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German Pages 238 Year 2021
Achim Geisenhanslüke Der feste Buchstabe
Literalität und Liminalität | Band 30
Editorial Die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingt zugleich, dass die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift ineinander übergehen. Die Reihe Literalität und Liminalität trägt dem Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur ins Zentrum ihres Interesses rückt. Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.
Achim Geisenhanslüke, geb. 1965, lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Literaturtheorie und der europäischen Literatur vom 17.-21. Jahrhundert.
Achim Geisenhanslüke
Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur
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Inhalt
Einleitung ....................................................................9 Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik ........................ 15 1. Zwischen Buchstabe und Geist. Friedrich Schleiermachers Hermeneutik ................................ 15 1.1 Friedrich Schleiermacher und die moderne Hermeneutik.......... 15 1.2 Buchstabe und Geist bei Schleiermacher ........................ 22 1.3 Die Grenzen des Verstehens: Allegorische und kabbalistische Auslegung ...................... 26 2. Peter Szondi und die literarische Hermeneutik ......................... 30 2.1 Peter Szondi und die literarische Hermeneutik .................. 30 2.2 Verstehen verstehen. Werner Hamacher und die Selbstreflexion der Hermeneutik........................ 36 2.3 Literarische Hermeneutik nach Szondi .......................... 46 3. Pflege des Buchstaben. Dichtung und Übersetzung bei Friedrich Hölderlin....................... 55 3.1 Übersetzung, Sprache, Kultur. Zur Dialektik vom Eigenen und Fremden bei Hölderlin ............ 55 3.2 Hölderlin und die Wörtlichkeit ................................... 59 3.3 Klagegesang: Antigones Abschied ............................... 63 3.4 Der feste Buchstabe in der Übersetzung. Hölderlin und Sophokles ........................................ 68 Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit ........................... 77 1. Poetik des Buchstäblichen. Sigmund Freuds Hermeneutik ............... 77
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1.1 Von Schleiermacher zu Freud .................................... 77 1.2 Freuds Hermeneutik ............................................ 79 1.3 Blumen der Rede. Der Traum von der botanischen Monographie .. 87 1.4 Traumarbeit ................................................... 92 Der Accent der Liebe. Buchstäblichkeit bei Kleist ....................... 101 2.1 Freud und die Poetik der Buchstäblichkeit ...................... 101 2.2 Kleist und die Schrift. Der Griffel Gottes ......................... 104 2.3 Der Buchstabe, das Begehren und das Subjekt. Der Findling ......108 2.4 Buchstäblichkeit bei Kleist ...................................... 116 Das Drängen des Buchstaben. Lacans Sprachspiele .................... 118 3.1 Von Freud zu Lacan ............................................. 118 3.2 Die Sprache und das Unbewusste ............................... 122 3.3 Traumarbeit – Spracharbeit .................................... 126 3.4 Das Rätsel der Psychose ....................................... 133 3.5 Lacan und die Macht der Psychose ..............................136 3.6 Die Sprache der Paranoia ....................................... 141 3.7 Buchstäblichkeit und Paranoia .................................. 147 Deutungswahn. Buchstäblichkeit und Paranoia bei Immanuel Kant, Vladimir Nabokov und Thomas Pynchon ............ 150 4.1 Kant und der Deutungswahn des Wahnsinnigen.................. 150 4.2 Pale Fire. Vladimir Nabokov und die Paranoia der Philologie...... 155 4.3 Im Bann der Paranoia. Buchstäblichkeit bei Thomas Pynchon .... 162
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung .. 175 1. Kabbalistische Auslegung: Harold Bloom und Pierre Legendre ........... 175 1.1 Harold Bloom und die Kabbala .................................. 176 1.2 Verrücktes Interpretieren? Pierre Legendre ..................... 181 2. Sklaven des Buchstaben. Jacques Derrida und das Recht der Übersetzung .......................185 2.1 Von Übersetzern und Buchstabilisten ...........................185 2.2 Für eine Poetik der Übersetzung ................................186 2.3 Derrida und die Kritik des Eigenen .............................. 189 2.4 Zwischen Wort und Geist: Derrida und Hegel ..................... 192 2.5 Shakespeare und die List der Vergebung ........................ 196 2.6 Sklaven des Buchstaben? Übersetzung und différance .......... 203
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Unheimliche Übertragungen. Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit bei Paul Celan ...................... 205 3.1 Zwischen Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit .................... 205 3.2 Der irre Wind der Übertragung. Celan und Apollinaire ............ 210 3.3 Schmerz, ausbuchstabiert: Celans Dichtung ..................... 216 3.4 Für eine Poetik der Übersetzung ................................ 221
Literaturverzeichnis....................................................... 225 1. Quellen ............................................................... 225 2. Forschung............................................................ 227
Einleitung
»Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.«1 Unter dieser Maxime verband eine jahrhundertealte Tradition die Privilegierung des Sinns mit der Auslöschung seines materiellen Trägers. Der Zorn dieser Rebellion richtete sich gegen den noch älteren, religiösen Kult des Schriftzeichens, der sein Heil in der buchstäblichen Wiederholung und in der wörtlichen Bedeutung des Zeichens suchte. Übersetzer und Ausleger wissen, selbst wenn sie dagegen rebellieren, dass Buchstäblichkeit ein mächtiges Phantasma ist. Als »Buchstabilisten« verspottete Martin Luther die Verfechter einer möglichst wortgetreuen Bibelübersetzung. Im Deutschen, das im Unterschied zu vielen anderen Sprachen zwischen »Wörtlichkeit« und »Buchstäblichkeit« unterscheiden kann, fungiert das Wort »buchstäblich« als eine Art adverbialer Schwur, der den Wirklichkeitsbezug des Gesagten bezeugt. Nie scheint die Sprache den Tatsachen näher, als wenn sie buchstäblich wird – auch nicht dann, wenn sie etwas wörtlich wiedergibt. Darin steckt etwas vom kultischen Prestige des geschriebenen Buchstabens gegenüber dem gesprochenen Wort: …der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde
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2. Korinther 3,6. Die einleitenden Überlegungen zum Thema Buchstabe und Geist sind gemeinsam mit Martin von Koppenfels entworfen worden. Ihm sei an dieser Stelle für die vielen Anregungen gedankt, die die Studie in der Folge auszuarbeiten sucht.
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Der feste Buchstabe
Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.2 Pflege des festen Buchstaben und gute Deutung des Bestehenden – bei Hölderlin deutet sich der Umriss einer Dichtkunst ab, die zugleich Philologie ist und ihr Vorbild in einer am Buchstaben ausgerichteten Praxis der Verschriftlichung des Geistes findet. Dass der feste Buchstabe zugleich die Heilige Schrift ins Spiel bringt, ist ein Indiz für das komplexe Verhältnis von Buchstäblichkeit und Glaubensfragen. Häufig ist der Glaube im Spiel, wenn auf wörtlicher Auslegung bestanden wird – dort nämlich, wo es um heilige Texte geht. Das Beharren bestimmter protestantischer Gruppen auf dem vermeintlich sicheren Fundament der wörtlichen Lektüre steht historisch am Ursprung des Begriffs »Fundamentalismus«. Die Tatsache, dass Fundamentalisten unter Umständen bereit sind, diese Art der Lektüre mit Gewalt durchzusetzen, deutet sowohl auf den enormen Wert, der dem wörtlichen Sinn zugeschrieben wird, als auch auf seine Instabilität. Damit zeichnet sich eine kulturelle Allianz zwischen Wörtlichkeit und Gewalt ab, wohingegen die Allegorie traditionell der Kontemplation, ja der melancholischen Passivität zugeordnet wird, die in Hölderlins Gedichten ebenfalls ihren festen Ort hat. Der wörtliche Sinn ist eifersüchtig und ausschließlich, denn es kann immer nur einen geben; der allegorische dagegen grüblerisch und handlungshemmend, denn er führt zur verwirrenden Vervielfältigung der Bedeutungen. Wie immer das Verhältnis von buchstäblicher und geistiger Bedeutung zu akzentuieren ist: Das Buchstäbliche hat sich in der Geschichte als instabile Konvention erwiesen oder überhaupt zur Illusion verflüchtigt. In der Alltagssprache behauptet es sich jedoch als mächtiges Phantasma, dem ein Versprechen von Stabilität, Verlässlichkeit, Realität und Körperlichkeit innewohnt: das Versprechen, dass Wirklichkeit durch Buchstaben zu bewältigen sei. Die Auseinandersetzung mit der Buchstäblichkeit hat in der Geschichte der Poetik einen eigenen Ort. Das zeigt sich besonders deut-
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Friedrich Hölderlin, Patmos. In: Sämtliche Werke und Briefe I. Herausgegeben von Michael Knaupp, München 1992, S. 453.
Einleitung
lich in der Kritik, die sie in der Ausbildung der modernen Hermeneutik erfahren hat. Seit Schleiermacher bemüht sich die Hermeneutik, konzipiert als eine Kunstlehre des Verstehens, um die Sicherung des geistigen Sinns der mündlichen oder schriftlichen Rede. Die hermeneutische Auslegungskunst verbindet sich bei Schleiermacher mit einer scharfen Zurückweisung der allegorischen und einer noch schärferen der kabbalistischen Auslegung, da diese stets an den einzelnen Elementen eines Textes, den Zeichen, Buchstaben und Ziffern, kleben bleibe. Im 20. Jahrhundert hat die psychoanalytische Theorie gegen die von Schleiermacher eingesetzte Privilegierung des Sinnes Einspruch erhoben, bei Freud wie Lacan, der mit der Idee vom »Drängen des Buchstaben im Unbewußten« einen neuen Begriff von Buchstäblichkeit ins Spiel brachte, der nicht durch ein besonders stabiles Verhältnis von Zeichen und Bedeutung charakterisiert wird, sondern im Gegenteil Bedeutungen als bloße Epiphänomene scheinbar reiner Signifikantenbewegungen begreift. Ins Blickfeld rückten damit Elemente des Diskurses, deren Funktionieren weitgehend bedeutungsindifferent sind: Namen, Sprechakte sowie allgemein die »Materialität des Signifikanten«. Grundlage dieser neuen Perspektive auf das »buchstäbliche« Funktionieren der Sprache war die Freud’sche Hermeneutik, da sie einerseits das Misstrauen gegenüber konventionellen Bedeutungszuordnungen (»Dechiffriermethode«) geschürt, andererseits die Dynamik der unbewussten Zeichenverkettung an Phänomenen wie Wortspielen, Klangassoziationen, Witzen und logischem Widersinn (Verneinung, Ambivalenz, Gegensinn) vorgeführt hatte. So formiert sich von Freud bis zu Lacan und darüber hinaus ein Widerstand gegen die Privilegierung des Geistes im Denken des Idealismus, der ganz im Zeichen der Buchstäblichkeit steht. Der fest an die Materialität des Buchstabens gebundene Witz der Psychoanalyse hat in der Literaturwissenschaft ein breites Echo finden können. Eine starke Strömung innerhalb der Literaturwissenschaft setzt das Figurale, Metaphorische, Allegorische mit dem Literarischen schlechthin gleich. Für Harold Blooms Theorie der Dichtung als agonaler Traditionszusammenhang entspricht die figurale Lektüre dem Leben, die wörtliche dagegen dem depressiven Absturz in einen tödlichen Wiederholungszwang: »Tropes then are necessary errors about
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Der feste Buchstabe
language, defending ultimately against the deadly dangers of literal meaning.3 Setzt man sich diesen von Bloom als »tödlich« beschworenen Gefahren dennoch aus und löst den Blick einmal vom Figurativen, so kommen zwei Begriffe von Buchstäblichkeit in den Blick: auf der einen Seite eine semantische Buchstäblichkeit, die inmitten der Dissemination des Sinns auf einer privilegierten Beziehung von Zeichen und Bedeutung (der aristotelischen kyria léxis, dem sensus litteralis der Theologen) beharrt, so dass hier kritisch nach den diskursiven Mechanismen zu fragen ist, die solche Buchstäblichkeit in Diskursen des Rechts, der Wissenschaft oder der Religion durchsetzen. Und auf der anderen Seite eine performative Buchstäblichkeit, die auf der Macht des Signifikanten insistiert, gleichsam unterhalb der Architekturen des Sinns Tatsachen zu schaffen. Ein fetischistischer Abkömmling dieses Interesses am wirksamen Signifikanten ist die Inszenierung des materiellen Schriftzeichens im Zeichen einer graphischen Buchstäblichkeit, wie sie in literarischen Texten, etwa in Mallarmés schwarz-weiß konzipiertem Würfelwurf, als Signum der Moderne aufscheint. Die Literatur erweist sich als der Ort, an dem die unterschiedlichen Formen der Buchstäblichkeit, die semantische wie die performative, zur Darstellung kommen, ohne von vorneherein der Privilegierung des Geistes unterworfen zu sein, die Religion, Recht und Wissenschaft fordern. Die Arbeit geht dem Thema Buchstäblichkeit im Blick auf die unaufgelöste Spannung zwischen dem Buchstaben und dem Geist in Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur auf drei Ebenen nach. In einem ersten Schritt fragt sie nach der Bedeutung des Buchstäblichen in der Hermeneutik. Ausgehend von Friedrich Schleiermachers Privilegierung der Instanz des Geistes gegenüber der Ordnung des Buchstäblichen in Hermeneutik und Kritik, die in seiner Kritik der allegorischen wie der kabbalistischen Deutung zum Ausdruck kommt, nimmt die Untersuchung Peter Szondis Bemühungen um eine spezifisch literarische Hermeneutik in den Blick, in denen dem Buchstäblichen auf einer philologischen Grundlage eine weitaus größere Beachtung geschenkt wird als bei Schleiermacher. Was Buchstäblichkeit in der Hermeneutik, der 3
Harold Bloom, A map of misreading, Oxford 1975, S. 94.
Einleitung
Philologie und nicht zuletzt in der Dichtung selbst bedeutet, diskutiert die Untersuchung abschließend an Friedrich Hölderlins poetischen Arbeiten wie seinen Übersetzungen, in denen Buchstabe und Geist auf eine Weise aufeinandertreffen, die beiden Raum lässt. In einem zweiten Schritt widmet sich die Arbeit der bereits angesprochenen Präsenz des Buchstäblichen in der Psychoanalyse. Die epochemachende Begründung der Psychoanalyse bei Freud deutet sie als eine konsequente Weiterführung der Hermeneutik unter Einbeziehung der Ordnung des Buchstäblichen, die in der schon der Traumdeutung abzulesenden Aufmerksamkeit auf sprachliche Phänomene zum Ausdruck kommt. Lacans Weiterführung und Umdeutung von Freuds Ansatz im Zeichen der Idee vom »Drängen des Buchstabens im Unbewußten« öffnet den Blick auf die Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit des Signifikanten, die eine besondere Rolle in literarischen Texten spielt, wie sich am Beispiel Heinrich von Kleists zeigen lässt. Aber nicht nur das: Deutet sich schon bei Freud eine geheime Verbindung zwischen Buchstäblichkeit und paranoiden Formen der Wirklichkeitserfahrung an, so ebnet Lacans Interesse an der Psychose den Weg zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen Literatur und Paranoia, wie er exemplarisch in literarischen Texten von Vladimir Nabokov und Thomas Pynchon zum Ausdruck kommt. Der dritte Teil nimmt die Eingangsfrage nach dem Verhältnis von Buchstabe und Geist in der Hermeneutik auf, um den von Schleiermacher verschmähten Begriff der kabbalistischen Auslegung zum Ausgangspunkt einer Revision der christlichen Hermeneutik zu nehmen, die bei Harold Bloom und Pierre Legendre ansetzen kann und ihre Fortsetzung in Jacques Derridas Überlegungen zur Übersetzung findet. Wie Paul Celan in ähnlicher Weise wie Hölderlin zeigt, erweist sich der Zusammenhang von Übersetzung und Poesie in der Spannung zwischen Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit als das literarische Pendant zu der kabbalistischen Auslegung, um die sich eine Hermeneutik zu bemühen hat, die dem Buchstaben ein größeres Recht einräumt, als Schleiermacher und seine Gefolgsmänner es zu tun bereit waren. Das Ziel der Arbeit besteht nicht einfach darin, den Anspruch des Geistes durch den Hinweis auf die geheime Macht des Buchstaben zu
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Der feste Buchstabe
dekonstruieren. Die Studie versucht vielmehr den Raum zu ergründen, in dem literarische Texte und Übersetzungen sowie die ihnen korrespondierenden Auslegungspraktiken zusammenkommen, einen Raum kultureller Verhandlungen, in dem sich unterschiedliche Bedeutungszuweisungen überlagern, ohne doch ganz in der Ordnung des Buchstäblichen oder der des Geistigen aufzugehen.4 Der Raum zwischen dem Buchstaben und dem Geist erweist sich in der Hermeneutik, der Psychoanalyse wie der Literatur als ein Ort der Interaktion, an dem das Leben des Geistes nur zum Ausdruck kommt, wenn es den Buchstaben anerkennt und an seinem eigenen Leben partizipieren lässt.
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Vgl. Achim Geisenhanslüke (Hg.): Buchstäblichkeit. Theorie, Geschichte, Übersetzung, Bielefeld 2020.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
1.
Zwischen Buchstabe und Geist. Friedrich Schleiermachers Hermeneutik
1.1
Friedrich Schleiermacher und die moderne Hermeneutik
Dass Friedrich Schleiermacher bis heute als Begründer der modernen Hermeneutik gilt, ist keineswegs selbstverständlich. Denn wie schon Alex Bühler deutlich gemacht hat, liegen die lange Zeit vergessenen Grundlagen der Hermeneutik bereits in der Aufklärung, also vor Schleiermacher bereit: »Wie bislang in der einschlägigen Literatur nicht hinreichend betont worden ist, gehörten die methodischen Grundlagen der Interpretation zu den zentralen Themen des Denkens der Aufklärung.«1 Bühler moniert dementsprechend das Vergessen der spezifisch aufklärerischen Grundlagen der Hermeneutik: »In der Philosophiegeschichtsschreibung besteht die Tendenz, die Interpretationstheorien der Aufklärung zu vernachlässigen bzw. ganz außer Acht zu lassen.«2 Die Revision der Privilegierung Schleiermachers zum Begründer der Hermeneutik hat daher zu einem neu erwachten Interesse an der aufkläreri-
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Axel Bühler, Einleitung, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 111, hier S. 1. Ebd., S. 4.
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Der feste Buchstabe
schen Hermeneutik geführt.3 So betont auch Hans Werner Arndt, welchen Platz die Hermeneutik schon in der Aufklärung eingenommen habe. »In der rationalistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts kommt der Auslegungskunst oder Hermeneutik ein fester Platz im Rahmen der philosophischen Wissenschaften und insbesondere der philosophischen und allgemeinwissenschaftlichen Methodenlehre zu.«4 So wichtig die Korrekturen an der Inthronisierung Schleiermachers als dem Gründervater der Hermeneutik auch sein mögen: Sie können nicht vergessen machen, dass Schleiermacher eine Wende innerhalb der Hermeneutik vollzieht, die deren Selbstverständnis bis heute geprägt hat. Darauf hat Peter Szondi hingewiesen, um zugleich seinen eigenen kritischen Anschluss an Schleiermacher zu begründen. »Es bezeichnet d i e Wende in der Geschichte der Hermeneutik, wenn bei Ast und Schleiermacher als Gegenstand des Verstehens nicht mehr die Stelle oder die Schrift auftritt, die ihrerseits sich auf eine Sache beziehen, deren Erkenntnis sie darstellen und die letztlich das Ziel der 3
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»Und so entwickelte sich, teils aus Unkenntnis der hermeneutischen Tradition, teils aus dem Bemühen, Schleiermachers Verdienst in das hellste Licht zu setzen, eine noch bis in die jüngere Zeit fortlebende Klischeevorstellung, die in der Behauptung gipfelte, daß die Vorgänger Schleiermachers ›das Verstehen im ganzen unreflektiert‹ treiben und ›auch die Gründe für ihr Verfahren nicht angeben‹ können.« Werner Alexander, Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 8f. Hans Werner Arndt, Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus. In: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 12-25, hier S. 25. Aber nicht nur das: Im Blick auf den inneren Zusammenhang von Ästhetik und Hermeneutik lassen sich die Spur der Hermeneutik auch in die Kritik der Urteilskraft eintragen. Rudolf Makreel hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die reflexive Wende der dritten Kritik zugleich eine Wende zu einer interpretativen Verstehenslehre sei: »Das Werk wendet sich von den doktrinalen Ansprüchen bestimmender Urteilskraft in den beiden ersten Kritiken einer reflektierenden Urteilsweise zu, deren Funktion eher interpretativ als gesetzgebend ist.« Rudolf Makreel, Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn 1997, S. 15.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Auslegung ist, sondern der Autor selbst den Gegenstand des Verstehens abgibt. Strenggenommen tritt erst jetzt das Verstehen als hermeneutischer Akt in Erscheinung und verdrängt die Auslegung.«5 An die Stelle der traditionellen Textauslegung tritt bei Schleiermacher die – bis heute umstrittene – Frage nach dem Verstehen des Autors und seiner Intentionen. Szondi begreift Schleiermachers Leistung daher nicht einfach als eine Weiterführung der aufklärerischen Hermeneutik, wie sie Chladenius und Meier vorgelegt haben, sondern vielmehr als eine Zäsur innerhalb der Geschichte der Hermeneutik: »So ist Schleiermachers Hermeneutik von Anfang an nicht als Fortführung der traditionellen Hermeneutik, sondern als deren theoretische Begründung intendiert.«6 Szondi zufolge ist es der Versuch einer theoretischen Begründung der Hermeneutik, der Schleiermachers Anspruch definiert. Seitdem bildete die Hermeneutik für eine lange Zeit die Grundlage aller Interpretationsverfahren in den Geisteswissenschaften. Dass Szondi sich im Rahmen seiner Frage nach einer speziell literarischen Hermeneutik an Schleiermacher orientiert, ist allerdings gerade vor diesem Hintergrund erläuterungsbedürftig. Das gilt nicht nur im Blick auf die vor Schleiermacher existierenden Versuche einer Begründung der Hermeneutik im Kontext der Aufklärung. Darüber hinaus steht Schleiermachers eigener Entwurf einer allgemeinen, die einzelnen Disziplinen übergreifenden Hermeneutik zur Disposition. Wenn Szondi nach einer spezifisch literarischen Hermeneutik fragt, dann stellt er gerade jenen Universalitätsanspruch in Frage, den Schleiermachers Begründung einer allgemeinen Hermeneutik erhoben hatte. 5
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Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen. Band 5, hg. von Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt a.M. 1975, S. 143. Ähnlich urteil Hendrik Birus: »Seit Beginn des 19. Jahrhunderts läßt sich ein deutlicher Wandel im Verständnis von ›Hermeneutik‹ beobachten, und er ist entscheidend durch das Wirken Friedrich Schleiermachers geprägt worden.« Hendrik Birus, Einleitung. In: Hendrik Birus (Hg.): Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, Göttingen 1982, S. 5-14, hier S. 7. Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 159.
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Der feste Buchstabe
Der geläufigen Auffassung zufolge ist Schleiermachers epochale Leistung vor allem darin begründet, dass er eine allgemeine und von ihrem eigenen Anspruch her universale Hermeneutik schaffe, deren Grundlage die Idee der Hermeneutik als die Kunst bilde, »die Rede eines andern richtig zu verstehen«7 . Es ist die neue Verhältnisbestimmung der Begriffe des Verstehens und der Auslegung, die sich für Schleiermachers Modernität verantwortlich zeichnet. Mit der Unterteilung der Hermeneutik in die beiden Bereiche der grammatischen und der psychologischen Auslegung hat er eine Grundlage geschaffen, die das hermeneutische Denken bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmt. Unter dem Psychologischen versteht er die Sprache als das Instrument, durch dessen Hilfe der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt, unter dem Grammatischen dagegen wird die »Sprache insofern betrachtet, als sie das Denken aller Einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort für die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart.«8 Das Grammatische verkörpert den allgemeinen, das Psychologische dagegen den individuellen Aspekt der Sprache. Schleiermacher erkennt die Vollendung des Grammatischen im Klassischen, die des Psychologischen im Originellen, die Identität beider im Genialischen. Damit setzt er nicht nur in ähnlicher Weise wie Hegel in einer dialektischen Bewegung einen Vorrang der klassischen Kunstform ein, der die hermeneutischen Theorien bis ins 20. Jahrhundert begleiten wird. Das Verstehen definiert Schleiermacher in einer für die Syntheseanstrengungen des 19. Jahrhunderts charakteristischen Weise als das Zusammengehen von grammatischer und psychologischer Auslegung: »Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen).«9 Schleiermachers Ineinsführung der grammatischen und der psychologischen Auslegung ist in der auf ihn aufbauenden Geschichte der Hermeneutik allerdings nicht immer so klar befolgt worden, wie er es
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Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 75. Ebd., S. 79. Ebd.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
sich in Hermeneutik und Kritik gewünscht hatte. Auf keineswegs unproblematische Weise rückt in der Moderne vielmehr das Moment der psychologischen Auslegung in den Mittelpunkt. Die psychologische Auslegung hat Schleiermacher in die beiden Momente des Divinatorischen und des Komparativen unterteilt: »Die divinatorische ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht. Die komparative setzt erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche, indem mit andern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird.«10 Wie die grammatische und die psychologische Ordnung der Sprache, so sind auch die divinatorische und die komparative Auslegung eng miteinander verknüpft. Nicht nur verdankt sich die Sicherheit der Divination der Vergleichung. Zugleich verweist die komparative Auslegung auf die Divination zurück: »Das Allgemeine und Besondere müssen einander durchdringen, und dies geschieht immer nur durch die Divination.«11 Im Zusammenspiel von komparativer und divinatorischer Auslegung behält die Divination die Oberhand. Mit der psychologischen Auslegung rückt der Begriff der Divination in das Zentrum der Hermeneutik. Mit dem Begriff der Divination hat Schleiermacher einen der folgenreichsten, zugleich aber einen der umstrittensten Begriffe der Hermeneutik geprägt. Die zwiespältige Bedeutung der Divinationslehre für die moderne Hermeneutik hat schon Manfred Frank festgehalten: »Das Divinations-Theorem bezeichnet eines der heikelsten Themen seines Denkens und gewiß dasjenige, dessen wirkungsgeschichtliche Berühmtheit in der auffälligsten Disproportion zur Kenntnis seiner ursprünglichen und kontextgemäßen Bedeutung steht.«12 Die Bedeutung der Divination besteht in einer Form der Einfühlung in den individuellen Geist eines Autors. Damit scheint die Divination zunächst einzig das Moment des Individuellen abzudecken: »Die glückliche Ausübung der
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Ebd., S. 169. Ebd., S. 170. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1985, S. 314
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Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis.«13 Wie Frank betont, wäre es jedoch falsch, den Geltungsbereich der Divination auf die Ordnung des Individuellen einzuschränken. Vielmehr sei das Divinationstheorem »Ausdruck seiner Einsicht in die Irreduzibilität individueller Sinnstiftung auf das von der grammatischen Auslegung Erfaßbare.«14 Die Divination fördere demnach nicht, wie Schleiermacher immer wieder vorgeworfen wurde, eine psychologisch motivierte Einheit des Sinnes zutage, sie stelle diese Einheit vielmehr erst in der Differenz von Grammatik und Psychologie, von Allgemeinem und Individuellem her. Vor diesem Hintergrund deutet Frank Schleiermachers Lehre vom individuellen Allgemeinen als »geheime Interaktion zwischen der Individualität des Sinns […] und der Universalität der signifikanten Ordnung«15 : »Das Allgemeine (Identische) existiert nur als Einzelnes; aber es geht in ihm nicht unter; eine unüberschreitbare Barriere trennt es von der Bedeutung, die der Sinn ihm einschreibt, ohne seine Sphäre je zu erschöpfen (kein Einzelnes ist dem Sein adäquat). Das Sein kündigt sich vielmehr in der Tatsache des Streits als die permanente Alternative eines mit keiner Aussage einholbaren Anderen Sinns zu jeder individuellen Sinngebung (signification) an.«16 Im Rahmen seiner prinzipiellen Würdigung Schleiermachers geht Frank sogar so weit, dieser sei als »ein ›genetischer Strukturalist‹ avant la lettre«17 zu begreifen, da er mit der Verknüpfung von grammatischer und psychologischer Auslegung die Saussuresche Unterscheidung von langue und parole vorwegnehme. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Forderung nach einer »Rückbesinnung auf Schleiermacher«18 kommt Frank daher zu dem Schluss, der Schleiermacherschen Hermeneutik einen unbestreitbaren Vorrang vor der struktura13 14
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Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 81. Manfred Frank, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1990, S. 115. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 10. Ebd., S. 132. Ebd., S. 248f. Ebd., S. 14.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
listischen Sprachtheorie zuzusprechen. »Dabei stellt sich als Vorzug der Schleiermacherschen Position heraus […], daß sie die strukturalistische These eines Primats des Signifikanten vor dem Signifikat anerkennt«19 . Franks ambitionierter Rettungsversuch hat dazu beigetragen, viele Unklarheiten in der Rezeptionsgeschichte von Schleiermachers Theorie aus dem Weg zu räumen. Die stolze These, dass Schleiermacher neben der Begründung der Hermeneutik zugleich noch die Grundlagen der modernen Linguistik vorweggenommen habe, entspricht jedoch weniger dem Anspruch Schleiermachers als vielmehr dem Wunsch Franks nach einer Aufhebung des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heftig entbrannten Streits zwischen Hermeneutik und Strukturalismus auf dem Boden einer kritischen Revision Schleiermachers. So lässt die grundsätzlich berechtigte Würdigung Schleiermachers durch Frank einige kritische Fragen offen, die insbesondere die von Szondi monierte Definition der Hermeneutik als eine universale Lehre des Verstehens betreffen. Die Kritik zielt vor allem auf das von Schleiermacher angegebene Ziel der Auslegung, den Nachweis der Einheit von Autor, Werk und Leser. Wenn Schleiermacher den für die gesamte Geschichte der Hermeneutik folgenreichen Satz formuliert, »daß wir den Verfasser besser verstehen als er selbst, denn in ihm ist vieles dieser Art unbewußt, was in uns ein bewußtes werden muß«20 , dann gründet er die Kunst des Verstehens letztlich auf eine »Analogie zwischen der Kombinationsweise des Verfassers und der des Auslegers«21 . Aufgabe der hermeneutischen Interpretation sei es, nach dem Ideal der »Vollkommenheit des Verstehens«22 , »die wahre vollkommene Einheit des Wortes«23 und die »Einheit des Werkes«24 zu finden. Zwar hat Frank selbst die Invarianz des Werk-Begriffes bei Schleiermacher kritisiert. Dennoch weigert er sich, die hermeneutische Prämisse der Einheit von Autor, Werk, Leser endgültig aufzugeben. Nicht nur die Geschichte der Literatur von dem 19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 147. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 104. Ebd., S. 182. Ebd., S. 110. Ebd., S. 106. Ebd., S. 167.
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von Schleiermacher wie von Hegel gleichermaßen bevorzugten Ideal des Klassischen bis hin zu desintegrativen Formen der Moderne widerspricht der romantischen Suche der Hermeneutik nach der Einheit von Autor, Werk und Leser. Die Hermeneutik, wie sie Schleiermacher konzipiert hat, findet ihre Grenzen vielmehr an den Phänomenen, die sich nicht mehr durch den scheinbar selbstverständlichen Rekurs auf den scheinbar universalen Begriff des Verstehens einholen lassen. Dazu zählt auf besondere Weise die Ordnung des Buchstäblichen. Lesbar wird die Kritik an der Universalität des Verstehens, die in Schleiermachers Hermeneutik selbst bereits angelegt ist, an der Zurückweisung der allegorischen und der kabbalistischen Auslegung in Hermeneutik und Kritik.
1.2
Buchstabe und Geist bei Schleiermacher
Zu dem Versuch, die Hermeneutik als eine allgemeine Kunst des Verstehens zu begründen, deren Geltungsbereich sich auf Theologie, Philosophie und Literatur gleichermaßen erstreckt, steht die Buchstäblichkeit in einer geheimen Spannung. Am Buchstaben droht der Universalanspruch des Geistes zu zerschellen. Was damit in Frage steht, ist der zentrale Anspruch der Hermeneutik in den Geisteswissenschaften. Als theoretische Grundlage ist ihr Ort zugleich ein prekärer. Schon Schleiermacher selbst weist vor diesem Hintergrund auf die Probleme hin, die mit dem Begriff der Hermeneutik verbunden sind. »Es ist schwer, der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort zuzuweisen.«25 Die Schwierigkeiten, einen allgemeinen Begriff der Hermeneutik zu etablieren, sind mehrfacher Natur. In Frage steht zum einen das Verhältnis der allgemeinen Hermeneutik zu den in der Geschichte fest etablierten speziellen Formen der hermeneutica sacra und der hermeneutica profana in der Theologie und der Rechtswissenschaft. Darüber hinaus stellt sich für die Literaturwissenschaft die Frage, was sich ändert, wenn nicht mehr heilige oder profane Gesetzestexte zum Gegenstand der Auslegung genommen werden, sondern poetische Texte: Was folgt 25
Ebd., S. 75.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
für die Hermeneutik, wenn es nicht länger um die Bibel oder Justinian geht, sondern um Homer, Ovid oder Goethe? Ein zweites Problem stellt die innere Verbundenheit der Hermeneutik mit Logik und Grammatik dar. Für die von Aristoteles in De interpretatione etablierte Unterordnung der Hermeneutik unter die dialektische Logik interessiert sich Schleiermacher kaum, sehr wohl aber für den Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Grammatik. Nicht umsonst stellt die grammatische Auslegung eine der beiden Säulen seiner allgemeinen Hermeneutik dar. Wenn Schleiermacher die Hermeneutik einleitend als »die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen«26 definiert, dann greift er auf eben das Kriterium zurück, das dem Wissen der Grammatik zukommt: die Frage nach dem richtigen Sprachgebrauch innerhalb eines kodifizierten Systems von Regeln.27 »Wie Hermeneutik und Kritik zusammengehören, so beide mit der Grammatik«28 , stellt Schleiermacher fest, um im Verweis auf die bereits vorliegenden Entwürfe zu einer allgemeinen Hermeneutik bei Wolf und Ast zugleich zu betonen: »Hermeneutik und Kritik sind nur mithilfe der Grammatik ausführbar und beruhen auf derselben. Aber die Grammatik ist wieder nur mittels jener beiden aufzustellen, wenn sie nicht den schlechtesten Sprachgebrauch mit dem klassischen und allgemeine Sprachregeln mit individuellen Spracheigentümlichkeiten vermischen will. Die vollkommene Lösung dieser dreifachen Aufgabe ist nur in Verbindung miteinander approximativ möglich in einem philologischen Zeitalter, durch vollkommene Philologen.«29 In Hermeneutik und Kritik verkörpert das philologische Zeitalter eine Utopie, die auf der wechselseitigen Durchdringung von Hermeneutik, Kritik und Grammatik beruht. Dennoch sind damit nicht alle Probleme gelöst. Eine auffällige Leerstelle innerhalb von Schleiermachers Entwurf einer allgemeinen Hermeneutik markiert die Frage nach dem Ort von Rhetorik und Poetik. 26 27 28 29
Ebd., S. 71. Zur Grammatik vgl. Robert Stockhammer, Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution, Berlin 2014. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 71. Ebd., S. 71f.
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Der feste Buchstabe
Schon bei Quintilian stellt sich ja die Frage, wie sich die von der Grammatik geforderte Sprachrichtigkeit zur Figuralität dichterischen Sprechens als einer legitimen Form der Abweichung vom richtigen Reden verhält.30 Schleiermacher selbst ist offenbar nur dazu bereit, solche Abweichungen zu tolerieren, solange sie sich mit seinen Leitbegriffen des Klassischen, Individuellen und Genialischen vereinbaren lassen. Jean Paul etwa rügt er ausdrücklich, da dieser »wegen der häufigen Ausdrücke aus speziellen Gebieten nicht auf Klassizität Anspruch machen.«31 Jean Pauls Sprachartistik, die nicht zuletzt auf der enzyklopädeischen Einbeziehung von Fachvokabular aus unterschiedlichsten Wissensbereichen beruht und die gerade auf diesen scheinbar antiklassischen Grundlagen in der Moderne ein vielfältiges Echo bei Autoren wie Paul Celan oder Thomas Kling hat finden können,32 markiert aus der grammatischen Perspektive, deren Leitfaden die Suche nach Klassizität ist, ein nicht tolerierbares Extrem. In Schleiermachers Affekt gegen Jean Pauls anti-klassische Sprachartistik kommt aber noch etwas anderes zur Sprache: das schwierige Verhältnis, das die Hermeneutik grundsätzlich zur Ordnung des Buchstäblichen einnimmt. Auf zwei Ebenen durchkreuzt das Buchstäbliche Schleiermachers Vorhaben: zum einen im Blick auf eine Literatursprache, die in ihrer Fixierung auf den materiellen Träger die geistige Grundlage jeder Bedeutung zu verfehlen droht, zum anderen im Rahmen einer theologischen Auslegungskunst, die sich in den Elementen und Zeichen der Rede zu verlieren scheint. Beiden, der Literatursprache, die auf den Buchstaben als dem ihr zugrundeliegenden Sprachmaterial insistiert, als auch der Auslegungskunst, die manisch am heiligen Text kleben bleibt, wirft Schleiermacher den gleichen Fehler vor: die Auflösung der Einheit von Denken und Sprechen, auf der die philosophische Begründung der Hermeneutik letztendlich beruhe: »Da Kunst zu reden und zu verstehen (korrespondierend) einander gegenüberstehen, reden
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Vgl. Robert Stockhammer, Grammatik, S. 45f. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 103. Zum Begriff artistischer Enzyklopädik vgl. Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
aber nur die äußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammenhang mit der Kunst zu denken und also philosophisch.«33 Philosophisch nennt Schleiermacher die Hermeneutik, da sie davon ausgeht, dass jedes Reden auf ein ihm vorausgehendes Denken verweist, das Denken demzufolge die Grundlage der Sprache bildet: »Das Denken wird durch innere Rede fertig, und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst«34 , hält Schleiermacher fest. Er scheint damit in vollem Umfang zu bestätigen, was Jacques Derrida im Blick auf seine neue Wissenschaft der »Grammatologie« den Phonozentrismus des abendländischen Denkens genannt hat. Für Schleiermacher jedenfalls ist evident, dass die innere Rede der Ort ist, an dem das Denken eine Kontur gewinnt, die nichts als der »gewordene Gedanke selbst« sein soll. Schleiermachers philosophische Hermeneutik öffnet so gerade im sprachzugewandten Begriff der grammatischen Auslegung eine Kluft zwischen dem Buchstaben und dem Geist, die für sie nicht mehr aufhebbar ist: Wer, wie bestimmte Formen der Literatur, mit dem Sprachmaterial nur zu spielen scheint, oder wer, wie bestimmte Formen der Auslegung, am materiellen Wert des Buchstabens hängen bleibt, für den ist der Geist in unendliche Ferne gerückt. Und nur aus dieser einseitigen Perspektive heraus ist umgekehrt die Idee einer Grammatologie möglich, die sich als Korrektur an den idealistischen Prämissen einer ganz am Geist ausgerichteten Philosophie begreift, um die Kluft zwischen dem Buchstaben und dem Geist letztlich aus der umgekehrten Perspektive zu bestätigen. Die allzu berechtige Kritik an der einseitigen Orientierung der durch Schleiermacher in Szene gesetzten Hermeneutik droht so, insgeheim die von ihr kritisierten Prämissen zu bestätigen, da sie die Trennung von Buchstabe und Geist ebenso zugrunde legt wie die Hermeneutik – in dem einen Fall durch die Privilegierung des Geistes vor dem Buchstaben, in dem anderen in der des Buchstabens vor dem Geiste. Wie aus dieser wenig ertragreichen Ausgangssituation, die die literaturtheoretischen Debatten des ausgehenden zwanzigsten
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Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 76. Ebd., S. 76.
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Der feste Buchstabe
Jahrhunderts lange bestimmte, herauszukommen ist, muss offen bleiben, solange das Verhältnis von Buchstabe und Geist nicht anders denn als scheinbar unaufhebbare Differenz verstanden wird. Was damit in Frage steht, ist eine Form der Hermeneutik, die den beiden Momenten des Buchstabens und des Geistes gleichermaßen Rechnung trägt und so der Gefahr entrinnt, in der Privilegierung des Sinns die Materialität des Zeichens zu vernichten oder jede Form der Bedeutung in den Abgrund der unhintergehbaren Zeichenhaftigkeit allen Denkens zu versenken.
1.3
Die Grenzen des Verstehens: Allegorische und kabbalistische Auslegung
Die Kritik einer auf Buchstäblichkeit dringenden Literatursprache, wie sie exemplarisch an der festzumachen ist, die Jean Paul in Hermeneutik und Kritik erfährt, verbindet Schleiermacher mit einer vehementen Kritik jener Formen der Auslegung, die gegen den von ihm vorausgesetzten Primat des Geistes verstoßen. In den Blick rückt so zunächst die allegorische Auslegung. Unter ihr versteht Schleiermacher eine Interpretation, »welche, wo der eigentliche Sinn in den unmittelbaren Zusammenhang fällt, doch neben demselben noch einen uneigentlichen annimmt.«35 Was Schleiermacher an der allegorischen Auslegung kritisiert, ist das beständige Schielen des Exegeten nach einer uneigentlichen Bedeutung der Rede. Er wehrt sich damit keineswegs gegen die Auffassung, dass es einen solchen zweiten und in gewisser Weise uneigentlichen Sinn nicht geben könne. Im Gegenteil: »Man kann sie nicht mit dem allgemeinen Grundsatz abfertigen, daß jede Rede nur Einen Sinn haben könne, so wie man ihn gewöhnlich grammatisch nimmt. Denn jede Anspielung ist ein zweiter Sinn, wer sie nicht auffaßt, kann den Zusammenhang ganz verfolgen, es fehlt ihm aber doch ein in die Rede gelegter Sinn. Dagegen war eine Anspielung findet, welche nicht hineinlegt ist, hat immer die Rede nicht richtig ausgelegt.«36 In Anlehnung an die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn ist Schleiermacher 35 36
Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 85. Ebd.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
durchaus dazu bereit zuzugestehen, dass jede Rede mehr als nur einen Sinn haben könne. Er macht das insbesondere an dem Begriff der Anspielung fest, der auf einen zweiten, mit der Rede verbundenen Sinn ziele. Aber er sieht zugleich zwei Gefahren für die von ihm geforderte Kunst der Auslegung. Die eine besteht darin, Anspielungen gar nicht als solche zu erkennen, so dass eine wesentliche Dimension der Rede dem Ausleger verborgen bleibt. Die andere besteht darin, dort Anspielungen zu erkennen, wo gar keine vorhanden sind. Wo die erste Auffassung ein naives Verstehen verkörpert, das sich nicht vorstellen kann, dass mit einer Rede noch ein zweiter Sinn verbunden sein kann, da manifestiert sich in der Vorstellung, bei allen sprachlichen Äußerungen könne es sich um Anspielungen auf einen geheimen Sinn handeln, um ein Missverstehen, das sich bis zum Wahn steigern kann – einem Deutungswahn, der in die Geschichte als Ausdruck einer paranoiden Unvernunft eingegangen ist, die zugleich eine therapeutische Behandlung vonnöten macht, für die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die neue Wissenschaft der Psychoanalyse verantwortlich zeichnet, um zugleich neue Formen der Auslegung zu entwickeln, die mit denen der philosophischen Hermeneutik nicht vorbehaltlos zu vereinbaren sind. Berechtigt ist die allegorische Auslegung für Schleiermacher dagegen dort, wo sie sich mit dem Primat des Geistes verbinden lasse. Das ist Schleiermacher zufolge allein in der Bibelexegese der Fall. Dort zeige sich die allegorische Auslegung als Möglichkeit, die unterschiedlichen Formen des Alten und des Neuen Testaments miteinander zu verbinden. Schleiermacher kann sich in diesem Zusammenhang wiederum auf die traditionelle Auffassung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn berufen, der zufolge das Allegorische die Überführung der Figuren des Alten Testaments in die eine Heilsfigur des Neuen Testaments leiste. Darüber hinaus garantiere die allegorische Auslegung im Blick auf die Frage nach dem Verfasser des Neuen Testaments jene Einheit, die aus der Perspektive einer historisch verfahrenden Philologie gerade in Frage stehen muss: »Dann aus der hier noch mehr als beim A. T. ausgebildeten Vorstellung, den heiligen Geist als Verfasser anzusehen. Der heilige Geist kann nicht gedacht werden als ein zeitlich wechselndes einzelnes Bewußtsein. Daher auch hier die Neigung, in jedem alles zu
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finden. Allgemeine Wahrheiten oder einzelne bestimmte Vorschriften befriedigen diese von selbst, aber das am meisten Vereinzelte und an sich Unbedeutende reizt sie.«37 Die allegorische Auslegung reagiert auf die Frage, wer der Verfasser der Bibel sei, mit dem Hinweis auf die Präsenz des Heiligen Geistes in der Schrift, zu der sich selbst das scheinbar Unbedeutende noch in Verbindung setzen lasse. Im Neuen Testament erfüllt die allegorische Auslegung so die Sicherung des christlichen Heilssinns, indem sie zeigt, »daß, wenn auch die Verfasser tote Werkzeuge gewesen wären, der heilige Geist durch sie doch nur könnte geredet haben, so wie sie selbst würden geredet haben.«38 Mit der Rede von den toten Werkzeugen und dem heiligen Geist greift Schleiermacher die Spannung zwischen dem Buchstaben und dem Geist auf, die schon das Matthäus-Evangelium gepredigt hatte. Wie er deutlich macht, gelingt es dem Geist, selbst den scheinbar unbeseelten Buchstaben des Alten Testaments noch zu verlebendigen. Der heilige Geist, der das Neue Testament an allen Stellen durchweht, ist dazu in der Lage, jene Einheit zu gewähren, um die es auch der allegorischen Auslegung gehen muss, will sie sich nicht in sinnlosen Abstürzen der Bedeutung verlieren. Auch für diesen Fall, den vollständigen Absturz der Bedeutung im Abgrund der Sinnlosigkeit, hat Schleiermacher jedoch vorgesehen. Er findet ihn in der kabbalistischen Auslegung. Im Unterschied zur allegorischen Auslegung hat er über sie nichts Gutes zu berichten: Die schlimmste Abweichung nach dieser Seite hin ist die kabbalistische Auslegung, die sich mit dem Bestreben, in jedem alles zu finden, an die einzelnen Elemente und ihre Zeichen wendet. – Man sieht, was irgend einem Bestreben nach noch mit Recht Auslegung genannt werden kann, darin gibt es keine andere Mannigfaltigkeit als die aus den verschiedenen Verhältnissen der beiden von uns aufgestellten Seiten.39 37 38 39
Ebd. »Wenn die philologische Absicht dies verkennt, vernichtet sie das Christentum«, notiert Schleiermacher daher. Ebd., S. 126. Ebd., S. 87. Ebd.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Wo die allegorische Deutung in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament ihre grundsätzliche Berechtigung findet, solange sie auf die einheitsstiftende Instanz des Heiligen Geistes bezogen werden kann, da führt die kabbalistische Auslegung nur in die Irre. Als schlimmste Abweichung bezeichnet Schleiermacher sie, da sie sich an den einzelnen Elementen und Zeichen der Rede aufhält und darüber das Ganze aus den Augen zu verlieren droht. Indem sie sich auf den bloßen Buchstaben konzentriert, löst die kabbalistische Auslegung die Verbindung zwischen den materiellen Trägern der Schrift und ihrer Bedeutung, um im scheinbaren Tiefsinn der Schriftgelehrtheit melancholisch abzustürzen. Was die kabbalistische Auslegung durch ihr Verfahren in Frage stellt, ist »die Wirksamkeit des heiligen Geistes vom Entstehen des Gedankens bis auf den Akt des Schreibens«40 . Aus der Kunstlehre der Hermeneutik, wie Schleiermacher sie entwirft, bleibt die kabbalistische Auslegung daher ausgeschlossen. Schleiermacher entwirft damit ein grundlegend zwiespältiges Bild der Hermeneutik. Der dialektischen Verknüpfung von grammatischer und psychologischer Auslegung auf der einen Seite stehen auf der anderen Seite die Ausgrenzung der allegorischen und vor allem der kabbalistischen Auslegung als defiziente hermeneutische Auslegungsformen gegenüber. Insbesondere in der scharfen Abwertung der kabbalistischen Auslegung bestätigt Schleiermacher zugleich den in der Bibel verankerten Vorrang des Geistes vor dem Buchstaben. Zwar erlaubt es die allegorische Auslegung, das messianische Heilsversprechen des Alten Testaments in das apostotelische Modell des Neuen Testaments zu überführen. Außerhalb der figuralen Verknüpfung des Alten und des Neuen Testaments hat die allegorische Auslegung jedoch keine Berechtigung. Im Unterschied zu ihr markiert die kabbalistische Auslegung daher eine nicht tolerierbare Abweichung innerhalb der Hermeneutik, in der sich zugleich die Kritik der protestantischen Philosophie und Theologie einer spezifisch jüdisch konnotierten Reduktion von Sprache auf das Moment der Buchstäblichkeit bemerkbar macht. Schleiermacher bestätigt so die Privilegierung des Geistes gegenüber dem Buch40
Ebd.
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Der feste Buchstabe
staben, die das philosophische Denken des deutschen Idealismus wie der Romantik in der Anknüpfung an Platon und das Neue Testament insgesamt kennzeichnet. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, ob sich die Hermeneutik im Allgemeinen und die literarische Hermeneutik im Besonderen mit dieser Ausgangssituation einfach zufrieden geben kann. Eine Antwort auf diese Frage, die den beiden Extremen einer Privilegierung des Geistes vor dem Buchstaben oder des Buchstaben vor dem Geiste widersteht, indem sie zwischen ihnen zu vermitteln sucht, hat Peter Szondi gesucht. Sein Versuch einer modernisierenden Anknüpfung an Schleiermacher geht mit einer Korrektur der allzu einseitig nach dem Moment des Geistes ausgerichteten Prämissen der philosophischen Hermeneutik einher, innerhalb derer die Buchstäblichkeit einen eigenen Platz finden soll, ohne doch den Sprung in den Abgrund des Sinns zu begründen, den die neue Wissenschaft der Grammatologie zu vollziehen bereit ist. Szondi kann daher als Ausgangspunkt für die Frage nach einer Form der Hermeneutik dienen, die dem Buchtstaben gerecht zu werden versucht, ohne den Geist zu verraten.
2.
Peter Szondi und die literarische Hermeneutik
2.1
Peter Szondi und die literarische Hermeneutik
»Literarische Hermeneutik ist die Lehre von der Auslegung, interpretatio, literarischer Werke. Obwohl Hermeneutik die Philosophie und, als Selbstreflexion, die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert in hohem Maß geprägt hat, kann die Frage, ob es die Disziplin, in die hier eingeführt werden soll, heute gibt, nicht ohne weiteres bejaht werden.«41 Mit diesen Worten beginnt Peter Szondi seine Vorlesung zur Einführung in die literarische Hermeneutik an der Freien Universität Berlin aus dem Wintersemester 1967/1968. Szondi bestimmt die Hermeneutik dort einleitend durchaus in traditioneller Weise als Lehre von 41
Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 9.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
der Auslegung, um zugleich eine Korrektur vorzunehmen. Ihm geht es nicht um einen philosophischen Begriff der Hermeneutik, wie ihn im 20. Jahrhundert vor allem Dilthey, Heidegger und Gadamer geprägt haben. Im Mittelpunkt seines Interesses steht vielmehr die Frage nach der möglichen Grundlegung einer spezifisch literarischen Hermeneutik. Von einer literarischen Hermeneutik spricht er, da diese seiner Auffassung zufolge noch immer nicht vorhanden ist und so – in gewisser Weise bis heute – ein Desiderat der Forschung bleibt. Vor diesem Hintergrund lautet Szondis provokante Feststellung: »Daß es eine l i t e r a r i s c h e Hermeneutik heute dennoch kaum gibt, hat seinen Grund vielmehr in der Beschaffenheit der Hermeneutik, die es heute gibt.«42 Provokant ist Szondis Äußerung, da sie sich gegen bereits bestehende und gut etablierte Hermeneutikmodelle wendet, die den Anspruch erheben, auf dem Boden der Philosophie die Grundlage für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu legen. Mit Wahrheit und Methode hat Hans-Georg Gadamer 1960 ein solches allgemeines Modell vorgelegt und mit seinen Studien zu Hölderlin, Rilke, Celan und anderen zugleich auf literarische Texte zu erweitern versucht – gerade Texte, denen auch Szondis besondere Aufmerksamkeit galt.43 Szondis Zugang zur Hermeneutik ist daher ein grundlegend anderer als der Gadamers. Die Forderung nach einer spezifisch literarischen Hermeneutik verbindet er mit der Kritik an der philosophischen Hermeneutik, der es zu verdanken sei, dass eine Hermeneutik, die sich auf der Höhe der Literatur bewegt, noch immer ausstehe. Den Grund für dieses Fehlen erkennt Szondi in dem grundsätzlichen Anspruch der Philosophie, eine allgemeine Lehre des Verstehens vorzulegen, von der eine literarische Hermeneutik dann 42 43
Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang die von Gadamer eingeleitete Debatte um Szondis Celan-Interpretation, die sich an dem Aufsatz ›Eden‹ aus den CelanStudien entzündet hat. Peter Szondi, Eden. In: Schriften II. Essays: Satz und Gegensatz. Lektüren und Lektionen. Celan-Studien, Frankfurt a.M. 1978, S. 390398, sowie Hans-Georg Gadamer, Wer bin ich und wer bist Du? In: Gesammelte Werke 9. Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug, Tübingen 1993, S. 437451.
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nur abgeleitet werden müsste. »Weil aber die Hermeneutik im Sinne der von Dilthey aufgewiesenen Entwicklung, insbesondere aber durch die von Dilthey selbst vorgenommene Änderung der hermeneutischen Fragestellung, immer mehr zur Grundlagenwissenschaft wurde, fühlt sie sich erhaben über das, was einst ihre Aufgabe war, nämlich eine materiale Lehre von der Auslegung zu sein.«44 Szondis Vorwurf richtet sich explizit gegen Dilthey, damit aber ebenso auf die Weiterführung der hermeneutischen Grundlagenfragen bei Heidegger und Gadamer. An die Stelle einer allgemeinen und scheinbar universalen Lehre des Verstehens, von der die literarische Hermeneutik nur eine abgeleitete Form wäre, setzt Szondi die Forderung nach einer materialen Lehre der Auslegung, die seiner Meinung nach bei Schleiermacher ansetzen kann. Von dieser Lehre der Auslegung erhofft er sich die Begründung einer literarischen Hermeneutik, die der Literaturwissenschaft ihre Eigenständigkeit zu sichern vermag. Noch von einer anderen Seite her aber sucht Szondi die Abgrenzung der literarischen Hermeneutik von ihr verwandten Modellen. Denn seiner Auffassung zufolge kann die literarische Hermeneutik so wenig wie an die allgemeine philosophische Lehre des Verstehens einfach an die Vorgaben der Klassischen Philologie anschließen, die lange Zeit als Vorbild auch der neueren Philologien diente. Im Unterschied zur Klassischen Philologie verfügt die literarische Hermeneutik jedoch über eine ästhetische Ausrichtung, die sie wiederum an die Philosophie annähert – allerdings weniger an die hermeneutische Tradition, die von Dilthey und Heidegger bis zu Gadamer reicht, als vielmehr an Kritische Theorie mit den Leitfiguren Benjamin und Adorno. Was Szondi im Blick hat, ist eine Form der Hermeneutik, die als literarische ihre Eigenständigkeit gegenüber der Klassischen Philologie behauptet und zugleich mit der modernen Ästhetik kompatibel sei: »Daraus folgt zunächst ein Zweifaches: es geht nicht an, an die Stelle der fehlenden literarischen Hermeneutik unserer Zeit unkritisch die aus früheren Jahrhunderten überlieferte philologische Hermeneutik zu setzen, erstens weil diese, gegen ihre Intention, historische Prämissen hat, zweitens weil wir unter litera44
Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 11.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
rischer Hermeneutik zwar nicht eine unphilologische, aber die Philologie mit der Ästhetik versöhnende Auslegungslehre verstehen wollen.«45 Versöhnung von Philologie und Ästhetik im Zeichen der literarischen Hermeneutik ist das Ziel, das Szondi im Anschluss an Benjamin und Adorno verfolgt. Dass sich seine Idee der literarischen Hermeneutik eher Benjamin als etwa Heidegger verpflichtet, macht er zwar nirgends explizit.46 Aber die Verknüpfung von historischer und systematischer Methode, die er einklagt, weist deutlich genug auf die geschichtsphilosophischen Intentionen Benjamins hin. Nicht von ungefähr hatte Szondi Benjamin zum Thema seiner Berliner Antrittsvorlesung gemacht.47 Vor diesem Hintergrund kann er auch in seiner Einführung in die literarische Hermeneutik schließen: »Der Weg, der sich empfiehlt, ist also eine Kombination der historischen und der systematischen Methode: die kritische Befragung der Geschichte der Hermeneutik im Hinblick auf ein künftiges System, das dereinst seinerseits als ein historisches erscheinen wird.«48 Der Historiker als rückwärts gerichteter Prophet: Es ist die paradoxe Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft, die Szondi mit Benjamin und dessen spekulativer Lektüre Friedrich Schlegels verbindet. Was Szondi im Blick hat, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Hermeneutik, die zugleich heuristisch auf ein System zielt, das nicht als fertiges, sondern als noch ausstehendes in Erscheinung tritt. Die Forderung nach einer literarischen Her45 46
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Ebd., S. 25. Jean Bollack notiert dagegen bereits im ersten Satz eines Szondi gewidmeten Aufsatzes: »Peter Szondi wendet sich gegen den kaum zu überschätzenden Einfluß der heideggerschen Strukturanalyse des Daseins, der die akademische Diskussion in Deutschland schon vor und noch nach dem zweiten Weltkrieg bestimmte, und tritt für eine Neudefinition von Literaturwissenschaft ein.« Jean Bollack, Zukunft im Vergangenen. Peter Szondis materiale Hermeneutik, in: DVJS 64 (1990), S. 370-390, hier S. 370. Bollack geht vor diesem Hintergrund ausführlich auf die gegensätzlichen Ausrichtungen von Gadamers und Szondis Ansätzen ein sowie die grundsätzliche Verwurzelung seines Denkens in der Kritischen Theorie Benjamins und Adornos. Zu Szondis Werdegang vgl. Eberhard Lämmert, Peter Szondi. Ein Rückblick zu seinem 65. Geburtstag, in: Poetica 26 (1994), S. 1-30. Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 25.
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meneutik soll auf eine Art und Weise umgesetzt werden, in der sich Altes und Neues, Philologie und Ästhetik zu einer Synthese vermengen, die in dieser Form noch nicht dagewesen ist, sich aber zugleich auf frühere Modelle berufen kann und diesen so einen neuen Akzent verleiht. Auf der einen Seite rückt so Schleiermacher als der eigentliche Begründer der modernen Hermeneutik in der Form einer Kunstlehre des Verstehens in den Blick. Neben Schleiermacher bezieht sich Szondi aber auch auf Schlegel, der den Akzent eher auf Momente des Nichtverstehens setzt, sowie darüber hinaus auf neuere Entwicklungen der Literaturtheorie aus den Vereinigten Staaten und Frankreich, die mit dem Begriff der literarischen Hermeneutik zu vermitteln wären. Daher betont Szondi in seinem Aufsatz ›Schleiermachers Hermeneutik heute‹, der 1970 erstmals in französischer Übersetzung in der Zeitschrift Poétique erschienen ist, insbesondere die Dringlichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Strukturalismus unter der Leitfrage, wie dieser mit der von ihm anvisierten literarischen Hermeneutik zu vereinbaren sei: Seltsamerweise steht heute der entscheidende Schritt Schleiermachers, von der Schrift zurück zur Rede, zu dem ihn das Ungenügen mit der einsamen Betrachtung einer ganz isolierten Schrift veranlaßt hatte, besonders in Frankreich im Mittelpunkt der Diskussion, freilich ohne Bezugnahme auf Schleiermacher. Zu nennen ist einerseits die stark von Dilthey beeinflußte Literaturbetrachtung Georges Poulets, die sich auf den subjektiven Wahrnehmungs- und Bewußtseinsvorgang stützt, andererseits eine wohl von Mallarmé sich herleitende Literaturtheorie, deren zentraler Begriff, der der ›écriture‹, der Schrift, ist: vertreten u.a. durch Roland Barthes und Gérard Genette, vor allem aber durch Jacques Derrida, dessen Werk De la grammatologie in Deutschland noch kaum Beachtung gefunden hat.49 Das sollte sich bald ändern. Schon wenige Jahre später ist die Grammatologie zum Programm einer literaturtheoretischen Position ausgerufen 49
Peter Szondi, Schleiermachers Hermeneutik heute. In: Schriften II, S. 106-130, hier S. 113.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
wurden, die selbstbewusst von sich behauptet, dass sie sich von den historischen Vorgaben der Hermeneutik freigemacht habe. Derridas Grammatologie markiert vor diesem Hintergrund weniger eine theoretische Fortsetzung der von Szondi initiierten Suche nach einer literarischen Hermeneutik als vielmehr ihre Überbietung durch eine neue Wissenschaft der Schrift, die sich selbst als Weiterführung und Überbietung der Saussureschen Semiologie versteht. Dass Szondi diesen Schritt nicht gänzlich unkritisch sieht, macht seine nachgeordnete Bemerkung deutlich, dass er »ohne Bezugnahme auf Schleiermacher« erfolgt sei. Die Orientierung an der Linguistik auf der einen Seite und an der phänomenologischen Philosophie Husserls und Heideggers andererseits, die Derridas Frühwerk kennzeichnet, musste Szondi im Blick auf den von ihm selbst unternommenen Rückgang auf Schleiermacher als Verkürzung der hermeneutischen Fragestellung auf die Seite der Schrift erscheinen. Wo Schleiermacher in Hermeneutik und Kritik die schriftliche wie die mündliche Rede gleichermaßen in den Blick nimmt, da orientieren sich Barthes, Derrida und Genette an einem Begriff der écriture, der Schrift zum Modell von Sprache überhaupt erhebt. Wie Szondi zu Recht beklagt, hat sich die französische Kritik der Hermeneutik, sei es bei Barthes und Genette oder bei Derrida und Foucault, nie intensiv mit Schleiermacher auseinandergesetzt, sondern vielmehr gleich den Anschluss an die scheinbar innovativeren Modelle Nietzsches und Heideggers gesucht. Szondis Initiative führt dagegen nicht allein zu Schleiermacher und dessen Begriff des Verstehens als Grundlage der Hermeneutik zurück, sondern zugleich zu der Frage nach der grundsätzlichen Vermittelbarkeit von Hermeneutik und Strukturalismus. Szondi geht es in diesem Zusammenhang insbesondere um die mit dem Strukturalismus vermittelbare Aufwertung der grammatischen Auslegung unter gleichzeitiger Berücksichtigung der psychologischen, bzw., in seiner Terminologie, technischen Auslegung, durch die allein die Seite der Individualität des Kunstwerks abgedeckt werden kann. Die einseitige Orientierung an dem Strukturalismus sowie, damit eng verbunden, an Heidegger, die mit wenigen Ausnahmen fast die gesamte französische Literaturtheorie seit den sechziger Jahren kennzeichnet, verhält sich zu Szondis Suche nach einer litera-
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Der feste Buchstabe
rischen Hermeneutik eher gegenläufig, als dass sie sie unterstützen würde. Wie Szondi im Vorgriff auf die zukünftige Entwicklung der neuen Literaturtheorien, an denen er nicht mehr teilhaben sollte, schon anklingen lässt, kann die dekonstruktive Erweiterung der Literaturtheorie jedenfalls nicht umstandslos als Lösung der hermeneutischen Probleme gelten, denen sein eigenes Interesse galt. Vielmehr hat gerade die fehlende Auseinandersetzung mit Schleiermacher in Frankreich dazu geführt, dass die neuen Literaturtheorien in ihrer programmatischen Hinwendung zur Schrift nur über ein verkürztes Verständnis der hermeneutischen Modelle seit Schleiermacher verfügten. Um so bemerkenswerter ist es, dass ein so versierter Literaturtheoretiker wie Werner Hamacher gerade auf der Grundlage seiner Vertrautheit mit der idealistischen Philosophie und der Geschichte der Hermeneutik eine Position ausgebildet hat, die die neuen Wege der Grammatologie, die Derrida geebnet hat, produktiv aufzunehmen versuchte, um einen Begriff der Hermeneutik zu entfalten, der die Vorgaben Szondis aufnimmt und zugleich über sie hinausgeht.
2.2
Verstehen verstehen. Werner Hamacher und die Selbstreflexion der Hermeneutik
Über Schleiermacher notiert Werner Hamacher in seinem Aufsatz ›Hermeneutische Ellipsen‹: »Sein Versuch, die Bedingungen des Verstehens und seine Regeln zu formulieren, ist einer der wenigen, die sowohl einen unreflektierten Grammatizismus wie den Synthetismus spekulativer Provenienz energisch kritisiert und erfolgreich vermieden haben.«50 Das Lob Schleiermachers, das er im Anschluss an Szondi im Blick auf eine literarische Hermeneutik formuliert – der Begriff fällt ausdrücklich zu Beginn des Aufsatzes51 –, hat aber auch eine Kehrseite. Hamacher versieht Schleiermachers Leistung zugleich mit der Forderung
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Werner Hamacher, Hermeneutische Ellipsen. Schrift und Zirkel bei Schleiermacher. In: Ulrich Nassen (Hg.): Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, Paderborn/München/Wien/Zürich 1979, S. 113-148, hier S. 146. Ebd., S. 114.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
nach einer »kritischen Paratheorie«52 , die insbesondere die Momente der Schriftlichkeit und der unhintergehbaren Rhetorizität der Sprache im Blick auf eine Korrektur des allgemeinen Begriffs des Verstehens ernst zu nehmen hätte, wie ihn die moderne Hermeneutik ausgebildet hat. Die kritische Paratheorie, nach der Hamacher fragt, trägt daher nicht mehr die Züge der Hermeneutik, sondern die der Grammatologie: »Der Generalisierung der hermeneutischen Operation unterm Zeichen des Phono- und Logozentrismus korrespondiert als ihre Kehrseite der dezentrierende Einbruch einer Graphematik, die sich dem Regime des Logozentrismus entzieht.«53 Phono- und Logozentrismus, die Bewegung einer Dezentrierung durch Graphematik – wie die Begriffswahl deutlich macht, zielt Hamachers Ansatz auf eine Korrektur der Hermeneutik durch die Einbeziehung eben der Schrifttheorien, denen Szondi zu seiner Zeit wohlwollend skeptisch gegenüber stand. Das Problem, das sich damit abzeichnet, ist nicht mehr das der Vereinbarkeit von Literaturwissenschaft und Linguistik, wie es sich Szondi stellte, sondern die nun einsetzende Überformung der Hermeneutik durch eine von den Prämissen der Dekonstruktion inspirierte Paratheorie, die nicht mehr korrigierend in die Hermeneutik eingreift, sondern deren Grundsätze in Zweifel zieht und zerstört: »Schrift ist also in einem Bedingung der Möglichkeit und Grund der Unmöglichkeit authentischer Selbstverständigung redender Subjekte, Fundament der verstehenden Rekonstitution der Rede des andern im Kontext der von ihr invertierten grammatischen und semantischen Sprachkonventionen und ist, in ›eins‹ damit, Zerstörung jeder Form von Sinnkonstitution und mithin jeder Hermeneutik.«54 Schrift wird zu einer Bedingung der Möglichkeit allen Verstehens und zugleich zu der Instanz, von der aus die Hermeneutik sich auflöst. Trotz der einleitenden Würdigung Schleiermachers lenkt Hamacher Szondis Suche nach einer an Schleiermacher anschließenden Hermeneutik so zugunsten einer dekonstruktiven Paratheorie um, an deren Ende die Zerstörung jeder Form der Hermeneutik steht.
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Ebd., S. 146. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123.
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Auch in seinen späteren Texten ist Hamacher von dieser Perspektive, die eine Versöhnung von Hermeneutik und Dekonstruktion letztlich unmöglich macht, nicht abgewichen. Im Gegenteil: Im Blick auf die von Szondi erarbeiteten Prämissen der literarischen Hermeneutik hat er die Destruktion der traditionellen Hermeneutik im Zeichen der Dekonstruktion noch entschiedener vorangetrieben, um so eine andere Form der literarischen Hermeneutik begründen zu können, die in gewisser Weise wie eine Anti-Hermeneutik fungiert. »Verstehen will verstanden sein.«55 Mit dieser Aussage, die den hermeneutischen Zirkel ebenso aufnimmt wie unterminiert, beginnt Werner Hamacher seine Überlegungen zu dem, was er titelgebend Entferntes Verstehen genannt hat. Um eine Entfernung des Verstehens von sich selbst handelt es sich, da Hamacher Prämissen – so der Titel des einleitenden Aufsatzes – der Hermeneutik auf diese selbst zurückwendet, um so ihre Grenzen aufzuzeigen. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bietet das für den deutschen Idealismus charakteristische Verhältnis von Reflexion und Selbstreflexion. So wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes zu zeigen versuchte, dass alle Formen des Bewusstseins letztlich auf dem Begriff des Selbstbewusstseins beruhen, so gründet Hamacher die dem Verstehen eigene Reflexionsbewegung auf deren Selbstreflexion. Deswegen insistiert er von Beginn an darauf, »daß, wo immer etwas verstanden werden soll, auch noch das Verstehen selbst verstanden werden muß.«56 In dem Verhältnis des Verstehens zu sich selbst, das ihm zufolge als eine, wenn nicht die paradigmatische Form des Verstehens überhaupt verstanden werden muss, erkennt Hamacher jedoch im Unterschied zu Hegel nicht dessen zureichende Begründung, sondern seine innere Auflösung. Er folgt mit dieser Gedankenfigur nicht mehr den Prämissen des deutschen Idealismus, sondern dem, was Martin Heidegger im Blick auf die Phänomenologie des Geistes das »absolvente Wissen«57 genannt hat, um 55 56 57
Werner Hamacher, Prämissen. Zur Einleitung. In: Entferntes Verstehen, Frankfurt a.M. 1998, S. 7-48, hier S. 7. Ebd. »Wir sprechen vom absolventen – in der Ablösung begriffenen – unruhigen absoluten Wissen. Und wir können dann sagen: Das Wesen des Absoluten ist die
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Hegels Begriff des Absoluten als dem letzten Garanten aller Verstehensprozesse außer Kraft zu setzen. Das Verhältnis der Selbstreflexion zur Reflexion ist nicht mehr das einer Grundlegung, sondern das einer mise en abyme, die jeden Versuch des Verstehens erfasst. Zwar hält Hamacher an der Privilegierung der Selbstreflexion vor der Reflexion fest, die sich schon Hegel ablesen lässt: »Es gehört also zu den strukturellen Anforderungen, ohne die es Verstehen nicht gibt, daß in ihm nicht nur Etwas, sondern auch sein Verstehen verstanden werden muß.«58 Hamacher zufolge ist dem Verstehen von etwas, der einfachen Reflexion auf Gegenständlichkeit, eine Form des Verstehens übergeordnet, die sich in der Form der Selbstreflexion auf sich selbst richtet und allen Verstehensprozessen vorgängig bleibt. Diese Form der Vorgängigkeit bestimmt Hamacher in der Folge jedoch nicht als den konstitutiven Grund des Verstehens, sondern als »Unmöglichkeit des Verstehens und der Unmöglichkeit noch dieses Satzes«59 . Die kritische Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, wie sich dieser Schritt eigentlich genau nachvollziehen lässt. In seiner Darstellung der Unmöglichkeit des Verstehens als dem (Ab-)Grund allen Verstehens geht Hamacher über die Prämissen ihm vorausgehender Modelle der Hermeneutik deutlich hinaus. Die entscheidenden Begriffe, auf die er zurückgreift, um die Unmöglichkeit des Verstehens dem Verstehen voranzustellen, sind die der Affektion und der Alteration. Hamacher spricht vom Verstehen als derjenigen »Relation, in der sich ihre Relata allererst konstituieren – in der der Leser zum Leser dieses Satzes, der Satz zum Satz dieses Lesers wird – und also ein Vorgang der wechselseitigen Affektion und Alteration.«60 Der erste Teil des Satzes – dass Verstehen zuallererst nicht auf etwas, sondern auf sich selbst bezogen sei, so dass sich die Gegenstände des
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un-endliche Absolvenz«, so Martin Heidegger, Gesamtausgabe. II. Abteilung : Vorlesungen 1923-1944. Band 32. Hegels Phänomenologie des Geistes, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1997, S. 72. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 7. Ebd. Ebd., S. 8.
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Verstehens, die Relata, erst im Akt der Reflexion herausbilden – verdankt sich der bereits angesprochenen Bewegung der Selbstreflexion, die Hamacher dem Verstehen unterlegt, sei sie nun als Selbstsetzung des Absoluten im Sinne des deutschen Idealismus oder als dessen Absolvenz im Sinne Heideggers verstanden. Der zweite Teil des Satzes geht darüber hinaus und greift auf die beiden Begriffe der Affektion und Alteration zurück, ohne diese zunächst weiter zu erläutern. Sie stehen in keinem Bezug zu idealistischen Modellen der Hermeneutik mehr, sondern greifen eine Argumentation auf, die Heidegger und Derrida vorgebildet haben. Heidegger hatte den Begriff der Affektion – als Selbstaffektion der Zeit – in Kant und das Problem der Metaphysik in die Diskussion eingeführt und in dieser im Rahmen einer grundsätzlichen Überwindung der idealistischen Transzendentalphilosophie den metaphysischen Ursprung der Subjektivität erkennen wollen.61 Die spezifische Verbindung zwischen den beiden Begriffen der Affektion und der Alteration, die Hamacher vornimmt, hat Derrida in La voix et le phénomène im Kontext seiner kritischen Auseinandersetzung mit Husserl etabliert. Er bezieht sich dort in deutlichem Anklang an Heidegger auf den »concept d’auto-affection pure«62 als Grundlage der différance im Sinne einer sich ständig selbst verschiebenden Bewegung der Sprache, die metonymisch um ein leeres Zentrum kreise, eben jener Absolvenz
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»Die Zeit ist als reine Selbstaffektion nicht eine wirkende Affektion, die ein vorhandenes Selbst trifft, sondern als reine bildet sie das Wesen von so etwas wie Sich-selbst-angehen. Sofern aber zum Wesen des endlichen Subjektes gehört, als ein Selbst angegangen werden zu können, bildet die Zeit als reine Selbstaffektion die Wesensstruktur der Subjektivität.« Martin Heidegger, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 3. Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1991, S. 189. Auf diesen Begriff der Selbstaffektion geht Werner Hamacher selbst ein in Für die Philologie. Dort heißt es: »Die Selbstaffektion ist aber als philologische die Affektion des Logos durch sich, seine Selbstberührung und Selbstreizung, die ohne einen Riß in ihm nicht möglich wäre.« Werner Hamacher, Für die Philologie, Frankfurt a.M. 2009, S. 35. Jacques Derrida, La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1967, S. 88.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
des Wissens, von der Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Hegel sprach. Derrida verbindet in einer für seinen gesamten Ansatz charakteristischen Weise die beiden Begriffe der Affektion und Alteration, indem er davon ausgeht, dass »le même n’est le même qu’en s’affectant de l’autre, en devenant l’autre du même.«63 Die Verknüpfung von Affektion und Alteration erlaubt es Derrida so, mit der Idee einer sprachlich wie zeitlich begründeten Abhängigkeit der Identität von einer ihr vorgängigen Differenz an Heideggers Kritik der Metaphysik aus Kant und das Problem der Metaphysik anzuschließen und diese zugleich im Blick auf Husserl zu erweitern. Und es ist diese Idee, an die auch Hamacher in Entferntes Verstehen anknüpft, um die Prämissen der Schleiermacherschen Hermeneutik, gefasst als »Kunst, die Rede eines andern richtig zu verstehen«64 , aufzunehmen und zugleich auf den Kopf zu stellen. Dass Hamacher Schleiermachers Hermeneutik in gewisser Weise von den Füßen auf den Kopf stellt – auch das ein Motiv, das bereits in der Phänomenologie des Geistes anklingt, wenn Hegel dem natürlichen Bewusstsein empfiehlt, im Vertrauen auf die Wissenschaft »auch einmal auf dem Kopfe zu gehen«65 –, wird deutlich, wenn er den Begriff des Verstehens auf eine ursprüngliche Form der Unmöglichkeit des Verstehens bezieht, die diesem vorausgehe, ohne selbst je direkt zum Gegenstand des Verstehens werden zu können. Wenn Hamacher behauptet, »daß Verstehen sich aus dieser Unmöglichkeit verstehen muß«66 , der Unmöglichkeit eines Verstehens also, das sich selbst zum Gegenstand nimmt, weil es aller Gegenständlichkeit vorgängig bleibt und daher nie selbst zum Gegenstand werden kann, dann folgt er exakt den Prämissen, die Heidegger mit dem Begriff der Selbstaffektion und Derrida mit der Verknüpfung von Affektion und Alteration vorgebildet haben. Hamacher dekonstruiert aus einer kritischen Perspektive die Prämissen der idealistischen Hermeneutik, führt in der gleichen Bewegung jedoch
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Ebd., S. 95. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 75. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Text nach der Originalausgabe herausgegeben von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1956, S. 25. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 9.
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Prämissen ein, die selbst keiner weiteren kritischen Prüfung unterzogen werden. Das Wechselspiel von Hermeneutik und Kritik, das Schleiermacher eingeführt hat, findet so eine Fortsetzung, die in der Abschaffung der Hermeneutik in ihrer traditionellen Form kulminiert, zugleich aber die Frage nach dem Ort der Kritik stellt. Die Prüfung des Verstehens, die Aufgabe der Kritik ist, muss sich daher noch auf Hamachers eigene Prämissen erstrecken. Sie macht sichtbar, dass er diesen Schritt nur gehen kann, weil er die Selbstrelation, die er im Begriff der Affektion zu fassen versucht, als Verhältnis von zwei unterschiedlichen Formen des Verstehens zueinander begreift, das aporetisch strukturiert ist. Den einleitenden Satz seines Aufsatzes, dass Verstehen verstanden werden will, erläutert er vor diesem Hintergrund folgendermaßen: »Verstehen will von einem andern Verstehen und will anders verstanden sein – es ist, paradox, es selbst einzig als das einem anderen ausgesetzte Verstehen und, a limine, anders als Verstehen.«67 Hamacher greift mit dieser Erläuterung auf die beiden unterschiedlichen Formen des Verstehens zurück, die seine gesamte Argumentation bestimmen. Das erste Verstehen wäre dementsprechend das einfache Verstehen von etwas, in gewisser Weise eine hermeneutische Fortführung von Husserls Begriff der Intentionalität, demzufolge Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. Das zweite Verstehen wäre der reflexive Akt des Verstehens dieses Verstehens auf sich selbst, wobei die Pointe Hamachers darin besteht, dass es sich nicht um eine bloße Reflexion auf etwas bereits Vorhandenes im Sinne Hegels handelt, sondern sich der gesamte Akt des Verstehens von etwas erst durch den zweiten Akt des Verstehens, das sich auf das Verstehen selbst richtet, überhaupt erst konstituiert. Das Verstehen des Verstehens wird so im Sinne von Heideggers Vorrang des Ontologischen vor dem Ontischen zur Bedingung der Möglichkeit allen Verstehens, gibt sich selbst aber zugleich als eine Form des Verstehens zu erkennen, die nie selbst zum bloßen Gegenstand des Verstehens werden kann und so allem Verstehen enthoben bleibt.
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Ebd., S. 8.
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Das Verstehen, welches als Verstehen des Verstehens das Verstehen überhaupt zum Gegenstand zu nehmen versucht, bestimmt Hamacher daher zugleich im Rückgriff auf den Begriff der Alteration als ein anderes Verstehen. Um ein anderes Verstehen handelt es sich, weil dieses nicht mehr auf den ersten Gegenstand des Verstehens zielt, sondern das Verstehen selbst in den Blick nimmt, Verstehen also sich selbst zum Gegenstand nimmt, sich selbst jedoch als ein anderes. Hamacher deutet die spezifische Differenz zwischen den beiden Begriffen des Verstehens, dem Verstehen von etwas und dem Verstehen eines Verstehens von etwas, dementsprechend als Differenz schlechthin, als einen Abgrund, der das erste Verstehen vom zweiten trennt und der niemals aufhebbar ist, sondern sich endlos perpetuiert. Die Differenz, von der Hamacher spricht, ist vor diesem Hintergrund doppelt motiviert: Sie bezieht sich zunächst auf die logisch durchaus plausible Differenz zwischen der einfachen Reflexion, dem Verstehen von etwas, und der Selbstreflexion, dem Verstehen des Verstehens. Die Selbstreflexion gilt Hamacher jedoch nicht mehr als Reflexion eines Selbst, sondern als die eines Anderen. Hamacher überlagert so die Selbstbewegung des Verstehens, wie sie sich Hegel im Sinne des fortschreitenden Prozesses des Abbaus von Differenzen zugunsten der Identität des Geistes ergeben hat, zugunsten einer Idee von Differenz, die sich wie bei Heidegger und Derrida sowohl auf die zeitliche Bewegung des Verstehens als auch auf seine strukturale Verfasstheit als Relation des Selben zu dem die Identität auflösenden Anderen überhaupt bezieht. Zeitlich ist das Verstehen des Verstehens vom Verstehen von etwas immer schon als Differenz von identitätsbildender Präsenz und verschiebender Nachträglichkeit unterschieden, struktural benennt es die Differenz von Reflexion und Selbstreflexion, die nie zusammenfinden. Die beiden Begriffe der Affektion und Alteration dienen Hamacher somit dazu, das Verstehen in eine zeitlich wie sprachlich bestimmte Bewegung zu versetzen, an deren Ende die Einsicht steht, dass es kein Verstandenes ohne eine diesem vorgängige Andersheit gebe. Das Ergebnis dieser Voraussetzungen ist dementsprechend die Diagnose einer unauflösbaren Aporie, die dem Verstehen zugrunde liege: »Verstehen ist deshalb nicht eine einfache Relation, sondern eine un-
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auflöslich aporetische: a limine nämlich immer eine Relation zum Relationslosen und somit eine relationslose Relation, eine Beziehung zum Entzug und somit eine sich entziehende Beziehung, ein Verhältnis zum Anhaltslosen und somit ein haltloses Verhältnis.«68 Die Relation zwischen dem Verstehen von etwas und dem Verstehen von Verstehen bestimmt Hamacher vor dem Hintergrund des von Derrida in Anschlag gebrachten Zusammenhangs von Affektion und Alteration als Abwesenheit einer Relation und daher als Aporie des Verstehens selber. In einer unüberhörbar zur Metaphorisierung neigenden Darstellung wird der fehlende Anhalt der Relation, das Ausfallen der Relation selbst, zur Haltlosigkeit alles Verstehens, dessen Maßstab nicht länger das Verstehen selbst ist, sondern, wie Hamacher im Rekurs auf Friedrich Schlegel festhält, die Unverständlichkeit. »Verstanden wird etwas allein in seiner Unverständlichkeit.«69 Der Grund für das Postulat von der Unverständlichkeit allen Verstehens, wie parallel dazu der Unlesbarkeit alles Lesbaren,70 besteht in der Heidegger und Derrida entlehnten Idee einer reinen Selbstaffektion, die beständig Differenzen zutage fördert, aus denen jede Idee des Selbst sich ableiten muss: »Verstehen ist Selbstaffektion – aber Affektion nur an einem in seiner Andersheit inaffizierbaren Selbst.«71 Aus dieser von ihm zu Recht als paradox bezeichneten Idee einer Selbstaffektion des Verstehens als Differenz zu sich selbst leitet Hamacher zugleich die Dekonstruktion der idealistischen Hermeneutik ab. Sie verwandelt ihre Prämisse, dass die Hermeneutik auf dem Verstehen der Rede eines andern beruht, in die spekulative Idee einer Aussetzung der Sprache, die diese auf das Verfehlen aller Bedeutungsin68 69 70
71
Ebd., S. 10. Ebd. »Lesbar ist etwas erst in seiner Unlesbarkeit, verstehbar erst in seinem Widerstand gegen das Verstehen«. Ebd., S. 26. Dass dieser Begriff der Unlesbarkeit vor allem Paul de Mans Theorie der Begriff der Allegorie geschuldet ist, macht die Einleitung in de Mans Allegorien des Lesens deutlich. Vgl. Werner Hamacher, Unlesbarkeit. In: Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-26. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 22.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
tentionen verpflichtet: »Prämisse heißt nicht mehr Grund und nicht mehr Voraussetzung, sondern Aussetzung. In ihrer Prämisse verfehlt sich die Sprache und damit das Verstehen. In ihr verspricht sich nur, was sich versagt.«72 Nimmt man diese Prämisse ernst, dann spricht die Sprache nicht allein, wie Heidegger formuliert hatte, sie verspricht sich darüber hinaus und bringt sich so selbst um die Bedeutung, die sie zugleich hervorbringt. Folgerichtig privilegiert Hamacher, wiederum im Blick auf Schlegel, das Nicht-Verstehen gegenüber dem Verstehen,73 um die Prämisse des Verstehens abschließend als Prämisse seiner Unmöglichkeit »und somit, demissioniert, Verunmöglichung jeder Prämisse«74 zu fassen. Es ist diese Bewegung einer fortgesetzten Aussetzung des Verstehens, die Hamacher in seinen späten Schriften zur Philologie weiter ausgeführt hat, wenn er diese als Erfahrung begreift, »der Sprache ausgesetzt und von ihr provoziert zu sein.«75 »Und so das Verstehen. Es setzt sich aus«76 , mit diesen Worten endet Hamachers Einführung in die Prämissen des entfernten und sich selbst von sich entfernenden Verstehens. Hamacher hat damit eine radikale Selbstkritik der Hermeneutik in Gang gesetzt, eine Kritik, die sich den Prämissen der Hermeneutik verpflichtet und diese zugleich außer Kraft setzt. Der Rückbezug auf den Zusammenhang von Selbstaffektion und Alteration bildet ebenso eine Konstante in seinem Werk wie die auf Peter Szondi und Paul de Man zurückweisende Auseinandersetzung mit den rhetorischen Figuren der Ironie, der Ellipse und der Parekbase oder die auf Benjamin zurückgehende Bestimmung der Philologie als Idee (und damit als Kunst) und nicht als Begriff (und damit als Wissenschaft). Hamacher hat damit jenen Schritt vollzogen, den Szondi seinerzeit nicht hat gehen können und vielleicht auch nicht hat gehen wollen: die Überführung der Hermeneutik Schleiermachers in eine von den Ideen der Dekonstruktion 72 73 74 75 76
Ebd., S. 24. »Nicht-Verstehen gehört nicht zur Pathologie sprachlichen Seins, es gehört zu seiner Logik«, heißt es in Entferntes Verstehen, S. 24. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 40. Werner Hamacher, Für die Philologie, S. 32. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 48.
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inspirierte Lehre der Auslegung im Zeichen der Differenz. Als Theoretiker und als philosophisch wie philologisch gleichermaßen geschulter Leser literarischer Texte hat er der Hermeneutik eine Wendung gegeben, an der diese sich von der Kunstlehre des Verstehens, die Schleiermacher und Szondi in ihr haben erkennen wollen, zu der Kunst der Unmöglichkeit des Verstehens wandelt. Die offene Frage, die mit dieser Wendung verbunden bleibt, richtet sich auf die Gestalt der literarischen Hermeneutik, die am Anfang von Szondis Überlegungen gestanden hatte. Denn offenkundig hatte Szondi trotz der angedeuteten Annäherung an die französischen Texttheorien und insbesondere an Derrida etwas anderes im Blick, wenn er im Rekurs auf Schleiermacher von literarischer Hermeneutik spricht.
2.3
Literarische Hermeneutik nach Szondi
Um seinen Begriff der literarischen Hermeneutik zu begründen, suchte Szondi seinerzeit den Anschluss an Schleiermacher als »möglichen Lehrmeister für eine noch ausstehende neue Interpretationslehre, zu deren Ausarbeitung die Literaturwissenschaft mit der neueren Sprachwissenschaft sich verbünden muß, um über jene heute übliche Praxis der Interpretation hinauszugelangen, die meist wenig mehr ist als der Rechenschaftsbericht eines Literaturgenießenden.«77 Von dem Bund zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik, der seinerzeit als vielversprechender Ausgangspunkt einer Neubegründung der Theorie gelten konnte, ist heute zwar wenig übrig geblieben. Für Szondi aber war damit die aussichtsreiche Perspektive einer Alternative zu der Überformung der literarischen durch die philosophische Hermeneutik verbunden. Dass Szondi gleichwohl an Schleiermacher festhält, musste umgekehrt aus der Sicht der strukturalistischen Schule als kaum verzeihbare Inkonsequenz erscheinen. Wer sich heute wie damals Szondi auf Schleiermacher beruft, scheint sich einer hoffnungslos veralteten Theorie anzuvertrauen, deren Geltungsanspruch sich ein für allemal erschöpft habe. 77
Peter Szondi, Schleiermachers Hermeneutik heute, S. 109.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Vor diesem Hintergrund mutet Szondis Treue zu Schleiermacher in der Übergangszeit von den alten zu den neuen Literaturtheorien seltsam anachronistisch an. Wo Derrida sich an Saussures Begriff der langue, Husserls Unterscheidung von Ausdruck und Zeichen und Heideggers ontisch-ontologischer Differenz abarbeitet, da hält Szondi an Schleiermachers Unterscheidung zwischen der grammatischen und der psychologischen Auslegung fest, um einen Begriff der literarischen Hermeneutik in Aussicht zu stellen, der Momente der modernen Linguistik in sich aufzunehmen sucht, ohne sich doch auf diese reduzieren zu lassen. Nicht nur die Versöhnung von Philologie und Ästhetik, auch die von Literaturwissenschaft und Linguistik scheint Szondis Suche nach einer literarischen Hermeneutik im Rückgang auf Schleiermacher anzuvisieren, ohne doch die letzten Konsequenzen aus der strukturalen Lehre des Zeichens zu ziehen, wie es Derridas Überführung der Saussureschen Semiologie in eine neue Wissenschaft namens Grammatologie auf eindrucksvolle Weise vorführt. Szondi kann den Anspruch einer Versöhnung von Literaturwissenschaft und Linguistik, von Hermeneutik und Strukturalismus erheben, da er in dem Begriff der grammatischen Auslegung Schleiermachers den Aspekt der langue verkörpert sieht, den erst Saussure als solchen herausgearbeitet hat. Manfred Frank konnte sich in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher daher auf Szondi berufen, um Schleiermacher als einen Strukturalisten avant la lettre zu bezeichnen.78 So weit ist Szondi selbst allerdings nicht gegangen. Im Unterschied zu Frank spricht er Schleiermacher nicht zu, die Errungenschaften der strukturalen Linguistik vorweggenommen und die damit verbundene Perspektive einer Versöhnung von Linguistik und Hermeneutik bereits selbst vorbereitet zu haben. Vielmehr insistiert er auf der wechselseitigen Verknüpfung von grammatischer und psychologischer Auslegung bei Schleiermacher als Grundlage einer Hermeneutik, die zwischen der sprachlichen und historischen Bedingtheit des Kunstwerks und seiner individuellen Prägung durch den Urheber zu vermitteln hat. Drei Dinge sind Szondi in diesem Zusammenhang wichtig: zum einen die Kri78
Vgl. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 248f.
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tik an der Vereinseitigung der Hermeneutik durch die Privilegierung der psychologischen Auslegung im Begriff der Divination, wie sie Dilthey vorgenommen hat, zum anderen die Anschlussfähigkeit der Hermeneutik an die Tradition der Rhetorik und Poetik, zu der sie in der Vergangenheit häufig in Differenz gesetzt wurde, und schließlich die Betonung des geschichtlichen Moments, das allen Verstehensprozessen innewohnt. Szondis kritischer Blick richtet sich auf das Moment der psychologischen Auslegung, das Dilthey und seine Nachfolger im Anschluss an Schleiermacher zur Grundlage des divinatorischen Verstehens erweitert haben. In seiner Schrift Die Entstehung der Hermeneutik aus dem Jahre 1900 deutet Dilthey die Divination als das »Nachfühlen fremder Seelenzustände: die ganze philologische und geschichtliche Wissenschaft ist auf die Voraussetzung gegründet, daß dies Nachverständnis des Singulären zur Objektivität erhoben werden könne.«79 Mit der Forderung nach dem »Nachfühlen fremder Seelenzustände« stellt Dilthey das Moment der psychologischen Auslegung in das Zentrum der Hermeneutik. Es ist diese Verkürzung der Hermeneutik auf das Moment des Divinatorischen, die Szondi suspekt ist. An die Stelle der psychologischen Auslegung, die Schleiermacher zufolge auf den Autor der Schrift oder des Sprechens zurückführen soll, setzt Szondi auf eine geschichtliche Auslegung, die den Abstand zwischen dem vergangenen Text und der Gegenwart zu überbrücken helfen soll. Um das psychologisierende Moment, das zu Diltheys umstrittenen Begriffen des Nachfühlens und des Erlebnisses geführt hat, zu vermeiden, beruft Szondi sich auf den Begriff der technischen Auslegung, den Schleiermacher als Alternative zu dem der psychologischen Auslegung bereithält. Gegen die Tendenz, Verstehen auf eine wie auch immer geartete Form der Einfühlung zu gründen, wie es noch sein Lehrer Emil Staiger propagiert hat, drängt Szondi auf eine systematische Ausarbeitung der technischen Auslegung, um jenen Begriff der lite-
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Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik. In: Gesammelte Schriften. V. Band, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 317.
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rarischen Hermeneutik zu fundieren, dem sein eigentliches Interesse gilt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Kritik der Privilegierung der psychologischen Auslegung in der Geschichte der Hermeneutik keineswegs auf eine Bevorzugung des Moments der grammatischen Auslegung hinausläuft. Diese wäre vielmehr genau so einseitig wie die Privilegierung der psychologischen Auslegung. Umgekehrt läuft gerade eine nicht mehr grammatische Auslegung im Sinne Schleiermachers, sondern eine grammatologische im Sinne Derridas Gefahr, das allgemeine Moment der Sprache so sehr zu verallgemeinern, dass alle Formen der Individualität nur noch als Effekte der Sprache zu denken sind. Szondi geht es vor diesem Hintergrund um etwas anderes: um die Vermittlung der grammatischen mit der technischen Auslegung: Indessen ist bei Schleiermacher sowohl in seinem Begriff der grammatischen als auch in dem der technischen Interpretation (die ein Teil der psychologischen ist oder gar sie selbst – die Terminologie schwankt) der Grund gelegt für das Verständnis des individuell, aber auch des historisch Spezifischen an der Sprache eines Autors, und ebenso für das Verständnis der literarischen Formen und Gattungen. Es ist hier der Grund gelegt für eine Stilkritik und eine Formanalyse, die sowohl die Individualität als auch die Geschichtlichkeit der literarischen Phänomene erkennen will. Damit fällt die Schranke, die in den frühen Konzeptionen die Hermeneutik von der Rhetorik und der Poetik trennt: Sinnverstehen und Interpretation im heutigen Wortsinn greifen ineinander.80 Szondi weist zunächst auf die Uneinheitlichkeit in Schleiermachers Gebrauch der Ausdrücke psychologischer und technischer Auslegung hin, um seine eigene Forderung nach der Berücksichtigung sowohl der individuellen als auch der geschichtlichen Seite des sprachlichen Kunstwerks geltend zu machen. Was mit den beiden Momenten der Stilkritik – also der Berücksichtigung des individuellen wie historisch ver80
Peter Szondi, Schleiermachers Hermeneutik heute, S. 117.
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mittelten Sprachgebrauchs – und der Formanalyse – also der ebenfalls historisch bedingten Lehre der Gattungen und der Tropen und Figuren wie etwa der Metapher – in den Blick geraten soll, ist die grundsätzliche Geschichtlichkeit der literarischen Phänomene, die es nicht erlaubt, sie auf ein Moment – das der psychologischen oder das der grammatischen Auslegung – zu reduzieren. In ähnlicher Weise wie vor ihm Benjamin und Adorno pocht Szondi so auf ein dialektisches Moment, um der Gefahr zu entgehen, das literarische Kunstwerk naiv auf seinen Urheber oder, weniger naiv, aber nicht minder einseitig, auf die Struktur der Sprache allein zurückzuführen. Zwischen einer divinatorisch angelegten Hermeneutik und einer grammatologisch angelegten Anti-Hermeneutik sucht er gleichsam die Mitte zu halten. Szondi insistiert daher wie nach ihm Hamacher zugleich auf der Verbindung der Hermeneutik mit der Geschichte der Poetik und Rhetorik,81 um an der doppelten Bedeutung der grammatischen Auslegung als dem Bezug zur Sprache und der technischen Auslegung als dem Bezug zum Denken festzuhalten. Die technische Auslegung gilt ihm vor diesem Hintergrund vor allem als Grundlage der Stilkritik, als Auslegung des individuellen Stils und der besonderen historisch vermittelten Kompositionsweise eines Kunstwerks. Szondi lässt sich in diesem Zusammenhang von der Erkenntnis leiten, dass die technische Auslegung die historische Deutung als Einsicht in die keineswegs konstante Bedeutung des individuellen Moments in der Geschichte der Literatur und als Einsicht in den historischen Stand der Gattung, dem ein Werk angehört, voraussetzen muss. Von dieser Form einer geschichtlich operierenden Hermeneutik, die ihr Augenmerk zugleich auf systematische Fragen wie die Theorie der Metapher oder die Verschränkung von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie richtet, spricht Szondi in Anspielung auf Schleiermacher
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»Nimmt man indessen Schleiermachers Theorem vom Kunstcharakter der Hermeneutik ernst, so gehört die Rhetorik nicht nur in ihr Gegenstandsgebiet, sondern ist integraler Bestandteil der hermeneutischen Operation selbst.« Werner Hamacher, Hermeneutische Ellipsen, S. 137.
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und Benjamin zugleich als »Instrument der Kritik.«82 Mit dem Begriff der Kritik nimmt er ein Moment auf, das er wiederum von Schleiermacher herleitet, darüber hinaus aber mit Benjamin verbindet. »Hermeneutik und Kritik, beide philologische Disziplinen, beide Kunstlehren, gehören zusammen, weil die Ausübung einer jeden die andere voraussetzt. Jene ist im allgemeinen die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen, diese die Kunst, die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Data zu konstatieren«83 , hatte Schleiermacher in der allgemeinen Einleitung seiner Untersuchung Hermeneutik und Kritik festgehalten. Walter Benjamin hatte in seiner Dissertation zum Begriff der Kunstkritik in der Romantik Kritik darüber hinaus als »ein Experiment am Kunstwerk, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird«84 , verstehen wollen und so den philologischen Kritikbegriff Schleiermachers ästhetisch überhöht. Szondi hält sowohl an dem philologisch begründeten Kritikbegriff Schleiermachers als auch an Benjamins Bestimmung der Kritik als einer Form der Erkenntnis fest, um seinen Begriff der literarischen Hermeneutik zu skizzieren. Das kritische Moment, das die literarische Hermeneutik bereithält, macht sich vor diesem Hintergrund gerade in ihrem Verhältnis zum Grundbegriff des deutschen Idealismus, dem Geist, bemerkbar. Die Form der Philologie, der Szondis Augenmerk gilt, ist nicht geistfremd. Aber sie scheut vor der vorschnellen Übersetzung alles Buchstäblichen ins Geistige zurück: Denn auch, oder vielmehr: gerade eine philosophisch fundierte Philologie wird sich weigern müssen, alles, was mit Geist zu tun hat, als das eo ipso Höhere gegenüber dem Buchstaben anzusehen; gerade eine solche Philologie wird jedesmal unerbittlich zu fragen haben, o b 82 83 84
Ebd., S. 130. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 71. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Gesammelte Schriften. Band I. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Wolfgang Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980, S. 65.
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sich im Buchstaben Geist ausdrückt, und wenn ja, welcher, statt ihn immer schon zur Offenbarung d e s Geistes zu verklären.85 Szondi sucht wie später auch Hamacher die Verbindung von Philologie und Philosophie, ohne die Hermeneutik der Philosophie überantworten zu wollen. Sein Insistieren auf der Ordnung des Buchstäblichen, die in ihrer grundsätzlich historischen Ausrichtung ganz anders ausgerichtet ist als Lacans Rede vom Drängen des Buchstaben im Unbewussten, sucht nicht die Vernichtung des Buchstaben im Geist, wie sie der tief im protestantischen Denken verwurzelte Idealismus nur allzu häufig gepredigt hat. Vielmehr soll das Augenmerk auf den Buchstaben vor der vorschnellen Übersetzung der Sprache in den Geist schützen. Szondi richtet sich gegen das, was Jochen Hörisch später die »Wut des Verstehens«86 genannt hat. So wenig wie ihm geht es Szondi um eine universale Hermeneutik, wie sie Dilthey, Heidegger und Gadamer vorgelegt haben. Szondis literarische Hermeneutik will, wie auch Schlegel es gefordert hatte, auf den Buchstaben achten, ohne sich doch vom Geist zu entfernen: »nach beiden zugleich interpretire«87 der moderne Kritiker, so Schlegel. Das unterscheidet den Idealismus wie die Romantik zugleich von allen Versuchen einer »Austreibung des Geistes« aus den Geisteswissenschaften, zuletzt auch von dem Versuch, einen »dekonstruktiv ›aufgeklärten‹ Begriff von Hermeneutik«88 zu entfalten,
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Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 141. »Die Wut des Verstehens, wenn sie universal wird, heißt philosophische Hermeneutik«, so Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens. Erweiterte Neuauflage, Frankfurt a.M. 1998, S. 64f. Friedrich Schlegel, Historische Ansichten der Philosophie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Zweite Abteilung: Schriften aus dem Nachlass. Band 18: Philosophische Lehrjahre 1796-1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796-1828. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien/Zürich 1963, S. 56. Albrecht Wellmer, Hermeneutische Reflexion und ihre ›dekonstruktive‹ Radikalisierung. Kommentar zu Emil Angehrn. In: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt a.M. 2002, S. 200-215, hier S. 200.
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wie Albrecht Wellmer es vorschlägt. Dass die Dekonstruktion als kritische Paratheorie die Aufklärung der Hermeneutik über sich selbst nicht leisten kann, sondern vielmehr selbst der Aufklärung bedarf, hatte sich bereits aus Szondis Hinweis ergeben, dass die Grammatologie sich einseitig auf das Prinzip der Schrift stützt. Die literarische Hermeneutik, auf deren Suche sich Szondi in der Rückwendung zu Schleiermacher begibt, geht daher nicht bruchlos in der Aporie des Verstehens auf, die Hamacher als nicht zu überwindende Kluft aller Begründungsversuche einer Hermeneutik vor Augen gestellt hat. Dabei ist es keineswegs so, dass die literarische Hermeneutik das von Schlegel wie Hamacher in Anschlag gebrachte Moment des Nichtverstehens außer Acht lassen würde. Szondis eigene Beiträge zu Hölderlin und Celan und den damit verbundenen Grenzen des Verstehens haben das mehr als einmal bewiesen. Schon das von Spannungen nicht freie Verhältnis von Schleiermacher und Friedrich Schlegel, auf das Benjamin in seiner Briefsammlung Deutsche Menschen aufmerksam gemacht hat, weist auf eine eigentümliche Dialektik von Verstehen und Nichtverstehen hin. Benjamin beruft sich in diesem Zusammenhang auf einen Brief, den Schlegel Schleiermacher zum Abschied geschrieben hat: Es wäre gut, wenn Du etwas dabei fühltest, denn es könnte Dich veranlassen, wenigstens ein einziges Mal eine Ausnahme von Deiner Exegese zu machen und es allenfalls, wenn es Dein Verstand zuläßt, als Hypothese zu denken, daß Du mich vielleicht von Anfang bis zu Ende durchaus nicht verstanden hättest. Und so bleibt wenigstens die Hoffnung, daß wir uns in künftigen Zeiten einmal verstehen lernten. Und ohne einen Schimmer dieser Hoffnung würde es mir an Mut fehlen, jenes Lebewohl zu sagen. Beantworte es nicht.89 Schlegel wartet auf keine Antwort Schleiermachers – wie sollte man auf solch ein Lebewohl auch antworten –, weil er den Ausdruck des Nichtverstehens, auf dem er insistiert, mit der Hoffnung auf ein zukünftiges Verstehen verbindet, das er zwar unbestimmt lässt, aber immer89
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Band IV. Herausgegeben von Tilman Rexroth, Frankfurt a.M. 1980, S. 233.
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hin in Aussicht stellt. Weder die Selbstverständlichkeit des Verstehens, die hermeneutische Wut der Exegese, noch die des Nichtverstehens, die dekonstruktive Berufung auf die aporetische Struktur allen Verstehens, steht im Mittelpunkt seines Interesses, sondern eine Dialektik von Verstehen und Nichtverstehen, in der beide sich wechselseitig als Korrektur dienen – das Nichtverstehen als Korrektur an den bisweilen überzogenen Ansprüchen der Hermeneutik, eine Schrift besser zu kennen als der Verfasser selbst, und das Verstehen als Korrektur eines Nichtverstehens, das alle Bedeutungszusammenhänge zu erfassen droht und so haltlos in den Abgrund der Nichtbedeutung taumelt. Wo Schleiermacher darum bemüht ist, den Buchstaben ganz im Geistigen aufzulösen und wo die Dekonstruktion ganz dahin drängt, alles Geistige auf die Materialität der Schrift – was keineswegs mit dem Buchstaben gleichzusetzen ist, der sich der Unterscheidung der mündlichen und der schriftlichen Rede entzieht – zurückzuführen, da sucht Szondi eine Übersetzung des Buchstaben in den Geist, die beiden gerecht zu werden vermag. Ihr Vorbild in der Literatur und daher den idealen Gegenstand einer historisch und kritisch verfahrenden Philologie findet er, wie schon Benjamin, in Hölderlin.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
3.
Pflege des Buchstaben. Dichtung und Übersetzung bei Friedrich Hölderlin
3.1
Übersetzung, Sprache, Kultur. Zur Dialektik vom Eigenen und Fremden bei Hölderlin … der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepflegt werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.90
Mit diesen Worten endet Hölderlins Hymne Patmos, die er im Januar 1803 dem Landgrafen von Homburg widmete. Mit der Berufung auf den Buchstaben scheint Hölderlin ganz der pietistisch geprägten Bibelfrömmigkeit des Landgrafen zu entsprechen, der sich ursprünglich an Klopstock gewandt hatte, um ein Zeichen gegen die aufklärerische Bibelexegese zu setzen. Vor diesem Hintergrund hat Jochen Schmidt erläutert, es solle Patmos zufolge im Rahmen einer pietistisch inspirierten Lehre des Geistes »der Buchstabe der Bibel gepflegt werden, der dem Prinzip der bloßen Buchstäblichkeit widerspricht«91 . Während Schmidt davon ausgeht, dass Hölderlin so seine eigene, durchaus der Aufklärung verpflichtete idealistische Spekulation mit der biblischen Tradition auf einer vermittelten Reflexionsstufe in Übereinstimmung zu bringen versucht, hat Thomas Schröder gegen eine Lesart Einspruch erhoben, die Hölderlin einsinnig auf den Pietismus zu verpflichten sucht.92 Vielmehr gehe es um etwas anderes: »Hölderlin will etwas buchstäblich ins Bild
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91 92
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe I. Herausgegeben von Michael Knaupp, Frankfurt a.M. 1992, S. 453. Im Folgenden alle Zitatnachweise im Text in Klammern. Jochen Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen ›Friedensfeier‹ – ›Der Einzige‹ – ›Patmos‹, Darmstadt 1990, S. 286. Vgl. Thomas Schröder, Poetik als Naturgeschichte. Hölderlins fortgesetzte Säkularisation des Schönen, Lüneburg 1995, zu Jochen Schmidt S. 175f.
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setzen, das nicht wortwörtlich schon in der Bibel steht, aber andererseits auch der klassisch griechischen Natur-Kultur-Einheit nicht einfach sinnbildlich entspricht.«93 Schröder unterscheidet die Wörtlichkeit der biblischen Überlieferung und Hölderlins eigene Bemühungen um eine Buchstäblichkeit, die sich weder in die vorgegebenen Bahnen des antiken oder des christlichen Geistes integrieren lässt. Nicht gegen Buchstäblichkeit arbeite Hölderlin, sondern gegen die Wörtlichkeit, auf die sich das pietistische Traditionsbewusstsein berufe. Der »veste Buchstab«, um den es in Patmos geht, entspricht nicht einfach der von Johannes offenbarten Gewissheit, dass am Anfang das durch Gott erfüllte Wort gewesen sei. Vielmehr gehe die Deutung des Bestehenden, die Hölderlin in der Travestie des Schöpfungsberichts schlicht »gut« nennt, mit einer Pflege des Buchstabens einher, für die sich nicht mehr die Bibel verantwortlich zeigt, sondern die Dichtung, die ihre eigene Sprache aus der vermittelnden Aneignung des Vergangenen speist, ohne sich in den antiken und biblischen Quellen zu erschöpfen. Hölderlins Patmos-Hymne ist so von einer Dialektik gekennzeichnet, die seine dichterische Arbeit in einem erweiterten Sinne als eine Übersetzungsarbeit kennzeichnet:94 eine Übersetzung des fremden Geistes der Bibel oder der antiken Dichtung in die Buchstäblichkeit der modernen Dichtung, die nicht länger deren bloßes Abbild sein will. Die Übersetzungsarbeit, die Hölderlin sprachtheoretisch im Blick auf das dialektisch vermittelte Verhältnis des Eigenen und des Fremden und geschichtsphilosophisch im Blick auf die Unterscheidung zwi-
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Thomas Schröder, Buchstabe, Wort und Geist. Dialektik in Hölderlins Patmos. In: Achim Geisenhanslüke (Hg.): Buchstäblichkeit. Theorie, Geschichte, Übersetzung, Bielefeld 2020, S. 103-115, hier S. 108. Zu diesem erweiterten Begriff der Übersetzung vgl. George Steiner: »Wenn wir irgendeine Aussage der Vergangenheit lesen oder hören, sei es den Leviticus oder den Bestseller vom vorigen Jahr, übersetzen wir. Leser, Schauspieler, Literaturkritiker und Übersetzer sind Übersetzer von Sprache aus der Zeit.« George Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Berlin 2014, S. 21.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
schen Antike und Moderne formuliert,95 untersteht so einer Bewegung, deren Vermittlung gegenläufiger Strebungen eine stets prekäre Figur der Balance ausbildet. Denn auf der einen Seite geht es, wie Patmos nachdrücklich zeigt, um die Treue gegenüber der Bibel, jener Wörtlichkeit, die der heilige Text anmahnt und dessen Forderung Hölderlin in der Widmung an den Landgrafen von Homburg zumindest formal erfüllt. Auf der anderen Seite erfordert die Eigengesetzlichkeit dessen, was Hölderlins Auffassung zufolge zu seinen Zeiten Dichtung zu leisten aufgegeben ist, eine beständige Verfremdungsarbeit an der Sprache, die sich auf das bestehende Erbe wie das eigene Sprechen gleichermaßen bezieht, eine Buchstäblichkeit, die vom Prinzip bloßer Wörtlichkeit zu unterscheiden ist und sich eben in der Vermittlungsarbeit manifestiert, die die Pflege des Buchstabens als verfremdende Aneignung des Vergangenen meint. Dass die vermittelnde Aneignung des Vergangenen, die die Übersetzung leistet, in eine eigentümliche Dialektik zwischen dem Eigenen und Fremden eingebunden ist, die die Grundlage kultureller Übertragungsprozesse bildet, hat Klaus Reichert betont. Reichert zufolge verbirgt sich hinter der Übersetzungsarbeit immer »eine Kulturtheorie, eine heimliche Theorie über den Umgang mit dem Fremden«96 , die auch Hölderlins Auseinandersetzung mit eigenen wie fremden Texten betrifft. Reichert unterscheidet vor diesem Hintergrund die beiden entgegengesetzten Pole der Appropriation, in der er einen »Akt der Auslöschung des Fremden und seiner radikalen Ersetzung durch ein Eigenes«97 erkennt, und der Assimilation, der Angleichung an das Fremde, das bis zur völligen Verleugnung des Eigenen gehen kann. Zwar ordnet Reichert Hölderlin im Blick auf dessen Pindar- und SophoklesÜbersetzungen eindeutig dem zweiten Pol, der Assimilation zu: »Bis in die syntaktischen Konstruktionen, bis in die Verwendung von Partikeln
95 96 97
Vgl. Achim Geisenhanslüke, Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin, München 2012. Klaus Reichert, Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München/Wien 2003, S. 25. Ebd., S. 27.
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sind seine Verse griechisch gefügt, vollends die Übersetzungen, die sich wie Interlinearversionen läsen, machte nicht der Reichtum der gnomischen Erfindungen diese Sprache als gedichtete, griechisch-deutsch gedichtete, hörbar.«98 Hölderlins eigene Überlegungen weisen jedoch durchaus auch in die entgegengesetzte Richtung der Appropriation, wenn er am 28. September 1803 an den Verleger Friedrich Wilmans zu seinen Sophokles-Übersetzungen schreibt: Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herum beholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere. (SW II, 925) Hölderlins Bemerkungen zu seiner Sophokles-Übersetzung sind in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen nehmen sie die Dialektik von Eigenem und Fremdem auf, die der kulturellen Vermittlungstätigkeit der Übersetzung zugrunde liegt: Hölderlin betont, dass die griechische Kunst »uns fremd ist« und daher auch nicht uneingeschränkt als Vorbild in Frage komme. Auf der anderen Seite unterstellt er der griechischen Kunst »Nationalkonvenienz und Fehler«, um sie im Blick auf »ihren Kunstfehler« von dem zu unterscheiden, was er selbst unter Kunst versteht. Hölderlins keineswegs unbescheidener Anspruch besteht darin, in der Übersetzung, die sich dem Fremden zuwendet, das Griechische zu verbessern, um so den Kunstfehler, den er ihm ankreidet – den einseitigen Gang aus der orientalischen Leidenschaft, der Natur oder dem Aorgischen, ins Organische der Kunst – zu korrigieren. Das Ergebnis ist eine Übersetzung, die zum einen, wie schon Reichert bemerkt hat, nicht nur auf der wörtlichen, sondern auch auf der syntaktischen Ebene am Griechischen zu kleben scheint und so nicht nur unter den Zeitgenossen für ungläubige Verwunderung und letztlich eine massive Ablehnung gesorgt hat. Die doppelte Bewegung der Korrektur der Kunstfehler des Fremden und der damit verbundenen Verfremdung des Eigenen, in der auch der 98
Ebd., S. 35.
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Verstoß gegen sprachliche Vorgaben der eigenen Sprache bewusst in Kauf genommen wird, ist einer der Gründe für die Dunkelheit, die Hölderlins Übersetzungen wie der aus dem Geist der Übersetzung gespeisten Form der späten Dichtung immer wieder zugesprochen wurden. Zwischen einer assimilatorischen, um Wörtlichkeit bemühten Übersetzung, und einer Appropriation, die den fremden durch den eigenen Geist ersetzt, hält Hölderlins buchstäbliche Übersetzung die Mitte – eine Mitte allerdings, die nicht als Ruhe oder Gleichgewicht auftritt, sondern als Radikalisierung der harmonischen Entgegensetzung von Natur und Kunst, die schon der Grund zum Empedokles heraufbeschworen hatte,99 als eine fragile Balance zwischen zwei auseinanderstrebenden Extremen, die beständig drohen, das stets prekäre Gleichgewicht zu zerstören. Hölderlins um Buchstäblichkeit ringende Übersetzung ist in dieser gegenstrebigen Fügung nicht nur in eine Kulturtheorie eingebettet, in der es auf grundsätzliche Art und Weise um den Umgang mit dem Fremden und dem Eigenen geht, sondern zugleich der mögliche Einsatzpunkt einer Poetik, der es im Sinne Henri Meschonnics darum geht, »le rôle unique, et méconnu, de la traduction comme révélateur de la pensée du langage et de la littérature«100 herauszuarbeiten. Die Übersetzung ist bei Hölderlin – wie später bei Celan – nicht allein Aneignung des Fremden, sondern zugleich Hinwendung zum Eigenen, einem Eigenen allerdings, das die Spuren des Fremden in sich erhält und so die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden erinnernd bewahrt.
3.2
Hölderlin und die Wörtlichkeit
Der Name Hölderlins verkörpert bis heute einen Begriff der Dichtung, der Unverständlichkeit, Fremdheit und Dunkelheit in sich einschließt. Das gilt nicht allein für seine Gedichte. Auch die Übersetzungen aus dem Griechischen und die dazugehörigen Anmerkungen entziehen sich
99
»Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch entgegengesetzt« (SW I, 868), heißt es im Grund zum Empedokles. 100 Henri Meschonnic, Poétique du traduire, Lagrasse 1999, S. 10.
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einem einfachen Verständnis. Die Gründe für diese Verdunkelung, die in der Vergangenheit häufig genug den Anlass für eine biographisierende Deutung der späten Texte im Zeichen des sich allmählich ausprägenden Wahnsinns bildete, sind vielfältiger Natur. Im Fall der SophoklesÜbertragung liegen sie in den problematischen philologischen Grundlagen von Hölderlins Übersetzung beschlossen, in der Fehlerhaftigkeit des griechischen Textes der Brubichiana aus dem Jahr 1555, die ihm als Vorlage diente, wie in den zahlreiche Missverständnissen und Lesefehlern, die seine Lektüre kennzeichnen.101 Hinzu kommen noch Druckfehler in Hölderlins eigenem, von Wilmans verlegtem Text. Dennoch sind nicht allein Mängel des Textes, der Übersetzung und des Druckes für die Dunkelheit der Übertragung wie der nur scheinbar erläuternden Anmerkungen verantwortlich. Sie entspringt vielmehr der bereits angedeuteten Dialektik zwischen einer Suche nach äußerster Wörtlichkeit, die bis hin zu einer irritierenden Verfremdung der eigenen Sprache führt, und dem Willen zu einer bewussten Verfremdung des Originals, die sich etwa zeigt, wenn Hölderlin griechische Ausdrücke wie tychè im Text mit dem Neologismus »Undenkliches« oder Antigones atè durchgängig mit »Wahnsinn« übersetzt. In diesem Sinne »wahnsinnig« scheint nicht nur die Protagonistin der griechischen Tragödie, sondern auch Hölderlins eigene Übertragung zu sein, die in der zeitgenössischen Rezeption nur als kaum tolerierbare Abweichung von allen Standards erscheinen konnte, die bis dahin mit Fragen der Übersetzung verbunden waren. Die Tendenz zur Wörtlichkeit, die Hölderlins Übersetzung bestimmt, hat schon Walter Benjamin herausgestellt. In seinen Überlegungen zur Aufgabe des Übersetzers führt er die Dunkelheit, aber auch die seltene sprachliche Schönheit der Sophokles-Übersetzungen auf eine eigentümliche Dialektik zwischen Wörtlichkeit und Wiedergabe des Sinns zurück. Denn ganz gegen ihre eigenen Intentionen erreiche die Suche nach Wörtlichkeit am Ende gar nicht die von ihr gesuchte
101
Vgl. hierzu den ausführlichen Kommentar von Jochen Schmidt, Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe. Band 2, Frankfurt a.M. 1994, S. 1323ff.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Eindeutigkeit des Sinns, sondern schlage vielmehr in Unverständlichkeit um. »Gar die Wörtlichkeit hinsichtlich der Syntax wirft jede Sinnwiedergabe vollends über den Haufen und droht geradewegs ins Unverständliche zu führen. Dem 19. Jahrhundert standen Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als monströse Beispiele solcher Wörtlichkeit vor Augen«102 , notiert Benjamin, um den abrupten Umschlag von scheinbar bewahrender Wörtlichkeit in unvermittelte Zerstörung des Sinns festzuhalten. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Treue und Freiheit der Übersetzung erkennt Benjamin daher allein in einer dem Erhabenen nahestehenden Form der Ausdruckslosigkeit, die über das Bedeuten hinausgehe: »In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller Sinn und alle Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind.«103 Wenn Benjamin im Anschluss daran in einer einflussreichen Formel festhält, Hölderlins Übersetzungen seien »Urbilder ihrer Form«104 , dann meint er die den Übertragungen innewohnende Tendenz, sich dem Sinn gerade durch die Tendenz zur Wörtlichkeit zu verschließen. Wie irritierend sinnverweigernd diese Wörtlichkeit bei Hölderlin am Werk ist, führt besonders deutlich die Übertragung des Klageliedes Antigones aus der gleichnamigen Sophokleischen Tragödie vor Augen, in dem die Protagonistin Abschied vom Chor nimmt, um endgültig im Reich des Todes zu verschwinden. Aufschlussreich nicht nur für Hölderlins Übersetzungsarbeit, sondern für seine Poetik insgesamt ist die Passage, weil schon der griechische Text mit dem Thema des Abschieds, der Sprachform der Klage und dem Affekt der Trauer Grundmomente von Hölderlins eigener später Dichtung aufnimmt. An seiner Übersetzung des letzten Auftritts der Antigone, in dem er die Präsenz dessen erkennt, was er in den Anmerkungen »tödlichfactisch« (SW II,
102 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Band X. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Wolfgang Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980, S. 17. 103 Ebd., S. 19. 104 Ebd., S. 21.
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373) nennt, kann Hölderlin so eine Bewegung ablesen, die zugleich für den Umschlag von Tragödie zu Lyrik verantwortlich ist, den seine eigene Dichtung geschichtsphilosophisch formuliert und gattungspoetisch vollzieht. Das Klagelied Antigones, zugleich ihr letzter Auftritt im Drama, ist durch einen Ausdruck von Pathos gekennzeichnet, der die Tragödie zum Paradigma der sprachlichen Darstellung von Abschiedsszenen überhaupt zu erklären scheint. Schon Karl Heinz Bohrer spricht in seiner umfassenden Studie Der Abschied in diesem Sinne von »der Abschiedsform der attischen Tragödie, deren bewegendstes Beispiel Sophokles Antigone enthält.«105 Seine Ausführungen zur Antigone bettet er in eine Deutung ein, die zwischen der »Objektivität der Sinnstiftung durch den Chor und der Subjektivität des Schmerzes Antigones«106 unterscheiden will: »Hierin liegt die überwältigende Furchtbarkeit von Antigones Abschied. Er bekommt jedoch vom Kommentar des Chors eine erhabene, sinnstiftende Deutung, auch wenn Antigone selbst seine Deutung als ›Spott‹ nicht annimmt.«107 Das Moment der Objektivität des Chores, das Bohrer zufolge eine »erhabene, sinnstiftende Deutung« vornehmen soll, findet im Text jedoch keinerlei Anhalt. Wie bereits die Eingangspassage der Tragödie mit dem Dialog von Antigone und Ismene ist das Gespräch mit dem Chor vielmehr von einer Bewegung der radikalen Entzweiung gekennzeichnet, an deren Ende Antigone in völliger Vereinsamung dasteht, ohne dass der Chor sich dazu noch in ein Verhältnis setzen könnte, das von Verständnis geprägt wäre. Das Ziel ihres Klagegesangs, bei den Vertretern der Stadt unmittelbar vor dem Vollzug des durch den König verhängten Todesurteils Beistand zu erhalten, wird auf eine derart groteske Art und Weise verfehlt, dass von Sinnstiftung keine Rede sein kann. Vielmehr missverstehen sich Antigone und der Chor so gründlich, dass der Dialog in einem völligen Abbruch der Kommunikation
105 Karl Heinz Bohrer, Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin, Frankfurt a.M. 1996, S. 13. 106 Ebd., S. 13. 107 Ebd.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
endet, ohne noch von einer vermittelnden Instanz aufgefangen werden zu können.
3.3
Klagegesang: Antigones Abschied
Im Rahmen des Handlungsverlaufs der Tragödie nimmt der Kommos eine besondere Stellung ein. Er verkörpert den letzten Auftritt der Protagonistin der Tragödie, auf den nur noch der Streit zwischen Teiresias und Kreon, in dem Hölderlin die Zäsur des Dramas erkennen wollte, und darauf aufbauend der völlige Zusammenbruch des Königs folgt. Die Abschiedsszene markiert damit den eigentlichen Höhepunkt der Tragödie, in dem die Entzweiung zwischen Antigone und allen anderen Beteiligten an ihr äußerstes Ende gelangt. Die Darstellung des Klagesangs in der Antigone ist dementsprechend von Beginn an von einer antithetischen Bildlichkeit geprägt, in der die Zerrissenheit der Protagonistin anschaulich zum Ausdruck kommt: Seht mich, meines Vaterlandes Bürger, den letzten Weg gehen, das letzte Licht der Sonne sehen und dann nie wieder. Mich führt nun lebend der allbettende Hades zu Acherons Küste, weder des Brautstandes teilhaftig, noch empfängt mich zur Hochzeitsfeier ein Lied, sondern ich werde Acheron angetraut.108 Antigones Klage beruht auf ihrem gut nachvollziehbaren Schmerz: Als letzte ihrer Familie – Ismene hat sie nach dem Streit zu Beginn des
108 Sophokles, Antigone. Griechisch/deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Norbert Zink, Stuttgart 1981, Vers 806-816. Im Folgenden alle Versangaben in Klammern im Text.
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Dramas aus dem Familienkreis ausgeschlossen – geht sie jung und unverheiratet in den Tod, für sie wie für die Familie ist ein Endpunkt erreicht, an dem sich das traurige Schicksal der Labdakiden erfüllt. Trauer spricht aus ihren Worten, weniger aber die Trauer als »die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person, oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.«109 , wie Freud sie definiert hat, sondern vielmehr die Trauer um den unmittelbar bevorstehenden eigenen Tod. Trotz dieser Selbstbezogenheit, in Freuds Augen das Moment, wo der Affekt der Trauer in die pathologische Form der Melancholie zu kippen droht, verfügt ihre Klage über eine politische Dimension: Sie richtet sich an »meines Vaterlandes Bürger« und ist damit zugleich Klage über den desaströsen Zustand der polis, die es zulässt, dass die einstige Königstochter dem Tod überantwortet wird. Für diese Nähe zum Tod findet der Text eindringliche Bilder: »das letzte Licht der/Sonne« und der »all-/bettende Hades« stehen einander gegenüber, Helios und Hades in einem nicht mehr zu vermittelnden Konflikt, Abschied bedeutet, dem Licht zu entsagen und in das Dunkel zu gehen. Die paradoxe Situation, in der sie sich befindet, fasst der Text in dem ganz und gar unromantischen Bild der Hochzeit mit Hades zusammen, die Hölderlin zu der spekulativen Idee inspiriert, die Tragödie beruhe auf der Vereinigung des Menschen mit dem Gott: Sie werde »Acheron angetraut«, klagt Antigone. Keine Erotisierung des Todes spricht aus ihren Worten, wie moderne Lesarten vielleicht vermuten lassen,110 sondern die schlichte Einsicht, dass an die Stelle einer Hochzeit auf Erden, wie Antigone sie sich wünscht, eine Hochzeit im Hades tritt. Es ist diese Schlichtheit, die Antigones Klagegesang zu einem bewegenden Ausdruck des Schmerzes macht, der mit dem Abschied verbunden ist. Antigones Klage sucht allerdings keineswegs nach einem Ausweg aus der buchstäblich aporetischen Situation. Eine wie auch immer geartete
109 Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Zehnter Band. Werke aus den Jahren 19131917, Frankfurt a.M. 1999, S. 429. 110 Eine solch modernisierende Deutung unternimmt Judith Butler, Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt a.M. 2001.
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Rettung ist für sie nicht in Sicht. Sie will nur eines: Wie aller Klagegesang, so will auch der Antigones gehört werden.111 Das aber verwehrt ihr der Chor: Er hört nicht zu. Statt mit ihr mitzufühlen, wie es die Situation erfordert, sucht der Chor Antigone zu trösten, indem er sich auf den »Ruhm« bezieht, den sie aus ihrem Tod beziehen wird. Nicht die Gegenwart, die Zukunft, die Antigone nicht mehr erleben wird, steht im Mittelpunkt der Trostrede des Chors. Er begründet seine Position mit den Hinweis auf den selbstgewählten Tod Antigones: Aus freien Stücken und eigenen Gesetzen folgend, »autonomos«, sei Antigone in den Tod gegangen und habe sich daher den Ruhm verdient, der sonst meist männlichen Heroen zukommt. Die eigenwillige, ganz und gar an ihrer konkreten Leidenssituation vorbeigehende Deutung des Chors kann Antigone nicht akzeptieren. Sie wendet sich demonstrativ von ihm ab, um in einem zweiten Schritt im Vergleich mit dem Schicksal Niobes mehr Gehör zu finden: Ich habe gehört, daß trauervoll zugrunde ging die Fremde aus Phrygien, die Tochter des Tantalos, an Sipylos‹ Gipfel, die wie zährankend Efeu Felsenwuchs umwindet: und Regengüsse verlassen die sich Verzehrende nie, so das Gerede der Menschen und ebensowenig der Schnee, sie benetzt aus tränenreichen Wimpern die Bergrücken. So bettet mich die Gottheit in derselben Weise. (Vers 823-833) Die Trauer, die sie selbst zum Ausdruck bringen möchte, findet Antigone im Beispiel der Niobe vorformuliert. Aus ihr versucht sie abzuleiten, was gerade mit ihr geschieht: Wie Niobe, so ist sie ein Opfer, das unmäßige Gewalt von Seiten der Götter erleidet, und wie die in Stein verwandelte Königstochter ist auch ihr Beispiel eines, das nicht 111
Vgl. Juliane Prade. Language of Ruin and Consumption: On Lamenting and Complaining, New York/London: Bloomsbury 2020.
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nach Ruhm, wie der Chor meint, sondern nach Trauer verlangt. Wieder findet der Text ein nachdrückliches Bild für die Verbundenheit in der Trauer: Niobe ist in einen Felsen verwandelt worden, der Efeu, der sie umrankt, und der Regen, der sie benetzt, sind Ausdruck einer Klage, die nun für die verstummte Mutter die Natur übernehmen muss. Antigone sucht Trost in der Einsicht, dass sie nicht die einzige ist, die Gewalt am eigenen Körper erleiden muss, und mit dem Vergleich mit Niobe klagt sie ein, dass sie, die Nachkommin des Labdakos, die gleiche Trauer verdient hätte, wie sie die des Tantalus bekommen hat. Die Reaktion des Chors fällt für Antigone jedoch vernichtend aus. Hatte der Chor ihr in seiner ersten Antwort noch wie ungelenk auch immer Trost zu spenden versucht, so ergeht er sich nun in Vorwürfen an die Klagende: Der Vergleich mit Niobe, so das Urteil, sei Hybris, ein unpassender Vergleich eines Menschen mit einem Gott, unpassend auch im Blick auf den Kinderreichtum, dessen Niobe sich zu ihrem eigenen Verhängnis gerühmt hat, und der Jungfräulichkeit Antigones, die ohne Mann und ohne Kinder in den Tod gehen muss. Was der Chor nicht zu sehen bereit ist, ist die simple Tatsache, dass Antigone nicht über die Gründe über das Verhängnis rechtet, das sie wie zuvor Niobe ereilt, sondern dass sie nur danach verlangt, einen Trost gespendet zu kommen, der ihrer Situation angemessen wäre. Die ablehnende Antwort des Chors kann sie daher nicht annehmen: Wehe, ich werde verlacht. Was höhnst du mich bei den Göttern des Vaterlandes, die noch nicht umgekommene, sondern die immer noch im Licht. Stadt, oh, der Stadt Begüterte Männer! Io! Dirkes Brunnen und Thebens wagenstolzen Hain, gleichwohl zu Zeugen nehme ich euch, wie von Freunden unbeweint – nach was für Recht! – zum gewölbten Verlies eines unerhörten Grabes ich gehen muß. Io! Ich Arme, weder bei Sterblichen noch bei Toten geduldet, nicht bei Lebenden, nicht bei Gestorbenen. (Vers 839-852)
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Die zweite Reaktion Antigones fällt noch verzweifelter aus als die erste. In ihren Augen gießt der Chor Hohn und Spott über sie aus: »ich werde verlacht«, so lautet der fast lakonisch anmutende Kommentar zu der Antwort des Chores, in der die von ihr verlangte Trauer durch ein grausames Verlachen ersetzt wird. Antigone, die sich bisher nur als unschuldiges Opfer der Götter und des fehlgeleiteten Königs gefühlt hat, sieht sich nun als Opfer der hämischen Worte des Chores. Was das Wechselgespräch bestätige, ist die völlige Einsamkeit der Protagonisten, deren Klage buchstäblich ins Leere verläuft: Sie findet keinen Ansprechpartner, der ihr das gewährt, was die Klage zum Ziel hat, nämlich gehört zu werden. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich so vom Chor ab und dem einzigen Adressaten zu, der ihr noch bleibt: »Dirkes Brunnen« und »Thebens wagenstolzen Hain«. Wo kein Mensch mehr bereit ist, ihr zuzuhören, muss die Natur eintreten: Der Fluss und der Wald um die Stadt werden zum letzten Ansprechpartner Antigones und damit zum Zeugen des traurigen Schicksals, das sie ereilt. In die verfahrene Situation kann auch die dritte Reaktion des Chores keine Bewegung mehr bringen. Sie macht den jähzornigen Sinn des Vaters für das scheinbar schroffe Verhalten der Tochter verantwortlich – von der Autonomie, auf die sich der Chor eingangs berufen hatte, bleibt keine Spur mehr. Damit artikuliert der Chor eine Befürchtung, der sich Antigone nicht ganz entziehen kann: Es sei die »mir schmerzlichste Sor-/ge, des Vaters mehrfach aufgepflügten Jam-/mer« (Vers 858-859), der sie erschüttert. Nicht nur das eigene Schicksal, sondern die unglückselige Familiengeschichte steht nun im Mittelpunkt, das Schicksal der »berühmten Labdakiden« (Vers 861), damit die eigene Herkunft der aus dem Inzest Geborenen. Antigone schafft der Verzweiflung Ausdruck, dass ihr unglückliches Schicksal das der Eltern und Geschwister bestätigt, dass es keinen Ausweg aus dem Familienfluch zu geben scheint, vielmehr ihr Untergang unmittelbar aus dem der Brüder abzuleiten ist: »Io! Der du unglückselige/Hochzeiten gefunden, Bruder,/im Sterben hast du mich, die ich noch lebte, getötet.« (Vers 869-871) Auch die nun um die Familie erweiterte Klage kann den Chor aber nicht rühren. Er beruft sich vielmehr auf die Staatsgewalt, die über al-
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lem stehe, auch der Totenehre, die Antigone dem Bruder hat zukommen lassen. In ihrer aus Pietät erfolgten Tat will der Chor vielmehr den Jähzorn erkennen, der schon den Vater geleitet hat. Vor diesem Hintergrund bleibt Antigone nichts anderes als die abschließende Klage, dass entgegen ihren Erwartungen niemand ihr im Tod beistehe: Ohne Tränen, ohne Freunde, ohne Hochzeit werde ich Unglückselige diesen bereiteten Weg geführt. Nicht mehr ist mir dieses heilige Auge des Lichts erlaubt zu sehen, mir Ärmstem, um mein Schicksal, das unbeweinte, trauert keiner der Meinigen. (Vers 876-881) Die völlige Vereinsamung der Protagonistin bringt die dreifache Privation »Ohne Tränen, ohne Freunde, ohne Hochzeit« zum Ausdruck. Von allem beraubt, was ein glückliches Leben ausmacht, findet Antigone in den Tod, ohne dass einer der Angehörigen geschweige denn einer der Bürger der Stadt um ihr Schicksal trauere. Der Klagesang erfüllt seinen Zweck nicht, und gerade das Fehlgehen der Klage, das in der Abschiedsszene keinen findet, der bereit wäre, ihr zuzuhören, macht den Kommos in einer Sprache, die zugleich ins Lyrische kippt, zum Ausdruck einer kaum zu überbietenden Trauer.
3.4
Der feste Buchstabe in der Übersetzung. Hölderlin und Sophokles
In Hölderlins Übersetzung des Klageliedes überlagern sich eine fast unbedingte Treue zum griechischen Original und eine fast ebenso unbedingte Eigenwilligkeit der sprachlichen Darstellung. Seht, ihr des Vaterlandes Bürger, Den lezten Weg gehen mich, Und das letzte Licht Anschauen der Sonne. Und nie das wieder? Der alles schweigende Todesgott, Lebendig führt er mich
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Zu des Acherons Ufer, und nicht zu Hymenäen Berufen bin ich, noch ein bräutlicher singt Mich, irgend ein Lobgesang, dagegen dem Acheron bin ich vermählt. (SW II, 348) Hölderlins Übersetzung ist von der Suche nach sprachlicher Schlichtheit bestimmt. Den ersten Satz überträgt er so einfach wie möglich, hält an der Rede von »des Vaterlandes Bürger« ebenso fest wie an der doppelten Wendung vom »lezten Weg« und dem letzten Licht der Sonne. Bereits der zweite Satz aber gibt in der Frageform »Und das nie wieder?« eine reflexive Wendung wider, die in dieser Form bei Sophokles nicht zu finden ist. Hölderlins Antigone gewinnt so zugleich einen mädchenhaft-zärtlichen Charakter, der im griechischen Text keinen besonderen Anhalt findet und eher einer Auslegung Hölderlins entspricht, die der Darstellung der Frauenfiguren in seinem eigenen Werk insgesamt nahekommt. Die reflexive Wendung, die das Klagelied in Hölderlins Übertragung bekommt, verbindet sich mit einem zweiten Moment, das bei Sophokles keine Rolle spielt: der Reflexion auf Sprache. Wenn Hölderlin Hades als »Der alles schweigende Todesgott« bezeichnet, dann spricht er ihm in einer sprachreflexiven Wendung zu, was Antigones Rede faktisch zukommt: dass ihre Worte die letzten vor dem endgültigen Schweigen sind, dass der Tod bedeutet. Die Sprachreflexion, die Hölderlins um Wörtlichkeit bemühte und gerade dadurch modernisierende Übertragung auszeichnet, führt so unmittelbar in den Bereich der Dichtung, des Lyrischen, das bereits den Kommos der griechischen Tragödie auszeichnet und zum Leitbild von Hölderlins später Dichtung wird: Antigone klagt, dass ihr kein »Lobgesang« zukommt, dass sie sie sich selbst das Abschiedslied singen muss. Die Wendung »Berufen bin ich« unterstreicht noch diese Reflexion auf die Sprachlichkeit der eigenen Klage. In seiner Bemühung um Wörtlichkeit hält Hölderlin auf der lexikalischen Ebene an dem griechischen Ausdruck der »Hymenäen« ebenso fest wie an der griechischen Grammatik: An der Stelle des Dativs, den das Deutsche fordert, bewahrt er den griechischen Akkusativ mit der grammatikalisch-syntaktisch eigenwilligen Gestaltung »noch ein
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bräutlicher singt/mich«. Das Singen unterstreicht nicht nur die Sprachreflexion, die Hölderlins Übersetzung im Unterschied zu der griechischen Vorlage bestimmt. Dass nicht ihr ein Brautlied gesungen wird, sondern kein bräutlicher Gesang sie singt, macht deutlich, dass sich Antigone in Hölderlins Übertragung ganz und gar als eine Sprechende versteht, dass sich das Subjekt in einem unerhört modernen Sinne – im Übergang von der Substanz zum Subjekt, durch den auch Hegel die Moderne definiert – durch Sprache konstituiert: Antigone wird gesungen, allerdings nicht durch den Eros, der sie ins Brautbett führt, sondern durch Hades, der sie ins Totenreich bettet. Hölderlin macht in dieser eigenwilligen Übertragung deutlich, was Antigone aus einer modernen dialektischen Bestimmung heraus geschieht: dass sie vom selbstmächtigen Subjekt zum Gegenstand einer exzentrischen Bewegung wird, über die sie keinerlei Verfügungsgewalt mehr hat. Der Ort, an dem diese Dezentrierung des Subjekts geschieht, ist die Sprache, die in ihrem eigenen Mund ihr selbst fremd wird, weil der Gott – in diesem Fall Hades – von ihr Besitz nimmt und aus ihr heraus eine Sprache spricht, von der nicht länger gesagt werden kann, ob es die eigene, menschliche, oder eine fremde, göttlich-dämonische ist. Die Sprachreflexion, die Hölderlins Übertragung im Vergleich zum griechischen Text auszeichnet, gibt dem Klagegesang der Tragödie so eine neue, eigentümlich elegische Wendung, die in dieser Form auch in Hölderlins späte Dichtung eingeht. Wenn er in Mnemosyne formuliert »Am Feigenbaum ist mein/Achilles mir gestorben« (SW I, 458), dann bringt er jene Trauer zum Ausdruck, die er dem Klagelied der Tragödie abliest, um ihr eine lyrische, ins Melancholische reichende Wendung zu geben, und so einem Abschied gerecht zu werden, der sich sprachlich als eine Reflexionsfigur artikuliert, in der das menschliche Bewusstsein an eine äußerste Grenze und noch darüber hinaus getrieben wird.112 112
Zu dieser Reflexionsfigur vgl. ausführlich Bohrer: »Es handelt sich nicht um das schmerzliche oder elegische Gefühl angesichts eines erfahrenen Verlusts, sondern um die Erkenntnis von dessen strukturell angelegter Vorgegebenheit: als Reflexionsfigur des Präsens als eines je schon Gewesenen. Das ist eine prinzipiell andere Form des Abschieds als die Klageform, die sich in traditionellen Abschiedsmotiven der Weltliteratur erkennen läßt. Von dieser traditionellen
Erster Teil: Buchstabe und Geist in der Hermeneutik
Dass die Wörtlichkeit, die Hölderlin in seiner Übertragung sucht, in jene Verdunkelung des Sinns umschlägt, die schon Benjamin diagnostiziert hat, wird besonders deutlich an der Niobe-Passage, in der der Text unvermittelt von einem Extrem ins andere kippt: Ich habe gehört, der Wüste gleich sei worden Die Lebensreiche, Phrygische, Von Tantalos im Schoose gezogen, an Sipylos Gipfel; Hökricht sei worden die und wie eins Epheuketten Anthut, in langsamen Fels Zusammengezogen; und immerhin bei ihr, Wie Männer sagen, bleibt der Winter; Und waschet den Hals ihr unter Schneehellen Thränen der Wimpern. Recht der gleich Bringt mich ein Geist zu Bette. (SW II, 348f.) Auf die Eigentümlichkeit der Hölderlinschen Übersetzung der NiobePassage hat schon Martin von Koppenfels hingewiesen. Er erkennt in ihr eine Poetik der Versteinerung, die entscheidende Veränderungen am griechischen Text vornimmt: Der griechische Wortlaut wird gesprengt, die wichtigsten Stellen sind fast gänzlich Interferenz: ›der Wüste gleich sei worden‹, ›die Lebensreiche‹, ›hökricht sei worden‹, ›zusammengezogen finden keine Stütze im Text des Sophokles. Ein Auslöser mag die Verwechslung der Adjektive und (poetisch für: ›betrübt‹, ›elend‹, aber auch ›unfruchtbar‹, bezogen auf Landstriche) gewesen sein. Doch die ›Wüste‹, dies hölderlinsche Waste Land, bedeutet mehr: sie ist Produkt der zerstörerischen Kraft göttlichen Lichts. Die irritierende Umformung ›wie einst Epheuketten anthut‹ macht Niobe zum Subjekt Abschiedsklage ist die Reflexionsfigur des Abschieds als die Bewußtseinsform moderner Trauer zu unterscheiden, die das Verschwinden von Gegenwart immer schon weiß, und zwar unter Reflexion von deren diskursiver Bedingung. Es wird sich zeigen, daß es sich um ein Gesetz des poetischen Diskurses seit 1800 handelt, nicht etwa bloß um eine individuelle Artikulation, wie literarisch bedeutsam auch immer.« Karl Heinz Bohrer, Der Abschied, S. 10.
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des Geschehens und damit den Versteinerungsprozeß zum tragisch selbstzugefügten – während Sophokles Formulierung (›der Felswuchs bändigte sie, festgewachsen wie Efeu‹) keinen Zweifel daran läßt, daß die Metamorphose ein Gewaltakt istm, der Niobe geschieht. Die metonymische Entgrenzung von gr. (Schnee) zu Winter schließlich setzt in Hölderlins Text den Schlußpunkt unter einen dreistufigen Naturprozeß, von dem sich bei Sophokles keine Spur findet: von der Fruchtbarkeit (›die Lebensreiche‹) zur Ausdörrung (›Wüste‹), zur Erkaltung (›Winter‹). Alle drei Schlüsselwörter fehlen im griechischen Text.113 Wie Koppenfels herausarbeitet, ist die Übersetzungsarbeit Hölderlins nicht nur von der Tendenz zu einer Überwörtlichkeit geprägt, die dazu neigt, die griechische Sprachstruktur im Deutschen nachzubilden. Der Text vollzieht darüber hinaus eine Bewegung, die, zum Teil durch Missverständnisse provoziert, eigene Setzungen in den griechischen Text einschreibt. Dem entspricht vor allem der unvermittelte Umschlag von Fruchtbarkeit in Wüste und Winter, ein Umschlag in Extrembereiche, zwischen denen keine Vermittlung mehr möglich ist. Koppenfels spricht nicht von ungefähr von dem »hölderlinschen Waste Land«: In seinen Anmerkungen spricht Hölderlin Antigone an als »ein wüst gewordenes Land, das in ursprünglicher üppiger Fruchtbarkeit die Wirkungen des Sonnenlichts zu sehr verstärket, und darum dürre wird. Schiksaal der Phrygischen Niobe; wie überall Schiksaal der unschuldigen Natur, die überall in ihrer Virtuosität in eben dem Grade ins Allzuorganische gehet, wie der Mensch sich dem Aorgischen nähert, in heroischeren Verhältnissen, und Gemüthsbewegungen.« (SW II, 371f.) Die Poetik der Versteinerung, von der Hölderlins Übertragung Zeugnis ablegt, unterwirft den Menschen einem Naturprozess, der von einem Extrem ins Andere und so zugleich die Suche des Bewusstseins vor Augen führt, in völliger Verzweiflung und Vereinsamung jenseits der Menschen in der Natur einen Halt zu finden. Wenn Antigones Körper 113
Martin von Koppenfels, Das Moment der Übersetzung. Hölderlins ›Antigonä‹ und die Tragik zwischen den Sprachen. In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 2 (1996), S. 349-367, hier S. 358.
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in einer fast schon brutalen Wendung mit der Topographie der Wüste enggeführt wird, dann vollzieht jene Wendung der Privation, die auch Hölderlins eigene Texte wie Hälfte des Lebens gestalten. Die Klage »Weh mir, wo nehm‹ ich, wenn/Es Winter ist, die Blumen, und wo/Den Sonnenschein,/Und Schatten der Erde?« (SW I, 445) ahmt die Bewegung nach, die auch die Übertragung der Niobe-Passage bestimmt: Das Bild sommerlicher Erfüllung, das die erste Strophe bestimmt, weicht dem einer winterlichen Erstarrung, die als Naturbild zugleich dem Status des sprechenden Subjekts entspricht, das sich in einer Klage artikuliert, die nach den Bedingungen poetischen Sprechens in einer der Poesie feindlichen Umwelt fragt.114 Die Radikalität von Hölderlins Übersetzungen wie Dichtungen besteht darin, diese Entfremdung ohne jede Beschönigung sprachlich so genau wie möglich nachvollziehen zu wollen. Hölderlins um Wörtlichkeit bemühte Übertragung entpuppt sich so zugleich als eine gewaltsame Appropriation des Vergangenen, die einen doppelten Prozess der Aneignung des Fremden und der Verfremdung des Eigenen vollzieht. Seine Vollendung findet dieser Prozess in der Darstellung Antigones als einer Wahnsinnigen. Hölderlin begreift Antigones Weg in den Tod über die griechische Vorlage hinaus als eine Inbesitznahme ihres Körpers durch den Gott, der sich in einer Sprache artikuliert, die sich immer weiter von den Vorgaben der Menschen entfernt und so dem Wahnsinn annähert. Den Spott, den Antigone von Seiten des Chores erdulden muss, übersetzt Hölderlin in Metaphern des Irrsinns: »Weh! Närrisch machen sie mich.« (SW II, 349) So lautet seine Übertragung von Antigones verzweifelter Reaktion auf den Unwillen des Chors, ihr Gehör zu schenken. Den Wechsel des Adressaten vom Chor zur Natur, in der Übersetzung apostrophisch besungen als »ihr Dirzäischen Quellen« (SW II, 349) und »o ihr Wälder« (SW II, 349), legt Hölderlin als eine Sprache aus, die aus der völligen Vereinsamung heraus, wie sie schon Hyperion und Empedokles kennzeichnet, bis zum Wahnsinn geht. Die Klage um den
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Vgl. in diesem Zusammenhang Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a.M. 2005.
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Familienfluch, der sich an ihr erfüllt, gerinnt so zur schmerzlichen Einsicht um die prekäre eigene geistige Verfassung: Io! du mütterlicher Wahn In den Betten, ihr Umarmungen, selbstgebärend, Mit meinem Vater, von unglüklicher Mutter, Von denen einmal ich Trübsinnige kam, Zu denen ich im Fluche Mannlos zu wohnen komme. (SW II, 350) Der mütterliche Wahn, den Antigone hier direkt anspricht, setzt sich fort in ihrem eigenen Trübsinn. Getrübten Sinnes, wörtlich »ich Trübsinnige«, verwirrt sich Antigones Geist unmittelbar vor dem Gang in den Tod: »Unbeweinet und ohne Freund‹ und ehlos/Werd‹ ich Trübsinnige geführet/Diesen bereiteten Weg.« (SW II, 350) Um Antigone wird es dunkel, und dies Dunkel legt sich wie ein Schatten auf ihren Geist, der so mit Recht trübsinnig genannt werden kann. Die dreifache Privation, die der griechische Text zum Ausdruck brachte, nimmt Hölderlin in einer kunstvollen Variation auf: »Unbeweint«, »ohne Freud« und »ehlos« lautet der Durchgang vom Präfix »Un-« über das »ohne« bis zum Suffix «-los«, den Hölderlin sprachlich vollzieht. Er trifft damit den Ton der Trauer, der in Antigones Klage zum Ausdruck kommt, dass niemand neben ihr stehe, der sie in den Tod begleiten könnte, und verlängert die Trauer zugleich in eine melancholische Form des Ichzerfalls, der das Subjekt zerstörerisch ergreift. Das ganz und gar vereinsamte Ich, das sich in den letzten Worten Antigones präsentiert, löst sich im Klagegesang buchstäblich auf. Die Denzentrierung des Ich, die Hölderlin in die antike Figur der Antigone einträgt, hat er auch in den Anmerkungen zum Ausdruck gebracht, wenn er ihr unterstellt, »daß sie auf dem höchsten Bewußtseyn dem Bewußtseyn ausweicht, […] ehe sie wirklich der gegenwärtige Gott ergreift.« (SW II, 371) Die Präsenz des Gottes im Menschen begreift Hölderlin in Anknüpfung an die antike Lehre des Enthusiasmus als ein Verlöschen des Bewusstseins, das sich in fehlgehenden Vergleichen wie dem Antigones mit Niobe und dem Niobes mit einer Wüste, die jäh in den Winter umschlägt, ausspricht – in einer Sprache, die sich in ihrer Wende zur Buchstäblich-
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keit dem Fremden, dem Wahnsinn und Tod, bis aufs Äußerste annähert. Es ist dieses Insistieren auf dem Buchstäblichen, das Hölderlin zu einer besonderen Herausforderung für die Sinnsuche der Hermeneutik hat werden lassen. »Die hermeneutische Aufgabe ist bei der lyrischen Poesie besonders schwierig«115 , hatte schon Schleiermacher festgehalten. Hölderlin bestätigt den hermeneutischen Verdacht Schleiermachers, indem er eine neue, dem Buchstaben treue Form der lyrischen Poesie verfolgt, die sich der allzu schnellen Übersetzung in das Geistige widersetzt. Hölderlins Übersetzung wie seine eigene späte Dichtung trägt die Dialektik von Buchstabe und Geist somit anders aus als Schleiermachers Hermeneutik. Wo diese dazu drängt, in der Idee des Klassischen und Genialischen die Einheit des Geistigen als Grundlage der Dichtung zu postulieren, da strebt Hölderlin, dessen Poetik weder im Klassischen noch im Romantischen ganz aufgehen will, dem Buchstaben zu, um einer Form der Erfahrung Rechnung zu tragen, die den Geist bis an seine äußerste Grenze – Wahnsinn und Tod – führt. Die SophoklesÜbersetzungen wie die späten Hymnen sind in ihrer Bindung an das Buchstäbliche damit alles andere als geistfeindlich. Sie formulieren vielmehr die Bedingungen, unter denen Poesie in der Moderne noch möglich sein kann, indem sie die Treue zum Buchstaben zugleich zum Umschlagspunkt werden lässt, an dem ein neuer Geist zum Ausdruck kommt, der zu Hölderlins eigenen Zeiten nicht anders als Jean Pauls Prosa als eine Abweichung von den normativen Vorgaben des Klassischen verstanden werden konnte. Hölderlins Pflege des Buchstabens führt so gerade in ihrer Bemühung um das Alte geradewegs in das Neue, in die Moderne hinein.
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Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 139.
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1.
Poetik des Buchstäblichen. Sigmund Freuds Hermeneutik
1.1
Von Schleiermacher zu Freud
Schleiermachers Verdienst hatte darin bestanden, mit der Differenzierung zwischen der grammatischen und der psychologischen Auslegung ein Konzept der Hermeneutik vorgelegt zu haben, das sowohl dem allgemeinen Aspekt der Sprache als auch dem individuellen Aspekt des Subjekts Rechnung zu tragen versucht. So aussagekräftig Schleiermachers Begründung der Hermeneutik noch für die Moderne erscheinen mochte, so sehr bedarf sie jedoch Korrekturen, die ihre einseitige Ausrichtung an den Vorgaben des idealistischen und romantischen Denkens korrigiert. Das gilt für beide Seiten, für die grammatische wie die psychologische Auslegung, die Konzeption der Sprache wie die des Subjekts. Im Fall der grammatischen Auslegung hat sich die Einseitigkeit der von Schleiermacher entworfenen Hermeneutik in der Privilegierung der geistigen Bedeutung gegenüber dem materiellen Träger des Buchstabens gezeigt, wie sie besonders im Affekt gegen die kabbalistische Auslegung zum Ausdruck kommt. Im Fall des Subjekts hat sich die Einseitigkeit in der Orientierung an der Idee des Genialischen manifestiert, die für idealistische Autorkonzeptionen seit Kant charakteristisch ist und die dazu geführt hat, dass scheinbar anti-klassische Autoren wie Jean Paul, Kleist oder Hölderlin aus dem Kanon gestrichen wurden.
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Damit ist zugleich die Aufgabe einer kritischen Revision von Schleiermachers Hermeneutik umrissen, wie sie bereits Szondi vorgegeben hat. Eine in diesem Sinne revidierte Form der Hermeneutik hätte in einer Korrektur der grammatischen Auslegung das Moment der Buchstäblichkeit als Träger von Bedeutungsprozessen stärker zu akzentuieren, ohne die Insistenz auf dem Buchstaben allerdings vorschnell zur Verabschiedung aller geistigen Bedeutungsprozesse zu nutzen, wie es die poststrukturalistischen Texttheorien vielfach getan haben. Analog dazu müsste es der Korrektur der psychologischen Auslegung darum gehen, ein komplexeres Modell des Subjekts vorzulegen, als es die Idee des Genialischen verkörpert, ohne Instanzen wie Subjekt oder Autor gleich ganz abschaffen zu wollen. Die Idee, dass Dichtung im Wesentlichen auf ein souveränes Autorsubjekt zurückgeht, wie die Auffassung, dass Sprache und Geist einen unauflösbaren Zusammenhang bilden, der in der Dichtung seinen symbolischen Ausdruck findet, bedürfte nicht zuletzt angesichts der radikalen Veränderungen der Kunst in der Moderne einer tiefgehenden Revision. Bereits die Romane Jean Pauls und die Dramen und Erzählungen Kleists oder die Dichtung Hölderlins lassen sich kaum mit den Prämissen erfassen, denen Schleiermacher noch wie selbstverständlich gefolgt ist. In Frage steht der Anspruch einer literarischen Hermeneutik, die im Unterschied zur philosophischen Hermeneutik Schleiermachers und seiner Nachfolger auch die Texte einzubeziehen vermag, die aus dem Kanon des Klassischen herausfallen. Wie schon Szondis Forderung nach einer spezifisch literarischen Hermeneutik gezeigt hat, weist die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts bei Dilthey, Heidegger und Gadamer in der expliziten Anknüpfung an Schleiermacher in die Richtung einer allgemeinen Kunstlehre des Verstehens, die für sich nicht einfach in Anspruch nehmen kann, auch als Grundlegung einer literarischen Hermeneutik zu gelten, deren Aufgabe dementsprechend auch nicht darin bestehen kann, die tief in der Theologie und Philosophie des 19. Jahrhunderts verankerte Privilegierung des Geistes vor dem Buchstaben zu bestätigen. Eine Revision der Prämissen der philosophisch-theologischen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts kann sich, wie Szondi gezeigt hat, nicht nur auf die ursprünglichen Intentionen Schleiermachers berufen. Sie
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muss über Schleiermacher hinausgehen, ohne doch die Hermeneutik gänzlich neu erfinden zu wollen. Eine solche Revision ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer ganz anderen Seite erfolgt, als zu erwarten war. Es war die Freud’sche Psychoanalyse, die in der Deutung psychischer Phänomene wie dem Traum, dem Witz oder den Fehlleistungen an die klassische Hermeneutik anknüpfen konnte, zugleich aber deren Gestalt von Grund auf veränderte, indem sie ein stärkeres Augenmerk auf den Aspekt der sprachlichen Grundlagen aller Bedeutungsprozesse legte, um zugleich eine neue Konzeption des Bewusstseins im Zeichen des Unbewussten vorzulegen. Beide Seiten, die grammatische wie die psychologische Auslegung, das Moment der Sprache wie das des Subjekts, erfahren im Rahmen der psychoanalytischen Revision der Hermeneutik eine grundlegende Modifikation: die der Sprache, da mit der Annahme der dezentralen Macht des Unbewussten Prozesse der Entstellung in den Mittelpunkt rückten, die den Deuter dazu zwingen, eine Analyse vorzulegen, die sich wie die kabbalistische Deutung an die einzelnen Elemente und Zeichen hält; die des Subjekts, da mit dem Unbewussten zugleich dessen scheinbar ganz und gar autonome Kreativität kritisch in Frage steht. Wie radikal die Veränderungen sind, die Freud an den Prämissen der idealistischen Hermeneutik vornimmt, lässt sich besonders nachdrücklich der Traumdeutung entnehmen, die nicht umsonst als Begründungsakte der Psychoanalyse wie der spezifisch psychoanalytischen Hermeneutik gilt.1
1.2
Freuds Hermeneutik
Dass die Psychoanalyse Freuds im Unterschied etwa zu der strukturalen Psychoanalyse Lacans noch ganz der Hermeneutik verpflichtet bleibt, zeigt nicht allein der Titel seines frühen Hauptwerks, der mit der ausdrücklichen Nennung des Moments der Deutung den Begriff der Auslegung aufnimmt, den bereits Schleiermacher in den Mittelpunkt der 1
Zur Geschichte der Psychoanalyse vgl. Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 1996.
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Hermeneutik gestellt hatte. Freuds Traumdeutung ist ein Lehrbuch über die Kunst, Träume in der Form schriftlich festgehaltener Artefakte zu verstehen. Aus der Verpflichtung gegenüber der Hermeneutik macht die Traumdeutung daher keinen Hehl. So folgt Freud von Beginn an der Vorgabe, »daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei der Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt« (II/III, 1). Indem Freud bereits auf der ersten Seite seiner Untersuchung Traum und Sinn miteinander verknüpft, unterstellt er die von ihm begründete Technik der Traumdeutung einer Form der Hermeneutik, deren Aufgabe in einem zunächst ganz traditionellen Sinn vor allem darin besteht, das auf den ersten Blick Unverständliche verständlich zu machen. Denn »›einen Traum deuten‹ heißt, seinen ›Sinn‹ angeben« (II/III, 100), formuliert Freud ganz in Übereinstimmung mit den Prämissen der klassischen Hermeneutik. Sie zwingt ihn zugleich dazu, sich von anderen, bereits fest etablierten Deutungsverfahren kritisch abzusetzen. Die erste Form, die Freud in diesem Zusammenhang zurückweist, nennt er »die s y m b o l i s c h e Traumdeutung« (II/III, 101). Ihr Paradigma erkennt er in der biblischen Josefsfigur: »Ein Beispiel für ihr Verfahren gibt etwa die Auslegung, welche der biblische Josef dem Träume des Pharao angedeihen ließ.« (II/III, 101) Mit der Zurückweisung der Figur Josefs, wie er selbst ein Sohn Jakobs,2 zielt Freud auf eine grundsätzliche Kritik aller Traumdeutungen, die in einem verdeckten auktorialen Akt eigene Gedanken verkleiden, um sogleich die Lösung des scheinbaren Rätsels präsentieren zu können. Der symbolischen Traumdeutung, die er als eine Form der auf die Zukunft bezogenen Prophetie begreift, wirft Freud vor, einen Betrug auszuüben, da der Sinn des Traums dem Deuter schon vorher bekannt sei. Unter diese Kritik fällt die Bibel ebenso wie die künstlichen Träume der Dichter. Mit der Kritik der symbolischen Traumdeutung präsentiert sich Freud im Sinne
2
Dass der Name Josef gerade aus psychoanalytischer Perspektive und nicht zuletzt im Blick auf Freuds Beziehung zu Josef Breuer im Zentrum eines Komplexes steht, der für die Entstehung der Traumdeutung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vaterfigur eine zentrale Rolle spielt, ist unübersehbar.
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der Aufklärung als Religions- wie Literaturkritiker, der jede Form der mit dem Traum verbundenen Prophetie ablehnt, um die Psychoanalyse zugleich als eine nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit weisende Form der Anamnese zu kennzeichnen. Die kritische Auseinandersetzung mit der zweiten von Freud zurückgewiesenen Form der Traumdeutung, der von ihm so benannten »Chiffriermethode«, gestaltet sich komplexer. Denn mit der psychoanalytischen Form der Auslegung verfügt die »Chiffriermethode« zunächst über eine fundamentale Gemeinsamkeit: »Man könnte sie die ›Chiffriermethode bezeichnen, da sie den Traum wie eine Art von Geheimschrift behandelt, in der jedes Zeichen nach einem feststehenden Schlüssel in ein anderes Zeichen von bekannter Bedeutung übersetzt wird.« (II/III, 102) Die Gemeinsamkeit zwischen der Chiffriermethode und der psychoanalytischen Deutungstechnik besteht darin, den Traum wie eine Art von Geheimschrift zu lesen, im Falle Freuds als eine »Bilderschrift« (II/III, 283) oder »ein Bilderrätsel (Rebus)« (II/III, 284), wie es an späterer Stelle heißt, das sich auf scheinbar eindeutige Weise entziffern lässt. Die Bestimmung des Traumes als Bilderschrift rückt die Psychoanalyse vor diesem Hintergrund nicht nur in eine verdächtige Nähe zur Chiffriermethode, die den Traum nach einem festen Muster ausschlachtet. Sie hat Konsequenzen für Freuds eigene Thesen zur Traumdeutung. Denn die grundlegende Idee seines Werkes, dass jedem Traum eine Wunscherfüllung zugrunde liege, läuft Gefahr, den einzelnen Traum ganz gegen die eigenen Vorgaben nur als Sonderfall eines allgemeinen Sachverhalts zu nehmen, der immer neu bestätigt wird. Nicht anders als die Dechiffriermethode nimmt auch Freud, so bemerkt schon Norbert Altenhofer, »dem Traum jeden Wert, wenn er ihn als Rebus bezeichnet und seine Deutung mit der Lösung des Bilderrätsels gleichsetzt«3 . In ähnlicher Weise unterstreicht Samuel Weber, die Psychoanalyse sei »nach Freud eigentlich nichts anderes als die Umschrift einer Übersetzung, die ihrerseits nur durch die Bildersprache, die
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Norbert Altenhofer, Sigmund Freud. In: Ulrich Nassen (Hg.): Klassiker der Hermeneutik, Paderborn/München/Wien/Zürich 1982, S. 207-240, hier S. 224.
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sie wiederholt und ersetzt, wahrnehmbar und erkennbar wird.«4 Die Kennzeichnung des Traums als Rebus droht die Besonderheit der psychoanalytischen Hermeneutik zu verdecken, die Freud eigentlich herausarbeiten will, indem er sie unter Berufung auf die Forderung nach einer Berücksichtigung der einzelnen Elemente des Traums ohne vorgegebenes Muster scharf von der Chiffriermethode unterscheidet. Die – in vielerlei Hinsicht kontraintuitive – Vorgabe, dass jedem Traum eine Wunscherfüllung zugrunde liegt, schafft selbst ein Muster, in das sich die Deutung des einzelnen Traums nolens volens einfügen muss. Freud muss sich vor diesem Hintergrund daher ausführlicher als im Fall der symbolischen Traumdeutung mit der Chiffriermethode auseinandersetzen, da diese gewisse Ähnlichkeiten mit seiner eigenen Methode aufzuweisen scheint, die sich seiner Meinung zufolge jedoch verflüchtigen, sobald der Blick auf die spezifische Auslegungstechnik fällt. Vor diesem Hintergrund setzt er nicht anders als im Fall der Kritik der symbolischen Traumdeutung eine unüberwindbare Differenz zwischen seiner eigenen Technik der Traumdeutung und der Chiffriermethode an. Wie der psychoanalytischen Traumdeutung, so geht es auch der Chiffriermethode darum, den scheinbar unverständlichen Sinnzusammenhang des Traums in eine sinnvolle Ordnung zu überführen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Chiffriermethode meint, über einen festen Schlüssel zu verfügen, um dieses Ziel erreichen zu können. Die Chiffriermethode wendet sich wie auch die Psychoanalyse den einzelnen Elementen des Traums zu, deutet jedes einzelne Zeichen jedoch nach festen Vorgaben, die – das Vorbild ist hier das Traumbuch des Artemidor – wie ein allgemeiner Schlüssel in einem Traumbuch nachzuschlagen sind.5 Vor dem Hintergrund von Schleiermachers Kritik an der allegorischen Auslegung ließe sich 4 5
Samuel Weber, Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken, Wien 2002, S. 47. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass Foucaults Deutung des Traumbuchs von Artemidor zu Beginn des dritten Bandes seiner Geschichte der Sexualität eine kritische Antwort auf Freud ist, die stärker auf die Rekonstruktion kultureller Praktiken als auf hermeneutische Verfahren der Deutung setzt. Vgl. Michel Foucault, Histoire de la sexualité 3. Le souci de soi, Paris 1984.
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auch Freuds Kritik der Chiffriermethode als eine Zurückweisung einer spezifisch allegorischen Auslegungskunst verstehen, die in jedem Zeichen immer schon einen genau determinierten anderen Sinn erkennen will. Freud hingegen geht davon aus, dass einzelne identische Elemente im Kontext verschiedener Träume auch unterschiedliche Bedeutungen tragen können. Die symbolische Traumdeutung wie die Chiffriermethode lassen sich Freud zufolge demnach als zwei aus unterschiedlichen Gründen defiziente Formen der Auslegung begreifen, für deren Schwächen er klare Worte findet: »Für die wissenschaftliche Behandlung des Themas kann die Unbrauchbarkeit beider populärer Deutungsverfahren des Traums keinen Moment lang zweifelhaft sein. Die symbolische Methode ist in ihrer Anwendung beschränkt und keiner allgemeinen Darlegung fähig. Bei der Chiffriermethode käme alles darauf an, daß der ›Schlüssel‹, das Traumbuch, verläßlich wäre, und dafür fehlen alle Garantien.« (II/III, 104) Zwar hat Freud die eigene Kunst der Traumdeutung damit noch nicht legitimiert. Das wird seiner Argumentation zufolge erst das Paradigma der Traumdeutung, der Traum von Irmas Injektion, zeigen. Aber in der Kritik der symbolischen Traumdeutung und der Chiffriermethode hat Freud zugleich ex negativo wesentliche Vorgaben seiner eigenen Hermeneutik formuliert. Die wichtigsten Grundlagen der Hermeneutik Freuds, die aus der kritischen Auseinandersetzung mit der symbolischen Traumdeutung und der Chiffriermethode abzuleiten sind, bestehen demzufolge zum einen in der Tatsache, dass die psychoanalytische Traumdeutung notwendig rückwärts in die Vergangenheit gerichtet ist und sich so als eine spezifische Form der memoria zu erkennen gibt;6 zum anderen den Blick auf die einzelnen Elemente des Traums konzentriert, um aus diesen heraus unter Verzicht auf einen festen Schlüssel das Ganze des Traums verstehen zu können. Freud sucht nach einem wissenschaftlichen Verfahren, das im Unterschied zur symbolischen Traumdeutung und
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Zum Zusammenhang von Memoria und Totengedenken vgl. Anselm Haverkamp/Renate Lachmann, Text als Mnemotechnik – Panorama einer Diskussion. In: Anselm/Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M. 1991, S. 7-22.
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zur Chiffriermethode den Maßstäben einer vorurteilsfreien Auslegung entsprechen kann: Der erste Schritt bei der Anwendung dieses Verfahrens lehrt nun, daß man nicht den Traum als Ganzes, sondern nur die einzelnen Teilstücke seines Inhalts zum Objekt der Aufmerksamkeit machen darf. Frage ich den noch nicht eingeübten Patienten: Was fällt Ihnen zu diesem Traum ein? so weiß er in der Regel nichts in seinem geistigen Blickfelde zu erfassen. Ich muß ihm den Traum zerstückt vorlegen, dann liefert er mir zu jedem Stück eine Reihe von Einfällen, die man als die ›Hintergedanken‹ dieser Traumpartie bezeichnen kann. (II/III, 108) Wie die Chiffriermethode, so besteht die Technik der psychoanalytischen Deutung zunächst in einer Zerteilung des Traums in seine einzelnen Elemente. Damit unterscheidet sie sich zugleich von der symbolischen Traumdeutung: »In dieser ersten wichtigen Bedingung weicht also die von mir geübte Methode der Traumdeutung bereits von der populären, historisch und sagenhaft berühmten Methode der Deutung durch Symbolik ab und nähert sich der zweiten, der ›Chiffriermethode‹. Sie ist wie diese eine Deutung en détail, nicht en masse; wie diese faßt sie den Traum von vorneherein als etwas Zusammengesetztes, als ein Konglomerat von psychischen Bildungen auf.« (II/III, 108) Eine Deutung en détail gibt auch die Chiffriermethode. Von ihr unterscheidet sich die psychoanalytische Hermeneutik jedoch, da sie davon ausgeht, dass die Beziehung zwischen den einzelnen Traumelementen und dem Sinn des Traums nicht fest vorgebildet, sondern einer Deutung bedarf, die dem individuellen Fall ebenso Rechnung trägt wie den historischen und sozialen Kontexten. Indem Freud sich auf die einzelnen Elemente des Traums konzentriert, ohne vorher über den ganzen Sinn des Traums unterrichtet zu sein, präsentiert er eine spezifische Variante des hermeneutischen Zirkels, demzufolge die einzelnen Elemente bereits bekannt sein müssen, um den ganzen Sinn erfassen zu können, umgekehrt aber erst der ganze Sinn des Traums die einzelnen Elemente in ihrer Bedeutung hervortreten lässt. Mit dieser Variante der Zirkelhaftigkeit des Verstehens und der Kennzeichnung der psychologischen Auslegung im Sinne Schleiermachers als einer jederzeit auf das Indi-
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viduum bezogenen Deutung schreibt sich Freud in die Geschichte der Hermeneutik ein, um dieser zugleich eine neue Ausrichtung zu geben. Um das komplexe Verhältnis zwischen den einzelnen Elementen und dem ganzen Sinn des Traums zu fassen, führt Freud eine Unterscheidung in die Traumdeutung ein, die seine eigene Begrifflichkeit in der Folge weiter leiten wird, die zwischen dem manifesten und dem latenten Trauminhalt: »Stellen wir m a n i f e s t e n und l a t e n t e n Trauminhalt einander gegenüber.« (II/III, 140) Nicht anders als die Dechiffriermethode unterscheidet Freud zwei fundamental voneinander unterschiedene Ebenen, von denen die eine als Übersetzung der anderen zu gelten hat. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jedoch die, wie das Verhältnis des manifesten und latenten Trauminhalts zueinander genau zu bestimmen ist. Wenn er den Traum einleitend zu einem sinnvollen Gebilde erklärt, macht Freud bereits weitreichende Vorgaben, denen zufolge es der Psychoanalyse offenkundig um eine Tiefendimension geht, die in der neuen Terminologie dem Begriff des latenten Traumsinns entspricht. Die Psychoanalyse scheint so zunächst ganz einer traditionellen Idee der Hermeneutik verpflichtet zu bleiben, derzufolge die Traumdeutung in nichts anderem besteht als der Rückführung des manifesten auf den latenten Sinn, der den eigentlichen Bedeutungszusammenhang des Traums auszumachen scheint. Die Unterordnung des manifesten unter den latenten Trauminhalt, die in der Geschichte der Psychoanalyse viel Kritik auf sich gezogen hat,7 bestätigt damit scheinbar zugleich die Privilegierung des Geistes gegenüber dem Buchstaben, die schon die idealistische Hermeneutik Schleiermachers kennzeichnete. Gegen die umstandslose Gleichsetzung der psychoanalytischen Deutung mit traditionellen hermeneutischen Verfahren spricht allerdings die Verfahrenstechnik, die Freud der Analyse seiner Träume zugrunde legt. Denn ihr geht es nicht darum, einfach vom manifesten Trauminhalt – der oberflächlichen Bedeutung, der Ordnung des 7
Vgl. hierzu stellvertretend für viele andere Erik H. Eriksen, Das Traummuster der Psychoanalyse. In: Jürgen von Scheidt (Hg.): Der unbekannte Freud. Neue Interpretationen seiner Träume, Frankfurt a.M. 1987, S. 72-115.
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Buchstäblichen – zum latenten Trauminhalt – der Tiefendimension des Traums, der Ordnung des Geistigen – zu gelangen, sondern den Prozess der Übersetzung zu verstehen, der immer schon stattgefunden haben muss, damit der Traum als das rätselhafte Phänomen auftritt, als das er in seiner manifesten Form vorliegt. So stellt schon Altenhofer fest: »Aufgabe der psychoanalytischen Hermeneutik ist es nicht, einen ›eigentlichen‹ Sinn in oder hinter der Verworrenheit des Traumtextes zu ermitteln, sondern den Sinn der Entstellung des Traumtextes zu erfassen, das heißt: die individuelle Form des Traums als Ergebnis der Traumarbeit zu verstehen.«8 Die Technik der psychoanalytischen Hermeneutik richtet sich nicht einfach auf einen eigentlichen Sinn, der dem Traum zugrunde liegt und nur offenbar gemacht werden muss, wie es die Chiffriermethode tut, sondern auf die Frage, aus welchen Gründen der in der Latenz befindliche Sinn eine Entstellung erfahren hat, die ihn nur in einer anderen Form zum manifesten Ausdruck gelangen lässt. Zwar geht es zweifellos darum, »einen l a t e n t e n Trauminhalt aufdecken können, der an Bedeutsamkeit den m a n i f e s t e n Trauminhalt weit hinter sich läßt« (II/III, 169). Insofern scheint mit der Auffindung des latenten Trauminhalts die Auslegungsarbeit für die Psychoanalyse beendet zu sein. In Wirklichkeit aber beginnt sie damit erst. Denn die Rückführung des manifesten auf den latenten Trauminhalt setzt voraus, dass der Wunsch als invariabler Sinn eines jeden Traums immer schon eine entstellende Modifikation erfahren hat, die es in ihrer besonderen Form zu erklären gilt. Im Mittelpunkt des Interesses der hermeneutischen Arbeit der Psychoanalyse steht nicht die einfache Erklärung des Traums als sinnvolles Gebilde mithilfe der Ersetzung des manifesten durch den latenten Trauminhalt, sondern die aufwendige Rekonstruktion des Wegs der Entstellung, der allein Aufschluss über den dem Traum zugrundeliegenden Wunsch zu geben verspricht. Vor diesem Hintergrund erfährt auch die einleitende Bestimmung des Traumes als Wunscherfüllung eine wichtige Präzision: »D e r T r a u m i s t d i e (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, 8
Norbert Altenhofer, Sigmund Freud, S. 222.
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v e r d r ä n g t e n ) W u n s c h e s .« (II/III, 166) Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Freud die Übersetzung des latenten in den manifesten Trauminhalt als eine Form der Verkleidung, Verstellung oder Entstellung begreift, für die er an späterer Stelle den Begriff der Verdrängung verantwortlich macht. Demnach besteht die Deutungsarbeit der Psychoanalyse in der rückwärtsgerichteten Übersetzung eines Akts der Entstellung, die das scheinbar Unverständliche durch die ihr eigene Erinnerungsarbeit verständlich macht, und Freuds Hermeneutik klammert sich an die einzelnen Elemente des Traums, da sich nur aus ihnen die Spur ergibt, die auf den Zusammenhang zwischen der Verdrängung und dem Unbewussten verweist, dem die Psychoanalyse in ihrer Bestimmung als erinnernde Anamnese nachzugehen versucht. Freuds Hermeneutik ist in der scheinbar eindeutigen Rückführung des manifesten auf den latenten Trauminhalt weniger an einem eindeutig festzumachenden Sinn interessiert als vielmehr an den Prozessen der Dezentrierung des Sinns, deren Vorgehensweise erst der Begriff der Traumarbeit im einzelnen zu klären versucht. Die Psychoanalyse entwirft so einen Begriff der Hermeneutik, der sich wie schon Schleiermacher an Prozessen des Verstehens orientiert, zugleich aber Phänomene im Auge behält, die nicht einfach auf die Idee einer scheinbar stabilen geistigen Bedeutungseinheit zurückgeführt werden können und die in ihrer Treue gegenüber dem Detail Momente der von Schleiermacher verworfenen Tradition der kabbalistischen Auslegung aufnehmen.
1.3
Blumen der Rede. Der Traum von der botanischen Monographie
Wenn Freud sich auf die Auslegung der einzelnen Elemente des Traums konzentriert, um dessen Bedeutung aufzuschlüsseln, dann geht es ihm nicht allein darum, einen Einblick in die psychische Struktur des Träumers zu finden. Die Tatsache, dass der Traum als ein sprachliches Phänomen vorliegt, als ein Text, der in der Form der Erinnerung nachträglich den Traum Erinnerung zusammenfasst, zwingt ihn dazu, besonders auf die sprachlichen Strukturen zu achten, die im Traum ihren
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Ausdruck finden. Neben das Moment der psychologischen tritt so ganz im Sinne Schleiermachers das der grammatischen Auslegung. Besonders deutlich wird dieses Verfahren im Traum von der botanischen Monographie, den Freud im Kapitel zum Traummaterial und den Traumquellen einführt und auf den er an späterer Stelle im Rahmen der Frage nach der Funktionsweise der Traumarbeit wieder zurückkommt: Ich habe eine Monographie über eine gewisse Pflanze geschrieben. Das Buch liegt vor mir, ich blättere eben eine eingeschlagene farbige Tafel um. Jedem Exemplar ist ein getrocknetes Spezimen der Pflanze beigebunden, ähnlich einem Herbarium. (II/III, 175) Der Traum von der botanischen Monographie ist der dritte Traum, der Eingang in die Traumdeutung gefunden hat. Im Unterschied zum sehr ausführlich vorgestellten Paradigma der Traumdeutung, dem Traum von Irmas Injektion ist er – wie der ihm unmittelbar vorausgehende Onkeltraum – relativ knapp ausgefallen. Wie die beiden ersten Träume, so konfrontiert auch der Traum von der botanischen Monographie Freud im Rahmen der grundsätzlich autobiographischen Ausrichtung der Traumdeutung – der Traumdeuter legt im Wesentlichen eigene Träume aus – mit Problemen, die vor allem die eigene Familie und die berufliche Situation sowie Fragen der Gesundheit betreffen.9 Die erste Assoziation, die Freud ins Spiel bringt, führt so gleich in den Bereich der Familie. Freud identifiziert »Zyklamen als L i e b l i n g s b l u m e meiner Frau« (II/III, 175) und nutzt seine Erkenntnis zugleich zu einer kritischen Reflexion seiner Ehe: »Ich mache mir Vorwürfe, daß ich so selten daran denke, ihr B l u m e n m i t z u b r i n g e n, wie sie sich’s wünscht.« (II/III, 175) In der autobiographischen Selbstdarstellung, die die Traumdeutung neben vielem anderen auch ist, präsentiert sich der tapfere Traumdeuter als keineswegs tadelloser Ehemann, der über seine eigenen Ambitionen die Bedürfnisse seiner Frau zu vergessen droht. Die zweite Assoziation, die Freud leitet, führt ihn in die Richtung der beruflichen Sorgen und die eigene medizinische Arbeit, die bereits 9
Vgl. Didier Anzieu, L’auto-analyse de Freud et la découverte de la psychanalyse. Troisième édition, Paris 1988, S. 39.
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im Mittelpunkt des Traums von Irmas Injektion gestanden hatten. Konkret geht es um die eigenen Studien zum Kokain, die letztlich ergebnislos verlaufen sind: »Ein neuer Ansatz: Ich habe wirklich einmal etwas Ähnliches geschrieben wie eine M o n o g r a p h i e über eine Pflanze, nämlich einen Aufsatz über die C o c a p f l a n z e, welcher die Aufmerksamkeit von K . K o l l e r auf die anästhetisierende Eigenschaft des Kokains gelenkt hat.« (II/III, 175f.) Der Traum von der botanischen Monographie konfrontiert Freud mit der schmerzvollen Einsicht, dass nicht er, sondern andere die Bedeutung des Kokains als Anästhetikum entdeckt haben. Zugleich führt er auf ein Thema zurück, das bereits Gegenstand des einleitenden Irma-Traums war, auf den Tod Fleischls, Freuds morphiumsüchtigen Freund, dem er durch das Kokain zu helfen glaubte, um ihn so nur in eine andere Abhängigkeit zu führen. Der Traum von der botanischen Monographie, der darüber hinaus die Erinnerung an eine erfolgreiche Augen-Operation des Vaters zugrunde legt, an der er selbst Anteil hatte, erweist sich so zunächst als Bestätigung der autobiographischen Dimension der Traumdeutung, deren Zentrum die Auseinandersetzung mit Schuld- und Schamerfahrungen bildet, die das eigene Berufs- und Familienleben betreffen.10 Über die immer wieder aufgerufenen Themen der Familie und des Berufs, die den autobiographischen Hintergrund der Traumdeutung bilden, setzt sich Freud intensiv mit der Sprache des Traums auseinander. Neben die inhaltliche Ebene – der Traum ist eine Wunscherfüllung, in diesem Fall der Wunsch, das eigene Buch, die Traumdeutung, doch bereits vollendet zu haben – tritt so eine formale Ebene, der Freuds ganze Aufmerksamkeit gilt. Die Erinnerung an die Kollegen Koller und Königstein führt zu einer Assoziationskette, die sich auf eine fast poetisch zu nennende Weise um das Wortfeld der Pflanze dreht: »Als ich mich in dem Hausflur mit ihm aufhielt, kam Professor G ä r t n e r mit seiner jungen Frau hinzu. Ich konnte mich nicht enthalten, die beiden darüber zu beglückwünschen, wie b l ü h e n d sie aussehen.« (II/III, 177) Den Blumen, die Freud seiner Frau vorenthalten hatte, treten die Blumen 10
Vgl. dazu ausführlich Achim Geisenhanslüke, Peinliche Träume. Freud und die Scham. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse 72 (2018), S. 1043-1065.
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der Rede zur Seite, die die Deutung des Traums von der botanischen Monographie in dem der Psychoanalyse eigenen Witz leitet. Die Assoziationskette reicht dementsprechend noch weiter. Freud erinnert sich an ein Herbarium aus seiner Schülerzeit, um sich selbst ironisch als einen unheilbaren Bücherwurm darzustellen: »Ans Herbarium knüpft sich eine Gymnasialerinnerung. Unser Gymnasialdirektor rief einmal die Schüler der höheren Klassen zusammen, um ihnen das Herbarium der Anstalt zur Durchsicht und Reinigung zu übergeben. Es hatten sich W ü r m e r eingefunden – Bücherwurm.« (II/III, 177) Als Bücherwurm habe er sich zwar durch Bücher gefressen und deswegen sogar Schulden machen müssen, die der Vater für ihn hat begleichen müssen. An botanischen Fachkenntnissen allerdings habe er es vermissen lassen: »Ich hatte niemals ein besonders intimes Verhältnis zur Botanik. Bei meiner botanischen Vorprüfung bekam ich wiederum eine Kruzifere zur Bestimmung und – erkannte sie nicht. Es wäre mir schlecht ergangen, wenn nicht meine theoretischen Kenntnisse mir herausgeholfen hätten.« (II/III, 177) Die peinlichen Erinnerungen an das eigene Versagen, die ein Grundmotiv der Traumdeutung bilden, führen Freud wieder zum Thema der Ehe zurück: »Von den Kruziferen gerate ich auf die Kompositen. Eigentlich ist auch die Artischocke eine Komposite, und zwar die, welche ich m e i n e L i e b l i n g s b l u m e heißen könnte. Edler als ich, pflegt meine Frau mir diese Lieblingsblume vom Markte heimzubringen.« (II/III, 177) Die Artischocke, eine auch von Goethe sehr geschätzte Kulturpflanze aus dem Mittelmeerraum, eröffnet einen weiteren Assoziationsraum, der über die ihrem Namen zugrundeliegende mythologische Geschichte von Zeus und der Nymphe Cynara einen erotischen Subtext verbirgt – ein Thema, über das sich Freud in der Traumdeutung aus verständlichen Gründen ausschweigt. Darüber hinaus gibt ihm der Traum erneut die Möglichkeit zu einer Selbstreflexion im Blick auf den schwierigen Schreibprozess am eigenen Traumbuch: »Ich sehe die Monographie v o r m i r l i e g e n, die ich geschrieben habe. Auch dies ist nicht ohne Bezug. Mein visueller Freund schrieb mir gerade aus Berlin: ›Mit deinem Traumbuche beschäftige ich mich sehr viel. Ich sehe es fertig vor mir liegen und blättere d a r i n.« (II/III, 177) Der Wunsch, der sich hinter dem Traum zu ver-
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bergen scheint, richtet sich auf die Fertigstellung des Buches, das der Leser gerade in den Händen hält. Der Traum von der botanischen Monographie lässt so ganz unterschiedliche Deutungen zu: Er konfrontiert Freud mit peinlichen Erlebnissen, die sein familiäres Leben wie seine berufliche Situation betreffen: Der Wunsch, ein besserer Ehemann zu sein, steht neben dem noch immer unerfüllten Ziel des beruflichen Erfolgs. Unabhängig von dieser autobiographisch fundierten Dimension der Träume, die immer wieder auf die zentrale Figur des Vaters zurückführt,11 darüber hinaus aber auch erotische Konnotationen aufruft, deren versteckte Bedeutung wie bereits im Irmatraum nie Gegenstand der Traumdeutung selbst werden, offenbart sich die sprachliche Determinierung der Träume als zentrales Thema der Traumdeutung. Freud entdeckt in den von ihm selbst auf artistische Weise vorgeführten Wortspielen aus dem Bereich der Botanik eine dem Traum eigene Funktionsweise: »Aber siehe da, in der Analyse werde ich daran erinnert, daß der Mann, der unser Gespräch störte, G ä r t n e r hieß, daß ich seine Frau b l ü h e n d fand; ja ich besinne mich eben nachträglich, daß eine meiner Patientinnen, die den schönen Namen F l o r a trägt, eine Weile im Mittelpunkt unseres Gesprächs stand.« (II/III, 181) Nicht anders als im Phänomen des Witzes konzentriert sich Freud auf die an den Wortketten klebenden Bedeutungen und arbeitet so den poetischen Mechanismus der Metaphernbildung heraus, der dem Traum wie der Literatur gleichermaßen zukommt. In ganz ähnlicher Weise wie Freud im Traum von der botanischen Monographie verfährt etwa James Joyce im Ulysses, wenn er seinen Helden mit dem sprechenden Namen Bloom im fünften Kapitel seines Buches eine geheime Post unter den Namen Henry Flower führen lässt, zahlreiche Assoziationen zu Blumen und Pflanzen durchspielt und den Text im Anklang an das Lotusesserkapitel aus der Odyssee mit dem Blick auf Bloom als »linguid floating flower«12 ausklin-
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Darauf weist neben der bereits angesprochenen Bedeutung der Josefsfigur auch das Hamlet-Zitat Freuds hin: »›There needs no ghost, my lord, come from the grave/To tell us this‹« (II/III, 181). James Joyce, Ulysses. The corrected Text edited by Hans Walter Gabler with Wolfhard Steppe and Claus Melchior, London 1986, S. 71.
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gen lässt. Was Freud im Traum von der botanischen Monographie im Blick auf das folgende zentrale Kapitel zur Traumarbeit vorwegnimmt, ist eine spezifische Poetik des Traums, die seiner Auffassung zufolge die vier Momente der Verdichtung, der Verschiebung, der Rücksicht auf Darstellbarkeit sowie der sekundären Bearbeitung umfasst. So wie sich der Traum von der botanischen Monographie ganz um Assoziationsketten aus dem Bereich der Botanik dreht, so gelten Freuds Blumen der Rede einer Poetik, die die Regeln zu erschließen sucht, nach denen der Traumtext verfertigt ist. Im Kapitel zur Traumarbeit verbinden sich so Überlegungen zur Hermeneutik, die an die frühe Unterscheidung von manifestem und latentem Trauminhalt anknüpfen, mit dem Entwurf einer Poetik, die ausgehend von der Wiederaufnahme der Überlegungen zum Traum von der botanischen Monographie als Theorie und Praxis der Kunst des Träumens und des Verstehens von Träumen gleichermaßen zu fassen wäre.
1.4
Traumarbeit
Das Kapitel zur Traumarbeit erweitert die hermeneutische Grundausrichtung der Traumdeutung vor diesem Hintergrund um eine poetologische: Es geht Freud darum, die sprachlichen Regeln herauszuarbeiten, nach denen ein Traum als ein Kunstprodukt verfasst ist. Bereits die Tatsache, dass er sein Augenmerk auf das Moment einer dem Traum zugrundeliegenden Arbeit legt, verrät in diesem Zusammenhang, dass er sich weniger für die psychologische denn die grammatische Auslegung interessiert: Im Mittelpunkt des Kapitels wie der Traumdeutung im Ganzen steht nicht die Figur des Träumers – wie soll sich die Analyse auch mit einem Subjekt auseinandersetzen, das schläft? –, sondern allgemeine, das Individuum übergreifende Mechanismen, die den Traum zu dem machen, was er ist: einem in sprachlicher Form vorliegenden Text, der der hermeneutischen Kunstlehre der Auslegung bedarf. Vor diesem Hintergrund kommt Freud zunächst auf die Unterscheidung von manifestem und latentem Trauminhalt als Grundlage seiner Hermeneutik zurück. In Anknüpfung an seine einleitenden
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Bemerkungen privilegiert Freud zunächst wiederum den latenten vor dem manifesten Trauminhalt: Alle anderen bisherigen Versuche, die Traumprobleme zu erledigen, knüpfen direkt an den in der Erinnerung gegebenen manifesten Trauminhalt an und bemühen sich, aus diesem die Traumdeutung zu gewinnen, oder, wenn sie auf eine Deutung verzichten, ihr Urteil über den Traum durch den Hinweis auf den Trauminhalt zu begründen. Nur wir allein stehen einem anderen Sachverhalt gegenüber; für uns schiebt sich zwischen den Trauminhalt und die Resultate unserer Betrachtung ein neues psychisches Material ein: der durch unser Verfahren gewonnene l a t e n t e Trauminhalt oder die Traumgedanken. Aus diesem letzteren, nicht aus dem manifesten Trauminhalt entwickeln wir die Lösung des Traums. An uns tritt daher auch eine neue Aufgabe heran, die es vordem nicht gegeben hat, die Aufgabe, die Beziehungen des manifesten Trauminhalts zu den latenten Traumgedanken zu untersuchen und nachzuspüren, durch welche Vorgänge aus den letzteren das erstere geworden ist. (II/III 283) Aus der Annahme, dass es einen latenten Trauminhalt gibt, gewinnt Freud die Sicherheit, sein Vorgehen von traditionellen Verfahren der Traumdeutung zu unterscheiden. Während sich die Interpretation der Träume bisher allein an den manifesten Inhalt gehalten hat, erlaubt der Blick auf den latenten Trauminhalt einen Blick, den Freud zugleich als Revolution innerhalb der Traumdeutung wertet. Damit wird zugleich die Aufgabe klar, der sich die Psychoanalyse stellen muss: Es geht ihr darum, das Verhältnis von manifestem und latentem Trauminhalt einer genaueren Klärung zuzuführen. Um diese Aufgabe erledigen zu können, bedient sich Freud eines eigentümlichen Vergleichs: »Traumgedanken und Trauminhalt liegen uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen.« (II/III, 283) Freuds Ver-
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gleich von manifestem und latentem Trauminhalt begreift den Traum im Allgemeinen als eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere, derzufolge der Inhalt gleich, die sprachliche Darstellung aber eine andere sei. Im Rahmen seines Vergleichs greift er zugleich auf die Unterscheidung von Original und Kopie zurück, um die Ursprünglichkeit des latenten vor dem manifesten zu behaupten. Hatte er sein Vorgehen einleitend scharf von dem der Chiffriermethode unterschieden wissen wollen, so nimmt er die Idee, der Traum gleiche einer zu entschlüsselnden Bilderschrift, nun explizit auf, um seine Abgrenzung von der Chiffriermethode ausführlicher zu begründen: »Der Traumgedanke ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind.« (II/III 283) Wiederum ist es der Blick auf die einzelnen Elemente des Traums, den Freud hervorhebt, um eine Ähnlichkeit zwischen seinem Vorgehen und der Chiffriermethode festzustellen, die zugleich den Grund für tiefergehende Differenzen bildet. Denn wie Freud unterstreicht, geht es ihm nicht darum, den bildlichen Wert der Traumelemente herauszuarbeiten, sondern die einzelnen Zeichenbeziehungen zu untersuchen: Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophier ist u. dgl. Ich könnte nun in die Kritik verfallen, diese Zusammenstellung und deren Bestandteile für unsinnig zu erklären. Ein Boot gehört nicht auf den Dach eines Hauses, und eine Person ohne Kopf kann nicht laufen; auch ist die Person größer als das Haus, und wenn das Ganze eine Landschaft darstellen soll, so fügen sich die einzelnen Buchstaben nicht ein, die ja in freier Natur nicht vorkommen. Die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine solchen Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben. (II/III 284)
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Freud wehrt sich erneut gegen die Vorstellung, dass der Traum nur ein sinnloses Phänomen sei. Seiner Auffassung lassen sich die auf den ersten Blick unsinnigen Bilder, die der Traum in sich vereint, sehr wohl verstehen, sobald nicht die einzelnen Bilder selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, sondern die Beziehung, die zwischen dem Bild und einer sprachlichen Form wie Buchstabe, Silbe oder Wort entspricht. Die Übersetzungsleistung, die Freud seinem Begriff der Hermeneutik zugrunde legt, besteht in der Übertragung der bildlichen in eine sprachliche Ordnung, die zugleich eine von Freud allerdings nur angedeutete Nähe von Traum und Dichtung als sinnvolle Äußerungen des menschlichen Geistes begründet. Dass Freud ausdrücklich Buchstaben, Silben und Worte erwähnt, zeigt, dass die von ihm vorgenommene Orientierung an den einzelnen Elementen der Sprache in die Richtung der von Schleiermacher diskreditierten kabbalistischen Auslegung weist. Freuds Poetik des Traums beruht zwar keineswegs, wie erst Lacan es ausdrücklich formuliert hat, auf der allgemeinen Idee, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei. Sie erweist sich im Blick auf das dem Text vergleichbare Phänomen des Traums jedoch als ausgesprochen sprachorientiert und zeugt so von der Wechselbeziehung von Poetik und Rhetorik, die schon die Antike ausgezeichnet hat:13 Es sind sprachliche Mechanismen wie die Kombination von Buchstaben, Silben und Wörtern, Anagramme, Paranomasien, Palindrome, Metaphern u.a., die die Poetik des Traums nach Freud bestimmen. Vor diesem Hintergrund führt Freud als das zentrale Moment der Traumarbeit den Begriff der Verdichtung ein. »Das erste, was dem Untersucher bei der Vergleichung von Trauminhalt und Traumgedanken klar wird, ist, daß hier eine großartige V e r d i c h t u n g s a r b e i t geleistet wurde.« (II/III 284) Der Begriff der Verdichtung ist nicht nur der erste, den Freud nennt. Von den vier Momenten der Traumarbeit, Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit und sekun-
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Vgl. Achim Geisenhanslüke, Poetik. Eine literaturtheoretische Untersuchung, Bielefeld 2018.
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däre Bearbeitung, erfährt die Verdichtungsarbeit in der Traumdeutung auch die ausführlichste Darstellung. Den Ausgangspunkt von Freuds Überlegungen bildet die Beobachtung, dass ein Missverhältnis zwischen dem Traum und den ihn festgehaltenen Traumgedanken besteht: »Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken.« (II/III 284) Freud verwundert sich um die Kürze des Traums. Die Knappheit des Traums muss allerdings nicht notwendig als Defizit betrachtet werden. Mit der dreifachen Bestimmung »knapp, armselig, lakonisch« greift Freud vielmehr das rhetorische Moment der brevitas als eine besondere Tugend der Rede auf: Der Traum verschreibt sich der Kürze, die schon die Rhetorica Ad Herennium als eine besondere Form dargestellt hat: »Die Kürze ist eine Äußerung, die nur mit den unbedingt notwendigen Worten gemacht wird«14 . Mit dem der Rhetorik entlehnten Moment der brevitas nimmt Freud noch einen zweiten Aspekt auf: den der Unbestimmbarkeit des Grades der Verdichtung, die dem Traum zugrunde liegt: »Wir haben bereits anführen müssen, daß man eigentlich niemals sicher ist, einen Traum vollständig gedeutet zu haben; selbst wenn die Auflösung befriedigend und lückenlos erscheint, bleibt es doch immer möglich, daß sich noch ein anderer Sinn durch denselben Traum kundgibt. D i e V e r d i c h t u n g s q u o t e ist also – streng genommen – unbestimmbar.« (II/III 285) Die Unbestimmbarkeit des Verdichtungsgrades geht offenkundig auf einen Überschuss des Sinns zurück, der die Aufgabe der Hermeneutik letztlich als unabschließbar kennzeichnet. Um das dem Traum zugrundeliegende Phänomen der Verdichtung zu erläutern, greift Freud erneut auf den Traum von der botanischen Monographie zurück: »Man vergleiche hierzu etwa den Traum von der botanischen Monographie, der als das Ergebnis einer erstaunlichen Verdichtungsarbeit erscheint, wenngleich ich seine Analyse nicht vollständig mitgeteilt habe.« (II/III 286) Freud, der den überraschenden, von ihm aber nicht weiter kommentierten Hinweis gibt, dass er dem Leser bisher etwas an der Deu14
Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben von Thomas Nüßlein, Düsseldorf und Zürich 1998, IV 68.
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tung des Traums vorenthalten habe, legt den Schwerpunkt nun stärker auf den technischen Aspekt des Traums. Der Traum von der botanischen Monographie erscheint so im Rückblick als Paradigma für das, was Freud nun Verdichtungsarbeit nennt. Was ihn in diesem Zusammenhang besonders interessiert, ist die Frage, warum nur wenige bestimmte Elemente aus den Traumgedanken in den Trauminhalt gelangen. Um diese Frage beantworten zu können, geht er erneut den Assoziationsketten nach, die ihn schon bei der ersten Deutung des Traums geleitet hatten. Wie er zusammenfasst, fasst die Monographie mehrere Themen zusammen, die ihm nicht unbedingt zur Ehre gereichen: Die »›M o n o g r a p h i e‹ im Traume rührt wiederum an zwei Themen, an die Einseitigkeit meiner Studien und die Kostspieligkeit meiner Liebhabereien.« (II/III 289). Freud kommentiert den Traum zwar nur sehr einsilbig. Dafür beruft er sich auf ein Gedicht von Goethe, um die Verdichtungsarbeit anschaulich vor Augen zu führen: Antepirrhema So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wo ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber, herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen. Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt! Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hats von Ewigkeit angezettelt; Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann.15 Das Antepirrhema ist ein Begriff, der der Dramenpoetik entstammt und innerhalb der Parabase die abschließende Wendung des zweiten Chorführers an das Publikum insbesondere im Kontext der Komödie
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Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Band 2. Gedichte 1800-1832, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1988, S. 500.
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meint.16 Goethe greift in seinem Gedicht aus dem Jahre 1820 auf das der Weberei entlehnte Bild von Kette und Schuss zurück, um mit Zettel und Einschlag zugleich zum Thema der Dichtung als Fluchtpunkt seiner Überlegungen überzuleiten. Die geläufige Analogiebildung von Gewebe und Text erweitert Freud in der Traumdeutung um die von Text und Traum. Was er in der Dichtung wie dem Traum gleichermaßen findet, ist das Moment der Überdeterminierung, das die Grundlage seiner weiteren Überlegungen zur Verdichtungsarbeit bildet. In der Überdeterminierung erblickt Freud den entscheidenden Grund, warum bestimmte Elemente Eingang in den manifesten Trauminhalt finden und andere nicht: »Jedes der Elemente des Trauminhalts erweist sich als ü b e r d e t e r m i n i e r t, als mehrfach in den Traumgedanken vertreten.« (II/III, 289) Der Begriff der Überdeterminierung erlaubt es Freud so, die für ihn entscheidende Frage, die nach dem Verhältnis von manifestem und latentem Trauminhalt, endgültig zur Klärung zu bringen: »Ich sehe also, welcher Art die Beziehung zwischen Trauminhalt und Traumgedanken ist: Nicht nur die Elemente des Traums sind durch die Traumgedanken m e h r f a c h determiniert, sondern die einzelnen Traumgedanken sind auch im Traum durch mehrere Elemente vertreten.« (II/III 290). Dass die einzelnen Gedanken im Traum durch mehrere Elemente vertreten sind, nutzt Freud zur Zurückweisung der Vorstellung, dass die Übersetzungsarbeit, die dem Traum zugrunde liegt, auf Formen der Auslassung beruht: »Die Traumdeutung erfolgt also nicht so, daß der einzelne Traumgedanke oder eine Gruppe von solchen eine Abkürzung für den Trauminhalt liefert, und dann der nächste Traumgedanke eine nächste Abkürzung als Vertretung« (II/III 290). Nicht Auslassung, Überdeterminierung ist die Formel, die Freud zufolge einen adäquaten Zugang zur Traumarbeit erlaubt: »ich finde stets die nämlichen Grundsätze bestätigt, daß die Traumelemente aus der ganzen Masse der Traumgedanken gebildet werden, und daß jedes von ihnen in bezug auf die Traumgedanken mehrfach determiniert erscheint.« (II/III 290) Zwar hatte Freud die 16
Vgl. Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghoff (Hg.): Metler Literatur Lexikon. 3. Auflage, Stuttgart/Weimar 2007, S. 567.
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Ähnlichkeit zwischen seiner Hermeneutik und der Dechiffriermethode damit begründet, dass beide eine Deutung en détail liefern. Mit dem Moment der Überdeterminierung macht er jedoch klar, dass es ihm sehr wohl um das Ganze des Traums geht – allerdings weniger um den manifesten oder den latenten Trauminhalt als solchem, sondern den Prozess, der zwischen beiden im Akt der Übertragung passiert. Die Überdeterminierung nennt vor diesem Hintergrund das Kriterium, das die Übertragung des latenten Trauminhalts in den manifesten Trauminhalt leitet und daher auch bei der Rückübersetzung des manifesten Trauminhalts in den latenten Traumgedanken berücksichtigt werden muss. Damit macht Freud zugleich klar, dass er nicht an einer festen Struktur interessiert ist, die die Traumarbeit in ihrer Übersetzungsarbeit bestimmt, sondern an einem dynamischen Prinzip, das als Grund seiner Poetik des Traumes dient. Verdichtung und Überdeterminierung sind daher auch keineswegs umstandslos mit der Ordnung der Metapher gleichzusetzen, wie Lacan es vorgeschlagen hat. Der Zusammenhang von Verdichtung und Überdeterminierung nennt vielmehr in einem übergreifenden Sinne ein dynamisches Prinzip, das die Traumarbeit im Ganzen bestimmt und zugleich in eine geheime Nähe zur Dichtung rückt, die Freud mit dem Verweis auf Goethes Antepirrhema nahelegt, ohne ihr weiter nachzugehen. In dem Maße, in dem die Verdichtungsarbeit nicht allein als eine metaphorische Substituierung des Sinns zu verstehen ist, sondern als ein poetologisches Moment, das den Traum im Ganzen bestimmt, rückt auch das Moment der Sprachlichkeit in den Mittelpunkt von Freuds Aufmerksamkeit. Freud interessiert sich in besonderer Weise für die mit der Verdichtung verbundenen Wortbildungen: »Am greifbarsten wird die Verdichtungsarbeit des Traum, wenn sie Worte und Namen zu ihren Objekten gewählt hat. Worte werden vom Traum überhaupt häufig wie Dinge behandelt und erfahren dann dieselben Zusammensetzungen wie die Dingvorstellungen. Komische und seltsame Wortschöpfungen sind das Ergebnis solcher Träume.« (II/III, 301f.) Mit dem Moment des Komischen nimmt Freud den Kontext auf, den bereits sein Goethe-Zitat aufgerufen hatte. Dass der Traum dazu neigt, Worte wie
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Dinge zu behandeln, erläutert Freud an mehreren Beispielen. Das erste ist die Zusammenführung der beiden Namen Nora und Ekdal aus Ibsens Drama zum Satz »›Das ist ein wahrhaft norekdaler Stil‹« (II/III, 302), das zweite Beispiel der Ausdruck »›Maistollmütz‹« (II/III, 302), das dritte das nicht minder rätselhafte »tutelrein« (II/III, 303), das vierte eine Schiffsreise mit den Stationen »Hearsing« und »Fließ« und das fünfte Beispiel »das lebhaft erinnerte Wort ›Autodidasker‹« (II/III, 304), das sich Freud zufolge »leicht in A u t o r, A u t o d i d a k t und L a s k e r, an den sich der Name L a s s a l l e anschließt« (II/III, 305), zerlegen lässt. Freud erkennt in diesen Wortkombinationen mehr als bloße Sprachspielereien. Sie bilden vielmehr die sprachlich-materielle Grundlage für das Verständnis des im Traum verborgenen Sinnes, wie er an einem weiteren Beispiel erläutert: Die Spielerei mit Namen und Silben, die ich hier treibe, enthält aber noch einen weiteren Sinn. Sie vertritt den Wunsch eines glücklichen Familienlebens für meinen Bruder, und zwar auf folgendem Weg: In dem Künstlerroman ›L ’ o e u v r e‹, der meinen Traumgedanken nahelegen mußte, hat der Dichter bekanntlich sich selbst und sein eigenes Familienglück episodisch mitgeschildert und tritt darin unter dem Namen S a n d o z auf. Wahrscheinlich hat er bei der Namensverwandlung folgenden Weg eingeschlagen: Z o l a gibt umgekehrt (wie die Kinder so gerne zu tun pflegen) A l o z. Das war ihm wohl zu unverhüllt; darum ersetzte sich ihm die Silbe A l, die auch den Namen Alexander einleitet, durch die dritte Silbe desselben Namens s a n d, und so kam S a n d o z zustande. So ähnlich entstand also auch mein A u t o d i d a s k e r. (II/III, 306) Mit der Rückführung des Namens des Protagonisten von Zolas Roman Sandoz auf das Palindrom Zola-Aloz greift Freud jene Ordnung der Buchstäblichkeit auf, die seine Überlegungen zur Verdichtungsarbeit insgesamt leiten. Die buchstäbliche Ordnung des Anagrammatischen rückt den Traum als ein sprachliches Phänomen in den Blick, das sich einer Poetik verdankt, die analog zur Spracharbeit der Dichtung verfährt. Ob »Maistollmütz«, »tutelrein« oder »Autodidasdiker«: Hinter den witzigen Wortassoziationen verbirgt sich eine kreative Arbeit, die
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den Träumer zum Dichter und den Traumdeuter zum Textausleger werden lässt. In der Traumdeutung liefert Freud so eine Hermeneutik wie eine Poetik des Traums im Zeichen der Buchstäblichkeit.
2.
Der Accent der Liebe. Buchstäblichkeit bei Kleist
2.1
Freud und die Poetik der Buchstäblichkeit
In der Traumdeutung entwickelt Freud die Grundlagen einer Poetik, die er in seinen folgenden Schriften konsequent weiter ausführt. Dass die von Freud entworfene Poetik sich weiterhin an sprachlichen Verdichtungsphänomenen orientiert, zeigt schon der Beginn des Witzbuches. Das erste Beispiel, auf das Freud sich bezieht, ist der Ausdruck »famillionär« (VI 14), zusammengesetzt aus »familiär« und »Millionär« aus den Reisebildern Heines. Freud betont in diesem Zusammenhang abermals die Sprachgebundenheit des Witzes: »entweder ist es der in dem Satz ausgedrückte Gedanke, der den Charakter des Witzigen an sich trägt, oder der Witz haftet an dem Ausdruck, den der Gedanke in dem Satz gefunden hat.« (VI 14) Er entscheidet sich für die zweite Variante: »Wenn aber der Witzcharakter unseres Beispiels nicht dem Gedanken anhaftet, so ist er in der Form, im Wortlaut seines Ausdrucks zu suchen.« (VI 16) In ähnlicher Weise wie im Fall des Traums fasst er die Technik des Witzes über das Moment der brevitas, der Verkürzung: Auch der Witz kommt nur mit den allernotwendigsten Elementen aus, um sein Ziel zu erreichen. Der Witz ist durch eine besondere sprachliche Ausdrucksform bestimmt, die Freud an zahllosen Beispielen durchspielt wie etwa der mehrfachen Verwendung desselben Wortes im Fall von »roux et sot« und »Rousseau« (VI 31) als schlagendes Beispiel für die Verunglimpfung des französischen Philosophen. Der Witz bestätigt so das Interesse der frühen Psychoanalyse an Phänomenen der Buchstäblichkeit, die sie zugleich in eine verdächtige Nähe zu der von Schleiermacher inkriminierten kabbalistischen Auslegung rückt. Das Interesse an der Ordnung des Buchstäblichen bestätigt auch die Psychopathologie des Alltagslebens. Das häufige Phänomen des Verges-
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sens von Eigennamen diskutiert Freud am Beispiel des Malers Signorelli, der die Fresken im Dom von Orvieto ausgemalt hat. Dass er sich statt an dessen richtigen Namen an Botticelli und Boltraffio zu erinnern meint, deutet Freud als Zeichen für die Verschiebungsarbeit, die auch dem Traum zugrunde liegt: Über die atemberaubende Assoziationsreihe »B o s n i e n H e r z e g o w i n a , H e r r« (IV 7) gelangt Freud zu der Erinnerung an einen Patienten mit einer sexuellen Störung, dem von ihm nicht zu helfen war und der in der Folge Selbstmord begangen hat. In ähnlicher Weise wie im Fall von Irmas Injektion zu Beginn der Traumdeutung sieht sich Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens von Beginn an mit unbewussten Schuldvorwürfen konfrontiert, und in ähnlicher Weise wie in seinen Ausführungen zur Traumarbeit rekurriert er auf das Beispiel des Bilderrätsels, um das Phänomen zu erklären: »Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich behandelt worden wie die Schriftbilder eines Satzes, der in ein Bilderrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll.« (IV 10) Die Sprachbearbeitung, die der Verdrängung zugrunde liegt, richtet sich auf die einzelnen Elemente des Ausdrucks, hier auf die Silben. Im Fall des Ausdrucks »Signorelli« besteht die Verdrängungsarbeit in der Übersetzung des italienischen Signor in das deutsche Herr, das sich in Herzegowina finden lässt, wobei das zweite Silbenpaar »elli« unverändert bleibt. Die Psychopathologie des Alltagslebens bestätigt, welch außerordentliches Augenmerk Freud – in vollem Bewusstsein über die Bedeutung der »Vorsilbe ›ver-›« (IV 268) – auf sprachliche Prozesse der Verdichtung, Verknappung und Vertauschung legt, die meist auf der Zerlegung des sprachlichen Ausdrucks in kleinere Einheiten und deren Neukombination beruhen – ein Spiel, das die Literatur zu Genüge kennt, weil sie es in anagrammatischen Formen selbst spielt. Dass literarische Texte mit Buchstaben spielen und ihre Bedeutungsspiele von Buchstaben strukturiert werden, wird in der Anagrammatik mehr als deutlich. Anagramme sind ein Ausgangspunkt für ein
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literarales Gegengedächtnis in Texten,17 »urtümliches Indiz für eine andere Ästhetik«, eine »materiale Ästhetik«18 , wie Anselm Haverkamp feststellt. Anagramme sind tief in der Geschichte der Literatur verwurzelt, zählen zu ihren ältesten Techniken und gewinnen in der Moderne eine erneute, im psychoanalytischen Sinn oft »unheimlich« anmutende Bedeutung. Haverkamp hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass erst die linguistisch ausgerichtete strukturalistische Literaturwissenschaft die Anagrammatik für die Poetik wiederentdeckt hat. Dass sich gerade der scheinbar aller Geschichte abholde Zeichentheoretiker Ferdinand de Saussure ausführlich mit Anagrammen beschäftigt hat, ist von Jean Starobinski in seiner Edition Wörter unter Wörtern nachdrücklich herausgearbeitet worden.19 Was Saussure von den Anagrammen erwartete, war die Entdeckung einer Tiefenschicht der Sprache, die der Semantik zuwiderläuft und die von Starobinski und Haverkamp in Übereinstimmung mit einigen Prämissen der Psychoanalyse als »das Unbewußte der Sprache, wenn nicht die Sprache als das Unbewußte«20 gefasst wird. Haverkamp stellt die Anagrammatik, derzufolge Worte nicht auf Sachen, sondern auf Worte verweisen, vor diesem Hintergrund ganz in den Kontext der Grammatologie: »In ihrer ›literalen‹ Bestimmtheit, ihrer Buchstaben-Abhängigkeit, gehören Anagramme weder zur Syntax noch zur Semantik, sondern zum Feld jener grammato-logischen Wissenschaft, die Derrida als Paradigmawechsel über das Saussuresche Projekt der strukturalen
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»Anagramme sind das ursprünglichste Paradigma des Gedächtnisses der Texte«, so Anselm Haverkamp, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a.M. 2002, S. 153. Anselm Haverkamp, Anagramm. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel. Band 1. Absenz – Darstellung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 133-153, hier S. 134. Vgl. Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980. Anselm Haverkamp, Anagramm, S. 134.
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Linguistik hinaus postuliert hat.«21 Die Verankerung der Anagrammatik in der Grammatologie nimmt die Buchstäblichkeit, die in den vielfaltigen anagrammatischen Phänomenen wie Para-, Hypo- oder Kryptogrammen, Kryptonymen, Akrosticha, Alliterationen, Para- und Antonomasien zum Ausdruck kommt, zum Ausgangspunkt einer dekonstruktiv inspirierten Theorie der Dekomposition sprachlicher Bedeutungszusammenhänge, die ihre Bestätigung vor allem in kanonischen literarischen Texten der Moderne von Mallarmé über Joyce bis zu Nabokov findet. Im Folgenden wird es im Wesentlichen darum gehen, in der Auseinandersetzung mit einem Autor, der oft als einer der entscheidenden Türöffner der Moderne gilt, mit Heinrich von Kleist, die Bedeutung der Anagrammatik als Bestätigung wie Korrektur der grammatologisch inspirierten Theorie der Sprache gleichermaßen zu nutzen. Auf der historischen Ebene besteht der Einsatz darin, Kleist nicht vorschnell als einen Vorläufer der Moderne zu kennzeichnen, sondern ihn im Kontext der Aufklärung zu verorten. Auf der theoretischen Ebene geht es darum, Kleists Buchstabenspiele weniger als Ausgang einer scheinbar selbstreferentiellen Sprachauslegung zu begreifen – »Wörter unter Wörten«, wie Starobinski treffend formulierte –, als vielmehr in der durch die Anagrammatik aufscheinende Tiefenstruktur der Sprache gleichzeitig ihre referentielle Gebundenheit anzuerkennen. Als Wörter unter Wörtern verweisen die Anagramme bei Kleist keineswegs allein auf die differentielle Sprachlichkeit als Grundlage aller Rede und Texte, sondern durchaus auf »Sachen«, auf Referenzen, die sich gerade durch die anagrammatische Buchstäblichkeit einen Weg in die Texte bahnen.
2.2
Kleist und die Schrift. Der Griffel Gottes
Dass Kleist in seinen erzählerischen Texten auch jenseits im engeren Sinne anagrammatischer Strukturen mit Buchstaben spielt, zeigt seine Anekdote Der Griffel Gottes:
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Ebd., S. 137.
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In Polen war eine Gräfin von P…, eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existirt noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.22 Schon der Titel scheint mit dem Griffel Gottes auf eine eng mit dem Buchstaben verbundene Form der Schriftlichkeit zu verweisen: Der Griffel verkörpert ein Instrument, das den Prozess des Schreibens als ein Einritzen auf eine materiale Grundlage, in diesem Fall die Grabtafel, kennzeichnet. Die Dekonstruktion hatte daher auch wenig Mühe, Kleist als einen der ihren anzuerkennen. Seine Dramen wie die Erzählungen und Anekdoten stehen in dieser Perspektive im Kontext einer Schriftgebundenheit, die vor Augen führt, dass sprachliche Bedeutungsbildung auf materiale Prozesse der Einschreibung zurückgeht, wie es die Inschrift auf dem Grabstein paradigmatisch vorführt. Die »Anzahl der Buchstaben«, die der Blitz auf dem Stein zurücklässt, scheint so die materiale Grundlage für das sprachlich strukturierte Urteil zu sein, das über die bösartige Gräfin gefällt wird. Für Kleists Werk charakteristisch ist der Zusammenhang zwischen Buchstäblichkeit und Recht. Die fiktive Anekdote Der Griffel Gottes scheint dementsprechend auch ein Gottesurteil zum Ausdruck zu bringen: »sie ist gerichtet« steht für eine schriftlich verbürgte Form der 22
Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe herausgegeben von Roland Reuß und Peter Stange. Band II, München 2011, S. 351. Im Folgenden alle Zitatnachweise in Klammern im Text.
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Gerechtigkeit, die auf spektakuläre Weise, durch den »Blitz, das Erz schmelzend«, in Szene gesetzt wird. Dennoch wird der Leser Mühe haben, in der Anekdote einfach die Darstellung eines nachträglich erfolgenden Gottesurteils zu erkennen, das Gerechtigkeit herstellt, wo vorher Unrecht herrschte. Bestimmend in der Anekdote wie in vielen anderen Texten Kleists ist die Kritik an der Instanz der Kirche, die der grausamen Dame aus einem vorwiegend ökonomischen Interesse Absolution erteilt. Nun scheint es in der Tat so, als würde eine höher geordnete Instanz nicht nur das Leben der Gräfin, sondern gerade auch die durch den Grabstein symbolisierte und von der Kirche legitimierte Absolution außer Kraft zu setzen. Ob diese Instanz aber die des richtenden Gottes ist, der zudem eher an das Alte als an das Neue Testament erinnert, sei dahingestellt. Wie so oft bei Kleist bleibt unentscheidbar, ob der Zufall regiert oder die Notwendigkeit. Was der Titel alliterierend zusammenführt, Griffel und Gott, Materie und Spiritualität, markiert vielmehr eine Spannung, die gerade nicht im Sinne einer transzendentalen Form der Gerechtigkeit aufgehoben wird. Das wird auch vor dem naturwissenschaftlichen Hintergrund des Textes deutlich. Der Blitz ist im Kontext des aufklärerisches Naturverständnisses zunächst nichts weiter als ein gut erklärbares Naturphänomen und keinesfalls die symbolische Stimme eines zornigen Gottes, der über die Menschen urteilt. Vor diesem Hintergrund wäre die Buchstabenfolge weniger als Richtspruch einer über den Menschen und der Kirche thronenden göttlichen Instanz zu lesen denn als ein ganz und gar zufälliger Akt, dem von sich aus keinerlei Bedeutung zukommt, es sei denn die, die ein über die unerklärbare Kontingenz des Ereignisses hinausgehender Interpret ansetzt. Nicht Schriftgläubigkeit, Schriftskepsis findet in der Anekdote ihren sinnfälligen Ausdruck. Diese Skepsis gegenüber kanonischen Rechtsauffassungen findet auch in anderen Texten Kleists ihren Ausdruck. Dass sich der Zusammenhang von Buchstabe und Recht bei Kleist nicht nur auf Glaubenssachen bezieht, sondern in einem engen Zusammenhang mit der grundsätzlichen Bedeutung von Rechtskonflikten in seinem Werk steht, zeigt eine andere Anekdote mit dem Titel Der verlegene Magistrat:
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Ein H…r Stadtsoldat hatte vor gar nicht langer Zeit, ohne Erlaubniß seines Offiziers, die Stadtwache verlassen. Nach einem uralten Gesetz steht auf ein Verbrechen dieser Art, das sonst der Streifereien des Adels wegen, von großer Wichtigkeit war, eigentlich der Tod. Gleichwohl, ohne das Gesetz, mit bestimmten Worten aufzuheben, ist davon seit vielen hundert Jahren kein Gebrauch mehr gemacht worden: dergestalt, daß statt auf die Todesstrafe zu erkennen, derjenige, der sich dessen schuldig macht, nach einem feststehenden Gebrauch, zu einer bloßen Geldstrafe, die er an die Stadtcasse zu erlegen hat, verurtheilt wird. Der besagte Kerl aber, der keine Lust haben mochte, das Geld zu entrichten, erklärte, zur großen Bestürzung des Magistrats: daß er, weil es ihm einmal zukomme, dem Gesetz gemäß, sterben wolle. Der Magistrat, der ein Mißverständniß vermuthtete, schickte einen Deputirten an den Kerl ab, und ließ ihm bedeuten, um wieviel vortheilhafter es für ihn wäre, einige Gulden Geld zu erlegen, als arquebusirt zu werden. Doch der Kerl blieb dabei, daß er seines Lebens müde sei, und daß er sterben wolle: dergestalt, daß dem Magistrat, der kein Blut vergießen wollte, nichts übrig blieb, als dem Schelm die Geldstrafe zu erlassen, und noch froh war, als er erklärte, daß er, bei so bewandten Umständen am Leben bleiben wolle. (SW II, 348f.) Wie schon in Der Griffel Gottes, so steht auch in Der verlegene Magistrat die Instanz des Gesetzes in Frage. In diesem Fall handelt es sich nicht um das kanonische Recht, sondern um strafrechtliche Zusammenhänge. Und wieder geht es der Anekdote darum, eine antiquierte, voraufklärerische Form der Strafe außer Kraft zu setzen. Dass nach einem »uralten Gesetz« auf das Verlassen der Wache der Tod steht, verweist auf die Privilegien des Adels, die hier in ähnlicher Weise wie die des Klosters in Der Griffel Gottes kritisch in Frage stehen. Ins Wanken gerät dieses alte Gesetz, da das Recht von dem scheinbar seines Lebens müden Stadtsoldaten beim Buchstaben genommen wird: Er besteht auf dem Recht, für seine Verfehlung mit dem Tode bestraft zu werden und setzt das Gesetz gerade dadurch außer Kraft. Die Schelmentat, von der unklar bleibt, ob sie einem raffinierten Plan folgt oder sich einem eher schlichten Gemüt verdankt, steht so ganz in Übereinstimmung mit der aufklärerischen
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Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe, wie sie epochemachend Cesare Beccaria formuliert hat. Wie Der Griffel Gottes und Der verlegene Magistrat zeigen, zielt die Buchstäblichkeit bei Kleist keineswegs auf die Betonung der Schriftlichkeit als Grundlage des Rechts, sondern auf die im Kontext der Aufklärung verankerte Bemühung, juristisch wie theologisch fundierte Traditionen der Rechtsordnung einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Kleists Interesse an der Ordnung des Buchstaben richtet sich nicht vorrangig auf die Materialität des Signifikanten, sie interveniert gegen die Annahme eines festen Begründungszusammenhangs zwischen der Sprache und einer durch Tradition verbürgten Referenz. Erst aus dieser sprachkritischen Perspektive heraus ergibt sich der Anspruch Kleists, Rechtszusammenhänge zu dekonstruieren.
2.3
Der Buchstabe, das Begehren und das Subjekt. Der Findling
Nicht allein in den Anekdoten, auch in den Novellen offenbart sich eine sprachskeptisch motivierte Kritik an Recht und Kirche. In den Novellen zeigt sich die Bedeutung der Anagrammatik besonders deutlich im Zusammenhang mit Namensfragen. So steht in Die Verlobung in St. Domingo der doppelte Name des Protagonisten Gustav bzw. August für eine Verunsicherung ein, die mit dem Namen auf die Identität der beteiligten Figuren ausgreift und zugleich das scheinbar im einfachen Schema des Schwarz-Weiß aufgehende Problem der Rassenzugehörigkeit außer Kraft setzt. Ob Gustav oder August: Für seine Schweizer Landsleute wie die haitianische Bevölkerung erweist sich der Protagonist als ein janusköpfiger Held, der erst seiner Verlobten Toni zornig eine Kugel durch die Brust und dann von Mitleid ergriffen sich selbst eine ins Hirn jagt. Die jähen Sprünge des Protagonisten korrespondieren seinem doppelten Namen als Zeichen einer Identitätsspaltung, die das Anagramm Gustav/August in seine Person einträgt. Am eindringlichsten gestaltet findet sich die Dekonstruktion der Identität, die der Name zu verbürgen scheint, in der Novelle Der Findling. Auch hier greift Kleist auf eine anagrammatische Struktur zurück, um mit der Ineinssetzung der Namen Nicolo und Colino eine Logik des
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Tausches vor Augen zu führen, die die Novelle auf mehreren Ebenen – der Familie, der Ökonomie, der Sexualität und des Rechts – bestimmt. Um eine ökonomische Geschichte der Stellvertretung und des Tausches handelt es sich, da sich die Novelle um den Kaufmann Antonio Piachi dreht, der sein Vermögen an seinen infamen Adoptivsohn Nicolo übergibt; um eine familiäre, da Nicolo nur der Ersatz für den verstorbenen Sohn Paolo ist; um eine sexuelle, da Nicolo versucht, seine Stiefmutter zu verführen, indem er die Identität ihrer Jugendliebe annimmt; um eine rechtliche, da das Vermögen des Kaufmanns nach dem Tod aller beteiligten Figuren bei der einzigen Instanz verbleibt, die erfolgreich mit dem Tod spekuliert: der Kirche, in der Novelle verkörpert durch den Bischof und seine Mätresse. Die aufklärerische Kritik der Kirche, die Der Griffel Gottes in Szene setzt, bestimmt auch den Findling, an dessen Ende weder der Kaufmann Piachi noch sein Adoptivsohn Nicolo triumphieren, sondern allein der Bischof, dem das nun verwaiste Vermögen zufällt. In Der Findling präsentiert Kleist unter einem vieldeutigen Titel23 die verhängnisvoll verlaufende Geschichte einer Adoption, in der die Blutsbanden der Familie den Vorgaben der Aufklärung folgend, denen zufolge die Kultur höher steht als die Natur, durch soziale Banden ersetzt werden.24 Allerdings erweist sich gerade die Überführung von Natur in Kultur als ein schwieriges Unterfangen. Das Erziehungsprogramm, dem Nicolo unterzogen wird, scheitert auf spektakuläre Art und Weise. Die Gründe dafür sind vielfältig. Auf der einen Seite steht der verschlossene Charakter von Nicolo: »Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hingen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend, das ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte.« (SW II, 205) Während der gemeinsamen Heimreise mit seinem zukünftigen Stiefvater erscheint er 23
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Zum Titel Der Findling und seiner geologischen Bedeutung vgl. Irmgard Wagner, ›Der Findling‹. Erratic Signifier in Kleist und Geology, in: The German Quaterley (1991), S. 281-295. Vgl. Günter Sasse, Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988.
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»ungesprächig und in sich gekehrt« (SW II, 205), »die Hände in die Hosen gesteckt« (SW II, 205), »mit gedankenvoll scheuen Blicken« (SW II, 205), und als der Alte über den Verlust seines leiblichen Sohns weint, knackt Nicolo während der Fahrt scheinbar ungerührt Nüsse. Nicht wenige Interpreten erkennen in seinem scheinbar teuflischen Charakter daher den Grund für das Übel, das über die Familie kommt.25 Auf der anderen Seite ist Nicolo von Beginn an dazu verurteilt, nur der Stellvertreter des toten Sohnes Paolo zu sein.26 Er bekommt dessen Zimmer, Bett und Kleider, wird wie Paolo von seinem Vater zum Kaufmann erzogen. Der Erziehung, die ihn zu einem anderen werden lässt, als er selbst ist, widersetzt er sich, indem er eine Affaire mit der Xaviera Tartini, der Mätresse des Bischofs, eingeht, die sich vor allem aus finanziellen Gründen für den jungen Mann interessiert. Die Konstellation ist von vorneherein und scheinbar unaufhaltsam auf eine Konfrontation zwischen Piachi und seinem ungehorsamen Sohn gerichtet, die folgerichtig mit dem beiderseitigen Untergang endet. Zwar vertraut Piachi Nicolo sein gesamtes Vermögen an, als dieser die Nichte von Elvire, seiner Frau, heiratet und so der unseligen Bindung an Xaviera Tartini scheinbar entsagt. »Kurz, als Piachi sein sechzigstes Jahr erreicht hatte, that er das Letzte und Äußerste, was er für ihn thun konnte: er überließ ihm, auf gerichtliche Weise, mit Ausnahme eines kleinen Capitals, das er sich vorbehielt, das ganze Vermögen, das seinem Güterhandel zum Grunde lag, und zog sich, mit seiner treuen, trefflichen Elvire, die wenige Wünsche in der Welt hatte, in den Ruhestand zurück.« (SW II, 207) Der friedliche Ruhestand wird aber durch den frühen Tod von Nicolos Frau unterbrochen, der schnell in seine alten Gewohnheiten und zu Xaviera Tartini zurückfindet.
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Auf die Nähe von Nicolos Bild zu dem Luzifers hat Heinz D. Kittsteiner hingewiesen, Die Tode in Kleists Novelle ›Der Findling‹. In: Beiträge zur KleistForschung 18 (2004), S. 139-160, hier S. 141. Vgl. Helmut J. Schneider, Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist. In: KleistJahrbuch 2002, S. 21-41.
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Seine Undankbarkeit gegenüber dem Stiefvater erreicht ihren Höhepunkt, als er versucht, seine Stiefmutter Elvire zu verführen.27 Sie erscheint im gesamten Verlauf der Novelle als eine traumatisierte Figur, die aufgrund eines weit in der Vergangenheit zurückliegenden Vorfalls »einen stillen Zug von Traurigkeit im Gemüth« (SW II, 207) trägt.28 Der Grund für ihre Melancholie wie ihre Frigidität ist die spektakuläre Rettung bei einem Hausbrand durch einen jungen Genueser namens Colino, der an den Folgen seiner heroischen Rettungstat stirbt und nun als für immer verlorener Gegenstand der Verehrung das Gemütsleben Elvires bestimmt. Die Geschichte nimmt eine besondere Wendung, da Elvire, als sie Nicolo nachts unverhofft in Mantel und Hut sieht, von der äußerlichen Ähnlichkeit zwischen Nicolo und Colino überwältigt wird, so dass sie »wie durch einen unsichtbaren Blitz getroffen, bei seinem Anblick von dem Schemel, auf welchem sie stand, auf das Getäfel des Bodens niederfiel.« (SW II, 209) Der Grund für das seltsame Verhalten seiner Stiefmutter erschließt sich Nicolo erst, als er sie beobachtet, wie sie das Bild eines Ritters in Lebensgröße in einer Nische in der Wand anbetet: »Da lag sie, in der Stellung der Verzückkung, zu Jemandes Füßen, und ob er gleich die Person nicht erkennen konnte, so vernahm der doch ganz deutlich, recht mit dem Accent der Liebe ausgesprochen, das geflüsterte Wort: Colino.« (SW II, 212) Es ist der Name, der Nicolo Zugang zu Elvires geheimen Seelenleben verschafft. Wie er erkennt, gilt ihre eigentliche Liebe einem Toten, jenem Colino, dessen Bild sie in einer unheiligen Kombination von Heiligenverehrung und Erotik »in der Stellung der Verzükkung« anbetet. Nicolo bietet das die Möglichkeit, durch die »auffallende Ähnlichkeit mit ihm« (SW II, 213) an dessen Stelle zu 27
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Eine Nicolo entlastende Lesart legt dagegen Jürgen Schröder vor, der ihm zuspricht, die Stiefmutter aus ihrer traumatischen Erstarrung erlösen zu wollen. Vgl. Jürgen Schröder, Kleists Novelle ›Der Findling‹. Ein Plädoyer für Nicolo, in: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 109-127. Zu Elvires Melancholie vgl. Ingeborg Harms, Kleists Findling zwischen Krypta und Handelsgewölbe. In: Christine Lubkoll/Günter Oesterle (Hg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, Würzburg, S. 149-167.
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treten. Besiegelt wird die Stellvertretung durch ein einfaches Buchstabenspiel:29 Es traf sich, daß Piachi, wenige Tage zuvor, nach einer Schachtel mit kleinen, elfenbeinernen Buchstaben gefragt hatte, vermittelst welcher Nicolo in seiner Kindheit unterrichtet worden, und die dem Alten nun, weil sie niemand mehr brauchte, in den Sinn gekommen war, an ein kleines Kind in der Nachbarschaft zu verschenken. Die Magd, der man aufgegeben hatte, sie, unter vielen anderen, alten Sachen, aufzusuchen, hatte inzwischen nicht mehr gefunden, als die sechs, die den Namen: Nicolo ausmachten, wahrscheinlich weil die andern, ihrer geringeren Beziehung auf den Knaben wegen, mindern in Acht genommen und, bei welcher Gelegenheit es sei, verschleudert worden waren. Da nun Nicolo die Lettern, welche seit mehreren Tagen auf dem Tisch lagen, in die Hand nahm, und während er, mit dem Arm auf die Platte gestützt, in trüben Gedanken brütete, damit spielte, fand er – zufällig, in der That, selbst, denn er erstaunte darüber, wie er in seinem Leben noch nicht gethan – die Verbindung heraus, welche den Namen: Colino bildet. (SW II, 215) Anhand der Buchstaben, mit deren Hilfe er Lesen und Schreiben erlernt hat, eröffnet sich Nicolo ein anagrammatisches Spiel, das ihm die Möglichkeit gibt, sich in den toten Geliebten der Stiefmutter zu verwandeln, um sie – ja nach Lesart – diabolisch zu verführen oder engelhaft aus ihrer traumatischen Erstarrung zu erlösen. Entscheidend ist die Macht, die die sechs Buchstaben, die seinen Namen verkörpern, auf ihn ausüben. Aus Nicolo wird Colino. Mit seinem Namen geht es erneut um die Frage nach seiner Identität, die sich schon in der ihm aufgezwungenen Stellvertretung Paolos stellte. Die anagrammatische Übersetzung von Nicolo in Colino fügt dem eine zweite, freiwillige, aber nicht minder abgründige Stellvertretung hinzu, und anders als die ers-
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Vgl. Hendrik Werner, Kleist – für eine Literatur des Wortspiels. Zur Kalauer – Novelle ›Der Findling‹. In: Branka Schaller-Fornoff/Roger Fornoff (Hg.): Kleist. Relektüren. Hg.: Branka Schaller-Fornoff/Roger Fornoff. Dresden 2011, S. 79-92.
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te scheitert sie nicht, sondern gelingt nur zu gut. Motiviert ist sie durch Nicolos Wunsch, sich an seiner verschlossenen Stiefmutter zu rächen: Nicolo, dem diese logogriphische Eigenschaft seines Namens fremd war, warf, von rasenden Hoffnungen von neuem getroffen, einen ungewissen und scheuen Blick auf die ihm zur Seite sitzende Elvire. Die Übereinstimmung, die sich zwischen beiden Wörtern angeordnet hatte, schien ihm mehr als ein bloßer Zufall, er erwog, in unterdrückter Freude, den Umfang dieser sonderbaren Entdeckung, und harrte, die Hände vom Tisch genommen, mit klopfendem Herzen des Augenblicks, da Elvire aufstehen und den Namen, der offen da lag, erblicken würde. Die Erwartung, in der er stand, täuschte ihn auch keineswegs, denn kaum hatte Elvire, in einem müßigen Moment, die Aufstellung der Buchstaben bemerkt, und harmlos und gedankenlos, weil sie ein wenig kurzsichtig war, sich näher darüber hingebeugt, um sie zu lesen: als sie schon Nicolos Antlitz, der in scheinbarer Gleichgültigkeit darauf niedersah, mit einem sonderbar beklommenen Blick überflog, ihre Arbeit, mit einer Wehmuth, die man nicht beschreiben kann, wieder aufnahm, und, unbemerkt wie sie sich glaubte, eine Thräne nach der anderen, unter sanftem Erröthen, auf ihren Schoß niederfallen ließ. (SW II, 215f.) Das Anagramm gibt Nicolo die Möglichkeit, Notwendigkeit zu sehen, wo Zufall herrscht. Die Übereinstimmung zwischen seinem und Colinos Namen »schien ihm mehr als ein bloßer Zufall«, und so begibt sich Nicole ganz unter das Diktat des Buchstabens. Er wird buchstäblich zu Colino, verwandelt sich in den Toten, der er selbst bald sein wird. Das scheinbar unschuldige Spiel mit den Buchstaben erweist sich als Initiationsmoment einer Verwechslungskomödie, die tragisch endet und alle Beteiligten das Leben kostet. Durch Nicolos Initiative gerät auch Elvire ganz unter den Bann der Buchstaben. Wo ihm der Name nur wenig zu bedeuten scheint, da versetzt ihn seine Stiefmutter in Bewegung. Tränen und Erröten verraten ihren inneren Aufruhr, der zwischen Trauer und Begehren oszilliert. Die Ähnlichkeit von Nicolo und Colino, die das Anagramm ihrer Namen noch bestätigt, erschüttert sie auf eine bisher nicht gekannte Weise. Die
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affektive Erschütterung seiner Stiefmutter verleitet Nicolo allerdings zu einer erneuten Fehlinterpretation: Nicolo, der alle diese innerlichen Bewegungen, ohne sie anzusehen, beobachtete, zweifelte gar nicht mehr, daß sie unter dieser Versetzung der Buchstaben nur seinen eignen Namen verberge. Er sah sie die Buchstaben mit einem mal sanft übereinander schieben, und seine wilden Hoffnungen erreichten den Gipfel der Zuversicht, als sie aufstand, ihre Handarbeit weglegte und in ihr Schlafzimmer verschwand. (SW II, 216) So diabolisch sie auf den ersten Blick erscheinen mag: Nicolos Handlung ist von einer Naivität geprägt, die ihn wie ein Kind erscheinen lässt, das um die Liebe seiner Stiefmutter buhlt. Nicolo weiß noch nicht, dass er sich darin täuscht. Fasziniert von den Buchstaben, glaubt er, nicht Colino, sondern Nicolo sei gemeint, unter dem Namen verberge sich sein eigener, wo doch ein fremder regiert. Denn wie die traurige Geschichte zeigt, gilt das Begehren von Elvire auch weiterhin einzig dem toten Colino, dem sie in Nicolo wieder zu begegnen meint. Ihr Begehren bleibt adressiert an den verstorbenen Retter, aus deren Armen sie sich auch nach seinem Tod nicht befreit sehen möchte. Nicolos Streben nach liebender Anerkennung durch seine Mutter muss so notwendigerweise scheitern. Auf den verweigerten Wunsch nach Anerkennung folgt daher der nach Rache. Als er durch Xaviera Tartini von der traurigen Geschichte ihrer ersten und einzigen Liebe erfährt und erkennen muss, dass nicht er gemeint ist, wenn seine Stiefmutter aus ihrer Erstarrung zu erwachen scheint, reagiert er mit »Beschämung, Wollust und Rache« (SW II, 217). Die Mischung aus Scham und Zorn, die ihn überfällt, treibt ihn zu einem infamen Spiel. Er verkleidet sich als Colino, nimmt nicht nur dessen Namen, sondern auch seine äußere Gestalt an und schleicht während der Abwesenheit seines Stiefvaters in das Schlafzimmer Elvires, um sie durch das Bild des toten Geliebten zu täuschen so zu überwältigen. Der Plan aber misslingt: Elvire wird ohnmächtig, bevor Nicolo sie während ihrer Ohnmacht missbrauchen kann, kehrt unerwartet Piachi zurück, dem sich ein ebenso unerwartetes wie unerfreuliches Bild
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
bietet. »Nicolo stand wie vom Donner gerührt; er warf sich, da seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war, dem Alten zu Füßen, und bat ihn, unter der Betheuerung, den Blick nie wieder zu seiner Frau zu erheben, um Vergebung.« (SW II, 218) Nicoles Unterwerfungsgeste verhallt ungehört. Die Szene nimmt jedoch eine unerwartete Wendung, als Piachi seinen ungehörigen Sohn des Hauses verweisen möchte. Denn in Übereinstimmung mit dem von der Kirche bestätigten Recht erklärt Nicolo, dem sein Stiefvater das Geschäft überlassen hat, sich selbst zum Herren des Hauses. Das Dekret, das ihm Recht gibt, ein schriftliches Zeugnis der kirchlich sanktionierten Infamie, die über den Hausherren hereinbricht, bringt Nicolo jedoch kein Glück. Als Elvire an den Folgen der versuchten Vergewaltigung stirbt, kehrt Piachi mit dem Dekret in den Händen in das Haus zurück, um seinem Stiefsohn auf drastische Weise die Leviten zu lesen: Durch diesen doppelten Schmerz gereizt, ging er, das Dekret in der Tasche, in das Haus, und stark, wie die Wuth ihn machte, warf er den von Natur aus schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der Wand ein. Die Leute die im Hause waren, bemerkten ihn nicht eher, als bis die That geschehen war; sie fanden ihn noch, da er den Nicolo zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte. (SW II, 219) Piachi stopft seinem Stiefsohn im wahrsten Sinne des Wortes den Mund: Ebenso unvermittelt wie gewalttätig gibt er ihm die Buchstaben zu fressen, die auf dem Papier für das Recht einstehen, das ihm die Kirche verschaffen hat. Die Geschichte der Adoption, die Der Findling erzählt, endet in der Katastrophe. Für den Mord an Nicolo zum Tode verurteilt, weigert Piachi sich, die letzte Absolution zu empfangen, um seine Rache auch noch jenseits des Todes verfolgen zu können: »Ich will nicht selig sein. Ich will in den untersten Grund der Hölle hinabfahren. Ich will den Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wiederfinden, und meine Rache, die ich hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder aufnehmen!« (SW II, 220) Dass er freiwillig die Hölle und nicht den Himmel wählt, ist der Gipfel von Piachis blasphemischer Verhöhnung kirchlicher wie strafrechtlicher Ansprüche an ihn. Er überantwortet
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sich einem anderen Recht. »Kleist geht über die Bedeutung der Einverleibung als eine dem Lesen alternative Form der Aneignung von Schrift hinaus und öffnet den Vorgang hin zu einem Unbehagen an der Kultur, das seinen deutlichsten Ausdruck in einer Kritik an der Gewalt findet. Die orale Einbehaltung von Besitzstand, Recht und mithin auch Unrecht regelnden Schriftstücken erweist sich als eine (letzte) Bastion der Selbstbehauptung und entwickelt ihr Potential als Gegenwehr oder Revolte im Blick auf die schriftliche Verfügungen ausstellenden kirchlich-religiösen oder staatlich-säkularen Autoritäten«30 , kommentiert Mona Körte. Am Ende wird er ohne Absolution gehängt und sein Vermögen der Kirche überantwortet, die schon lange darauf spekuliert hatte. Von der Kirche, so halten Kleists Texte es unerbittlich fest, ist nichts als infame Niedertracht zu erwarten. Die Geschichte der scheiternden Adoption, wie sie Kleist in Der Findling präsentiert, endet so in einer kaum zu überbietenden Zerstörung der ökonomischen, familiären, erotischen und rechtlichen Banden, die den Vater und seinen Sohn aneinander fesselten und die erst aufgehoben sind, als alle Beteiligten den Tod gefunden haben.
2.4
Buchstäblichkeit bei Kleist
Das anagrammatische Spiel um Namen, das Kleist in Novellen wie Die Verlobung in St. Domingo oder Der Findling inszeniert, dient keineswegs dazu, ein wie auch immer geartetes Recht zu begründen. Im Gegenteil: In der Fixierung auf den Buchstaben, die Der Findling vor Augen führt, öffnet sich eine kritische Dimension, deren Hauptgegner die Kirche und die staatlichen Autoritäten sind, die durch schriftliche Formen wie Dekrete und Erlässe ein Recht verbürgen, das der Idee der Gerechtigkeit Hohn spricht. Die Schriftskepsis, die in Kleists Texten zum Ausdruck kommt, ist tief in der Aufklärung verwurzelt. Sie richtet sich gegen die lutherische Schriftgläubigkeit, jenes sola scriptura, dem der Michael Kohlhaas ein Ende bereiten will, indem er in einem kaum zu überbietenden 30
Mona Körte, Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit, München 2012, S. 253.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
blasphemischen Akt drei Mail die Lutherstadt Wittenberg niederbrennt – triumphierend notiert der Text, dass beim dritten Mal »zwei und vierzig Häuser, zwei Kirchen, mehrere Klöster und Schulen, und das Gebäude der kurfürstlichen Landvoigtei selbst, in Schutt und Asche lagen.« (SW II, 38) Der in Kleists Texten hyperbolisch festgehaltene Zorn richtet sich gegen kirchliche und staatliche Institutionen gleichermaßen: Am Ende triumphiert Kohlhaas noch während seiner öffentlichen Hinrichtung über den Kurfürsten von Sachsen, indem er, dem Findling nicht ungleich, das Papier, auf dem die Zukunft des kurfürstlichen Hauses festgeschrieben ist, ungehindert verschlingt. Der magische Zauber, der vom Buchstaben auszugehen scheint, entpuppt sich als ein Zeugnis des Aberglaubens, dem mit allen Mitteln zu begegnen ist, die der Aufklärung zur Verfügung stehen. Die Kritik an der institutionellen Macht des Buchstabens in Fragen des Glaubens und des Rechts erweitert Der Findling um eine sprachkritische Dimension, die Kleists Texte zum bevorzugten Gegenstand von psychoanalytisch und dekonstruktiv inspirierten Lektüren hat werden lassen. Denn wie Der Findling zeigt, rückt der unglückliche Nicolo, der in den vor ihm auf den Tisch liegenden Buchstaben die Äquivalenz zu Colino zu erkennen meint, ganz unter die Macht des Signifikanten: Die Buchstabenfolge, die es erlaubt, aus Nicolo Colino zu bilden, bestimmt sein weiteres Schicksal, das dem Untergang anheimfällt, da er zwar glaubt, in der Position des Hausherren zu sein, der sich die Stiefmutter aneignen kann, der aber verkennt, dass der Name über ihn bestimmt: Wo Nicolo hofft, Elivre würde ihn in dem anderen Namen sehen, da wird er selbst zu dem toten Colino, dem allein das Begehren der Stiefmutter gilt. In Elvire führt Kleist eine traumatisierte Figur vor Augen, die der Melancholie verfällt, da sie sich von dem toten Geliebten nicht zu lösen vermag und in imaginären Verkettungen zu seinem Abbild gefangen bleibt. Die symbolische Ordnung, die Bewegung in ihre Erstarrung zu bringen scheint, bringt allerdings nicht die erhoffte Therapie, wieder für sie noch ihren Stiefsohn, sondern vollzieht die unheiligen Substitutionen, die allein im Tod ihren letzten Meister finden. Nicht anders als die Psychoanalyse, der es darum geht, imaginäre Verkennungen wie buchstäbliche Fixierungen gleichermaßen aufzuheben, bestätigt Kleist
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damit aber die Macht des Buchstaben über das Subjekt nicht einfach. Im Gegenteil: Eben dieser Macht des Buchstaben gilt seine Kritik – eine Kritik, die sich in Texten wie Der Griffel Gottes, Michael Kohlhaas oder Der Findling an der scharfen Verurteilung all jener Institutionen äußert, die von der Unverbrüchlichkeit des Buchstäblichen ausgehen.
3.
Das Drängen des Buchstaben. Lacans Sprachspiele
3.1
Von Freud zu Lacan
Die Verirrung des Waisenkinds Nicolo, wie Kleist sie schildert, beruht auf einer fehlgehenden Identifikation, die ganz im Zeichen einer Struktur der Buchstäblichkeit – dem Anagramm Nicolo/Colino – steht. Aus der Perspektive des französischen Psychoanalytikers Lacan liegt dem ein Prozess zugrunde, der das grundlegende Verhältnis von Sprache und Subjekt anzeigt: Das Subjekt (Nicolo) gleitet in dem Spiel mit den elfenbeinernen Buchstaben, das sich ihm unverhofft eröffnet, unter die Ordnung des Signifikanten, das von der Macht des Anderen (Colino) bestimmt wird. In noch stärkerem Maße als Freud rekurriert Lacan auf die Ordnung des Buchstäblichen, um einen Begriff der Psychoanalyse vorzulegen, der ganz von der Struktur der Sprache bestimmt ist. Zugleich aber verkürzt Lacan die Ordnung des Buchstäblichen auf die des Signifikanten, dessen unabschließbare Verschiebungsarbeit für eine beständige Operation der Dezentrierung der Bedeutung einsteht, die es nicht erlaubt, auf eine wie auch immer geartete Form der geistigen Einheit zurückzugehen. Lacan bezieht sich damit auf Saussure zurück, löst aber zugleich die stabile Verbindung von Signifikant und Signifikat auf, um in das sprachliche Zeichen eine Differenz einzutragen, die den materiellen Träger unaufhebbar von der spirituellen Bedeutung trennt. »Der Lacansche Signifikant hat kein ihm zugehöriges Signifikat, mit dem zusammen er eine Einheit ›Zeichen‹ bildet«31 , kommen31
Hans-Dieter Gondek, Subjekt, Sprache und Erkenntnis. Philosophische Zugänge zur Lacanschen Psychoanalyse, in: Hans-Dieter Gondek/Roger Hof-
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
tiert Hans-Dieter Gondek. Die Einheit des Zeichens, von der Saussures Sprachtheorie ihren Ausgang genommen hatte, löst sich auf zugunsten des unendlichen Spiels der Signifikanten. Der Buchstabe scheint über den Geist die Oberhand zu behalten. Auf die Bedeutung des Buchstäblichen bezieht sich Lacan ausdrücklich in seinem Aufsatz ›L’instance de la lettre dans l’inconscience ou la raison après Freud‹, der auf einen Vortrag zurückgeht, den er am 9. Mai 1957 an der Sorbonne gehalten hat. In einer für ihn charakteristischen Weise, die bereits die fast zeitgleich erfolgende Auseinandersetzung mit Edgar Allan Poe in dem ›Séminaire sur la lettre volée‹ bestimmt hatte, beruft sich Lacan auf die Homonymie des französischen Ausdrucks »lettre«, um eine ebenso voraussetzungsreiche wie eigenwillige Theorie des sprachlichen Zeichens vorzulegen. Lacan kann damit beispielgebend für die Befreiung des Signifikanten aus der Logik des Signifikats einstehen, welche die französische Theoriebildung seit den fünfziger Jahren kennzeichnet, zugleich aber auch die Aporien vor Augen führen, die mit der Privilegierung des Signifikanten einhergehen. Bereits in seinem Aufsatz zu Poes Erzählung The Purloined Letter, der die 1966 erschienenen Écrits programmatisch einleitet, hatte sich Lacan einleitend auf »l’insistance de la chaîne signifiante«32 berufen, um eine Interpretation vorzulegen, die auf einer Ordnung der Buchstäblichkeit besteht, die er dem Leser auf artistische Weise vor Augen zu führen versucht: Mais pour la lettre, qu’on la prenne au sens de l’élément typographique, de l’épitre ou de ce qui fait le lettré, on dira que ce qu’on dit est à entendre à la lettre, qu’il vous attend chez le vaguemestre une lettre, voire que vous avez des lettres, – jamais qu’il n’y ait nulle part de le lettre, à quelque titre qu’elle vous concerne, fût-ce à désigner du courrier en retard. (É, 24)
32
mann/Hans-Martin Lohmann (Hg.): Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 130-163. Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966, S. 11. Im Folgenden alle Zitatnachweise im Text.
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Lacans Sprachspiele um den Ausdruck »lettre« sind keine leeren Worthülsen. In ihrem Assoziationsreichtum, der dem Surrealismus in mancherlei Hinsicht näher steht als dem Strukturalismus, eröffnen sie einen Raum der Mehrdeutigkeit, den Lacan ausnutzt, um jeder Vereinheitlichung von Bedeutungszusammenhängen zu entgehen. Lacan will den Buchstaben – la lettre – beim Wort – à la lettre – nehmen, weil er in ihm eine Bewegung präfiguriert sieht, die er Poes Erzählung abliest und zugleich mit der englischen Homophonie von letter und litter engführt, wie sie Joyce eingeführt hat. Der Buchstabe ist demnach ein Rest, ein Müll – »une ordure« (É, 25), wie Lacan sagt –, auf dem zugleich das Reich der Bildung, der lettrés, derjenigen, die lesen können, aufgebaut ist. Die Joyce abgelesene Homophonie von letter und litter, der er in späteren Texten und Vorlesungen ausführlicher nachgegangen ist,33 verbindet Lacan mit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks »lettre« im Französischen, derzufolge lettre ebenso als Buchstabe wie als Brief verstanden werden kann, darüber hinaus aufgrund des Gleichklangs auch als Ausdruck des Seins, l’être, was Lacan zugleich zur Verbindung von Sein und Sprache bei Heidegger führt. Die assoziativen Wortspiele erzeugen so einen Resonanzraum, in dem sich die unterschiedlichen Diskurse der Psychoanalyse, des Strukturalismus, der Philosophie und der Literatur zu einem seltsamen Amalgam vermischen, in dem es stets darum geht, die Ordnung des Buchstäblichen bzw. des Wörtlichen – die französische Sprache erlaubt Lacan hier keine Unterscheidung – zu wahren, um auf der Abhängigkeit der Bedeutung von seinem materiellen Träger zu bestehen. Nichts anderes steht im Mittelpunkt des Aufsatzes ›L’instance de la lettre dans l’inconscient‹. Schon der Untertitel »la raison depuis Freud« zeigt an, dass Lacan sich auf der einen Seite in der unmittelbaren Nachfolge des Begründers der Psychoanalyse sieht, auf der anderen Seite
33
Vgl. in diesem Zusammenhang den Aufsatz Lituraterre, der den 2001 erschienenen Band der Autres écrits eröffnet, wo Lacan wie in anderen Zusammenhängen davon ausgeht, »que la lettre soit primaire.« Jacques Lacan, Autres écrits, Paris 2001, S. 15; ebenso das Joyce gewidmete Seminar XXIII mit dem Titel Le sinthomme, Paris 2005.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
aber darum bemüht ist, la raison, die Vernunft oder den Grund, den logos Freuds, so eng mit dem Moment der Sprache zu verbinden, wie es ihm nur möglich ist, um eine Begründung der Psychoanalyse vorzulegen, die in der Rückwendung zu Freud, dem immer wieder neu proklamierten retour à Freud, gleichzeitig über diesen hinausgeht. Lacans Lehre wäre jedoch missverstanden, wollte man in ihr nur eine Vorbereitung der Grammatologie sehen. Denn das Insistieren auf der Buchstäblichkeit verbindet Lacan keineswegs mit einer Privilegierung der Schrift, wie sie Derrida vollziehen wird. Vielmehr weist Lacan schon zu Beginn seines Aufsatzes darauf hin, dass sich seine Überlegungen in einem Raum zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewegen: »entre l’écrit et la parole : elle sera à mi-chemin.« (É, 493) In einem liminalen Bereich des Zwischen situiert sich Lacan, da er die mit dem Russischen Formalismus einsetzende und bis zu Roman Jakobson reichende phonologische Begründung des sprachlichen Zeichens nicht aus den Augen verlieren möchte. Die Betrachtung der lautlichen Beschaffenheit der Sprache lässt Lacan daher in eine Distanz zur Privilegierung der Instanz des Textes gehen, wie sie das Schriftliche vorgibt: »L’écrit se distingue en effet par une prévalence du texte, au sens qu’on va voir prendre ici à ce facteur du discours, – ce qui y permet ce resserrement qui à mon gré ne doit laisser au lecteur d’autre sortie que son entrée, que je préfère difficile.« (É, 493) Dem Zusammenhang von Schrift und Text, dem sich die Grammatologie widmet, begegnet Lacan mit einer Apologie der Mündlichkeit, die seine eigene Lehre auszeichnet: »La propriété que j’accorde à nourrir mes leçons de séminaire d’un apport à chaque fois inédit, m’a empêché jusqu’à ce jour d’en donner un tel texte« (É, 493). Die auf ihre Weise nicht unbescheidene Zurückhaltung, die Lacan vor der Instanz des Schriftlichen und des Textes zur Schau stellt – nicht umsonst geht sein Aufsatz auf einen Vortrag zurück, so wie sich Lacans Lehre insgesamt eher auf seine mündliche Vortragskunst als auf seine Publikationen stützt –, nutzt er abermals im Rahmen eines Wortspiels dazu, auf eine dem Text vorgängige Ordnung des »prétexte« (É 493), des Vorwandes wie des Vor-Textes hinzuweisen, der sein eigentliches Interesse gilt. Den Titel seines Vortrages versteht er vor diesem Hintergrund zugleich als Hommage an die Sprache und insbe-
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sondere das Literarische – »littéraire« (É, 494), heißt es ausdrücklich – als dem gemeinsamen Grund alles Geistigen, dem »universitas littérarum«, dem schon Freuds Interesse gegolten habe. In der Insistenz oder dem Drängen des Buchstabens sucht Lacan demnach nichts Geringeres als eine psychoanalytisch begründete »Gegenwissenschaft«34 , die sich im Zeichen des Signifikanten der theologisch-philosophisch begründeten Privilegierung des Sinns zu widersetzen sucht, wie sie die Schleiermachersche Hermeneutik etabliert hatte, indem sie die Kunstlehre des Verstehens ebenfalls auf die beiden Momente der mündlichen und der schriftlichen Rede zu gründen versuchte. Lacans strukturalistischer Ansatz kann daher als Fortführung der Hermeneutik mit anderen Mitteln wie als Ansatz für eine radikale Antihermeneutik gleichermaßen verstanden werden.
3.2
Die Sprache und das Unbewusste
Um die zentrale Rolle der Psychoanalyse in den Wissenschaften herauszustellen, bezieht sich Lacan einleitend auf die von ihr entdeckte Bedeutung der Sprache zurück: »Notre titre fait entendre qu’au-delà de cette parole, c’est toute la structure du langage que l’expérience psychanalytique découvre dans l’inconscient.« (É, 495) Die zentrale Prämisse, die ihn zugleich von allen naturwissenschaftlichen Begründungsversuchen der Psychoanalyse unterscheidet, besteht in der Verbindung von Freuds »Entdeckung des Unbewussten«35 mit Saussures Entdeckung der Struktur der Sprache. Dass das von Freud entdeckte Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, ist das Credo, das Lacan zu wiederholen nicht müde wird. Offen bleibt damit allerdings zunächst, um was für eine Form der Sprache es sich genau handelt, der die Psychoanalyse auf all ihren Wegen begegnet.
34
35
Vgl. dazu noch die Ausführungen Michel Foucault zu den Gegenwissenschaften der Ethnologie und der Psychoanalyse in Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 385f. Vgl. Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
Im Blick auf die Theorie der Sprache, die er in seinem Vortrag zu entfalten sucht, beruft sich Lacan daher von Anfang an auf die Ordnung der »lettre«: »Nous désignons par lettre ce support matériel que le discours concret emprunte au langage.« (É, 495) Mit der lettre, die Lacan im Wortsinn als Buchstabe verstanden wissen will, bezieht er sich ausdrücklich auf die materielle Seite der Bedeutungsproduktion, auf den »support matériel«, den der Signifikant bereithalte. Was Lacan in diesem Zusammenhang vor allem interessiert, ist die grundsätzliche Vorgängigkeit der Sprache vor dem Subjekt: »Pour la raison première que le langage avec sa structure préexiste à l’entrée qu’y fait chaque sujet à un moment de son développement mental.« (É, 495) Die These, dass die Sprache dem Subjekt, damit aber auch jeder Form der geistigen Ordnung, vorausgehe, ist die Grundidee, mit der Lacan wie nach ihm Foucault und Derrida jeder hermeneutischen Begründung des Verstehens als Einstimmung von Autor und Ausleger, von Sprecher und Empfänger der Rede, widerspricht. Lacan beruft sich vor diesem Hintergrund wie schon Jakobson v.a. auf das Beispiel der Aphasie und die Funktion des Eigennamens in der Rede, um die These von der Vorrangstellung der Sprache vor jeder Form des Spirituellen zu begründen. Will man die seinerzeit revolutionär anmutende Idee, dass die Analyse der Struktur der Sprache am Anfang wie am Ende aller geisteswissenschaftlichen Bemühungen stehe, auf den Kontext der Schleiermacherschen Hermeneutik zurückbeziehen, so wird schon hier deutlich, dass Lacan der Privilegierung der psychologischen Auslegung unter dem Namen der Divination in der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts eine Privilegierung der grammatischen Auslegung entgegensetzt, unter der Voraussetzung allerdings, dass er unter dem Aspekt des Grammatischen etwas grundsätzlich anderes versteht als Schleiermacher, nämlich das auf phonetischen Differenzen beruhende System der Sprache, dass der Strukturalismus für sich entdeckte. Aus der Privilegierung des Signifikanten, die Lacans Werk bestimmt, konnte Bruce Fink daher auch die Forderung ableiten, »to take Lacan at his word, to read his texts à la lettre – that is, both literally and to the letter.«36 36
Bruce Fink, Lacan to the Letter. Reading Écrits Closely, Minnesota 2004, S. VII.
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Dass Lacan sich ganz dem strukturalistischen Zeichenmodell anvertraut, um dieses gleichzeitig in eine neue Dynamik zu versetzen, zeigt die ausdrückliche Würdigung der Linguistik, die seiner Auffassung zufolge »en position pilote« (É, 496) als eine neue Leitwissenschaft der sciences humaines fungiere. Wie sehr sich sein Modell der Sprache jedoch zugleich von dem Saussures unterscheidet, zeigt seine eigenwillige Adaptation des linguistischen Zeichenmodells. Saussures graphisches Modell des Zeichens als der zwei Seiten von Signifikat und Signifikant deutet Lacan als einen Algorithmus, in dessen Mittelpunkt weder der Signifikant noch das Signifikat stehe, sondern der Trennstrich, der beide voneinander scheide: »signifiant sur signifié, le sur répondant à la barre qui en sépare les deux étapes.« (É, 497) Dass Lacan mit dieser Auslegung Saussures Zeichenmodell überschreitet, scheint unstrittig zu sein.37 Ebenso unstrittig ist aber auch die Tatsache, dass seine Inthronisierung des Trennstriches zwischen Signifikant und Signifikat einer selbst buchstäblich verfahrenden Auslegung geschuldet ist, die sich auf eine anagrammatische Ordnung der Sprache als deren unbewussten Grund beruft. Das erste Beispiel, das Saussure in seinem Cours linguistique gibt, den Baum, arbre, liest Lacan dieser anagrammatischen Logik zufolge als barre, als den Trennstrich, der den materialen Träger der Bedeutung, den Signifikanten, von seinem geistigen Komplement, dem Signifikat, auf immer trenne. Wie Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe gezeigt haben, rückt die barre damit in eine Position der Ursprünglichkeit, die sie bei Saussure nicht kannte.38
37
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»Unstrittig aber ist, daß Saussure niemals die Relation zwischen Signifikant und Signifikat als einen Algorithmus, das heißt als eine rein formale Vorschrift einer auszuführenden Operation, bezeichnet hätte«, so Hans-Dieter Gondek, Subjekt, Sprache und Erkenntnis, S. 152. Nancy und Lacoue-Labarthe stellen fest, dass »la barre est de fondement ou d’origine. Elle est l’arché d’un système qui, tout en systématisant la division, le manque ou le trou aux places de l’origine, n’en a pas moins conservé, sans la remettre en jeu, sa propre valeur ›archaïque‹ de systémacité«. Jean-Luc Nancy/Philippe Lacoue-Labarthe, Le titre de la lettre (une lecture de Lacan), Paris 1973, S. 115.
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Lacans ebenso fragwürdige wie »witzige«39 Umdeutung Saussures vertraut nicht nur auf der Ebene ihres Gegenstandes, der Sprache, sondern auch auf der ihrer eigenen Verfahren ganz auf die Macht des Buchstaben, um jene Dezentrierung des Sinns vorzunehmen, für die seiner Auffassung zufolge die Psychoanalyse als Ganzes einsteht. Das Ergebnis dieser Operation ist die Privilegierung des Signifikanten gegenüber dem Signifikat, für die Lacans Lehre bis heute einsteht.40 In dem Maße, in dem die barre als sprachliche Barriere zwischen Signifikant und Signifikant verstanden wird, löst sich das traditionelle Zeichenmodell auf: »La thématique de cette science est dès lors en effet suspendue à la position primordiale du signifiant et du signifié, comme d’ordres distincts et séparés initialement par une barrière résistante à la signification.« (É, 497) Nicht mehr die Bedeutung steht im Mittelpunkt des Zeichens, sondern umgekehrt der Widerstand gegen die Bedeutung.41 Die Stärkung der Position des Signifikanten führt Lacan zu der These, »qu’il n’est aucune signification qui se soutienne sinon du renvoi à une autre signification« (É, 498). An die Stelle eines wie auch immer gearteten geistig verbürgten Sinns tritt für Lacan die Insistenz der signifikanten Kette, das »glissement incessant du signifié sous le signifiant« (É, 502), das er bereits an den Anfang seines Poe-Aufsatzes gestellt hatte. In den Mittelpunkt der Sprache rückt so der Buchstabe, »la lettre, à savoir la structure essentiellement localisée du signifiant«
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»Entscheidend wird der Querstrich, ›la barre‹, zwischen Signifiant und Signifié,« so Hermann Lang, Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1986, S. 235. Vom »Primat des Signifikanten spricht auch Peter Widmer, Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien 1997, S. 47. Ähnlich argumentiert Samuel Weber: »Damit wird nicht nur die Trennung von Signifikant und Signifikat hervorgehoben, sondern etwas, was bei Saussure nur implizit und widersprüchlich vorhanden ist: das Primat des Signifikanten vor dem Signifikat als seinem Produkt.« Samuel Weber. Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, 2.Aufl., Wien 2000, S. 66. »Das Signifikat zieht sich in die untere Position zurück, schrumpft zum Kleinbuchstaben und wird durch Kursivierung ausgetrocknet«, kommentiert Malcom Bowie, Lacan, Göttingen 1994, S. 64.
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(É, 501)42 – unter der keineswegs selbstverständlichen Voraussetzung allerdings, dass es die Ordnung des Signifikanten ist, die die des Buchstäblichen abdeckt.43
3.3
Traumarbeit – Spracharbeit
Die Algorithmisierung und Anagrammatisierung von Saussures Zeichenmodell ist nicht das einzige theoretische Wagestück Lacans. Darüber hinaus legt er eine Umdeutung der Freud’schen Kategorien der Traumarbeit vor, die sich wesentlich von Jakobsons Poetik herleitet. Um eine Poetik handelt es sich auch bei Lacan, da er den Blick immer wieder auf die Literatur richtet.44 Neben Valérys Gedicht Au platane, anhand dessen er noch einmal ausdrücklich auf das anagrammatische Doppel von arbre und barre eingeht, bezieht er sich auf einen Vers von Hugo, mit dessen Hilfe er die Funktionsweise der Signifikantenkette zu erläutern sucht. Lacans Umformung des Freud’schen Ansatzes ist ebenso einfach wie radikal. Freuds Begriffe der Verdichtung und der Verschiebung führt er auf das rhetorische Paar von Metapher und Metonymie zurück, mit dessen Hilfe bereits Jakobson in dem Aufsatz ›Linguistik 42
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Samuel Weber fordert daher eine buchstäbliche Lektüre von Lacans eigenem Diskurs: »Und das heißt, Lacan nicht nur wörtlich zu lesen, sondern eben buchstäblich.« Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Wien 2000, S. 92. Vgl. Heinz Sieburg, Die Buchstäblichkeit der Buchstaben. In: Achim Geisenhanslüke (Hg.): Buchstäblichkeit. Theorie, Geschichte, Übersetzung, Paderborn 2020, S. 11-27. Zur Bedeutung der Literatur bei Lacan vgl. Roger Hofmann: »Die Eindrücklichkeit, mit der Lacan in seinen Seminaren Literatur zu lesen versteht, geht einher mit der Art und Weise, wie er mittels dieser Lektüren seine Begriffe schärft. So subtil diese Lektüren auch sein mögen, letztlich stellen sie Übersetzungen dar, die bestimmte Aspekte literarischer Werke der Psychoanalyse einschreiben.« Roger Hofmann, Spannungen – Psychoanalyse, Literatur, Literaturwissenschaft, in: Hans-Dieter Gondek/Roger Hofmann/Hans-Martin Lohmann (Hg.): Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 189-200, hier S. 195.
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und Poetik‹ die poetische Funktion der Sprache zu erläutern suchte. »Eine dichterische Äußerung zeichnet sich aus durch die Projektion des Äquivalenzprinzips (von Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen) von der paradigmatischen Achse der Selektion, für die es allgemein konstitutiv ist, auf die syntagmatische Achse der Kombination«45 , hatte Jakobson formuliert und die paradigmatische Achse dabei mit der Metapher, die syntagmatische mit der Metonymie identifiziert. Lacan folgt Jakobson, um im Zusammenspiel von Metapher und Metonymie jene Dezentrierung des Sinns aufzuzeigen, die er in der Psychoanalyse wie in der Literatur am Werk sieht. Demnach beruht das Gleiten der Signifikantenkette auf nichts anderem als einem metonymischen Verschiebungsprozess, der sich aus metaphorischen Stellvertretungsprozessen speist. »Un mot pour un autre, est la formule de la métaphore« (É, 507), hält Lacan fest, um die metaphorische Substitution und die metonymische Verschiebung als die wesentlichen Bestandteile der poetischen Rede festzuhalten. Das Beispiel, auf das er sich bezieht, ist ein Vers von Hugo, der zugleich auf das Alte Testament zurückführt: »Sa gerbe n’était pas avare ni haineuse…« (É, 506), schreibt Hugo im Blick auf die alttestamentarische Figur der Boas, der in der Bibel für den materiellen wie geistigen Reichtum der messianischen Genealogie einsteht, die bis zu seinem Urenkel David führt. Um eine Metapher handelt es sich Lacan zufolge bei Hugo, da »gerbe« stellvertretend für den materiellen Reichtum Boas einstehe: »C’est donc entre le signifiant du nom propre d’un homme et celui qui l’abolit métaphoriquement, que se produit l’étincelle poétique, ici d’autant plus efficace à réaliser la signification de la paternité qu’elle reproduit l’événement mythique où Freud a reconstruit le cheminement, dans l’inconscient de tout homme, du mystère paternel.« (É, 508) Lacan verbindet die Funktion der Metapher für die in der Psychoanalyse zentrale Rolle der Vaterschaft, um in sprachlichen Substitutionsprozessen die Verdichtung zu erkennen, die Freud neben der
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Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 83. Im Original kursiv.
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Verschiebung in das Zentrum der Traumarbeit gestellt hat. Die Metapher sei dementsprechend für die Bedeutungsproduktion verantwortlich, deren Gesetze erst die Psychoanalyse entdeckt habe: »On voit que la métaphore se place au point précis où le sens se produit dans le nonsens, c’est-à-dire à ce passage dont Freud a découvert que, franchi à rebours, il donne lieu à ce mot qui en français est ›le mot‹ par excellence, le mot qui n’y a pas d’autre patronage que le signifiant de l’esprit, et où se touche que c’est sa destinée même que l’homme met au défi par la dérision du signifiant.« (É, 508) Es ist nicht allein die Tatsache, dass Lacan zwar die Momente der Verdichtung und der Verschiebung berücksichtigt, die beiden anderen Teile der Traumarbeit, Rücksicht auf Darstellbarkeit und sekundäre Bearbeitung, wie Freud sie angeführt hatte, jedoch auslässt, die kritische Fragen provoziert.46 Wie Martin von Koppenfels gezeigt hat, beruht schon Lacans Hugo-Lektüre auf einer keineswegs eindeutigen Entscheidung. Koppenfels zufolge verwechselt Lacans Deutung Metapher und Metonymie: »Es hat freilich den Anschein, als missverstehe Lacan hier metonymische Verhältnisse als metaphorische […]: Die Garbe steht bei Hugo pars pro toto für den ganzen Besitz des Boas, dieser wiederum metonymisch für den Patriarchen, und der Übergang der moralischen Attribute ›weder geizig noch gehässig‹ vom Mann auf die Garbe ist eine Enallage und somit ebenfalls eine Verschiebungsfigur.«47 Lacan verwechselt im Kontext von Jakobsons These, »daß jede Metonymie eine metaphorische und jede Metapher eine metonymische Färbung bekommt«48 , jedoch nicht nur Metapher und Metonymie. Darüber hinaus ist die Bestimmung der Metapher als Ersetzung eines Wortes durch ein anderes so weit gefasst, dass sie gar nicht die spezielle rhetorische Figur der Metapher selbst trifft, sondern als Definition des Tropus allgemein 46
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Schon Žižek notiert, »daß die meisten von Lacans Schlüsselbegriffen keine Entsprechung in Freuds eigener Theorie haben«. Slavoj Žižek, Lacan. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2011, S. 13. Martin von Koppenfels, Rhetorik und Poetik. In: Frauke Berndt/Eckart Goebel (Hg.): Handbuch Literatur & Psychoanalyse, Berlin/Boston 2017, S. 59-76, hier S. 68f. Roman Jakobson, Poetik, S. 83. Im Original kursiv.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
durchgehen kann. Darüber hinaus fügt sich auch Freuds Modell von Verdichtung und Verschiebung, auf das sich Lacan beruft, kaum vorbehaltlos in deren Übersetzung in Metapher und Metonymie ein. Koppenfels spricht vor diesem Hintergrund von einer Quadratur des Kreises, die Lacan versuche: »Zum einen fügt sich Freuds Beschreibung keinem Zweiachsenmodell; Verschiebung und Verdichtung liegen auf unterschiedlichen Ebenen und bilden keine sich kreuzenden Achsen […]. Zum anderen bezeichnen die Begriffe Verdichtung und Verschiebung bei Freud assoziative Prozesse, die offenbar nicht deckungsgleich sind mit Metapher und Metonymie in einem engeren, rhetorischen Sinn.«49 Zwar hat die Forschung in der Übersetzung von Freuds Ansatz in die Begrifflichkeit der Rhetorik und Poetik des Strukturalismus gerade die spezifische Leistung Lacans erkennen wollen. »Lacans genialster Versuch zur wechselseitigen Befruchtung der Theorien Freuds und Saussures«50 , so Malcolm Bowie, führt jedoch offenkundig wenn nicht vollständig in die Irre, so doch ein Stück weit weg von Freud. »Mais ne sentons-nous pas depuis un moment que d’avoir suivi les chemins de la lettre pour rejoindre la vérité freudienne, nous brûlons, son feu prenant de partout« (É, 509), mit diesen pathetischen Worten begleitet Lacan seinen Versuch, Freud à la lettre zu verstehen, die Orientierung der Psychoanalyse an der Sprache im buchstäblichen Sinne ernst zu nehmen, um ihren Wahrheitsanspruch darzulegen. Und Lacan beruft sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die biblische Formel vom lebendigen Geist und dem toten Buchstaben: »Certes la lettre tue, diton, quand l’esprit vivifie.« (É, 509) Aber er stellt dem die allzu berechtigte Frage entgegen, »comment sans la lettre l’esprit vivait.« (É 509) Nicht im Geist, im Buchstaben sieht Lacan die Bedeutung verankert, die in seinen Augen bis zur Vorstellung der Wahrheitsfähigkeit reicht, um die sich die Philosophie bemüht: »Les prétentions de l’esprit pourtant demeureraient irréductibles, si la lettre n’avait fait la preuve qu’elle produit tous ses effets de vérité dans l’homme, sans que l’esprit ait le moins du monde à s’en mêler.« (É, 509) Lacan, darin keineswegs ein 49 50
Martin von Koppenfels, Rhetorik und Poetik, S. 69. Malcolm Bowie, Lacan, S. 63.
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Skeptiker oder Relativist, wie ihm immer wieder unterstellt worden ist, sondern ein Gläubiger, ist ausdrücklich an der Instanz der Wahrheit interessiert. Aber seiner Auffassung zufolge gibt es eine solche Wahrheit allein im Rahmen einer sprachlichen Form der Vermittlung, die durch die metonymische Verschiebungsbewegung metaphorischer Substitutionsprozesse zugleich auf eine fundamentale Erfahrung des Mangels und der Leere verweist. »Le sens de la lettre is a sens not of meaning but, rather, of directionality, a directionality of subversion, a subversion of the place of meaning itself«, kommentiert Bruce Fink.51 Der Wahrheitsanspruch der Psychoanalyse beruht auf der Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffs, den die Philosophie seit ihren Anfängen verfolgt. Vor diesem Hintergrund deutet Lacan die Gründungsakte der Psychoanalyse, Freuds Traumdeutung, als einen Text, der sich ganz der Ordnung des Buchstäblichen verpflichtet: »il ne s’agit à toutes les pages que de ce que nous appelons la lettre du discours, dans sa texture, dans ses emplois, dans son immanence à la matière en course.« (É, 509) Lacan beruft sich auf Freuds Bestimmung des Traums als Rebus, den er wiederum à la lettre verstehen will, wie auf die bereits von ihm angedeutete Übersetzung der psychoanalytischen Begriffe der Entstellung, der Verdichtung und der Verschiebung als sprachliche Prozesse: In der Entstellung erkennt Lacan »le glissement du signifié sous le signifiant« (É, 511), in der Verdichtung die »condensation, c’est la structure de surimposition des signifiants où prend son champ la métaphore« (É, 511), in der Verschiebung ein »déplacement, c’est plus près du terme allemand ce virement de la signification que la métonymie démontre« (É 511), um die Begründung der Psychoanalyse in der Traumdeutung ganz auf die Funktion des Signifikanten zurückzuführen: »Dès l’origine, on a méconnu le rôle constituant du signifiant dans le statut que Freud fixait à l’inconscient d’emblée et sous les modes formels les plus précis.« (É, 512) Lacans spektakuläre Rückkehr zu Freud verdankt sich einer Versprachlichung der zentralen Mechanismen der Traumarbeit, die mit den beiden Figuren der Metapher und der Metapher die Topik des Unbewussten ebenso zu beschreiben versucht wie den poetischen Akt. So versteht 51
Bruce Fink, Lacan to the Letter, S. 95.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
Lacan die Metonymie wie schon Jakobson als die Beziehung des Signifikanten zu einem anderen Signifikanten auf der Ebene des Syntagmas – »la structure métonymique, indiquant que c’est la connexion du signifiant au signifiant, qui permet l’élision par quoi le signifiant installe le manque de l’être dans la relation d’objet, en se servant de la valeur de renvoi à signification pour l’investir du désir visant ce manque qu’il supporte« (É, 513) –, die Metapher hingegen als Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen Signifikanten auf der Ebene des Paradigmas, um mit ihr zugleich die poetische Funktion der Sprache zu benennen: »la structure métaphorique, indiquant que c’est dans la substitution du signifiant au signifiant que se produit un effet de signification qui est de poésie ou de création, autrement dit d’avènement de la signification en question.« (É, 515) Was sich in den sprachlichen Prozessen der Verdichtung und Verschiebung aber konstituiere, sei keine Form der Wahrheit als Identität oder Präsenz, sondern »le manque de l’être«, so die an Heidegger gemahnenden Formulierung, die Wahrheit nur als ständigen Entzug ihrer selbst kennzeichnet. In einer kritischen Wendung gegen Descartes stellt Lacan die Psychoanalyse daher zugleich als Antipoden einer wie auch immer begründeten Idee der Subjektzentrierung dar. Lacan errichtet so einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen dem stets verborgenen Sein und dem nach Wahrheit suchenden Subjekt. Er geht davon aus, dass sich das Subjekt aufgrund der sprachlichen Verschiebungsprozesse in einer exzentrischen Position gegenüber den eigenen Ansprüchen befindet, die sich durch keine versöhnende Bewegung mehr aufheben lässt. »Il ne s’agit pas de savoir si je parle de moi de façon conforme à ce que je suis, mais si, quand j’en parle, je suis le même que celui dont je parle« (É, 517), formuliert Lacan, um im Rekurs auf die beiden Figuren der Metonymie und der Metapher auf der »l’excentricité radicale de soi à lui-même« (É, 524) zu bestehen, einer Exzentrizität, die zugleich zu einer förmlichen Widerlegung der cartesianischen Gleichung von Denken und Sein führt: »je pense où je ne suis pas, donc je suis où je ne pense pas.« (É, 517) Sein und Denken treten auseinander, der Ort des Seins
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ist immer ein anderer als der des Denkens.52 Nicht umsonst hat Alain Badiou Lacan vor diesem Hintergrund als »anti-philosophe«53 bezeichnet. Am Ende von Lacans Rückkehr zu Freud steht die Dekonstruktion der Idee des Subjekts im Zeichen des Buchstabens. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung der psychoanalytischen Auslegung, wie sie Lacan vorgegeben hat, als Alternative zu den von Schleiermacher in Szene gesetzten Verfahren der grammatischen und psychologischen Auslegung neu. Wenn es Schleiermacher darum ging, in der Zusammenführung der grammatischen und der psychologischen Auslegung zwischen der allgemeinen Seite der Sprache und der individuellen Seite des Verfassers zu vermitteln, dann konzentriert sich Lacan ganz auf eine der Sprache eigene Rhetorik, deren Grundlagen er in der strukturalistischen Zeichentheorie findet und auf Freuds Theorie des Unbewussten überträgt. Infrage steht damit weniger das grundsätzliche Recht der Erweiterung von Freuds Modell der Psyche als vielmehr die eigentümliche Position des Buchstaben bei Lacan. Denn Lacan neigt auf der einen Seite dazu, die Ordnung des Buchstabens ganz mit der Funktion des Signifikanten gleichzusetzen. In seiner Begrifflichkeit verkörpert der Signifikant als materieller Träger der Bedeutung die Ebene des Symbolischen, durch das hindurch so etwas wie Geist oder Idee erst möglich wird. Die Bedeutung der Ordnung des Buchstäblichen bei Lacan erstreckt sich allerdings noch auf ein zweites Gebiet, das weniger die strukturalistische Unterscheidung von Signifikant und Signifikat betrifft als vielmehr die Frage nach dem Verhältnis des sprachlichen Zeichens zur außersprachlichen Realität, ein Problem, das insbesondere Lacans intensive Auseinandersetzung mit dem Problem der Psychosen bestimmt.
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Nancy und Lacoue-Labarthe erkennen vor diesem Hintergrund bei Lacan eine »ontologie où la lettre, à qui l‹ ›être‹ manque, ›dessine‹ le bord du trou dans le savoir‹, comme le dit Lacan lui-même en rappelant, précisément l’Instance.« Jean-Luc Nancy/Philippe Lacoue-Labarthe, Le titre de la lettre, S. 131. Alain Badiou, Lacan et Platon : le mathème est-il une idée ? In : Lacan avec les philosophes, Paris 1991, S. 135-154, hier S. 135.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
3.4
Das Rätsel der Psychose
In Lacans Theorie kommt der Psychose eine herausragende Rolle zu. Das erstaunt umso mehr, als sie in Freuds Werk nur eine marginale Stellung einnimmt. In dem Aufsatz Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), seinem bedeutendsten, aber auch umstrittensten Beitrag zum Thema der Psychosen, geht Freud einleitend ausführlich auf die Schwierigkeiten ein, die die Behandlung einer paranoiden Erkrankung begleiten: Die analytische Untersuchung der Paranoia bietet uns Ärzten, die nicht an öffentlichen Anstalten tätig sind, Schwierigkeiten besonderer Natur. Wir können solche Kranke nicht annehmen oder nicht lange behalten, weil die Aussicht auf therapeutischen Erfolg die Bedingung unserer Behandlung ist. So trifft es sich also nur ausnahmsweise, daß ich einen tieferen Einblick in die Struktur der Paranoia machen kann, sei es, daß die Unsicherheit der nicht immer leichten Diagnose den Versuch einer Beeinflussung rechtfertigt, sei es, daß ich den Bitten der Angehörigen nachgebe und einen solchen Kranken trotz der gesicherten Diagnose für eine gewisse Zeit in Behandlung nehme. Ich sehe sonst natürlich Paranoiker (und Demente) genug und erfahre von ihnen soviel wie andere Psychiater von ihren Fällen, aber das reicht in der Regel nicht aus, um analytische Entscheidungen zu treffen.« (VIII 240) Freuds Ausführungen dienen der Rechtfertigung eines Vorgehens, das in mancherlei Hinsicht fragwürdig erscheinen mag. Die autobiographisch festgehaltenen Erinnerungen des Gerichtspräsidenten Schreber über seine eigene paranoide Erkrankung nutzt Freud zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Paranoia. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein signifikanter Unterschied zwischen dem Neurotiker und dem Psychotiker: »Die psychoanalytische Untersuchung der Paranoia wäre überhaupt unmöglich, wenn die Kranken nicht gerade die Eigentümlichkeit besäßen, allerdings in entstellter Form, gerade das zu verraten, was die anderen Neurotiker als Geheimnis verbergen.« (VIII 240) Wo der Neurotiker den Grund für seine Erkrankung sorgfäl-
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tig zu verbergen suche, da spreche der Psychotiker seinen Wahn offen aus. In gewisser Weise verpflichtet sich der Psychotiker Freud zufolge damit genau der Art der Wahrheitsfindung, die auch den Psychoanalytiker antreibt. Der Psychoanalytiker und der von ihm behandelte Patient treten so in einen geheimen Wettstreit miteinander. Gerade deshalb aber beruft sich Freud auf das Recht, die Selbstbeschreibung Schrebers zum Gegenstand der Analyse zu nehmen: Da die Paranoiker nicht zur Überwindung ihrer inneren Widerstände gezwungen werden können und ohnedies nur sagen, was sie sagen wollen, darf gerade bei dieser Affektion der schriftliche Bericht oder die gedruckte Krankengeschichte als Ersatz für die persönliche Bekanntschaft eintreten kann. Ich halte es daher für nicht unstatthaft, analytische Deutungen an die Krankengeschichte eines Paranoikers (Dementia paranoides) zu knüpfen, den ich nie gesehen habe, der aber seine Krankengeschichte selbst beschrieben und zur öffentlichen Kenntnis durch den Druck gebracht hat.« (VIII 240f.) Freuds voraussetzungsreiche Rechtfertigung des eigenen Vorgehens vollzieht den Übergang von der mündlichen Form der talking cure hin zur Auseinandersetzung mit den schriftlichen Aufzeichnungen eines Autobiographen. Dafür nimmt der Analytiker auch das peinliche Problem in Kauf, dass in diesem Fall die Anonymität des Patienten nicht gewahrt bleiben kann. Die Interpretation der Aufzeichnungen des Gerichtspräsidenten Schreber verstößt so offenkundig gegen alle früher von Freud formulierten Regeln der Analyse, dass sich die Frage stellt, was Freud eigentlich zu diesem gewagten Unterfangen getrieben hat. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Freud, darin den Aufzeichnungen Schrebers folgend, der in einem offenen Brief an seinen Arzt Flechsig einleitend die Absicht geäußert hatte, »die Erkenntniß der Wahrheit auf einem hochwichtigen, dem religiösen Gebiete, zu fördern«54 , den Zusammenhang von Sexualität und Religion. Den 54
Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen mit einem Nachwort von Martin Burckhardt, Berlin 1995, S. VII.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
grundlegenden Auffassungen der Psychoanalyse zufolge führt er das religiöse auf ein sexuelles Phantasma zurück, im Fall Schrebers auf die Phantasie der »Entmannung (Verwandlung in ein Weib)«55 . Die von Schreber angesprochene Verwandlung in ein Weib deutet er als Zentrum eines Phantasmas, das analog zum Traum auf eine Wunscherfüllung zurückführe: »Es war die Vorstellung, daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege«56 , formuliert Schreber. Freud erkennt in Schrebers Phantasien vor diesem Hintergrund einen verdrängten homosexuellen Wunsch, der sich dann zum religiösen Größenwahn ausweitet. Die Symptome der paranoiden Erkrankung führt er auf den psychischen Mechanismus der Projektion zurück. »Der Mechanismus der Symptombildung bei einer Paranoia fordert, daß die innere Wahrnehmung, das Gefühl, durch eine Wahrnehmung von außen ersetzt werde« (VIII 299), stellt Freud fest, um eben dafür den Begriff der Projektion bereitzuhalten: »An der Symptombildung bei Paranoia ist vor allem jener Zug auffällig, der die Benennung P r o j e k t i o n verdient.« (VIII 302) Die Projektion, die einen eigenen unbewussten Wunsch auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu übertragen scheint, rückt so in das Zentrum der Paranoia. Im Fall Schrebers handelt es sich um die phantasmatische Konstruktion einer Welt, in der der unbescholtene Gerichtspräsident sich in ein Weib verwandelt sieht, um so seinen Wunsch nach Entmannung realisieren zu können. Der Wahn, so schließt Freud luzide, ist eigentlich der Versuch der Heilung – »W a s w i r f ü r d i e K r a n k h e i t s p r o d u k t i o n h a l t e n , d i e Wa h n b i l d u n g i s t i n Wi r k l i c h k e i t d e r H e i l u n g s v e r s u c h , d i e R e k o n s t r u k t i o n« (VIII 308) –, und die Offenherzigkeit des Paranoikers verdankt sich eben der Projektion, die den eigenen Wunsch als äußere Tatsache in der Realität wiederkehren lässt. Der Verdrängungsvorgang, so Freud,
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Ebd., S. 33. Ebd., S. 26.
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vollzieht sich stumm; wir erhalten keine Kunde von ihm, sind genötigt, ihn aus den nachfolgenden Vorgängen zu erschließen. Was sich uns lärmend bemerkbar macht, das ist der Heilungsvorgang, der die Verdrängung rückgängig macht und die Libido wieder zu den von ihr verlassenen Personen zurückführt. Er vollzieht sich bei der Paranoia auf dem Wege der Projektion. Es war nicht richtig zu sagen, die innerlich unterdrückte Empfindung werde nach außen projiziert; wir sehen vielmehr ein, daß das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt.« (VIII 308) Mit dem Begriff der Projektion nimmt Freud eine entscheidende Weichenstellung vor, die seine Unterscheidung der Neurose von der Psychose begründet. Wo der Neurotiker mit den verdrängten Impulsen aus dem Bereich des Unbewussten zu kämpfen hat, da ist die Psychose nach außen, an die Welt gerichtet. Im Mittelpunkt der Psychose steht nicht der Konflikt des Ich mit dem Es, sondern der des Ich mit der Realität, die in einer Art der Ersatzbildung vom Wahn vollständig überformt wird. So transformiert die Projektion in einer großen Bewegung der Inversion im Fall Schrebers auf der Ebene der Affekte Liebe in Hass und auf der Ebene der Vorstellungen Enthaltsamkeit und Unglauben in Begehren und Gottesglauben. »Er war vorher ein zur sexuellen Askese Geneigter und ein Zweifler an Gott gewesen, er war nach Ablauf der Krankheit ein Gottesgläubiger und der Wollust Beflissener« (VIII 265), so lautet Freuds ebenso lakonische wie treffende Zusammenfassung des Falls Schreber.
3.5
Lacan und die Macht der Psychose
Freud sah sich genötigt, seine Auseinandersetzung mit einem schriftlich überlieferten Fall der Paranoia ausdrücklich zu rechtfertigen, weil er zum einen außerhalb der psychoanalytischen Praxis liege und zum anderen die Behandlung der Psychose seine Lehre vor große Probleme stelle. In gewisser Weise verkehrt Lacan diese Ausgangssituation. Zwar umfasst seine Theorie im Blick auf die enge Verbindung zwischen der Sprache und dem Unbewussten selbstverständlich neurotische wie
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
psychotische Erkrankungen gleichermaßen. Dennoch ist bei Lacan auf eine ganz andere Weise als bei Freud von Beginn an ein größeres Interesse an der Psychose spürbar. Das hat die Forschung oft unterstrichen: Es sei »ein neuer Aufschwung in der Betrachtung und Behandlung von Psychosen durch die von Jacques Lacan begründete strukturale Psychoanalyse«57 erfolgt, schreibt etwa August Ruhs. Das von Freud nicht hinlänglich bearbeitete Thema der Psychose ist für Lacan das Problem, von dem er sich Innovationen verspricht, die die Theorie der Psychoanalyse insgesamt betreffen. Die eigentümliche Faszination, die die Psychose für seine Lehre ausübt, zeigt sich bereits in seiner Dissertationsschrift mit dem Titel De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité aus dem Jahre 1932. Dort versichert er zwar einleitend in Übereinstimmung mit Freuds Einschätzung, »la psychose restera toujours un énigme.«58 Gerade die Rätselhaftigkeit der Psychose, die schon Freud beklagt und in einen Zusammenhang mit der Unheilbarkeit der psychotisch erkrankten Patienten gebracht hatte, ist es aber, die die Aufmerksamkeit Lacans erregt. Im Mittelpunkt seines Interesses steht eine Fallanalyse, die für die Ausbildung seiner Lehre eine entscheidende Bedeutung gewinnen wird. Im Anschluss an Freud deutet er den Fall ›Aimée‹, eine psychotisch erkrankte Patientin, die scheinbar unvermittelt eine Schauspielerin mit dem Messer angegriffen hatte, als ein »Délire d’interprétation.«59 Schon Kant hatte den Wahnsinn in seinen frühen Schriften auf das Problem der Auslegung bezogen, wenn er davon ausgeht, der Wahnsinnige »sieht oder erinnert sich der Gegenstände so richtig wie jeder Gesunde, nur er deutet gemeiniglich das Betragen anderer Menschen
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August Ruhs, Das aufgebrochene Junktim: die ›Psychoanalyse‹ der Psychose aus der Sicht der strukturalen Psychoanalyse Lacans. In: Hans-Dieter Gondek/Roger Hofmann/Hans-Martin Lohmann (Hg.): Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 74-94, hier S. 76. Jacques Lacan, De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité, Paris 1975, S. 14. Ebd., S. 203.
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durch einen ungereimten Wahn«60 , und Lacan scheint ganz dieser Tradition zu folgen, wenn er den hermeneutischen Zusammenhang von Interpretation und Verstehen in den Mittelpunkt der Psychose stellt: »les délires paranoïaques sont des délires compréhensibles«61 , notiert er, um hinzuzusetzen: »le délire est par lui-même une activité interprétative de l’inconscient.«62 In dem Maße, in dem er das Delirium des Paranoikers als eine interpretative Tätigkeit des Unbewussten begreift, wird auch die Faszination deutlich, die das Thema der Psychose auf Lacan ausübt: Es gibt ihm die Möglichkeit, einen anderen und in gewisser Weise direkteren Zugang zur Funktionsweise des Unbewussten zu gewinnen, als es die Freud’sche Neurosenlehre vermochte. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass das für Freud eher randständige Thema der Psychose Lacan nie losgelassen hat: In den Psychosen erkennt Lacan seine eigene Via Regis zur rätselhaften Welt des Unbewussten. Die Überlegungen seiner Dissertationsschrift zum Thema der Paranoia hat Lacan in seinem dritten Seminar mit dem Titel Les psychoses aus dem Jahr 1955/1956 weitergeführt. Den lockeren Anschluss an Freuds Analyse des Falls Schreber verbindet er mit den Vorgaben seiner eigenen Theorie, die er inzwischen auf der Grundlage der Unterscheidung der drei Instanzen des Imaginären, Symbolischen und Realen erarbeitet hat. Was in diesem Zusammenhang deutlicher als in den bisher vorliegenden klinischen Beiträgen zur Psychose zum Vorschein kommt, ist der Zusammenhang zwischen der Paranoia und der Sprache, der sich mit Lacans Interesse an der strukturalen Verfasstheit der Sprache insgesamt deckt. Insofern ist die Paranoia für ihn ein geeigneter Ausgangspunkt, um in der an ein breites Publikum gerichteten Form des Seminars die eigene Lehre im Ganzen vorzustellen. Den allgemeinen Vorgaben seiner Theorie im Zeichen des »retour à Freud« entsprechend sucht Lacan zu Beginn seiner Vorlesung aus-
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Immanuel Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes. In: Werkausgabe II. Vorkritische Schriften bis 1768 2, hg. von Wilhelm Weischedel, S. 897. Ebd., S. 291. Ebd., S. 295.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
drücklich den Anschluss an Freud. Die Frage, die ihn interessiert, ist die, warum Freuds Beschäftigung mit den Psychosen im Unterschied zu anderen Psychologen den Akzent auf die Paranoia und nicht auf die Schizophrenie gelegt hat. »Il s’est intéressé d’abord et essentiellement à la paranoïa«63 , lautet die Ausgangsthese von Lacans Rückgang auf Freud. Er begründet sie im Blick auf Freuds Auseinandersetzung mit Schreber, dem »cas Schreber, qui est le texte majeur de sa doctrine concernant les psychoses.«64 Lacan wertet Freuds Auseinandersetzung mit Schreber als Zeichen einer Privilegierung der Paranoia im Rahmen des übergreifenden Themas der Psychose, an den er selbst produktiv anschließen möchte, während spätere Theoretiker wie Deleuze/Guattari in ihrem Anti-Ödipus den umgekehrten Weg gehen und die Auseinandersetzung mit der Schizophrenie vor der mit der Paranoia privilegieren werden.65 Was Lacan in diesem Zusammenhang besonders interessiert, ist der Anspruch der Psychoanalyse, eine in sich stimmige Deutung der Psychose vorzunehmen, die mit dem berüchtigten Scharfsinn des Paranoikers konkurrieren könnte. Freud hatte die Paranoia als eine Form des Deutungswahns dargestellt, die die philosophische wie die psychoanalytische Auseinandersetzung mir ihr in eine bedenkliche Nähe zu ihrem Gegenstand rückt. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach der Fähigkeit des Analytikers, ein Delirium zu verstehen, das selbst auf einer bestimmten Weise der Interpretation beruht, die mit der des Analytikers konkurriert. Mit dem Phänomen der Paranoia als Deutungswahn verbindet Lacan daher auf grundsätzliche Art und Weise das für die hermeneutische Tradition wie die Psychoanalyse zentrale Problem des Verstehens überhaupt. Den Rückgang auf Freud verbindet Lacan vor diesem Hintergrund mit einer grundsätzlichen Kritik des Verstehens, die seine gesamte Vorlesung wie ein ro-
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Jacques Lacan, Le Séminaire. Livre III. Les psychoses (1955-1956). Texte établi par Jacques Alain-Miller, Paris 1981, S. 12. Ebd. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Capitalisme et schizophrénie. L’Anti-Œdipe. Nouvelle Édition augmentée, Paris 1975.
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ter Faden durchzieht : »Mais ce qui est faux, c’est de s’imaginer que le sens dont il s’agit, c’est ce qui se comprend.«66 Der Sinn der Psychose lässt sich nicht durch einen wie auch immer gearteten Akt des Verstehens erfassen, so lautet Lacans Grundüberzeugung. Freuds eigenes Vorgehen vergleicht er vor diesem Hintergrund im Blick auf die fundamentale Bedeutung des Buchstäblichen mit der Pionierleistung der Dechiffrierung der Hieroglyphen, wie sie Champollion vorgenommen habe : »il en donne un déchiffrage champollionesque, il le déchiffre à la façon dont on déchiffre les hiéroglyphes.«67 Mit der Anspielung auf die Hieroglyphen und das Problem ihrer Entschlüsselung spricht Lacan weniger das Verstehen als vielmehr die seiner Meinung nach unaufhebbare Rätselhaftigkeit der Psychose im Zeichen des Buchstäblichen an. Die hermeneutische Kunst der Entschlüsselung rätselhafter Formen der Rede oder der Schrift gelangt in der Psychose an eine Grenze, die sich nicht einfach durch eine Leistung des Verstehens auflösen lasse. Von Hieroglyphen spricht Lacan in diesem Kontext nicht allein, um die Pionierleistung Freuds analog zu der Champollions hervorzuheben. Sie dient ihm zugleich als Ausdruck für das Unverständliche, das der Auseinandersetzung mit der Paranoia anhaftet, und der Zeichenhaftigkeit, die damit verbunden ist. Zwar hat Lacan durchaus ein Erklärungsmuster für die Paranoia parat. Ausgangspunkt seines Ansatzes ist aber nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen: »Commencez par ne pas croire que vous comprenez. Partez de l’idée du malentendu fondamental«68 , lautet seine unmissverständliche Aufforderung an das Auditorium, und er setzt hinzu: »C’est là que je veux en venir – la difficulté d’aborder le problème de la paranoïa tient précisément à ce quelle se situe justement sur le plan de la compréhension.«69 Es ist also gerade ihre Unverständlichkeit, die Lacan zufolge den eigentümlichen Reiz der Paranoia für die Theorie ausmacht: »Et c’est justement parce qu’elle
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Jacques Lacan, Les psychoses, S. 14. Ebd., S. 19. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
se situe sur le plan de la compréhension comme un phénomène incompréhensible, si je puis dire, que la paranoïa est pour nous si difficile à saisir, et qu’elle est aussi d’un intérêt majeur.«70 Lacan hält vor diesem Hintergrund an der Rätselhaftigkeit der Paranoia fest, um eine grundsätzliche Kritik der hermeneutischen Kunst des Verstehens genauer zu artikulieren : »Méfiez-vous des gens qui vous disent – Vous comprenez. C’est toujours pour vous envoyer ailleurs que là où il s’agit d’aller.«71 Sich vom Paranoiker in die falsche Richtung schicken lassen, ist das Missverständnis, dem Lacan vorbeugen möchte. Die kritische Auseinandersetzung mit der Psychose ist Teil seiner docta ignorantia. Sie beruht auf einem bestimmten Verständnis von Sprache, demzufolge der Paranoiker sich dem Verstehen entzieht, gerade aus diesem Fehlen heraus aber einen Einblick nicht in das einzelne Verstehen von etwas, sondern das Verstehen überhaupt erlaubt.
3.6
Die Sprache der Paranoia
Vor dem Hintergrund der Rätselhaftigkeit und Unverständlichkeit der Psychose setzt Lacan ganz in Übereinstimmung mit den Grundlagen seiner Lehre den Akzent auf die Art und Weise, wie sie sich artikuliert. »Traduisons Freud, nous disons – l’inconscient, c’est un langage«72 , heißt es bereits einleitend. Das Unbewusste als Sprache zu begreifen, ist die Grundvoraussetzung, der Lacan folgt. Der Bezug auf die Sprache sei im Fall der Paranoia aber ein besonderer. Er ist in der Psychose so weit gefasst, dass er die Grundlagen der Analyse selbst betrifft: »La promotion, la mise en valeur dans la psychose des phénomènes du langage est pour nous le plus fécond des enseignements«73 , unterstreicht Lacan an späterer Stelle. Immer wieder kommt er im Verlauf des Seminars auf »l’importance des phénomènes de langage dans l’économie de la psychose«74 zu sprechen. Es ist der Blick auf die Sprache, der Lacan 70 71 72 73 74
Ebd. Ebd., S. 67. Ebd., S. 20. Ebd., S. 164. Ebd., S. 181.
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den Zugang zu den Psychosen öffnet, so wie die Psychosen ihm umgekehrt einen Zugang zum Phänomen der Sprache ermöglichen, der über die Lehre der Neurosen hinausgeht. Schon der Fall Schreber hatte gezeigt, welche Bedeutung der Sprache in der Psychose zukommt, insbesondere in den Stimmen, die der Paranoiker beständig zu hören glaubt.75 Unter dem Stichwort der verbalen Halluzinationen geht Lacan diesem Problem ausführlich nach. Den Ausgangpunkt seiner Überlegungen bildet die simple Frage, wer in der Paranoia überhaupt spreche: »La question qui a été suffisamment promue pour prendre toute sa valeur, celle du Qui parle ?, doit dominer toute la question de la paranoïa.«76 Im Blick auf den Fall Schreber lässt sich diese Frage zunächst relativ einfach beantworten: Der Sprecher ist Schreber. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist allerdings die nach dem eigentümlichen kommunikativen Akt, der die Psychose bestimmt. Denn in Lacans Darstellung ist Schreber nicht allein der Sprechende, sondern zugleich derjenige, der sich selbst hört, Sprechender und Empfänger in einem. Für den Paranoiker gelte: »il vous parle de quelque chose qui lui a parlé.«77 Was der Paranoiker jedoch nicht erkenne, ist die Tatsache, dass die Stimme, die zu ihm spricht, die eigene sei. Wie die Paranoia zeigt, ist der Psychotiker nicht allein derjenige, der spricht, sondern derjenige, dem etwas gesagt wird, und das von einer Stimme, die dem Mechanismus der Projektion zufolge von außen zu kommen scheint und er nicht mehr als die eigene erkennt: »Le fondement même de la structure paranoïaque est que le sujet a compris quelque chose qu’il formule, à savoir que quelque chose a pris forme de parole, qui lui parle.«78 Lacan versteht die Psychose vor diesem Hintergrund im Wesentlichen als ein Selbstgespräch, als einen zirkulären kommunikativen Akt, in dem Sender und Empfänger identisch sind: »le
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So hatte Schreber in seinem kosmologischen System behauptet, »daß die Sonne seit Jahren in menschlichen Worten mit mir spricht«. Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 7. Jacques Lacan, Les psychoses, S. 33. Ebd., S. 51. Ebd.
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sujet parle littéralement avec son moi«79 , versichert er. Gerade weil der Psychotiker immer mit sich selbst spreche und den Begriff des Anderen nicht kenne, entzieht er sich dem Verstehen, selbst dem der Psychoanalyse. Wie schon Freud betont hatte, ist die Paranoia nicht einfach eine Krankheit, sondern zugleich der Versuch einer Heilung, die sich, so Lacan im Anschluss an Freud, in einer Form der Sprache vollzieht, die im Unterschied zu der des Neurotikers die Symptomatik, die ihr zugrunde liegt, offen ausspricht. Um diese Form der Sprache genauer bestimmen zu können, greift Lacan auf die Unterscheidung des Imaginären, Symbolischen und des Realen zurück, die er zur Grundlage der eigenen Theorie gemacht hat. Die Lacan-Forschung hat unterschiedliche Vorschläge gemacht, wie die auch werkgeschichtlich nicht immer stabilen Begriffe in ein Verhältnis zueinander zu setzen seien.80 So erkennt Malcolm Bowie im Imaginären »die Ordnung der Spiegelbilder, der Identifizierungen und der wechselseitigen Abhängigkeiten«81 und damit den »Geburtsort eines narzißtischen Idealichs«82 , im Symbolischen hingegen eine soziale und intersubjektive Ordnung, im Realen alles, was sich »jenseits der Reichweite des Signifikanten«83 befinde. Vor dem Hintergrund von Lacans Leitthese, das Unbewusste sei strukturiert wie eine Sprache, ergibt sich darüber hinaus noch eine andere Möglichkeit der Zuordnung, die den unterschiedlichen Facetten des sprachlichen Zeichens entspricht. Demzufolge verkörpert das Imaginäre die Ebene des Signifikats, das Symbolische die des Signifikanten und das Reale die des Referenten, und Lacans Privilegierung des Signifikanten entspräche demzufolge der zur Zeit seiner Auseinandersetzung mit der Psychose noch dominanten Privilegierung des Symbolischen in seinem Werk. Sie erlaubt es ihm darüber hinaus, die Psychose
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Ebd., S. 51. Zur Werkgeschichte Lacans vom Imaginären über das Symbolische bis zum Realen vgl. Peter Widmer, Subversion des Begehrens, S. 22-25. Malcolm Bowie, Lacan, S. 90. Ebd. Ebd., S. 92.
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in einem präzisen Sinne als den Ausfall der symbolischen Ordnung und damit der Instanz des Signifikanten zu bestimmen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Lacan im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Psychose einen Begriff einführt, der bei Freud allenfalls eine marginale Rolle gespielt hatte, den der Verwerfung. Für Lacan gewinnt er dagegen eine zentrale Bedeutung, da er sich auf eine Weise von dem von Freud bevorzugten Begriff der Verdrängung unterscheiden lasse, die die grundsätzliche Unterscheidung von Neurose und Psychose im Kern betrifft. Während der Begriff der Verdrängung bei Freud insbesondere im Kontext neurotischer Erkrankungen auf das Unbewusste bezogen ist, sei die Verwerfung als ebenfalls unbewusster Vorgang auf das Reale bezogen, so Lacan. Daraus resultiere auch die Unterscheidung zwischen der Neurose als einem Konflikt zwischen dem Ich und dem Es und der Psychose als einem zwischen dem Ich und der Realität. Wo das Verdrängte im Unbewussten wiederkehre, da tauche das Verworfene in der Realität wieder auf: »tout ce qui est refusé dans l’ordre symbolique, au sens de la Verwerfung, reparaît dans le réel«84 . Lacan, der für die Verwerfung den Begriff der forclusion einführt,85 erkennt in ihr den »rejet d’un signifiant primordial dans des ténèbres extérieurs«86 . Die Verwerfung sei grundsätzlich von der Verdrängung zu unterscheiden, da die verworfenen Signifikanten nicht auf der Ebene des Unbewussten des Subjekts erscheinen, sondern auf der Ebene des Realen, als jene schicksalhaft bestimmte Wirklichkeit, in der der Paranoiker zu leben meint. Die Verwerfung ist demnach auf die Ebene des Realen, zeichentheoretisch gesprochen auf den Referenten, bezogen, aber das auf eine besondere Art und Weise. Wo es sich um eine Psychose handle, »il y 84 85 86
Jacques Lacan, Les psychoses, S. 21. »La Verwerfung sera donc tenue par nous pour forclusion du signifiant«, heißt es in den Écrits, S. 558 Ebd., S. 171. Nach Laplanche/Pontalis ist die Verwerfung »un rejet primordial d’un ›signifiant‹ fondamental (par exemple : le phallus en tant que signifiant de complexe de castration) hors de l’univers symbolique du sujet.« Jean Laplanche/J.-B. Pontalis, Vocabulaire de la psychanalyse sous la direction de Jean Lagache, Paris 1997, S. 163f.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
a eu trou, rupture, déchirure, béance«87 , so Lacan. Was die Psychose auszeichne, sei die traumatische Erfahrung eines Risses, die durch die verbalen Halluzinationen repariert werden soll: »Dans la psychose au contraire, c’est bel et bien la réalité elle-même qui est d’abord pourvue d’un trou que viendra ensuite combler le monde fantastique.«88 Das Delirium des Paranoikers, das Lacan bereits einleitend als eine Form des Selbstgespräches bezeichnet hatte, errichtet eine in gewisser Weise phantastische Welt – die Bezüge von Schrebers kosmologischem System zur literarischen Phantastik etwa liegen auf der Hand –, die die reale Welt von Grund auf neu aufbaut. »Denn die Verwerfung führt im Unbewußten zu einem Loch im Feld der Signifikanten, wodurch die Realitätszeichen zum Verschwinden gebracht werden. Am Rande dieses Lochs werden in der Folge neue Realitäten aufgebaut, welche ganz im Sinne Freuds das eigentlich Psychotische diesseits des vorhergehenden Realitätsverlustes ausmachen.«89 Was der Psychotiker Lacans Modell zufolge nicht kennt, ist die Welt des Anderen, eine Welt, die außerhalb seiner Reichweite liegt. Wie Freud, so betont Lacan damit zum einen das narzisstische Moment, das der Paranoia innewohnt: Der Paranoiker kennt keine andere Welt als seine eigene, bezieht alles obsessiv auf das eigene Ich zurück. Auf der anderen Seite aber korrespondiere diesem narzisstischen Moment der Ausfall der symbolischen Ordnung, mithin der Bezug zum Anderen, der das Ich in seiner sozialen Funktion bestimme: »il y a, dans la psychose, exclusion de l’Autre où l’être se réalise dans l’aveu de la parole.«90 Der Psychotiker kennt den durch die symbolische Ordnung eingeführten Anderen nicht, ist unfähig, auf einer intersubjektiven Ebene zu agieren und symbolische Ersetzungen vorzunehmen. Das Ergebnis ist eine Form des Sprechens, die sich in einer Endlosschleife auf sich selbst richtet, Stimmen hört, die vom Anderen zu kommen scheinen, aber eigentlich die eigenen sind.
87 88 89 90
Jacques Lacan, Les psychoses, S. 56. Ebd. August Ruhs, Das aufgebrochene Junktim: die ›Psychoanalyse‹ der Psychose aus der Sicht der strukturalen Psychoanalyse Lacans, S. 85. Jacques Lacan, Les psychoses, S. 182.
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Der feste Buchstabe
Was der Psychose mit dem Ausfall der symbolischen Ordnung zugrunde liege, sei demnach der gesamte Prozess der Bedeutung, der Lacan zufolge auf nichts anderem als der Ordnung des Signifikanten beruhe – eines Signifikanten, den der Psychotiker nur in der Zeichenhaftigkeit der zu ihm sprechenden Stimmen erkennt. Kein Wunder, dass Lacans intersubjektiv ausgerichteter Ansatz im Blick auf die Psychose gerade das Moment der Unverständlichkeit hervorhebt. Das Problem der Psychose besteht demnach in dem Ausfall eines Signifikanten, der aufgrund der Abhängigkeit des Zeichensystems von der Insistenz der Signifikantenkette das gesamte System der Sprache in Frage stellt: »Dans la psychose, c’est le signifiant qui est en cause, et comme le signifiant n’est jamais solitaire, comme il ne forme jamais que quelque chose de cohérent – c’est la signifiance même du signifiant – le manque d’un signifiant amène nécessairement le sujet à remettre en cause l’ensemble du signifiant.«91 Lacan spricht in diesem Zusammenhang geradezu von einem »anéantissement du signifiant«92 , das die Psychose bestimme. In dem Maße, in dem seiner Überzeugung zufolge der Signifikant und nicht das Signifikat für den Prozess der Bedeutung entscheidend sei, bedeutet der Ausfall des Signifikanten den kompletten Ausfall der symbolischen Ordnung und damit die Unfähigkeit des Ich, die Bewältigung der Realität durch sprachliche Prozesse vorzunehmen. Was in der Psychose spricht, ist das Ich, aber das Ich als besessen von einer Sprache, die ganz die eigene und zugleich die ganz Andere des Unbewussten ist. Vor diesem Hintergrund setzt Lacan in einer eigentümlichen Bewegung der Heroisierung den Psychotiker einem Zeugen, ja einem Märtyrer gleich: »le psychotique est un martyr de l’inconscient«93 . Ein Märtyrer ist der Psychotiker, da er ohne jede Verstellung, wie sie den Neurotiker auszeichne, Zeugnis vom Unbewussten ablege: »l’inconscient est là, présent, dans la psychose.«94 Lacan erkennt darin auf der einen Seite
91 92 93 94
Ebd., S. 229. Ebd., S. 231. Ebd., S. 149. Ebd., S. 164.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
gerade den narzisstischen Zug der Paranoia als einer Form der Selbstliebe in der Liebe zum Delirium: »Leur délire, il l’aiment, les psychotiques, comme ils s’aiment eux-mêmes.«95 Auf der anderen Seite aber ist der Psychotiker derjenige, der sich in seiner ganz auf das eigene Ich gerichteten Welterfahrung einer Sprache verpflichtet, über die er nicht selbst zu verfügen scheint, sondern die ihm von außen gegeben wird: »Si le névrosé habite le langage, le psychotique est habité, possédé, par le langage.«96 Damit wird noch einmal deutlich, warum Lacans Interesse an der Paranoia so groß ist. Wenn es ihm darum geht, zu zeigen, dass das Ich, wie schon Freud meinte, nicht Herr im eigenen Haus ist, dann gibt ihm die Paranoia die Möglichkeit, das Haus, in dem der Paranoiker wohnt, als das der Sprache zu verstehen. In der Paranoia findet Lacan die eigene Überzeugung, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, vom Psychotiker selbst ausgesprochen. Als Märtyrer des Unbewussten legt der Paranoiker ein Zeugnis ab, das zugleich ganz für den Docteur Lacan spricht.
3.7
Buchstäblichkeit und Paranoia
Die Bedeutung der Psychose für Lacans Werk ist vor diesem Hintergrund kaum zu überschätzen. »Das Ich hat eine paranoische Struktur, der Wechsel vom Spiegel-Ich zum sozialen Ich bringt eine paranoische Entfremdung mit sich, die Psychoanalyse als therapeutische Methode führt im menschlichen Subjekt eine kontrollierte Paranoia herbei, und die Erkenntnis ist in allen ihren Formen ihrerseits unheilbar paranoisch«97 , hält Bowie fest. Die Paranoia gewinnt so eine Vorbildfunktion für die Analyse, wie sie sie bei Freud nie innegehabt hatte. In seiner immer wieder formelhaft beschworenen Rückkehr zu Freud stellt Lacan die Psychoanalyse zugleich auf neue Füße, indem er der Psychose eine Vorrangstellung vor der Neurose gewährt.
95 96 97
Ebd., S. 178. Ebd., S. 284. Malcom Bowie, Lacan, S. 41.
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Die Analyse der Psychose im Zeichen der Sprache des Unbewussten und des Unbewussten als Sprache erlaubt es vor diesem Hintergrund zugleich, noch einmal einen Blick auf den Begriff der Buchstäblichkeit zu werfen. Wie bereits angedeutet, besteht das Eigentümliche der Psychose nach Lacan in der Verwerfung des Signifikanten, der nicht im Unbewussten, sondern im Realen wiederkehrt. Die Stimme, die der Psychotiker hört, ist die eigene, aber die eigene als eine fremde, die von einem Anderen zu kommen scheint, der die Welt regiert wie Schrebers Gott und sein Antipode Flechsig. Die Botschaft, die der Paranoiker empfängt, ist daher doppelt kodiert: Sie ist Selbstgespräch und zugleich Zeugnis des Unbewussten, zu dessen Märtyrer Lacan den Paranoiker in einer eigentümlichen Bewegung der Heroisierung stilisiert. Der Ausfall der symbolischen Ordnung in der Verwerfung des Signifikanten in der Psychose impliziert zugleich ein bestimmtes Verständnis des sprachlichen Zeichens, das die Bedeutung der Buchstäblichkeit zu präzisieren hilft. In diesem Zusammenhang gilt es allerdings zugleich, einem Missverständnis vorzubeugen, das den von Lacan in Anschlag gebrachten Zeichenbegriff betrifft. Schon Émile Benveniste hat darauf hingewiesen, dass Saussure und dem auf ihm aufbauenden Strukturalismus ein folgenschwerer Fehler unterlaufen sei, der gerade den Kern der Lehre, die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens, betreffe. Saussure hatte nahegelegt, das Verhältnis von Signifikant und Signifikat als arbiträr zu begreifen, und der auf ihm aufbauende folgende Strukturalismus hat diese Formel meist blind nachgebetet. Wie Benveniste gezeigt hat, bezieht sich die Arbitrarität des Zeichens aber gar nicht auf der Verhältnis von Signifikant und Signifikat, das konventionell bzw. notwendig geregelt ist, sondern auf das des Zeichens zum außersprachlichen Referenten: »Ce qui est arbitraire, c’est que tel signe, et non tel autre, soit appliqué à tel élément de la réalité, et non à tel autre.«98 Arbiträr ist allein der Bezug des sprachlichen Zeichens zur außersprachlichen Wirklichkeit. Das hat auch Konsequenzen für Lacans Lesart der Psychose. Der Ausfall der symbolischen Ordnung, der seiner Auffassung zufolge die interne Struktur des Zeichens regiert, führt in 98
Émile Benveniste, Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 52.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
der Psychose demnach zu einer Verschiebung, die das Verhältnis der Sprache zur Realität betrifft, wie es sich insbesondere in der Paranoia gestaltet: Der Paranoiker neigt dazu, den Bezug des Zeichens zum Referenten nicht arbiträr auszulegen, sondern als einen notwendigen zu verstehen. In gewisser Weise ist er gefangen in einer Welt der Zeichen, die er nicht anders denn als Botschaften einer referentiellen Ordnung der Notwendigkeit lesen kann, die ihm beständig geschickt werden – ihm und keinem anderen, da nur er dazu ausersehen sei, diese Botschaften in ihrer buchstäblichen Bedeutung zu entschlüsseln. Die Paranoia ist damit nicht nur der wahnhafte Ausdruck von Verfolgungswahn und Ichbezogenheit. Sie zeugt darüber hinaus von dem obsessiven Festhalten an einer scheinbar stabilen Ordnung der Buchstäblichkeit, von der es keine Ausnahmen geben kann, da sie den Gesetzen der Notwendigkeit gehorcht, für die eine göttliche Macht verantwortlich ist, die die des Menschen übersteigt. Über der Welt des Psychotikers thront eine Schicksalsmacht, die jedem Zeichen eine notwendige Bedeutung zu geben vermag. Löst man sich vor diesem Hintergrund mit Benveniste von dem Missverständnis des Strukturalismus, die Arbitrarität richte sich auf die Binnenstruktur des Zeichens in der Unterscheidung von Signifikant und Signifikat, dann ergibt sich gerade im Blick auf die Buchstäblichkeit eine Alternative zu den Sprachtheorien, die wie die Lacans oder später die Derridas auf der sprachlichen Differenz als Grundlage aller Welterfahrung beharren. Es ist nicht die Differenz von Signifikant und Signifikat, die im Mittelpunkt der Buchstäblichkeit steht, sondern die zwischen dem sprachlichen Zeichen und seinem Referenten, zwischen der Sprache und der außersprachlichen Realität. Damit rückt auch der Aspekt in den Blick, den schon Schreber und Freud in den Mittelpunkt gestellt hatten: die Frage nach dem Ursprung der Religion. Der Paranoiker wie der Gläubige, zumindest im strengen Sinne des Wortes, erweisen sich als Fundamentalisten, weil sie an eine buchstäblich geordnete Welt glauben, deren Gesetzmäßigkeit ihnen auf unveränderliche Art und Weise vorgegeben sei. Und auch die kritische Dimension der psychoanalytischen Arbeit wird damit deutlich: Sie entlarvt die auf den Buchstaben des Gesetzes verpflichtete Welt des Paranoikers als ei-
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ne Konstruktion, die das nach Stabilität suchende Ich selbst entworfen hat, dem Mechanismus der Projektion folgend, den Freud als eine Inversion von Vorstellungen und Affekten, die dem Subjekt scheinbar von außen begegnen, in den Mittelpunkt der Paranoia gestellt hatte. In dieser Form begegnet die Paranoia nicht allein in der Psychoanalyse. Als eine Deutung der Welt, die in den schon von Schleiermacher inkriminierten Fehler verfällt, in allem und nichts ein Zeichen für etwas anderes erkennen zu wollen, bewegt sich die Paranoia schon bei der Gründungsfigur Schreber auf der Schwelle von Klinik und Literatur. So kann es auch nicht verwundern, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Paranoia, die die Psychoanalyse gesucht hat, von der Literatur geteilt wird – allerdings in einer Richtung, die nicht immer mit der Vorgehensweise der Psychoanalyse identisch ist. Dass die literarische Darstellung der Paranoia bei Autoren wie Vladimir Nabokov und Thomas Pynchon zugleich mit einer Kritik der Psychoanalyse verbunden ist, macht die Notwendigkeit einer Neubestimmung der Paranoia, die Freuds Intention zuwiderläuft, zwischen der paranoiden und der eigenen Interpretation einen scharfen Trennstrich zu ziehen, nur um so dringlicher.
4.
Deutungswahn. Buchstäblichkeit und Paranoia bei Immanuel Kant, Vladimir Nabokov und Thomas Pynchon
4.1
Kant und der Deutungswahn des Wahnsinnigen
In seiner frühen Schrift Versuch über die Krankheiten des Kopfes aus dem Jahr aus dem Jahr 1764 gibt Kant eine bemerkenswerte Definition des Wahnsinns: Der W a h n s i n n i g e sieht oder erinnert sich der Gegenstände so richtig wie jeder Gesunde, nur er deutet gemeiniglich das Betragen anderer Menschen durch einen ungereimten Wahn auf sich aus und glaubet daraus wer weiß was vor bedenkliche Absichten lesen zu können, die jenen niemals in den Sinn kommen. Wenn man ihn
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
hört, so sollte man glauben, die ganze Stadt beschäftige sich mit ihm. Die Marktleute, welche miteinander handeln und ihn etwa ansehen, schmieden Anschläge wider ihn, der Nachtwächter rufet ihn zum Possen, und kurz er siehet nichts als eine allgemeine Verschwörung wider sich.99 Kant nähert sich dem Wahnsinn über das Subjekt, die Figur des geistig Verwirrten. Sein Begriff des Wahnsinnigen erfasst sicherlich nur einen Teil dessen, was klinisch unter den Oberbegriff der psychischen Erkrankungen fällt. Aber er deckt sich auf überraschende Art und Weise mit dem der Paranoia. Entscheidend für Kants Begriff des paranoiden Wahns ist die Einsicht, dass der Wahnsinn nicht auf ein Problem der Wahrnehmung und Erinnerung zurückgehe. Der Paranoia liegt keine bloße Täuschung der Wahrnehmung zugrunde, ganz im Gegenteil: Das Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen ist im Fall des Paranoikers oft gesteigert und nicht gemindert. Das Problem des Paranoikers ist vielmehr ein Problem der Deutung und damit eines der Hermeneutik. Der Paranoiker – in dieser Hinsicht Schleiermachers kritischem Begriff der kabbalistischen Auslegung geistesverwandt – deutet die Welt auf eine wahnhafte Weise irrig. Der Grund für die Fehlinterpretation, der der Paranoiker unterliegt, besteht Kant zufolge in seiner Selbstbezogenheit. Alle Daten, die er korrekt aufnimmt, verarbeitet er falsch, da er sie stets auf die eigene Person bezieht. Die Beispiele, die Kant gibt, sind einschlägig: In der Öffentlichkeit des Marktplatzes sieht sich der Paranoiker als Opfer des Geredes der Leute, der Nachtwächter scheint ihn als Narren auszurufen. Die Paranoia isoliert, indem sie eine scheinbar unüberwindliche Hürde zwischen dem Wahnsinnigen, der nur die eigenen Belange kennt, und seiner sozialen Umwelt herstellt. Mit der Selbstbezogenheit untrennbar verbunden ist das Moment der Verschwörung, das die Trennung zwischen dem Ich und der sozialen Umwelt verfestigt. Der Paranoiker neigt dazu, seine eigene Person als ein beständiges Opfer von Intrigen und Komplotten zu sehen. Die
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Immanuel Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes, S. 897.
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wahnhafte Deutung beinhaltet so zugleich ein konstruktives Moment: Die Welt, die sich ihm bietet, setzt der Paranoiker den Gesetzen seines Wahns folgend selbst zusammen, und das häufig auf eine erstaunlich komplexe Art und Weise.100 Die Interpretationsleistung des Paranoikers ist ebenso scharfsinnig wie irreführend. Den außerordentlichen Scharfsinn, den er dem Paranoiker attestiert, unterstreicht Kant noch in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: W a h n s i n n (dementia) ist diejenige Störung des Gemüts, da alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden. Von der Art sind diejenigen, welche allerwärts Feinde um sich zu haben glauben; die alle Mienen, Worte oder sonstige gleichgültige Handlungen andrer als auf sich abgezielt, und als Schlingen betrachten, die ihnen gelegt werden. – Diese sind in ihrem unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was andere unbefangen tun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstande alle Ehre müßte widerfahren lassen. – Ich habe nie gesehen, daß jemand von dieser Krankheit je geheilt worden ist (denn es ist eine besondere Anlage, mit Vernunft zu rasen).101 In der Anthropologie definiert Kant den Wahnsinn wie bereits im frühen Versuch über die Krankheiten des Kopfes als eine Störung des Gemüts, die nicht auf falsche Wahrnehmung, sondern auf eine irrige Deutung zurückgeht. In diesem Fall spricht Kant von der falsch dichtenden Einbildungskraft, um dem Paranoiker dem ihm zukommenden Scharfsinn in der Auslegung zuzusprechen. Mit dem bereits im Versuch über die 100 Zum Zusammenhang von Paranoia und Komplexität vgl. Sabine Janßen, Die Psychopathologie der Komplexitätsreduktion: Paranoia. In: Albrecht Koschorke (Hg.): Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015, Stuttgart 2017, S. 124-144. 101 Immanuel Kant, Werkausgabe XII. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 2, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 530.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
Krankheiten des Kopfes angesprochenen Problem der Hermeneutik verbindet sich in der Anthropologie darüber hinaus eine Nähe der Paranoia zur Dichtung: Nicht umsonst spricht Kant im Zusammenhang mit dem Dichten von der Einbildungskraft, jenem Vermögen, das in seinem System für Fragen der Darstellung verantwortlich ist. Der Paranoiker legt scharfsinnig, aber falsch aus, und in der Konstruktion einer in sich stimmigen, aber irrigen Welt verfährt er darüber hinaus ähnlich wie der Dichter, der mithilfe der produktiven Einbildungskraft fiktive Welten entwirft. Vor diesem Hintergrund etabliert Kant einen Zusammenhang zwischen der Paranoia und dem dichterischen Prinzip des Enthusiasmus. Mit Vernunft rasen, wie er bemerkt, sei eine besondere Anlage, die denen vorbehalten bleibt, die von einem Gott beseelt zu sein scheinen. In der Kritik der Urteilskraft hatte Kant den Enthusiasmus als »die Idee des Guten mit Affekt«102 eingeführt. Das Rasen der Vernunft, das den Enthusiasmus kennzeichnet, ist dem des Paranoikers verwandt, da die affektive Komponente, die Kant der Idee des Guten beimischt, ein Moment der Blindheit beinhaltet, das sich auch im Wahn bemerkbar macht.103 Für den enthusiastisch beseelten Dichter gilt daher das, was auch für den Paranoiker zutrifft. »Also kann er auf keinerlei Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen.«104 Aufgrund der mit dem Affekt verbundenen Blindheit sind Enthusiasmus und Paranoia tendenziell pathologische Grenzformen, die aus dem Bereich der Vernunft herausfallen.105 Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist die, wie die wahnhafte Welt des scharfsinnigen Paranoikers sich von der der vernunftbeseelten Menschen unterscheiden lässt. Kant ist davon überzeugt, dass dies möglich sei, da er glaubt, mit der Vernunft über 102 Vgl. Immanuel Kant, Werkausgabe X. Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, B 121. 103 »Nun ist aber jeder Affekt blind«, notiert Kant im Blick auf die Abgrenzung des Enthusiasmus vom Erhabenen. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 121. 104 Ebd., B 122. 105 Vgl. Constantin Rauer, Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen, Berlin 2007.
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einen Maßstab zu verfügen, der eine sichere Unterscheidung zwischen Wahn und Wirklichkeit erlaube. Was aber, wenn diese Unterscheidung kollabiert, da die Vernunft den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermag? Und schlimmer noch: Was, wenn die Vernunft selbst über eine wahnhafte Struktur verfügt? Scharfsinn und dichterische Einbildungskraft scheinen den Philosophen und den Dichter in diesem Fall in jene unliebsame Nähe zum Paranoiker zu rücken, die sich schon bei Freuds Analyse des Fall Schreber bemerkbar gemacht hat. Kant und Freud verbindet nicht nur die Skepsis gegenüber den Heilungschancen des Paranoikers. Die Paranoia bedeutet darüber hinaus eine Gefahr für die eigene Theoriebildung. Beide geraten in Schwierigkeit, ihr eigenes System von dem des Paranoikers klar zu unterscheiden. So sieht sich Freud zum Abschluss seiner Ausführungen zur Paranoia genötigt, seine eigene Analyse von der autobiographischen Darstellung Schrebers abzugrenzen: »Ich kann aber das Zeugnis eines Freunds und Fachmanns dafür vorbringen, daß ich die Theorie der Paranoia entwickelt habe, ehe mir der Inhalt des Schreberschen Buches bekannt war.« (VIII 315) Nicht Schreber, ich habe die Theorie der Paranoia vorgelegt, die künftig in den Lehrbüchern figurieren wird: Freuds Rechtfertigung lässt sich leicht dem narzisstischen Größenwahn zuordnen, den er selbst dem Paranoiker zugeschrieben hat.106 Wie immer Freuds Leistung für die Durchdringung der Paranoia auch zu bewerten sein mag: Kants wie Freuds Insistenz auf dem Scharfsinn und der produktiven Einbildungskraft des Paranoikers rücken diesen nicht nur in eine geheime Nähe zur eigenen Theoriebildung, sondern darüber hinaus in eine Analogie zur Welt der Dichtung – allerdings mit einem anderen Akzent. Denn in der Dichtung, sofern sie sich mit 106 Daher kann es nicht verwundern, dass Freud für seine Analyse des Falles Schreber Kritik geerntet hat. So notiert Friedrich A. Kittler: »Freud als Leser und Schreiber geht blind ins Diskursnetz, dem er selber zuzahlt. Entwurf einer Psychologie und Denkwürdigkeiten sind zwei Fortschreibungen ein und desselben Diskurses.« Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1987, S. 302. Manfred Schneider macht aus Freud selbst einen Paranoiker: »Auch Freud darf man zu den genialen Paranoikern zählen«. Manfred Schneider, Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010, S. 226.
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der Paranoia auseinandersetzt, geht es nicht um eine Welt, für die ein paranoides Ich verantwortlich ist, sondern um eine Welt der Paranoia, die von einem Ich entworfen wird, für das erst einmal unerheblich ist, ob seine produktiven Leistungen der Welt des Wahns oder der der Vernunft zuzuordnen sind. Es ist gerade die von Kant wie von Freud diagnostizierte Nähe zum Wahn, die es der Dichtung erlaubt, auf andere Weise auf die Welt der Paranoia einzugehen, als es der Theorie möglich ist, die stets auf der Differenz zwischen Analyse und Gegenstand beharrt. Die nachdrücklichsten Bilder der Paranoia haben daher neben Schrebers Autobiographie nicht Philosophen und Analytiker wie Kant, Freud und Lacan geliefert, sondern mit Witz und Scharfsinn gesegnete Autoren wie Vladimir Nabokov oder Thomas Pynchon.
4.2
Pale Fire. Vladimir Nabokov und die Paranoia der Philologie
Der Zusammenhang von Scharfsinn, Narzissmus und Verfolgungswahn, den Kant und Freud im Fall der Paranoia festhalten, ist ein Thema, das in Nabokovs Schriften von Despair bis zu Lolita und Ada immer wieder aufscheint. Seine vollkommenste – und das heißt in diesem Fall auch: seine im höchsten Grad paranoide Form – findet das Thema jedoch in Pale Fire. Nabokov präsentiert dort einen hochgradig unzuverlässigen Erzähler, der den Leser auf einen Weg mitzunehmen versucht, von dem schon bald nicht mehr klar ist, ob es der der Vernunft oder der des wohl kalkulierten Wahnsinns ist. Eine besondere Bedeutung gewinnt Pale Fire darüber hinaus, da es – neben dem legendären Affekt des Schriftstellers gegen die Psychoanalyse – in der Travestie der Nabokov wohl vertrauten philologischen Arbeiten des Edierens und Kommentierens zugleich die Arbeit des hermeneutisch verfahrenden Literaturwissenschaftlers ironisch in Frage stellt. In der Form eines fiktionales Werkes, das ein Vorwort, ein Gedicht sowie einen Kommentar und einen Index umfasst, öffnet Nabokov einen Spalt zwischen Literatur und Wissenschaft, in dem er zugleich lustvoll die Paranoia ansiedelt. Vor diesem Hintergrund erweist sich Pale Fire als ein hoch artifizielles Gebilde, das ein in vielerlei Hinsicht witziges Spiel mit dem Leser treibt, zugleich aber existentielle Themen
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wie Exil und Tod anspricht, die einen Leitfaden von Nabokovs Werk insgesamt bilden.107 Bereits das den Roman einleitende Vorwort etabliert jenen Kontrast zwischen wissenschaftlicher Exaktheit, dem Scharfsinn des Exegeten, und einer dichtenden Einbildungskraft, die beständig auf das eigene Ich in einer Welt rekurriert, die eine einzige Verschwörung gegen den Herausgeber zu sein scheint. »Pale Fire, a poem in heroic couplets, of nine hundred ninety-nine lines, divided into four cantos, was composed by John Francis Shade (born july 5, 1898, died July 21, 1959) during the last twenty days of his life, at his residence in New Wye, Appalachia, U.S.A«108 , mit diesen Worten beginnt der Roman, der zunächst den Anschein einer nüchternen Beschreibung eines Gedichtes, seiner Struktur und der Entstehungsgeschichte gibt, wobei der Verfasser jedoch zugleich immer wieder in Selbstgespräche verfällt, die dem wissenschaftlichen Anschein philologischer Solidität widersprechen: »Canto Two, your favourite« (PF, 11), heißt es bereits zu Anfang in einer unvermittelten Wertung der Gedichte, und der zweite Absatz endet mit den irritierenden Worten: »There is a very loud amusement park right in front of my present lodgings.« (PF, 11) Schnell ist nicht mehr klar, wovon der Herausgeber eigentlich spricht: von John Shades Gedicht Pale Fire, das in einer metafiktionalen Schleife zugleich den Titel des Romans nennt, oder von sich selbst – ohne dass darüber hinaus deutlich werden würde, wer da eigentlich spricht, wer der Erzähler des Werkes Pale Fire ist. Vor diesem Hintergrund inszeniert der Roman gleich auf mehreren Ebenen ein Spiel um die Frage nach der Autorschaft des dem Leser vor Augen stehenden Textes. Der Herausgeber mit dem Namen Charles Kinbote wehrt sich in diesem Zusammenhang nicht nur gegen eine Verschwörung, die sowohl »Prof. Hurley and his clique« (PF, 12) als auch die Witwe Sybil Shade umfasst, die ihn beide – mit guten Gründen,
107 Vgl. Azar Nafisi, That Other World. Nabokov and the Puzzle of Exile, Yale 2019, zum Exil in Pale Fire S. 164, 184 und 199. 108 Vladamir Nabokov, Pale Fire. A Poem in Four Cantos, London/New York 2011, S. 11.
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
wie es scheint – an der Herausgeberschaft hindern wollen. Gegen die offenkundig nur zu berechtigten Zweifel an seiner philologischen Kompetenz beruft sich Kinbote zum einen auf eine spirituelle Nähe zum Verfasser des Gedichts, auf jene geistige Verwandtschaft zwischen Autor und Ausleger, die schon Schleiermacher im Begriff der Divination zu fassen versuchte. Aber Nabokov geht noch weiter. Frei nach Schleiermachers Diktum, der Ausleger müsse den Autor besser verstehen als dieser sich selbst, setzt sich Kinbote an die Stelle Shades und inszeniert sich selbst als den eigentlichen Verfasser des Textes. »And perhaps, let me add in all modesty, he intended to ask my advice after reading his poem to me as I know he planned to do.« (PF, 13) Die Bescheidenheit, die Kinbote zu Markte trägt, ist nicht nur Teil der benevolentia captatio eines in vielerlei Hinsicht infamen Ich-Erzählers.109 Sie kehrt das Verhältnis von Autor und Herausgeber im Verlauf der Erzählung allmählich um: Die kaum überprüfbare Angabe, dass Shade Kinbote um Rat fragen wollte, um sein Gedicht fertigstellen zu können, ist nur der erste Schritt im Rahmen einer Strategie, an deren Ende Kinbote durch seine Hinzufügungen selbst zum Autor wird: »without my notes Shade’s text simply has no human reality« (PF, 23), stellt der nicht unbescheidene Herausgeber fest, um zu dem Schluss zu kommen: »it is the commentator who has the last word.« (PF, 23) Das letzte Wort, eine quasi testamentarische Verfügung, kommt nicht dem Autor zu, sondern dem Kommentator, mit dessen Kritik sich das Werk erst erfüllt. Kinbotes Kommentar sei nichts anderes als »ein zügelloser wissenschaftlicher Alptraum«110 , kommentiert Bryan Boyd vor diesem Hintergrund. Es gibt wohl kaum eine anschaulichere Darstellung des Größenwahns philologischer Kommentarpraxis als die, die Nabokov in Pale Fire liefert. So kann es nicht verwundern, dass sich der seiner selbst allzu bewusste Herausgeber zahllosen Vorwürfen ausgesetzt sieht, die er ge109 Zur Figur des infamen Ich-Erzählers vgl. Martin von Koppenfels, Infame Erzähler, unmögliche Stimmen, in: Julian Klein/Martin von Koppenfels/Marion Hirte/Thomas Jacobsen (Hg.): Infame Perspektiven. Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination, Berlin 2013, S. 16-30. 110 Bryan Boyd, Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre 1940-1977. Deutsch von Hans Wolf und Ursula Locke-Groß, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 648.
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treu wiedergibt, da sie seiner Überzeugung entsprechen, dass die ganze Welt Anschläge gegen ihn schmiedet. Dass er »a remarkably disagreeable person« (PF, 20) sei, ist noch das geringste Übel, das ihm von seiner Umwelt zugesprochen wird: »›What’s more, you are insane.« (PF, 20) Mit dem Wahnsinn ist jenes Problem angesprochen, das schon Kants und Freuds Charakterisierungen des Paranoikers bestimmte: Der Größenwahn des Kommentators und Auslegers, die Verschwörung, der er sich ausgesetzt sieht, weisen Kinbote als einen hochgradig paranoid veranlagten Menschen aus, aber eben auch als einen scharfsinnigen Interpreten, der auf dem Boden des Shadeschen Gedichtes eine ganz eigene Welt erfindet, in der nicht der Dichter, sondern er selbst König ist. Denn was sich hinter dem Gedicht Shades seinem Exegeten zufolge letztlich verbirgt, ist nichts anderes als die eigene Lebensgeschichte. Die scheinbar eher nebensächliche Zeile »and now I plough/Old Zembla’s fields« (PF, 58) rückt so in das Zentrum der Auslegung. Der Kommentar dreht sich ganz um den Namen Zembla. Schon die erste Zeile des Gedichtes, »I was the shadow of the waxwing slain/By the false azure in the windowpane« (PF, 27), nutzt Kinbote, um darin einen verdecken Verweis auf seine verlorene Heimat zu finden: »Perhaps an allusion to Zembla, my dear country« (PF, 64), erläutert der Kommentator, der sich dem Leser selbst als Charles the Beloved, Zemblan King (PF, 64) zu erkennen gibt. So vollendet sich, was sich bereits im Vorwort andeutete: Der philologische Ausleger tritt an die Stelle des Verfassers. In dem Gedicht erkennt Kinbote nicht die Lebensgeschichte von John Shade, sondern Spuren seiner eigenen Lebensgeschichte, die Geschichte der Herrschaft des exilierten Königs Charles the Beloved: Although I realize only too clearly, alas, that the result, in its pale and diaphanous final phase, cannot be regarded as a direct echo of my narrative (of which, incidentally, only a few fragments are given in my notes – mainly to Canto One), one can hardly doubt that the sunset glow of the story acted as a catalytic agent upon the very process of the sustained creative effervescence that enabled Shade to produce a 1000-line poem in three weeks. There is, moreover, a symptomatic
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
family resemblance in the coloration of both poem and story. I have reread, not without pleasure, my comment to his lines, and in many cases have caught myself borrowing a kind of opalescent light from my poet’s fiery orb, and unconsciously aping the prose style of his own critical essays. But his widow, and his colleagues, may stop worrying and enjoy in full the fruit of whatever advice they gave my good natured poet. Oh yes, the final text of the poem is entirely his. (PF, 69) Der Text des Gedichtes sei sehr wohl von Shade, zu lesen aber nur als eine verborgene Hommage an Kinbote alias Charles the Beloved. Dass seine Gegner, allen voran Shades Witwe, das nicht anerkennen wollen, führt Kinbote zu immer neuen Erklärungsversuchen, die auf seiner geheimen Identität als exilierter König beruhen, der von seinem geliebten Heimatland Zembla für immer getrennt worden sei und nun unerkannt im amerikanischen Exil leben müsse. Den naheliegenden Einwand, dass Zembla im Gedicht keine zentrale Rolle spiele, wehrt er durch die Behauptung ab, Shade könne selbstverständlich nicht offen über Zembla schreiben, und das um so mehr, als Shades Witwe alles daran gesetzt habe, Spuren des geheimnisvollen Landes so weit wie möglich aus dem Text zu tilgen. Kinbote ist davon überzeugt, »that the final text of Pale Fire has been deliberately and drastically drained of every trace of material I contributed; but we also find that despite the control exercised upon my poet by a domestic censor and God knows whom else, he has given the royal fugitive a refuge in the vaults of the variants he has preserved« (PF, 69f.). So sieht sich der Herausgeber dazu gezwungen, allen Hinweisen im Text nachzugehen, die in die Richtung seines geliebten Heimatlandes zielen. An die Stelle eines Stellenkommentars, die das Leben Shades erläutert, tritt eine Erzählung um das Schicksal eines exilierten Königs, der einst in einem fernen Land namens Zembla glücklich lebte, bis ein Aufstand seiner Herrschaft ein Ende setzte und er im Exil von einem Attentäter verfolgt wird, der versehentlich Shade anstelle seiner selbst erschießt. Eine luzide Darstellung der philologischen Paranoia gibt Nabokov in Pale Fire, weil sie im Rahmen der hyperfiktionalen Verfasstheit des Romantextes immer schon Darstellung einer Darstellung ist: Die Be-
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merkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, die Nabokov in Pale Fire in denkbar klarer Abgrenzung von den Vorgaben der Psychoanalyse liefert, zeichnen das Bild des Wahnsinnigen aus dessen eigener Perspektive, um jeden Maßstab der Beurteilung, was Wahn und was Vernunft ist, im Rahmen der Fiktion außer Kraft zu setzen. Innerhalb wie außerhalb des vom Roman entworfenen Kosmos gibt es kein sicheres Kriterium, das es erlauben würde, die Geschichte Kinbotes – im doppelten Sinne als die Geschichte, die er erzählt, und die Geschichte, die die seine ist – eindeutig als wahnhaften Ausdruck der Paranoia oder als wahrhafte Darstellung eines gescheiterten Königsmordes zu bestimmen. So bleibt die Existenz des geheimnisvollen Ursprungsortes Zembla im Text selbst prekär. »Zembla, a distant norther land« (PF, 246), so lautet der letzte Eintrag in den Index und damit der Schluss des Textes. Er lässt offen, ob der Text abgeschlossen ist oder ob der Verfasser Kinbote sich am Ende vereinsamt selbst umgebracht und nur ein Fragment hinterlassen hat. Unklar bleibt damit nicht nur die Identität des Heimatlandes, sondern auch die Identität des Erzählers: Handelt es sich um Charles Kinbote, um John Shade oder um den verrückt gewordenen Russischprofessor Vseslav Botkin, der sich qua Anagramm in den exilierten Kinbote verwandelt: »your name was a kind of anagram of Botkin or Botkine?« (PF, 210), lautet die suggestive Frage an Kinbote, die das Verwirrspiel um die Autorschaft auf die Höhe treibt.111 Die literaturwissenschaftliche Forschung hat an diesem Verwirrspiel munter mitgewirkt. Die Shadianer wollen in Kinbote nur den Versuch Shades erkennen, den eigenen Tod vorzutäuschen, die Kinbotianer in Shade nur eine Erfindung von Kinbote, die Botkinianer in Kinbote nur die anagrammatisch verrückte Gestalt des irren Professors Botkin.112 Die Forschung versucht so, eindeutig aufzulösen, was der Text gekonnt in der Schwebe hält. Den Auslegungswahn, den schon Kant in der Paranoia am Werke sieht, inszeniert Nabokov in
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Zur Bedeutung der Namen und dem Anagramm von Kinbote und Botkin vgl. Brian Boyd, Nabokov’s Pale Fire, Princeton 1999, S. 91. Zur Frage der Autorschaft vgl. ebd., S. 114f.
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Pale Fire als ein Verwirrspiel, aus dem der Leser nicht ausgenommen wird. Nabokovs Roman gibt damit mehr als eine wohlfeile Parodie auf Philologie und Psychoanalyse. »Mit Kinbotes Paranoia stellt Nabokov Freud bewußt auf den Kopf«113 , stellt Boyd zwar zu Recht fest. Was in Pale Fire darüber hinaus in den Blick rückt, ist nicht die Frage nach dem Subjekt des Wahnsinns, wie sie Kant und Freud gestellt haben, sondern die nach den Darstellungsverfahren, die die Welt des Paranoikers wie die des Dichters auszeichnen.114 Intradiegetisch sind beide verbunden in der Figur Kinbotes als dem scharfsinnigen Ausleger und Welterfinder, extradiegetisch verweisen sie auf die Figur des Autors Nabokov, der über ein Geschehen wacht, in dem allein er die Fäden zu ziehen scheint. Die Infragestellung der klaren Unterscheidung von Wahn und Vernunft, wie sie Kant und Freud auf unterschiedliche Weise vollzogen haben, findet so bei Nabokov im Medium der Erzählung eine Vollendung, die sich letztlich noch auf die eigene Autorfunktion erstrecken muss. Der Witz des Romans besteht darin, dass nicht die Vernunft, sondern eben das ästhetische Vermögen des Witzes – nach Kant das eigentliche Vermögen der Urteilskraft – zum Maßstab für die Unterscheidung von Wahn und Wahrheit genommen wird. »Psychotiker sind eben viel phantasievoller als andere Menschen«, kommentiert Richard Rorty, um zu dem Schluss zu kommen: »Mit Humbert und Kinbote schuf Nabokov zwei Soziopathen, die, im Gegensatz zu Psychotikern im wirklichen Leben, selbst ihre Fallstudien schreiben konnten und dabei ganz genau wußten, wie diese Studien für normale Ohren klingen würden.«115 Aus den Händen des Philosophen und des Psychoanalytikers wandert die Wahrheit so in die – per Definition unzuverlässigen – Hände des Dichters. Pale Fire ist daher auch ein höchst unterhaltsames wie lehrreiches Stück über eine Welt, die ganz von der dichterischen Einbildungskraft 113 114
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Brian Boyd, Vladimir Nabokov, S. 655. John A. Barnstead meint daher, bei Pale Fire handele es sich um »a work in which the question of whether art imitates life or life imitates art ist rendered unanswerable.« John A. Barnstead, Two Notes on Pale Fire. In: Yuri Leving (Hg.): The Goalkeeper. The Nabokov Almanac, Boston 2010, S. 152-157, hier S. 157. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1992, S. 267.
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regiert wird – eine Welt, in der zu leben allerdings nicht allein Vergnügen bereitet, wie nicht nur Pale Fire zeigt, sondern auch die nicht minder von der Paranoia determinierte Welt der Erzählungen und Romane Thomas Pynchons.
4.3
Im Bann der Paranoia. Buchstäblichkeit bei Thomas Pynchon
Die Wege, die Nabokov in Pale Fire eingeschlagen hat, haben im Werk Thomas Pynchons eine konsequente Fortsetzung gefunden. Wie Nabokovs Romane, so sind auch die von Pynchon experimentelle Anordnungen, in denen es darum geht, scheinbar sichere Gewissheiten über die Welt, das moderne Subjekt und die stabilisierende Funktion der Wissenschaft durch das allmähliche Abgleiten in eine paranoide Ordnung zu erschüttern. Dass sich diese Erschütterung im Zeichen des Anderen auf die Bereiche der Psychologie, der Politik, der Ökonomie, der Wissenschaft und der Ästhetik gleichermaßen erstreckt und damit so gut wie alle Facetten des Lebens trifft, hat Deborah L. Madsen zusammengefasst: »Pynchon’s engagement with alterity is thematized psychologically through paranoia, schizophrenia and narcissm; politically through systems of control that attempt to destroy otherness; economically through monopolistic transnational corporation and cartels that supplant national governements; scientifically through determinism and theories of entropy; aesthetically through film and photography, storytelling and the ›routinization‹ of language.«116 So kann es auch nicht verwundern, dass sich Pynchons Schreiben im Zeichen der Entropie analog zu den Theorien Lacans und Deleuze/Guattaris als Zerfall traditioneller Erzählmuster verstehen lässt, dass nach neuen Formen des Lesens verlangt.117
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Deborah L. Madsen, Alterity. In: Inger H. Dalsgaard/Luc Herman/Brian McHale (Hg): The Cambridge Campanio to Thomas Pynchon, Cambridge 2012, S. 146155, hier S. 146. Zur Lektüre Pynchons vgl. Hanjo Berressem, How to read Pynchon. In: Inger H. Dalsgaard/Luc Herman/Brian McHale (Hg): The Cambridge Campanio to Thomas Pynchon, Cambridge 2012, S. 168-175.
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Der Zusammenhang von Paranoia und Buchstäblichkeit, wie ihn Nabokov in Pale Fire inszeniert, bestimmt daher auch Pynchons Werk. Das gilt bereits für seinen ersten Roman V. aus dem Jahre 1963 und findet seine Fortsetzung in den folgenden Romanen The Crying of Lot 49 und Gravity’s Rainbow. Schon die einfache Tatsache, dass der Titel des Romans nur aus einem Buchstaben besteht, der zudem zugleich eine römische Ziffer darstellt, weist darauf hin, dass es hier um eine Ordnung des Buchstäblichen und deren literarische Desfiguration geht. Denn in seinem Roman nimmt Pynchon das psychoanalytisch besetzte Thema der Paranoia ebenso auf wie die spielerische Variante von Nabokovs Dekonstruktion der Psychoanalyse. Dass das Thema der Paranoia in Pynchons Romanen eine zentrale Rolle spielt, gilt in der Forschung als weithin unbestritten. So macht schon Leo Bersani im Blick auf Gravity’s Rainbow deutlich, dass Paranoia »the narrator’s most cherished word and concept« verkörpert.118 In Bersanis Augen universalisiert Pynchon das Konzept der Paranoia nicht, um es zu bestätigen: »depathologizing the paranoid structure of thought«119 sei vielmehr das Ziel. Pynchon verfolgt damit eine Strategie, die der Psychoanalyse in gewisser Weise entgegengesetzt ist: Indem er den Leser in die paranoide Perspektive seiner Protagonisten einbezieht, nivelliert er den Unterschied zwischen dem scheinbar gesunden Analytiker und dem pathologischen Analysanden. Paranoia ist nicht nur Gegenstand der Fiktion, sie ist eine Form der Weltstrukturierung und Formgebung, die es nicht länger erlaubt, zwischen normaler und pathologischer Auffassung zu unterscheiden. Bersani bezieht sich wie ein Großteil der Forschung vor allem auf Gravity’s Rainbow. Aber bereits V., nach den Erzählungen, die unter dem Titel Slow Learner zusammengefasst wurden, Pynchons erster und von der Forschung nicht immer günstig beurteilter Roman,120 118
Leo Bersani, Pynchon, Paranoia and Literature, Representation 25 (Winter 1989), S. 99-118, hier S. 99. 119 Ebd., S. 101. 120 So betont schon Luc Herman im Cambridge Companion to Thomas Pynchon: »Pynchon’s first Novel, V., assumes a somewhat akward position.« Luc Herman, Early Pynchon. In: Inger H. Dalsgaard/Luc Herman/Brian McHale (Hg.):
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verfügt über eine komplexe Erzählstruktur, die den späteren Werken durchaus vergleichbar ist. Sie ist geprägt durch eine Fülle von Schauplätzen, Zeitsprüngen und ein abundantes Arsenal von Figuren im Rahmen eines multiperspektivischen Erzählens, das postmoderne Unübersichtlichkeit zum Programm zu machen scheint. Dennoch gibt es einige feste Koordinaten, die als Ausgangspunkt für die Untersuchung dienen können. Das gilt insbesondere für die beiden Hauptfiguren des Romans, Benny Profane und Herbert Stencil. Während Profane die Figur eines modernen Schlemihls verkörpert, der sich scheinbar orientierungslos von einem Ort zum anderen treiben lässt – die abschließende Antwort auf die Frage, ob er im Verlauf der Reise, die V. darstellt, etwas gelernt habe, lautet dementsprechend »›No‹, he said, ›offhand I’d say that I haven’t learned a goddamm thing«121 –, ist Herbert Stencil ein Historiker, der mit der ihm eigenen Akribie nach dem Hintergrund des geheimnisvollen Verschwindens seines Vaters forscht, der 1919 unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Malta im Rahmen seiner Tätigkeit für den Geheimdienst umgekommen zu sein scheint. So wenig eindeutig sich der Handlungsverlauf zusammenfassen lässt, der V. zugleich als einen Reiseroman erscheinen lässt, der über eine Vielzahl von Stationen von Amerika nach Europa und schlussendlich nach Malta führt, so sehr lassen sich die beiden unterschiedlichen Protagonisten Profane und Stencil, die in der Forschung immer wieder mit klassischen Figuren wie Don Quixote und Sancho Pansa oder Ahab und Ishmael verglichen worden sind,122 durch ihr unterschiedliches
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The Cambridge Companion to Thomas Pynchon, Cambridge 2012, S. 19-29, hier S. 19. Der Roman erscheint in dieser Perspektive als noch etwas unbeholfener Versuch, der von den späteren Romanen durch eine größere Souveränität der Erzählkunst deutlich übertroffen wird. Da die Motive, die die folgenden Romane bestimmen, schon in V. auftauchen, bietet sich aber gerade der erste Roman Pynchons für eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk an. Thomas Pynchon, V. A novel, New York 1963, S. 454. Vgl. Tony Tanner, Thomas Pynchon, London and New York 1982, S. 42. Tanner will in Stencil and Profane eine Wiederkehr von Don Quijote und Sancho Pansa erkennen.
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Verhältnis zu dem titelgebenden V. beschreiben.123 Dieter Polloczek schlägt vor diesem Hintergrund vor, »Stencil und Benny als polare Alternativen des Sich-zu-V-Verhaltens zu verstehen«124 , wobei Stencil der aktive und Profane der passive Part zukomme. Im Zentrum des Romans stehen somit gar nicht die beiden Hauptprotagonisten, sondern eben der Buchstabe, der dem Buch den Titel verliehen hat und von Beginn an mit dem Thema der Verschwörung und der Paranoia verbunden wird. Polloczek spricht daher von einem »Textgewebe« mit dem Namen V., das als scheinbare Zentralperspektive immer wieder im Roman auftauche: »Verschiedene Frauennamen, aber auch unbelebte Gegenstände, Länder, Straßen und vieles mehr lösen den Punkt hinter V. auf.«125 Die Besonderheit des Romans bilde nicht nur die Tatsache, dass V. als umfassendes Erklärungsangebot für die Vielzahl an rätselhaften Ereignissen diene, sondern das Überangebot an Lösungen, das V. präsentiere: »Die Chiffre V. ist in Pynchons Roman nicht deshalb so rätselhaft, weil seinen Lesern etwas vorenthalten bliebe, was sich dahinter verbirgt. Im Gegenteil, es herrscht geradezu ein Überangebot an möglichen Auflösungen des Punktes hinter dem V.«126 Das Überangebot an Erklärungsmöglichkeiten führt keineswegs zu einer eindeutigen Auflösung der Geheimnisse und Rätsel, die der Roman aufbietet. Im Gegenteil: An die Stelle gesicherten Wissens tritt eine fundamentale Unsicherheit, die als allererstes den Status von V. selbst betrifft: »Most critics agree that in his first novel, Thomas Pynchon’s overarching theme is the inability to know«127 , kommentiert Alan W. Brownlie vor diesem Hintergrund. Im Rahmen des Zusammenhangs von Paranoia und
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»Benny Profane and Herbert Stencil symbolize two extreme positions.« Hanjo Berressem, Pynchon’s Poetics. Interfacing Theory and Text, Urbana and Chicago 1993, S. 53. 124 Dieter Polloczek, Vernetzungsstrukturen. Faulkner, Pynchon, Barthelme, München 1993, S. 88. 125 Ebd., S. 87. 126 Ebd., S. 88 127 Alan W. Brownlie, Thomas Pynchon’s Narratives. Subjectivity and Problems of Knowing, New York u.a. 2000, S. 8.
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Buchstäblichkeit, der schon in der Psychoanalyse zum Thema geworden ist, ist V. beides: Chiffre für die obsessive Suche nach Wissen, die im Roman v.a. Stencil umhertreibt, und Ausdruck des Nichtwissens, dem sich nicht minder obsessiv Profane hingibt. Im Roman begegnet der titelgebende Buchstabe das erste Mal gleich zu Beginn im ersten Kapitel in der Form eines »asymmetric V« (V, 10) als Fluchtpunkt einer Straße, die sich im Dunkeln verliert. Schon hier ist V. in den Rahmen einer Metaphorik des Lebensweges eingebettet, die sich im Fall Profanes als orientierungsloses »just traveling, up and down the east coast like a yo-yo« (V, 10) ergibt. So unbestimmt der Buchstabe V. als Fluchtpunkt eines nicht zielgerichteten Weges auch zunächst in Bezug auf die Lebensführung von Benny Profane eingeführt wird, so sehr dient er als Ausgang für die Bemühungen Herbert Stencils, seine Suche nach dem verschwundenen Vater wie einer damit verbundenen geheimen Verschwörung auf einen Punkt zu konzentrieren. Im zweiten Kapitel des Romans offenbart er in einer Rückblende, die in das Jahr 1946 zurückführt, seiner Gesprächspartnerin Margravine di Chiave auf Mallorca, dass er in einem seiner Tagebücher unter dem Datum Florenz, April 1899 folgenden Satz gefunden habe: There is more behind and inside V. than any one had suspected. Not who, but what: what is she. God grant that I may never be called upon to write the answer, either here or in any official report. (V, 53) Der Tagebucheintrag führt auf die Tätigkeit von Stencils Vater als Geheimagent vor und während des Ersten Weltkrieges zurück, und nach einer längeren Inkubationszeit reißt sie Stencil aus der Lethargie und wird zu einem neuen Lebensziel, das fortan all seine Wege bestimmt: Whatever the reason, he began to discover that sleep was taking up time which could be spent active. His random movements before the war had given way to a great single movement from inertness to – if not vitality, then at least activity. Work, the chase – for it was V. he hunted – far from being a means to glorify God and one’s own godliness (as the Puritans believe) was Stencil grim, joyless; a conscious ac-
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ceptance of the unpleasant for no other reason than that V. was there to track down. (V, 55) Die Aufzeichnung des Vaters gerinnt Stencil zum Ausgangspunkt einer Suchbewegung, die der Roman ironisch in den Kontext religiöser Wahnvorstellungen stellt. Der Text betont zwar die freudlose Mühe, mit der Stencil seine Arbeit, die Suche nach V., verrichtet, stellt aber zugleich heraus, dass die gleiche Obsession am Werk ist wie im Fall religiöser Erlösungsphantasien. Polloczek verweist vor diesem Hintergrund nicht zufällig auf einen Zusammenhang zwischen Stencil und Freuds Schreber:128 Beide sind auf der Suche nach einer Erlösung, die sie in einer Religion zu finden suchen, die Freud als unbewusste sexuelle Phantasie zu dechiffrieren versucht hat. Wenig überraschend stellt auch der Roman Stencils Verlangen daher in den Kontext einer geheimen Erotik. So heißt es zu Beginn des dritten Kapitels: As spread thighs to the libertine, flights of migratory birds to the ornithologist, the working part of his tool bit to the production machinist, so was the letter V to young Stencil. He would dream perhaps once a week that it had all been a dream, and that now he’d awakened to discover that the pursuit of V. was merely a scholarly quest after all, an adventure of the mind, in the tradition of The Golden Bough or The White Goddess. (V, 61) Nicht nur verklammert der Text religiöse und sexuelle Obsession, wenn er die Suche nach V. als »an obsolete, or bizarre, or forbidden form of sexual delight« (V, 61) darstellt. Wo Freud noch der Wissenschaft als scheinbar unparteiischer Durchdringung psychischer Auffälligkeiten vertraute, da wird Pynchon die Wissenschaft – sei es in der Form der Ornithologie, die zugleich auf die antike mantische Praxis der Deutung des Vogelfluges zurückverweist, sei es in der Form ethnologischer Erkundungen wie im Fall von Frazer und Adams – zum Teil des Deutungskomplexes, den sie zu erklären beansprucht.129 Die Wissenschaft 128 129
Dieter Polloczek, Vernetzungsstrukturen, S. 107. »Die Jagd nach V. kann die Suche nach einem verborgenen Lustobjekt sein, oder eine akademische Tour-de-force, oder eben Paranoia«, kommentiert Gerhard
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tritt so nicht als ein Metadiskurs auf, der dazu in der Lage wäre, die großen Rätsel der Menschheit zu lösen, sondern als integraler Bestandteil einer Ordnung des Rätsels und Geheimnisses, das sich keiner eindeutigen Lösung zuführen lässt. Nicht anders als Schreber, aber auch nicht anders als Freud oder Frazer, ist Stencil in einem Wahnsystem befangen, das nur eine Koordinate kennt, den Buchstaben V. als Stern, der über seinem Weg leuchtet. Vor diesem Hintergrund tritt der Buchstabe V. im Roman in ganz unterschiedlichen Formen auf. Der Tagebuchnotiz seines Vaters folgend vermutet Stencil zunächst in der Figur der Victoria Wren eine Frau in ihr. Aber auch diese kann verschiedene Formen annehmen, als Besitzerin eines Modesalons, die eine Beziehung zu einer jungen Ballerina unterhält, als Veronica Mangenese oder Vera Merowing und schließlich als der als Mann verkleidete »Bad Priest«, der 1942 auf Malta seinen Tod findet und der Geschichte der mit V. verbundenen Frauenfiguren ein Ende zu bereiten scheint. Der Roman spricht mit dieser Figurenvielzahl nicht nur zahlreiche Formen des bereits angesprochenen »obsolete, or bizarre, or forbidden form of sexual delight« von Masochismus und Sadismus bis hin zu lesbischer Liebe und Transvestie an. Die manische Vervielfältigung des Buchstabens V. in unterschiedliche Frauenfiguren, die sogar die Möglichkeit zulässt, das V. eine von einem Pastoren so benannte Ratte war, die er im unterirdischen Kanalsystem von New York, in dem Profane auf Alligatorenjagd geht, zu bekehren versuchte, führt so gerade im Gegensatz zu von Stencil beabsichtigten Vereinheitlichung der Bedeutung zu immer neuen Abgründen, deren gemeinsamer Nenner allein die ironische Bestimmung von Eros, Religion und Wissenschaft als paranoides Wahnsystem ist. Am Ende bleibt nichts als die nicht aufhebbare Ungewissheit über den eigentlichen Status von V.: »Truthfully he didn’t know what sex V. might be, or even what genus and species.« (V, 226)
Kebbel, Geschichtengeneratoren. Lektüren zur Poetik des historischen Romans, Tübingen 1992, S. 138.
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V. verkörpert im Roman daher nicht nur eine Frau, sondern zugleich ein mit Geheimnissen behafteten Ort namens Vheissu, ein Land der scheinbaren Erlösung wie der Verschwörung zugleich: V is a country of coincidence, ruled by a ministry of myth. Whose emissaries haunt this city streets. Porcépic, Mondaugen, Stencil père, this Maijstral, Stencil fils. Could any of them create a coincidence? Only Providence creates. If this coincides are real than Stencil has never encountered history at all, but something far more appalling. (V, 430) Der Buchstabe, dem Stencil nachjagt, erweist sich so als ein Bündel an kontingenten Verknüpfungen, das dazu in der Lage, nach der Regel des Zufalls alles mit allem zu verbinden. In dieser Form gerinnt es im Roman zur Chiffre einer weltweiten Verschwörung, der Stencil auf der Spur zu bleiben versucht. So stellt er fest, dass die unbekannte Frau, in der er V. vermutet, verbunden sei »though perhaps only tangentially, with one of those conspiracies of foretastes of Armageddon which seemed to have captivated all diplomatic sensibilities in the years proceeding the Great War. V. and a conspiracy.« (V, 155). Die Idee der Verschwörung gibt der Ungewissheit Ausdruck, die den befällt, der sich auf die Suche nach einem Sinn begibt, der sich ihm beständig entzieht. »In Angesicht der Sinnlosigkeit der ihn umgebenden Systeme findet der Suchende seinen Sinn in der Annahme einer Verschwörung, deren Realität ungewiß bleibt. Ob Wahrheit oder Paranoia läßt sich nicht entscheiden. Als gemeinsames Merkmal aller dieser Manifestationen der Sinnsuche wird V. zur Metapher für die Suche selbst«130 , fasst Gerhard Kebbel zusammen. In diesem Sinne erscheint V. als Ausdruck einer Verschwörung, die ganz auf der Macht der Buchstaben beruht, unaufhörlich Bedeutungen zu erzeugen: »Stencil sketched the entire history of V. that night and strengthened a long suspicion. That it add up only in the existence of an initial and a few dead objects.« (V, 445) So wird im Verlauf des Romans immer deutlicher, »that V. was an obsession after all, and that such an obsession is a hothouse: constant temperatures, windless, too crowded with particolored sports, unnatural blooms.« (V, 448) 130 Gerhard Kebbel, Geschichtengeneratoren, S. 154.
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Wie ein Treibhaus aussieht, hatte Pynchon bereits in seiner Erzählung Entropy aus Slow Learner gezeigt: Als ein klaustrophobisch geschlossener Raum, der nur durch einen Akt der Gewalt geöffnet werden kann. Die Dialektik von Ordnung und Entropie, die schon Heinz Ickstadt als Leitthema von Pynchons Romanen aufgewiesen hat, bestimmt auch V.131 Der Roman inszeniert ein Verwirrspiel um den Buchstaben V., das keine Sicherheiten kennt, nur paranoide Besessenheit und Verschwörungstheorien, die in ihrer obsessiven Suche nach eindeutigen Bedeutungen gerade jene Unsicherheit hervorbringen, der sie zu entkommen trachten. Die Funktionsweise dieser Buchstabenfixierung hat Gerhard Kebbel anschaulich zusammengefasst: »Alles, was er braucht, ist ein Signifikant, das in den V-Diskurs eingefügt werden kann, und der inzwischen autonomisierte Prozeß der spekulativen Signifikats-Erstellung wird ausgelöst. Im einfachsten Fall handelt es sich um ein Wort, das mit V. beginnt.«132 Wie Kebbel deutlich macht, erscheint V. bei Pynchon so in der Funktion eines Transzendentalsignifikats, auf das alle Bedeutungen verwiesen bleiben, ohne dass es doch jemals durch eine wie auch immer geartete Auslegung eingeholt werden könnte. »V. erscheint als das abwesende transzendentale Signifikat, das nicht erreichbare Eigentliche, auf das der Signifikant V. ständig verweist.«133 Kebbel liest V. daher als eine Dekonstruktion des historischen Romans, wie ihn noch Walter Scott vorgegeben hatte. Samuel Thomas hat in Pynchons frühen Romanen, allen voran in Gravities Rainbow, in ähnlicher Weise »a Kabbalistic text«134 erkannt, einen Text, der im Fall von V. ausgehend vom Buchstaben das Reale auf seine Leere befragt. Vor dem Hintergrund von Lacans Überlegungen zum Status des Imaginären, Symbolischen und Realen hat Hanjo Berressem diesen Bezug zum Realen als Ort einer fundamentalen Leere in das Zentrum des Romans gestellt: »In V., Pynchon
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Vgl. Heinz Ickstadt, Ordnung und Entropie. Zum Romanwerk von Thomas Pynchon, Reinbek bei Hamburg 1981. Gerhard Kebbel, Geschichtengeneratoren, S. 144. Ebd., S. 166. Samuel Thomas, Pynchon and the political, New York and London 2007, S. 66.
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describes culture and reality as a complex coating of the (void of the) real.«135 Berressem führt damit die Begrifflichkeit wieder ein, mit deren Hilfe schon Lacan die Paranoia zu beschreiben versuchte: Der Ausfall der symbolischen Ordnung erzeugt die Leerstelle, aus der heraus der Wahn entspringt. Pynchons V. setzt damit fort, was Nabokov begonnen hatte: die Autonomisierung der literarischen Fiktionalisierung des Wahnes gegenüber seinen nicht minder wahnsinnigen Deutern. Das bestätigt sich noch in The Crying of Lot 49. »I chose to remain in relative paranoia, where at least I know who I am and who the others are.«136 Mit diesen Worten begegnet der Psychoanalytiker mit dem sprechenden Namen Hilarious in The Crying of Lot 49 seiner Patientin Œdipa Maas, die überraschend vor seiner Tür aufgetaucht ist und nun von ihm als Geisel genommen wird. Die Form der Paranoia, auf die sich Hilarious beruft, erlaubt ihm, einem ehemaligen KZ-Arzt, der sich nach dem Krieg zur besseren Tarnung Freud verschrieben hat, eine einfache Aufteilung der Welt in »I« und »the others«. Zwar kann Œdipa ihm den gutgemeinten Rat geben, er solle angesichts der überlegenen Feuerkraft der draußen wartenden Polizei das Realitätsprinzip anzuerkennen lernen. Ihren Rat aber schlägt er in den Wind, denn die Realität, die sich ihm darbietet, ist eine andere als die, die sie von ihm einfordert. Schon die simple Tatsache, dass er sich bewaffnet in seiner Praxis verschanzt hat, weil er sich verfolgt fügt, weist auf die Allianz von Paranoia und Gewalt hin, die mit der Buchstäblichkeit verbunden ist. Die kulturelle Allianz zwischen paranoider Buchstäblichkeit und Gewalt hat eine lange Tradition, die in die Urgeschichte der Religion wie des Rechts zurückführt. Abraham hört Stimmen, die ihm befehlen, seinen Sohn Isaak zu opfern, und nur ein brennender Busch, den er als untrügliches Zeichen für das Erscheinen des einen Gottes liest, kann ihn davon abhalten. Es ist diese kulturelle Allianz von Buchstäblichkeit und Gewalt, gegen die sich die Freud’sche Psychoanalyse gewandt hat, als sie den religiösen Glauben in eine Nähe zum Wahn stellte. Wie Religion und 135 136
Hanjo Berressem, Pynchon’s Poetics. Interfacing Theory and Text, Urbana and Chicago, S. 55. Thomas Pynchon, The Crying of Lot 49, New York 1966, S. 94.
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Recht zeigen, hat der Wahn ein System, und wer sich auf den Buchstaben des Gesetzes beruft, gerät schnell in einen Strudel der Gewalt, hinter dem sich nichts anderes als Angst verbirgt – die Angst, dass sich die scheinbare Stabilität der Welt hinter Bedeutungszuweisungen verflüchtigt, die nicht naturgegeben sind, sondern Gegenstand kultureller Verhandlungen. Die Furcht vom Menschen zu nehmen, war nach Horkheimer/Adorno das erklärte Ziel der Aufklärung, ihr Scheitern der Anlass für eine Dialektik der Aufklärung, die dem Unheil in der entzauberten Welt nachgeht. Wenn Freud in den Studien über Hysterie abschließend als Ziel der Psychoanalyse formuliert, »hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln« (I 312)«, dann ist er dieser Dialektik eingedenk. Was die Freud’sche Psychoanalyse gegen die Macht der Neurosen und Psychosen aufzubieten hat, ist der Sprachwitz, der den Patienten und den Analytiker aneinander bindet wie den Autor und den Leser. Um diesen Sprachwitz offen zu legen, nimmt Freud eine Revision der traditionellen Hermeneutik vor, die gegen die einseitige Privilegierung des Sinnes Einspruch erhebt, um Bedeutungen an das Sprachmaterial zu binden, das sich gegen eindeutige Zuweisungen, wie sie die Dechiffriermethode kennt, zugunsten der Anerkennung von unaufhebbaren Ambivalenzen sperrt. Die Anerkennung dieser Ambivalenzen verbindet die Psychoanalyse noch mit den literarischen Texten, die sie, wie Nabokovs Pale Fire oder Pynchons The Crying of Lot 49, parodieren. Die Texte stellen die Paranoia aus, um die von ihr begründete wahnhafte Stabilität zu unterminieren, und nicht anders als in der Psychoanalyse ist der Witz ihre schärfste Waffe. Er richtet sich gegen die Illusion, Wirklichkeit durch die Ordnung des Buchstäblichen bewältigen zu können. Nicht anders als der paranoide Wahn ist der literarische Text bei Nabokov und Pynchon ein Phantasma, aber ein Phantasma, das in der Schwebe hält, was sich dem Psychotiker als Notwendigkeit und Schicksal ergibt. Den Zusammenhang von Buchstäblichkeit und Müll, den Lacan im Blick auf die Engführung von »letter« und »litter« bei Joyce in den Blick nimmt, ironisiert Pynchon in The Crying of Lot 49 in der im Zentrum der paranoiden Verschwörungstheorien stehenden Buchstabenfolge W.A.S.T.E, dem Motto
Zweiter Teil: Psychoanalyse und Buchstäblichkeit
»WE AWAIT SILENT TRISTERO’S EMPIRE«137 , das alles und nichts zu bedeuten vermag. Sicher bleibt bei Pynchon angesichts des unerschöpflichen Reichtums der Sprache nur eines: »Possibilities for paranoia become abundant.«138
137 138
Ebd., S. 116. Ebd., S. 114.
173
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
1.
Kabbalistische Auslegung: Harold Bloom und Pierre Legendre
Die Schwierigkeiten, die Schleiermachers Hermeneutik mit der Ordnung des Buchstäblichen hat, zeigen sich besonders deutlich an seiner Kritik der kabbalistischen Auslegung. Wo Schleiermacher die Gefahr des Absturzes der Bedeutung in den Abgrund der einzelnen Zeichenelemente sieht, da erkennt die Psychoanalyse den Ansatz für eine Kunst der Deutung, die ihr Augenmerk auf eben die Buchstabenspiele richtet, die die traditionelle Hermeneutik nur als wahnhafte Verirrungen anzuerkennen bereit ist. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die von Schleiermacher noch ausdrücklich kritisierte kabbalistische Auslegung für eine von der Psychoanalyse inspirierte Literaturwissenschaft attraktiv werden konnte. Denn das Bestreben der kabbalistischen Auslegung, sich ganz an die »einzelnen Elemente und ihre Zeichen«1 zu halten, deckt sich mit dem Beharren auf der Ordnung der Buchstäblichkeit, das nicht nur avancierte Formen der Literatur antreibt, sondern Wege der Interpretation notwendig macht, die sich, wie schon Peter Szondi gefordert hat, weigern, »alles, was mit Geist zu tun hat, als das eo ip-
1
Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 87.
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Der feste Buchstabe
so Höhere gegenüber dem Buchstaben anzusehen«2 , um vielmehr zu prüfen, »ob sich im Buchstaben Geist ausdrückt.«3 Die philologische Infragestellung der Privilegierung des Geistes vor dem Buchstaben, wie sie Schleiermachers Hermeneutik vorgenommen hat, kann sich daher auf die kabbalistische Auslegung als eine spezifisch in der jüdischen Tradition verwurzelte Form der Interpretation stützen, der es nicht allein um die Deutung heiliger, sondern auch um die literarischer Texte geht. Die Grundzüge einer solchen an der Literatur ausgerichteten kabbalistischen Auslegungslehre hat – allerdings wiederum auf keineswegs selbstverständliche Art und Weise – Harold Bloom entworfen. In ähnlicher Weise wie Bloom hat der französische Rechtshistoriker Pierre Legendre eine Korrektur der gesamten abendländischen Rechtsgeschichte durch die Einbeziehung der jüdischen Tradition der Textauslegung gefordert. Beiden gemein ist der Rückgang auf die Psychoanalyse als Grundlage von Interpretationsverfahren, die nicht einfach von der scheinbar selbstverständlichen Höherstellung des Geistigen gegenüber dem Buchstäblichen ausgehen. Im Fall Blooms ist Freud der entscheidende Stichwortgeber, im Fall Legendres ist es dagegen Lacan. Insofern gilt es zu prüfen, ob und inwiefern die von Bloom und Legendre aufgerufene Psychoanalyse das Versprechen einer alternativen Textinterpretation, das mit dem Begriff der kabbalistischen Auslegung verbunden ist, wirklich einlösen kann.
1.1
Harold Bloom und die Kabbala
Wenn Schleiermacher sich in Hermeneutik und Kritik gegen die kabbalistische Auslegung ausspricht, dann bezieht er sich im Rahmen der lutherischen Sicherung des einheitsverbürgenden Geistes gegenüber dem Buchstaben kritisch auf die spezifisch jüdische Tradition der Schriftüberlieferung zurück. »Die Kabbala, wörtlich ›Überlieferung‹, nämlich Überlieferung von den göttlichen Dingen, ist die jüdische Mystik«4 ,
2 3 4
Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 141. Ebd. Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a.M. 1973, S. 7.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
hält Gershom Scholem einleitend in seiner Schrift Zur Kabbala und ihrer Symbolik fest. Die Kabbala, ein Ausdruck, der wörtlich nichts anderes als Tradition bedeutet,5 bezieht sich auf die Tora, den Pentateuchus, auf die ersten fünf Bücher Moses als Grundlage eines mystischen Verständnisses der Bibel, in dessen Mittelpunkt der Name Gottes steht. Den Ausgangs- und Zielpunkt der Kabbala bildet die schriftliche Form des Namens als das geheime Zentrum der Bibel: »Die Tora ist der Name Gottes, weil sie ein lebendiges Gewebe, einen ›Textus‹ im präzisen Verstande darstellt, worin der eine wahre Name, das Tetragrammaton, in verborgener und indirekter Weise eingewebt ist und in dem er auch direkt gleichsam als Leitmotiv des Gewebemusters immer wiederkehrt.«6 Die Kabbala, in deren Tradition noch Walter Benjamins magische Theorie der Namenssprache steht,7 ist damit nicht nur auf den Namen Gottes zentriert, sie ist zugleich ausgesprochen sprach- und insbesondere schriftbezogen. Scholem wehrt sich in diesem Zusammenhang allerdings gegen die Annäherung der kabbalistischen und der allegorischen Auslegung, wie sie Schleiermacher vorbereitet hatte. »Der Kabbalist aber geht nicht darauf aus, die Wirklichkeit allegorisch zu entziffern, obwohl die Allegorie auch in den Schriften vieler Kabbalisten eine große Rolle spielt. Seine Weltauffassung ist, was ich in einem prägnanten Sinn symbolisch nennen möchte.«8 Symbolisch nennt Scholem das Sprachbewusstsein des Kabbalisten, da sie nicht auf jener Trennung von Zeichen und Bedeutung beruht, die der Allegorie eigen ist, sondern stets auf die Wirklichkeit bezogen bleibe. Scholem sieht den Kabbalisten daher gerade vor der Gefahr gefeit, in die Schleiermacher ihn notwendigerweise abstürzen sah: in den völligen Verlust der Realität angesichts der wahnhaften Verstrickung in eine Welt, die nur aus Zeichen und Buchstaben zu bestehen scheint.
5 6 7 8
»Kabbala bedeutet wörtlich: Tradition.« Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1980, S. 22. Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 62. Zu Benjamins Namenstheorie vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a.M. 1980, S. 20f. und S. 40f. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 28.
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Der feste Buchstabe
Scholems Ausführungen zur Kabbala und ihrer Symbolik hat Harold Bloom im Rahmen seines Entwurfes einer allgemeinen Theorie des literarischen Einflusses als Topographie des Fehllesens aufgenommen und weitergeführt. »Reading, as my title indicates, is a belated and allbut-impossible act, and if strong is always a misreading.«9 In diese Theorie des Fehllesens bezieht Bloom die Kabbala von Anfang an mit ein: »All Kabbalistic texts are interpretative, however wildly speculative, and what they interpret is a central text that perpetually possesses authority, priority, and strength, or that indeed can be regarded as text itself .«10 Bloom, der auf der Verschränkung der kabbalistischen Auslegung und der Psychoanalyse Freuds besteht, sucht in der Textbezogenheit der kabbalistischen Tradition zugleich die Mitte zwischen zwei Extremen zu halten, die er als Über- und Entspiritualisierung der Kritik bezeichnet: »Criticism is in danger of being over-spiritualized by the heirs of Auerbach and by Northrop Frye, and of being excessively despiritualized by the followers of the school of Deconstruction, the heirs of Nietzsche, among whom Derrida, de Man, Hillis Miller are most distinguished.«11 Im kritischen Blick auf die Geschichte der Literaturkritik im zwanzigsten Jahrhundert will sich Bloom – trotz einer gewissen Nähe zur dekonstruktiven Übersetzung von Literatur in Rhetorik – weder auf die Instanz des Geistes (Überspiritualisierung) noch die des Buchstabens allein (Entspiritualisierung) verpflichten lassen. »Though I am myself an uneasy quester after lost meanings, I still conclude that I favour a kind of interpretation that seeks to restore and redress meaning, rather than primarily to deconstruct meaning.«12 Blooms Theorie des Fehllesen ist daher keineswegs mit der Derridaschen Grammatologie zu verwechseln. Seine Idee einer kabbalistischen Textauslegung, die der Psychoanalyse mehr verdankt als der Dekonstruktion, bleibt auf das Moment des Sinns bezogen, ohne doch die Materialität des Buchstabens als Träger der Bedeutung leugnen zu wollen.
9 10 11 12
Harold Bloom, A map of misreading, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 79. Ebd., S. 175.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
Einer der Gründe, der Bloom zu seiner nicht immer ganz scharfen Abgrenzung von dekonstruktiven Texttheorien bewegt, ist der Zusammenhang zwischen der Kabbala und der Mündlichkeit. In seiner Untersuchung der Kabbala als Grundlage des Zusammenhangs von Poesie und Kritik weist Bloom daher schon einleitend im Rekurs auf Scholem auf die Bedeutung der Mündlichkeit für die kabbalistische Auslegung hin: »The word ›Kabbalah‹ means ›tradition‹, in the particular sense of ›reception‹, and at first it referred to the whole of Oral Law.«13 Bloom, der die Geschichte der Kabbala im Wesentlichen als den Kampf zwischen gnostischen und neuplatonischen Tendenzen auf dem Boden des Judentums begreift, teilt zwar die Einschätzung, dass Literatur wie Kritik sich letztlich rhetorischen Prozessen verdanken: »Kabbalah is an extraordinary body of rhetoric or figurative language, and indeed is a theory of rhetoric«14 . Und wie in der amerikanischen Dekonstruktion nicht unüblich, so neigt auch Bloom dazu, die Rhetorik auf einige wenige Figuren, in diesem Fall Ironie, Metonymie, Metapher auf der einen und Synekdoche, Hyperbole, Metalepsis auf der anderen Seite, zu reduzieren.15 Dennoch grenzt er seine Theorie der Einfluss-Angst ausdrücklich von der Dekonstruktion ab: »More audaciously than any developments in recent French criticism, Kabbalah is a theory of writing, but this is a theory that denies the absolute distinction between writing and inspired speech, even as it denies human distinctions between presence and absence.«16 Auch Bloom versteht die Kabbala im Wesentlichen als eine Theorie der Schrift. Im Unterschied zur Grammatologie aber wehrt er sich gegen die vollständige Auflösung aller Formen der Mündlichkeit in Schriftlichkeit und der Präsenz in Differenz. Bloom glaubt an so etwas wie die inspirierte und damit ganz und gar präsenzgebundene Rede, auch wenn er in Formen der Inspiration immer zugleich Abwehrvorgänge erkennt, mit deren Hilfe ein Dichter oder Kri13 14 15
16
Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, New York 1975, S. 3 Ebd., S. 4. »Kabbalah, if viewed as rhetoric, centres upon two series of tropes: first – irony, metonymy, metaphor, and then – synecdoche, hyperbole, metalepsis.« Ebd., S. 37. Ebd., S. 25.
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Der feste Buchstabe
tiker sich des auf ihn wirkenden Einflusses erwehrt. »To interpret is to revise is to defend against influence«17 , lautet die Formel, die es Bloom erlaubt, seine Theorie der Dichtung auf rhetorische Abwehrvorgänge zugründen, deren Funktionsweise bereits die Psychoanalyse herausgearbeitet habe. Blooms Theorie des Fehllesens ist daher keineswegs im engeren Sinne dekonstruktiv, sehr wohl aber psychoanalytisch begründet – sofern man bereit ist, darin überhaupt eine Differenz zu erkennen. Fast alle seiner Begriffe, der der Abwehr wie der der Nachträglichkeit, insbesondere aber seine gesamte Konzeption des Fehllesens als eine bestimmte Form der Aneignung der Vergangenheit weisen auf Freud zurück. Dementsprechend stellt Bloom auch auf naheliegende Weise eine Verbindung zwischen der Kabbala und der Freud’schen Psychoanalyse her: »As a psychology of belatedness, Kabbalah manifests many prefigurations of Freudian doctrine«18 , heißt es im Blick auf die spezifisch jüdische Tradition, die auch die Psychoanalyse an die Kabbala bindet. »The great lesson that Kabbalah can teach contemporary interpretation is that every meaning in belated texts is always wandering meaning, even as the belated Jews were a wandering people«19 , betont Bloom, der nicht müde wird, im Blick auf die Kabbala an spezifisch jüdischen Traditionen der Auslegung festzuhalten, an deren Ende Freud und nicht zuletzt er selbst stehen. Was Bloom in der Kabbala findet, ist demnach eine zu Schleiermachers Hermeneutik alternative Form der Auslegung, die nicht von vorneherein auf den Geist dringt, sondern auf der sprachlichen Bedingtheit der Bedeutung insistiert, ohne die Sprache doch zum Schriftzeichen zu fetischisieren. Im Blick auf die Thora bezieht sich Bloom auf die Urszene der jüdischen Überlieferung überhaupt, auf die Verwandlung der Stimme Gottes in die Schrift des Gesetzes zurück: »As a theory of meaning, Kabbalah tells us that meaning is the hurt that meaning itself is hurtful. For Kabbalah tries to restore the primal meaning that God
17 18 19
Ebd., S. 31. Ebd., S. 20. Ebd, S. 42.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
intended when He gave Thora to Moses. But Kabbalah treats Thora as alphabet, as language itself.«20 Moses, dem schon Freuds letzte Arbeit gegolten hatte, ist der Zielpunkt von Blooms Analysen, weil die Übergabe der Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai in der Kabbala den Ursprung aller sprachlich vermittelten Bedeutungszusammenhänge verkörpert. Von einer Kränkung spricht Bloom, der darin wie in seiner Theorie insgesamt keinem ödipalen, sondern einem eher narzisstischen Modell folgt,21 weil der durch die Gesetze verbürgte Imperativ den Menschen zugleich zu den Umwegen zwingt, die Bedeutung als Abweichung und Abwehr einer ihr vorhergehenden Bedeutung erst möglich machen. »Kabbalah, like the poetry of the last two centuries, reads Scripture only in so inclined or figurative a defensive mode«22 , fasst Bloom zusammen. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass nicht nur Gedichte das Ergebnis solcher Abwehrvorgänge sind,23 sondern auch seine eigene mehr oder weniger offen betriebene Anknüpfung an Freud. Blooms kabbalistische Auslegung stellt so eine Alternative sowohl zu hermeneutischen Mustern da, die sich seit Schleiermacher am Vorrang des Geistes gegenüber dem Buchstaben orientieren, als auch zur von dekonstruktiven Theorien betriebenen Privilegierung des Signifikanten vor jeder Bedeutungseinheit.
1.2
Verrücktes Interpretieren? Pierre Legendre
Den Widerstand gegen Schleiermacher, den dessen eigene Begründung der Hermeneutik im Begriff der kabbalistischen Auslegung bereithält,
20 21 22 23
Ebd., S. 41. Vgl. Martin von Koppenfels, Häresie als Beruf. Die krummen Blicke des Harold Bloom. In: Poetica 33 (2001), S. 307-322. Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, S. 47. Gedichte »are apotropaic litanies, systems of defensive tropes and troping defences, and what they seek to ward off is essentially the abyss in their own assumptions about themselves, at once empirically reifying and dialectically ironizing. A theory of poetic influence becomes a theory of misreading because only misreading allows a poem to keep going in its own philosophical contradictions. Schizophrenia is disastar in life, and success in poetry.« Ebd., S. 58f.
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einen Widerstand, den Bloom im Blick auf die Psychoanalyse als einer spezifisch jüdischen Kunst der Auslegung weiter ausgebaut hat, formuliert auch der französische Rechtshistoriker Pierre Legendre, und wie Bloom bezieht er sich explizit auf das jüdische Erbe der Psychoanalyse zurück. Radikaler aber noch als Bloom etabliert er einen sich wechselseitig ausschließenden Gegensatz, ja geradezu einen Kulturkampf zwischen der christlichen und der jüdischen Auslegungskunst: »je crois qu’il est tout à fait fondamental de considérer le système de pensée christiano-industriel comme ce système de pensée se proposant lui-même en tant que promoteur d’une interprétation spirituelle du texte, par opposition à l’interprétation juive.«24 Um diesen Gegensatz zu begründen, beruft sich Legendre nicht auf die Geschichte der Hermeneutik zurück, sondern auf die des Römischen Rechts. Der Ansatzpunkt seiner Kritik ist Justinian, der in dem Prolog zu seiner Novelle 146 aus dem Jahr 553 n. Chr. den Satz geprägt hat, den Legendre auch zum Titel seines Aufsatzes genommen hat: »Les Juifs se livrent à des interprétations insensées.«25 Was Legendre in einer ebenso radikalen wie fragwürdigen Geste an Justinian festmacht,26 ist die Verschränkung zwischen dem Römischen Recht und dem Christentum, die er am Ursprung der abendländischen Geschichte sieht, in der auch der moderne Mensch sich noch immer bewege. Indem die christliche Religion, die im Unterschied zur jüdischen aus sich selbst heraus keine Formen des Rechts kennt, sich mit dem Rechtssystem Roms verbündet, hat sie Legende zufolge ein Herrschaftsregime errichtet, aus dem das Jüdische immer schon ausgeschlossen ist. Justinians Novelle, so Legendre, »fait fonctionner le si-
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25 26
Pierre Legendre, ›Les juifs se livrent à des interprétations insensées‹ : expertise d’un texte. In : Adèle et Jean-Jacques Rassial (Hg.) : La psychanalyse est-elle une histoire juive?, Paris 1981, S. 93-113‹ hier S. 111. Ebd., S. 94. Zu Legendre vgl. den von Georg Mein herausgegebenen Sammelband Die Zivilisation der Interpreten. Studien zum Werk Pierre Legendres, Berlin 2012, dort zur Einführung den Beitrag von Clemens Pornschlegel, Warum Gesetze? Zur Fragestellung Pierre Legendres, S. 53-76. zum Verhältnis Legendres zur Psychoanalyse den Beitrag von André Michels, Dogmatische Montagen als Herausforderung für die Psychoanalyse, S. 95-107.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
gnifiant ›Juif‹ chrétiennement«27 , lässt ihn »en catégorie juridique du droit romano-chrétien«28 in Erscheinung treten. Legendres zunächst etwas befremdlich anmutende Rede vom »Juden-Signifikanten«, die sich unmittelbar an Lacans Theorie der gleitenden Signifikantenkette anlehnt, erkennt in Justinian die Manifestation einer logischen Ordnung, der das Jüdische stets als das Andere unterworfen bleibe. Diese Position des Anderen handelt sich das Jüdische ein, da es ein dem christlichen Geist zuwiderlaufendes Prinzip des Buchstäblichen verkörpere. Den Vorwurf, den Justinian an die Juden richtet, lautet entsprechend: »les Juifs sont esclaves de la lettre.«29 Sklaven des Buchstaben seien die Juden, da sie im Unterschiedlich zur spirituell ausgerichteten christlichen Auslegung eine leiblich ausgerichtete Auslegung vertreten, die in der Praxis der Beschneidung ihren beredten Ausdruck finde. »L’horreur de la circoncision est à l’initiale de toute la législation chrétienne«30 , formuliert Legendre, um den christlichen Widerwillen zugleich auf die jüdische Praxis der Interpretation zu beziehen: »les Juifs interprètent le texte jusqu’à la castration.«31 In dem Maße, in dem er Christentum als eine industrielle Religion der modernen Macht begreift, die für die Fabrikation des abendländischen Menschen verantwortlich sei, erkennt Legendre im Blick auf die Geschichte des Rechts in der Psychoanalyse ein spät auftretendes Gegenkonzept, das als eine Art katastrophischer Counterpart zur christlichen Tradition fungiere: »Je pense que c’est sur ce terrain précisément que la psychanalyse intervient à la manière d’une catastrophe, comme rupture dans un tel système de pensée, dans la système de pensée romano-chrétien.«32 Im vom Christentum geprägten abendländischen Denken komme der Psychoanalyse die Rolle einer »panne à
27 28 29 30 31 32
Pierre Legendre, ›Les juifs se livrent à des interprétations insensées‹, S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 107. Ebd., S. 111. Ebd., S. 107. Ebd., S. 111f.
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l’échelle d’un système de pensée«33 zu, die eine Gegenposition zur Logik der Interpretationen eröffne, da sie auf eine andere, auf den Körper und nicht auf den Geist bezogene Form der Auslegung vertrete. Für Legendre ist das Jüdische zugleich mit einer bestimmten Form der Sprachauffassung und einem eigenen Verständnis von Textualität verbunden: »Autrement dit, la question juive représente la manière la plus radicale de poser la question : qu’est-ce qu’un texte, et finalement, qu’est-ce que parler?«34 Mit der Frage nach dem Text und dem Sprechen orientiert sich Legendre allerdings weniger an der historischen Begründung der Psychoanalyse im Werk Freuds als vielmehr an der Sprachtheorie Lacans, die seine eigene Begrifflichkeit in wesentlichen Teilen geprägt hat. Lacans Überlegungen zum Drängen des Buchstaben im Unbewussten bilden die Grundlage von Legendres Destruktion der abendländischen Rechtsgeschichte, da sie eine Wendung zur Sprache vollziehen, die auf der eigenen Ordnung des Buchstäblichen beharren. Legendre bereitet damit den Boden für eine kritische Diskussion der christlichen wie der jüdischen Auslegungspraxis, die Jacques Derrida in seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Recht und Übersetzung weiterverfolgen konnte. Die Gegenüberstellung von buchstäblicher und spiritueller Interpretation erkennt Derrida in Shakespeares The Merchant of Venice im Rahmen einer Dekonstruktion der Rechtsgeschichte am Werk, die zugleich die Frage aufwirft, inwiefern gerade die Übersetzer als Sklaven des Buchstabens gelten können.
33 34
Ebd., S. 96. Ebd., S. 97.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
2.
Sklaven des Buchstaben. Jacques Derrida und das Recht der Übersetzung
2.1
Von Übersetzern und Buchstabilisten
»…insensatis semetipsos interpretanionibus tradentes…: Les Juifs se livrent à des interprétations insensées.«35 Diese Aussage Justinians hat Pierre Legendre zum Ausgangspunkt einer Dekonstruktion der abendländischen Rechtsgeschichte genommen. Denn seiner Überzeugung zufolge beruht die christlich-abendländische Geschichte im Wesentlichen auf einer spirituellen Schriftauslegung, die in einem strukturellen Gegensatz zu einer somatischen Auslegung steht, wie sie das Judentum verkörpert. Legendre nimmt so Schleiermachers Kritik an der kabbalistischen Auslegung auf. Für Legendre fällt die Frage nach dem Jüdischen mit der grundsätzlichen Frage nach der Ordnung des Textes zusammen, eine Frage, die Schleiermacher ganz im Sinne der protestantischen Theologie als Überlegenheit des Geistes über den Buchstaben zu beantworten gesucht hatte. Legendre geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass »la question juive n’est rien d’autre que la question de la vérité, de la vérité textuelle, du lien de chacun, sujet de la parole et sujet politique, avec son texte«36 . Justinians Aussage, die Juden interpretierten verrückt, deutet er wie bereits ausgeführt als Ausdruck der Herrschaft des christlich-römischen Rechts und seiner Institutionen über eine spezifisch jüdische Textauslegung, der von Seiten des Rechts vorgeworfen wird, »une interprétation corporelle des textes«37 zu betreiben, die sie zu »esclaves de la lettre«38 werden lasse. Sklaven des Buchstaben, so ließen sich in den Augen vieler auch die Übersetzer bezeichnen: Als »Buchstabilisten« verspottete schon Martin Luther die Verfechter einer möglichst wortgetreuen Bibelübersetzung,
35 36 37 38
Ebd., S. 94. Ebd., S. 97. Ebd., S. 108. Ebd.
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die guten Katholiken wie die bösen Juden, denen er ausdrücklich vorwirft, dass sie »Christo nicht große Huld gezeigt haben – an sich wären Kunst und Fleiß da.«39 Dass Übersetzen eine Kunst ist, die nicht jeder beherrscht, war für Luther jedenfalls klar. Und so konnte er den Buchstabilisten auch selbstbewusst entgegenhalten: »Ich kann Psalmen und Propheten auslegen; das können sie nicht. Ich kann dolmetschen; das können sie nicht. Ich kann beten; das können sie nicht.«40 Für Luther kann nur derjenige Anspruch auf göttliche Erleuchtung geltend machen, der sich über den Buchstaben erhebt.
2.2
Für eine Poetik der Übersetzung
Wie sich den Auffassungen Luthers und Legendres entnehmen lässt, stellen sich mit dem Übersetzen grundsätzliche Fragen, die weit über die Frage der Buchstabentreue hinaus auf Begriffe wie Text, kulturelle Überlieferung und Geschichte verweisen. In seinem Aufsatz Qu’est ce qu’une traduction relevante? aus dem Jahr 1998 nimmt Jacques Derrida diese Perspektiverweiterung auf, um das Thema der Übersetzung in den Kontext allgemeiner rechtsphilosophischer Überlegungen zu stellen. Die Frage nach dem Recht einer wörtlichen Auslegung gegenüber der christlichen Privilegierung des Geistes diskutiert er anhand eines konkreten Beispiels, anhand der Figur des Juden Shylock aus Shakespeare The Merchant of Venice, die neben dem im Titel angezeigten Problem der hegelianischen Aufhebungsfigur damit zugleich zu etwas wie einem Prüfstein seiner eigenen Überlegungen zur Übersetzung wird. Dass es Derrida neben der Übersetzung um allgemeine rechtsphilosophische Überlegungen geht, wird schon zu Beginn seines Vortrags deutlich. Das einleitende Eingeständnis der eigenen Ohnmacht gegenüber dem Übersetzen, sein »aveu de faillite«41 , wie er es nennt, und die Eloge der Übersetzer als »les seuls à savoir lire et écrire : les traductrices 39 40 41
Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen, Stuttgart 1960, S. 164. Ebd., S. 156. Jacques Derrida, Qu’est-ce qu’une traduction relevante?, in : Quinzièmes Assises de la Traduction littéraire (Arles 1998), S. 21-49, hier S. 21.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
et les traducteurs« (TR, 21), sind daher mehr als nur der Bestandteil einer captatio benevolentiae, mit der er die Gunst seiner Zuhörer sichern möchte. Derrida geht es darüber hinaus um das philosophische Problem der Anerkennung von Schuld, um »la dette insolvable« (TR, 21) in einem allgemeinen Sinne, und mit dem Juden Shylock führt er die Figur ein, anhand derer er die generellen Probleme von Anerkennung, Schuld und Schulden zu erläutern versucht. Für Derrida schreibt sich das Problem der Übersetzung damit in übergreifende rechtsphilosophische und ökonomische Zusammenhänge ein, wie sie sein späteres Werk insgesamt kennzeichnen. Die Entgrenzung von Fragen der Übersetzung macht sich dementsprechend auch in anderen Schriften aus den neunziger Jahren bemerkbar. So bemerkt Derrida in Du droit à la philosophie: Or, cette structure traduisante ne commence pas, comme vous savez, avec ce qu’on appelle la traduction au sens courant. Elle commence dés que s’instaure un certain type de lecture du texte ›originale‹. Elle efface mais donne aussi à remarquer ce à quoi elle résiste et ce que lui résiste. Elle donne à lire la langue dans son effacement même : traces effacées d’un chemin (odos), d’une piste, chemin d’effacement. La translatio, la traduction, die Übersetzung est un chemin passant audessus ou au-delà du chemin de la langue, passant son chemin. La traduction passe son chemin, ici même.42 Derrida begreift das Übersetzen in einem erweiterten Sinne als einen sprachlichen wie rechtlichen Transfer, den er zugleich als Prozess der Auslöschung des Originals verstanden haben will. Eine kritische Auseinandersetzung mit Derridas Verständnis von Recht und Übersetzung sieht sich daher dazu aufgefordert, den keineswegs selbstverständlichen rechtsphilosophischen Grundlagen der Dekonstruktion nachzugehen, ohne doch die konkrete Frage nach dem Recht der Übersetzung aus den Augen zu verlieren. Denn die Frage, die sich an die Adresse der Dekonstruktion richten lässt, bezieht sich gerade auf das Verhältnis 42
Jacques Derrida, Le langage et les institutions philosophiques. Du droit à la philosophie II, Paris 1990, S. 309.
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zwischen den allgemeinen rechtsphilosophischen Fragen, denen Derridas Überlegungen folgen, und dem poetologischen Problem der Übersetzung, mit dem er konfrontiert ist. Ob die Rechtsphilosophie der Ort ist, von dem aus sich die Frage nach dem Recht der Übersetzung klären lässt, oder ob der philosophische Anspruch auf Klärung übersetzungstheoretischer Fragen im Kontext des Rechts nicht eine Überformung poetologischer Fragestellungen impliziert, ist das Problem, auf das es eine Antwort zu suchen gilt. In Frage steht das grundsätzliche Verhältnis einer Philosophie des Rechts, wie sie Derrida im Blick auf das Problem der Übersetzung formuliert, und einer Poetik des Übersetzens, wie sie etwa Henri Meschonnic entfaltet hat, um das Problem des Übersetzens als Ausgangspunkt für eine allgemeine Theorie der Sprache zu nutzen: Les problèmes du traduire ne sont autres que ceux de la théorie générale du signe, elle-même possible et nécessaire seulement comme une pensée d’ensemble du langage et de la littérature. Les problèmes du traduire mettent à nu les effets du signe. C’est en quoi la traduction est à la fois une poétique expérimentale et un poste d’observation unique pour la théorie du langage. Le rôle théorique de la traduction est de contraindre à reconnaître l’oralité, l’historicité, la modernité. Leur lien.43 Für Meschonnic, der in seinen Überlegungen zur Poetik im wesentlichen Vorgaben von Humboldt und Benveniste folgt, bildet das Problem der Übersetzung den Ansatzpunkt für eine kritische Reflexion der Sprache und der Literatur, die ihn mit Derrida verbindet und die sich doch in wesentlichen Punkten von den sprachtheoretischen Prämissen der Dekonstruktion unterscheidet. Meschonnic unterstreicht vor diesem Hintergrund »le rôle unique, et méconnu, de la traduction comme révélateur de la pensée du langage et de la littérature44 , eines Denkens der Sprache, das er ganz im Zeichen der Poetik sieht: »Le projet, faire la
43 44
Ebd., S. 56. Henri Meschonnic, Poétique du traduire, Lagrasse 1999, S. 10.
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traduction comme une poétique.«45 Mit der Frage nach dem Recht der Übersetzung steht für Meschonnic die nach dem Recht der Poetik auf dem Prüfstand – einer Poetik, die sich von der Herrschaft des Geistes über den Buchstaben, wie sie Luther und Schleiermacher gepredigt haben, ebenso freizumachen hat wie von dem scheinbar selbstverständlichen Anspruch der Philosophie, über das Recht der Sprache zu entscheiden. Das Problem der Übersetzung gerinnt Meschonnic so zum Prüfstein für ein Denken der Sprache, das an die Stelle einer Philosophie des Rechts und der Poesie eine Poetik der Philosophie setzt: »Il faut chercher une poétique de la philosophie«46 , lautet der Schluss, den Meschonnic aus seinen sprachtheoretischen Überlegungen zieht. In Meschonnics von Polemik nicht ganz freier Begrifflichkeit steht Derrida für eine Philosophie der Poetik ein, wo er selbst eine Poetik der Philosophie verfolgt, die ihren Anspruch aus dem inneren Zusammenhang von Poesie und Übersetzung gewinnt.
2.3
Derrida und die Kritik des Eigenen
Die Frage nach dem Recht der Übersetzung sieht sich so vor die Entscheidung gestellt, aus dem Recht heraus eine Bestimmung der Übersetzung zu gewinnen oder aus der Übersetzung eine Bestimmung des Rechts abzuleiten. Derrida versucht beides zu verbinden, indem er in den Mittelpunkt der Frage nach dem Recht wie der Übersetzung das Problem des Eigenen stellt. Sein Interesse liegt im Wesentlichen darin begründet, die Idee des Eigenen in rechtlicher wie in sprachlicher Hinsicht einer Kritik zu unterziehen, die sich in paradigmatischer Weise im Problem der Übersetzung offenbart. Derridas Überlegungen zum Recht der Übersetzung sind vor diesem Hintergrund Bestandteil einer allgemeinen Frage nach der Unmöglichkeit des Eigenen, die seine Rechts- und Sprachphilosophie wie ein roter Faden durchzieht. »Ce que j’ai du mal à l’entendre, c’est tout ce lexique de l’avoir, de l’habitude, de la possession d’une langue qui 45 46
Ebd., S. 11. Ebd., S. 71.
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serait ou ne serait pas la sienne, la tienne, par exemple«47 , formuliert er in dem autobiographisch geprägten Text Le monolinguisme de l’autre. Was ihn in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Phantasma einer von allem Fremden bereinigten Sprache leitet, ist die strikte Weigerung, einen solchen Bereich ursprünglicher Eigenheit überhaupt in seinem Recht anzuerkennen: »Tout ces mots : vérité, aliénation, appropriation, habitation, ›chez-soi‹, ipséité, place du sujet, loi etc. demeurent à mes yeux problématiques.«48 Derridas Sprachphilosophie ist von einer generellen Skepsis gegenüber einem ursprünglichen Begriff des Eigenen geprägt. Seine Kritik der Ursprünglichkeit des Eigenen findet ihr Pendant in der Idee einer nicht minder ursprünglichen Entfremdung: »une sorte d”aliénation‹ pure qui institue toute langue en langue de l’autre : l’impossible propriété d’une langue.«49 Zwar ist der marxistisch gefärbte Begriff der aliénation von ihm in Anführungszeichen gesetzt. Er dient jedoch zugleich dazu, einen paradigmatischen Ort des Unmöglichen anzuzeigen, um den Derridas rechtsphilosophische Reflexionen der achtziger und neunziger Jahren in verschiedenen Zusammenhängen ebenso kreisen wie seine Überlegungen zur Übersetzung: »Il y a de l’à-traduire«50 , formuliert er in dem Aufsatz Des tours de Babel, um das »l’à-traduire comme loi«51 zu begreifen, ein Gesetz, dass als unmögliches seine eigenen Grundlagen aushebelt. Mit dem Versuch der Bestimmung dieses unmöglichen Orts des Eigenen verbinden sich auch in Le monolinguisme de l’autre Fragen der Übersetzung und der Unübersetzbarkeit: »Rien n’est intraduisible, en un sens, mais en un autre sens tout est intraduisible, la traduction est un autre nom de l’impossible.«52 Die Übersetzung als ein anderer Name für das Unmögliche: Das Problem der Übersetzung rückt so in 47 48 49 50 51 52
Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse de l’origine, Paris 2016, S. 44. Ebd., S. 115. Ebd., S. 121. Jacques Derrida, Des tours de Babel. In: Psyche, Paris 1987, S. 203-235, hier S. 221. Ebd., S. 234. Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre, S. 103.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
den Kontext einer Ethik und Politik des Aporetischen, in der sich das Fremde und das Eigene bis zur Ununterscheidbarkeit durchdringen, einer Ethik und Politik, die auch Derridas allgemeine Überlegungen zu den Gesetzen der Gastfreundschaft bestimmen: »La question de l’étranger, n’est-ce pas une question d’étranger? Venue de l’étranger?«53 , mit diesen Fragen beginnt De l’hospitalité, so wie es schon in Le monolinguisme de l’autre heißt: »la lange est à l’autre, venue de l’autre, la venue de l’autre.«54 Und wie in Le monolinguisme de l’autre, so mündet auch die Idee einer absoluten und unbedingten Gastfreundschaft in De l’hospitalité in einer spezifischen Erfahrung des Unmöglichen, in einen Bruch mit dem Recht auf Gastfreundschaft: »La loi de l’hospitalité absolue commande de rompre avec l’hospitalité de droit, avec la loi ou la justice comme droit.«55 Was sich so wie ein roter Faden durch Derridas Rechtsphilosophie zieht, ist die Idee der Nichtursprünglichkeit des Eigenen, das immer schon durch das Fremde kontaminiert ist, und es ist diese voraussetzungsreiche Idee zur Ökonomie der Gastfreundschaft, die auch Derridas Überlegungen zum Problem der Übersetzung in Qu’est-ce que une traduction relevante? einleiten: »Car à peine vous aurais je remercié pour l’hospitalité dont vous m’honorez qu’il me faudra vous demander pardon, et, vous rendant grâce, implorer votre grâce, vous demander d’être pour moi merciful.« (TR, 22) Derrida nutzt die Einladung als Gast zu einem Übersetzerkolloquium, um grundsätzliche Fragen zu stellen, die um die Begriffe »hospitalité«, »pardon«, »grâce« et »merci« kreisen, ebenso wie um die des »aveu« und der »confession«, die der Text immer wieder aufruft. Dass er seinen Satz mit dem englischsprachigen »merciful‹ beendet, weist bereits darauf hin, dass er wie schon in Le monolinguisme de l’autre zugleich an einer bestimmten Idee der Vielsprachigkeit interessiert ist, um jede Idee einer ursprünglichen Reinheit der Sprache von Beginn an in Frage zu stellen. In mehr als einer Hinsicht sieht sich Derrida als Gast der Übersetzung, und diese Situation des
53 54 55
Jacques Derrida, De l’hospitalité, Paris 1997, S. 11. Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre, S. 127. Jacques Derrida, De l’hospitalité, S. 29.
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Gastes versetzt ihn zugleich in die Position eines Fremden – er ist kein Übersetzer wie die anderen –, der nach der Tragfähigkeit der Begriffe des Eigenen und des Fremden in der Sprache fragt. Wenn Benjamin zufolge »alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen«56 , dann schreibt sich auch Derridas Poetik der Übersetzung in eine solche Problematik der Anerkennung der Fremdheit der Sprachen ein: »Nous sommes d’entrée de jeu dans la multiplicité des langues et l’impureté de la limite.« (TR, 23)
2.4
Zwischen Wort und Geist: Derrida und Hegel
Derridas Überlegungen zum Problem der Übersetzung sind nicht allein von einer Dialektik des Eigenen und Fremden gekennzeichnet, wie sie bereits Friedrich Hölderlins Poetik entfaltet hat. Hölderlins dialektisch bestimmte Idee, dass »der f r e i e Gebrauch des E i g e n e n das schwerste«57 sei, weil das Eigene so gut gelernt sein muss wie das Fremde, radikalisiert Derrida bis zur Idee der völligen Auslöschung des Eigenen, das nur noch in der Form eines Ursprungsphantasmas einen Platz findet. An die Stelle einer Vermittlung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, wie sie Hölderlin im Blick hat, wenn er vom freien Gebrauch des Eigenen spricht, tritt bei Derrida so ein ursprungskritisches Denken, das sich gleichwohl aller dialektischer Vermittlungszusammenhänge enthalten will. Die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Dialektik, die in Derridas Überlegungen insbesondere im Blick auf Hegel zum Ausdruck kommt, verbindet sich mit einem zweiten Moment: der Tendenz zur Wörtlichkeit, die er mit Hölderlin und Benjamin teilt. Derrida konzentriert seine Analyse ganz auf »un exemple de mot« (TR, 23) und trifft damit eine Vorentscheidung, die ihn zugleich zu Benjamin zurückführt. Dass im Zentrum der Theorie der Übersetzung
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Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers. In: Gesammelte Schriften IV, Frankfurt a.M. 1980, S. 9-21, hier S. 14. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe II, S. 913.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
das Wort stehe, hatte Benjamin gerade im Blick auf Hölderlin in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers festgehalten: »Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers.«58 Derrida übernimmt die Fokussierung auf das Wort, wie sie Benjamin leitet, um sie in der Folge an einem konkreten Beispiel auszuführen. Das Beispiel, auf das er rekurriert, ist das titelgebende Wort »relevant«. Die Entscheidung, gerade den Ausdruck »relevant« in das Zentrum der Überlegungen zum Übersetzen zu stellen, ist keineswegs zufällig. Es geht an dieser Stelle nicht allein um den grundsätzlichen Status des exemplums als induktive Schlussform im Sinne von Aristoteles.59 Vielmehr wählt Derrida bewusst ein voraussetzungsreiches Beispiel aus, das selbst über einen philosophiegeschichtlichen wie über einen übersetzungstheoretischen Hintergrund verfügt: »Or ce mot ›relevant‹ il porte en son corps une opération de traduction en cours, je tenterai de le montrer; il est un corps de traduction, il souffre ou exhibe la traduction comme la mémoire ou le stigmate d’une passion ou, flottant au-dessus de lui, une aura ou une auréole de gloire.« (TR, 23) Eine Aura des Ruhms, so die von Selbstironie nicht freie Charakterisierung, trägt das Wort »relevant« als die von Derrida selbst in Umlauf gesetzte geläufige französische Übersetzung von Hegels Begriff der Aufhebung. In dem Maße, in dem sich die Hegelsche Dialektik insgesamt als eine Ökonomie der Aufhebung beschreiben lässt, der es darum geht, immer höhere Stufen des Bedeutsamen zu erzeugen, gibt die Auseinandersetzung mit der Übersetzung von »aufheben« als »relever« Derrida zugleich die Möglichkeit, Hegels Dialektik einer Kritik zu unterziehen,
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Ebd., S. 18. Vgl. Aristoteles: »Wie nun in der Dialektik im Hinblick auf wirkliches oder scheinbares Beweisen Induktionsbeweis, Syllogismus und scheinbarer Syllogismus existieren, so verhält es sich auch hier; denn das Beispiel ist ein Induktionsbeweis, das rhetorische Schlußverfahren (Enthymem) ein Syllogismus (und das scheinbare Enthymem ein scheinbarer Syllogismus). Ich nenne aber das E n t h y m e m einen rhetorischen Syllogismus und das B e i s p i e l (Paradeigma) eine rhetorische Induktion.« (Rhet. 1356b)
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die beim Problem der Übersetzung ansetzt. Derrida geht es im Wesentlichen darum, die Hegelsche Ökonomie der Aufhebung im Blick auf die Frage nach der Unübersetzbarkeit des deutschen Begriffs der Aufhebung außer Kraft zu setzen: »soumettre l’expérience de la traduction à l’épreuve de l’intraduisible« (TR, 25), lautet die Aufgabe, die er sich stellt. Wie bereits in Le monolinguisme de l’autre deutlich geworden ist, markieren die beiden in Widerspruch zueinander stehenden Überzeugungen, dass alles übersetzbar oder dass alles unübersetzbar sei, die beiden Extrempole, zwischen denen sich eine bestimmte Ökonomie entfaltet, die sich in einem kritischen Sinne als kultureller Prozess von wechselseitigen Aneignungen zu erkennen gibt. Eine relevante Übersetzung wäre in diesem Sinne zunächst einfach die angemessene, passende, am besten geeignete Übersetzung: »Une traduction relevante est une traduction dont l’économie, en ces deux sens, est la meilleure possible, la plus appropriante et la plus appropriée possible.« (TR, 26) Mit dieser Bestimmung rückt erneut die Frage nach dem Eigenen in den Mittelpunkt des Blickfeldes, und Derridas kritisches Interesse richtet dementsprechend auf die Frage, welcher Maßstab überhaupt herangezogen werden kann, um zwischen einer passenden und einer unpassenden Übersetzung zu unterscheiden: Seine Frage zielt auf »l’unité de mesure qui commande à la fois le concept classique de la traduction et le calcul qui s’y ordonne.« (TR, 27) Mit der kritischen Frage nach der »unité de mesure« geht Derrida zugleich auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs der Kritik selbst zurück, meint Kritik doch seit der Antike nichts anderes als die Beurteilung und Entscheidung von Sachfragen in ethisch-politischer, juristischer und nicht zuletzt philologischer Hinsicht:60 »Der Begriff der Kritik, der sich wortgeschichtlich aus dem griechischen Adjektiv κριτικός herleitet, wurde schon in der Antike im Sinne kunstmäßiger (philologischer) Textbeurteilung und in der Logik im Zusammen-
60
Vgl. G. Tonelli u. C. v. Bormann: Kritik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 4: I-K. Basel 1976, S. 1250.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
hang der Topik-Tradition verwendet.«61 Was mit der Frage nach dem Maßstab zur Prüfung der Übersetzung bei Derrida aufscheint, ist der ursprünglich philologisch bestimmte Zusammenhang zwischen Kritik und Übersetzung, zwischen der Beurteilung von Texten und Übertragungen, der bis heute das Geschäft des Kritikers ausmacht. Derridas Kritik fußt vor diesem Hintergrund wie bereits angedeutet in einer Poetik der Wörtlichkeit. Den gesuchten Maßstab für die Entscheidung zwischen einer guten und einer schlechten Übersetzung findet er im Wort: »La philosophie de la traduction, l’éthique de la traduction, s’il y en a, serait aujourd’hui une philosophie du mot, une linguistique ou une éthique du mot. Au commencement de la traduction, il y a le mot.« (TR, 27) Die Poetik, die Derrida in Qu’est-ce que une traduction relevante? entfaltet, gibt sich so als eine Philosophie des Wortes und im genaueren Sinn als eine Ethik zu erkennen, die bei der Frage der Unterscheidbarkeit des Guten und Schlechten ansetzt und diese jener Erfahrung des Unmöglichen aussetzt, in der er auch den Grund der Übersetzung erkennt. Derridas Überlegungen sind allerdings keineswegs selbstverständlich, und das gleich in einem doppelten Sinn. Denn zum einen bleibt der Vorrang des Wortes, der bei Benjamin wie auch immer voraussetzungsreich in den sprachtheoretischen Überlegungen Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen begründet ist, bei Derrida seltsam unausgewiesen. Zwar bezieht er sich in einem selbstironischen Gestus auf die eigene Übersetzung von Hegels Begriff der Aufhebung. Ob die Fokussierung auf ein Wort dem prozessualen Verlauf des dialektischen Denkens gerecht zu werden vermag, bleibt jedoch ebenso unbeantwortet wie die Frage, ob nicht andere Kategorien wie Satz, Periode oder Vers Alternativen zu der von Derrida angestrebten Poetik der Wörtlichkeit bieten. Gerade das Beispiel Hölderlins zeigt ja, dass eine Übersetzung, die sich um Wörtlichkeit bemüht, gar nicht am Wort selbst aus-
61
Kurt Röttgers: Kritik, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 3: H-Me. Stuttgart 1982, S. 651.
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gerichtet sein muss, sondern vielmehr syntaktische und rhythmische Probleme in den Blick nimmt, die über dem Wort stehen. Die kritische Frage, die sich darüber hinaus an Derridas Ethik der Übersetzung stellen lässt, richtet sich auf die offenkundige Überlastung des poetologischen Problems der Übersetzung durch allgemeine philosophische Fragen der Ethik und des Rechts. Aufschlussreich sind seine Überlegungen weniger im Blick auf allgemeine Fragen der Übersetzung als vielmehr im Blick auf seine Kritik der Grundlagen der idealistischen Philosophie. So bereitet schon die Wahl des titelgebenden Ausdrucks »relevant« die Dekonstruktion der Hegelschen Philosophie vor, die Derrida leitet: »Ce mot, ›relevant‹, ce participe présent en situation d’attribut, il se voit ici confier une tâche exorbitante. Non pas la tâche du traducteur, mais la tâche de définir, rien de moins, l’essence de la traduction.« (TR, 29) Das Wort »relevant«, von dem Derrida behauptet, »il garde aussi une obscure filiation germanique« (TR, 29), gerinnt zum Prüfstein für die Frage nach dem Recht der Übersetzung, und Derrida hat zweifellos recht, wenn er hier ironisch von einer »tâche exorbitante« spricht: Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als um das Wesen der Übersetzung, um eine philosophische Wesensbestimmung, die im Zeichen des Unmöglichen steht und ihren idealen Gegenstand nicht in der Philosophie selbst findet, sondern im Wort der Dichtung, in diesem Fall in Shakespeares The Merchant of Venice.
2.5
Shakespeare und die List der Vergebung
In ähnlicher Weise wie im Fall Hegels, wo sich Derridas Ausführungen auf den einen, gleichwohl zentralen Begriff der Aufhebung konzentrieren, ist seine Vorgehensweise im Blick auf den Merchant of Venice selektiv. Die Auseinandersetzung mit The Merchant of Venice ist ganz auf die Figur des Shylock fokussiert, eine Figur, die es Derrida erlaubt, in ähnlicher Weise wie Legendre nach den unterschiedlichen Auslegungstechniken des Christentums und des Judentums zu fragen. In der kritischen Perspektive, die Derrida entfaltet, sieht sich bei Shakespeare mit Shylock die jüdische Tradition einer spezifisch christlichen Ökonomie der Gabe und der Vergebung gegenüber, wobei im Scheitern der
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
Rechtsansprüche Shylock zugleich die allgemeinen Aporien der Rechtsverhältnisse zum Ausdruck kommen, die Derrida diskutiert. Die Auflösung des Konfliktes, der im Mittelpunkt des Dramas steht, mit der abschließenden Niederlage Shylocks ist so keineswegs als Aufhebung im Hegelschen Sinne zu verstehen, die beiden Seiten ihr Recht gibt, sondern als Zurückweisung der im Sinne Legendres verrückten jüdischen Interpretation des Gesetzes, die auf einer im wörtlichen Sinne »leiblichen« Auslegung beruht. Auch Derridas Überlegungen zu Shakespeare entspringen einem rechtsphilosophischen Interesse. Die Deutung der Tragödie, die er in Qu’est-ce qu’une traduction relevante? entwickelt, entspricht den Vorgaben, die er bereits in seiner Vorlesung Le parjure et le pardon aus dem Jahr 1997/98 formuliert hat. Schon dort erkennt er in The Merchant of Venice »un traité théologico-politique du pardon« und »une pièce sur le serment et sur le parjure«62 , und schon dort etabliert er einen Zusammenhang zwischen Shakespeare und Hegel, indem er Pardon und Aufhebung aufeinander bezieht: »Le pardon est une relève, il est en son essence Aufhebung.«63 Derrida neigt dazu, in der Tragödie Shakespeares ein theologisch-politisches Traktat zu erkennen, das die unterschiedlichen Rechtsansprüche der jüdischen und der christlichen Auslegung des Gesetzes diskutiert, und er wirft Shakespeare vor diesem Hintergrund keineswegs vor, mit der Figur des Shylock antisemitische Vorurteile zu bedienen, sondern spricht ihm im Gegenteil zu, so deutlich wie vielleicht nie zuvor die christliche Rhetorik des Antisemitismus vor Augen geführt zu haben: »Shakespeare, lui qu’on a accusé d’antisémitisme pour cette pièce qui en tout cas décrit et met en scène avec une puissance inégalée tous les grands ressorts de l’antijudaïsme chrétien.«64 Nicht anders als Hegel die griechische Tragödie begreift Derrida das Drama Shakespeares als Ausdruck der Kollision unterschiedlicher Rechtsansprüche und damit die Dichtung als den Schauplatz, an
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Jacques Derrida, Le parjure et le pardon. Volume I. Séminaire (1997-1998), Paris 2019, S. 79. Ebd., S. 97. Ebd., S. 90.
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dem philosophische – in diesem Fall theologisch-politische – Problemzusammenhänge auf der Bühne verhandelt werden. Die Einsicht, dass Fragen der Ökonomie und des Rechts im Mittelpunkt von Shakespeares The Merchant of Venice stehen, ist nicht neu. Im Drama geht es im Wesentlichen um das ökonomische Risiko, das mit der Seefahrt verbunden ist. Vor diesem Hintergrund hat Burkhardt Wolf auf den Zusammenhang von Seegefahren und Risikohandeln hingewiesen und den titelgebenden Ausdruck seiner Untersuchung Fortuna di mare auf »den neuzeitlichen Doppelsinn als riskante Unternehmung und als maritimes Abenteuer«65 bezogen. Wolf kann sich in diesem Zusammenhang auf die sprachgeschichtlichen Ursprünge des Wortes Risiko berufen. Der Begriff stammt aus dem Italienischen, findet zunächst »im Seeversicherungswesen Verwendung«66 und setzt sich seit »dem 15. Jh. als Begriff aus der Kaufmannsprache für ›pekuniäres Wagnis im Handelsgeschäft‹ bzw. für ›zu vergegenwärtigende Gefahr‹ in Mittel- und Westeuropa durch.«67 Der Begriff des Risikos, den Wolf Shakespeares Drama zugrunde legt, verfügt so von Beginn an über eine ökonomische Bedeutung.68 Wie Otthein Rammstedt festhält, hat er seinen eigentlichen Ort vor allem in Ökonomie und Volkswirtschaftslehre, in Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie: »R. bezeichnet einerseits – als Gefahr – den zu vergegenwärtigenden Schaden bei mißlichem Ausgang eines Handels wie andererseits – als Wagnis – die Vergegenwärtigung der Ungewißheit eines erwarteten Ausgangs des Handels.«69 Mit dem Risiko, das mit der Seefahrt verbunden ist, geht dementsprechend die Notwendigkeit von Schutzmechanismen einher, die das Versicherungswesen erfüllt. »Die Versicherung ist mithin aus dem Meer
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Burkhardt Wolf, Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt, Zürich-Berlin 2013, S. 14. Otthein Rammstedt: Risiko, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 8: R-Sc, Darmstadt 1992, S. 1045. Ebd. So notiert Rammstedt, der Begriff sei zunächst »dem Ökonomischen vorbehalten« gewesen. Ebd., S. 1046. Ebd.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
geboren«70 , stellt Wolf fest, um so den inneren Zusammenhang zwischen dem neuzeitlichen Risikobegriff und der Geburt des modernen Versicherungswesens hervorzuheben. Wie eng der Zusammenhang zwischen Shakespeares The Merchant of Venice und dem frühneuzeitlichen Risikodenken ist, das sich mit der Seefahrt verbindet, zeigt schon der Beginn des Dramas. So versichert Antonio eingangs, dass er sich gegen das Risiko, die Schiffe auf offener See zu verlieren, gut abgesichert habe: »My ventures are not in one bottom trusted,/Nor to one place«71 . Auf die drohende Gefahr des ökonomischen Verlustes reagiert Antonio mit einer Verteilung der Risiken, die jeden möglichen Schaden begrenzen würde. Mit dem Risikodenken der Frühen Neuzeit geht die Geburt eines ökonomischen Denkens einher, das im Wesentlichen auf mathematischem Kalkül von Wahrscheinlichkeiten beruht. In die Dialektik von Risiko und Versicherung ist auch der Handel mit Shylock eingebunden, den Bassanio anstrengt, um die Hand Portias zu erringen. Antonio hat zwar all seine Besitztümer auf der See verteilt, gibt aber gegen die Gebote ökonomischen Risikodenkens seinem Freund Bassanio bei Shylock unbegrenzt Kredit. Das Geschäft mit Shylock dreht sich so ganz um die Möglichkeit der Versicherung gegen einen drohenden Schaden, der im Drama im Wort der assurance seinen Ausdruck findet: »Be assur’d you may« (I.3.26), sagt Bassanio über Antonios Kreditwürdigkeit, und Shylock antwortet entsprechend: »I will be assured I may« (I.3.27). Das Pfund Fleisch, das er für den Fall einfordert, Antonio könne seinen Kredit nicht bezahlen, ist das Äquivalent für den Einsatz der Versicherung, der droht, sobald der Risikofall wirklich eintritt. Das Wagnis der Seefahrt, die The Merchant of Venice entfaltet, verbindet sich im Drama mit dem der Liebe, die am Ende den Sieg davonträgt.
70 71
Burkhardt Wolf, Fortuna di mare, S. 115. William Shakespeare, The Arden Shakespeare. Third Edition. The Merchant of Venice. Edited by John Drakakis, London 2010, I.1.41-42. Im Folgenden alle Zitatnachweise in Klammern im Text.
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Die ganz und gar unwahrscheinliche Wendung, dass alle Schiffe verloren zu gehen scheinen, entspricht dem Risiko, das Bassanio eingeht, als er sich in der Werbung um Portia für das unscheinbare bleierne Kästchen entscheidet: »›Who chooseth me must give and hazard all he hath‹« (II.7.9), hatte Portia ihn gewarnt. Auch die Liebe ist ein Risikospiel, und auch sie eins, in dem es um alles oder nichts geht. Von »riskanten Partnerschaften«72 spricht Wolf daher auch. Als Bassanio das Portrait Portias findet, reagiert er entsprechend: »I come by note to give and to receive« (III.2.140). To come by note, ein Ausdruck, der im ökonomischen Sinne des Kreditwesens eine Abmachung über eine geschuldete Geldsumme meint, stellt den Liebeskontrakt in den Zusammenhang eines ökonomischen Tausches, »to give and to receive«, der das Wagnis der Liebe und das des Kredits miteinander verbindet. Derridas Überlegungen zur Figur des Shylock setzen ebenfalls bei ökonomischen Fragen an, ohne allerdings im näheren auf den historischen Zusammenhang von Seefahrt, Risikodenken und Versicherungswesen einzugehen: Ihm zufolge geht es im Drama um »une reconnaissance de dette« (TR, 30), um die Anerkennung von Schulden, die wie bereits in seiner Vorlesung Le parjure et le pardon angesprochen zugleich mit sprachlichen Formen des »serment« und »parjure« (TR, 31) verbunden sei. Es sind die rechtlichen Begriffe des Eids und des Meineides, der Schuld und der Vergebung, die im Zentrum von Derridas Überlegungen stehen. So kulminiert sein Shakespeare-Referat in der Übersetzung der Sentenz »when mercy seasons justice« in »quand le pardon relève la justice (ou le droit)« (TR, 41), ein Übersetzungsvorschlag, den er bereits in seiner Vorlesung vorgenommen hatte.73 Damit kehrt Derrida zugleich zu dem Ausgangsproblem seiner Überlegungen, zu der Frage nach der Übersetzung im Kontext der Hegelschen Ökonomie der Aufhebung, zurück: Er wiederholt den Satz aus Le parjure und le pardon, demzufolge Pardon und Aufhebung identisch sind, und setzt dem den Begriff der Übersetzung hinzu: »Le pardon est une relève, il est en son essence Aufhebung. Et aussi traduction.« (TR, 44) An keiner Stelle des 72 73
Burkhardt Wolf, Fortuna di mare, S. 97. Vgl. Jacques Derrida, Le parjure et le pardon, S. 96.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
Textes wird wohl deutlicher, dass die Ausführungen zur Übersetzung kaum mehr als ein Anhängsel zu Derridas allgemeinen Überlegungen zum Zusammenhang von Pardon und Aufhebung sind: Der Zusatz »Et aussi traduction« ist eine reine Addition zu den Thesen, die Derrida bereits in seiner Vorlesung entwickelt hatte. Ihm geht es darum, in Übereinstimmung mit seinen Thesen zum Verhältnis von Gnade und Recht die ökonomischen Grundlagen der Vergebung offen zu legen, die sich bei Shakespeare in der Konfrontation der Christen Antonio, Bassanio und Portia mit dem Juden Shylock ergeben. »J’analyse seulement la donnée historique et al.légorique de cette situation et toutes les ressources discursives, logiques, théologiques, politiques, économiques de ce concept de pardon« (TR, 45), so lautet der Anspruch, den Derrida im Blick auf die Ethik der Vergebung bei Shakespeare formuliert. Seine Lesart läuft darauf hinaus, mit Shakespeare die christliche List offenzulegen, die den Juden Shylock übervorteilt und ihm zum Schluss des Dramas all seine Rechte nimmt. Derridas Interpretation des Dramas konzentriert sich so ganz auf die Auslegung der Vereinbarung, die Shylock und Antonio getroffen haben. Im Merchant of Venice erfolgt sie im Rahmen einer in das Drama eingebauten theatralen Szene, des Auftritts der verkleideten Portia als Richter über Shylock und Antonio. Während sich Shylock darauf beruft, ein vertraglich gesichertes Recht auf ein Pfund Fleisch von Antonios Körper zu besitzen, löst Portia die verzwickte Situation, indem sie Shylock nach dessen eigenen Vorgaben darauf festlegt, ohne Blut zu vergießen nicht mehr als genau ein Pfund zu nehmen. Da er ihrer Bitte nicht nachkommen kann, verliert er seinen Rechtsanspruch, letztlich sogar den auf seine eigenen Besitztümer und das eigene Leben, das ihm nur unter der Bedingung geschenkt wird, dass er zum Christentum konvertiert. Derrida erkennt in diesem komplizierten Handel eine bestimmte Ökonomie wieder, die der der Übersetzung gleicht: »N’est pas ce que fait une traduction ? Est-ce qu’elle n’assure pas ces deux survies en perdant la chair au cours d’une opération de change ? en élevant le signifiant vers son sens ou sa valeur, mais tout en gardant la mémoire endeuillée et endettée du corps singulier, du corps premier, du corps unique qu’elle élève et sauve et relève ainsi ?« (TR, 46f.) Die Logik
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der Vergebung, die Shakespeare inszeniert, sichert das Überleben von Antonio wie das von Shylock, der im Rechtsprozess allerdings das ihm vertraglich zugesicherte Pfund Fleisch wie seine gesamten Rechtsansprüche verliert. Die Aufhebungsbewegung, die Shylock gegen seinen Willen zum Christen werden lässt, deutet Derrida in diesem Kontext als eine List der Auslegung, die vom Buchstaben des Gesetzes, dem Vertrag, auf den Shylock sich beruft, zum heiligen Geist führt, zur erzwungenen Konversion des Juden zum Christen, indem sie den Buchstaben des Gesetzes auf Shylock selbst zurückwendet: Gerade weil er sich weigert, im Fall Antonios Gnade vor Recht ergehen zu lassen, bleibt Shylock vom christlichen Prinzip der Vergebung ausgeschlossen und sieht sich dem Buchstaben des Gesetzes ausgeliefert, auf den er sich selbst berufen hatte. Was der Dekonstruktion vor diesem Hintergrund aufgegeben bleibt, ist eine Form der Trauerarbeit, »un travail de deuil« (TR, 47), die die christliche Ökonomie der Aufhebung kritisch hinterfragt: La mesure de la relève ou de la relevance, le prix d’une traduction, c’est toujours ce qu’on appelle le sens, voire la valeur, la garde, la vérité comme garde (Wahrheit, bewahren) ou la valeur du sens, à savoir ce qui, se libérant du corps, s’élève au-dessus de lui, l’intériorise, le spiritualise, le garde en mémoire. (TR, 47) Die Trauerarbeit der Dekonstruktion richtet sich gegen die Herrschaft des Sinns gegenüber dem materiellen Träger der Bedeutung, gegen den christlichen Geist, der sich, wie Shakespeares Drama zeigt, erfolgreich über den jüdischen Körper erhebt.74 Derrida nutzt die Überlegungen zur Übersetzung damit in ähnlicher Weise wie Legendre zu einer Kritik an der vom Christentum installierten Rechtsphilosophie, derzufolge die Juden verrückt interpretieren, weil sie Sklaven des Buchstabens seien, allerdings mit der Pointe, dass es gerade die Christin Portia ist,
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»In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller Sinn und alle Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind.« Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, S. 19.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
die die buchstäbliche Auslegung des Gesetzes auf den Juden Shylock anwendet, um ihn mit dem Wahnsinn seines eigenen, auf den Körper Antonios gerichteten Rechtsanspruches zu konfrontieren. Derrida geht es dabei keineswegs um eine Aufwertung der Position Shylocks, sondern vielmehr um den von diesem in Prozess gesetzten Gang der Aufhebung des Körpers in einer spirituellen Bewegung der Verinnerlichung des Geistes, in dem er eine »immense allégorie« (TR, 34), eine Allegorie der christlichen Geschichte der Vergebung erkennt.
2.6
Sklaven des Buchstaben? Übersetzung und différance
Sklaven des Buchstaben: In der Spannung zwischen einer buchstäblichen und einer geistigen Auslegung sieht Derrida das Grundproblem des Rechts der Übersetzung: »Ce rapport de la lettre à l’esprit, du corps de la littéralité à l’intériorité idéale du sens est aussi le lieu du passage de la traduction, de cette conversion qu’on appelle traduction.« (TR, 31) Sie ist verantwortlich für die Zwangskonversion Shylocks zum Christentum, in der sich der Vorrang des Geistes vor dem Buchstaben bestätigt, »quand on s’endeuille de la lettre pour sauver le sens.« (TR, 31) Derrida erkennt eine Parallele zwischen der von Shakespeare in seinem Drama in Szene gesetzten Konversion des Juden zum Christentum und der Trauer um den Buchstaben zur Rettung des Sinns. Die Aufhebung des Buchstabens im Geist führt zu einer Herrschaft der spirituellen Innerlichkeit über die scheinbare Äußerlichkeit des Körpers, die der Dekonstruktion des Geistes, die Derrida in Qu’est-ce qu’une traduction relevante? Im Blick auf Hegel vornimmt. Derridas Überlegungen zur Übersetzung schreiben sich so in einen rechtsphilosophischen Kontext ein, der in ähnlicher wie schon Legendre im Anschluss an Lacan auf dem Drängen des Buchstaben im Unbewussten der abendländischen Rechtsgeschichte insistiert – einem Drängen, das sich auf den Stachel des Fleisches im Reiche des Geistes berufen kann. Das Problem der Übersetzung ist so in die allgemeinen rechtsphilosophischen und sprachtheoretischen Überlegungen eingebunden, die Derridas Begriff der Dekonstruktion leiten: »Je parlerai,
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donc, d’une lettre«75 , so beginnen seine grundsätzlichen Überlegungen zum Status der différance im philosophischen Denken. Die Übersetzung der Buchstäblichkeit in eine Logik des Signifikanten, die die Dekonstruktion mit der Lacanschen Psychoanalyse und der Legendreschen Rechtsphilosophie teilt, dient der radikalen Infragestellung der Hegemonie des Sinns, wie sie die christliche Hermeneutik in ihrer Schleiermachschen Ausprägung und die idealistische Philosophie des Geistes seit Hegel leitet. So nachvollziehbar der kritische Impuls von Derridas Reflexionen vor diesem Hintergrund erscheinen mag, so sehr sind ihm Grenzen eingeschrieben, die in der Ethik des Unmöglichen begründet liegen, der auch die übersetzungstheoretischen Überlegungen aus Qu’est-ce qu’une traduction relevante? folgen. Sie beruhen auf der ganz und gar kontraintuitiven Idee, »selon laquelle le pardon, s’il y en a, ne doit et ne peut pas pardonner que l’impardonnable, l’inexpiable, et donc faire l’impossible.«76 Es ist diese grundlegende Aporie – Derrida nennt sie selbst »formellement vide et sèche«77 –, die seine Überlegungen zum Recht wie zur Übersetzung leitet. Vor diesem Hintergrund ist es nicht allein die Überlagerung von Fragen der Übersetzung durch rechtsphilosophische Zusammenhänge, die kritische Fragen aufwirft. Mehr noch ist es die Überformung von Derridas rechtsphilosophischen wie übersetzungstheoretischen Überlegungen durch eine von vorneherein aporetisch angelegte Ethik des Unmöglichen, die seinem Unterfangen Grenzen einschreibt. Denn so sehr sie die Innerlichkeit des Sinns bestreitet, so sehr bleibt sie in der Verweigerung gegenüber allen dialektischen Vermittlungsversuchen abhängig von der Opposition von Buchstabe und Geist, die sie doch überschreiten möchte. Damit stellt sich zugleich die Frage, ob Derridas Ethik des Unmöglichen wie Legendres Rechtsphilosophie der geeignete Ort für die von ihnen verfolgte Kritik an historischen Herrschaftsformen des Geistes sind. Eine
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Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 3. Jacques Derrida, Le parjure et le pardon, S. 42. Ebd.
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mögliche Alternative bietet vielmehr gerade das Denken auf, das behutsamer mit dem Buchstaben des Geistes umgeht als die idealistische Ökonomie der Aufhebung und ihre buchstabentreue Dekonstruktion, die philologische Kritik, deren Aufgabe darin bestünde, ganz im Sinne Meschonnics von der Übersetzung zu einer Poetik zu gelangen, die dem Buchstaben wie dem Geist gleichermaßen gerecht zu werden vermöchte: »Faire paraître, par l’observation du traduire, ce qui est entendu par poétique.«78
3.
Unheimliche Übertragungen. Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit bei Paul Celan
3.1
Zwischen Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit
In ähnlicher Weise wie im Werk Friedrich Hölderlins zeigt sich die Tendenz zur Buchstäblichkeit in dem Paul Celans besonders deutlich in seinen Übertragungen. Dass Celans Dichtung sich insgesamt in einer großen Nähe zu der Hölderlins bewegt, ist von der Forschung häufig hervorgehoben worden.79 So hat Bernhard Böschenstein in verschiedenen Publikationen immer wieder darauf hingewiesen, dass Celans Berufung auf das »Gegenwort« Lucindes aus der Meridian-Rede in einer unmittelbaren Nachfolge von Hölderlins Begriff der »gegenrhythmischen Unterbrechung«80 aus den Sophokles-Anmerkungen steht. Am Beispiel des Hölderlingedichts Tübingen, Jänner und dem Hinweis »und
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80
Henri Meschonnic, Poétique du traduire, S. 10. Von einer »Nähe zu Hölderlin« in diesem Sinne spricht schon Axel Gellhaus, Fergendienst. Einleitende Gedanken zum Übersetzen bei Paul Celan. In: ›Fremde Nähe‹. Celan als Übersetzer. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich im SchillerNationalmuseum Marbach am Neckar und im Strauhof Zürich, Marbach am Neckar 1997, S. 9-16, hier S. 15. Bernhard Böschenstein, Hölderlin und Celan. In: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a.M. 1988, S. 191-200, hier S. 193f.
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zackere an/der Königszäsur/wie Jener/am Pindar«81 aus dem späten Gedicht Ich trink Wein macht Böschenstein eine Verwandtschaft beider Dichter fest, die sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gerade in der Übersetzungsarbeit bemerkbar macht. Was beide, Hölderlins wie Celans Übersetzungen auszeichnet, ist eine Spannung zwischen Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit, die zugleich darauf verweist, dass die Ähnlichkeit zwischen beiden Dichtern weniger in Themen und Inhalten als vielmehr in poetischen Verfahrensweisen zu suchen ist. Das Gezackere am Pindar, dem sich der nach biographischen Zeugnissen »halbverrückte«82 Hölderlin in seiner zweiten Homburger Zeit hingegeben hat, findet in Celans Übersetzungen aus dem Französischen und dem Russischen eine Fortsetzung wie eine Umformung. Die Übersetzungsarbeit als integraler Bestandteil seiner Poetik kann so auf die Affinitäten wie die Differenzen zwischen Hölderlins und Celans Intention auf die Sprache verstanden werden. Die Forschung zu Celans Übersetzungen hat schon früh darauf hingewiesen, dass sich seine Arbeiten in unterschiedliche Phasen einteilen lassen, die zugleich von einem unterschiedlichen Verhältnis zur Wörtlichkeit zeugen. So hat Leonard Olscher in seiner Studie Der feste Buchstab83 drei aufeinanderfolgende Perioden erkennen wollen, die Florence Pennone in ihrer Arbeit zu Celans Übersetzungspoetik noch einmal knapp zusammenfasst hat: »Tatsächlich weisen Celans Übersetzungen in ihrer Abfolge starke stilistische Unterschiede auf, die sich systematisieren lassen. Man könnte von zwei entgegengesetzten Entwicklungslinien oder Tendenzen sprechen: einer Tendenz zu einer immer größeren Freiheit gegenüber dem Original, die im Laufe der fünfziger Jahre bis etwa 1961 zunimmt, und einer sie ablösenden zweiten Tendenz zur wörtlichen Übersetzung, die sich insbesondere in den späten sechziger Jahren geltend macht.«84 Während sich die frühen 81 82 83 84
Paul Celan, Gesammelte Werke. Zweiter Band, Frankfurt a.M. 1986, S. 108. Vgl. Bernhard Böschenstein, Hölderlin und Celan, S. 191. Leonard Olschner, Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Übertragungen, Göttingen 1985. Florence Pennone, Paul Celans Übersetzungspoetik. Entwicklungslinien in seinen Übertragungen französischer Lyrik, Tübingen 1997, S. 10.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
Übersetzungen Celans um eine außerordentliche Wörtlichkeit bemühen, entfernen sich die Übersetzungen der fünfziger Jahre zugunsten einer größeren dichterischen Freiheit von den übersetzten Texten, einer Freiheit, die dann durch die Begegnung mit dem Werk Mandelstams wiederum durch eine größere Suche nach Wörtlichkeit abgelöst wird. Celans Übersetzungen schreiben sich damit in jene Dialektik ein, die schon Hölderlins Arbeiten gekennzeichnet haben: Der Suche nach einer möglichst treuen Wiedergabe der Vorlage korrespondiert – in diesem Fall zeitlich versetzt – eine ebenso große Eigenständigkeit, die in beiden Fällen, dem Hölderlins wie dem Celans, zu dem Vorwurf geführt hat, in ihren Übertragungen wäre weniger die Stimme der übersetzten Dichter als vielmehr die eigene vernehmbar: So wie es in den Gedichten einen unverkennbaren Hölderlin-Klang gibt, so gibt es einen ebenso unverkennbaren Celan-Klang, der sich auch in den Übersetzungen bemerkbar macht. Vor diesem Hintergrund hat Pennone zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass die Übersetzungsarbeit keineswegs nur einen peripheren Ort in Celans Schreiben markiert, sondern mit seiner Dichtung wie Poetik eng verwoben sei. Sie spricht in diesem Zusammenhang im Blick auf Bachtin von einer Poetik des Dialogs und betont: »Übersetzungspoetik und eigene Poetik sind bei Celan unzertrennlich verbunden, mehr noch: Sie entwickeln sich bis 1960 parallel zueinander«85 . Nicht nur wäre eine Auseinandersetzung mit Celans Poetik, die die Übertragungen außer Acht ließe, unvollständig: Die Übersetzungen bieten vielmehr einen eigenen Zugang zu Celans Dichtung und Poetik, innerhalb dessen der Spannung von Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit ein besonderes Gewicht zukommt. Denn wie schon Peter Szondi im Blick auf den Beginn von Engführung hervorgehoben hat, verfügt Cel-
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Ebd., S. 46. Ähnlich urteilt auch Axel Gellhaus, der meint, »daß das Übersetzen die andere Seite des einen, immer zugleich rezeptiven und produktiven Verhältnisses zur Literatur repräsentiert, untrennbar vom Wesen der eigenen Dichtung und biographisch fast gleichzeitig mit ihr erscheinend.« Axel Gellhaus, Fergendienst, S. 9.
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ans Dichtung in der ihr eigenen Präzision über eine sehr besondere Beziehung zur Ordnung des Wörtlichen bzw. des Buchstäblichen: Die Szenerie ist eine Landschaft, aber eine, die beschrieben wird als eine g e s c h r i e b e n e: das Gras ist auseinandergeschrieben. Eine traditionelle Textauslegung, der traditionellen Rhetorik verhaftet, würde zweifellos sagen, das Gras der Landschaft werde mit Buchstaben v e r g l i c h e n, und die Analogie zwischen dem einen und dem anderen (nach der aristotelischen Definition der Metapher) gestatte dem Dichter, zu schreiben: Gras, auseinandergeschrieben, und dem Leser, zu verstehen: dies Gras gleiche in Buchstaben aufgelösten Gebilden. Doch geht es ›wortwörtlich‹ nicht um Buchstaben – und was wäre der poetische Text anderes als die Textur des Wortes? –, sondern durchaus um Gras. Vom Gras heißt es, es sei auseinandergeschrieben. Mit anderen Worten: die Gräser sind zugleich Buchstaben, und die Landschaft ist Text.86 Szondi deutet Celans Gedicht im Kontext einer Sprachauffassung, die an die Stelle metaphorischer Analogie – dem Vergleich von Gras und Buchstabe – auf Identität setzt: Die Gräser seien Buchstaben, meint Szondi nicht allein, um die textuelle Struktur des Gedichtes im Zeichen der damaligen Allianz zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik herauszuarbeiten, sondern um zugleich auf den Wirklichkeitsbezug von Celans Gedichten hinzuweisen, der sich eben nicht in metaphorischen Analogien erschöpfe. Vielmehr eröffne gerade die in Celans Gedichten aufscheinende Buchstäblichkeit die Möglichkeit von Sprachspielen, die mehr sein wollen als eine bloß kunstfertige Artistik. Was die auf Buchstäblichkeit dringende Lektüre Celans entdeckt, ist weniger die der metaphorischen Übertragung eigene poetische Schönheit als vielmehr ein Bereich des Fremden und Unheimlichen, für den in Engführung wie in anderen Gedichten eine buchstäbliche, in diesem Fall anagrammatische Ordnung einsteht, die im Gras zugleich den Sarg mitliest und das Gedicht so als den Versuch ausweist, im Medium einer nichts beschönigenden poetischen Sprache jenseits der Metapher 86
Peter Szondi, Schriften II. Frankfurt a.M., S. 347.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
zu dem wirklichen Ort vorzudringen, an dem die Eltern gestorben sind. Die Buchstäblichkeit bei Celan in Engführung verweist so auf einen Tiefenbereich, der nicht anders als bei Hölderlin beständig um die Themen Schmerz, Abschied und Tod kreist. Celans Dichtung ist vor diesem Hintergrund nicht nur häufig mit der Hölderlins, sondern ebenso mit der Mallarmés verglichen worden. Ute Harbusch spricht in diesem Zusammenhang gar von einem »Mallarmé-Paradigma in der Celan-Literatur«87 – und das, obwohl Mallarmé in der Bibliothek Celans mit zehn Titeln nur relativ gering vertreten gewesen sei.88 Nicht nur die bescheidene Präsenz Mallarmés in seiner Bibliothek spricht gegen eine allzu große Annäherung Celans an den französischen Symbolisten. Hatte Gerhard Neumann noch im Blick auf den Begriff der »absoluten Metapher« Celan und Mallarmé in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt,89 so ist Hendrik Birus »Celans prinzipiellen Reserven gegen die Metapher«90 nachgegangen, um vorzuschlagen, seine Dichtung »zunächst einmal ganz wörtlich, statt als ›absolute Metapher‹«91 zu verstehen. Angesichts der dezidierten Kritik der Metapher, die in Celans Dichtung am Werk sei, stellt Birus eine für die Auseinandersetzung mit seinem Werk ebenso einfache wie weitreichende Frage: »Wäre es da nicht einfacher, es so ohne Umschweife mit einer möglichst wörtlichen Interpretation, wenn nicht einem Buchstabieren von Celans Lyrik zu versuchen«92 ? Birus geht in seiner Kritik damit nicht nur in die umgekehrte Richtung Neumanns. Wenn er gegen die Arbitrarität des Zeichens eine »radikale Semantisierung solcher Zufälligkeiten der Sprache bis hinunter zu den
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Ute Harbusch, Gegenübersetzungen. Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten, Göttingen 2005, S. 58. Ebd., S. 88. Vgl. Gerhard Neumann, Die ›absolute‹ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphan Mallarmés und Paul Celans, in: Poetica 3 (1970), S. 188-225. Hendrik Birus, Celan – wörtlich. In: Gerhard Buhr/Roland Reuß (Hg.): Paul Celan ›Atemwende‹. Materialien, Würzburg 1991, S. 125-166, hier S. 129. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132.
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kleinsten Elementen«93 erkennt, dann öffnet er zugleich den Blick auf eben jene Ordnung des Buchstäblichen, der Celans Aufmerksamkeit gerade auch in seinen Übertragungen galt.
3.2
Der irre Wind der Übertragung. Celan und Apollinaire
Ist seit den sechziger Jahren Mandelstam der privilegierte Ansprechpartner von Celans Poetik und Übersetzungsarbeit, so bildet die Auseinandersetzung mit der französischen Lyrik der Moderne wie der eigenen Gegenwart dennoch eine Konstante in seinem Werk. Insbesondere die Übertragung von klassischen Texten der Moderne wie Arthur Rimbauds Bateau ivre und Paul Valérys La jeune parque können als – im übrigen gegenläufige – Versuche gelesen werden, aus der Konfrontation mit fest etablierten Positionen der Moderne eine eigene, neue Sprache für die Lyrik zu gewinnen. Nicht allein Mallarmé, Rimbaud und Valéry stehen aber für die Tradition der klassischen modernen Lyrik ein, mit der Celan die Auseinandersetzung sucht, sondern auch Guillaume Apollinaire, mit dessen Gedichten er früh vertraut gewesen ist und die er bereits Ende der vierziger Jahre zu übersetzen begann. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang Les colchiques zu, einer Übertragung, die er in einer überarbeiteten Form 1959 fertigstellen konnte und die so von der Entstehung wie der Form her unmittelbar im Kontext seiner eigenen Poetik um 1960 herum steht, wie sie in der Büchner-Preisrede ihren Ausdruck gefunden hat. Die Übertragung des Apollinaire-Gedichtes gibt so auch einen Schlüssel zu Celans eigener Poetik. Les colchiques ist eines der bekanntesten Gedichte Apollinaires: Le pré est vénéneux mais joli en automne Les vaches y passant Lentement s’empoisonnent Le colchique couleur de cerne et de lilas Y fleurit ses yeux sont comme cette fleur-là
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Ebd. S. 161.
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Violâtres comme leur cerne et comme en automne Et ma vie pour tes yeux lentement s’empoisonne Les enfants de l’école viennent avec fracas Vêtus de bouquetons et jouant de l’harmonica Ils cueillent les colchiques qui sont comme des mères Filles de leurs filles et son couleur de tes paupières Qui battent comme les fleurs battent au vent dément Le gardien des troupeaux chante tout doucement Tandis que lentes et meuglant les vaches abandonnent Pour toujours ce grand pré mal fleuri par l’automne.94 Apollinaires Gedicht bewegt sich zwischen Tradition und Innovation: Les colchiques entspricht formal eigentlich einem klassischen Sonett, das sich zwanglos in zwei Quartette und zwei Terzette unterteilen lässt. Unterstützt wird das noch durch die Wahl des traditionellen französischen Alexandriners und des durchgehenden Paarreims. Durchbrochen wird die Sonettstruktur nur durch den von Apollinaire eingefügten Zeilenbruch zwischen der zweiten und dritten Zeile in der ersten Strophe sowie die damit verbundene Einteilung in drei statt vier Strophen. Werden die Zeilen wieder zusammengezogen und die Strophen anders aufgeteilt, so ergeben sich statt der durch den Zeilenbruch erzeugten 15 die für das Sonett typischen 14 Zeilen mit den entsprechenden zwei Quartetten und Terzetten: Le pré est vénéneux mais joli en automne Les vaches y passant lentement s’empoisonnent Le colchique couleur de cerne et de lilas Y fleurit ses yeux sont comme cette fleur-là Violâtres comme leur cerne et comme en automne 94
Guillaume Apollinaire, Alcools, Paris 1950, S. 111. Vgl. auch: Paul Celan, Gesammelte Werke. Vierter Band. Übertragungen I. Zweisprachig. Übertragungen aus dem Französischen, Frankfurt a.M. 1986, S. 792.
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Et ma vie pour tes yeux lentement s’empoisonne Les enfants de l’école viennent avec fracas Vêtus de bouquetons et jouant de l’harmonica Ils cueillent les colchiques qui sont comme des mères Filles de leurs filles et son couleur de tes paupières Qui battent comme les fleurs battent au vent dément Le gardien des troupeaux chante tout doucement Tandis que lentes et meuglant les vaches abandonnent Pour toujours ce grand pré mal fleuri par l’automne. Der Sonettstruktur korrespondiert auf der inhaltlichen Ebene das Thema der – in diesem Fall vergifteten – Liebe, die auch für Celans Wahl der Übertragung entscheidend gewesen sein mochte: Wie schon Pennone im Blick auf Apollinaires Herbstgedicht bemerkt, lässt sich die Auswahl Apollinaire »vor allem motivisch begründen«95 , und auch Harbusch unterstreicht, es sei bezeichnend, »daß Celan häufig auf Liebesgedichte zurückgreift.«96 Dass in Les colchiques die beiden Motive der Liebe und des Herbstes zusammenfallen, in ähnlicher Weise etwa wie in Celans frühem Gedicht Corona aus Mohn und Gedächtnis, scheint für die Wahl gerade dieses Gedichtes Apollinaires nicht unerheblich gewesen zu sein, ebenso wie die in Les colchiques zu beobachtende Tendenz, in der Analogiebildung zwischen den auf der Wiese blühenden Herbstzeitlosen und den Augen der Geliebten ein auf den ersten Blick idyllisches Bild konsequent zu unterminieren, ein Strukturmerkmal, das nicht wenige Gedichte Celans kennzeichnet. Trotz dieser motivischen Nähe ist Celans Übertragung jedoch durch eine sehr eigenständige Note gekennzeichnet: Der Herbst läßt seine Wiese so schön, so giftig blühen. Ein Gift, das schleicht, Streut er den Kühen. 95 96
Florence Pennone, Paul Celans Übersetzungspoetik, S. 127. Ute Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 151.
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Die Herbstzeitlose blaut hier, wie Augenring und Flieder, Ich seh die blasse Bläue, ich seh dein Auge wieder, Es gleicht der blau umflorten, es gleicht dem Herbst, dem Jahr, Das Gift steigt in mein Leben, so wills dein Augenpaar. Jetzt kommt hier aus der Schule das Kindervolk vorbei, Es kommen bunte Röcke, Harmonika, Geschrei. Die Tochter ist und Mutter, die Herbstzeitlose, die So schimmert wie dein Auglid – die Kinder pflücken sie, Sie pflücken Augenlider im Wind, im irren Wind. Der Kuhhirt summt ein Liedchen, die Herde, sie beginnt Davonzutrotten, muhend, verlassen ist der Ort, Die Wiese, wo der Herbst stand und Blumen da und dort. (GW IV, 793) Celan neigt keineswegs dazu, die von Apollinaire zertrümmerte Sonettstruktur des Gedichtes wiederherzustellen. Im Gegenteil: Im Rückgriff auf die in der modernen Lyrik fast vergessene Form des Nibelungenverses ersetzt er den Alexandriner, auf den Apollinaire noch rekurrierte, durch eine ältere Form. »Dem klassischen französischen Vers wird also eine andere, deutsche Verstradition gegenübergestellt«97 , kommentiert Harbusch. Die Besonderheiten von Hölderlins Ersetzung des Alexandriners durch den Nibelungenvers hat Pennonne herausgearbeitet: »Vor diesem Hintergrund erweist sich die Wahl des Nibelungenverses für den französischen Alexandriner wiederum als eine sehr merkwürdige Entscheidung. Sie bedeutete einerseits einen Kulturtransfer, insofern als zum ersten Mal in der Übersetzungsgeschichte eine rein deutsche Form für das französische Metrum verwendet wurde, andererseits muss sie als Verdeutschung eines fremdsprachlichen Verses den jüdischen Dichter deutscher Muttersprache einmal mehr auf seinen Konflikt mit der eigenen kulturellen Identität zurückverwiesen haben.«98 Pennone weist zu Recht darauf hin, dass es sich hier um einen
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Ebd., S. 400. Florence Pennone, Paul Celans Übersetzungspoetik, S. 147f.
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Kulturtransfer handelt, der in ähnlicher Weise wie im Fall Hölderlins die Frage nach dem Verhältnis des Eigenen und des Fremden zu stellen erlaubt. Die Verdeutschung des französischen Verses erfolgt keineswegs aus einer selbstverständlichen Perspektive, die ohne jede Einschränkungen auf deutsche Volksliedformen zurückgreift, wie sie schon in Apollinaires Werk selbst präsent sind. Die Überführung der strengen Form des Sonetts in die scheinbar einfache Form des Liedes, die schon Apollinaire in Les colchiques betreibt, wird von Celan so vielmehr noch radikalisiert: Nicht Angleichung an das französische Original, sondern wie schon bei Hölderlin die Überbietung der Vorlage durch die eigene Übertragung leitet auch Celans Übersetzungsarbeit: »Mit diesem Text setzte Celan Apollinaires ›Colchiques‹ ein eigenes poetisches Werk gegenüber«99 , kommentiert Pennone. Celans Übertragung kann vor diesem Hintergrund als ein poetisches Verfahren bestimmt werden, das ganz der Logik des »Gegenwortes« Lucindes aus der Meridian-Rede einer eigenen poetischen Logik folgt, die Hölderlin in seinen Sophokles-Anmerkungen zum »gesetzlichen Kalkul« (SW II, 309) auch der modernen Dichtung erklärt hat: einer mechane, die auf der Eigengesetzlichkeit der Übertragungsleistung beharrt und sich wie bei Hölderlin einer parataktischen Ordnung verschreibt, die das zu übersetzende Original angreift: »Zerstückelung der Syntax, parataktische Anordnung des Wortmaterials im Vers, Diskontinuität und Disharmonie im Rhythmus, schließlich eine besondere Behandlung der Bildlichkeit, die dazu tendiert, den Prozess der bildlichen Gestaltung bloßzulegen, dies sind Merkmale von Celans Übersetzungsstil der späten fünfziger Jahre«100 , fasst Pennone zusammen. Die exzentrische Tendenz, der Celan in ähnlicher Weise wie Hölderlin in seiner Übertragung folgt, macht sich auf vielerlei Ebenen bemerkbar: in der aktivischen Rolle, die er Herbst bei ihm bekommt, in der Bildung von Parallelismen wie »Ich seh« und »Es gleicht« und insgesamt in einem beiläufig-lakonischen Ton, der das Gedicht prosaischer erscheinen lässt als das Original und so zu Euphemismen führt, die dem Bild 99 Ebd., S. 180. 100 Ebd., S. 185.
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der vergifteten Wiese krass widersprechen: »Der Kuhhirt summt ein Liedchen«, heißt es in der Travestie bukolischer Idyllendichtung, die Celan in Die Herbstzeitlosen mit scheinbar ungezwungener Hand vornimmt: Das »mal fleuri« Apollinaires, das zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Urteil noch schwankt, gibt er lakonisch durch »Die Wiese, wo der Herbst stand und Blumen da und dort« wider, als wäre es der Übersetzer, der mit der gleichen leichten Hand wie der Herbst hier sein Gift streuen würde. Celans Übersetzung beruht so auf einem dichterischen Verfahren, dass in seiner Tendenz zur Exzentrizität nicht nur Hölderlins Verfremdungsarbeit an der Sprache ähnelt, sondern zugleich die Grundlage der eigenen poetischen Arbeit bildet. Denn die Übertragung von Gedichten wie Les colchiques oder Schinderhannes von Apollinaire bleibt nicht ohne Resonanzen in Celans eigenen Dichtungen. In Gedichten wie Die Silbe Schmerz oder Huhediblu begegnen Fragmente der Übertragungsarbeit in einem poetischen Verfahren wieder, die in ihrer »Fixierung auf die Buchstäblichkeit«101 einen »buchstäblich tödlichen Ernst«102 , so Winfried Menninghaus, zum Ausdruck bringt, der gerade in der Differenz zwischen Original und Nachbildung aufscheint: Apollinaires Binnenreim des »vent dément« nimmt Celan gerade nicht wörtlich auf, sondern bildet ihn in einer harten Fügung zum »irren Wind«. Er nimmt damit jene Bewegung der Verdunkelung des Sinns auf, die Hölderlin an der Antigone-Figur festgemacht hatte. »Häufig genug bewegen die Übertragungen sich auf der Grenze zum Wahnsinn«103 , meint Harbusch daher. Sie bezieht sich damit weniger auf den biographischen Hintergrund der psychischen Erkrankung Celans, der in gleicher Weise für Hölderlin in Anschlag zu bringen wäre, als vielmehr auf die beiden Dichtern gleichermaßen innewohnende Tendenz zu einer Deformierung der Sprache über die Grenzen des Sinnund Stimmhaften hinaus. Was in dieser Entgrenzung zum Ausdruck kommt, ist eine Sprache der Klage und des Schmerzes, die sich jenseits
101 Klaus Reichert, Die unendliche Aufgabe, S. 81. 102 Winfried Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form, Frankfurt a.M. 1980, S. 188. 103 Ute Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 171.
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bloßer mimetischer Vorgaben bewegt und die Sprache im Ausdruck gewaltsam aufbricht, wie es auch in den Gedichten Celans der späten fünfziger und sechziger Jahre der Fall ist.
3.3
Schmerz, ausbuchstabiert: Celans Dichtung
Nicht anders als die Hölderlins stehen Celans Übersetzungen in einem engen Zusammenhang mit der eigenen dichterischen Arbeit. Die Zerstückelung der Syntax, die Verwandlung von hypotaktischen in parataktische Ordnung und die Diskontinuität im Rhythmus, die die Übertragungen kennzeichnen, finden sich auch in den poetischen Arbeiten Celans wieder. So ist es kein Wunder, dass Fragmente aus den Übertragungen auch in den Gedichten einen Ort finden. Die Herbstzeitlosen etwa begegnen in Die Silbe Schmerz wieder: Kolumbus, Die Zeitlose im Aug, die MutterBlume, mordete Masten und Segel. (GW I, 280) Die historische Figur des Kolumbus, bei Hölderlin noch Inbegriff der heroischen Seefahrt – »Wünscht‹ ich der Helden einer zu sein/Und dürfte frei es bekennen/So wär‹ es ein Seeheld« (SW I, 408), lautet der Beginn des späten Entwurfs mit dem Titel Kolomb, und auch der Schluss von Andenken besingt in diesem Sinne die heroische Ausfahrt auf das Meer –, ändert bei Celan ihre Gestalt. Aus der Übertragung des Apollinaire-Gedichtes nimmt er die Analogie von Blume und Auge auf, um Kolumbus nun als Mörder darzustellen – als Mörder zwar von »Masten und Segel«, aber eben doch als der rücksichtslose und gewaltbereite Mann, der er der Überlieferung zufolge gewesen ist. Nicht nur die Tendenz zur Entheroisierung historischer Figuren wie Kolumbus kennzeichnet Die Silbe Schmerz vor diesem Hintergrund. Auch die Fixierung an die Buchstäblichkeit, die die Übertragungen auszeichnet, findet sich in Die Silbe Schmerz. Die letzten Zeilen lauten:
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an dem die fastnachtsäugige Brut der Mardersterne im Abgrund buch-, buch-, buchstabierte, stabierte. (GW I, 181) Das Thema des Mordes, das in Les colchiques bereits durch die im Titel angedeutete Assoziation von Kolchis, der Heimat Medeas anklang, nimmt der Schluss des Gedichtes im Hinweis auf »die fastnachtsäugige Brut« auf. Nicht nur fügt Celan in das ebenfalls in den vierten Zyklus von Die Niemandsrose aufgenommene Und mit dem Buch aus Tarussa den schlichten Wort-Vers »Kolchis.« (GW I, 289) ein. Die damit verbundene Bemühung um Buchstäblichkeit, die der Schluss von Die Silbe Schmerz im »buch-, buch-, buch-/stabierte, stabierte« nicht nur thematisch erwähnt, sondern sprachlich in der stotternd-stammelnden Wiederholung mitvollzieht, prägt auch andere Gedichte aus der Zeit wie Huhediblu, in der sich auch Apollinaires Schinderhannes, ein Gedicht, das Celan ebenfalls übersetzte, wiederfindet: Frugal, kontemporan und gesetzlich geht Schinderhannes zu Werk, sozial und alibi.elbisch, und das Julchen, das Julchen: daseinsfeist rülpst,rülpst es das Fallbeil los – call it (hott!) love. Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres? (GW I, 276f.) Mit dem Schinderhannes ruft Celan wiederum eine historische Figur auf, die für Gewalt einsteht, in diesem Fall für eine Gewalt, die sich in der Komplizenschaft mit dem geliebten Julchen explizit gegen Juden richtete. Amy Colin hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass Celan mit dem Schinderhannes in Anknüpfung an Apollinaire den Prototypen des Antisemiten anspricht, und sie hat zugleich das sprachliche Verfahren beschrieben, dem Celans Kritik histo-
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rischer Gewaltprozesse folgt: Der Titel Huhediblu, der die Inversion des Verlaines-Verses der letzten Zeile des Gedichtes aufnimmt, verkörpert demzufolge »die linguistischen Reste einer Sprachexplosion: das Wort ›blühen‹ zerbricht in ›hü‹. ›he‹, ›hen‹ und ›blü‹; vom Artikel ›die‹ bleibt nur ›di‹ übrig. Durch das Zusammenpressen dieser Silben in eine neue, ungewöhnliche Wortgestalt wird der Verfremdungseffekt des Gedichtes gesteigert. Dieses Zusammenfügen von Silben aufgrund nebeneinanderstehender Buchstaben signalisiert, das Strukturprinzip des Gedichtes basiere auf Kontiguität und nicht auf Ähnlichkeit oder semantischer Affinität.«104 Was Celans Dichtung bestimmt, ist eine Konzentration auf den Buchstaben als dem Grundelement der Sprache, Elementen, aus deren Zusammenspiel sich Bedeutungszusammenhänge erst ergeben. Die Zertrümmerung der Sprache, die sich in Gedichten wie Huhediblu und Die Silbe Schmerz beobachten lässt, ist dabei alles andere als ein willkürliches Spiel. Sie überträgt – auch das eine Form der Übersetzung – historische Formen der Gewalt auf die Ebene der Sprache, um sich gegen jede Geste der versöhnlichen Aufhebung zu wappnen. Celans Insistenz auf der Ordnung des Buchstäblichen entspringt nicht anders als in den Übersetzungen einem poetischen Verfahren, das immer wieder dazu auffordert, auch den kleinsten Nuancen der Sprache Beachtung zu schenken, um eindeutige Bedeutungszuweisungen aufzulösen. Wie schon Werner Hamacher gezeigt hat, sind Inversion, Homophonie und Anagrammatik bei Celan Bestandteile einer Poetik, die jede Form der sprachlichen Einheit einer radikalen Kritik unterzieht. Wenn Hamacher den Beginn des Gedichtes Stimmen zitiert, das Eingangsgedicht in den Band Sprachgitter, zitiert, beruft er sich auf die Homophonie von »die Sekunde« (GW I, 147) und »diese Kunde«, um eine Vielschichtigkeit des Ausdrucks bei Celan anzuzeigen, die auf der Spaltung der Sprache in ihre kleinsten Einheiten, eben den Buchstaben und Silben, beruht. »Die Sekunde – diese Kunde: es ist die Zeit als schneidende, die sich in der Inversion der Bilderwelt bekundet, aber diese Kunde 104 Amy Colin, Geschichte und Innovation. Paul Celans ›Huhediblu‹. In: CelanStudien 5 (1993), S. 89-114, hier S. 109.
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vollzieht die Inversion nur so, daß die Sekunde selbst – das zeitliche Atom – ihrem eigenen Teilungsprinzip unterworfen und die Einheit ihrer Bekundung zerspalten ist.«105 Hamacher erkennt in Celans Dichtung eine Bewegung der Inversion am Werke, die sich in Huhediblu im abschließenden verfremdeten Verlaine-Zitat artikuliert und eine Barriere gegen den scheinbaren Vorrang der sprachlichen Bedeutung gegenüber ihrem materiellen Träger, dem Buchstaben, errichtet. In Anknüpfung an Werner Hamacher hat Michael Levine die Bedeutung der Buchstäblichkeit in Celans Texten im Blick auf Die Silbe Schmerz weiter herausgearbeitet. Levine spricht von »einem Stottern, in dem sich vielleicht sogar die Zertrümmerung des allerkleinsten Atoms, des Buchstabens, ankündigt.«106 Und auch er zieht in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen Celan und dem Paradigma Mallarmés: »Die Entbindung der poetischen Kräfte erstreckt sich von Wort, Silben- und Zeilentrennungen bis zu Mallarmé’schen Ausweitungen und Zusammenziehungen von Leerstellen zwischen Wörtern, auf Verdoppelungen von Lettern als Zahlen und Bilder, auf anagrammatische Umordnungen von Buchstaben sowie buchstäbliche Zersetzungen der Buchstaben selber.«107 Das Resultat dieser Spracharbeit sei »ein Anderswerden des Buchstabens selbst«108 , das Levine im Blick auf den im Gedicht thematisierten Zusammenhang von Sprache und Schmerz zugleich in der Metapher der Geburtswehen fasst: Diese Wehen spürt man in der Öffnung der deutschen durch die hebräische Sprache, in der homonymischen und homophonischen Kontamination der deutschen durch die französische Sprache, in der römischen Chiffrierung der auf Deutsch ausbuchstabierten Zahlen, aber auch allgemeiner in der Deplatzierung des Zwischensprachlichen und
105 Werner Hamacher, Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte. In: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a.M. 1988, S. 81-126, hier S. 98. 106 Michael G. Levine, Atomzertrümmerung. Zu einem Gedicht von Paul Celan, Wien 2018, S. 18. 107 Ebd., S. 17f. 108 Ebd., S. 43f.
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des Intertextuellen. […] Was bei diesen Wehen sich öffnet, sind Zwischenräume innerhalb des Textes – innerhalb seiner Strophen, Wörter und Buchstaben. Diese Wehen führen deshalb letztlich weniger zur Geburt einer neuen Sprache als zu einer atomzersplitternden Entbindung unterbundener zwischensprachlicher Energien.«109 Die Öffnung von Zwischenräumen innerhalb des Textes deutet Levine nicht als eine neue Form der Sprachschöpfung, sondern als einer Freisetzung von Energien, die der Sprache in der ihr eigenen Materialität innewohnt. Levine weist damit auf ein Charakteristikum der Celanschen Dichtung hin, das diesen mit Mallarmé verbindet und ihn doch zugleich von ihm zu unterscheiden erlaubt. Denn Celans Wortspielen, einer Zerstückelung der Wörter in die kleinsten Bestandteile, die von aggressiven Zügen nicht frei ist, liegt anders als im französischen Symbolismus weniger der selbstreferentielle Verweis auf die Sprachlichkeit des Gedichtes zugrunde als vielmehr der verzweifelte Versuch, in Strukturen des Wörtlichen und der Repetition einer Wirklichkeit gerecht zu werden, die sich als ein Trauma zu lesen gibt, das die Sprache selbst heimholt. Celans Gedichte, in diesem Sinne, wie schon Winfried Menninghaus herausgearbeitet hat, sprachmagisch aufgeladen, bedeuten nicht, sie sind,110 dies aber nur in einer stets entstellten Form, die das »HAUT MAL« (GW 2, 220) des Traumas trägt, das sich tief in der Sprache vergräbt. Die Zerspaltung der Worte in ihre kleinsten Bestandteile hat daher in ihrem scheinbar spielerischen Charakter zugleich etwas Unheimliches. Frei nach Freuds Bestimmung des Unheimlichen als des Heimlichen, das nur in entstellter Form begegnet,111 entfernt sich die Sprache
109 Ebd., S. 80f. 110 In diesem Sinne schließt auch Szondi seine Überlegungen zu Engführung, demzufolge es bei Celan um ein Gedicht geht, »das von sich selbst nicht mehr handelt, sondern es ist.« Peter Szondi, Schriften II, S. 344. 111 »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich«, so lautet Freuds lakonische Rückführung des Unheimliche auf das in entstellter Form wiederbegegnende Heimliche. Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Zwölfter Band. Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt a.M. 1999, S. 227-268, hier S. 237.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
von all dem, was man »Heimat« oder das Eigene nennen könnte, und wird sich selbst fremd. Die Reduktion von Sprache auf ihre grundlegendsten Bestandteile wie etwa in dem späten Gedicht Keine Sandkunst mehr, wo die Rede vom »Tiefimschnee,/Iefimnee,/I – i – e« (GW II, 39) immer weiter hinter die ursprüngliche Bedeutung zurückgeht, um bei einem scheinbar unartikulierten Stammeln zu enden, ist, zeugt von einer radikalen Zerstückelung der Sprache, die auf ihre nackte Buchstäblichkeit reduziert wird. Was von der Sprache bleibt, sind unverbundene Vokale, die auf alte Bedeutungen verweisen, sich neu zusammensetzen lassen, zugleich aber von dem Versuch zeugen, die Sprache in der Reduktion auf ihre materielle Grundlage bis an ihre äußerste Grenze zu treiben. Hatte die Forschung bei Hölderlin von einer archaisierenden Bewegung gesprochen, innerhalb derer das Deutsche dem Griechischen angeglichen wird, so konstatiert Levine bei Celan daher ein »HebräischWerden des Deutschen«112 , das nicht anders als bei Hölderlin die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden bis zum Irrewerden der Sprache verschwinden lässt.
3.4
Für eine Poetik der Übersetzung
»Übersetzung ist eine Form«113 , hatte Benjamin im Blick auf Hölderlin und Baudelaire festgestellt, und hinzugesetzt, »daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.«114 In Hölderlins Übersetzungen hat er »Urbilder ihrer Form«115 erkennen wollen, weil die Suche nach Wörtlichkeit bei ihm in der Übersetzung eine Dialektik zwischen dem Fremden und dem Eigenen in Gang gesetzt hat, die paradoxerweise sowohl zu einer Verfremdung des griechischen Originals als auch einer der eigenen Sprache geführt hat. Ähnliches gilt für Celan, der, wie früh 112
113 114 115
Michael G. Levine, Atomzertrümmerung, S. 47. Vgl. auch Klaus Reichert, Hebräische Züge in der Sprache Celans. In: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a.M. 1988, S. 156-169. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften X, S. 9. Ebd., S. 14. Ebd., S. 21.
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Der feste Buchstabe
schon Henriette Beese herausgearbeitet hat, in seinen Übertragungen aus dem Französischen ebenfalls einer doppelten Strategie folgt. Beese zufolge ist dem »Ideal der völligen Anpassung an die zeitgenössischen Gegebenheiten der Zielsprache wie dem einer gewissen Verfremdung […] zum Zweck der Evokation altertümlicher oder kulturell fremder Charakteriska des Textes«116 gleichermaßen eine Aporie eingeschrieben: »Das Adäquatsideal, das die eine Seite dieser Forderung konstituiert, ist hier wie anderswo nie völlig erreichbar: eine archaisierende Übersetzung eines Textes bleibt in der neuen Sprache ein moderner Text in einer archaisierender Sprache und wird nicht zu einem alten.«117 Das Ergebnis im Falle Hölderlins wie dem Celans ist neben der Dialektik von Eigenem und Fremdem eine eigentümliche Spannung zwischen Archaik und Modernität: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen lassen sich sprachlich als eine Archaisierung des Deutschen erfassen, die in ihrer verfremdenden Arbeit zugleich entscheiden zu der eminenten Modernität seiner Dichtung beiträgt. Eine ähnlich archaisierende Bewegung unternimmt auch Celan in seinen Übersetzungen aus dem Französischen in dem Rückgriff auf den Nibelungenvers, und in ähnlicher Weise wie bei Hölderlin trägt die Zertrümmerung der Sprache, die Celans parataktischer Stil unternimmt, dazu bei, den Gedichten einen unerhört modernen Ton zu verleihen. Die Tendenz, auf einer buchstäblichen Ordnung zu insistieren, die sich in den Übersetzungen wie den eigenen Dichtungen bemerkbar macht, verbindet Hölderlin und Celan so – und trennt sie doch zugleich. Dass Celans Verhältnis zu Hölderlin trotz ähnlicher poetischer Verfahrensweisen ambivalenter ist, als es die Forschung lange Zeit eingestehen mochte, zeigt sich gerade an dem Gedicht, an dem die Verbindung beider Dichter meist festgemacht wurde, an Tübingen, Jänner. Das Gedicht, unmittelbare Reaktion auf den Besuch des Hölderlin-Turms im Januar 1961, ist Hommage an Hölderlin und kritische Distanznahme zu ihm in einem. Schon der Titel weist mit der Nennung von Ort 116 117
Henriette Beese, Nachdichtung als Erinnerung. Allegorische Lektüre einiger Gedichte von Paul Celan, Darmstadt 1976, S. 20. Ebd., S. 26.
Dritter Teil: Die kabbalistische Auslegung und die Kunst der Übersetzung
und Datum auf eine Ambivalenz hin, die sich in der sprachlichen Leitformel des Jänner, in Celans Diktion der Monat der Wannseekonferenz, bemerkbar macht: Das österreichische Idiom des in der Bukowina Geborenen legt sich über die schwäbische Heimat des Dichters und das Gedicht gibt sich so als eine Aneignung des Hölderlinschen Textes zu erkennen, die sich auch in dem einzigen direkten Hölderlin-Zitat zu erkennen gibt, das in Tübingen, Jänner Eingang gefunden hat: »Ihre – ›ein/Rätsel ist Rein-/entsprungenes‹ –« (GW I, 226) Celan hat das Zitat aus der Rhein-Hymne nicht nur in Anführungszeichen gesetzt und so ausdrücklich als einen fremden Text in seinem eigenen Gedicht markiert. Er hat die Zeilen darüber hinaus durch Trennstriche von seinem eigenen Text abgesetzt und schließlich noch durch die Einfügung eines weiteren Trennstrichs einen Zeilensprung in Hölderlins Text eingefügt, der zwischen dem Reinen und dem Entsprungen, auf das sich Hölderlin bezieht, eine unübersehbare Differenz setzt. So ist es auch kein Wunder, dass Celans verfremdendes, von Gewalt nicht freies Umdichten Hölderlins mit eben dem Stottern und Stammeln endet, in das auch die nach Wörtlichkeit suchende Übertragung kippt: »lallen und lallen,/immer-, immer-/zuzu.« (GW I, 266) Die gewaltsame Reduktion der Sprache auf Silben und Buchstaben bestätigt sich auch in der kritischen Auseinandersetzung mit einem der großen Vorbilder moderner Lyrik als wesentlicher Bestandteil von Celans poetischem Verfahren, und sie deckt in der Kritik wiederum die Affinitäten der poetischen Verfahrensweise auf. Die Insistenz auf Buchstäblichkeit bei Hölderlin und Celan als poetisches Verfahren gibt sich vor diesem Hintergrund als ein Irrewerden an der Sprache wie ein Irrwerden der Sprache zu erkennen, dessen Gewalt sich in den Übertragungen wie den Dichtungen gleichermaßen artikuliert. Bei Hölderlin wie bei Celan ist die Übersetzung so nicht nur Teil der eigenen Arbeit, sondern Grundlage einer Poetik der Buchstäblichkeit, die sich dem Zugriff der traditionellen Hermeneutik, wie sie Schleiermacher in Szene gesetzt hat, entzieht.
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Literaturwissenschaft Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
Laboring Bodies and the Quantified Self October 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit August 2020, 432 S., kart., 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3
Claudia Öhlschläger (Hg.)
Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Juli 2020, 258 S., kart., 10 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4884-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4884-7
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 1 August 2020, 226 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-4944-4 E-Book: PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4944-8
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