunden. In: DF, no. 45 (21 February 1920). Ironically, on 6 February 1920, Durieux's husband, Paul Cassirer, wrote to the Swiss Publisher Max Rascher: »Wann kommen Sie nach Berlin? Die Zustände sind ganz ruhig.« (Rascher-Archiv, Mappe 223 [Zentralbibliothek Zürich]). [O.V.]: Proletarische Feierstunden. In: DF, no. 62 (1 March 1920). See the brief advertisement in: DF, no. 130 (18 April 1920).
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Richard
Sbeppard
Feierstunde on 9 May. The Ukrainian National Choir performed at this event; Breitscheid gave a speech in memory of the late Emanuel Wurm (1857-1920), the best-known writer of socialist songs of the day; Durieux and Henke recited and sang unspecified poems; and the event ended with Jakob Audorf's (1835 — 1898) Arbeiter-Marseillaise (1864), a German version of the Marseillaise written in memory of Ferdinand Lassalle (1825-1864), another founding father of German Social Democracy. 62 The experiences of Spring 1920 provoked more thinking and debate among the »Kultursozialisten« of the USPD. On 4 August 1920, Scherchen published his article in Die Freiheit (note 19) which took the thinking of Kestenberg and Crispien one stage further by suggesting that the experience of singing in a mass festal choir was not just entertaining or even inspiring, but an opportunity for the ordinary person to experience that power of creativity which is common to all mankind. As such, it was said to be a foretaste of the sense of brotherhood and unity which would be the general lot of humankind after the Revolution. Just as the religious communities of the Reformation had had their chorales, so the revolutionary proletariat had its »Arbeitersängerbewegung«: [...] die Masse als solche will Kunst gestalten, ihr großes Einheitsgefühl erleben, i m C h o r g e s a n g sich selbst und alle anderen umfassen. D a s ist der Sinn dieser B e w e g u n g , darin liegt ihre große u m b i l d e n d e Kraft: wir werden zu einer neuen einfachen M o n u mentalkunst k o m m e n ; der Künstler als L u x u s w e s e n , dessen R e i z in gesteigerter Individualität beruht, wird verschwinden. D a m i t muß sich zugleich der Charakter der K o m positionen ändern. D a s große Aufglühen jedes Einzelnen in der v o m schöpferischen Taumel erfaßten M a s s e , das v o n dieser singenden, gestaltenden M a s s e auf die Z u h ö r e n den erschütternd und hinreißend überspringt, wird das Kennzeichen der neuen K u n s t sein.
Correspondingly, during Summer-Autumn 1920, those organizing the Feierstunden must have felt that although one-off concerts by visiting groups like the Ukrainian National Choir or the Czech Philharmonic Orchestra on 5 September 1920 63 were acceptable offerings, they were not completely satisfactory manifestations of the essential spirit informing the Feierstunden: they were not participatory enough and resembled too closely the standard concert of bourgeois or SPD cultural life. Thus, to judge from his letter to Schönlank of 17 August 1920 (note 15), Kestenberg, who had also worked as Lektor for the Paul Cassirer Verlag, must have seen the potential in Eisner's early, relatively simple Sprechchorwerk (note 24) and commissioned one each from Toller 64 and Schönlank in order to give fuller ideological expression to the spirit behind the Proletarische Feierstunden and prevent them from lapsing into aesthetic conservatism. 62 63 64
[O.V.]: D i e proletarischen Feierstunden . . . In: DF, no. 168 (10 M a y 1920). [O.V.]: Proletarische Feierstunden. In: D F , no. 371 (7 September 1920). Kestenberg was c o r r e s p o n d i n g with the imprisoned Toller since at least the beginning of 1920. C.f. Tollers unpublished letters to Kestenberg of 7 and 15 January 1920 that are preserved in the D e u t s c h e s Literaturarchiv ( M a r b a c h / N e c k a r ) .
Proletarische
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Toller's work, Der Tag des Proletariats,65 was the first to be performed: at the Proletarische Feierstunde of 21 November 1920 under the direction of the actress Margarete Wellhoener (who was at that time not attached to any theatre and about whom no further information is available). According to the anonymous correspondent who reported on the event, Toller's Sprechchorwerk functioned precisely as Scherchen had said the Volkschor should: Besondere Anerkennung verdiente der S p r e c h c h o r , eine neuartige Einrichtung. Mit außerordentlicher Hingabe waren alle dabei, um die Dichtung zu voller Wirkung zu bringen. Bei ihm erlebte man am Einzelnen wie am Ganzen wirkliche Kunst, es war geradezu hinreißend, wie hier die Masse auftrat, nicht als ein formloses Gewimmel, sondern als eine Gemeinschaft sich einfügender, sich gegenseitig fördernder Menschen. 66
Moreover, Toller's work was said to be comparable with no less a piece than the last movement of Beethoven's Ninth Symphony (i.e. Schiller's An die Freude) which, in Eisner's view (note 32), was the ideal revolutionary work of art. Accordingly, the same critic concluded, Der Tag des Proletariats fulfilled the essential aim behind the Proletarische Feierstunden: Bei Beethoven-Schiller die dithyrambische Verzückung des Einzelnen, der in dem seligen Rausch eines Augenblickes die Millionen umarmen will; bei Toller der Kampf und der Wille der Masse, die die Arbeit aus den Fesseln, in die sie der Kapitalismus geschlagen hat, befreien und dadurch zum Leben gelangen will. Tollers Dichtung führt die Kunst wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück; sie soll Gemeingut des ganzen Volkes sein, ein Teil der Arbeit, das Leben selbst und nicht eine Zierde des Lebens.
As van der Will and Burns noted (note 5), the effectiveness of the Sprechchorwerk is dependent on the »auditiv-visuelle[n] Auffiihrungs- und Rezeptionsrahmen sowie die Stimmungslage des organisierten Proletariats« (I, p. 172), and from the perspective of the 1990s it is all too easy to smile drily at the Utopian optimism informing Toller's work. But with a certain amount of historical imagination, it is not hard to see why, at the time, it should have made the impact that it did. First, it involves a carefully constructed series of vocal crescendos which culminate in two stanzas of Die Internationale sung jointly by performers and audience. Second, it involves a »Großen Chor«, situated, presumably in the middle of the stage of the Großes Schauspielhaus which projected far out into the audience, a »Chor aus der Tiefe«, a »Chor aus der Höhe«, a hidden »Stimme der Ferne« and sections of the »Großer Chor« speaking at various pitches. So, rather like a modern light-show, the audience was exposed to a variety of stimuli from various directions. Third, although Toller's rhythms and verbal devices are simple, they
65
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Ernst Toller: Der Tag des Proletariats: Dem Andenken Karl Liebknechts. Requiem den gemordeten Brüdern. 2 Chorwerke. Berlin: Verlagsgenossenschaft »Freiheit« 1920. Reproduced in: Wilfried van der Will and Rob Burns: Arbeiterkulturbewegung, vol. II, pp. 199-212. E. P.: Der Tag des Proletariats. In: DF, no. 493 (22 November 1920).
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frequently recall works with which ordinary people might be expected to be familiar from their schooldays: echoes of Goethes's Faust, Matthias Claudius's Abendlied, Paul Gerhardt's Abendlied and Joseph von Eichendorff's Mondnacht are particularly noticeable. And fourth, the work's message is simple and relies on one basic contrast: for centuries we have been enslaved, but the moment of »Weltengemeinschaft«, of justice and liberation, has arrived. The concept of »Gemeinschaft« almost certainly provides the major theoretical reason why Toller agreed so readily to try his hand at a new aesthetic form at Kestenberg's behest. For in the early 1920s this concept formed the theoretical basis of both Toller's aesthetico-political thinking and the so-called »Rätegedanke« - the system of government from the bottom up by means of a pyramid of councils or soviets - on which the USPD's revolutionary strategy was based. Indeed, a brief text, significantly entitled Das Gemeinschaftstheater, which Toller contributed to an anthology that appeared in 1921 to celebrate the 50th Anniversary of the Deutsche Bühnengenossenschaft, the actors' trade union, graphically illustrates the close connection between the idea of »Weltengemeinschaft« propagated by Der Tag des Proletariats, Toller's conception of the ideal theatre and Toller's conception of his rôle as a socialist dramatist. Here, he called for a »Gemeinschaftstheater« which would end the »chaotische[n] Wirbel verkriimmter, gebrochener, taumelnder Kräfte auf der Bühne des [zeitgenössischen] Theaters«, a state of affairs which, in his view, derived directly from the dependence of the contemporary stage on the »Waren- und Modemarkt«: Das Gemeinschaftstheater bezeichnet nicht nur ein Wirtschaftliches, es bezeichnet vor allem ein Seelisches und Geistiges. Gesinnung allein wird das Gemeinschaftstheater nicht schaffen. Nur Gemeinschaft, die l e b t , die i s t , wird es zeugen. Die Gemeinschaftsbühne hat ihre W u r z e l n in der Kultur eines Volkes, doch sie ist Organ der Kultur der Menschheit. Wie sie Haß- und Racheleidenschaften des einzelnen reinigen wird, wird sie die Haß- und Racheleidenschaften der Völker >reinigenDu bist verantwortlich für deinen Nächstens wird sie jedes Volk zur Kenntnis führen: >Du bis[t] verantwortlich für alle anderen Völker!< Wegweiser müssen und können heute schon geschaffen werden. Wann ersteht der internationale Ausschuß der Dichter, Hörer und Theaterleiter, der die Übersetzung reifer, menschlicher Werke in alle Kultursprachen veranlaßt, der die Werke den Bühnen der einzelnen Länder zur Aufführung übergibt? 67
As a prelude to Der Tag des Proletariats, Tilla Durieux, who would feature as one of the »Einzelstimmen«, had read (unspecified) »revolutionäre Dichtungen«; Alfred Wittenberg had performed two pieces for violin; the socialist educationalist Georg Engelbert Graf (1881-1952) had given an (unpublished) lecture on »das Wesen proletarischer Kunst«; and Arthur Crispien had given a speech in memory
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Ernst Toller: Das Gemeinschaftstheater. In: Max Hochdorf (ed.): Die Zukunft des deutschen Theaters. Berlin: Deutsche Bühnengenossenschaft 1921, p. 9.
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of Hugo Haase who had died a year previously (note 66). Crispien's speech has been preserved, probably in an extended form, and although at first sight there seems little connection between it and Toller's Sprechchorwerk, a more careful reading reveals a political sub-text which maps extemely well with both the theory behind the Proletarische Feierstunden and Toller's thinking on politics and aesthetics as that is set out in his Sprechchorwerk and Das Gemeinschaftstheater. Just as the USPD's Feierstunden derived from an aesthetic which was neither the individualistic, classically-derived aesthetic of Bildung espoused by the SPD (note 21) nor the propagandistic »Klassenkampfästhetik« which would be propounded by the KPD in 1922 (note 35), so Crispien presented the politics of the USPD as these were embodied in the life and thought of Hugo Haase as a non-violent, revolutionary middle way between the revisionism of the SPD - »den Verrätern der Revolution« - and the violent putschism of the KPD - »den Eseln der Revolution«. 68 Indeed, there is a very clear structural parallel between the Proletarische Feierstunden and the »Rätegedanke«, the most characteristic feature of the USPD's revolutionary strategy of which Crispien was a committed, albeit moderate proponent. Just as the aesthetic experience of »Gemeinschaft« was a foretaste of the redeemed, socialist »Gesellschaft«, so non-violent political activity through the »Räte« would, in theory at least, form a firm basis for an eventual bloodless seizure of power by the revolutionary proletariat. Der Tag des Proletariats was repeated at least once, on 12 December 1920, but then the organizers of the Feierstunden decided to stage Schönlanks Sprechchorwerk Erlösung on 16 and 30 January 1921. 69 Once again Margarete Wellhoener directed the performance, but this time she, not Durieux, and Hans Siemsen (1891-1969) 7 0 played the two leading single parts.71 On the first occasion 68
Arthur Crispien: Hugo Haase zum Gedenken. In: DF, no. 476 (11 November 1920). In this connection it is worth citing a letter from Heinrich Ströbel ( 1 8 6 9 - 1 9 4 4 ) to Paul Ernst ( 1 8 6 6 - 1 9 3 3 ) of 1 April 1919 to be found in the Deutsches Literaturarchiv (Marbach/Neckar). In this letter (which was written when Ströbel was still a prominent member of the U S P D - he rejoined the SPD after the Leipzig Party Conference 30 N o v e m b e r - 6 December 1919 because he did not agree with the USPD's new Aktionsprogramm), Ströbel describes a book which he is about to publish with the Paul Cassirer Verlag (Die erste Milliarde der zweiten Billion): »Es wirbt [ . . . ] für einen Kultursozialismus gegenüber dem rohen und brutalen System Noske [i.e. the SPD] und dem in seiner Art nicht minder mechanistischen und rohen Rätesystem nach russischem Muster«.
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According to Clark (note 5, pp. 5 0 - 5 1 ) , Schönlank had been a member of the U S P D from 1918 to Spring 1919 and then went over to the KPD. This possibly explains why Erlösung was reviewed in the Communist press ([o.V.]: Weihespiel im Großen Schauspielhaus. In: DrF, no. 52 (1 February 1921)). Nevertheless, even during a period when the parties of the Left spent as much time fighting each other as their common enemies on the Right, Schönlank seems not to have minded his poetry being used by the USPD in 1920 and subsequently even, by the SPD.
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Hans Siemsen was a brother of the USPD's leading educationalist Anna Siemsen-Vollenweider ( 1 8 8 2 - 1 9 5 1 ) and an actor, cabarettist and writer. As a collaborator of Felix Stößinger, he regularly contributed articles from Spring 1919 to Die Freiheit (see Ri-
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Crispien gave a speech in memory of »den Opfern der Revolution«; Wellhoener recited two (unspecified) poems by Schönlank and two (unspecified) poems written in prison by Liebknecht; Sidney Biden (no details available) sang Beethoven's setting of An die Hoffnung (Op. 32) from August Tiedge's (1752-1841) Urania (1800), a philosophical poem on the theme of immortality; Alfred Wittenberg played an (unspecified) violin solo; Konrad Löwe played (unspecified) pieces on the organ and various male voice choirs also took part.72 And on the second occasion, »dem 30jährigen Bestehen der Arbeiterbildungsschule Berlin gewidmet«,73 Felix Stößinger gave »einen kurzen Abriß der Geschichte der Arbeiterbildungsschule und schilderte ihre Bedeutung für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse« and the massed choirs sang Schubert's Litanei (1816, D 343). No further details are available, but it is worth recordingt that Scherchen does not seem to have taken part in either performance. Although the anonymous reviewer of the two January performances was dutifully positive (notes 72 and 73), his tone was markedly less enthusiastic than that of »E. P.« (note 66). Indeed, after the second event he was actually downright critical of the programme: »Schuberts Litanei [a setting of a poem by Johann Georg Jacobi (1740-1814) for All Soul's Day] paßte entschieden nicht in eine proletarische Feier dieses Charakters, und es war verfehlt, die Rezitationen ausschließlich mit Gedichten, die den Wert der Bildung preisen, zu bestreiten.« Clearly, these two Feierstunden had failed to realize their proper aim. On the one hand they were failing to create the desired sense of revolutionary »Gemeinschaft« and on the other they were erring on the side of didacticism and so, by implication, beginning to resemble a cultural event organized by the SPD: »Sollen die Feierstunden bleiben, was sie waren, dann muß bei der Auswahl des Programms Wert darauf gelegt werden, daß Einseitigkeit nicht zur Erstarrung führt« (note 73). This relative failure may have had something to do with Schönlank's Sprechchorwerk, for although its designation as a »Weihespiel« indicates that it was conceived as a quasi-liturgical work,74 it was the author's first attempt to write anything other than lyric poetry and it lacks the theatricality of Toller's piece.
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chard Sheppard: Avantgarde und Arbeiterdichter in den Hauptorganen der deutschen Linken 1 9 1 7 - 1 9 2 2 . Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1995). C.f. [o.V.]: Proletarische Feierstunden. In: DF, no. 14 (10 January 1921) where it was announced that on 16 January the two leading roles would be played by Durieux and Lothar Miithel ( 1 8 9 6 - 1 9 6 4 ) . Müthel would play a leading role in the Proletarische Feierstunden over the next two years. From 1920 to 1939 he worked as an actor and director in the Berliner Theater and it was almost certainly due to this connection that several actors and actresses engaged by this Theatre took part in the Proletarische Feierstunden from 1921 to 1923. E. R.: Proletarische Feierstunden: Im Großen Schauspielhaus. In: DF, no. 26 (17 January 1921). E. R.: Proletarische Feierstunden. In: DF, no. 50 (31 January 1921). Bruno Schönlank: Erlösung: Ein Weihespiel. Berlin: Verlag A. Seehof & Co. 1920.
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Although Erlösung proclaims a message which is similar to that of Der Tag des Proletariats - a new, redeemed »Reich« is emerging with the power of an elemental force of Nature out of the oppression of the present - it is inferior to Toller's piece in several respects, some of which were identified at the time by the anonymous reviewer of the KPD's Die rote Fahne (note 69). To begin with, Schönlank made far lesse use of choirs, much more use of individual voices and no use whatsoever of »Teilchöre« or split choirs. Second, Schönlank had less of a feel for dramatic effect than Toller with the result that his work is more static, with little or no sense of controlled crescendo. Third, the quasi-liturgical register in which the words are cast and the rhythms of the poetry are much more uniform and less differentiated than was the case with Toller's work. Fourth, there is often a strange tension between the high cultic register of the words and the Knittelvers rhythms in which those words are cast. Thus: Wir sehen einen lichten Kranz. Der Heiland geht in seinem Glanz.
Or: Die Mauer wankt, es bricht das Tor, Der Freiheit Sonne leuchtet vor.
Fifth, metrical irregularities, more acceptable in lyric poetry to be read privately than in Sprechchorwerke to be recited aloud, often make passages difficult to recite. Thus: Die Erde stand in Blüte Und reifte jedes Jahr. Wir gingen, eine müde Und sehnsuchtsstumpfe Schar. Wir mußten uns vermählen Mit Erz und Stein, Die zogen unsre Seelen In sich hinein.
The regular rhythms of lines one to five set up the clear expectation that lines six and eight will be trimeters, so that when one stressed syllable is unexpectedly missing from those lines, the voice falters and the rhythm is broken. As »E. R.« noted (note 72): »Schönlanks Chöre sind liedartig geschrieben, bieten also den Sprechern weit größere Schwierigkeiten«. Sixth, the diction is occasionally much more abstract and literary, much less colloquial than that of Toller's first work. What for example would a relatively unlettered audience have made of the lines: Du ganz Verwobensein Und doch Enthobensein.
Finally, where Toller's work had c u l m i n a t e d in Die Internationale, Schönlank simply used its tune, played on a solo organ half-way through the work, and so, in contrast with Toller, failed to exploit the opportunity for mass audience
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participation. By creating a controlled crescendo, Toller must have stoked up his audience's desire to take part in the dynamic theatrical event and then enabled them to do just that by placing Die Internationale where he did. Schönlank, however, could not have drawn his audience into his work to anything like the same extent. Consequently, any director who wanted to make Erlösung work according to the principles informing the USPD's Proletarische Feierstunden would have had to have been much more resourceful and experienced than Wellhoener - who was primarily an actress and, judging by the absence of information about her, not a particularly successful one at that. When the USPD's early Proletarische Feierstunden were successful, they were clearly strikingly successful, but the success was not uniform - which almost certainly explains why the Feierstunden originally planned for 13 and 27 February 1921 75 probably never materialized. Certainly, no reports on them appeared in the USPD press and with the exception of the report in Die rote Fahne detailed in note 69, the rest of the Berlin press ignored the USPD's early ventures into political aesthetics. So after the less than total success of the Feierstunde of 30 January (which concluded the 1920-1921 season), the organizers seem to have realized that they needed to take stock, learn from their mistakes and make more use of new talent. Although it is hard to prove conclusively, it seems that Stößinger, the editor of Die freie Welt (the illustrated weekly supplement of Die Freiheit), contributed his thinking to the production of the USPD's Feierstunden to an ever-increasing degree from late 1920 to early 1921 - i.e. at almost the exact juncture when he became responsible for the enlarged Feuilleton of Die Freiheit,76 His name had first appeared in connection with the Feierstunden when he gave a »kurze Erläuterung zu der Geschichte des tschechischen Volkes« at the one which took place on 5 September 1920 (note 63). But Stößinger, who had very obviously been deeply influenced by Eisner's thinking, was not just a public speaker like Crispien or Breitscheid. Rather, he was centrally concerned to evolve artistic forms which reconciled revolutionary fervour with secularized religiosity. Indeed, it was because of this concern that he published fourteen pieces from Arno Nadel's (18781943) Heiliges Proletariat in Die freie Welt between 1 November 1919 and 1 May 1920. 77 Consequently, Stößinger's review of Wilhelm Schmidtbonn's (1876-1952) adaptation (1919) of Arnoul and Simon Greban's Die Passion: Das Misterienspiel
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See the advertisement in DF, no. 64 (8 February 1921). [O.V.]: Zur Ausgestaltung der Freiheit. In: DF, no. 539 (18 December 1920). Here it is announced that Stößinger will take over as editor of DF's Feuilleton on 19 December 1920. Stößinger's contributions to Die Freiheit and Die freie Welt are listed in the Bibliography detailed in note 70. Arno Nadel: Heiliges Proletariat: Fünf Bücher der Freiheit und Liebe. Konstanz: O. Wöhrle 1924. Nadel, who published reviews of musical events in Die Freiheit as »A. N.«, was the Choir-master and Cantor at Berlin's Synagogue from 1916 to 1939 and murdered in Auschwitz.
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[sic] (1452) in Die Freiheit on 8 February 1921 and his inclusion there, on 9 February 1921, of an extract by Arthur Holitscher (1869-1941) on mass festal drama in the Soviet Union 7 8 are particularly significant. Although, according to Stößinger, Reinhardt's attempt to revivify the Mystery Plays of the Middle Ages was doomed to failure by its very nature, it showed by default the kind of work which he ought now to be staging in the Großes Schauspielhaus: »eine s o z i a l i s t i s c h e M a s s e n k u n s t « which enabled the audience to feel »einheitlich [...] und durch eine große religiös inbrünstige Ueberzeugung verbunden«, a »Gemeinschaftskunst« which was the »künstlerischefn] Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls«. 79 The success, especially among supporters of the Left, of Holländers production of Die Weber in late June 1921 must have reinforced the conviction of Stößinger and the other people behind the USPD's Proletarische Feierstunden about what was needed and could actually be achieved in Reinhardt's huge theatre. Thus, shortly afterwards, on 23 July 1921, an article, almost certainly by Stößinger himself, reiterated that the fundamental aim of the Proletarische Feierstunden was »nicht einem genießenden Publikum Kunstgenüsse zu servieren, sondern aus Künstlern und Hörern eine große gemeinsam fühlende Gesinnungsgemeinde zu schaffen«. 80 But then, significantly, it continued: [ . . . ] wenn diese schöne Absicht zuweilen [i.e. during the previous winter; my emphasis] Wirklichkeit wurde, so ist das wohl vor allem dem Sprechchor zu danken, der nicht durch Einzelleistungen, sondern als von einem gemeinsamen Gedanken und von gemeinsamen Gefühlen bewegte Masse der Zuhörerschaft nicht zum Genießen, sondern zum Erleben mitriß.
Consequently, the »künstlerische Ausschüsse« of the USPD decided to reconstitute the Sprechchor, but with the actor-director Albert Florath (1888-1957) (note 9) as its »künstlerischer Leiter« and with its tasks » e r w e i t e r t « . 8 1 Florath had joined the Königliches Hoftheater in Munich in 1908; had experience of organizing the extras in that same theatre when it became the Nationaltheater after the 1918 Revolution; may possibly have worked with Durieux when she gave guest performances there right at the beginning of 1919; and had come under the direct influence of Eisner during the same, brief period. Moreover, unlike Wellhoener, whose name now disappears from the press reports, he had had a year's experience as the Director of the Staatliches Schauspielhaus in Berlin (beginning on 1 May 1920). But even more importantly, on 3 January 1919, during a long debate 78
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Arthur Holitscher: Altes und Neues Massentheater II. In: DF, no. 66 (9 February 1921). This article had first appeared in Die neue Rundschau (32, no. 2 (February 1921), pp. 1 4 6 - 1 5 0 ) and would, a year later, form part of Holitscher's book Drei Monate in Sowjet-Rußland. It describes the mass theatrical event Die Erstürmung des Winterpalais which Meyerhold had staged in Petrograd on 7 November 1920 (see Hannelore Wolff: Volksabstimmung auf der Bühne, pp. 4 6 - 5 1 (note 5)). Felix Stößinger: Altes und Neues Massentheater I. In: DF, no. 64 (8 February 1921). [O.V.]: Ein neuer Sprechchor. In: DF, no. 340 (23 July 1921). [O.V.]: Unser neuer Sprechchor. In: DF, no. 352 (30 July 1921).
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on the arts in the Provisorischer Nationalrat des Volksstaats Bayern (i.e. the predecessor of the Landtag), Florath had delivered an impassioned speech on behalf of the Munich TJSPD (of which Toller, it will be remembered, was a leading member) in which he quite openly and explicitly committed himself to the USPD's »Rätegedanke«. 82 Thus, Florath was ideally suited not just to take control of a Sprechchor consisting of amateurs, but also to preside over a body whose very structure, as the article of 30 July 1921 (note 81) explicitly stated, was the embodiment of the USPD's »Rätegedanke«. Under its new Director, the USPD's Sprechchor would not just g e n e r a t e the experience of »Gemeinschaft« when it performed at a Feierstunde but be a self-administering »Arbeitsgemeinschaft«. Once structured thus, the article proclaimed, the Sprechchor would be able »bestimmte Aufgaben auch außerhalb der Proletarischen Feierstunden [zu] lösen«. Speaking in the Reichstag on 15 March 1921, a USPD Deputy, Dr. Kurt Löwenstein (1885-1939), had stressed the moral purpose of the Proletarische Feierstunden in a time of moral degeneracy. 83 And on 2 November 1921, Die Freiheit published a letter from a woman party member who attended the Feierstunden regularly in which the author, Luise Bötzer (no details available), confirmed that these events really did have such an effect. N o t only did »das s i t t l i c h e M o m e n t in hohem Maße zur Geltung [kommen]«, but the Feierstunden transformed this »Moment« into a »Kampfkraft«, compelled the audience »ein innerliches Gelöbnis abzulegen, seine Kraft, sein Leben für eine große Idee einzusetzen«. 84 Indeed, the Feierstunden were, by November 1921, becoming so successful that they provoded a violent attack on the USPD, themselves and the Directors of the Großes Schauspielhaus in the pages of the liberal-conservative newspaper Die Tägliche Rundschau: Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, hat die Direktion Holländer [i.e. of the Großes Schauspielhaus] ihren Verdiensten u m die kommunistische Aufhetzung der Massen neue hinzugefügt, und gerade im gegenwärtigen Augenblick wacht sie in treuer Sorge darüber, daß die U n t e r w ü h l u n g Deutschlands uns immer tiefer in die Sklavenketten des Auslands werfe. Es sind diesmal nicht die Kommunisten, sondern die etwas vorsichtigeren und darum etwas gefährlicheren Unabhängigen, denen sie zur Beförderung ihrer giftigen Agitation eine freundliche H a n d reicht. Das Unternehmen segelt nach der >Freiheit< vom 18. O k t o b e r unter der Flagge Proletarische Feierstunden