Die Religionen der Völker [Reprint 2019 ed.] 9783486749281, 9783486749267


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Inhaltsverzeichnis
Die Religionen der Völker
Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen
Die Religionen Indiens
Die Religionen Chinas und Japans
Griechische, römische und germanische Religionen
Die drei monotheistischen Religionen
Zeittafel der Religionsgeschichte
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Die Religionen der Völker [Reprint 2019 ed.]
 9783486749281, 9783486749267

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Die Religionen der Völker von

Julius Richter

München und Berlin 1927

Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Alle Rechte, einschließlich des llbersetzungsrechtes, vorbehalten

Inhaltsverzeichnis Seile

Einleitung.............................................................................................................................................

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Die Religionen der primitiven Völker..........................................................................................

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Texte dazu................................................................................................................................

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Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen.............................................. 10 Die assyrisch-babylonischen........................................................................................................ 10

Die ägyptische............................................................................................................................ 16 Die iranische.................................................................................................................................21 Die Religionen Indiens........................................................................................................................ 27

A. Die

vedische...........................................................................................................................27

B. Die

brahmanische.............................................................................................................. 31

C. Der

Buddhismus...............................................................................................................38

D. Der Hinduismus...................................................................................................................49

Texte dazu.............................................................................................................................56 Die Religionen Chinas und Japans.....................

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Griechische, römische und germanische Religion................................................................................72 Griechische R...................................................................................................................................72

Römische R..................................................................................................................................... 84 Germanische R............................................................................................................................... 88

Die drei monotheistischen Religionen................................................................................................94 A. Die israelitisch-jüdische Religion........................................................................................ 95 B. Das Christentum................................................................................................................104 C. Der Islam.............................................................................................................................108

Zeittafel der Religionsgeschichte........................................................................................................124

Die Religionen der Völker. Die Religionen sind, soweit wir die Geschichte der Menschheit zurückverfolgen können, die mächtigsten aufbauenden Kräfte ihres Kulturlebens gewesen. Nicht nur daß das Leben der kulturarmen Völker fast durchweg von religiösen Motiven durch­ zogen und beherrscht wird. Auch in dem Leben der Völker, welche sich zu einer höheren Kultur emporgearbeitet haben, sind bei den einen die Religionen zu allen Zeiten die ausschlaggebenden Faktoren geblieben, bei andern hat nur spät und teilweise eine Loslösung sei es der Wissenschaften, sei es des wirtschaftlichen Lebens, sei es der Kunst aus dem Banne der Religionen stattgefunden. Will man also das innere Leben der Völker verstehen und sich darein versenken, so ist es unent­ behrlich, daß man sich auch mit ihren Religionen beschäftigt. Wir charakterisieren des­ halb im folgenden die Religionen besonders unter dem Gesichtspunkt, wie sie als aufbauende oder hemmende, förderliche oder hinderliche Kräfte im Leben der Völker sich ausgewirkt haben. Wir behalten dabei im Auge, daß sicher neben den Religionen andersartige Kräfte und Lebensbedingungen von dem nach­ haltigsten Einfluß gewesen sind: Auf der einen Seite kommen da die wirtschaft­ lichen und klimatischen Lebensbedingungen in Betracht: Das ungastliche Afrika mit seinen riesigen Urwäldern und Wüsten, mit der Unzahl von Kleintierwesen, welche das Leben der Menschen und Tiere mit furchtbaren Seuchen oder endemischen Krankheiten bedrohen, mit seinen wechselnden Regenfluten und vernichtenden Dürren gestaltet das Leben der dort wohnenden Völker anders, als der lachende Himmel von Hellas mit einer zur Schiffahrt und zur Lebensfreude einladenden Fülle schöner und fruchtbarer Inseln. Man darf auch nicht vergessen, daß gewisse Grundkräfte und Lebensgesetze, die an sich nicht religiös bestimmt sind, das Leben der Menschen im einzelnen wie in der Gesamtheit formen; wir erwähnen nur die drei Grundtriebkräfte, welche allem Menschenleben das Gepräge geben: das Selbstbehauptungsstreben, das zum Kampf ums Dasein wird, den Gesellungstrieb, in welchem die immer neuen Antriebe zur Ausgestaltung der Gesell­ schaftsordnung liegen, und jener starke, geheimnisvolle Vervollkommnungstrieb, der die Menschen dem Ziele unerreichter Ideale nachjagen läßt. Gewiß greifen diese und ähnliche Grundkräfte und Lebensbedingungen tief in das Leben der Menschen und auch in das Werden und Wachsen der Völker ein; aber diejenigen Kräfte, die ihnen das geistige Gepräge geben und ihr Leben am nachhaltigsten Reimann (Richter), Geschichtswerl.

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Die Religionen der Völker.

beeinflussen, auch die Formen, in welchen jene Grundtriebkräfte am stärksten und eigenartigsten zur Ausprägung kommen, sind doch die Religionen. Genaue Zahlen für den gegenwärtigen Bestand der Religionen anzugeben ist unmöglich. Die einzelnen Gruppen laufen zu sehr in einander über. Wer will sicher sagen, wieviel von den Einwohnern des heutigen Frankreich zu der katholischen oder im heutigen Rußland zur orthodoxen Kirche gehören? Ebenso fließend sind in China die Schätzungen der Konfuzianer, Taoisten und Bud­ dhisten oder in Indien die der Hindu und Moslem. Ungefähr werden die fol­ genden Zahlen ein Bild geben:

Christen................................. Chinesische Volksreligionen . Hinduismus........................... Islam...................................... Buddhismus........................... Animismus........................... Schinto................................. Juden......................................

. . . . . •

5941/2 Mill. 200 „ 221 „ 238 „ 130 „ 157 „ 21 „ n

1575 V2 Mill. Wir beginnen unsere Darstellung mit den

Religionen der primitiven Völker *). In allen Erdteilen außerhalb Europas finden wir bei den kulturarmen Völkern Gruppen von Religionen, die bei aller Verschiedenheit in den Einzel­ heiten so viel gemeinsame oder gleichartige Grundbestandteile haben, daß man sie als eine gemeinsame Klasse von Religionen, die sog. animistischen, zusammen­ stellen darf. Nicht als ob sie einer höheren Entwicklung und eines inneren Auf­ stiegs bei dem Emporstreben ihrer Völker zu einer gesteigerten Kultur unfähig wären. Aus dem Boden der amerikanischen Völker haben die Inkas in Peru, die Azteken, Tolteken und Maya in Zentralamerika eine eigenartige, höhere Kultur entwickelt, und ihre Religionen haben an dieser kulturellen Emporentwick­ lung teilgenommen. Auf dem Boden der mongolischen Völker Ostasiens haben sich in China der Konfuzianismus und Taoismus, in Japan das Schinto ent­ wickelt, obgleich die breite Unterschicht des Religionswesens beider Länder den animistischen Religionen zugehört. Allerdings ermangelt der von Tylor geprägte Ausdruck Animismus, animistische Religionen, der wissenschaftlichen Präzision, denn mit ihm bezeichnet man nicht nur allgemein das Genus der Religionen der *) Für weitere religionsgeschichtliche Studien empfehlen sich die Religionsgeschichtlichen Lesebücher von Edw. Lehmann und Haas (Leipzig, A. Deichert. 2. Ausl. 1922), und von Alfr. Bertholet (Tübingen, I. C. B. Mohr, 2. Ausl. 1926). Eine knapp gefaßte Übersicht gibt Söderblom, Die Religionen der Erde (Religionsgeschichtl. Volksbücher, Halle, 1905). Wert­ volle Gesamtdarstellungen bieten die „Allgemeine Religionsgeschichte" von Alfred Jeremias 1918, das „Kompendium der Religionsgeschichte" von Tile-Söderblom, 5. Aufl. 1920, die solide und stoffreiche „Allgemeine Religionsgeschichte" von Conrad von Orelli, 2. Aufl. und die eben erschienene 4. Auflage des großen, mustergiltigen „Lehrbuches der Religionsgeschichte" von Chantepie de la Saussaye. Eine Darstellung unter apologetischen Gesichtspunkten gibt Martin Schlunk in seinem Buche „Die Weltreligionen und das Christentum", 1923.

Religionen der primitiven Völker.

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primitiven Völker in all ihrer bunten Mannigfaltigkeit, sondern daneben auch speziell die Religionen, in welchen die Seelen und Seelenstoffvorstellungen vor­ wiegen, wie in den alifurischen Religionen Indonesiens, oder man nimmt damit diejenigen Gruppen von Vorstellungen und Bräuchen der komplizierteren Re­ ligionen zusammen, welche mit den Seelenvorstellungen Zusammenhängen (sonst auch Vitalismus oder Animatismus genannt). Immerhin hat sich die Bezeichnung Animismus als Gesamtbezeichnung der Religionen der primitiven Völker ein­ gebürgert. Es sind hauptsächlich sechs verschiedene Gruppen von Religions­ erscheinungen, die wir mehr oder weniger entwickelt bei den meisten dieser Völker neben- und durcheinander finden: a) Den meisten primitiven Religionen scheint eine unbestimmte und unper­ sönliche Vorstellung von einer großen geistigen Kraft zugrunde zu liegen, die man nach einer australischen Bezeichnung „mana“, nach einer indianischen „orenda“, „wakat“ oder „manitu“ nennt; nicht eigentlich eine Beseelung der Natur, sondern ein Eindruck von den geheimnisvollen Kräften der Natur in Sonnenschein und Gewitter, Erdbeben und Seuchen. Da das Streben darauf gerichtet ist, feindliche Einflüsse fernzuhalten, entwickelt sich schon sehr früh, vielfach wohl vor der Ausgestaltung mythologischer Vorstellungsgruppen, ein System von Riten und Zaubersprüchen, durch welche der Primitive der feindlichen Mächte Herr werden oder überhaupt die unsichtbare Kraft in seinen Dienst stellen will (Magie). Diese beiden Entwicklungsreihen, Mana und Magie, finden sich nirgends als selb­ ständige Religionen, sondern überall mit dem Gewebe verschiedener Religions­ formen verwachsen. Überhaupt muß man es aufgeben, die bunte Mannigfaltigkeit der Riten und Vorstellungen bei den primitiven Völkern aus einer einheitlichen Wurzel als geradlinige Evolution zu erklären; es werden religiöse Impulse, Stammeszusammenhang, soziales Empfinden und wildwuchernde Phantasie nebenund durcheinander gewirkt haben. b) Die Seelenvorstellungen. Das primitive Denken findet in dem eigenen Körper und mehr oder weniger in allen organischen Lebewesen neben dem sinnen­ fälligen Leibe eine geheimnisvolle unsichtbare Kraft, den Geist, an dem das Leben hängt. Diese Kraft vermehrt oder vermindert sich (Krankheiten) und ist dann plötzlich verschwunden (Tod). Ihr Vorhandensein gibt sich im Atem zu erkennen; steht dieser still, so hört das Leben auf (Hauchseele). Ebenso hängt die Seele mit dem Blute zusammen; denn wenn aus einem Tiere beim Schlachten, aus einem Menschen bei schwerer Verwundung das Blut ausfließt, so tritt der Tod ein (Blut­ seele). Zudem hat der Primitive den Eindruck, daß er ein Doppelleben führe, neben dem im wachen Zustande dasjenige im Schlafe; im Traume sieht und erlebt er seltsame Dinge, die er sich damit erllärt, daß seine Seele im Schlafe den Leib verlassen habe und wandere (Traumseele). Aus solchen Vorstellungen ergibt sich die Aufgabe, die Seele, die der an abstraktes Denken nicht gewöhnte Primitive sich als eine feine, unsichtbare Substanz vorstellt, zu erhalten und zu vermehren. Darauf konzentriert sich ein großer Teil seines religiösen Handelns; denn seine Beobachtung lehrt ihn, daß sein Leben von der Erhaltung der Seelensubstanz mehr abhängt als von der Speise. Wir verfolgen einige der Vorstellungsgruppen, welche sich aus dieser Seelenstoffanschauung ergeben. Der Seelenstoff ist in den Gliedern des Körpers in verschiedener Stärke vorhanden, in den Geschlechtsteilen, den Händen,

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Die Religionen der Völker.

den Füßen, dem Kopfe, den Nieren, dem Blute; er ist auch in verschiedenen Men­ schen in verschiedener Stärke; man sieht das an der Schnelligkeit ihrer Füße, der Schärfe ihrer Augen, der Kraft ihrer Hände, der großen Zahl ihrer Kinder usw.; er muß auch in verschiedenen Tieren und Pflanzen vorhanden sein, und zwar auch bei den Tieren in manchen Gliedmaßen in besonderer Stärke, z. B. bei den Giftschlangen in den Zähnen, denn schon ein Tropfen von der Flüssigkeit dieser Zähne tötet den stärksten Menschen; bei dem Tiger in seinen Pranken, beim Hirsch und Reh in den Beinen usw. Es kommt nun dem Primitiven darauf an, sich möglichst viel Seelenstoff anzueignen, um dadurch seine Lebenskraft zu erhalten und zu vermehren; das wird besonders wichtig in Krankheiten. Die Aneignung geschieht naturgemäß am einfachsten durch Essen; es kommt dabei nicht auf den Wohlgeschmack an, sondern auf die Fülle des Seelenstoffes, den man sich aneignet. So werden die Medizinen und Mixturen der Medizinmänner unter dem Gesichts­ punkte zusammengestellt, dem Kranken den Seelenstoff zuzuführen, der ihm an­ scheinend vermindert ist; er kann von Menschen, von Tieren oder von Pflanzen gewonnen werden, die gerade diese Art besitzen, also Krallen von starken reißenden Tieren, Leber, Galle, Augen von dem Drachen, dem Löwen, dem Tiger und anderen ausgezeichneten Seelenstoffträgern. Am meisten Seelenstoff haben offenbar die Menschen. Der einzelne oder noch mehr, bei dem kommunistischen Denken der Primitiven, der Stamm kann also seinen Seelenstoff durch die An­ eignung des Seelenstoffes fremder Menschen vermehren. Darum trinkt der Sieger das Blut des Erschlagenen; so entstanden der Kannibalismus und die besonders in Indonesien weitverbreitete Schädeljägerei; daher stammt auch die Sitte, den Acker bei der Bestellung durch ein lebendig begrabenes Menschenopfer fruchtbar oder ein Bau­ werk durch einen in das Fundament eingegrabenen Menschen fest zu machen. Auf diesen Seelenstoffvorstellungen beruht ein großer Teil der Zauberei. Wenn ich von jemand etwas in die Hand bekomme, was Träger seines Seelenstoffes ist, so bekomme ich damit Gewalt über ihn. Ich kann ihn durch diese Stücke seines Seelenstoffes schädigen oder töten; denn was dem Teile geschieht, das widerfährt dem Ganzen. So sind Haare, abgeschnittene Nägel, von der Mahlzeit übrig ge­ bliebene Speisereste, Speichel, getragene Kleidungsstücke, selbst die im feuchten Erdreich zurückgebliebenen Spuren beliebte Mittel, um durch sie Analogiezauber auszuführen. Daher die Angst der Primitiven vor dem Photographieren oder vor Photographien an der Wand; der Schatten ist ein wichtiges Stück der Seele; zwischen dem Bilde und der dargestellten Person besteht ein realer Seelenstoffzusammenhang; schieße oder durchsteche ich das Bild, so muß die dargestellte Person sterben, c) Mensch und Tier. Der Primitive sieht seinen Hauch an kühlen Winter­ tagen; er ist etwas Luftiges und Leichtes und verfliegt. Wenn ein Sterbender den letzten Atemzug getan hat, so ist seine Seele davongeflogen. Es ist eine weit­ verbreitete Vorstellung, der davonfliegenden Seele Flügel zu geben, d. h. sie als einen Vogel vorzustellen. Wenn der Mensch gestorben ist, so muß doch — eine andere Gedankenreihe — seine Seele irgendwo geblieben sein. Manche mada­ gassische Stämme halten bei dem Leichnam so lange Wacht, bis die erste Made herauskriecht, das ist die Seele, die sich aus dem Körper davon macht. Es ist eine häufige Erfahrung, daß aus den Gräbern Termiten, Schlangen oder anderes Un­ geziefer hervorkriechen. Wahrscheinlich hängen sie mit dem drunten Begrabenen

Religionen der Primitiven Völker.

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zusammen. So entsteht durch eine Kombination der primitiven Vorstellung von der Seele als einer Substanz mit diesen Beobachtungen die Vorstellung von Seelentieren. Zunächst sind es wohl meist Kriechtiere und Maden; den natur­ wissenschaftlichen Unterschied von Maden, Insekten und Schlangen, vielleicht gar Eidechsen, Ichneumon und ähnlichem Getier kennt der Primitive nicht; es ist ihm selbstverständlich, daß das Seelentier eines mächtigen Häuptlings eine Riesen­ schlange wird. Oder die Seelentiere sind Vögel. Nun ist dem Primitiven der Unterschied von Mensch und Tier nicht so groß wie uns; die Tiere haben denselben Seelenstoff; eine Übertragung geschieht beständig hinüber und herüber; mit seinen Haustieren und zumal auf der Jagd lebt er beständig im Verkehr mit Tieren und ist von ihnen abhängig. Im Traume verläßt seine Seele den Leib und verwandelt sich in ein Tier, geht auf die Jagd, zerreißt den Feind ob. dgl. (Werwolf). In den Erzählungen und Fabeln, die den geistigen Überlieferungsschatz eines Volkes bilden, werden die Tiere wie Menschen behandelt; sie reden und handeln wie in Tierleibern verkleidete Menschen. Es besteht keine Schranke zwischen Mensch und Tier. Im Zusammenhang mit den Seelentiervorstellungen entwickeln sich eigenartige Vorstellungsreihen. Wir skizzieren einige besonders verbreitete. Die Verstorbenen leben in den Seelentieren fort; diese bedürfen deshalb der Rück­ sichtnahme. In der Hauptstadt von Dahome hausten Hunderte von Schlangen, die Seelentiere der Ahnen, niemand durfte ihnen etwas zuleide tun. Volks­ bewegungen in Afrika kündigen sich bisweilen dadurch an, daß die mächtigen Häupt­ linge der Vorzeit in Gestalt einer Riesenschlange erscheinen und den Nachkommen ihren Willen durch den Mund eines Propheten kundtun. Oder einzelne Stämme stehen in einem besonderen verwandtschaftlichen Verhältnisse zu einer Klasse von Tieren, zu den Hundsaffen (Pavianen), den Krokodilen, den Löwen usw. Sie stammen etwa von ihnen ab, sie sehen in ihnen ihre Ahnen und Brüder. Sie dürfen deshalb diese Tiere nicht töten und nichts davon essen. Auf dieser Grund­ lage der vorgestellten oder fingierten Abstammung von bestimmten Tieren gliedern sich die Primitiven in Clans, die nach ihren Stammestieren, dem Totem, genannt werden, die „Hundsafsen" (Paviane), die „Löwen," die „Krokodile", die „Fische" usw. Die Glieder eines Totems bilden eine Familie, oft selbst über den eigenen Stamm hinaus; so daß ein Hundsaffenmann eines Stammes bei der Ankunft in einem Dorfe fremden Stammes ohne weiteres von den dortigen „Hunds­ affen" als Bruder ausgenommen wird. Die Totemgemeinschaft hat dieselben Tabu, d. h. Enthaltungen, die mit dem Totem Zusammenhängen. Sie darf meist nur außer­ halb ihres Totem heiraten, denn die Glieder des Totem gelten als blutsverwandt. Manche Jndianerstämme schnitzen ihren Stammbaum in kunstvollen Holzfäulen, indem sie die Totemtiere übereinander stellen, wie Geschlecht nach Geschlecht geheiratet hat. Die Stammesgliederung nach Totems mit den zugehörigen Ent­ haltungen hat sich über das Tierreich ausgedehnt und verallgemeinert; so nehmen Stämme als ihr Totem die Sonne, den Reis, einen bestimmt geflochtenen Korb usw. in unendlicher Variation. Der wirkliche oder fingierte Clanzusammenhang auf dem Grunde des Totem ist bei vielen primitiven Völkern in Afrika und fast all­ gemein bei den Indianern in Amerika das soziale Prinzip der Stammesorgani­ sation. Oder — eine andere Gruppe von Vorstellungen aus dem Zusammenhang von Mensch und Tier, — manche Menschen haben die Kraft, sich zuzeiten in Tiere

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Die Religionen der Völker.

zu verwandeln (Werwolf). Manchmal ist das harmlos, fast wie in unseren alten Märchen. Häufig indessen erweist sich ein Mensch durch diese Fähigkeit als Zau­ berer, als „Menschenfresser", kurz als ein gefährlicher Mensch. Von solchen Zwitter­ menschen, die bald Tier, bald Mensch sind, werden schauerliche Geschichten erzählt, bei denen auch den Afrikanern die Haare zu Berge stehen. Manchmal hat einfach bei einem Stamme der Mensch zwei Seelen, die eine wohnt im Menschen, die andere im Totemtier. Die Neger von Ossidinge haben solche Doppelgänger in den Flußpferden; und es ist nichts Ungewöhnliches, daß sie ihre Flußpferddoppelseele beauftragen, den im Kanu den Fluß hinunterfahrenden Feind umzustürzen und so zu verderben. d) Die Ahnen. Die Verstorbenen leben weiter. Es ist für ein primitives Gemüt unbegreiflich, daß ein tapferer Krieger, ein großer Häuptling, heute noch sollte in voller Größe in die Schlacht gezogen und morgen schlechthin tot sein. Sein Bild, sein Gedächtnis lebt fort. Er erscheint im Traume, da redet er, spricht Wünsche aus und gibt Befehle; er lebt also. Er ist nur in ein anderes Land ge­ zogen, wo er im Kreise seiner Ahnen in ähnlicher Weise wie auf Erden, nur irgend­ wie in schattenhafter Form sein gewohntes Leben fortsetzt. Es ist nicht bloß die lebhafte, von Träumen unterstützte Erinnerung, welche in Furcht und Liebe das Gedächtnis der Toten wach erhält und ihnen ein neues Leben verleiht. Der Primitive sieht sich auf Schritt und Tritt von unsichtbaren Mächten um­ geben, die in Sturm und Wetter, in Blitz und Donner, in dem Grauen des nächt­ lichen Waldes und den Gefahren der Wasserwirbel in sein Leben eingreifen. Es ist naheliegend für ihn, die ihn umgebende Natur von denselben Gewalten be­ herrscht zu denken, die in seinem Leben entscheidend sind. Die lebenden Häupt­ linge haben durch Regenzauber die Fruchtbarkeit der Äcker gesichert; sollten nicht auch die verstorbenen Häuptlinge eine drohende Dürre abwenden können? Der Häuptling hat bei seinen Lebzeiten sein Volk von Sieg zu Sieg geführt; sollte er es nach seinem Tode mit ansehen, daß sein Volk von den Feinden vernichtet wird? Die Ahnen leben in der andern Welt so lange, als ihr Gedächtnis unter den Men­ schen lebendig ist; allmählich verblaßt ihr Bild; in der dritten, vierten Generation sind sie vergessen; der Stamm hat höchstens ein Interesse, das Gedächtnis der großen Häuptlinge wach zu erhalten; ihre Tradition macht oft ein wichtiges Erb­ stück der Folklore aus; nicht historisches, sondern religiöses Interesse hat diese Erinnerung wach erhalten. So lange aber das Gedächtnis der Verstorbenen frisch ist, sind sie eine Macht im Volksleben. Den Ahnen muß Speise und Trank und was sie sonst in diesem Leben brauchten, reichlich gespendet werden. Vernachlässigt man sie, läßt man sie wohl gar Hunger leiden, so würden sie sich bitter rächen und Unheil über ihre Nachkommen bringen. Am wichtigsten ist es für die Verstorbenen, daß ihre Nachkommen an den Sitten und Bräuchen festhalten, die sie geübt haben; denn das ist der geheiligte Stammesbrauch, den auch sie von ihren Vätern über­ kommen haben. In diese Stammsitte muß das nachwachsende Geschlecht mit Fleiß eingeführt werden. Bei den monatelangen Exerzitien der afrikanischen Mannbarkeitsfeiern gehen die Knaben und Mädchen, mit der weißen Geister­ farbe angestrichen, gleichsam in das Land der Ahnen, um sich von ihnen in den Brauch der Väter einführen zu lassen. Die Lebenden bilden mit den Ahnen eine geschlossene Gemeinschaft, die zusammen der Stamm ist und die Kontinuität des

Religionen der primitiven Völker.

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Lebens und der Überlieferung im Stamme gewährleistet. Durch den Übertritt zu einer fremden Religion, zum Christentum oder Islam, aus diesem Stammes­ zusammenhang herauszutreten, wird zunächst von den Übertretenden selber und vielleicht noch mehr von der Gemeinschaft, die sie verlassen, als Preisgabe der Väter und Ahnen, als Bruch mit dem Stamme, als Gehen ins mittelalterlich gedachte Elend empfunden. e) Die Geister. Die Ahnen sind nicht die einzigen geistigen Mächte, die in das Leben des Primitiven eingreifen. Sonne, Mond und Sterne, die wie unheimliche Gespenster das Land durchziehenden Epidemien, das in Wäldern und Sümpfen lauernde Fieber und die Malaria und andere unsichtbare Gewalten umgeben ihn. Er fühlt sich von ihnen umdrängt; er ist weniger wie wir modernen Kulturmenschen imstande, sich gegen diese Unbilden zu wehren. Er fühlt sich als ein Spielball dieser unsichtbaren Gewalten. Sein Sinnen ist darauf gerichtet, sich mit ihnen abzufinden und leidlich mit ihnen auf gutem Fuße zu leben, vor allem ihren verschuldeten oder unverschuldeten Zorn abzuwenden, überwiegend ist dieser Ausblick auf die unsichtbare Welt trübe, wie die den Primitiven um­ gebende Wirklichkeit. Das verleiht den Zauberern, den Medizinmännern, den Priestern, den Schamanen oder wie sie heißen, die den Verkehr mit den Geistern vermitteln, so großen Einfluß. Erscheinungen von Spiritismus und Hypnose, Medien und Somnambulen, Fernsehen und Telepathie, kurz, alle jene unerklär­ lichen psychologischen und pathologischen Phänomene eines überreizten Hirns oder einer zerrütteten Nervenkonstitution sind dort so häufig, vielleicht noch häufiger als bei uns gerade in abgelegenen Bauerndörfern, in der Einsamkeit des Schwarz­ waldes oder der niederdeutschen Heide. Starke Narkotika, aufregende Musik, leidenschaftliche Tänze und andere Reizmittel steigern die Sensibilität bis an die Grenze der Raserei. Was sich in diesem mystischen Halbdunkel überreizter Nerven, krankhafter Phantasie und raffinierter Berechnung als Offenbarung der Götter und Geister kundmacht, beherrscht das Leben der Individuen und des Stammes mit eiserner Gewalt. Selten gewinnen diese unheimlichen Geistesmächte in der Phantasie und Überlieferung eines Volkes so konkrete Gestalt,.daß man von ihnen Bilder macht; was sich derart bei den Primitiven findet, sind meist Ahnenbilder; auch eine eigentliche Mythologie, in der die fröhlich schaffende Phantasie einen Götterhimmel mit Liebe und Leid, mit Macht und List, schüfe, ist selten. Die Götter und Geister schwanken wie die wogenden Abendnebel. Auch sittliche Qualitäten kommen ihnen meist erheblich weniger zu als den Ahnen; dazu tragen sie noch zu sehr den Stempel blindwaltender Naturkräfte an sich. f) Der monotheistische Grundzug. Merkwürdig, daß neben diesem krausen Gewirr von Seelensubstanz, Totem, Manismus und Dämonismus sich bei vielen primitiven Völkern noch eine Schicht der religiösen Gedankenwelt findet, in der relativ reine Gottesvorstellungen vorliegen. Es ist schwer zu sagen, ob hier ein Nachklang einkr früher reineren Gottesvorstellung sich geltend macht oder eine Nebenschicht des religiösen Lebens, die von jenen andern fast überwuchert ist. Der große Gott ist der Spender der wichtigsten Kulturgüter, des Feuers, des Reises, der Kuh, gewesen; er hat Recht und Sitte gegeben; man braucht ihn nicht zu fürchten; da man mit den Geistern so viel Not hat, sie bei guter Laune oder wenigstens sich vom Halse zu halten, läßt man den guten Gott eben für sich. Vielfach verschwimmt

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Die Religionen der Völker.

er mit dem verklungenen Urahn des Geschlechts, wie dem Unkulunkulu der Sulu, oder er verschmilzt mit höherem Gottesvorstellungen, die in der Vorzeit von anders­ woher importiert sind, wie der Mula Djadi der Batak, oder er wird mehr oder weniger mit dem leuchtenden Himmel oder der strahlenden Sonne identifiziert, wie der Mawu der Ewe und der Singbonga der Kols. Er ist nicht lebendige, religiöse Kraft, sondern verbleichende Tradition; aber in Märchen und Sprich­ wörtern begegnet er häufig, und in Stunden der höchsten Not drängt sich sein Name von selbst aus die Lippen.

Anhang.

Texte zu den animistischen Religionen. A. aus Mansfeld, Urwalddokumente. Berlin, Reimer 1908, Kap. XII. Religion 209 ff.

Durch Beschwörungen und durch Opfer sucht man die Dämonen fern zu halten. Auch bei den Croßflußleuten wird geopfert, um die Dämonen günstig zu stimmen. Den Hauptwert legen die Eingeborenen darauf, mit unsichtbaren Geistern in Verbindung zu treten, und das hoffen sie dadurch zu erreichen, daß sie sie durch Opfer günstig stimmen. Veranlassung zu Opfern geben z. B. Jagd, Ernte, Krankheit, Gummigewinnung. Die Opfer werden entweder einzeln im Hause dargebracht, oder man vereinigt sich innerhalb der Ge­ meinde im Palaverhaus; wie die alten Germanen Opferverbände bildeten, so entstehen hier ebenfalls Ngbe-Gemeinden. Da man den Verstorbenen großen Einfluß auf die Geschicke der Lebenden beimißt, so wird ihrer stets beim Opfern zuerst gedacht. Alle Begebenheiten werden auf einen höchsten Gott zurückgeführt, der allgemein den Namen Obaschi hat, im Gebet selbst aber mit Ewerok-babi angeredet wird. Über seine Gestalt hat man sich anscheinend nie eine Vorstellung gemacht; man nimmt an, daß er über den Wolken wohnt und sich den Menschen im Traume offenbart. Die Eingeborenen sagen stets: „Gott sagt uns im Traum, was wir tun sollen". Auf dieser Annahme beruht z. B. der Glaube an die Wirkung der Medizinkräuter; Gott teilt angeblich im Traum jedem Menschen den Namen und den Platz der Pflanze im Urwald mit, die für ihn besonders wirksam ist. Der Mann muß dann am folgenden Tage dieses Kraut im Busch finden und um eine Stange ge­ wickelt vor seiner Farm aufstellen; stiehlt jemand auf der Farm, so besitzt das Kraut die Kraft, den Dieb per Distanz krank zu machen. Neben diesem Gott gibt es auch eine Reihe von Nebengottheiten (Dämonen), die eine Vermittlerrolle zwischen Mensch und Gott spielen; sie schweben unsichtbar in der Luft herum. Jeden Menschen umgibt ferner, wie eine Hülle, eine Kraft; wenn er imstande ist, sich einen kleinen Teil dieser Kraft zu verschaffen, hat er einen gewissen Einfluß auf andere Menschen; davon machen die Medizinmänner einen ausgiebigen Gebrauch. Die Dämonen werden bildlich dargestellt, und zwar sind es die gewöhnlich als Juju be­ zeichneten Holzgötzen, die aber keineswegs selbst angebetet werden, sondern nur symbolisch gedacht sind. Die beste Erklärung für das Wort Juju scheint das Poruba-Wort Egugu, welches Geist eines verstorbenen Mannes bedeutet, zu geben. Die Doruba wohnen im Hinterland von Lagos. Die Ekois nennen die Kopfmasken, die beim Tanz aufgesetzt werden, Juju-Köpfe und sagen, daß diese Köpfe die verstorbenen Ahnen darstellen sollen. Veranlassung zu gemeinsamen Opfern können mannigfacher Art sein, z. B. schlechte Ernte, Krankheiten epidemischen Charakters oder auch Mangel an Geburten. Der Häuptling versammelt dann die Bewohner des Dorfes im Palaverhaus, nachdem vorher eine Ziege oder ein Schaf getötet worden ist. Er kauert vor dem Eta-ngbe (Granitblock) nieder, schneidet ein Stück Ziegenfleisch in schmale Stücke, nimmt drei davon in die linke und vier in die rechte Hand; indem er die linke Hand ausgestreckt vor sich hinhält, beginnt er das Opfergebet: „Erhabene Tote, höret mich: Sehet hier Planten und Palmwein! Nehmt sie an, auf daß kein Unheil mich treffe! „Sehet unsere Früchte, am Boden kniend bieten wir sie Euch, nehmt unseren Palm­ wein" Daß der Eta-ngbe der wichtigste Teil des ganzen Gotteshauses ist, geht auch daraus hervor, daß seine Grundsteinlegung genau wie die Grundsteinlegung bei einem Kirchenbau bei

Religionen der primitiven Völker.

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uns mit Feierlichkeiten verbunden ist. Sobald das Haus unter Dach und im Innern die Sitz­ bänke fertiggestellt sind, wird ein Tag bestimmt, an dem der Stein in das Gotteshaus gesetzt werden soll; man hat bereits Wochen vorher im Gebirge einen besonders schönen Granit­ block von co. 3 m Höhe ausgesucht. In der Mitte des Hauses wird ein tiefes Loch gegraben. Bei den Gebeten, die der Häuptling gelegentlich dieser Grundsteinlegung spricht, nennt er die Namen aller Verstorbenen des Ortes, und jeder der Anwesenden tritt bei dieser Gelegen­ heit an den Häuptling heran und berührt mit der Hand die Rechte desselben. Auch die Nach­ barorte werden zur Feier eingeladen. Sobald der Granitblock eingemauert ist, wird über ihn eine Art Tafel, die sog. Orongbe, gehängt, auf der die Schädel der Kühe und Ziegen, die man am Einweihungstage geschlachtet hat, befestigt werden. Der Granitblock wird stets mit­ genommen, wenn die Bewohnerschaft das Dorf verläßt, um sich an einem anderen Platz anzusiedeln. Über das Aussehen der Seele befragt, erklärte ein Oberhäuptling der Banjangs fol­ gendes: „Ich kann meine Seele jeden Tag sehen; ich stelle mich einfach gegen die Sonne, der Schatten ist meine Seele; sie geht mit dem Tode ab; denn sobald einer tot ist, gibt es keinen Schatten mehr." Der Name für die Seele ist: Nterantu. Wenn jemand von Krankheit träumt, so ist das ein Zeichen, daß ein Mann im Dorfe sterben muß. Wenn jemand im Schlaf Dams gräbt, so muß am nächsten Tage ein Mensch sterben, weil man, um Tote zu beerdigen, ebenfalls gräbt. Auch das Träumen von Regen wird als ein bevorstehender Todesfall ausgelegt, weil Wasser Tränen bedeutet. Totemismus.

Unter den Stämmen des Croßflusses steht unzweifelhaft heute noch der Totemismus in voller Blüte. Die einzelnen Gruppen — gewöhnlich ist es die Einwohnerschaft eines Dorfes — haben sich verschiedene Tiere ausgewählt, mit denen sie in einem engen Freundschafts- oder Berwandtschaftsverhältnis zu stehen meinen; es sind dies: die Flußpferde, Ele­ fanten, Leoparden, Krokodile, Gorillas, Fische, Schlangen, sämtlich Tiere, die entweder sehr stark sind oder die sich leicht im Wasser und Dickicht verbergen können. Dieses Verbergenkönnen ist unbedingtes Erfordernis, weil das Totemtier dazu ausersehen ist, als Helfer oder Freund dem Feinde heimlicherweise Schaden zuzufügen. Meiner Ansicht nach läuft der Totemismus hier auf Dualismus hinaus. Der Mensch kann sich nicht nur in ein Flußpferd verwandeln und in seiner Doppelgestalt sich unsichtbar machen, um seinen Gegner zu überfallen, sondern er kann die zweite Hälfte seiner Seele in der Gestalt eines wirklichen Flußpferdes beispiels­ weise beliebig gegen Widersacher in Bewegung setzen. Der Mann Assan hat z. B. einen Streit mit Egbe; eine Vermittlung ist, weil Egbe sie zurückweist, ausgeschlossen. Da benutzt Assan die erste Gelegenheit, sobald Egbe eine Kanufahrt macht, sich zu rächen; er sagt seinem Totemkrokodil Bescheid, und dieses wirft das Kanu um. Die Ware des Egbe fällt ins Wasser, unter Umständen muß Egbe ertrinken. — Man glaubt, daß in demselben Augenblick, in dem der Mensch stirbt, das zu ihm gehörige Totemtier sterben muß und umgekehrt; daraus folgt, daß Totemtiere nie geschossen werden dürfen. Da die Bewohner der Dörfer, bei denen der Elefant Totemtier ist, keineswegs von der Elefantenjagd Abstand nehmen, so lag die Frage nahe, wie sich äußerlich die Elefanten, die eine halbe Menschenseele in sich haben sollen, von den gewöhnlichen Elefanten unterscheiden. Es wurde mir folgendes geantwortet: Trifft ein Jäger, der Mitglied des Elefanten-Totemklubs ist, seinen eigenen Elefanten, so erkennen sich Jäger und Tier sofort selbst, beide gehen einfach ihren Weg werter. Verwundet ein Jäger einen Personenelefanten, so wird die zu­ gehörige Person krank, deren Schutzpatron das Tier ist. Der Fall kann aber eigentlich nur eintreten, wenn er vor Eintritt der Jagd dem in jedem Ort aufgestellten Elefantenfetisch zu­ geopfert hat. Wenn der Mann geopfert hat, so gibt sich der ihm begegnende Personenelefant angeblich dadurch sofort zu erkennen, daß er einen Vorderfuß erhebt und vor das Gesicht hält; das ist das Zeichen für den Jäger, daß er nicht schießen darf. Das Opfer wird aus dem Grunde fast nie unterlassen, weil man beobachtet haben will, daß stets nur der Eingeborene von einem Elefanten getötet worden ist, der nicht geopfert hatte. Dieser Totemglaube dürfte wohl heutzutage kaum an einem Platze der Welt so aus­ geprägt sein, wie gerade am oberen Croßsluß, und zwar, soweit er im Ossidingebezirk und

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Die Religionen der Völker.

stromab davon im englischen Nachbarbezirk Jkom liegt. Es war mir im Frühjahr 1907 ver­ gönnt, eine Herde von zwölf bis fünfzehn heiligen Flußpferden zu wiederholten Malen zu beobachten, mit denen die Bewohner eines kleinen Dorfes in einem wirklich rührend freund­ schaftlichen Verkehr standen. Da mir der Häuptling den Hain und den Bach, in dem die Herde sich ständig aufhält und ein geradezu paradiesisches Leben führt, nur unter der Be­ dingung gezeigt hat, daß ich kein Tier töte und auch keinem Fremden den Versteck verrate, so sei der Ort kurz mit X bezeichnet. Erwähnt sei noch, daß der Häuptling, als ich ihn fragte, wie es käme, daß ein Tier schwarz, das andere violett, das dritte hellrosa aussehe, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, mir antwortete: „Aber, Massa, hast du denn nicht in meinem Dorf gesehen, daß der eine Mann ganz dunkelbraun, der andere ganz gelbbraun gefärbt ist?" B. Morgengebet der Galla. (Carl Meinhof, Afrikanische Religionen. Berlin 1912. Aus Paulitzsche, Ethnographie Nordostafrikas. Berlin 1896.) „O Gott, Du hast mich die Nacht im Frieden verbringen lassen, laß mich auch den Tag im Frieden verbringen. Wohin immer ich mich wenden mag, mögest Du meine Schritte lenken auf dem Wege, den Du für mich zu einem friedlichen gestaltet hast, o mein Gott! Wenn ich gesprochen habe, nimm Verleumdung von mir weg. Wenn ich hungrig bin, rette mich vom Hungertode; wenn ich zufrieden bin, halte mich ab vom Übermut. Dich anrusend, o Herr, der Du keinen Herrn über Dir hast, trete ich den Tag an." Abendgebet der Galla. „O Gott, Du hast mich den Tag in Frieden verleben lassen, laß mich auch die Nacht in Frieden verbringen, o Herr, der Du keinen Herrn über Dir hast! Es gibt keine Stärke, außer Dir; Du allein hast keinerlei Verpflichtung. In Deiner Hand verbringe ich den Tag, in Deiner Hand verbringe ich die Nacht, Du bist meine Mutter, Du bist mein Vater." Gebet der Schilluk. (Allg. Miss. Ztschr. 1915,283). „Ich flehe Dich an, o Gott, ich bete zu Dir in der Nacht. Wie werden die Menschen erhalten durch Dich alle Tage! Wie Du wan­ delst inmitten des hohen Grases, so wandle ich mit Dir; wenn ich ruhe zu Hause, so ruhe ich mit Dir. Zu Dir bete ich um Nahrung, und Du giebst sie dem Menschen, und Wasser zu trinken; und die Seele hat ihr Leben durch Dich. Niemand ist über Dir, o Gott. Du wurdest der Großvater des Nyikang (des mythischen Ahnherrn des Stammes); Du bist es Nyikang, der du wandelst mit Gott; Du wurdest der Ahnherr der Menschen, Du und Dein Sohn Dak. Wenn eine Hungersnot kommt, ist sie nicht von Dir? Sowie diese Katze hier steht, ist es nicht so, wenn sie stirbt, geht ihr Blut zu Dir? O Gott, zu wem sollen wir beten, wenn nicht zu Dir? Du, o Gott, und Du, der Du Nyikang bist! Die Seelen der Menschen, sind sie nicht Dein Eigentum?"

Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen. Die westasiatisch-europäische Kultur ist nicht wie die indische oder die chine­ sische in der Hauptsache das Werk eines Volkes, das sie in Jahrtausende langer Arbeit aufgebaut hat. Es haben vielmehr die verschiedensten Völker daran mit­ gearbeitet. Die tiefen und weiten Fundamente haben drei Völkergruppen gelegt: die Völker der Euphrat- und Tigris-Tiefebene, die Ägypter und die Völker des iranischen Hochlandes. a) Die von den Zwillingsflüssen Euphrat und Tigris durchströmte Tiefebene liegt zwischen den unendlichen, öden Steppen und Wüsten Arabiens im Westen, den pfadlosen Bergwildnissen Armeniens und Kurdistans im Norden und dem regellosen, zu den Oasen des iranischen Hochlandes aufsteigenden Bergketten im Osten. Wenn in diesem Lande ein geordnetes Regiment herrscht, das sich der wilden, begehrlichen Räuberhorden dieser Nachbarländer zu erwehren vermag und diese zur Unterwürfigkeit zwingt, und wenn rastlose Betriebsamkeit und weit­ schauende Regierungsweisheit die Wassermassen der Ströme durch eine ausgedehnte Kanalisation fruchtbar zu machen und im Zusammenhang damit die gewaltigen, schlummernden Bodenschätze aufzuschließen versteht, kann die mesopotamische

Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen.

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Tiefebene in ein Paradies umgewandelt werden. Diese günstigen Bedingungen lagen in den letzten 2% Jahrtausenden vor Christus wenigstens Jahrhunderte lang vor und haben trotz aller Kriegsstürme, welche in diesen 25 Jahrhunderten über das Land dahingebraust sind, es zu einer der Wiegen der Menschheitskultur gemacht. Verschiedene, auch verschiedenen Rassen angehörige Völker haben zu diesem großen Werke beigetragen: die wohl der turanischen oder einer unter­ gegangenen Völkerfamilie angehörigen Sumerer und die semitischen Akkader sind die ältesten in den geschichtlichen Urkunden nachweisbaren Begründer der mesopo­ tamischen Kultur. Dann bewohnten die Assyrer nnd Babylonier das Land. Später eroberten nacheinander die Elamiter, die Amoriter, die Hettiter und die Perser das Land, und die Herrschaft ging von den südlicheren Babyloniern 705 auf die nördlicheren Assyrer, von diesen wieder auf die Babylonier über, um dann unter Kyrus 539 an die Perser und zwei Jahrhunderte später unter Alexander dem Großen 330 an die Makedonier zu fallen. Die politische Geschichte des heiß umstrittenen Landes ist also außerordentlich bewegt gewesen. Aber die reli­ giöse und kulturelle Entwicklung des Landes ist dem Anschein nach wenigstens bis in die Mitte des vorchristlichen Jahrtausends, bis zur Eroberung des Landes durch die Perser, wesentlich einheitlich gewesen. Die eigentlich kulturschöpferischen Völker wohnten in Babylonien, alle erobernd in das Land einbrechenden Völker, auch die Assyrer, besaßen keine eigene Kultur von gleicher Höhe und Mannigfal­ tigkeit; sie wurden meist verhältnismäßig rasch von der bodenständigen babylo­ nischen Kultur und Religion assimiliert. Eben diese bodenständige Kultur aber war durchaus religiös beherrscht und orientiert. Der Ausgangspunkt war wohl die auch sonst bei den Semiten weit verbreitete Anschauung, daß jede Stadt — und die Kultur war überwiegend städtische Kultur — ihr Hauptheiligtum und ihren Hauptgott hat. Dieser Hauptgott hat in der Regel auch seine weibliche Genossin, wiewohl diese Göt­ tinnen im allgemeinen nicht stark hervortreten. Da nun aber schon früh größere Gebiete mit verschiedenen, ursprünglich autonomen Städten zu Reichen zusammengefügt wurden, wuchsen auch die Götter zu gewissen feststehenden Kreisen zusammen, die trotz mannigfaltiger Variationen als Dreizahlen empfunden oder zu Götterfamilien zusammengeordnet wurden: so Anu von Erech (seine Gemahlin Antu), Enlil von Larsa (seine Gemahlin Ninlil, ihr Sohn Ninib) und Ea von Eridu an der Mündung des Euphrat und Tigris in den Persischen Meer­ busen (seine Gemahlin Damkina; ihr Sohn Marduk von Babel, dessen Sohn Nebo von Borsippa); oder Sin (der Mond) von Ur und Harran, Schamasch (die Sonne) von Nippur und Ramman (Sturm, Gewitter). Je nachdem nun eine Stadt als Hauptstadt Bedeutung gewann, wuchs auch das Ansehen ihres Hauptgottes. So war Marduk, der Bel (Baal, Herr) von Babel, der Hauptgott, solange das babylonische Reich bestand, und ebenso Aschur, solange Ninive die Hauptstadt des assyrischen Weltreiches war. Neben diesen sozusagen lokalen Göttern, deren Ansehen mit der Bedeutung ihrer Städte stieg und fiel, genossen gewisse Götter eine nicht in gleicher Weise an den Ort gebundene Ver­ ehrung, weil sie große Naturphänomene darstellten oder wenigstens mit ihnen in Verbindung standen: so Sin mit dem Monde, Schamasch mit der Sonne, Adad mit dem Gewitter, Ninib mit der Frühsonne und Frühjahrssonne, Nergal

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mit der versengenden Glutsonne. Vor allem spielen als Verkörperungen wich­ tigster Naturvorgänge Jschtar und ihr Geliebter Tammuz eine große Rolle. Wenn unter der Glutsonne des Sommers die berückende Schönheit und Pracht der Natur dahinstirbt, dann stirbt Tammuz, der Vegetationsgott, und zumal die Frauen geben sich leidenschaftlichen Klagen hin um den früh dahingeschiedenen schönen Jüngling. Die Göttin Jschtar, fast die einzige wirklich lebendig empfundene und verehrte Göttin des Pantheons, sucht ihren Geliebten und scheut selbst die furchtbare Höllenfahrt nicht, um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Wenn im Frühling die erstorbene Natur zu neuer Pracht erblüht, dann feiert man mit frohem Jubel das Frühlingsfest. Jschtar wird in diesem Rahmen die Göttin der Liebe und Lust, der Fruchtbarkeit und Schönheit, zugleich wie die griechische Artemis die Göttin der Jagd und des Krieges. Erhebt sich soweit die assyrisch-babylonische Religion kaum über eine gewisse trockene Staatsreligion und eine Naturvergötterung, bei der die zugrunde liegenden Naturvorgänge deutlich durchschimmern, so sind doch von den ältesten Zeiten gewisse starke Einschläge zu beobachten, welche dieser Religion ein eigen­ artiges Gepräge und eine merkwürdige Ausgestaltung geben. Die Völker in Babylonien haben von den ältesten Zeiten an den Lauf der Gestirne mit über­ raschender Genauigkeit beobachtet. Sie haben den Lauf des Mondes in die vier Phasen eingeteilt und demnach die siebentägige Woche eingeführt. Sie haben das Sonnenjahr mit 365 Tagen, mit den vier Höhepunkten der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche und dem längsten und kürzesten Tage beobachtet; sie haben festgestellt, daß der Sonnenaufgangs- und -Untergangspunkt im Laufe des Jahres durch die zwölf „Häuser" des Tierkreises hindurchläuft, in welchen sie den Himmelsrand einteilten. Ja, sie haben bereits herausgefunden, daß die Sonne infolge der Ekliptik im Ausgangspunkte langsam vorrückt, also mit dem Sonnenaufgang der Frühlings-Tagundnachtgleiche in etwas mehr als 3000 Jahren aus einem Haus des Tierkreises in das andere fortschreitet. Da sie mithin seit den Tagen der babylonischen Astronomen aus dem Zeichen der Fische in das des Widders, weiter in das des Stiers eingetreten ist, sind die Wendekreise längst nicht mehr in den Zeichen des Krebses und des Steinbocks, sondern in denen des Löwen und des Wassermanns. Es ist nur ein Zeichen, in welchem Grade unsere Kultur noch von der altbabylonischen Sternforschung abhängig ist, daß unsere Atlanten noch immer irrig die alten Namen der Wendekreise weiterführen. Mit dieser genauen Sternbeobachtung verknüpften sich nun zahlreiche astro­ logische Anschauungen: die beiden Tagundnachtgleichen des Frühlings und Herbstes verbanden sich mit Marduk und Nabu (Nebo), der längste und der kürzeste Tag mit Nergal und Ninib. Nergal als Vertreter der Glutsonne des Sommers, wurde damit der Herr des Südens, Ninib umgekehrt der des Nordens; Marduk, ohnehin der Gott der ausgehenden Sonne, wurde der Herr des Ostens, Nabu der des Westens. In diesen festen Turnus des Sonnenlaufes gliederten sich die Planeten ein, und zwar zählte man solcher Wandersterne, die Sonne mit eingerechnet, sieben: man kombinierte sie zugleich mit den sieben Tagen der Woche. Wiederum zeigt sich der Einfluß der babylonischen Kultur darin, daß diese Kombination der Planeten mit den Hauptgöttern einerseits und den Wochen-

Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen.

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tagen anderseits zum Gemeingut der gesamten abendländischen Kultur geworden sind, und es ist dabei lehrreich, zu beobachten, welche Götter die verschiedenen Völker mit denen der Babylonier verglichen haben:

Schamasch, (Sonne) — Sonntag. Sin, (Mond) — Montag. Nergal — Mars — Ziu, Dienstag (Mardi). Nabu — Mercurius (Mercredi). Marduk — Jupiter — Donar (Jeudi, Donnerstag). Jschtar — Venus — Freia (Vendredi, Freitag). Ninib — Saturn (Saturday). Hierein greift nun die tief eingewurzelte, geradezu das Geistesleben der assyrisch-babylonischen Völker beherrschende Anschauung ein, daß die Himmelswelt in allen Stücken genau der Erdenwelt entspreche, und zwar sowohl in ihrer Geographie wie in den sie beherrschenden Gesetzen und ihrem Ergehen. Wenn man eine richtige Karte der Himmelsländer gezeichnet hat, dann hat man zugleich eine genaue Karte der Erdenwelt, d. h. des assyrisch-babylonischen Weltreiches. Wenn man die Lebens­ gesetze des Gestirnlaufes richtig beobachtet hat, dann kennt man damit die Gesetze, unter welchen sowohl das Reich, wie der König, wie jeder einzelne Mensch steht. Jeder Stem hat seine besondere glückverheißende oder unglückdrohende Qualität, welche teils mit dem sonstigen Charakter des Gottes oder mit seiner Stellung am Himmel oder mit seiner Vergleichung mit Naturphänomenen zusammenhängt. Man stellt nun das Horoskop, sowohl um den Ausgang wichtiger Unternehmungen als auch besonders bei der Geburt den Lebensgang des Neugeborenen aus den Sternen abzulesen. Voraussetzung ist die Überzeugung, daß ein ehernes Geschick das Leben des einzelnen wie der Völker beherrsche, und daß dieselben Gesetze das Weltall im ganzen wie im einzelnen regieren. Da z. B. das Schaf das gebräuchlichste Opfer­ tier ist und die Schafleber erfahrungsgemäß allerlei wunderliche Gestaltungen annimmt, sieht diese Mantik in der Schafleber ein Gegenbild des Universums, deutet alle ihre Lappen und Linien und entwickelt eine komplizierte Wissenschaft der Leberschau, welche der Adept der Mantik an sorgfältig ausgezeichneten Ton­ lebern studiert, und diese Pseudowissenschaft der Hepatoskopie ist sogar bis nach Etrurien gewandert. War man erst einmal mit allem Sinnen und Denken auf diese Gesetzlichkeit des Weltenlaufes und ihre Wiederspiegelung in allerlei Natur­ vorgängen eingestellt, so war es kein Wunder, wenn die Wahrsagerei die buntesten Blüten trieb: Traumdeutung, Deutung des Vogelflugs und aller möglichen Wahrzeichen, Deutung aus den Gestaltungen eines in einen Becher mit Wasser geschütteten Oltropfens usw. Babylonien hat die Völker des abendländischen

Kulturkreises mit vielen solchen Methoden der Astrologie, der Mantik, der Omina beschenkt, nur daß sie teils hier nicht so fest im Volksbewußtsein einwurzeln konn­ ten, da die Voraussetzung dazu, die Überzeugung von der ehernen Gesetzlichkeit

des Weltlaufes, fehlte; teils verschmolzen sie sich mit allen möglichen anderen „okkulten Wissenschaften" animistischen oder kabbalistischen Ursprungs und bildeten so jenes seltsame trübe Gemisch einer unter Ausschluß der Öffentlichkeit gepflegten Praxis, halb Aberglaube, halb Pseudowissenschaft, in der unter einem Wüste von Unsinn tiefsinnige Erkenntnisse und Naturbeobachtungen verborgen liegen. Es ist denn doch schließlich aus der Astrologie die Astronomie, aus der Alchimie die Chemie, aus den Beschwörungen und Bezauberungen die Heilkunde hervorgewachsen.

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Die Religionen der Völker.

Eine besonders anziehende, neuerdings viel beachtete Seite der babylonischen Religion ist die mannigfaltige Mythologie, welche sie hervorgebracht hat; d. h. teils sind Naturvorgänge, wie das Absterben und Wiedererwachen der Natur, zu einer romantisch ausgestalteten Geschichte verarbeitet, — dem Tammuzmythus und der Höllenfahrt der Jschtar, — teils sind halbphilosophische Theorien über die Entstehung der Erde und der Menschheit, die Sintflut u. a., in epischer Form und Anschaulichkeit dargestellt. Solche Mythenstoffe sind zumal in dem großen, leider nicht vollständig erhaltenen Gilgamesch-Epos zusammengearbeitet. Zunächst überrascht es da, wie nahe die babylonische Sintflutsage sich mit dem Bericht des ersten Buches Mosis berührt. Hier liegt, da die letztere Darstellung jedenfalls um viele Jahrhunderte jünger ist, wahrscheinlich eine wirkliche Abhängigkeit vor, was ja auch gerade bei der Sintflutsage, die sich unter so verschiedenen, weit auseinanderwohnenden Völkern findet, kein Wunder ist. Utnapischtin, der Held der babylonischen Sage, auch Hadrachasis oder — die beiden Bestandteile des Wortes umgekehrt, in griechischer Form Lisuthros genannt, — hat Kunde bekommen, daß der Gott Enlil mit den andern Göttern zusammen die Menschheit durch eine große Flut vernichten will. Er baut sich deshalb eine große Arche und rettet sich in ihr. Sieben Tage steigt und weitere sieben Tage fällt die Flut. Nachdem sich die Wasser verlaufen haben, wird Utnapischtin, der den Göttern ein Dankopfer gebracht hat, von Enlil in das „Unsterblichkeitsland an der Mündung der Ströme" im Westen, vielleicht jenseits der Säulen des Herkules entrückt. Dort sucht ihn der Held Gilgamesch auf, um von dem ihm durch den Fluch der Jschtar anhaftenden Aussatz befreit zu werden und die Äpfel der Unsterblichkeit zu holen. Er gewinnt sie zwar auch, aber während eines Bades stiehlt sie ihm die Schlange wieder. Gewaltiger ausgemalt ist das Drama von der Weltentstehung; es berührt sich kaum mit dem biblischen Schöpfungsbericht, nur daß viele alttestamentliche Anklänge und Anspielungen Bekanntschaft mit den babylonischen Mythen vermuten lassen: Von der wüsten Urgottheit Tiamat und ihrer Partnerin Apsu — dem Salz- und Süß­ wasserozean, also dem Urchaos, — sind im Laufe der Zeit die Götterpaare Lachmu und Lachamu, von diesen Anschan und Kischan, von diesen die bekannte Trias Anu, Ea und Enlil, von Ea Marduk, von Marduk Nabu gezeugt. Nun haben aber diese jüngeren Götter, besonders Anu, Ea, Enlil und ihre Kinder das Chaos in einen Kosmos umgeschaffen, also in den wüsten Wirrwarr Gesetz und Ordnung, Leben und Wachstum gebracht. Darüber zürnt Tiamat und will mit dem Heere ihrer gewaltigen, finsteren Dämonen diese Welt wieder zerstören. Marduk erklärt sich bereit, den Riesenkampf gegen die Tiamat und ihr höllisches Heer aufzunehmen, wenn die anderen Götter ihn als Herrn der Welt anerkennen. Er besiegt die Tiamat, spaltet sie in Himmel und Erde und schafft die letztere so um, daß die Götter auf ihr Anbetungsorte haben. Es ist möglich, daß sich dieser Schöpfungsbericht mit dem alttestamentlichen berührt hat; aber die betreffenden Stücke sind dann verloren gegangen. Ein dritter Mythos erzählt von dem ersten Menschen: Adap a von Eridu, Eas Sohn, wird von Anu zur Rechenschaft gezogen, weil er durch seinen Fluch die Flügel des Gottes Zu, des Südwindes, zerbrochen hat. Er besänftigt aber den erzürnten Gott, und dieser setzt ihm die Unsterblichkeitsspeise vor, die aber Adapa, einem falschen Rate seines Vaters Ea folgend, ablehnt. Ein vierter Mythus, der von der Höllenfahrt

Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen.

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Jschtars, gibt ebenso wie die Nekya der Odyssee erwünschte Gelegenheit, ein in seiner Weise großartiges Bild von dem Scheol, „dem Lande ohne Rückkehr", zu zeichnen, dem „Hause der Finsternis, dessen Betreten nicht wieder hinausführt, dem Wege, dessen Begehen ohne Rückkehr ist, dem Hause, dessen Betreter des Lichts entbehren, wo Staub ihre Nahrung, ihre Speise Erde ist, die das Licht nicht schauen, in Finsternis dasitzen, gekleidet sind wie Vögel in Flügelgewänder, wo über Tür und Riegel Staub hingestreut ist." Solche mythologische Epen setzen eine Kraft poetischer Phantasie voraus, wie sie von den Völkern des Altertums nur wieder von den Griechen erreicht ist. Dieser Reichtum des geistigen Lebens spiegelt sich auch sonst in der überaus reichen assyrisch-babylonischen Literatur wider. Weitaus am zahlreichsten sind darin die Orakel und Omina, ein Beweis, bis zu welchem Grade die Wahrsagerei das öffentliche und private Leben beherrschte; daneben treten die Beschwörungen, in welchen zumal Krankheitsdämonen in animistischer Weise, aber mit einem großen rituellen Aufwande ausgetrieben werden sollen. Eine dritte und vierte Gruppe bilden die Mythen, Legenden und Epen einerseits, die Ritualanweisungen anderseits. Eine besonders anziehende Gruppe endlich umfaßt die Hymnen, Gebete und Psalmen. Hier findet sich im einzelnen vieles, das an Tiefe und Schwung des Gedankens und religiösen Empfindens an die alttestamentlichen Psalmen oder an das Buch Hiob erinnert; auch in der literarischen Form findet sich hier vieles, das offenbar schon die später im Alten Testament übliche Art der literarischen Komposition vorbildet. (Man lese z. B. den freilich ermüdend langen, in unendlichen Mederholungen sich ergehenden Klagepsalm des Schubschi-meschrenergal in Lehmanns Textbuch, 2. Ausl. 1922.) Die Grundstimmung dieser religiösen Poesie ist begreiflicherweise starken Schwankungen unterworfen. Einmal heißt es elegisch und resigniert: Wer lernt begreifen den Willen der Götter im Himmel, den Plan der Götter, voll von Weisheit, wer verstünde ihn? Wie sollten auch begreifen lernen der Götter Wandel die blöden Menschen? Der nachts noch lebte, heute ist er tot, plötzlich ist er verändert, eilends ist er zermalmt. Im Augenblick singt und spielt er, im Nu heult er wie ein Klagemann. Wie das Helle und die Dunkelheit wechselt, ändert sich ihr (der Menschen) Wille. Sind sie hungrig, so gleichen sie einer Leiche, sind sie satt, gleichen sie ihrem Gott; geht's ihnen gut, sprechen sie vom Hinaufsteigen in den Himmel, sind sie betrübt, reden sie vom Hinabfahren in die Unteitoelt1).

Dann wieder bricht der Leichtsinn und Lebenswille durch; so, wenn die babylonische Sibylle den Helden Gilgamesch ermuntert: „Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden. Als die Götter die Menschen schufen, haben sie den Tod bestimmt für die Menschen, das Leben haben sie für sich selbst genommen. Du, Gilgamesch, voll sei dein Bauch, Tag und Nacht freue du dich, *) Aus dem Klagelied des Schubschi-meschre-nergel, Tafel II, 36—47, bei Lehmann S. 114 f.

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Die Religionen der Völler.

täglich mach ein Freudenfest, Tag und Nacht hüpfe und musiziere! Gesäubert seien deine Kleider, dein Kopf sei rein, im Wasser seiest du gewaschen! Schau auf das Kind, das deine Hand erfaßt, die Gattin vergnüge sich in deiner Umarmung*)".

b) Es ist eine merklich andere Atmosphäre und Höhenlage, wenn man von der babylonisch-assyrischen zur ägyptischen Religion übergeht. Zwar findet sich auch hier eine im wesentlichen kontinuierliche Geschichte von der in den vorgeschicht­ lichen Anfängen sich verlierenden Urzeit bis zu der Eroberung Alexanders des Großen 332. Auch hier bildet der unerschöpflich reiche Humus eines in Jahrtausende langer Arbeit aufgeschwemmten Alluvialtales die wirtschaftliche Unterlage für eine vielseitige reiche Kultur. Ägypten ist das Geschenk des Nil. Zwischen den toten Sand­ wüsten im Osten und Westen ist dies schmale reiche Tal hineingebaut und gebettet, und die regelmäßig mit den äquatorialen Regenzeiten einsetzenden Überschwem­ mungen des Nil ergänzen und steigern immer von neuem die Fruchtbarkeit des Humus. Der Wohlstand des Landes ist so gut wie ausschließlich vom Nil abhängig; es regnet so gut wie nie, und Gewitter gehören zu den Seltenheiten. Mit unverminderter Glut und Pracht geht an jedem Tage die Sonne auf und ebenso überwältigend schön des Abends wieder unter. Die unendlich weiten, öden Wüsten waren zugleich die beste Schutzwehr des Landes gegen fremde Er­ oberer; Ägypten war nicht, wie das Euphrat- und Tigrisland, zu allen Jahrhun­

derten den Einfällen begehrlicher Fremdvölker ausgesetzt: Der halbmythische Er­ oberungszug der Königsgeschlechter vom Falkenclan, im Morgengrauen der Geschichte, das Jahrhundert der Fremdherrscher, der Hyksos 1680—1580 vor Christo, die vorübergehenden Eroberungszüge des Asarhaddon von Assur (681—658) und des Kambyses von Persien 525 sind Episoden in einer fast dreitausendjährigen Geschichte, der nationalen Selbständigkeit, in der sich die ägyptische Kultur gegen alle aus­ wärtigen Einflüsse seltsam spröde ablehnend verhalten hat. Auch die ägyptische Religionsgeschichte beginnt wie die des Zlveistromlandes damit, daß jeder der zahlreichen Gaue — man zählte später ihrer 42 — seinen eigenen Gott hatte, und zwar merkwürdigerweise schon damals in der Weise, daß diesem Gotte ein bestimmtes Tier heilig war, das ebenso als Verkörperung wie als Be­ gleitung des Gottes galt:

in Elephantine (an den ersten Katarakten des Nil) Chnum, der Gott des Wasserreiches und sein Tier, der Widder; in Dendera Hathor, die Muttergöttin, ihr Tier die Kuh, daher sie selbst mit Kuhohren und Kuhgesicht dargestellt; in Necheb der Gott Nechbet und sein Tier, der Geier; in Siut der Gott Wepwawet, der Pfadfinder im Jenseits und im Feindes­ land, und sein Tier, der Wolf; in Hermopolis der Mondgott Thot, der Zeitregler, der deswegen auch der Schreiber der Götter und der Erfinder von Schrift und Sprache ist, und sein Tier, der Ibis; l) Aus dem Gilgamesch-Epos, Lehmann S. 95. Kol. III, 1—13

Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen.

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in Kynopolis Anubis, der Bestatter des Osiris, und sein Tier, der Schakal; in Memphis Ptah, der Schöpfer und Bildner der Menschen, und sein Tier, der Apisstter usw. Jedes dieser heiligen Tiere genoß nicht bloß zur Lebenszeit weitgehende Verehrung, sondern wurde vor allem auch nach dem Tode wie ein geehrter Mensch einbalsamiert und in ausgedehnten Nekropolen beigesetzt. So seltsam es uns berührt, wenn so Hunderte von Katzen oder Krokodilen mit göttlichen Ehren beigesetzt sind, so wertvoll ist es, daß meist diese Kadaver mit dicken Papyrusbinden umwunden sind, so daß auf diese Weise große Mengen von alten Manuskripten erhalten sind. Das ist überhaupt eine der merkwürdigen Eigentümlichkeiten Ägyptens, daß dort nichts verwest und vergeht. Man erinnert sich der Massen von Scherben, weg­ geworfenen Briefen, Aktenbündel usw., die auf den Müllhaufen altägyptischer Städte aufgefunden sind und der hellenistischen Forschung ein beinahe unerschöpf­ liches Material zur Kenntnis zumal des Lebens und Denkens der mittleren und niederen Volksschichten in der Ptolemäer- und Kaiserzeit zugeführt hat. Mit demselben zähen Konservatismus haben die ägyptischen Religionen, auch als sie längst tiefsinnige Systeme entwickelt hatten, uralten animistischen Aberglauben, Riten, Bräuche und Anschauungen einer vorgeschichtlichen Kindheitszeit mit fort­ geschleppt und erhalten. Nur bei einigen heiligen Tieren haben sich sinnige Erzählungen angesponnen. In Heliopolis-On im Delta ist der mythische Vogel Phönix heilig; alle 500 Jahre verbrennt er sich einmal auf einem von ihm selbst aufgeschichteten Scheiterhaufen, um aus der Asche verjüngt und verschönt wieder aufzusteigen. Ebendort in Heliopolis ist auch die Dattelpalme heilig, die im Ägyptischen (bennu) und im Griechischen (Phönix) denselben Namen trägt wie der Vogel; auch sie ist das Sinnbild der sich regelmäßig verjüngenden Naturkraft, denn sie setzt alle Monat Jahr aus Jahr ein neue Blätter an. Der Ibis erscheint in Ägypten von Süden her in den Tagen, wenn der Nil zu schwellen beginnt; er gilt deshalb als der gute Geist Ägyptens, der ihm den Segen der Fruchtbarkeit verbürgt. Der Apisstter, hapi, in Memphis ist die Verleiblichung des Nils; er muß schwarz sein mit einem weißen Viereck auf der Stirn, einem Adler auf dem Rücken und weißen und schwarzen Schwanz­ haaren. In der Totenstadt von Memphis, dem Serapeum, sind 70 solche Apis­ stiere in kolossalen Steinsärgen beigesetzt. Tiefer in das Leben und Denken der Ägypter als diese Tiermythen griffen theologische Spekulationen ein, die teils mehr volkstümlich die Naturvorgänge mythologisch ausgestalteten, teils von Priestergilden in den großen Reichstempeln ausgeklügelt wurden. Von der ersteren Art ist der große Isis-Osiris-Mythus, der das Leben Ägyptens, wie es vom Nil abhängig ist, darstellt: Osiris, der Nil, der strahlende Jüngling, der geliebte Gatte seiner Schwester Isis — die Geschwisterehe ist in Ägypten von alten Zeiten her Brauch — wird von seinem bösartigen Bruder Seth, dem Prinzip der Finsternis, Dürre und Unfruchtbarkeit, verfolgt, er wird von ihm mit seinen 72 Gefährten (den 72 Austrocknungstagen der Nil­ überschwemmung) gefangen, in eine Lade geworfen, getötet und dann den Fluten des Nil übergeben, welche die Lade in das Meer hinaus und bis an die Küste von Syrien nach Byblos treiben; oder der Leichnam wird von Seth zerstückelt und die Stücke über ganz Ägypten zerstreut. Isis, die untröstliche Gattin und Reimann (Richter), Geschichtswerl.

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Die Religionen der Völker.

Geliebte und ihre Schwester Nephthys klagen ergreifend um den gemordeten Jüngling und suchen den entführten Leichnam. Isis findet endlich alle zerstreuten Bruchstücke wieder zusammen, ihr Bruder oder Sohn Hör — übrigens sonst einer der ältesten ägyptischen Götter — gibt sein eines Auge her, um dadurch seinem Vater (oder Bruder) das Leben wiederzugeben. Er ist seitdem einäugig; er ist nämlich die Sonne. Osiris herrscht seitdem während des halben Jahres auf der Oberwelt in Ägypten, während des andern als König der Unterwelt. Merkwürdiger­ weise hat gerade dieser ganz auf ägyptische Verhältnisse eingestellte Jsis-Osirismythus, der auch mehr den volkstümlichen Erzählstoffen als den theologischen Spekulationen angehörte, für die spätere hellenistische Welt eine ungewöhnliche Bedeutung erlangt. Er ist das Geheimnis der Jsis-Osiris-Mysterien, welche seit der Ptolemäerzeit ihren Siegeszug durch die griechisch-römische Welt angetreten haben. In ihm schien der Sieg des Lebens über den Tod auf dem Grunde der sich selbst opfernden Liebe gewährleistet. Tiefsinniger waren andere mythologische Spekulationen. Seit Ägypten zu einem Reiche, wenn auch in zwei niemals organisch zusammengewachsenen Hälften, Unter- und Oberägypten, zusammengeschweißt war, traten auch hier wie in Babylonien und Assyrien die einzelnen Stadtgötter hinter den Göttern der Reichs­ tempel und Nationalheiligtümer zurück. Das Priestertum und der Tempelkult nahmen damit einen ungeheuren Aufschwung. Die Könige galten als Inkarnationen der Gottheit und nahmen für sich göttliche Verehrung in Anspruch, sie verkehrten mit den Göttern als mit ihresgleichen; sie hauchten den Götterbildern dadurch Lebenskraft ein, daß sie sie umarmten, d. h. ihnen von ihrem eigenen Leben mit­ teilten. Die Priester waren nur ihre Stellvertreter, wenn die Könige nicht selbst imstande waren, alle Obliegenheiten des Gottesdienstes auszuführen Nun wuchsen sich aber die Tempel und der Tempeldienst zu riesigen Anwesen mit ver­ wickelten Obliegenheiten aus; fast in keinem Lande der Erde sind den Göttern so gewaltige und kostbare Tempel gebaut worden wie z. B. die Reichstempel von Theben (Luxor und Karnak). Entsprechend diesen gewaltigen Tempelanlagen bildete sich das Priestertum aus; seine Vertreter allein kannten das verwickelte Zeremoniell; sie waren die Hüter der literarischen Überlieferung, der theologischen Weisheit. Kein Wunder, daß durch mehrere Jahrhunderte ein heißer Wett­ bewerb zwischen Priestertum und Königtum stattfand und wiederholt die Priester­ gilden die Königsgeschlechter stürzten und einen der ihrigen auf den Thron setzten. Die wichtigsten Mittelpunkte dieser Priestermacht und -Weisheit waren Heliopolis-On, Theben, Memphis und zuzeiten Sais. Heliopolis und Theben bildeten den Sonnenkult aus, Memphis erhöhte Ptah als Weltschöpfer und -erhalter; in Sais wurde in ptolemäischer Zeit das bekannte verschleierte Bild der Isis verehrt, das dem gläubigen Jünger die geheimnisvoll tiefe Weltkraft oder den Weltengrund, die Weltseele enthüllte. Die Ptahtheologie von Memphis scheint es nie zu pla­ stischer Schönheit und Anschaulichkeit gebracht zu haben. Charakteristisch dafür ist ein Lied von der „Erschaffung der Welt", in dem sich die Hilflosigkeit im Ringen mit diesen letzten Fragen widerspiegelt; darin heißt es: „Der Allherr, er spricht, nachdem er entstanden ist: Ich bin es, der als Entstehe! (?) entstand. Ich bin ent­ standen, damit das Entstandene entstehe. Alles Entstandene entstand, nachdem ich entstanden war. Zahlreich sind die Entstehungen (?), die aus meinem Munde

Die assyrisch-babylonischen, ägyptischen und iranischen Religionen.

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hervorkamen.... Ich begattete mich in meiner Faust (steckte mein Glied in meine Faust) und vollzog den Beischlaf mit meinem Schatten, und der Same fiel in meinen Mund: Ich spie aus zum Schu und spuckte aus zur Tefnet. Schu und Tefnet zeugten Geb und Nut; Geb und Nut zeugten Osiris, Horus, Seth, Isis und Nephthys." Die Sonnentheologie war wohl ursprünglich in Heliopolis heimisch; dort bildete man ja auch zuerst Obelisken gleichsam als versteinerte Sonnenstrahlen. Ra, die Sonne, ist aus Atum, dem Urmeere hervorgegangen; aber nun ist Ra alles; alles ist von ihm erfüllt; es gibt nichts in der Welt, das nicht Gottes ist. Alle Namen passen auf ihn als den Vater des Weltalls. Schaffend schafft er sich selbst. Als mit der 18. Dynastie im „Neuen Reich" Theben Reichshauptstadt wurde (seit 1580 v. Chr., nach der Verdrängung der Hyksos), wurde Ra mit dem Gott von Theben, Amon, identifiziert und als Amon-Ra zum Reichsgott erhoben. Auf dieser Grundlage erhob sich die merkwürdige monotheistische Reform­ bewegung des Königs Amenophis IV. (1392). Dieser eigenartige und bedeutende König setzte nämlich seine ganze Kraft daran, die wilde, wüste Vielgötterei des ägyptischen Tempelkultus auszurotten und nur die Sonnenscheibe, Aten, zur göttlichen Verehrung zu bringen. Er nahm selbst den Namen Echnaton oder Chunaten an und baute sich eine neue Residenz, in der er auch ein Reichsarchiv an­ legte. Durch einen glücklichen Zufall ist diese Ruinenstadt und in ihr das un­ bezahlbar wertvolle Reichsarchiv wieder aufgefunden und ausgegraben, das be­ rühmte Tel el Amarna, einer der wichtigsten Quellorte für unsere Kenntnis des alten Vorderasiens, seiner Geschichte und Kultur. Für diesen künstlichen Sonnen­ kult von Königs Gnaden ist eine schöne Hymne charakteristisch, deren Anfang lautet: „Du erscheinst schön am Horizont des Himmels, du lebende Sonnenscheibe, die zuerst lebte. Du gehst auf im östlichen Horizont, du machst die ganze Erde mit deiner Schönheit hell. Du bist schön, du bist groß, du funkelst, du bist hoch erhaben über der ganzen Erde. Deine Strahlen umfangen die Länder, soweit wie du alles geschaffen hast. Du bist Ra, ... du bändigst sie durch deine Liebe. Du bist ferne, doch deine Strahlen sind auf der @rbe1)." Die radikale Religionsreform des Amenophis war nur eine Episode. Aber diese Sonnenspekulationen haben sich dauernd erhalten. Man wird nicht fehlgehen, in ihnen den fruchtbaren Mutterboden für die Logosspekulationen zu finden, die erst die Philosophie des Ägypters Philo auszeichneten und in späteren Jahrhunderten den ägyptischen christlichen Theologen der alexandrinischen Schule, einem Pantaenus, Clemens, Origenes und Athanasius, die wissenschaftlichen Kategorien zur Entwicklung des christologischen Dogmas, weit­ aus des wichtigsten und geistvollsten Kapitels der altchristlichen Dogmengeschichte, geliefert haben. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit noch einer andern Seite der ägyptischen Religion zuwenden, den Anschauungen von den Toten und dem Totenkulte. Voraussetzung dazu ist, daß der Leib unversehrt erhalten werde, und bei der er­ staunlichen konservierenden Kraft des ägyptischen Klimas gehörte dazu im Grunde nur, daß alle Flüssigkeiten aus dem Leichnam herausgeknetet wurden, um dann den übrigen Leib durch Jahrtausende fast unverändert zu erhalten. So wurden nicht nur die Könige und Priester, nicht nur die heiligen Tiere bei ihren Städten, sondern auch *) Lehmann, a. a. O. S. 57—59.

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zahllose Leute vom Adel und vom Volk einbalsamiert und konserviert. Betreffs des Schicksals der Verstorbenen stehen verschiedene Anschauungen nebeneinander. Entweder führt den Toten sein Los in das finstere Totenreich mit seinen zwölf Pro­ vinzen, welche durch hohe Mauern voneinander getrennt sind. Dort ist das Dasein trost­ los. Der einzige Lichtstrahl ist, daß in jeder Nacht der Sonnengott Ra in seiner Himmelsbarke durch das Finstemisreich hindurchfährt. Zwar weilt er in jeder Provinz nur eine kurze Stunde, aber er wird von den Schatten mit jubelnder Freude begrüßt. Oder der Verstorbene gelangt in die seligen Gefilde von Earu oder Aalu (wohl Elyseum); man dachte sie sich in älterer Zeit wie die üppig reichen Saatfelder im Westen des Deltas; dort konnten die Toten ihrer Lieblingsbeschäf­ tigung im Leben nachgehen; kleine „Antworter" wurden ihnen als Ackerknechte mit in das Grab gelegt, dazu in kleiner Ausführung die Ackergerätschaften. Später dachte man sich diese paradiesischen Gefilde am Himmel als dem Gegenbilde der Erde; die Milchstraße sei der himmlische Nil; im Westen stehe eine hohe Leiter angelehnt, aus der die Toten zum Himmel aufsteigen; nur müssen sie sich in acht nehmen, nicht hinabzustürzen. Oder endlich die Könige dachten es sich als ihr seliges Los, zu Ra in seine Himmelsbarke einzusteigen und mit ihm des Tags durch den leuchtenden Himmelsäther und des Nachts durch die Schattenwelt zu fahren, und mit dem der ägyptischen Religion eigentümlichen demokratischen Zug nahmen auch dies Vorrecht immer weitere Kreise, Priester, Adel, Beamte in Anspruch. Jedenfalls hatte die Seele eine lange und gefahrvolle Reise zurück­ zulegen; da gab es eherne Tore zu durchschreiten, reißende, schwarze Ströme zu durchfahren, wilde Ungeheuer abzuwehren, bösartigen Dämonen Widerstand zu leisten; dazu mußte man den richtigen Weg in allen seinen Stationen, die Namen der Götter, die Zauberformeln für jede Gelegenheit und die richtigen Bekenntnisse wissen. Das alles war eine verwickelte Wissenschaft, die in dem immer umfangreicher ausgestalteten Totenbuche teils auf Papyrusrollen dem Toten mit in den Sarg gelegt, teils an den Wänden seiner „ewigen Wohnung" in Bildern oder in langen Texten dargestellt wurde. Schließlich fand noch das feierliche Totengericht statt. Ehe die Seele in den Gerichtssaal geführt wurde, hatte sie ein langes, feststehendes Reinigkeitsbekenntnis abzulegen, daß sie keine der 42 Sünden begangen, daß sie alles Gute getan habe usw. Dann wurden auf einer Wage ihre Taten gegen das Symbol der Wahrheit gewogen und das Ergebnis von Thot, dem Schreiber der Götter, in das Buch eingetragen. Diese im einzelnen nicht ausgeglichenen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode wurden befördert und erleichtert durch die auch in Ägypten allgemein verbreitete Vorstellung von der Seele als einem halb selbständigen Doppelgänger des Menschen, dem Ka, der bei der Geburt in den Menschen einzieht und ihn im Tode wieder verläßt, der aber auch bei Lebzeiten schon soviel Beachtung erfordert, daß zumal Könige ihrem Ka Tempel erbaut und ihm geopfert, ja dafür göttliche Verehrung in Anspruch genommen haben. Ähnlich dem Gepräge des Landes, wo üppigster Reichtum des Bodens und toter Wüstensand hart nebeneinander liegen, gehen im Herzen der Ägypter Stim­ mungen frohesten Lebensgenusses und asketischer Weltentsagung nebeneinander her. Es wird nicht zufällig sein, daß Ägypten schon zu Philos Zeiten das Heim des sagenhaften Therapeutenordens gewesen und später die Heimat des christ­ lichen Mönchtums geworden ist. Die Jsis-Osiris-Mysterien, die Logosspekulation,

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das Mönchtum, — das sind drei weit auseinanderliegende, aber jede eine überaus charakteristische Gabe des ägyptischen Volkes an die Menschheit gewesen. *

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c) Wiederum in eine anders orientierte Umwelt und Geistesverfassung führt uns die iranische Religion. Iran, das weite Hochland zwischen dem Per­ sischen Meerbusen und dem Indischen Ozean im Süden und dem Kaspischen Meere und dem Aralsee im Norden, zwischen der mesopotamischen Tiefebene im Westen und den Wüsten und Bergländern an der indischen Grenze im Osten, ist ein seltsam ungleichartiges Land mit weiten Wüsten und Steppen, aber dazwischen prangend reichen Landschaften mit allem Zauber des Wohlstands, der Schönheit und des Lebens. Wohl annähernd zur selben Zeit wie die Arier in Indien, also um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends sind auch in Iran Völker der indoeuropäischen Völkerfamilie, nahe Stammes- und Geistesverwandte der indischen Arier eingewandert und haben die Herrschaft an sich gerissen. Wir wissen aber noch weniger als in Indien von den Ureinwohnern, die sie unterjochten und beiseite schoben, und von den Kämpfen, welche der Aufrichtung ihrer Herrschaft vorausgingen. Jedenfalls stand in ihrer Mitte, wohl um 1100 v. Chr., ein großer Prophet auf, Zarathustra aus der Familie Spitama. Ein eigenartiger persönlicher Einschlag mit einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung und dem Willen, sie zur Herrschaft zu bringen, liegt den bisher behandelten Religionen fern. Sie zeigen die halb unbewußte religiöse Betätigung der Völker, und wenn einmal, wie in Ägypten unter König Amenophis IV., bewußter Herrscherwille in die religiöse Entwicklung eingreift, so leidet er Schiffbruch. Das ist durchaus anders bei einer Prophetengestalt wie Zarathustra. Er hat dem religiösen Leben seines Volkes auf länger als ein Jahrtausend Inhalt und Richtung gegeben. Betreffs des Lebens und Wirkens Zarathustras befinden wir uns in einer eigentümlichen Spannung. Auf der einen Seite haben wir in den ältesten Teilen des heiligen Buches der Perser, des Avesta, in den Gatha, eine ziemliche Anzahl von Gesängen oder Predigten, die wohl zum großen Teil auf Zarathustra selbst zurückgehen. Wir hören ihn von seiner Berufung zum Propheten berichten: „Als den Heiligen erkannte ich dich, o weiser Herr, als Bohn mano mir erschien und mich fragte: wer bist du, wem gehörst du? Wie soll, ich durch ein Zeichen den Tag für die Unterredung über deine Person und dich selbst bestimmen? Und ich sagte zu ihm: Zarathu­ stra bin ich erstlich, ein aufrichtiger Feind will ich, so weit ich vermag, dem Falschgläubigen, dem Rechtgläubigen eine kräftige Stütze sein, auf daß ich nach meinem Wunsch die Anwart­ schaft auf das Reich bekomme, in dem Maße als ich dich preise und lobe, o Weiser. Und als den Heiligen erkannte ich dich, o weiser Herr, als mir Vohu mano erschien zu seiner Befragung mit den Worten: worüber willst du Bescheid wissen? — und als du selbst zu dem ehrfürchtigen Opfer an dein Feuer erschienst, um mir, soweit ich dazu imstande bin, den rechten Glauben be­ greiflich zu machen." (Aasna 43, 7—9.)

Damals offenbarte ihm Vohu mano den reinen Glauben und beauftragte ihn als alleinigen Propheten, die wahre Religion auszubreiten. Freilich fehlte es nicht an heftigem Widerstände. Zarathustra muß klagen: In welches Land, wohin mich zu wenden soll ich gehn? Von meinem Herrn, vom Stamm werd' ich geschieden, des Geschlechtes Verband nicht stellt sich zu mir, noch des Volkes böse Gebieter.

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Wie soll ich dir, Ahura Mazda, was dir gut tut, erweisen? Ich weiß, was es ist, Mazda, warum mir's an Kraft fehlt: daß ich wenig Herden habe und wenige Mannen. Dir klage ich es; siehe darein, Herr! Mir Stütze gewährend, wie Freund dem Freunde sie bietet, des guten Sinnes Gewinnung lehre mich nach dem Recht. (Aasna 46,1—2.)

Noch in späterer Zeit muß er klagen, wie er in stürmischer Schneenacht müde und hungrig auf dem Gehöfte eines Gegners Einlaß begehrt, aber dieser ihn fort­ gejagt habe: „Nicht tat ihm, dem Spitama Zarathustra, der Pavianhänger Vaepaya im Übergang zum Winter damit einen Gefallen, als er ihm verbot, bei ihm anzu­ kommen, als seine ihn fahrenden Rosse vom Laufen und von der kalten Nacht zitterten" (Yasna 51, 12). Aber er fand an dem Königshofe Vischtaspas (Hydaspes) wohlgesinnte Gönner; seine beiden Minister Frashaostra und Jamaspa bekehrten sich; Frashaostra wurde sein Schwiegervater, und Jamaspa konnte er mit seiner jüngsten Tochter vermählen. Der Prophet rühmt davon: „Seitdem die Gerechtigkeit bei den herrlichen Kindern und Enkeln des Turaniers Fryana Fuß gefaßt hat, das Leben fördernd durch die Werke der Armaiti, weilt jetzt Ahura Mazda mit seinem guten Geist bei ihnen und gebietet unter ihnen zum Wohlergehen.... Zarathustra, wer ist dein gerechter Freund, wer wünscht deinem hohen Bunde anzugehören? Das ist der König Bishtaspa zur Zeit der Entscheidung, samt denjenigen, o Mazda Ahura, die du in deinem Hause versammelst, die will ich durch die Worte Bohu Mano's kundtun. ... Frashaostra, Sohn des Hvogji, gehe hin mit den Frommen, denen wir das Heil wünschen, wo Reinheit sich mit Demut vereinigt, wo das Reich des Glücks, Bohu Mono ist, da wo Mazda Ahura im Glücksheim wohnt. Da, wo ich eure Reinheit kundtun will und kein Unreines, Djamaspa Hvogji, eure Gebete und frommen Anrufungen stört." (Dasna 46, 12.14.16f.)

Sogar die Hochzeitsrede des Propheten für seine jüngste Tochter ist aufbewahrt. Haben wir so eine lange Reihe ganz persönlicher Züge, so fehlt auf der andern Seite der geschichtliche Hintergrund. Wir wissen nicht einmal genau, in welches Jahr­ hundert Zarathustra einzureihen ist. Die Griechen setzten ihn auf 5000 Jahre vor dem Trojanischen Krieg oder 6000 Jahre vor Plato an. Moderne Geschichts- und Religionsforscher schwanken zwischen dem 12. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. Wahrscheinlich hat er im elften vorchristlichen Jahrhundert gelebt. Auch betreffs der Lehre Zarathustras besteht eine gewisse Schwierigkeit. Es sind in ihr sicher verschiedene Schichten zu unterscheiden: das religiöse Erbe seines Volkes und vielleicht der nichtarischen Ureinwohner von Medien und Persien, die verhältnismäßig einfache Botschaft des Propheten selbst, und die recht ver­ schiedenartigen Ausgestaltungen, welche ihr die Gläubigen, Magier und Theo­ logen der folgenden Jahrhunderte gegeben haben. Wir können in dem knappen Rahmen unserer Darstellung auf diese Unterschiede nicht eingehen. Entscheidend sind zwei Gesichtspunkte: auf der einen Seite ein ungemein starkes und frisches Gottesbewußtsein. Ahura Mazda ist der weise Herr, der Hort der Gerechtigkeit, der Heiligkeit und des Lebens, dem man sich rückhaltlos hingeben und dienen muß. Und auf der andern Seite befand sich Zarathustras Volk damals anscheinend in dem Übergang von der nomadischen Weide- zur seßhaften Land­ wirtschaft; dabei galt es, einen zwar reichen, aber noch unbearbeiteten Boden auf­ zuschließen, und zwar vielfach in Gebieten, wo heiße Sommerglut mit schnei­ denden Schneestürmen im Winter wechselten und schweifende Räuberhorden von Nomadenvölkern den friedlichen Bauern um den Ertrag seiner Arbeit zu betrügen

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drohten. Diese beiden ganz verschiedenen Gesichts- und Ausgangspunkte geben der Botschaft des Propheten das Gepräge. Der oberste Gott ist Ahura Mazda, der „weise Herr". Er ist der Schöpfer der ganzen Welt, er gibt ihr auch Ordnung und Gesetz nach seinem heiligen Willen, und er hat Zarathustra erwählt, um der Menschheit seine Gebote kund zu tun. Er ist der Gott des Lichtes, des Lebens, des Guten und der Gerechtigkeit. Er ist aber zugleich das Urbild eines orientalischen Weltherrschers und als solcher um­ geben von einem himmlischen Hofstaat. Dieser ordnet sich nach seinem Rang in drei Stufen oder Klassen, ohne daß diese von Anfang an durchaus festgestanden hätten. Die erste Klasse, sozusagen die Minister des Himmelsherrn, — mit ihm oder ohne ihn zu der heiligen Siebenzahl geordnet, — schwanken auf der Grenze zwischen bloßen Abstraktionen und leibhaften Erzengeln. Es sind die Amesha spenta. Jeder hat neben seiner himmlischen Obliegenheit zugleich ein bestimmtes, mit dem Ackerbau oder Kulturleben zusammenhängendes Gebiet: Vohu mano, die „gute Gesinnung", zugleich das Vieh; Asha Vahischta, die „beste Gerechtig­ keit", zugleich die fruchtbare Erde; Kshatra Vairya, das „ewige Reich", zugleich das Metall; Spenta Armaiti, das „Mitleid, die Güte, die Demut", zugleich das Wasser; Haurvetat und Ameretat, „Vollkommenheit" und „Unsterblichkeit", zu­ gleich das Pflanzenreich. Später wurde zu dieser Gruppe noch Sraosha, „der Gehorsam", hinzugefügt, der Seelenführer, welcher die Menschen in diesem Leben zu ihrem wahren Heil und darum auch in jenem Leben zur Seligkeit führt?) Unter dieser Rangklasse der Erzengel steht die zweite Gruppe von sieben himm­ lischen Wesen, die Jazata. Sie sind noch weniger ein geschlossener und einheit­ licher Kreis als die Amesha spenta. Zu ihnen gehören teils ähnliche Abstraktionen wie in der ersten Gruppe, vor allem aber einige der alten Volksgötter, welche sich im Rahmen der prophetischen Predigt wieder durchsetzten; so vor allem Mithra, der aber merkwürdigerweise, wenigstens in der älteren Zeit, nicht Sonnen- sondem Mondgott gewesen zu sein scheint, und Anahita, die weibliche Göttin der Schön­ heit, der Lust, der Zeugung, das Gegenbild zu Jschtar und Mylitta, die einzige Göttin, die schon früh in Bildern dargestellt und in Tempeln verehrt wurde, während sonst Götterbilder und Tempel erst einer späteren Entwicklung dieser Religion angehören. In diesen Kreis gehört auch der vielbesungene Tishtrya, der Sirius oder Regenstern. In dem heißen, durstigen Lande gehört der Gott, der den seg­ nenden Regen spendet, zu den wichtigsten und dem Herzen des Volkes am nächsten stehenden. Leider hat Persien keine einigermaßen feststehende Regenzeit wie Indien; um so aufmerksamer verfolgt man des Tischtrya Kämpfe mit dem Trocken­ heitsdämon Apaoscha, welcher dem Tischtrya den Zugang zu dem himmlischen Wourukashasee versperrt, aus dem die Regenflutqn zur Erde herniederquellen sollen. Der Kampf ist lange und heiß, Tischtrya unterliegt zuerst dem gewaltigen Feinde. Götter und Menschen müssen ihm mit Opfern und Gebeten zu Hilfe kommen, um ihm die Kraft zum Siege zu verleihen. T) Wahrscheinlich sind die Amesha spenta ursprünglich göttliche Eigenschaften, die in etwas unbestimmter Weise personifiziert werden. Sie umfassen die der Welt zugewandte und die Königsherrschaft Ahura Mazdas verbürgende Seite der Gottheit. Die Kombinationen mit dem Vieh, der fruchtbaren Erde, dem Metall usw. sind wohl erst viel spätere theologische Spekulationen und Spielereien.

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Die dritte Gruppe endlich sind die Fravaschi, die Ahnen, die am Jahresende (im März) herniedersteigen, um die Taten der Menschen auszukundschaften: „Wer will mit uns leben, wer will uns opfern, wer will uns anrufen, wer will uns Liebes erweisen, wer will uns entgegenkommen mit Fleisch in der Hand, mit Kleidern und Reinheit gewährender Huldigung?... Sie senden Wasser (aus dem Himmelssee Wourukasha) aus, jeder für seine eigene Familie, seine eigene Sippe, jeder für seinen eigenen Gau, jeder für seine eigene Landschaft, so sprechend: unser eigenes Land soll teilhaben bei der Verteilung und der Freude." Neben diesem Reiche und Hofstaate Ahura Mazdas besteht nun von Ewig­ keit her das Gegenreich der Lüge, der Unreinheit, des Todes, der Finsternis. Seine Durcharbeitung als Gegenorganisation ist wohl erst langsam und spät vor sich gegangen. Zunächst begnügte man sich, es als das Reich des finsteren Dämons Drudsch, der Lüge, anzusehen. Dann stellte man an seine Spitze den Angramainyu, den Ahriman der Pehlewischriften. Auch er bekommt dann seine Erz­ engel, seine Engel und Geister. Aber er ist nicht eigentlich eine schöpferische Kraft wie Ahura Mazda; er kann nur eine verderbende Gegenschöpfung zustande bringen. Schafft Ahura den fruchtspendenden Sommer, so Angramainyu „den teufel­ geschaffenen Winter; dort ist zehn Monate Winter und zwei Monate Sommer, in diesen Monaten ist es kalt für das Wasser, kalt für die Erde, kalt für die Pflanzen." So hat Angramainyu des Ahura schöne Schöpfung verderbt, indem er die den Kühen verderbliche Stechfliege, den Zweifel, Tränen und Seufzer, böse Herren, „die schlechte, unsühnbare Tat, die Knabenliebe", die „böse, unsühnbare Tat, die Be­ erdigung der Leichen" usw. geschaffen hat. Zwischen Ahura und seinem Reiche des Lichts und Lebens und Angramainyu und seinem Reiche der Unreinheit und des Todes nun gibt es einen unerbitt­ lichen und nie aufhörenden Kampf, der aber sicher schließlich mit dem vollen Siege Ahura Mazdas und der Ausrichtung seiner Königsherrschaft Kshatra vairya endigt. Besonders die Endzeit, die mit den Entscheidungskämpfen angefüllt ist, wird in großartigen apokalyptischen Bildern geschildert. Dann wird aus dem Samen des Zarathustra der Saoschyant, der Heiland, aufstehen, um mit aller Kraft gegen Ahriman und seine Horden zu Felde zu ziehen. Erdbeben werden die Welt er­ schüttern, die Sterne werden vom Himmel fallen, wilde Räuberhorden werden hereinbrechen, die Toten werden in ihren Leibern wieder auferstehen. Ahura Mazda selbst wird in furchtbarem Kampfe die Schlange Azhi Dahaka erlegen. Ein Strom flüssigen Metalls wird die Erde von aller Unreinheit und Sünde reinigen, sogar die tiefsten und finstersten Höllen werden dann von aller Finsternis befreit werden; dann werden die Höllen vernichtet, es bleibt nur das herrliche Vollen­ dungsreich Ahura Mazdas übrig. In diesen Kampf von Leben und Tod, von Reinheit und Unreinheit, von Wahrheit und Lüge ist nun der Mensch hineingestellt, und er soll sich in ihm ent­ scheiden und an ihm auf der Seite Masdas Anteil nehmen. Alles Siechtum, Ver­ krüppelungen, Unreinheit, Lüge in seinem Leben, alle Dürre, Unkraut, Unge­ ziefer, giftige Schlangen, reißende Tiere auf seinen Äckern und in seinen Herden sind Angramainyus Werk und müssen deshalb bekämpft und überwunden werden. Das gibt eine vielseitige praktische Lebensaufgabe: Der Gläubige muß lernen, durchaus die Wahrheit zu sprechen, — eine Riesenaufgabe gerade bei den wegen

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ihrer Verlogenheit berüchtigten Persern; er soll fleißig seinen Acker bestellen, das Unkraut ausjäten, Fruchtbäume anpflanzen, Ödland durch Kanalanlagen in Kultur nehmen, Parke („Paradiese") anlegen usw.; er soll die ihm für seinen Acker­ bau unentbehrlichsten Tiere, den Hund und die Kuh, in hohen Ehren halten. Er soll jede Unreinheit vermeiden; darum darf er vor allem die vier Elemente Feuer, Wasser, Lust und Erde nicht verunreinigen. Am unreinsten ist der Leichnam und alles, was mit dem Tode zusammenhängt. Deshalb darf der Tote weder in der teilten Erde begraben noch mit dem reinen Feuer verbrannt werden. So wer­ den die Leichen den Geiern und Schakalen zum Fraß überlassen; später wurden die bekannten runden Dakhma, die „Türme des Schweigens", für diesen Zweck gebaut, wo die Aasgeier die Zerfleischung der Leichen übernehmen. Das reini­ gendste aller Elemente ist das Feuer, denn es beseitigt die Unreinheit; darum gilt ihm ein besonderes Maß von Verehrung. Die Priester heißen geradezu Atravan, Feuerpriester; das heilige Feuer immer zu pflegen, ist ihre wichtigste Aufgabe; Feuertempel sind die eigentlichen Heiligtümer dieser Religion. Die Menschen müssen aber auch sich selbst und den Göttern zu Hilfe kommen durch zahlreiche Opfer und Gebete; denn auch die himmlischen Mächte, ja Ahura Mazda selbst, bekommen durch Verrichtung von Opfern und Rezitieren der heiligen Formeln die Kraft zu ihren großen Taten. Besonders gewissen Formeln wird große magische Kraft zugesprochen, sie führt der Gläubige in jeder Gefahr und Anfechtung im Munde. So das Ahuna vairya: „Wie der werteste Herr, so steht der Prophet in Einklang mit Asha; er übergibt Mazda die Werke, die in guter Gesinnung in diesem Leben geübt worden sind, und dem Ahura das Reich; der setzte ihn zum Schützer der Armen." Man hat oft den Eindruck, daß diese „Glau­ bensbekenntnisse" geradezu Zauberformeln geworden sind. Besonders liebevoll und eingehend wird das Leben nach dem Tode ausgemalt. Drei Tage lang noch verweilt die Seele bei dem Kopfe des Verstorbenen und rezitiert eine der heiligen Formeln; in diesen Tagen „begehrt die Seele so viel Freude wie alle Freude der lebendigen Welt". Nur muß man derweilen den bösen Totengeist Nasu abwehren, 1 r sich in Gestalt einer Fliege auf den Leichnam zu setzen sucht. Nach drei Tagen macht sich die Seele auf die Wanderschaft ins Jen­ seits. Bald begegnet ihr das eigene bessere Selbst, ihr „Bekenntnis", Daena „in Gestalt eines Mädchens, herrlich und strahlend mit glänzenden Armen, stark und wohlgewachsen, schön entwickelt, mit hohen Brüsten,... fünfzehnjährig an Wuchs und so schön, wie das schönste der Geschöpfe". In seiner Begleitung gelangt die Seele an die Tschinvatbrücke; dem Gläubigen ist sie eine Parasange breit, und der Engel geleitet ihn gefahrlos hinüber; dem Gottlosen ist sie scharf wie eines Messers Schneide, und er stürzt hinab in die Feuerhöllen zu unaussprechlicher Pein. Jen­ seits der Brücke wartet auf den Frommen das eigentliche Totengericht, bei dem seine Werke gewogen werden. Dann gelangt er durch die drei Vorhallen der guten Gedanken, Worte und Werke in das Paradies, wo Vohu mano die Seele willkommen heißt. Die Religion Zarathustras hat nicht nur das Leben der iranischen Völker bis zur Zeit der mohammedanischen Eroberung im siebenten nachchristlichen Jahr­ hundert fast ausschließlich beeinflußt und geformt. Es sind auch besonders seit der Eroberung Mesopotamiens durch Cyrus, 539, und dann noch mehr seit der Nieder-

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legung der trennenden Schranken zwischen Orient und Okzident infolge der Er­ oberungen Alexanders des Großen, 330, von ihr nachhaltige Wirkungen auf die Völker Westasiens und den ganzen griechisch-römischen Kulturkreis ausgegangen. Wir heben nur die beiden wichtigsten heraus: die Umgestaltung der israelitischen Religion zum nachexilischen Judentum seit der Eroberung Jerusalems, der Weg­ führung der Juden in die babylonische Gefangenschaft, 586, und der Aufrichtung des Perserreiches durch Cyrus. Die Ausgestaltung der Engellehre, Satan, seine Scharen und sein widergöttliches Reich, Hölle und Himmel, das Herrlichkeitsreich der Vollendung, die ihm vorausgehenden apokalyptischen Kämpfe, die leibliche Auferstehung der Toten und anderes sind zwar wohl nicht exotische, unassimilier­ bare Fremdkörper in der jüdischen Religion, aber doch religiöse Vorstellungskreise, welche unter zarathustrischen Einflüssen ihre Ausgestaltung und ihr Gepräge erhalten haben. Sie haben die Umwandlung der jüdischen Gesetzesreligion in die christliche Erlösungsreligion vorbereitet. Zumal in der eschatologisch-apokalyptischen Literatur, die von etwa 250 vor Christo bis zum Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts einen so großen Einfluß in Vorderasien, besonders in den jüdischen Kreisen ausübte, sind diese iranischen Gedanken und Vorstel­ lungen von Einfluß gewesen. Anderseits hat merkwürdigerweise später, nach­ dem diese starken religiösen Impulse im jüdisch-semitischen Kreise in der Haupt­ sache abgeschlossen waren, die iranische Religion in der Verkapselung einer Mysterienreligion, als Mithraskult, ihren Siegeszug durch die abendländische Welt angetreten und ist im 3. Jahrhundert mit dem Christentum in Wett­ bewerb um die Anerkennung als Weltreligion getreten. Zur gleichen Zeit begann sie in der Form der Manichäismus, d. h. der schroff dualistischen Religion des seit 242 auftretenden Mani, einen Siegeszug, der sie bis tief nach Hochasien im Osten und bis nach Rom und Karthago im Westen führen sollte. Mani war ein werkwürdiger Typus eines Religionsstifters, halb ein von Offenbarungen zehrender Prophet, halb ein philosophischer Denker und schrift­ stellernder Gnostiker. Er baute ein künstliches kosmologisches System auf, das aber den doppelten Vorzug hatte, letztlich auf dem physisch und ethisch ge­ faßten Gegensatze von Licht und Finsternis zu beruhen und einen Erlösungs­ weg zu zeigen. Allerdings ist dieser nur den wenigen „Auserwählten" (Electi) zugänglich, denn nur sie, „die Söhne des Geheimnisses", die wie die buddhi­ stischen Bhikschus aus dem häuslichen und erwerbenden Leben ausgeschieden sind, können den Grad von Reinheit und Lichtcharakter erlangen, der in ihnen die Lichtsubstanz der Welt ansammelt und befreit. Sie steigen nach dem Tode in noch reinere Sphären, zum Monde und zur Sonne auf, um schließlich ganz in die himmlische Lichtwelt hineinzugelangen. Die große Masse der Laien hat wesentlich die Aufgabe, die Auserwählten zu versorgen und sich im übrigen vor groben Sünden zu hüten. Die Ungläubigen sind von vornherein dem Ver­ derben verfallen. Das kosmische Ringen der in die Welt geratenen und dort gebundenen Lichtteile um ihre Befreiung, wozu der Lichtkönig wiederholt Er­ löser in die Welt gesandt hat, unter andern auch Jesus, endet in einem Weltendrama, in welchem der „dritte Alte", eine prophetische Herrschergestalt, auftritt und nach dem Muster des persischen Sooschyant durch einen großen Weltenbrand die dunkle Materie vernichtet, während die gesamte Lichtmasse

Die Religionen Indiens.

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wieder in der Lichtwelt angesammelt wird. Manis gnostisches Religionssystem ist in seinem Stammlande Persien früh durch den unduldsamen Fanatismus des Magier ausgerottet. Aber auch in den östlichen und westlichen Ländern, wohin es sich meist durch eine geheime Propaganda ausbreitete, ist es im Mittelalter mit Feuer und Schwert bekämpft. Die „Bogomilen", auf dem Balkan, die provenzalischen „Katharer" und die südrussischen „Duchoborzen" waren die Ausläufer der manichäischen Bewegung. Auch Zarathustras Religion hat sich nur in geringen Resten teils unter den hochintelligenten und wohl­ habenden Persern im westlichen Indien, teils unter den gedrückten und ver­ folgten Geber oder Feueranbetem in einigen Landschaften des südlichen Per­ siens erhalten.

Die Religionen Indiens. Wenige Länder der Erde haben eine so reiche und mannigfaltige Religions­ geschichte wie Vorderindien. Und da bei seinen Völkern die Religionen der erste und wichtigste Besitz ihrer Kultur überhaupt waren, sind wir auch über ihre religiöse Entwicklung in einer weitschichtigen Literatur verhältnismäßig gut orien­ tiert. Billigerweise sollte man nicht von einer indischen Religion sprechen. Wie sich auf dem semitischen Volksboden außer zahlreichen andern Religionen drei monotheistische zu selbständiger Bedeutung entwickelt haben, das Judentum, das Christentum und der Islam, so können wir in der indischen Religionsgeschichte außer vielen kleineren Bildungen deutlich wenigstens vier Religionen unter­ scheiden: die vedische, die brahmanische, den Buddhismus und den Hinduismus. A. Die vedische Religion.

Um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christi Geburt stiegen über die Berg­ länder des Hindukusch nach dem Stromlande des Indus Erobererscharen herab, die sich stolz die Arier, die Edlen, nannten. Sie gehörten zu der großen indo­ europäischen Völkerfamilie, aus der die meisten Herrenvölker der modernen Welt hervorgegangen sind. Sie hatten wahrscheinlich Jahrhunderte lang mit den später nach Westen und Süden wandernden Zweigen dieser Völkerfamilie zusammengewohnt und einen erheblichen gemeinsamen Schatz gleicher Sprache, wirtschaftlicher Erfahrung und religiöser Anschauung aus der Urheimat mit­ genommen. Hernach hatten sie weitere Jahrhunderte mit den Vorfahren der Perser zusammen als Nomaden ihre Herden auf den Steppen des Iran und um den Aralsee und das Kaspische Meer weiden lassen; ein Teil der religiösen Anschauungen Altpersiens und Altindiens ist nahe verwandt. In die fruchtbaren Ebenen des weitausgedehnten Jndusstromgebietes hinabgestiegen, breiteten die Arier ihre Herrschaft in unablässigen Kämpfen gegen die dunkelfarbigen, ver­ achteten Ureinwohner, die Dasyu oder Mletschha, nach Osten und Süden hin aus. Dabei sangen sie ihren Göttern fromme Lieder und opferten ihnen reichlich von den Herden und von der Ernte der Felder; besonders gern kredenzten sie ihnen den berauschenden Somatrank, den sie selbst liebten und den ihre Priester aus einer an den Berghängen des Himalaya wachsenden Pflanze zu pressen verstanden. Dabei legten sie besonderen Wert auf die peinliche Genauigkeit in der Durch­ führung der Opferbräuche, weil davon ihrer Meinung nach die Wirkung der Opfer abhing. Frühe begannen sie diese Preislieder der Götter, die der utgatri

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beim festlichen Opfer rezitierte, zu sammeln, und daraus entstanden im Laufe mehrerer Jahrhunderte die vier Veden, der Rigveda, der älteste mit 1017 meist kurzen Gedichten in zehn Büchern; der Samaveda, der Veda der Lobgesänge; der Jadschurveda, der schwarze und weiße Veda, mit den feststehenden Opfer­ formeln; und der stark von magischen Zaubersprüchen überwucherte Atharvaveda. Aus diesen vier in einer alten Sanskritsprache abgefaßten Religionsurkunden erhalten wir ein Bild von der Religionswelt der alten Arier, von ihrem Leben und Treiben und ihrer Kultur. Die hochgemuten Stämme hatten ein großes Zutrauen zu sich und ihren Göttern. Gleich andern erobernden Rassen waren sie überzeugt, daß sie und ihre Gottheiten den Völkern, die sie unterwarfen, und ihren rohen Göttern überlegen waren. Ihre Gottheiten — die Devas oder Glänzenden — waren die großen Kräfte der Natur. Sie beteten den Vater Himmel an, den Dyaus-pitar, den Jupiter der Römer; weiter die Mutter Erde. Die Sarameias (Hermes), die beiden Kinder von Indras Wachthund, sind die Begleiter der Toten im Unterreich. Indra, der Gott der wasserreichen Regenwolken, bringt die befruchtende Feuch­ tigkeit, von der Jahr für Jahr das Gedeihen der Saaten abhängt; an ihn werden die meisten Gesänge gerichtet. Die Maruts sind die Sturmgötter, vor denen die Felsen zittern und der Wald in Stücke reißt. Uschas (Eos), die „hochgeborene Morgenröte", erscheint gleich einem jungen Weibe, die jedermann aufweckt, um an sein Tagewerk zu gehen. Die Sonnenbahn (Surya, Savitri), der Wind (Waju), der Sonnenschein oder freundliche Tag (Mitra) und viele andere „Glänzende" werden angerufen. Vorwiegend sind es freundliche, lichte, wohlwollende Gott­ heiten, welche ihren edlen Anbetern reichlich Sieg und Segen spenden. Das Merkwürdige bei diesem buntfarbigen Polytheismus ist, daß ein starker henotheistischer Zug hindurchgeht; dem Anbeter ist allemal der Gott, an den er gerade sein Gebet richtet, Gott überhaupt. „Weder Götter noch Menschen sind dir zu ver­ gleichen, o Indra." „Du, Varuna, bist der Herr Himmels und der Erde, du bist der König der Götter und Menschen." „Sie heißen ihn Indra, Mitra, Varuna, Agni: das, welches der eine ist, nennen die Weisen verschieden; sie nennen es Agni, Jama, Matarisvan." Allerdings, von Monotheismus ist man weit ent­ fernt. In einem andern Liede heißt es: „Keiner von euch Göttern ist klein; keiner ist ein schwaches Kind; ihr seid wirklich alle groß. So sollt ihr, 33 Gottheiten, Zer­ störer des Feindes, gepriesen werden, ihr Götter der Menschen, ihr Heiligen. So verteidigt uns und kommt uns zu Hilfe, sprecht uns euren Segen zu." Es ist also in den henotheistisch klingenden Stellen nicht der Zug zum Monotheismus, sondern mehr der Wunsch, den gerade gepriesenen Gott dadurch besonders zu erhöhen, daß man von ihm die Ehrentitel und die Heldentaten der andern Götter aus­ sagt. „O Agni, bei deiner Geburt bist du Varuna; wenn du angezündet wirst — (Agni ist das Opferfeuer) — wirst du Mitra; in dir, o Sohn der Stärke, sind alle Götter vereinigt; dem Mann, der die Opferspende darbringt, bist du Indra". Ein eigentümlicher Zug in diesem buntfarbigen Götterhimmel ist, daß wir unter seinen Bewohnern vier Schichten unterscheiden können: die einen sind fast schon untergegangen; sie stehen nicht mehr im Vordergründe des religiösen Bewußtseins; so der ehrwürdige Dyauspitar, der leuchtende Himmel als Vater, der Zeus der Griechen, der Jupiter der Römer, wohl ein Erbstück aus der gemein-

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fernen Urheimat der Jndogermanen; so Prithivi, die breite Erde als Mutter alles Lebens, so die nebelhafte Aditi, die Unendlichkeit der Zeit oder des Raumes. Wichtiger ist die zweite Schicht, die war noch lebendig verehrten, aber doch bereits auf der absteigenden Linie befindlichen Gottheiten, so vor allem die neun Söhne der Aditi, die Aditija; wir kennen nicht einmal ihre Namen alle; aber zwei, Varuna und Mitra, gehören zu den charakteristischsten unter den Göttern. Mitra war wohl ein uralter Sonnengott. Varuna war ein besonders bedeutsamer Gott, der Bürge der sittlichen Weltordnung, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft, zu dem die Schuldbewußten in demütigem Bekenntnis ihrer Sünde ihre Zuflucht nehmen, um seine Gnade und Erlaß ihrer Schuld zu erlangen. Der Hauptgegenstand der Verehrung ist eine dritte Gruppe anderer Götter, bei denen die naturhafte Unterlage noch so deutlich durchschimmert, daß die Mythenbildung noch kaum begonnen hat. Hauptgott ist Indra, der Gott, dessen Heldentat es ist, nach der Monate langen Dürre der heißen Zeit die große Wetterkatastrophe mit Blitz und Donner herbeigeführt zu haben, welche die Regenzeit bringt. Der den gewaltigen Naturvorgang persönlich auffassende Inder denkt sich Indra im Kampfe mit dem geizigen Drachen Vrita. Ebenso durchsichtig lichte Himmelsgottheiten sind Uschas, die zauberhaft schöne Morgen­ röte, die Maruts, die Zwillinge mit Windesgewalt im Regengewand, die als Sturmgötter die Erde in Aufruhr versetzen, wenn sich die Wälder niederducken in Furcht vor ihrem Daherfahren, die beiden Asvin, die schneller als die Gedanken der Sterblichen den Sonnenwagen ziehen, Surya, die leuchtende Sonne, Savitar, der Antreiber und Zusammenbringer, u. a. m. Hier sieht man besonders deutlich, wie die poetische Kraft sinnender Augen, die verständnisvoll in die um­ gebende, reiche Natur schauten, überall in Sonnenschein und Sturm, im Wachstum und Absterben das Walten lichter Gottheiten zum Heil ihrer getreuen Verehrer schauten, aber allerdings Naturgewalten, die an sich nicht ethisch bestimmt sind. Die vierte Gruppe endlich sind die Götter, wie Rudra, der spätere Siva, Vishnu und Brahma, Pradschapati und Brahmanaspati, die erst im Anzuge begriffen sind, welche die geistige Welt erst in späteren Jahrhunderten beherrschen werden. Wir bringen einige kurze Proben aus den vedischen Opferliedern.

1. Indras Sieg über den Drachen. Nun will die Er schlug den

ich Indras Heldentaten rühmen, ersten, die vollbracht der Donnerkeilmann: den Drachen, machte frei die Wasser, Schoß der Berge hat er aufgespalten.

Er schlug den Drachen, der im Berge ruhte, tosenden Keil hat Tvastar ihm geschmiedet: Blökenden Kühen gleich die Wasser eilten, zum Meere strömten sie geraden Laufes. Mit wilder Gier verlangte er den Soma, aus dreien Kufen trank er den gepreßten: Der Schätzespender nahm den Spieß, den Wurfspeer, er schlug damit der Drachen erstgebornen.

Als du erschlugst der Drachen erstgebornen, als du der List'gen Zauberwerk zerstörtest,

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Als Sonne, Himmel, Morgenrot du zeugtest, da fandst du keinen ebenbürtigen Gegner. Vrita, den schlimmsten, Indra schlug den Vyamsa, mit seinem mächtigen Keil, der Todeswaffe: Wie mit der Axt zerhackt liegt das Gezweige, so liegt der Drache hingestreckt am Boden.

Vrita, wie ein berauschter Feigling, fordert den Helden groß, der wuchtig kämpft und stürmisch: Er hielt nicht stand dem Anprall seiner Waffen, zerschmettert und zermalmt liegt Indras Gegner.

Handlos, fußlos bekämpfte er den Indra, der schleuderte den Keil ihm in den Rücken: Dem Starken wollte Gegner sein der Schwächling, vielfach zerstückelt liegt am Boden Vrita.

2. Varunas Allgegenwart.

Der große Lenker der Wesen sieht sie wie aus der Nähe; wenn einer meint, verstohlen zu wandeln, das alles wissen die Götter. Wenn einer steht, geht, wankt, wenn einer versteckt geht oder hervorstürzend (?); was zwei zusammensitzend miteinander beraten, das weiß der König Varuna als dritter. Sowohl die Erde gehört dem König Varuna als auch dieser hohe Himmel mit seinen fernen Grenzen; die Ozeane sind sein Bauch, und auch in diesem kleinen Wasser ist er verborgen. Auch wer über den Himmel hinauseilte, würde nicht vom König Varuna frei werden; vom Himmel kommen seine Späher hierher und überblicken tausendäugig die Erde. Alles sieht der König Varuna, was zwischen Himmel und Erde ist und jenseits; von ihm ist das Blinzeln der Menschen gezählt...

3. Die Sturmgötter Maruts. Vom Himmel, von den Bergen schüttelt ihr Reichtum für euren Verehrer herab. Die Wälder ducken sich nieder vor eurem Einherfahren. Ihr versetzt die Erde in Aufruhr, ihr Kinder des Prischni, wenn ihr Gewaltigen euch zu eurem Prachtaufzug die weißgefleckten Antilopenkühe angespannt habt. Mit Windesgewalt, in Regengewand gehüllt, wie Zwillinge schön einander gleichend schön geschmückt sind die Maruts ...

Auffallend ist vor allem, daß in dem alten Götterdienste des Rigveda fast alle die Bestandteile fehlen, welche die Merkmale des neueren Hinduismus sind. Vor allem weiß die Religion der Vedas nichts von Götzenbildern. Ebenso kennen die Veden nicht den Widerwillen der späteren Hindu gegen blutige Opfer. Men­ schenopfer sind allerdings schon zur Zeit der ältesten Gedichte des Rigveda ver­ pönt, und ob die Arier solche je in noch weiter zurückliegender Zeit geübt haben, ist eine Streitfrage. Aber Tiere wurden reichlich und täglich geopfert; die Ziege, der Stier, die Kuh, der Widder und das Roß sind die Opfertiere; die Krone des ganzen Opferkultus ist das große Pferdeopfer, das Asvamedha, mit dem jeder große Sieg gefeiert wird. Da ist nichts von dem später in den Oberschichten herrschenden Abscheu vor Blut, aber allerdings auch kein Gedanke an die Sühnung der Schuld durch Blut. Fast noch auffallender ist, daß der Rigveda auch die Seelenwanderungslehre noch nicht kennt. König Jama ist der erste Mensch, der durch Tod und Grab den

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schwer zu findenden Weg zur Unsterblichkeit entdeckt hat; er dient allen anderen Menschen als Führer durch das Totenreich, und seine beiden Hunde, die Sarameyas, wandern unablässig als seine Boten unter den Menschen. „Bete mit einem Opfer König Jama an, den Sammler der Menschen, der zu den tiefen Wassern wanderte, der den Weg fand für die Vielen!" Verschiedene Sprüche von ausgesuchter Schönheit sagen den Toten Lebewohl: „Wandere, wandere du auf den alten Pfaden zu dem Orte, wohin unsere Väter gewandert sind. Triff dort die Alten; triff den Herrn des Todes. Leg ab deine Untugenden und geh heim. Einige dich mit einem Leibe; kleide dich in ein glänzendes Gewand." — „Laß ihn wandern zu denen, für welche die Nektarströme fließen. Laß ihn wandern zu denen, welche durch Nachsinnen den Sieg erlangten; welche zum Himmel gegangen sind, weil sie ihre Gedanken auf das Unsichtbare richteten. Laß ihn wandern zu den mächtigen Streitern, zu den Helden, welche ihr Leben für andere

dahingegeben, welche ihre Güter den Armen ausgeteilt haben." B. Die brahmanische Religion. Ungefähr tausend Jahre vor Christi Geburt hatten die Arier ihre Herrschaft in Nordindien befestigt; ihre Kultur dehnte sich langsam über Mittel- und Südindien aus. Es war eine neue Zeit heraufgezogen. Drei Entwicklungen charakterisieren sie: die soziale Ordnung der Kaste, die beiden eng verbundenen Gedankenkreise der Seelenwanderung und Vergeltung, und die Spekulationen über die Weltseele und das All-eine. a) Die Kaste. In der vedischen Zeit hatten die arischen Eroberer noch wohl eine wesentlich ungeteilte Gesellschaft gebildet, in der es wohl schon Priester, Könige und Ackerbauer gab, aber ohne daß diese Stände durch Schranken voneinander geschieden gewesen wären. Seitdem die Arier in Indien wohnten, wurden sie sich des Unterschiedes und Gegensatzes gegen die dunkelfarbigen Ureinwohner, die Dasyu, bewußt. Es bildete sich ein Rassengegensatz heraus, wie wir ihn auch heute überall da finden, wo Kulturvölker mit wilden Urvölkern in Berührung kommen. Varna, Farbe, war deshalb der älteste, damals ohne Zweifel zutreffende Ausdruck für den volklichen Gegensatz. Die Scheidung vollzog sich aber bald nach­ drücklich auch innerhalb der arischen Volksgemeinschaft selbst. Die unablässigen Kriege, unter denen die einwandernden Arier den Ureinwohnern einen Landstrich nach dem andern Wegnahmen, brachten es mit sich, daß sich um die Könige Scharen von Kriegern sammelten. Dasein und Machtstellung der Arier hing von der Pflege des kriegerischen Geistes in den Rittergeschlechtern ab. So bildete sich in Indien — wie im kriegserfüllten europäischen Mittelalter — der kriegerische Adel, die Kaste der Kschatrya, der Radschanja oder Radschputen. Je länger sich die Kriege hinzogen, je blutiger und hartnäckiger der Widerstand der Unterworfenen sich gestaltete, um so einflußreicher wurden die kriegführenden Geschlechter. Von Naturanlage und alter Gewohnheit aber waren die Arier Ackerbauer und Vieh­ züchter, und die überaus fruchtbaren, neubesetzten Gebiete luden sie immer von neuem zu dieser ihrer Lieblingsbeschäftigung ein. Ging auch die beste Kraft des Volkes an die Kschatrya verloren, es blieb doch die Masse des Volkes beim Acker­ bau; die Vaisyas oder Hausbesitzer waren noch lange das Rückgrat des Volkes, wenn sie auch an Adel und Ansehen hinter den Rittergeschlechtern zurückstanden.

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Gleichzeitig mit dieser in der Natur der Sache liegenden Scheidung von Kriegern und Ackerbauern bildete sich ein dritter, der Priesterstand. Es ist schwer, allen Motiven nachzugehen, welche auf die Entstehung und Entwicklung desselben ein­ wirkten. Offenbar waren schon in den alten Zeiten die Arier ein besonders reli­ giöses Volk, dem der treue und gewissenhafte Dienst seiner Götter Herzens­ bedürfnis war. Der Schwerpunkt des Gottesdienstes lag seit der Vorzeit im Opfer­ dienste; daß die Opfer reichlich und richtig dargebracht wurden, war unbedingt nötig, um des Segens der Gottheit teichaft zu werden. Da lag es nahe, daß die Personen, die mit dem Opferritual genau Bescheid wußten, immer ausschließlicher mit der Darbringung der Opfer beauftragt wurden, und daß sie die Kenntnis und Kunst des Opferns in ihren Familien als ein wertvolles Familienerbe pflegten. Schon frühe verband sich damit der Gedanke, daß die heiligen Gesänge eine Macht über die Götter ausübten. Der Gesang, welcher in einer entscheidenden Schlacht zum Siege geführt hatte, galt als ein Talisman, der auch später in ähnlicher Lage nicht versagen werde. Wer die besten, kräftigsten, erprobtesten Lieder und Ge­ bete kannte, hatte damit eine Macht über Götter und Menschen in Händen. Gebet und Opfer wurden als sichere Mittel aufgefaßt, um im Himmel wie auf Erden seine Wünsche durchzusetzen; Soma, das Trankopfer, und Brahmanaspati, das personifizierte Gebet, rückten schon in der vedischen Periode unter die Zahl der Götter ein; ja beide, besonders der letztere, wurden sogar als Schöpfer der Welt gepriesen. Da es eine geschriebene Literatur noch nicht gab, mußte jedes Lied, jedes Gebet, jeder Opferbrauch durch das Gedächtnis fortgepflanzt werden, und es war natür­ lich, daß die Krieger und Vaisyas diese für das Wohl des Volkes so notwendige geistige Arbeit den Priesterfamilien, den Brahmanen, überließen. So bildeten sich schon in sehr alter Zeit drei arische Kasten, die Brahmanen, Kschatriya und Vaisya, und die nichtarische Kaste der Sudra. Schon im Rigveda, der ältesten heiligen Gedichtsammlung, findet sich der Spruch: „Als sie den Urgeist auseinanderlegten, wie viele machten sie aus ihm der Teile? Was war da sein Gesicht, was seine Arme? was nennt man seine Schenkel, seine Füße? Sein Angesicht war damals der Brahmane, der königliche Krieger seine Arme, Der Mann des Volkes (Vaisya), das waren seine Schenkel, der Sudra ward erzeugt aus seinen Füßen." (Rigveda X, 90, 11. 12.)

Erbliche Priestergeschlechter haben immer die Neigung, nach maßgebendem Einfluß zu streben. Die Brahmanen fingen bald an, die erste Stellung unter den arischen Kasten zu beanspruchen. Je weiter wir in der späteren vedischen und nachvedischen Literatur hinabsteigen, um so anmaßender, ja ungeheuerlicher wurden die Ansprüche, mit denen sie hervortraten. Zuerst hieß es: „Nur der König, vor welchem der Priester einhergeht, wohnt wohlgerüstet in seinem Hause; ihm fügt sich die Erde zu allen Zeiten, ihm beugt sich das Volk von selbst. Der König, welcher dem Priester, der seinen Schutz erfleht, Reichtum gewährt, wird ohne Widerstand die Schätze seiner Feinde sowohl als seiner Freunde erlangen, ihn werden die Götter beschützen" (Rigveda IV, 50). Später hieß es schon: „Derjenige, welcher... einen Brahmanen oder ein Bild eines Gottes sieht und sich nicht

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augenblicklich verbeugt, wird ein Schwein auf der Erde." Da dauerte es nicht mehr lange, bis die Brahmanen mit dem Anspruch hervortraten, die Erdengötter zu sein: „Es gibt zwei Götterarten: erstens die Götter, dann die, welche Brah­ manen sind;.... dies sind menschliche Götter. Und das Opfer ist ein zweifaches: Darreichungen für die Götter, Gaben für die menschlichen Götter, die Brah­ manen. Mit Darreichungen beschwichtigt der Gläubige die Götter, mit Gaben die menschlichen Götter, die Brahmanen. Beide Götter versetzen ihn, wenn sie befriedigt sind, in Glückseligkeit." Nun wären diese Ansprüche der Brahmanen nicht so gefährlich gewesen, wenn sie nicht die Macht und den Willen gehabt hätten, sie durchzusetzen. Ihr erstes Mittel dazu war, daß sie sich gegen die andern Kasten abschlossen; nur die Kinder der Brahmanengeschlechter, die Brahmaputras, konnten fortan Brahmanen werden. Es ist eins der merkwürdigsten Kapitel der Entwicklung des Priestertums, wie die Brahmanen ihren Erbanspruch durchsetzten. Die Kschatrya sind in den Kämpfen mit den Brahmanen zu einer Minder­ heit zusammengeschmolzen. Die Brahmanen wurden zwar nicht die Herrscher, wohl aber die tonangebende Macht im Lande; sie vertraten die arische Kultur, den arischen Götterglauben, die arische Wissenschaft. Und diese Stellung hob sich, seitdem das alte heilige Sanskrit im Volksmunde abstarb und den Prakritdialekten Platz machte. Manu, der große Gesetzgeber Indiens, stellt die Entwicklung der niederen Kasten so dar, als sei die große Masse der Bevölkerung Nordindiens aus mehr oder weniger illegitimen Zwischenheiraten hervorgegangen: der Sohn eines Brah­ manen und einer Vaisyafrau wurde Vaidya, Arzt; die Tochter eines Vaisya von einer Brahmanenfrau wurde Vaideha, Kammerzofe; die Nachkommenschaft eines Brahmqnen von einer Sudrafrau wurde Nishada, Fischer; der Sohn eines Vaisya von einer Kschatryafrau wurde Maghadas (Handelsreisender) usw. So konstruiert Manu 16 Hauptmischkasten und eine sehr lange Reihe von weiteren Kreuzmischungen, die sich ins unendliche vermehren läßt. Allein diese ganze Auf­ fassung, daß die Hauptmasse der Bevölkerung aus Mischehen, sei es der arischen Kasten in illegitimen Graden, sei es der Arier mit den Ureinwohnern, hervor­ gegangen sei, ist offenbar ungeschichtlich. Sehen wir nach dem Süden, so finden wir große, zusammenhängende dravidische Volksmassen, bei denen es unwahr­ scheinlich ist, anzunehmen, daß sie aus arischen Mischehen entsprossen seien. Die Rückblicke in die Vergangenheit reichen nicht aus, um die verwickelte Erscheinung der Kaste voll verständlich zu machen. Es ist in ihr ein ethnologisches Moment. Wie sie ihre erste Wurzel in der Abschließung der arischen Einwanderer gegen die drawidischen Ureinwohner hatte, Jo vollzieht sich auch jetzt noch immer von neuem eine kastenmäßige Sonderung, wenn nichtarische Völker in die indische Kultur und Gesellschaftsordnung ausgenommen werden. Die Glieder, Familien oder Sippen der Berg- und Waldvölker in Tschota Nagpur oder in den weitausge­ dehnten Tälern des Himalaya werden, wenn sie hinduisiert werden, als neue Kasten oder Gruppen von Kastenlosen angegliedert. Daneben ist in der Kaste ein ausgeprägtes professionelles Element. Alle Handwerke und Berufe, ja alle irgendwie zu sondernden Beschäftigungsarten haben sich zu eigenen Kasten zu­ sammengeschlossen. Da gibt es Kasten der Tischler, der Schreiner, der Kaufleute, Reimann (Richter), Gelchichtswerl.

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der Lastträger, der Wasserträger, der Gärtner, der Fischer usw. Da gibt es Diebs­ und Räuberkasten, ja selbst die berüchtigten Thags, die Meuchelmörder Nord­ indiens, waren kastenmäßig gegliedert. Wir machen uns schwer eine Vorstellung davon, wie weit diese kastenmäßige Sonderung der Berufe geht: da gibt es Brahmanenkasten, welche die Tempelopfer darbringen, andere, welche die Veden lesen, andere, welche als Gurus (religiöse Lehrer) durch das Land ziehen, andere, welche Ratgeber der Fürsten sind, andere, welche als Sterndeuter und Wahrsager ein kümmerliches Brot verdienen, andere, welche als Wächter den niederen Kasten vorgestellt sind, andere, welche als Fischer oder Bauern im Schweiß ihres Angesichts arbeiten. Was ist nun eigentlich und worin äußert sich die Kaste? Gegenüber den niedrigsten äußert sich das Vorurteil in einer unmenschlichen Weise; sie sollen mit einer atmosphärischen Unreinheit behaftet sein, so daß schon ihre Nähe die höheren Kasten verunreinigt. In Malabar geht es so weit, daß die Pariakasten je nach dem Grade ihrer verunreinigenden Atmosphäre sich nicht bis auf 72, ja 96 Schritt einem Brahmanen nähern dürfen. Die Folge ist, daß dort die Vornehmen auf ihre Erbgüter im Lande ziehen und die Stadt meiden, wo sie jeden Tag der ver­ unreinigenden Nähe der niederen Kasten ausgesetzt sind. Allein diese Ausartung des Kastengeistes ist doch Ausnahme. In der Regel äußert sich die Kaste haupt­ sächlich in drei Punkten: Glieder verschiedener Kasten dürfen nicht miteinander essen, dürfen nicht untereinander heiraten, und die Glieder derselben Kaste müssen bei dem von den Vätern ererbten Berufe bleiben. b) Gab dieses eigenartige Gebilde der Kaste — das seltsamste und zäheste, das die menschliche Gesellschaft hervorgebracht hat — dem indischen Leben ein neues Gepräge, so trugen dazu nicht minder zwei Gedanken- oder Vor­ stellungsgruppen bei, welche in dieser brahmanischen Zeit auftauchten und sich bald im indischen Denken durchgesetzt haben: Seelenwanderung und Ver­ geltung. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, woher die Anschauung von der Seelenwanderung in Indien stamme. Es finden sich ähnliche Vorstellungen weit verbreitet in den animistischen Religionen aller Erdteile; vielleicht waren sie bei den drawidischen Ureinwohnern Indiens besonders entwickelt und wurden dann von den Eroberern übernommen; vielleicht legte auch der im üppigen in­ dischen Tropenklima sich besonders lebhaft aufdrängende Eindruck vom Kreislauf der Natur und dem immer Neugeborenwerden der Pflanzenwelt den indischen Grüblern die Idee von einer gleichen Wiedergeburt der Menschen nahe. Jedenfalls beherrscht seither der Seelenwanderungsgedanke das indische Denken so voll­ ständig, daß er sich in der Regel als dessen erster wichtiger Bestandteil durchsetzt, wo immer die indischen Religionen unter nicht indischen Völkern verbreitet werden. Und zwar hat er sich von Anfang an auf das engste mit dem Vergeltungsgedanken verschmolzen. Dieser liegt an sich so tief im menschlichen Gemüt, daß er in der einen oder andern Form bei allen Völkern auftritt. Aber es ist doch ein Unter­ schied, ob er wie bei den Chinesen wesentlich verdiesseitigt wird, so daß also die Anschauung vorherrscht, daß in diesem Leben und in der Weltordnung dieses Kosmos sich Tat und Lohn ausgleichen; oder ob die Vergeltung wie in Indien überwiegend über das gegenwärtige Leben hinaus in andere frühere oder spätere Daseins­ weisen der Seele verlegt wird. Es ist eine eigentümliche und bedeutsame Tat-

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fache, daß sich für die Inder die Idee der sittlichen Weltordnung nicht, wie bei den monotheistischen Völkern des europäischen Kulturkreises, in die Idee des gerechten und allmächtigen Gottes und nicht, wie bei den Chinesen, in die Idee des Universismus, sondern in diese merkwürdige Verschmelzung von Seelenwan­ derung und Vergeltung verlegt hat, und daß diese beiden Ideen sich durch Jahr­ tausende als tragfähig für das Bewußtsein der indischen Völker erwiesen haben. Jedenfalls hat sich die Anschauung vielfach in Formen, die uns grotesk erscheinen, disrchgesetzt. Im Gesetzbuchs des Manu heißt es: „Höret nun, in welchen Mutterschoß der Jiva (das Lebewesen) in dieser Welt allmählich gelangt durch die hier begangenen Werke: Wenn die großen Verbrecher viele Jahre hindurch in den schrecklichsten Höllen gelitten haben, dann werden sie nachher die folgenden Seelenwan­ derungen antreten: Der Mörder eines Brahmanen erreicht den Mutterschoß eines Hundes, eines Ebers, eines Esels, eines Kamels, eines Rindes, einer Ziege. ... Ein Brahmane, der geistige Getränke genießt, erreicht den Mutterschoß eines Wurms, eines Insekts, einer Motte, eines mistfressenden Vogels oder eines Raubtiers. ... Boshafte Menschen werden fleisch­ essende Tiere; die, welche essen was verboten ist, werden Würmer; Diebe werden Wesen, die einander fressen; die, welche mit niedrigen Weibern Umgang haben, werden Gespenster.... Wpr Getreide stiehlt, wird eine Maus; wer Messing stiehlt, wird ein Flamingo; wer Wasser stiehlt, wird ein Schwimmvogel; wer Honig stiehlt, wird eine Bremse; wer Milch stiehlt, wird etAe Krähe."

Der Doppelgedanke von Seelenwanderung und Vergeltung kann ver­ schiedene, fördernde oder hemmende Gedankenreihen auslösen. Er kann sich ganz wohl umbiegen zu der erhabenen Idee eines allmählichen Aufstieges des Men­ schengeschlechts zu immer höherer Vollkommenheit im Verfolg von Verleiblichungen unter immer günstigeren Lebensbedingungen. Diese Gedankenreihe hat den Indern im allgemeinen ferngelegen. Sie wird nur insofern gelegentlich angeschlagen, als vorausgesetzt wird, z. B. ein Buddha müsse in vergangenen Daseinsweisen bereits ein außerordentlich heiliges Leben geführt haben, sonst würde er nicht zu der höchsten, vom Menschen zu erreichenden Würde eines Buddha aufgestiegen sein. Zudem ist sie besonders im Buddhismus ein starker Antrieb, gute Werke zu tun, um in der nächsten Verleiblichung eine günstige Wiedergeburt zu erlangen. In dem Doppelgedanken kann andererseits für grüblerische Gemüter ein starker Antrieb liegen, die Kette der früheren Wiedergeburten zu schauen; es ist deshalb, wieder hauptsächlich im Bereiche des Buddhismus, eine beliebte und, wie behauptet wird, erfolgreiche Übung der Versenkung, zunächst die letzte, dann immer weiter zurückschreitend, hunderte und tausende früherer Geburten zu schauen, etwa so wie ein katholischer Mystiker die Heiligen in seinen Gesichten schaut. Allein für die Inder ist die wichtigste Folge des Doppelgedankens die trübe Überzeugung gewesen, daß sie aus einer ruhelosen Wanderung aus Dasein in Dasein ohne Anfang und Ende begriffen sind, daß dieser Zwang immer neuer Wiedergeburten der härteste Fluch des Daseins sei, und daß es die Hauptaufgabe der Erlösung sei, den Menschen von dieser Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien. Man kann ohne diese eigenartige Problemstellung die indischen Erlösungsreligionen und auch die philosophischen Systeme nicht verstehen; denn sie sind alle Versuche von Antworten auf die Frage: wie verhindere ich künftige Wiedergeburten? c) Die Spekulationen über die Weltseele und das All-eine. Etwa um 600 vor Christi Geburt fingen in Griechenland die Philosophen an, über die Rätsel der Welt nachzudenken, und nun folgte in wenigen Jahrhunderten jener glänzende 3*

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Aufstieg menschlichen Denkens und Forschens von Thales und Heraklit bis Plato und Aristoteles. Wahrscheinlich bereits einige Jahrhunderte früher setzte dieselbe Entwicklung bei den indischen Weisen ein und führte zu nicht minder großen Er­ gebnissen. Allerdings war die Richtung des Denkens bei beiden Völkern gerade entgegengesetzt: Die Griechen schauten aus sich heraus in die Welt hinaus und suchten sie genau zu beobachten und in ihrer Mannigfaltigkeit und in ihrer Eigengesetz­ lichkeit auf allen Gebieten zu erfassen. Die Inder schauten von der Welt weg in sich hinein und auf den einheitlichen Weltengrund und wollten hinter der verwirrenden Mannigfaltigkeit die Einheit des Seins begreifen. Den Anlaß zu diesem grüblerischen Versenken bot schon ihr äußerer Lebensgang. Es war Brauch geworden, daß in der Regeldas Lebendes Brahmanen in vier Abschnitten verlief: Zuerst war er Novize, Lehr­ ling, Brahmatscharin,und hatte als solcher die heiligen Veden in der Sanskritsprache und alle Formen und Riten des Opferdienstes zu erlernen. Dann wurde er Haus­ herr, Grihashtra, heiratete, zeugte und erzog Söhne und verrichtete die Opfer genau nach den durch das Herkommen geheiligten Formen. Etwa im Alter von 45—50 Jahren brach er die Verbindungen mit dem Berufsleben ab, zog sich in die Einsamkeit des Waldes zurück, wurde also Wanaprastha, Waldeinsiedler, und gab sich im Kreise Gleichgesinnter dem Nachdenken über die Lebensrätsel hin. Noch später löste er auch diese Bande, wurde Sanjasin, Entsager, und zog von Heiligtum zu Heiligtum, um äußerlich und innerlich der Gottheit nahe zu kommen. Die religiöse Literatur dieser Jahrhunderte besteht großenteils aus Brahmanas, Aranjakas und Upanischaden. Die Brahmanas sind umständliche und uns meist wunderlich anmutende Grübeleien über die Opfer und die damit verbundenen Bräuche. Die Aranjakas, „Waldstücke", sind die ersten Versuche tieferen Nach­ denkens über die Fragen des Seins und des Lebens. Die Upanischaden sind in Prosa oder in poetischer Form zum Teil sehr schöne und tiefe Spekulationen über die höchsten Fragen; sie enthalten vielfach die Keime der späteren, ausgebildeten philosophischen Systeme. Ausgangspunkt dieses Nachdenkens bildeten bereits einige philosophische Hymnen des Rigveda: In einem dieser Lieder wird davon gesungen, wie in der Ode des Chaos sich die Begierde, Kama, regte und so die Schöpfung begann; aber war da ein Schöpfer? „Nicht war das Sein, nicht war das Nichtsein damals, kein Luftkreis war, kein Himmel war darüber: Was regte sich, wo war's, in wessen Obhut? War es Gewässer, schaurig tiefer Abgrund?

Kein Tod war damals, kein unsterblich Leben, von Tag und Nacht gab es noch kein Erscheinen: Ruhig, selbstherrlich, atmete das Eine, und außer diesem Einen war kein Andres. Dunkel irrt Anfang war, gehüllt in Dunkel, ununterschieden, alles ein Gewoge; Als rings umhüllt von Ode war das Leere, da durch der Büßung Macht entstand das Eine. Zuerst entwickelte sich die Begierde, sie war des Geistes früheste Befruchtung: Weise, die forschten mit Verstand im Herzen, fanden in ihr das Band des Seins und Nichtseins.

Die Religionen Indiens.

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Wer weiß es wohl, wer mag es hier verkünden: woher entstand, woher kam das Erschaffne? Die Götter kamen erst nach seiner Schöpfung: wer weiß es dann, woher es ist gekommen?

Woher sie ist geworden, diese Schöpfung, ob sie geschaffen ward, ob nicht geschaffen, — Der davon Zeuge war im höchsten Himmel, er weiß es wohl; oder weiß es auch er nicht?" (Rigveda X, 129.)

Ein zweites Lied singt von einem goldenen Keime, der am Anfang von selbst entstand; aus ihm und durch ihn sei das ganze Weltall geworden; freilich klingt zugleich durch das ganze Lied die bange Zweifelsfrage: Wer ist der Gott, den wir mit unfern Opfern ehren? Ein drittes Lied berichtet von einem gigantischen Weltopfer, das am Anfang der Dinge die Götter dargebracht, und aus dem zer­ legten Leibe des Opfers, des Urriesen Puruscha, hätten sie dies ganze Weltall aufgebaut: „Der Mond entstand aus seinem innern Sinne, aus seinem Auge ward' die Sonn' geboren; Indra und Agni wurden aus dem Munde, aus seinem Odem ist der Wind entstanden.

Der Luftkreis aus dem Nabel ward; der Himmel entsprang dem Haupt, die Erde seinen Füßen, Die Himmelsgegenden aus dem Gehöre; so haben sie die Welten zubereitet."

An diese und ähnliche Gedanken knüpften die indischen Denker an. Die großen Gedankenreihen von Seelenwanderung und Vergeltung wurden in sie mit hineingebaut. Gewisse feste Ideen schienen sich ihrem Denken als unaus­ weichlich aufzudrängen. Sie beobachteten, daß jeder Mensch aus der Zweiheit von Leib und Seele bestehe; da aber der Leib in den zahllosen Wieder­ geburten beständig wechselte, aber die Seele in der Erscheinungen Flucht identisch blieb, so ergab sich für sie von selbst, daß die Seele das eigentlich Beständige, der Leib das immer Wechselnde, Vergängliche sei. Dieselbe Doppelheit sahen die Denker auch in Tieren, in Pflanzen, in Göttern und Dämonen, denn sie alle waren ja oder hatten Seelen, welche wie sie aus einem Dasein in das andere wanderten. Überall also begegnete ihnen eine unvergängliche Seele und ein ständig wechselnder Leib. Galt das nicht auch von der Natur im ganzen? Beobachtete man nicht, wie sie in jedem Herbste das alte, verbrauchte Gewand ablegte und in jedem Frühling sich mit neuem Leben schmückte. Also auch dort eine beständige Seele und ein dem Wechsel unterworfener Leib. Ist nicht diese Weltseele meiner eigenen Seele wesensverwandt, ja wesensgleich? So entstanden die großen Gleichungen, welche gleichsam die Pfeiler sind, über denen indisches Denken die Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit, Welt und Gott baute: Individuelle Seele (Atman) —Leib; Weltseele (Brahman) — Welt; Atman — Brahman. Wie verhielten sich dann die verschiedenen Seelen zueinander und zur Welt­ seele? War es nicht wahrscheinlich, daß ursprünglich die eine große Weltseele als Inbegriff aller Seelen vorhanden war und von ihr wie Funken aus dem Feuer oder wie Strahlen aus der Sonne die Einzelseelen hervorgegangen sind? Und wenn sie so ursprünglich aus der Weltseele hervorgegangen sind, ist es dann nicht

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selbstverständlich ihre Aufgabe, daß sie wieder in der Weltseele aufgehen? Ferner wenn überall die Weltseele das eigentlich Bleibende, die Leiber aber nur ihr schnell wechselndes Kleid sind, sind dann diese Leiber aus irgendeinem unabhängig von der Seele von Ewigkeit her bestehenden Stoff, Materie gebildet, den sich jedesmal die Seele so zurechtknetet, wie sie ihn braucht? Oder ist der Leib, die Materie nur eine Vergröberung, eine Materialisierung des Geiststoffes, aus dem die Seele besteht, oder ist er vielleicht gar nur eine Täuschung, ein Schein? Unter allen Umständen kann man offenbar in der Materie, aus der die Seelen der Leiber gebildet sind, drei Grundstoffe unterscheiden: die Lichtsubstanz, aus welcher die Götter gebildet sind, die Finsternissubstanz, aus der die Steine und die Erde bestehen, und die Mittelsubstanz des Menschen, welche halb Licht, halb Finsternis, halb Leben, halb Tod ist. So kam man auf die drei Grundsubstanzen als die auf­ bauenden Kräfte der Materie: sattva (Licht), radschas (Leidenschaft, Halb­ dunkel), tamas (Tod, Finsternis). Diese und ähnliche Gedankenreihen lehrte man in den Asramas der Wanaprastha, den Klubs der Waldeinsiedler, vielfach wohl zunächst als eine nur ins Ohr geflüsterte Geheimlehre. Denn wie verhielten sich dazu die großen Götter, denen man die Opfer darbrachte, die nun überall an den heiligen Stätten aufge­ bauten Tempel, ja selbst der Stand der Brahmanen? Wir bringen als Probe dieser Upanischad-Literatur einen Abschnitt des Jscha, das neuer­ dings von vielen Indern besonders hoch geschätzt wird. 1. Des Herren Kleid muß alles sein, was sich in dieser Welt bewegt; genieße drum, was er beschert, begehre keines Menschen Gut. 2. Erstreb' durch Werke (Opfer) immerhin dir hundert Jahre Lebenszeit; das ändert deinen Zustand nicht: die Werke haften nicht am Mann.-----------4. Unregsam, eines, schneller als das Denken, erreichten's nicht die Götter, da sich's regte. Feststehend überholt es alle Läufer; der Wind legt in ihm die Gewässer nieder. 5. Es regt sich, und es regt sich nicht, ist fern und nahe doch zugleich. Es ist in allem, was da ist, ist außerhalb der ganzen Welt. 6. Wer aber die Geschöpfe all nachprüfend nur im Ich erblickt, in allen Wesen auch das Ich, hegt keinen Zweifel mehr an ihm. 7. Der Wissende, in dem das Ich, das heißt die Wesen alle find, wie könnt er irren, grämen sich, da Prüfend er die Einheit schaut?

C. Der Buddhismus.

In diese gärende, nach neuen Gestaltungen ringende Welt des Brahma­ nismus griff tief der Buddhismus hinein und beherrschte auf ein Jahrtausend das religiöse Denken Indiens. Das Merkwürdige war zunächst, daß hier (wahr-

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scheinlich 550—474) ein großer Religionsstifter, Buddha, auftrat, welcher der Religiösität eine persönliche Note gab: eigenste Erfahrung, religiöses Erlebnis, Kampf und Sieg, siebenjähriges Suchen und seliges Finden. Und die buddhistische Legende hat das Leben Buddhas reich, ja überschwänglich als die Verkörperung ihres religiösen Ideals ausgestaltet. So ist das legendarische Leben Buddhas für die Kenntnis des Buddhismus fast wichtiger als das geschichtliche Leben des Siddharta Gautama Sakyamuni. Wir entwerfen eine kurze Skizze davon: a) Einige Szenen aus dem legendarischen Leben des Buddha. Im Wonnemonat ist die jugendlich schöne Königin Maja auf dem Altan ihres Palastes sanft eingeschlummert. Da geht der Bodhisatva (Buddha-Aspirant) als junger, weißer Elefant mit sechs Stoßzähnen in besonnener Bewußtheit zur rechten Seite in den Mutterleib ein. Die Königin schaut den ganzen Vorgang im Traum. Dabei ist sie von einer nie gekannten Seligkeit durchdrungen. Sie empfindet sich in den höheren Be­ wußtseinszustand der Woga-Meditation entrückt. Nach dem Erwachen begibt sie sich in den Asokahain ihres Palastes und läßt den König zu sich entbieten. Wie durch Erdenschwere festgebannt, ist der König zuerst außerstande, den Hain zu betreten. Götterstimmen aus der Luft klären ihn über das Vorgefallene auf, und Maja erzählt ihm ihren Traum. Die zur Deutung herbeigerufenen Brah­ manen verkündigen dem Könige, daß ihm Freude widerfahren sei, ihm werde ein Sohn mit glücklichen Vorzeichen geboren werden, der zur Weltherrschaft be­ rufen sei. Entsage er aber dem Königreich, so werde er ein welterbarmender Buddha werden, der mit unsterblichem Heile die Wesen beglücke. Zehn Monate sind vergangen. Die Königin Maja weiß, daß ihre Stunde gekommen ist. Im ganzen Lande und am Hofe des Königs Suddhodana treten wunderbare Vorzeichen auf. Eine tiefe Stille senkt sich über die Natur; Blumen bleiben unerschlossen; die Winde schweigen; Flüsse stehen im Laufe still; das Feuer brennt nicht; alle Geschäftigkeit im Lande stockt; Frauen haben leichte Ge­ burt; aus dem Himalaya kommen junge Löwen in die Stadt gelaufen, tun aber niemandem etwas zuleide und legen sich friedlich vor die Türen der Häuser. Die Königin hat das Verlangen, in der freien Natur zu weilen; sie will mit ihren Freundinnen den Lusthain Lumbini, einige Meilen von der Königstadt Kapilavastu, besuchen. Es ist eben die Zeit des ersten Frühlings, und der Lumbinihain prangt und duftet im üppigsten Lenzesschmuck. Alle Bäume blühen, auch wo es nicht die Zeit ihrer Blüte ist, und die Götter haben den Hain mit himmlischen Blumen geschmückt. Die Königin Maja betritt den Garten und geht von Baum zu Baum; indem sie auf einen heiligen Feigenbaum zuschreitet, neigt dieser sich durch die überirdische Macht des Bodhisatva zur Erde herab, Maja streckt ihren rechten Arm aus und ergreift einen Zweig. So steht sie in anmutiger Haltung, zum Himmel emporblickend, mit leicht geöffnetem Munde da. In diesem Augenblick treten himmlische Jungfrauen ohne Zahl herzu, um der Königin mit ihren Diensten aufzuwarten, und der Bodhisatva tritt zur rechten Seite aus dem Mutterleibe heraus, in besonnener Bewußtheit, unbefleckt von irdischer Unreinheit. Götter lassen dem Bodhisatva die erste Hilfeleistung angedeihen. Indra und Brahman selbst nehmen das Kind ehrfurchtsvoll in die Arme und hüllen es in Gewänder von himmlischer Seide. Zwei Schlangenkönige lassen zwei Wasserströme ent­ stehen, einen kalten und einen warmen, und spenden dem Bodhisatva das erste

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Bad. Scharen himmlischer Wesen träufeln Wohlgerüche hernieder und lassen Blumen regnen. Eben geboren, tritt der Bodhisatva auf die Erde, und alsbald tut sich die Erde auf, und ein großer Lotus wächst aus ihr hervor. In diesem Lotus stehend, blickt der Bodhisatva mit dem Löwenblicke des großen Wesens nach allen Himmelsrichtungen; mit göttlichem, hellsichtigem Auge alle Wesenssphären überschauend und die Gedanken aller Wesen durchdringend, erkennt er, daß nir­ gendwo seinesgleichen zu finden sei. Dann tut er sieben Schritte nach allen Him­ melsrichtungen und spricht: „Ich bin der Erste in der Welt; ich bin der Größte in der Welt; dies ist meine letzte Geburt; enden werde ich das Leiden von Geburt, Alter und Tod." Im Himalaya wohnt zu dieser Zeit ein hochbetagter, mit Hellsichtigkeit und überirdischer Macht begabter heiliger Einsiedler namens Asita. Er vernimmt in der Götterwelt den Jubel, den die Geburt des Bodhisatva hervorruft. Von seinem jugendlichen Schwestersohn Maradatta begleitet, nimmt er mit Hilfe seiner Zaubermacht den Weg durch die Luft nach Kapilavastu. Dort angelangt, begibt er sich zu Fuß wie ein gewöhnlicher Sterblicher nach dem Palaste des Königs Suddhodana. Er spricht dem König das Verlangen aus, das neugeborene Kind zu sehen. Wie er die 32 Zeichen des großen Wesens erblickt, fällt er mit dem Ruf: „Fürwahr, ein Wunderwesen ist der Welt erstanden!" dem Bodhisatva zu Füßen und huldigt ihm in andächtiger Ehrfurcht. Dann bricht er plötzlich in Tränen aus. Der König, ein Unheil für die Zukunft des Kindes befürchtend, fragt voll Besorgnis den Seher, warum er Tränen vergieße. Asita erwidert, er weine nicht um den Prinzen, sondern über sich selbst, denn er sei nun ein Greis und hoch­ betagt. Der Prinz Siddharta werde gewiß ein Buddha werden und das Rad der Norm in Bewegung setzen, d. h. die Lehre verkündigen zum Heil der Götter und Menschen. „So wie, o Großkönig, eine Blüte des Mdumbara-Feigenbaumes nur in langer Zeiten Lauf entsteht, so ersteht erst nach langen Weltenaltern ein heiliger Buddha in der Welt. Der Prinz Siddharta wird gewiß zu dieser höchsten Erleuchtung eines Buddha erwachen und dann zahllose Wesen aus dem Meere des Kreislaufes der Wiedergeburten erretten und sie zum jenseitigen Ufer, der Stätte des unsterblichen Heiles, hinübergeleiten. Weil ich nun, o König, dieses Kleinod, eines Buddha nicht mehr schauen werde, darum weine ich und bin be­ trübt in meinem Herzen." Hocherfreut läßt der König den Rischi (heiligen Ein­ siedler), nachdem er ihn reich bewirtet, wieder von sich ziehen. Der Prinz Siddharta ist zum Knaben herangewachsen. Da kommt ihn bei einem Feste die Lust an, mit Altersgenossen auf das Land zu gehen. Nachdem er eine Weile der Feldarbeit zugesehen, sucht er die Einsamkeit eines Gartens auf; unter einem Rosenapfelbaum in der Stellung der Poga-Meditation mit untergeschlagenen Beinen sitzend, versinkt er in Sinnen und steigt bis zur höchsten (vierten) Stufe der Meditation empor, wo sein Geist in unbegrenzter Ruhe und Abgeschiedenheit verharrt. In diesem Augenblick ziehen fünf heilige, mit überirdischer Macht be­ gabte Seher durch die Luft von Süden nach Norden. Wie sie sich über dem Punkte befinden, wo der Bodhisatva in Meditation versunken dasitzt, fühlen sie sich plötz­ lich wie festgebannt und können nicht weiter. Erstaunt fragen sie sich, wer ihnen dieses Hindernis bereite, und eine Waldgottheit raunt ihnen zu, ein Königssohn der Sakya von morgensonnengleichem Glanze sei es, der, einsam in Meditation

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versunken, ihrer Zaubermacht die Spitze abbreche. Da wenden die Seher ihre Blicke zur Erde und sehen das vom Glanze seiner Hoheit wie von Feuersglut umstrahlte Kind. Inzwischen vermißt der König, für den es ohne seinen Sohn keine Freude in der Welt gibt, den Anblick des Prinzen. Er sendet ein großes Gefolge aus, den Prinzen zu suchen, und man findet den Bodhisatva in tiefer Meditation im Schatten des Rosenapfelbaumes mit untergeschlagenen Beinen sitzend. Und während der Schatten aller anderen Bäume, dem Stande der Sonne entsprechend, fortgerückt ist, breitet sich der Schatten des Rosenapfelbaumes nach wie vor über den Körper des meditierenden Bodhisatva. Der Prinz ist in die Jahre der Reife eingetreten. Die Ältesten erinnern den König Suddhodana an die Prophezeiungen, daß sein Sohn der Welt entsage und als Asket sich in die Einsamkeit zurückziehen werde. Um ihn sich zu erhalten, wünscht ihn der König zu verheiraten. Es geht ein Gebot aus, daß sich die Edelfräulein im Lande in der Hauptstadt versammeln sollen. Der Prinz gibt jeder von ihnen, wie sie an ihm vorüberziehen, eine Blume. Die schöne Dasodhora ist die letzte in der Reihe. Der Prinz hat keine Blume mehr zur Hand. Es entspinnt sich ein kurzes Gespräch zwischen den beiden. „Prinz, was habe ich dir getan, daß du mich so mißachtest?" redet sie ihn lächelnd an. Er erwidert: „Nicht mißachte ich dich, du bist eben zu spät gekommen", und schenkt ihr den kostbaren Ring, den er am Finger trägt. Sie aber spricht: „Nur soviel bin ich dir wert?" Da will er ihr all seinen Schmuck geben, sie aber wehrt ihm mit den Worten: „Nicht will ich den Prinzen seines Schmuckes berauben; vielmehr will ich ihn selber schmücken". Das Gespräch ist beobachtet. Des Prinzen Vater hält für seinen Sohn um Pasodhoras Hand an. Aber in ihrer stolzen Adelsfamilie ist es Sitte, daß sich der Freier in allen ritterlichen Künsten muß als Meister ausgewiesen haben. So finden öffentliche Wettspiele statt, zu denen sich von weit und breit junge Ritter als Freier einstellen. Prinz Siddharta besiegt sie in den Wettkämpfen. Zuletzt kommt es zu der entscheidenden Probe, dem Wettschießen mit dem Bogen. Fünf Bewerber stecken in Rufweite eine eherne Trommel als Ziel auf. Der Prinz stellt die seine in zehn Rufweiten, und dahinter stehen sieben Palmen und das Bild eines ehernen Ebers. Alle treffen ihr Ziel. Zuletzt kommt der Prinz an die Reihe. Er läßt sich einen ganz besonders schweren Bogen geben, den niemand sonst spannen kann. Und o Wunder, er schießt nicht nur durch seine Trommel, sondern dahinter durch die fünf Palmen, durch den ehernen Eber und weit dahinter bohrt sich sein Pfeil in den Sand. An der Stelle sprudelt ein Quell hervor. Ungeheurer Jubel ertönt. Der Prinz hat die schöne Pasodhara gewonnen. Er heiratet nun, aber nicht nur Dasodhara, sondern außer ihr 84000 Frauen, und zu seinem Hofstaat ge­ hören außerdem zehntausende von Tänzerinnen und Sängerinnen. Seine Frau gebiert ihm nach einem Jahre einen Sohn, Rahula. Inzwischen aber hat er auf wiederholten Ausfahrten tiefe Eindrücke von der Vergänglichkeit des Lebens gehabt, obgleich sich sein Vater bemüht hatte, alle solche Bilder von ihm fernzuhalten. Das eine Mal sah er einen gebrechlichen Greis, das andere Mal einen mit dem Tode ringenden Kranken, ein drittes Mal einen schon in Verwesung überge­ gangenen Leichnam, ein viertes Mal aber einen Bettelmönch mit dem Frieden erlangter Erlösung auf seinem Gesichte. Nun stand sein Entschluß fest, aus dem Heim in die Heimlosigkeit zu gehen. Sein treuer Diener geleitete ihn auf seinem

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edlen Rosse Kanthaka bis an die Grenze des Königreiches. Dem Rosse brach über dem Trennungsweh das Herz. Sieben Jahre lang suchte der Einsiedler aus dem Sakyastamme mit dem ehr­ würdigen Vedanamen Gautama, daher Gautama Sakyamuni, nach der Er­ lösung, bis sie ihm in einer Nacht unter dem Bhobaume am Neranjaraflusse, nahe bei Uruvela, zuteil ward. Ein halbes Jahrhundert zog seitdem Buddha lehrend durch die Königreiche Magadha und Kosala und die angrenzenden Länder, hoch­ geehrt von den Königen und dem Volk und umgeben von einer Schar getreuer Jünger. Hochbetagt machte er sich von Radschagriha auf den Weg über Pataliutra und Vaisali nach Kusinara. Wunderbare Ereignisse begleiteten seinen Zug, ohne Fährmann überschritt er mit den Seinen den hoch angeschwollenen Ganges­ strom. Als er aus einem Flusse, dessen Wasser durch eine durchziehende Kara­ wane aufgewühlt war, trinken wollte, war das Wasser ganz klar. Nach dem Ge­ nusse eines Eberbratens, den ihm der Schmied Tschundi vorgesetzt hatte, befiel ihn ein schweres Unwohlsein, und er fühlte, daß sein Ende nahe sei. Zwischen zwei Salbäumen, die ihn außer der Zeit des Blühens mit duftenden Blüten überschüt­ teten, legte er sich zur Ruhe nieder. Da stieg der Meister auf der Leiter der Versenkung auf bis zur neunten Stufe des Aufhörens von Bewußtsein und Gefühl, von dort auf demselben Wege wieder zur Bewußtheit zurückkehrend, erhob sich sein Geist zum zweiten Male bis zur vierten Stufe der ekstatischen Versenkung. Un­ mittelbar von da aus erreichte der Erhabene das vollständige Nirwana. b) Das geschichtliche Leben Buddhas scheint in einfachen Formen ver­ laufen zu sein. Die nordindische Tiefebene Hindostan, das überaus fruchtbare, von dem Ganges und seinen zahlreichen Nebenflüssen durchströmte Tiefland, zerfiel damals in eine Reihe von Königreichen. Im Leben Buddhas treten am meisten Magadha mit der Hauptstadt Radschagriha und den Königen Bimbisara und Adschatasatru, und Kosala mit der Hauptstadt Kosambi und dem König Prasenadschit hervor. Außerdem gab es mehrere aristokratische Fürstentümer, welche in einem mehr oder weniger engen Abhängigkeitsverhältnisse von diesen Königen standen, so die Sakya von Kapilavastu, die Litschavi von Vaisali und die Malla von Kusinara. Kapilavastu lag nahe dem Nordrande der Tiefebene, da wo schon majestätisch die Schneeriesen des Himalaya in das Tal herniederschauen. Die Gemahlin des Sakyafürsten Suddhodana entstammte einem Fürstenhause jenseits der ersten Bergketten in dem heutigen Nepal. Die Lage von Kapilavastu wie die des Haines Lumbini halbwegs zwischen der Hauptstadt und der Heimat der jungen Königin, wo die letztere von ihrer „Stunde" übereilt wurde, sind durch inschriftliche Funde sichergestellt. Es scheint, daß der junge Prinz Siddharta in allem Glanz und Reichtum eines indischen Fürstenhauses ausgewachsen ist, daß sich aber schon frühe, wie das bei den Fürstengeschlechtern jener Zeit nicht selten war, ein tiefer Hang zu grüblerischer Einsamkeit und ein Ringen um die Erlösung geltend machte. Er riß sich in einem plötzlichen Entschlüsse von Heim und Lebensstellung los und nahm das übliche Bettlergewand des fahrenden Asketen. Es gab damals in Nordindien zahlreiche angesehene religiöse Lehrer und, von ihnen vertreten, zahlreiche Methoden, um teils einen höheren Grad der Vollkommenheit, teils das Erlösungsziel zu erreichen. Buddha scheint sie mit heißem Bemühen erprobt zu haben, aber nur immer, um sich schließlich von ihnen

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abzukehren in der Überzeugung, daß er auf diesem Wege das Nirwana nicht erlange. Besonders unterwarf er sich der härtesten Hungeraskese, die ihn bis an den Rand der äußersten Erschöpfung brachte; er überzeugte sich aber, daß er sich durch über­ triebene Askese wohl zu Tode, aber nicht zur Erlösung bringen könne. Schließlich kam die Erleuchtung mit plötzlicher Gewalt über ihn, während er in tiefer Ver­ senkung unter einem Bhobaume (ficus religiosa) meditierte, und zwar drängte sich ihm zweierlei mit sieghafter Gewißheit auf: das Erlösungsziel des Nirwana, wie er es verstand, und der Weg dazu, die erlösende Erkenntnis und Übung. Buddha rang ernstlich mit sich, ob er sich mit dieser erlösenden Erkenntnis für sich selbst begnügen und in das Nirwana eingehen solle, oder ob er der Welt die ihm zuteil gewordene Erleuchtung kundmachen solle. Er sah später in diesem Ringen eine gefährliche Anfechtung Maras, des bösen Feindes. Er überwand sie aber und zog nun zunächst nach Benares, dem alten heiligen Mittelpunkt indischer Religion, und „setzte dort" mit einer berühmt gewordenen Predigt in dem Wildparke Jsipatana „das Rad der Lehre in Bewegung". 45 Jahre zog er seitdem in der Weise indischer Lehrer und Religionsstifter, wie es deren zu seiner Zeit in Nordindien außer ihm wenigstens noch sechs gab, lehrend und eine Gemeinde sammelnd durch das Land. Ein Kreis der Getreuen scharte sich um ihn, sein Jüngerkreis, in dem Ananda, Sariputta, Moggalana, Subhadra und sein Judas Jscharioth, sein Vetter Devadatta, hervorragen. Früh gründete er einen Mönchsorden aus freien und gesunden Männern verschiedener Kasten, welche alle Bande früherer Lebensbeziehungen gebrochen und den Erlösungsweg betreten hatten. Auf das dringende Bitten seiner Pflegemutter Pradschapati und auf Fürsprache Anandas schuf er mit Widerstreben auch einen Nonnenorden seiner Lehre. In der Regel zog er während der neun Monate der kalten und heißen Jahreszeit mit einer großen Schar von Mönchen von Gau zu Gau vom Südfuße des Hima­ laya im Norden bis zu den Bergwäldern des Vindhyagebirges im Süden. Die einmalige tägliche Mahlzeit erbettelten sie in landesüblicher Weise des Vor­ mittags in den benachbarten Dörfern. Buddha nahm aber auch gern mit seinen Getreuen Einladungen zu festlichen Mahlzeiten bei reichen Gönnern an. Bei diesen Gelegenheiten pflegte er seinen Gastgebern zum Dank seinen Erlösungsweg darzulegen. Des Nachmittags strömten in der Regel aus den benachbarten Dör­ fern Scharen von Männern, Frauen und Kindern nach dem Mangohaine, wo er mit den Seinen rastete, und er predigte ihnen dann stundenlang. Nachdem um 6Uhr abends die Nacht hereingebrochen war und die Menge sich zerstreut hatte, lehrte er im Kreise seiner Jünger und Mönche bis tief in die Nacht hinein. Da­ neben wurde von ihm und seinen Getreuen fleißig die stille Versenkung gepflegt. Während der drei Monate der Regenzeit rastete er, etwa so, daß er seine große Begleitung auf die benachbarten Dörfer verteilte. Dann war auf Wochen hinaus das Land infolge der übergroßen Feuchtigkeit weglos, und bei der indischen Scheu, keinem Lebewesen das Leben zu nehmen, ja nicht einmal einen Gras­ halm zu knicken, wäre in dieser Zeit üppigsten Wucherns des Kleintier- und des Pflanzenlebens das Wandern schier unmöglich gewesen. Früh stifteten reiche Gönner, zumal die Könige und Adelsgeschlechter, für diese Rastzeiten Haine mit mehr oder weniger ausgedehnten Siedelungen darin oder wenigstens Reihen von einfach eingerichteten Mönchsklausen.

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Buddhas Auftreten muß ungemeinwirkungsvoll gewesen sein; es ging von ihm eine Atmosphäre des unbegrenzten Wohlwollens gegen alle Menschen und dazu des Friedens, der abgeklärten Weltüberwindung aus. Dabei blieb er der vornehme Adlige, dessen Erscheinen und Auftreten Ehrfurcht gebot und Respekt abnötigte, und den auch Könige gern in ihre Nähe zogen. So lang­ atmig in ihren endlosen Wiederholungen und so abstrus in ihren schwerfälligen dogmatischen Ausdrücken und ständig wiederkehrenden Kategorienreihen uns die Predigt Buddhas anmutet, so muß sie den Hörern ungemein anziehend gewesen sein. Einmal wohl, weil sie sich durchweg in einer getragenen Höhenlage bewegte und in einem vornehmen Rhythmus dahinfloß; es war wie das gleichmäßige Rollen der Wogen des unermeßlich tiefen, aber gleich­ mäßig bewegten Meeres am Gestade. Dazu hatte Buddha vier Typen der Rede zur Meisterschaft ausgebildet: Er ließ jede Lehrunterweisung mit einem geflügelten Worte, oft in gebundener Rede enden; er verwandte dazu von ihm selbst gedichtete Verse oder Sprüchwörter und Sprüche, die im Volksmunde um­ liefen. Sie waren gleichsam die Haken, welche er einschlug, um daran die Er­ innerung an seine Predigt aufzuhängen. Er brauchte mit großem Geschick Gleich­ nisse und war unermüdlich, immer neue zu erfinden, um schwierige und dunkle Punkte seiner Lehre aufzuhellen; lag dabei auch vielfach die orientalische Täuschung zugrunde, als ob ein treffendes Gleichnis an sich beweiskräftig sei, so hat zweifellos gerade durch die Fülle anschaulicher Gleichnisse die Predigt Buddhas ihre Frische und Lebendigkeit erhalten. Ebenso verwandte er reichlich und geschickt den fast unerschöpflichen Sagen- und Märchenschatz seines Volkes, um an ihm seine Lehre zu erläutern oder durch die Erlebnisse jener sagenhaften Könige, Ko­ bolde, Tiere und Pflanzen Beweise für seine Lehre beizubringen. Eng damit zu­ sammenhängend ist endlich der von Buddha wohl erst spärlich und mit Vorsicht, aber um so mehr später von seiner Gemeinde geübte Gebrauch der sog. Jatakas, der Vorgeburtsgeschichten, der Erlebnisse, Taten und Worte des Buddha in seinen früheren Verkörperungen als Mensch oder Gott oder Geist. Ein großer Schatz der altindischen Folklore ist uns in dieser Verkleidung als Beweismaterial für buddhistische Gedankenreihen erhalten geblieben. Es ist kaum möglich, die Ereignisse int Leben Buddhas von Jahr zu Jahr oder auch nur von Jahrzehnt zu Jahrzehnt festzulegen. Sein Leben floß dahin wie ein großer, breiter Strom, der gleichmäßig die Lande befruchtet, dessen Landschaft sich aber wesentlich gleichbleibt. Nur von den letzten Monaten im Leben des damals über 80jährigen Greises haben wir in einem zwar stark legendarisch und scholastisch überarbeiteten, aber dennoch die wirklichen Verhältnisse deutlich widerspiegelnden Lehrstück, dem „Sutra (Lehrstück) vom großen Eingang in das Nirwana" (Mahaparinibbanasutta) einen lebendigen und anschaulichen Bericht. Danach hatte Buddha noch einmal eine längere Wanderung von Radschagriha über den Ganges bei Pataliputra nach Vaisali und weiter nach Kusinara gemacht. Nachdem er schon während der letzten Regenzeit heftig erkrankt war und nur mit Anspannung seines Lebenswillens den schweren Anfall überstanden hatte, überfiel ihn von neuem nach dem Genuß eines fetten Eberbratens ein schweres Unwohlsein, das in einem Wäldchen bei Kusinara schnell und schmerzlos seinen Tod herbeiführte. Er wurde wie ein

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indischer Fürst mit hohen Ehren verbrannt, seine Gebeine wurden dann unter die Orte verteilt, die in seinem Leben die größte Rolle gespielt hatten, und darüber Stupas, Reliquienhügel, errichtet. Einer dieser Stupas ist durch einen glücklichen Zufall 1898 unversehrt aufgefunden und geöffnet.1) c) Die Lehre Buddhas ist bedingt durch die alten indischen Anschau­ ungen von der Seelenwanderung, der Vergeltung und der Einstellung des Erlösungsproblems auf die Befreiung vom Zwang der Wiedergeburt. Man hat sie modernisieren und an unsere heutigen naturwissenschaftlich orientierten Anschauungen anpassen wollen. Danach wäre die letzte treibende Kraft der Lebens­ wille. Da das Leben an sich Leid sei, müsse dieser Lebenswille mit Stumpf und Stil ausgerottet werden. Und die Theologie oder Philosophie sei erfolgreich, welche den Lebenswillen zu vernichten verspricht. Es ist nicht zu verkennen, daß diese atheistische, pessimistische Kn-äe-sieele-Philosophie eines Schopenhauer und auch mancher kleiner Geister viele Berührungspunkte mit dem Buddhismus hat, aber sie mit diesem zu identifizieren, ist eine grobe Verkennung der durchaus verschiedenen Artung und des Hintergrundes des modernen und des indischen Denkens. Für Buddha war der Ausgangspunkt die mit ermüdender Wiederholung vorgetragene Lehre von dem Pratitjasamutpada oder der Ursachenkette des Werdens und Ver­ gehens in zwölf Gliedern, den 12 Nidana. Ist auch gerade an diesem Lehrstück vieles dunkel und umstritten, so scheinen doch die Grundanschauungen klar zu sein. Alles Leben gleicht einem aus Milliarden von Tropfen bestehenden Strom, der sich aus der Ewigkeit der Vergangenheit in die Ewigkeit der Zukunft wälzt. Wird durch irgendwelche Umstände einer der Tropfen an die Oberfläche geschleudert, so sondert er sich da wie ein Tautropfen aus der Masse; er wird sich seiner Unter» schiedenheit bewußt; er nimmt Gestalt an, er streckt Fühlhörner aus, um mit der Umwelt in Berührung zu treten; diese werden zu Wahrnehmungsorganen; die Wahrnehmungen werden durch einen inneren Sinn zu Vorstellungen verarbeitet; dadurch aber erwacht der Lebenswille; dieser führt zur Geburt; und deren Folge ist die ganze Leidenskette bis zum Tode, d. h. dem Wiederuntertauchen des Tropfens in dem Strome des Werdens und Vergehens. Mithin sind alle Menschen und nicht nur sie, sondern auch die Götter und Geister, die Tiere und Pflanzen, ungezählte Wesen auf der ruhelosen Wanderung aus einem Dasein in das andere begriffen. Die Frage, welche dabei auftaucht, ist nun: Ist die Identität der Seele bei diesem Wandern aus einem Leibe in den andern gewährleistet? Das ist nach der üblichen Anschauung von der Seelenwanderung selbstverständlich. Buddha bestreitet es auf das entschiedenste. Das gibt sein zweites wichtiges Lehrstück, das von den Daseinselementen. Da es völlig unberechenbar ist, ob eine „Seele" in der Folge ihrer Verkörperungen Gott oder Geist, Mensch, Tier oder Pflanze wird, so kann die „Seele" nicht persönlich, als Individualität, aber auch nicht als mit einem feinen geistigen Leibe ausgestattet gedacht werden. Man muß sie sich viel­ mehr nach der Analogie eines Samenkorns vorstellen, aus dem mit innerer Not­ wendigkeit kraft der unsichtbaren, darin schlummernden Potenzen Sproß, Stengel, Stamm, Äste, Zweige, Blätter, Blüten und Früchte hervorwachsen. So geht aus einem Dasein in das andere ein Kern, sog. Bildekräfte, Buddha nennt es *) Allerdings sind Stupas wahrscheinlich nicht vor dem dritten vorchristlichen Jahrhundert errichtet, so daß die Echtheit dieser Reliquien nicht ganz sicher ist.

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Sanskara, in denen das Gesamtergebnis der Taten des früheren Daseins geheimnis­ voll enthalten ist. So bauen sich mit Notwendigkeit die Daseinselemente auf: der Leib, der Buddhismus sagt „Name und Form", die Wahrnehmungsorgane, die Empfindungen, die Bildekräfte, das Selbstbewußtsein: diese fünf Elemente sind so verbunden, wie ein Strick fünf Stäbe zusammenbindet, welche wieder aus­ einanderfallen, wenn der Strick gelöst wird. Eine sich im Wechsel der Wieder­ geburten gleichbleibende Persönlichkeit, ein „Ich", gibt es also nicht; was unserem trügerischen Selbstbewußtsein so erscheint, ist nur etwa dem Wagen zu vergleichen, der aus seinen verschiedenen Bestandteilen zusammengesügt, „Wagen" heißt, aber jeden Augenblick wieder in seine Bestandteile aufgelöst werden kann, und dann existiert kein Wagen mehr. Auf diesen Voraussetzungen nun bauen sich, drittens, die vier entscheidenden großen Lehren, der eigentliche Kern des Buddhismus, auf. Alles Dasein ist Leiden, denn alles ist der Vergänglichkeit und dem Tode unterworfen. Das geheimnisvolle Gesetz, das den Menschen am Dasein festhält und zu immer neuen Wiedergeburten bringt, ist das Haften, der Durst, der Lebenswille. Infolgedessen ist die eigentliche Auf­ gabe, den Lebenswillen wie ein giftiges Unkraut mit allen Wurzeln und Fasern auszureißen. Die dazu von Buddha vorgeschlagene und von ihm erprobte Methode ist der „edle achtfache Weg": rechter Glaube (d. h. Erkenntnis dieser vier Wahr­ heiten) und darauf sich gründender Entschluß (der Weltentsagung), rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben — als die vierfache sittliche Vor- oder Hochschule, um den Lebenswillen abzuschwächen, und endlich rechtes Gedenken, rechtes Sichversenken als die entscheidenden mystisch-kontemplativen Mittel zur Abtötung des Lebenswillens. Um zu diesem Erlösungsschema eine innere Stellung zu gewinnen, ist es von Bedeutung, sich darüber klar zu werden, welches Ziel nun eigentlich mit dieser systematischen Abtötung des Lebenswillens erreicht werden soll. Buddha faßt es in das Wort Nirwana; was meint er damit? Leider ist es unmöglich, auf diese entscheidende Frage eine sichere Antwort zu geben. Buddha hat das als eine metaphysische Frage angesehen, und er hat darauf wie auf alle meta­ physischen Fragen eine Antwort entschieden verweigert. Aus dem Kunstausdruck selbst ist nichts mit Sicherheit zu entnehmen, denn er bedeutet nur das Ver­ wehen, Verlöschen einer Lampe, die den letzten Tropfen Ol aufgezehrt hat, und wird in verschiedenen indischen Systemen in verschiedenem Sinn verwandt. Im Buddhismus kreuzt sich die Folgerichtigkeit der Gedankenführung mit dem Bedürfnis des frommen Herzens. Die Gedankenreihe Buddhas, folgerichtig zu Ende geführt, kann nur folgendes Ergebnis bringen: Wenn wirkliches Sein nur den Sanskara zukommt, jenem Gesamtergebnis der Taten in dem früheren Dasein, und in ihm kraft des ihm innewohnenden Lebens­ willens die Notwendigkeit der Wiedergeburt liegt, so ist es die Erlösungs­ aufgabe, die Sanskara abzutöten. Ist das aber gelungen, so bleibt vom Dasein schlechterdings nichts mehr übrig. So kann denn auch Mara, der böse Geist, von dem Mönche Godhika, der Selbstmord verübt hat, um in das Nirwana einzugehen, in aller Welt nirgends mehr die leiseste Spur entdecken. Auf der andern Seite kann sich das religiöse Bedürfnis des frommen Herzens nicht mit der gähnenden Leere des absoluten Nichts begnügen. Es kann nicht Preisgabe des Lebens und

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aller Lebenswerte in einem langen, heißen Streben der Weltentsagung gefordert werden, um schließlich am Abgrund des Nichts zu stranden. Die gefühlte Qual ist die Ziellosigkeit der immer neuen Wiedergeburten; das Nirwana verspricht dem müden Wanderer die Ruhe ohne Wunsch und Leid. Die Ethik des Buddhismus steht folgerichtig unter diesen Gesichtspunkten des Erlösungsweges und des Nirwana. Ihre Aufgabe ist nicht, ein positives Lebensideal zu verwirklichen, ein Reich Gottes und eine sittlich-religiöse Wieder­ geburt der Menschheit zu schaffen. Sie hat nur negative Aufgaben, den Lebenswillen zu dämpfen und alles, was ihn neu anregen oder ihm Nahrung geben kann, zu beseitigen und zu vermeiden. Alle Leidenschaften, alle Regungen der Lust, Habsucht, Zorn, Wollust, Eigenliebe, Hochmut, Herrschsucht müssen ausgerottet werden. Dagegen müssen die negativen, passiven Tugenden der Geduld, Langmut, des Wohlwollens, der Leidensfreudigkeit usw. gepflegt werden. Unter diesem Gesichtspunkt hat der Buddhismus eine Perlenschnur kostbarer ethischer Lebensregeln und eine vielleicht noch anziehendere Fülle von Geschichten von Bodhisatvas zu ihrer Veranschaulichung hervorgebracht. Aber allerdings, der gewöhnliche Mensch kann mit aller Übung dieser willen­ dämpfenden Tugenden das Nirwana nicht erreichen. Das ist nur dem Bhikschu (Bettelmönch) möglich, der nach dem Vorbilde Buddhas alle Lebensbande durch­ schnitten hat und „aus dem Heim in die Heimlosigkeit" gegangen ist. Die Laien können sich nur durch warmherzige Unterstützung der Mönchsgemeinde und andere gute Werke so viel Verdienst erwerben, daß sie etwa in einer späteren Wieder­ geburt die Gnade zum Eintritt in die Sangha, die Mönchsgemeinde, erlangen. Die Menschheit gliedert sich also in drei Stufen: die massa perditionis der Welt­ menschen; die Laienfreunde und -freundinnen, die upasaka und upasika, und die Bhikschu und Bhikschuni, die Sangha oder Kirche. Begreiflicherweise hat man auf den Aufbau und Ausbau dieser Sangha schon von Buddha an, aber noch viel mehr in den folgenden Zeitaltern ungemein viel Fleiß verwandt. Kern und Höhepunkt aber ist erst die Meditation oder Mystik des Buddhismus, jene komplizierte Technik, die, nachdem die Lehre die richtigen Einsichten vermittelt und die Ethik den Willen und seine Regungen in die richtige Stimmung gebracht hat, das entscheidende Werk der Ausrottung des Lebenswillens vollbringt. Es handelt sich also darum, aus dem Unterbewußtsein die Sanskara, die Bilde­ kräfte, auszurotten. Der Buddhismus hat dazu eine verwickelte Technik aus­ gestaltet, welche teils Trance, Hypnose, Suggestion und andere Formen zur Auf­ rührung und Aktivierung des Unterbewußtseins zu Hilfe nimmt, teils wie die Exercitia spiritualia des Jesuitenordens und andere mystische Übungen zu einer Steigerung der Seelenkräfte führt. Wie in allen hochgesteigerten Mystiken sind die Adepten überzeugt, eine Fülle der eigenartigsten Erlebnisse zu erfahren, un­ erhörte Kenntnisse zu erlangen, also Übermenschen zu werden. Der Buddhismus hat schon bald nach des Meisters Tode angefangen, eine kanonische Literatur hervorzubringen. Das lag in der Natur der Sache; denn Buddha hatte durchaus kein Erlöser mit einem stellvertretenden Leiden oder Sterben sein wollen; er hatte den von ihm gefundenen Lebensweg gelehrt und die ihm entsprechende Praxis ausgebildet. Der buddhistische Kanon gliederte sich früh in drei „Körbe", daher Tripitaka: das Vinayapitaka, die Sammlung der

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Mönchsregeln, das Dhammapitaka, die eigentlichen Lehrschriften, und das Abhidhammapitaka, die metaphysischen und sonstigen theoretischen Abhand­ lungen und Begriffsreihen. Wir geben drei charakteristische Lehrstücke des ältesten Buddhismus: 1. Die grundlegende Predigt von Benares. So habe ich gehört: einst weilte der Erhabene in Benares im Wildpark Jsipatana. Da richtete der Erhabene das Wort an die Schar der fünf Mönche: „Diese zwei Extreme, ihr Mönche, dürfen von einem Asketen nicht verfolgt werden; welche zwei? Erstens das auf Sinnenglück versessene Haften an den Begierden, das niedrige, rohe, ge­ meine, unedle und zwecklose; zweitens das Haften an der Kasteiung, das schmerzvolle, unedle und zwecklose; diese beiden Extreme hat der Tathagata vermieden, ihr Mönche, indem er den mittleren Pfad erkannt hat, der Erkenntnis bringt, der zur Ruhe, zum Erkennen, zur Erleuchtung und zum Nirwana führt. Welcher, ihr Mönche, ist nun dieser mittlere Weg, der vom Tathagata erkannt ist, und der sehend macht, der Erkenntnis bringt, der zur Ruhe, zum Erkennen, zur Erleuchtung und zum Nir­ wana führt? Es ist eben dieser edle, achtgliedrige Weg, nämlich: rechte Ansicht, rechter Entschluß, rechtes Reden, rechtes Tun, rechter Lebenswandel, rechte Bemühung, rechtes Sinnen und rechte Versenkung. Dieser eben ist der mittlere Pfad, ihr Mönche, der vom Tathagata erkannt ist, und der sehend macht, der Erkenntnis bringt, der zur Ruhe, zum Erkennen, zur Erleuchtung und zum Nirwana führt. Diese, ihr Mönche, ist nun die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidvoll, Alter ist leid­ voll, Krankheit ist leidvoll, Sterben ist leidvoll, das Verbundensein mit Unliebem ist leidvoll, die Trennung von Liebem ist leidvoll, das Nichterlangen dessen, was man begehrt, ist leidvoll, kurz gesagt das fünffache Haften ist leidvoll. Diese, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: die Lebenslust nämlich, die Wiedergeburt erzeugt, die von Wohlgefallen und Gier begleitet ist, die sich hier und dort ergötzt, diese nämlich: die Gier nach sinnlicher Begierde, die Gier nachLeben, die Giernach Vernichtung. Diese, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Unterdrückung des Leidens: das völlige, spurlose Unterdrücken, Aufgeben, Vernichten, Verlassen und Vertreiben dieser Lebenslust. Diese, ihr Mönche, ist nun die edle Wahrheit von dem Pfade, der zur Unterdrückung des Leidens führt, nämlich dieser edle achtgliedrige Weg. .. 2. Der Dekalog des Buddhismus. Die Enthaltung von dem Töten der lebenden Wesen ist Vorschrift. Die Enthaltung von dem Nehmen des Nichtgegebenen ist Vorschrift. Die Enthaltung von der Unkeuschheit ist Vorschrift. Die Enthaltung von der Lüge ist Vorschrift. Die Enthaltung von Sura, Meraya, Majja und allen Berauschungsmitteln ist Vorschrift. Die Enthaltung vom Essen außer den Mahlzeiten ist Vorschrift. Die Enthaltung von Tanz, Musik, Gesang und Schauspielen ist Vorschrift. Die Enthaltung von allen Arten des Schmückens und Verzierens durch Kränze, Wohl­ gerüche und Salben ist Vorschrift. Die Enthaltung von dem Liegen auf hohen oder großen Betten ist Vorschrift. Die Enthaltung von dem Annehmen von Gold und Silber ist Vorschrift. 3. Vom Wohlwollen. Die Mettasutta. „Was der Kluge tun muß, wenn er auf jene Stätte der Ruhe sein Augenmerk gerichtet hat, (das will ich euch sagen): Hilfreich sei er, gerade und aufrichtig, mild im Reden, sanft und nicht hochfahrend; — zufrieden und anspruchslos, sorglos und bedürfnislos, mit ruhigen Sinnen und weise, ohne Hochmut und nicht gierig in den Familien. Und er tue nichts Gemeines, um dessen willen ihn andere, Verständige, tadeln könnten. In Glück und Frieden mögen alle Wesen leben, beglückten Herzens seien sie! Was immer es für Lebewesen gibt, alle ohne Ausnahme, seien es bewegliche oder unbe­ wegliche, seien sie lang oder groß oder mittelgroß oder kurz, fein oder grob, — seien sie sichtbar oder unsichtbar, seien sie fern oder nah, schon geboren oder erst nach Geburt strebend — alle Wesen seien beglückten Herzens!

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Keiner hintergehe den andern, keiner überhebe sich in irgend einer Weise gegenüber den andern; keiner suche aus Zorn oder Haßgefühl dem andern Leid anzutun. Wie eine Mutter ihr eigen Kind, ihren einzigen Sohn selbst mit ihrem Leben beschützt: also hege er grenzenloses Wohlwollen für alle Wesen! Grenzenloses Wohlwollen hege er für alle Welt — oben, unten, seitwärts —, ohne alle Feindseligkeit, ohne Haß, ohne Gegnerschaft! Ob er steht oder geht, ob er sitzt oder liegt, so lange er nur wach ist, lebe er nach dieser Gesinnung! Da ist es, was man „ein Brahmanleben schon in dieser Welt" nennt. Der Tugendhafte, der, mit wahrer Erkenntnis ausgestattet, keine Irrlehre annimmt und sich von der Gier nach Lüsten befreit hat, der wird nimmer wieder in einem Mutterschoß eingehen."

D. Der Hinduismus.

Wie wenn sich eine Sintflut verläuft und dann allmählich erst die Bergspitzen, dann immer weiter hinunter das Land wieder auftaucht und auftrocknet, so voll­ zog sich wohl unmerklich langsam im Verlaufe eines fast tausendjährigen Ringens die Rehabilitation der alten vedischen Religion durch die Überwindung des Bud­ dhismus. Aber die nachbuddhistische Religion Indiens war keineswegs eine Repristination des alten vedischen Lebens; so unbedingt man an der Autorität der Veden als der Offenbarungsurkunden festhielt, so völlig hatte sich doch innerlich und äußerlich ihr Gepräge gewandelt. Man bezeichnet die nachbuddhistische Re­ ligion mit dem farblosen Worte Hinduismus, „indisches Wesen". Sie ist in der Tat ein Religionswesen von so verwickelter Vielgestaltigkeit und von so erstaun­ licher Wandelbarkeit, daß es schwer ist, auf wenigen Seiten ein einigermaßen zutreffendes Bild zu zeichnen. Wir bemerken nur einleitend, daß gewisse Grund­ ordnungen des indischen Lebens sich nun erst einmal völlig durchgesetzt haben. Die Kaste ist die allgemein gültige und das ganze Leben umspannende Gesellschafts­ ordnung geworden; sie ist der Rahmen, innerhalb dessen sich das religiöse Leben Indiens abspielt. Die Brahmanen sind als die Erdengötter anerkannt; sie genießen göttliche Verehrung; sie setzen aber auch ihre Ansprüche mit rücksichtsloser Selbst­ sucht durch. Die Frauen sind in eine immer gedrücktere Stellung gekommen; die Kindheiraten, die Witwenverbrennung, das Elend der überlebenden Witwen sind drei in die Augen fallende Zeichen dieser Entwürdigung. Wir richten im folgenden die Aufmerksamkeit nur auf vier Seiten, welche für den Hinduismus besonders charakteristisch sind:

a) Die gottesdienstlichen Lebensformen haben eine neue, vielgestaltige Form angenommen. Tempel der mannigfaltigsten Art von ausgedehnten Tempel­ städten mit 18000 Einwohnern bis zu elenden Grasschuppen, Götterbilder, die von Juwelen und Edelmetallen strotzen, bis zu Lehmhaufen mit rohen, weißen und roten Farbenstreifen, höchste Kunst und Technik kirchlicher Bauten, Bild­ hauerei und Malerei und roheste, oft geradezu unzüchtige Symbole der Gottheit bedecken Indien von den Hochtälern des Himalaya im Norden bis tief nach Ceylon hinein im Süden. Heilige Orte, heilige Zeiten, heilige Handlungen beherrschen das kirchliche Leben. Zumal der Gangesstrom von seiner Quelle bis zu seiner Mündung, an ihm wieder die verborgenen Quellen in den schwer zugänglichen Bergklüften des Himalaya, Hardwar beim Austritt des Flusses in die indische Tiefebene, die Landschaft Bradsch mit den Städten Mattra und Brindaban, Reimann (Richter), Geschichtswerk. 4

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Prayag an der Einmündung der Dschamna in den Ganges, Benares und die Insel Sagar an der Mündung des Hugli, des größten Mündungsarmes, sind von besonderer Heiligkeit; dort zu baden und die Sünden abzuwaschen oder das Wasser des heiligen Flusses zu trinken und mit nach Hause zu nehmen, gilt als besonders verdienstlich und wirksam. Aber auch sonst gibt es in allen Teilen des Landes Wallfahrtsorte, heilige Teiche und wundertätige Götterbilder. Viel­ fach gibt es an den heiligen Orten noch heilige Zeiten, in denen entweder das Götterbild oder der heilige Fluß und Teich einen besonderen Grad göttlicher Lebenskräfte entfaltet. Dann nehmen die üblichen Wallfahrten geradezu den Charakter von Völkerwanderungen an; es strömen Hunderttausende, ja Mil­ lionen von Menschen an den Heiligtümern oder an den Badeplätzen zusammen, und entsprechend einer auch in andern Ländern und Religionen gemachten Er­ fahrung sind diese Massenansammlungen zu religiösen Festen wirksame Mittel­ punkte, um die religiöse Begeisterung der Massen neu anzufeuern. Die Melas, d. h. die religiösen Volksfeste an heiligen Orten oder zu heiligen Zeiten sind ein wichtiges Merkmal des religiösen Lebens im heutigen Indien, zugleich ein Beweis, daß die religiöse Kraft in der indischen Volksseele noch keineswegs erschöpft ist. Eine charakteristische Erscheinung der Melas, aber auch außerhalb der heiligen Zeiten an den heiligen Orten sind die Sanyasi, die Weltentsager, die in der einen oder andern Weise durch eine weitgetriebene Askese teils ihr Fleisch abzutöten bemüht sind, teils die Mildtätigkeit der gedankenlosen Massen oder der Frommen anregen. Da finden sich in Scharen die verschiedenen Typen einer raffinierten Selbstquälerei: die jahrzehntelang auf dem linken Bein stehen und den rechten Arm krampfhaft in die Höhe recken, so daß Bein und Arm längst seltsam verdorrt sind; die unverwandt in die grelle Sonne starren, obgleich ihre Augen längst er­ storben sind; die auf einer Pritsche mit zentimeterlangen, spitzen Nägeln liegen; die in einen Käfig eingeschmiedet sind, in dem sich bei jeder Bewegung die spitzen Stacheln in ihr Fleisch einbohren; die auf einer Art Reck über einem schmälenden Feuer hin und her schwingen; die in der indischen Sonnenglut zwischen drei oder fünf Feuern rösten; die bis an den Hals in den Sand eingegraben sind; die den staubigen Weg zum Heiligtum meilenweit mit ihrem Leibe messen, indem sie sich immer wieder in ihrer ganzen Länge zu Boden werfen usw. Die indische Phan­ tasie ist erfinderisch in immer neuen Methoden der Selbstquälerei; bei manchen mag das heiße Bemühen zugrunde liegen, entweder durch diese Abtötung der heiß begehrten Vereinigung mit der Gottheit näherzukommen oder nach uraltem, indischen Glauben durch diese „tapas“ (Hitze) in geheimnisvoller Weise Macht über die Götter und über die Kräfte der Natur zu erlangen. Bei den meisten ist es leider Schwindel, der auf die Gutmütigkeit und Unwissenheit der Massen berechnet ist, um aus der Frömmigkeit ein Gewerbe zu machen und in Faulheit, Schmutz und Lüderlichkeit sein Leben hinzubringen. b) Die Zahl der Götter ist außerordentlich groß. Zählte man in der vedischen Zeit nach geheiligtem Brauch 33, so ist ihre Zahl nun auf 3 Millionen, ja auf 33 Millionen oder 333 Millionen angeschwollen. Wer kann sie alle kennen oder auch nur ihre Namen und Heiligtümer! Das Merkwürdige ist, daß fast alle vedischen Götter untergegangen sind. Von manchen sind selbst die Namen ver­ gessen; andere zählt man noch bei den Anrufungen der Götter in der Form der

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Litaneien auf. Aber im Vordergrund des religiösen Lebens stehen vielfach Götter, deren Namen meist in der vedischen Zeit noch so gut wie unbekannt waren. Es ist überhaupt etwas höchst Merkwürdiges um das Auf- und Absteigen der indi­ schen Götter. Es scheint, daß zwischen der Zeit der vedischen Götter und den heute herrschenden eine heute wieder fast vergessene Reihe von Göttern, wie Pradschapati, Vasudeva, Bhagavat, Narayan u. a. angebetet sind. Heute steht an erster Stelle die „Trimurti" oder Dreiheit: Brahma, Vischnu und Siva; sie bildet eine ziemlich ungleiche Gruppe. Brahma verdankt seinen Ursprung dem theologischen Grübeln der Brahmanen, er lebt mehr in der Abstraktion und Theologie als im religiösen Bewußtsein des Volkes. Es soll in Indien nur einen oder zwei Tempel geben, die ihm allein geweiht sind. Vischnu ist wohl in das Erbe des alten Götterkönigs Indra eingetreten. Gilt Brahma theologisch als der Schöpfer, so Indra als der Erhalter der Welt. Einflußreich ist Vischnu hauptsächlich dadurch geworden, daß sich andere, an­ scheinend jüngere Götter an ihn angelehnt haben und mit ihm zusammen eine Gruppe bilden. Vor allem Krischna. Ursprünglich wohl ein Lokalgott eines Hirtenvolkes in der Landschaft Bradsch in der Gegend der Städte Mattra und Brindaban am mittleren Ganges, gewann er auf drei verschiedenen, für den Hinduismus lehrreichen Wegen an-Ansehen. Einmal bemächtigte sich seiner die fabulierende Phantasie des nordindischen Volkes und gestaltete seine Liebesabenteuer mit den zahllosen Hirtenfrauen und seine übermütigen Jungen­ streiche zu einem der beliebtesten Gegenstände der religiösen Volkserzählung aus, wie sie von wandernden Sängern oder Erzählern in Stadt und Land an den langen Abenden oder bei religiösen Volksfesten vorgetragen werden. Zweitens erwählte ihn der Dichter des philosophischen Lehrgedichtes Bhagavadgita, einer überaus hochgeschätzten Episode in dem großen indischen Nationalepos „Mahabharata", zum Helden seiner Fabel als Verleiblichung des höchsten Gottes mit der Tendenz, daß die Hingabe an ihn als die eigentlich zentrale religiöse Funktion und Aufgabe hingestellt wird. Und drittens haben die Vertreter der mystischen Bhaktirichtung im Hinduismus mit Vorliebe Krischna zu ihrem Lieblingsgotte und Gegen­ stand ihrer schwärmerischen Verehrung gemacht. Lagen diese drei religiösen und theologischen Bestrebungen auch in sehr verschiedenen Höhenlagen, so haben sie doch alle drei dazu geholfen, Krischna in hohem Maße volkstümlich zu machen. Neben Krischna ist wohl in erheblich späterer Zeit Rama getreten. Das andere große indische Epos Ramayana kennt ihn wenigstens in seinen älteren Teilen noch als den Königssohn von Ayuthia (Audh), der mit seiner tugendhaften Gemahlin Sita ungerecht in die Verbannung geschickt wird. Sita wird von dem bösen Ravana geraubt, und ihre Befreiung und Rückführung bildet die Haupt­ fabel des Epos. Später wurde auch Rama zu göttlichen Ehren erhoben, und be­ sonders das beliebte Heldengedicht des Tulsi Das, „das Meer der Taten Ramas", das sog. Hindi-Ramayana, das durchweg Rama vergöttlicht, hat ungemein viel dazu beigetragen, Rama zum Volksgotte zu machen, besonders da sich die Bhakti-Frömmigkeit seiner in erster Linie neben Krischna bemächtigte. Um beide jungen Götter, Krischna und Rama, hat sich später ein weiterer Kreis von mehr oder weniger göttlichem Charakter gebildet, vor allem ihre Gemahlinnen Radha 4*

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und Sita. Indem nun dieser ganze Kreis mit Vischnu in Beziehung gesetzt wurde, wurde ihm ein theologischer Hintergrund gegeben, und diese Gelegenheit wurde benutzt, um weitere mythologische Stoffe mit Vischnu in Verbindung zu bringen: Jedesmal wenn die Welt in tiefes Verderben oder in Gefahr geraten sei, nehme Vischnu eine den besonderen Umständen angemessene leibliche Form an, das eine Mal als Schildkröte, oder als Eber, oder als Mannlöwe, oder als Krischna, oder als Rama oder in anderen „Avataren" (Verleiblichungen). Auch Siva ist ein lebendiger Mittelpunkt volkstümlicher und theologischer Frömmigkeit geworden. Er ist wohl der Nachfolger Rudras, er gilt als der Zerstörer und verkörpert die finsteren Gewalten und zerstörenden Mächte, an denen ja die indische Natur so reich ist. Nun ist es eine auch in anderen Religionen gemachte Erfahrung, daß die furchtbaren Nachtseiten des Natur- und Menschenlebens mit Vor­ liebe weiblichen Gottheiten zugeschoben werden. Sammelt sich um Siva das Todesverhängnis und der Vernichtungswille, so spiegeln sich diese furchtbaren Züge in der Gemahlin oder den Gemahlinnen des Gottes, Kali, Uma, Parvati, Durga, Ammen usw. wider; es ist schwer zu sagen, ob es sich um eine Gestalt unter vielen Namen oder um viele Gottheiten von ähnlichem Charakter handelt. Sie werden in der erschrecklichsten Erscheinung dargestellt, welche die Phantasie ersinnen kann; sie vor allem müssen immer wieder mit blutigen Opfern besänftigt und versöhnt werden. In ihren Kreis sind dann als ihre Kinder auch harmlosere Götter ein­ getreten, wie Ganesa mit dem Elefantenkopf, Subramanien, der Kriegsgott u. a., Volksgötter einzelner Kreise und Provinzen, die so in das Hindupantheon ein­ gegliedert wurden. Die Grenzen dieser Götterkreise sind fast überall fließend: Wenn ein Berg- und Waldvolk im Hinduismus aufgeht, vollzieht sich in der Regel ein wechselseitiger Austauschprozeß: die Hindugötter werden mit Begier ausgenommen, ihnen Tempel erbaut und ihr Kult eingeführt; auf der anderen Seite werden die Lieblingsgötter des neubekehrten Volkes in den Hindugötter­ himmel übernommen und mit einem der alten Götter identifiziert. Nun hat sich in breiten Schichten des indischen Volkes eine Sonderung derart vollzogen, daß die einen sich um Vischnu scharen und sich Vaischnawa nennen, die anderen um Siva, sie nennen sich Saivas. Volkstümlicher sind wohl in den Volkskreisen die Götter des Vischnukreises; aber teils in den philoso­ phisch hochgebildeten, führenden Schichten des Volkes, teils in den niederen, im Banne der Not und der Furcht stehenden Volkskreisen scharen sich große Mengen um Siva und seinen Kreis. Immerhin selbst Brahma, Vischnu und Siva und ihre Kreise bilden nur einen Ausschnitt aus der buntbewegten indischen Götterwelt. Neben sie treten zahllose andere Götter und göttliche Mächte, heilige Tiere, heilige Pflanzen und Bäume, heilige Haine, Teiche, Bäche, Wasserfälle usw. Die volkstümlichen Feldund Waldkulte, die animistische Naturbegeistung und -Vergötterung, die zahl­ losen kleinen und großen Götter, Geister und Genien der einzelnen Gaue und Stämme und unendlich vieles andere fließt in diesem Götterwirrwarr zusammen. Dazu vergeht wohl kein Jahr, wo nicht in irgendeinem Teile Indiens ein Prophet auftritt, der meint oder vorgibt, besondere göttliche Gesichte und Offenbarungen emp­ fangen zu haben, und mögen auch seine inspirierten Reden noch so kraus und verworren, die von ihm erhobenen Forderungen noch so wunderlich sein, wenn er nur selbst

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von der Echtheit seiner göttlichen Sendung überzeugt ist und einem leichtgläubigen Anhängerkreise diesen Glauben beizubringen versteht, wird in wenigen Jahren eine neue Sekte, vielleicht mit der Verehrung eines neuen Gottes, entstanden sein. Die Zahl dieser teils vorübergehenden, teils Jahrhunderte überdauernden Sekten­ bildungen ist einfach Legion, in ihnen spiegelt sich das unruhige Suchen und Tasten der religiösen Einflüssen stets offenen indischen Volksseele. c) Über dieser beständig gärenden und neue Gestaltungen erzeugenden indischen Götterwelt erheben sich nun die eigentlichen theologischen Systeme. Ihrer sechs haben im Laufe der Jahrhunderte kanonische Geltung bekommen. Andere sind nach vorübergehender Blüte wieder in Vergessenheit geraten. Selbst von den sechs kanonischen Systemen oder Darsanas bilden eine Macht nur drei, Samkhya, Boga und Vedanta. Alle drei behaupten, die rechtmäßigen Nachfolger der hei­ ligen Veden zu sein und nur die Gedankengänge der Brahmanas und Upanischaden weiterzuführen. Sie verwenden reichlich eine scholastische Beweismethode, um ihren Anspruch zu rechtfertigen. Es ist das ein lehrreiches Beispiel für die Entstehung und Artung einer kirchlichen Scholastik, die mit dem Anspruch auftritt, einen über­ kommenen Offenbarungsgehalt zu entwickeln. Samkhya („Zahl") und Yoga („Übung") sind zwei naheverwandte Systeme, die einander fast wie Theorie und Praxis ergänzen. Beide sind wohl um einige Jahrhunderte älter als das Vedantasystem in der uns jetzt vorliegenden, abschließenden Form. Alle drei Systeme sind beherrscht von dem echt indischen Gedanken, nicht die Mannig­ faltigkeit der Erscheinungen in ihrer Eigenart zu zergliedern und zu einer Welt­ anschauung zusammenzufassen, sondern hinter der bunten Mannigfaltigkeit der Welt, der doch nur eine beschränkte oder gar keine Wirklichkeit zukomme, das wahre Sein zu erfassen und dem Verstände und dem Herzen den Weg zu ihm zu bahnen. Das Samkhya-System geht aus von einem ewigen Dualismus von Materie und Geist, nur werden beide Seiten dieses Dualismus höchst eigentümlich gefaßt. Da nach indischer Grundanschauung vermöge der Seelenwanderungs­ und Vergeltungslehre alles, was handelt, dem Bann dieser beiden Gesetze unterliegt und mithin in den Strudel des Werdens und Vergehens gezogen ist, muß der Geist — puruscha — ewig handlungs-, darum auch willenlos sein. Er besteht aus einer Unzahl von Einzelseelen, die in aller Ewigkeit unveränderlich sich dreier Eigenschaften des wahren Seins erfreuen: sattschitananda; sat — Sein; tschit — Geistessubstanz; ananda = Seligkeit, besser negativ Leidlosigkeit. Alles Werden und Vergehen, alles Handeln und Wollen gehört nur der Materie, prakriti, zu. Diese ist also nicht als tote Masse zu denken, sondern als stets in der Entwicklung begriffen. Nun haben sich am Anfang dieses Äons nach einem sich immer wiederholenden Weltgesetze zahllose Puruschas mit der Prakriti vermischt. Nach dem Grade der Aufnahme von Puruscha stuft sich Prakriti in drei Klassen ab: sattva — überwiegend Puruscha, daher Licht, Leben, göttlicher Zustand; radschas — halb Puruscha, halb Prakriti, daher Halbdunkel, Leiden­ schaft, Tatendrang, ungeordnete Willensregungen, Menschendasein; tamas — überwiegend Prakriti, Finsternis, Stumpfheit, Faulheit, Erde und Stein, die niederen Kasten. Von dieser Grundanschauung aus ergibt sich eine Gesamtanschau­ ung des Weltprozesses und der Erlösungsaufgabe. Der Weltprozeß besteht darin,

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daß immer am Anfang einer Weltzeit infolge der in den Weltgesetzen der Ver­ geltung und der Seelenwanderung gegebenen Notwendigkeiten eine Vermischung von Puruscha und Prakriti eintritt. Im Verlaufe des Weltprozesses tritt dann wieder eine Sonderung beider ein, bis am Ende der Weltzeit beide Grundprinzi­ pien völlig getrennt bestehen. Dann ist ein „Kalpa“ zu Ende, und es tritt eine unabsehbar lange Zeit des Weltenschlafes, „pralaya“, ein, bis dieser Prozeß aus den gleichen Notwendigkeiten heraus von neuem beginnt. Die Erlösungsaufgabe besteht darin, daß ich persönlich die Loslösung meines Puruscha aus der Um­ klammerung und Vermischung mit der Materie herbeiführe. Da mein Puruscha wie jedes andere aktions- und willenlos ist, kann es zur Erreichung dieses Zieles nichts „tun"; jede „Tat" würde ja nur wieder „Vergeltung" und damit eine neue Notwendigkeit der „Wiedergeburt" in sich schließen. Mein Puruscha ist nur der „Feldkenner", das „Feld", das er kennt, sind der Leib, das Leben und alle darin ent­ haltenen Erfahrungen. Der Puruscha wird sich erkennend seiner grundsätzlichen Verschiedenheit von der Prakriti bewußt und betont in seinem Geistesleben diesen Unterschied als die eigentlich entscheidende Tatsache alles Seins, bis er durch fortgesetzte geistige Anstrengung tatsächlich die Loslösung des Puruscha von der Prakriti erreicht hat. Dies das Samkhya-System. Poga teilt alle Voraussetzungen des Samkhya. Es geht nur an zwei Punkten eigene Wege und biegt dabei die Linien von Samkhya um. Einmal sagt Toga, es darf nicht bei dem passiven und intellektuellen Denkprozeß bleiben, um die Los­ lösung des Puruscha von der Prakriti zu erreichen. Dazu muß in umfangreichem Maße die Mystik in Dienst genommen werden, d. h. nicht Mystik als eine be­ stimmte Welt- und Lebensanschauung, nicht als Vision oder Ekstase, sondern als geistige Übung zur Lahmlegung des leiblichen Lebens, der Prakriti, und zur Steigerung bzw. Reinigung des Puruscha. Zu diesem Zwecke ist einmal die Los­ lösung von allen Bewußtseins- und Denkinhalten unseres gewöhnlichen Lebens, und anderseits eine künstliche und planmäßige Steigerung, vielleicht Übersteigerung unserer Puruschapotenzen erforderlich. Der Wogin sitzt in aufrechter Haltung mit untergeschlagenen Beinen, die Augen unverwandt auf die Nasenspitze ge­ richtet und denkt — nichts. Der andere eigene Weg des Poga ist, bei aller Vielheit der Seelen dennoch eine oberste, vollkommenste Seele, Gott, anzuerkennen und dadurch dem Bedürfnis des gotthungrigen Herzens Genüge zu tun, allerdings auf Kosten eines Mangels an Folgerichtigkeit im System. Das Vedanta-System ist wohl das geschlossenste und vom Standpunkt philo­ sophischer Konsequenz vollendetste System, das anhaltendes indisches Denken her­ vorgebracht hat, gewiß eines der vollkommensten philosophischen Systeme über­ haupt. Danach gibt es ein doppeltes Wissen, ein niederes für den philosophisch nicht gebildeten Menschen — und ein höheres für den durch geistige Übungen geschulten Weisen. Das niedere Wissen rechtfertigt alles, was die heiligen Schriften und der Volksglaube annehmen. Die höhere Erkenntnis hingegen erklärt darüber hinausgehend die ganze vielheitliche Welt für Schein. Wirklich ist nur das ewige, unveränderliche Absolute, das Brahman. Jede Einzelseele, die infolge der durch die Macht der Weltillusion (Maya) hervorgerufenen Täuschung als ein indivi­ duelles Wesen erscheint, ist in Wahrheit identisch mit dem ewigen All-einen; ihre Verschiedenheit ist nur scheinbar, sowie der Gaukler, der, Schild und Speer tragend.

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an einem in die Luft geworfenen Seil in die Luft zu klettern scheint, nur ein Blendwerk ist, hervorgerufen durch die hypnotische Kraft des Zauberers, der unbeweglich am Boden sitzt. Der Weise, dem seine Einheit mit dem unveränder­ lichen Urgrund alles Seins zum Bewußtsein kommt, und der dessen inne wird, daß alle Vielheit und alles Leid aus Erden nur ein durch Unwissenheit hervor­ gerufenes Trugbild ist, der ist erlöst. Alle Riten und frommen Werke, die das niedere Wissen lehrt, haben für ihn keine Gültigkeit mehr, mögen sie auch für alle, die noch dem Schein unterliegen, zur Erreichung einer höheren Erkenntnisstufe von erziehlichem Werte sein. Die Aufstellung dieser Lehre ermöglichte es den VedantaLehrern, die ganze Überlieferung der Vergangenheit, die sozialen Ordnungen und den Kult aller Götter unberührt bestehen zu lassen und doch gleichzeitig eine auf einer scharfsinnigen Erkenntnistheorie fußende mystische Religiosität zu verkünden, die emporstrebt über Raum, Zeit und alle vielheitliche Gestaltung und sich das vollständige Aufgehen im Allgeist zum Ziele setzt. d) Die indische Frömmigkeit suchte noch neue und eigenartige Wege: Der volkstümliche Götterdienst und die fest gewordenen Riten des Tempelkultes be­ friedigten nur die breiten Volksmassen. In die dünne, kühle Luft der philosophi­ schen Abgezogenheiten vermochten sich nur die im Denken gründlich Geschulten zu erheben. Nun gab es aber gerade in Indien edle Geister in Menge, die nach persönlicher Lebensgemeinschaft mit Gott hungerten. Es mag sein, daß gerade diese Frommen manche tiefe Anregungen, sei es von den Christen mit ihrem warmen, persönlichen Glauben an den Vater im Himmel und an den lebendigen Heiland, sei es von den moslemischen Sufis mit der Glut ihrer mystischen Versenkung, erhalten haben, wiewohl sich das im einzelnen nicht nachweisen läßt. Es ist eine lange Reihe von Sängern, Betern und Denkern, die man unter dem Sammelnamen der Bhakta, d. h. der Vertreter der Bhakti, der persönlichen Hin­ gabe an eine bestimmte Gottheit, zusammenfaßt. Sie zieht sich vom achten christ­ lichen Jahrhundert bis in die Gegenwart. Tamulische Sänger, wie die zwölf Alvar, Manikka Wasagar und Ramanudscha, hochgestimmte, fromme Vertreter anderer Drawidavölker, wie Madhva, Mahrattas, wie die begeisterten Sänger des Gottes Vasudeva oder Vithoba von Pandharpur, Nordindier, wie Ramananda, Tulsi Das, Vallabha und Tschaitanja, Männer neuerer Zeit, wie Swami Vivekananda und Rabindranath Tagore gehören in diese Reihe. Die große Mehrzahl sind Vaischnava, manche aber sind auch mit der Glut der Inbrunst Saiva. Die einen sind nur Dichter mit der zündenden Glut der Gottesliebe, die anderen sind zugleich tiefe Denker, wie Ramanudscha und Madhva, und versuchen, für ihre mystische Frömmig­ keit auch den Weg streng theologischen Denkens offen zu halten. Viele wenden sich mit Vorliebe den jungen, volkstümlichen Göttern, wie Krischna und Rama oder gar ihren noch später in den Götterhimmel eingedrungenen Gattinnen Radha und Sita zu, andere wählen für ihre Lieder die Formen und Farben einer stark erotischen Frömmigkeit, zumal wenn Männer weibliche Gottheiten oder Frauen männliche anschwärmen. In diesen berückenden Zaubergarten voll berauschender Düfte und Nachtigallensang tut man am besten einen Einblick durch Proben dieser religiösen Dichtung*). *) Lehmanns Textbuch zur Religionsgeschichte gibt S. 144—148 einige Proben von Tulsi Das und Manikka Wasagar.

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Von Mahratta Mystikern. 1. Still hältst Du meine Hand gefaßt und führst, mein Weggefährte, mich. Voll Güte trägst Du meine Last, und ich, ich lehne mich an Dich.

Wenn ich vom Wandern müde bin, mit wilden Reden um mich werfe, dann glättest Du den trotzigen Sinn, nimmst selbst der Scham auch jede Schärfe. So schenkst Du neue Hoffnung mir, erschließest mir ein neues Land. Als Freund begrüß' ich jeden hier, wer mir begegnet, ist verwandt.

Ich spiele wie ein fröhlich Kind, mein Gott, in Deiner schönen Welt, denn alles — staunend Tuka sinnt — von Deiner Freude ist durchhellt.

2. Ich bin so müd Zu Dir um Dir

so müd von des Gedankens Ringen, von Wortgefecht und Widerstreit, will meine Seele auf sich schwingen, zu klagen alles Strebens Leid.

O Herr, Du weißt ja alles, was mir fehlt, mein Leben habe ich vor Dich gebracht, ich werfe alles nieder, was mich quält, und frei bin ich von des Gedankens Macht.

Mein ganzes Ich, mein Gott, trägt nur Verlangen, verlangt nach Dir mit heißem Deinbegehren. Herr, meine Liebe strebt, Dich zu umfangen, brennt wie ein Feuer, das mich will verzehren. Hast wahrhaft Macht Du, Gott, zu helfen mir, dann höre, Herr, was Tuka zu Dir spricht, dann komm, Narayan, sieh, ich warte hier, o komm doch eilend und verzögere nicht!

3. Wer ^{ubert)1) in allem schaut, und wer von seinem Ich ward frei, ihn rühm allein ich heilig, heilig, doch alle andern sind geknechtet.

Der Reichtum ward für ihn zu Staub, der Diamant zum Kieselstein, Statt Zorn und Gier Verzeihung wohnt, und Friede weset ihm im Herzen.

Doch träge Ruhe weist er fern, er trägt, so kündet Rama euch, auf seinen Lippen Tag und Nacht Den Namen Gowinds2), seines Herrn. *) Basudew — Bishnu-Krischna.

2) Gowind — Krischna.

Die Religionen Indiens. 4. Vor meinen Augen tot mein Selbst nun liegt — O Freude, Freude, bis zum Himmel klinge, denn in Allseligkeit die Welt sich wiegt, und ich schwing mit, die Seele aller Dinge.

Der Selbstsucht Bande sind gelöst, und weit und frei mein Geist ins Ungemessene dringt, Geburt zerfließt und Tod in Nichtigkeit, mein unbedeutend kleines „Ich" versinkt. Narayan führte mich in Gnaden hin, wo ich nun treu verweile, fest gegründet. So hat erfüllt auch Tuka seinen Sinn und weithin seine Frohbotschaft verkündet.

5. Huldvoll neige Dich zu mir, Bruder, öffne mir die Tür!

Der ist heilig, der sich neigt, Wenn die Welt ihm Torheit zeigt, Groß an Seele und befreit, rein von aller Eitelkeit. Dessen Seele wahrhaft groß, Der ist alle Härte los.

Brahman, Du durchdringst die Welt, Und in Zorn Dein Herz verfällt?

Nahe so in Gleichmaß mir, Bruder, öffne mir die Tür!

Lieder von Harivans. 1. Ich möchte ruhen in des Geliebten Armen. Was der Geliebte tut, will mir zum Besten taugen, Und was mir angenehm, tut der Geliebte gern. Ich möchte ruh'n in des Geliebten Armen, Der Liebste wäre selbst, wie gern, mein Augenstern. Der Liebste ist mir lieber als mein Leben, Er möchte tausendfach sein Leben für mich geben." (Beglückter Harivans!) Zwei Schwänen gleicht der Dunkle und die Helle; Wer kann den Strom wohl trennen von der Welle? 2. Wonnetanz Krischnas mit Radha. Sieh, der Jüngling tritt zum Mädchen, daß er es im Tanz umfange, Wie beschreib ich's, alle Glieder stellen höchste Anmut dar. Spielend legen sie die Arme um den Nacken, Wang' an Wange, Leidenschaftlich sich umschlingend in der Runde tanzt das Paar. Zu der Zymbel süßem Klange, zu der Flöte weichen Tönen, Während Armband klirrt und Spange, tanzt der Dunkle mit der Schönen — Hochbeglückt sieht Harivans die holde Maid, die wunderbare, Haucht die Seele aus und legt sie nieder vor dem hohen Paare.

3. Liebeslust in Radhas Armen. In lieblicher Laube ruhen sie beide, Radha und Hari in kostbarem Kleide, Durch die Herbstnacht leuchtet des Vollmonds Pracht.

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Die Religionen der Völker.

Der Dunkle umschlingt die goldige Schlanke, Wie der Wolkenflor des Blitzes Ranke Verdunkelnd umfängt in gewitternder Nacht. Sie prangen in Scharlach- und Safrangewande, Ihre Herzen stehen in loderndem Brande, Es weht die Luft süß duftend und kühl. Auf Blättern und Blumen liegen die Schönen, Er spricht zu ihr in den süßesten Tönen, Sie wehrt ihn ab in schamhaftem Spiel.

Entzückt berührt er wieder und wieder Ihre Brust, ihre Perlenkette, ihr Mieder, Mit schüchternem „nicht doch" zurück sie ihn hält. So lieblich spielt der Erhabene, Hohe, In Umarmungen glüht seiner Leidenschaft Lohe Und der Strom seiner Liebe läutert die Welt.

Lieder von Rabindranath Tagore. Nimm mich auf, mein Gott, nimm mich noch diesmal auf! Laß jene verwaisten Tage, die ohne dich dahingingen, vergessen sein. Nur diesen kleinsten Augenblick breite weit aus auf deinem Schoß und laß dein Licht auf ihn fallen. Ich bin Stimmen nachgegangen, die mich lockten und zu keinem Ziel führten. Jetzt laß mich still zu deinen Füßen sitzen und deinen Worten lauschen, die tief in meine schweigende Seele fallen. Wende dein Antlitz nicht ab von den dunklen Geheimnissen meines Herzens, Sondern triff sie mit deinem Strahl, bis sie von deinem Feuer durchglüht sind. Laß deine Liebe auf meiner Stimme wie auf einer Harfe spielen und in meinem Schweigen ruhen. Laß sie mir Herz und Adern durchströmen, daß jede meinet Bewegungen von ihr zeuge. Laß sie wie einen Stern in das Dunkel meines Schlafes hineinschauen und wie Morgenlicht mein Erwachen begrüßen. Laß sie den Weihrauch sein in der Flamme meiner Wünsche. Laß alle Ströme meiner Liebe von ihr gespeist werden, Laß mein Leben deine Liebe in sich tragen wie die Harfe ihre Musik, bis ich beides vereint dir zurückgebe.

Gottes Troubadour. Narada, der uralte Rischi, der Götterbote und ewige Wanderer, wird hier umgedichtet in den seligen Wanderer und Sänger Bhagavants. Er erzählt dem Vyasa, wie er es wurde. In früher Jugend verliert er seine Mutter. Er sieht darin eine Fügung Bha­ gavants, der ihn zum Heile leiten will, und macht sich auf, das Heil zu suchen. Einst war zur Nacht meine Mutter zum Hause hinausgegangen, Um draußen die Kuh zu melken. Da stieß ihr Fuß an eine Schlange, von Kala angetrieben. Die Schlange biß die Arme (daß sie starb). Da erkannte ich darin die Gnade des Herrn, Der das Heil seiner Getreuen sucht, (verließ mein Heim) Und wanderte gen Norden.

Die Religionen Indiens.

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Blühende Lande durchzog ich da, Städte und Dörfer, mit Viehhürden und Bergwerken, Weller und Märkte und Gärten und Wälder und Haine, Mancherlei Gebirg mit Erzen aller Art, mit Bäumen, Deren Äste geknickt waren von den Schwärmen der Elefanten. Seen voll heilbringenden Wassers, Lotosteiche von Himmelswesen besucht, Wonnereich durch vielstimmigen Vogelsang und das Gesumme der Bienen.

Da an dem allen vorübergezogen und einsam geworden, Erschaute ich einen großen Wald, dicht von Schilf, von Bambus und Rohr, Von Grasbüscheln und Ried, wild, unheimlich, voller Schlangen und Eulen, Schakalen und Fröschen. Matt an Sinnen, durstgequält und hungrig trank Und badete ich da im Flusse, und vom Wasser berührt, verging mir die Ermattung. In diesem menschenleeren Walde saß ich dann Am Fuße eines Pippala-Baumes nieder. Und wie ich es gehört So sann ich mit dem Geiste den im (eigenen) Geiste weilenden (höchsten) Geist.

Und als ich so den Lotosfuß (Vischnus) meditierte, Mit durch Liebe gezügeltem (und angespanntem) Denken, Die Augen überströmend von Tränen der Sehnsucht, Siehe, da ward mir langsam Hari im Herzen. Erliegend der Last der Liebe, sträubte sich (vor Glück) mir das Haar am Leibe, Ich ging ein in die völlige „Ruhe", und zerschmolzen in der Flut der Wonne Schaute ich kein Zwiefaches mehr. Als mir dann aber Bhagavants Gestalt, die Herz-begehrte, Sorgen-lösende, Wieder entschwand, da sprang ich auf, vor Kummer wie geistgestört. Boll Verlangen Ihn noch mehr zu schauen, versenkte ich (aufs neue) meinen Geist in mein Herz. Aber wie ich auch spähte, ich erschaute ihn nicht mehr. Und ich war krank von Verlangen. Als ich so litt in der Einsamkeit, Da sprach Er, meinem Sinne unvernehmbar (unsichtbar), Mit tiefem holdem Tone, tröstend zu mir das Wort: „Sei getrost! Zwar darfst du mich noch nicht schauen in dieser Geburt. „Denn unschaubar bin ich, wem die Leidenschaften „Noch unverkocht, und der drum falschen Joga übt. „Der einmalige Anblick meiner Gestalt, der dir geworden, „Neige dich zum Verlangen nach mir. „Wer nach mir fromm verlangt, treibt langsam alle Begierden aus. „Schon durch den kurzen Dienst, den du Guten erwiesest, „Erwuchs dir feste Richtung des Geistes auf mich. „Verlässest du einst diese üble Welt, so sollst du „(in neuer Geburt) Zugehörigkeit zum Volke der Meinigen erlangen. „Und selbst bei Untergang und Neuentstand der Welt „Soll dies dein an mich fest gebundenes Trachten „Und dein Gedenken meiner nicht vergehen!" Hier schwieg dies hohe Wesen, des Zeichen der Himmel, das Zeichenlose, der HErr. Ich aber, nach erfahrner Huld, neigte das Haupt dem, der höher ist als alle Hohen. Und wohlgemut des Unendlichen Namen betend, seine hehren Geheimnisse und seine Taten verkündend, Durchschweifte ich die Erde, freudevoll, sonder Begehren, Leidenschaft und Neid und harrte der Zeit (des Abscheidens).

So Krischna im Sinne tragend, ohne Anhaften, reinen Herzens Kam mir zur rechten Frist die Zeit (des Todes), wie der Blitz aus der Wolke fährt. Da ward ich verbunden mit einem neuen reinen göttlichen Seifte1), 1) Den ich jetzt trage.

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Die Religionen der Völker.

Der alte aber, aus den fünf irdischen Elementen bestehende, fiel von mir ab, Da ihm das Rest-Karman erloschen war. Am Ende jener Weltzeit aber ging ich mit diesem meinem geringen Lebenshauche ein In den großen Lebenshauch Brahmas, als er selber verlangte zur Ruhe einzugehen Auf dem Schoße Bhagavants, wogend auf den Wassern*). Nach tausend Dugas aber erwachte Brahma und bildete aufs neue diese Welt, Und aus seinem Lebenshauche entstanden aufs neue Alle Maricis samt ihren Genossen, den Rischis. Und so auch ich. Und nun, treu meinem Gelübde, durchwandre ich die drei Welten, innen und außen, Aus Gnade Vischnus. Und nichts hemmt meinen Lauf. Und diese Laute, gottverliehen, Veden-Wohllaut klingend, Spiele ich und schweife singend und Hari verkündend. Und wenn ich seine Tugenden Preise, dann kommt leise Er, der Lauterfuß2), Lauschend mit Lust auf meine Weisen, wie wenn er gerufen wäre, Und läßt sich mir sehen im Geiste. Den von weltlichem Genußbegehren Kranksinnigen aber zeigt sich Diese Verkündigung des Hari-Dienstes als Fahrzeug über das Daseinsmeer. Und durch keinen Uoga oder Kasteiung kommt die Seele, Von Lust und Gier geplagt, so wohl zur Ruhe wie durch Seinen Dienst.

So sprach der heilige Narada zum Sohn der Vasavi, Grüßte ihn, und seine Laute lustig klingen lassend, Schweifte er weiter, ein freier Wandervogel. O selig! du Gottessänger, der du diese kranke Welt erquickest mit deinem Saitenspiel, Süß singend den Preis des „der den Bogen führt". (Bhagavata-Purana 1,6,10 ff.)

Die himmlische Prüfung. (Nach dem Tode tritt die Seele vor den himmlischen Thron Bhagavants. Und nun hat sie eine Prüfung zu bestehen.) Da spricht Bhagavant: Wer bist du? Wessen bist du?

Der Gefragte antwortet: „Brahman bin ich, sonder Zweifel." Wieso bist du denn Brahman, da du doch „abhängig"3) bist? „Prädikat bin ich. Du, Herr, bist mein Subjekt! „Denn ohne Dich ist mir kein Bestehen auch in Gedanken nur. „Du bist's, der mich im Sein hält, bist mein Patron, mein Beweger, der Spender all meines Vernehmens. „Drum: Brahman bin ich (und sonst nichts). So lernte ich es von Guru-Mund. „Dein bin ich, Dein bin ich, Dein bin ich! So steht es fest." Warum denn, Lieber, bis du nicht längst hier? Warum weiltest du dann auf Erden? Aus welcher Ursach warst du gebunden an viele Leiber der Natur? 4)

„Weil ich die Zugehörigkeit zu Dir verlassen habe, weil ich Tor den Leib zum Ich machte, „Weil ich Dich nicht wußte in mir wohnend. „Der Leib, den ich für mein Selbst hielt, hat sein Bestehen durch Nahrung. „Aus Nahrung bin ich (so dachte ich), um der Nahrung willen ging ich meinen Lebensgang. „Auf Dinge des Genusses, auf Speise, auf den Leib sann ich, von Dir abgewandt. „So sinnend kam ich ab vom Ziel und geriet in Pamas Macht, „Ergötzte mich an Weibern, verlor an Deinem Dienst Geschmack, „Ward so ins Leidensnetz verstrickt, o Kamala's Gemahl. „Wie könnte dem, der von dem Hehren nichts geschmeckt, die Predigt von Bhagavant gefallen! „Wie, wer vom Schlangengift gebrannt, den Zucker stechend schmeckt, *) Des Chaos-Meeres nach der Weltauflösung. Bhagavant selber schläft noch schlummert nie. 2) Dessen Fuß so läuternd ist wie ein heiliger See. 3) Kreatur. 4) In der Seelen­ wanderung.

Die Religionen Chinas und Japans.

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„Wie der Gelbsüchtige gelb die Muschel sieht, „So schaut der natürliche Mensch auch Dich nicht im Innern. „So wurdest Du, mein Atman, denn mißachtet von mir, dem Wahnbefangen-Zuchtlosen. „So fuhr ich ab und auf aus tobenden Höllen „Und stak im Schmerzens-Netz, dem unerträglichen, unsäglichen, „Und, schweifend von Geburten zu Geburt, fand nirgend ich das Glück. „Gebunden mit dem Strick der Maya, dem dreisträhnigen, unfaßlichen, „Wie fänd ich Rettung aus dem grausen Meer der Wanderwelt! „Wie schifft ich über den wilden Ozean des Daseins ohne Deine Gnade, „Wenn mir nicht Bindungs-Lösung würde durch Deine grundloses Barmherzigkeit! „Deinen Füßen will ich jetzt allein Dienst tun, „Und will mein Diensttun immer fördern, indem ich fest mir vor Augen setze: „Dein Diener sein: das ist mein Wesen selbst. „Weil ich dies mein Wesen preisgab, bin ich in Bindung geraten, „Jetzt aber, das natürliche Wesen abstreifend, habe ich mein eigenes, übernatürliches, „Und guna-freies wieder erlangt, das nun fähig ist zu Deiner Verehrung."

Als Bhagavant solchen Entschluß vernommen Dieses ganz zum Dienste sich Ergebenden, Heilbegehrenden, zu Ihm sich Flüchtenden, Da erstrahlte Freude auf seinem Angesichte, Unendlich heilvolle Freude: das Ziel aller Ziele, das höchste aller Güter. Denn kein höheres ist — das ist gewiß: Hoch über allem ist die Antlitz-Freude Vischnus. (Brih. Br. Samh. 3, 6, 26.)

Die Religionen Chinas und Japans. China bietet vom religionsgeschichtlichen Standpunkt ein außerordentliches Interesse dar, weil es das einzige Land der Erde ist, in welchem wir durch den ganzen Verlauf der Geschichte in mehr als viertausend Jahren eine im wesent­ lichen einheitliche, kontinuierliche Religionsentwicklung verfolgen können. In allen anderen großen Ländern ist diese durchbrochen; entweder haben die Völker die Religion gewechselt, wie überall in Europa und in dem ganzen Umfang der Welt des Islam und des Buddhismus, oder es haben sich große religionsgeschichtliche Episoden dazwischen eingeschoben, wie das buddhistische Jahrtausend in Indien. In China hat es auch an Eroberungen und großen Teilerfolgen anderer Religionen, wie des Buddhismus, des Islam und des Christentums, nicht gefehlt; wir lassen diese Episoden in unserer folgenden Darstellung außer Betracht; sozusagen der Hauptstrang der religiösen Entwicklung ist dadurch nicht berührt worden. Über­ blicken wir diese im wesentlichen einheitliche chinesische Religionsgeschichte, so drängen sich einige allgemeine Beobachtungen auf. Wir machten wiederholt bei der Religionsgeschichte anderer Völker die Beobachtung, daß sich die Kulturreli­ gionen über einem versunkenen Unterbau von primitiven, animistischen u. dgl. Religionsformen erhoben, und schlossen daraus, daß der Animismus in seinen mannigfaltigen Formen irgendwie überall die Unterlage und der Aus­ gangspunkt der religiösen Entwicklung gewesen sei. Diese Beobachtung wird in China bestätigt. Und zwar sehen wir hier, daß das religiöse Volksleben zu allen Zeiten bis in die Gegenwart hinein geradezu durchwachsen ist von animisti­ schem Religionsgut. Man kann für fast alle von uns bei den animistischen Religionen der kulturarmen Völker aufgewiesenen Typen in China massenhaftes Material herbei­ schaffen: Die Seelenstofflehre beherrscht nicht nur den Volksaberglauben, sondern *) Die keinen Grund hat in eigenem Verdienst.

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Die Religionen der Völker.

in beträchtlichem Umfang auch die hochentwickelte Heilmittelkunde. Man kann die langen, wunderlich zusammengesetzten Rezepte der chinesischen Quacksalber nicht verstehen, ohne die leitende Grundidee im Auge zu haben, daß der Kranke sich zur Ergänzung seines verminderten Seelenstoffes den gerade ihm fehlenden Seelenstoff von Tieren, Pflanzen, Mineralien und mythischen Fabelwesen an­ eignen soll. Der Ahnendienst ist von den ältesten Zeiten an geradezu das Rückgrat, der Hauptbestandteil der Familienreligion gewesen; auf ihm sind wichtigste Stücke der späteren Kulturreligion aufgebaut; will man noch heute die Privat­ religion der Chinesen in Stadt und Land mit einem Wort charakterisieren, so wird man sie als Ahnendienst bezeichnen. Die Beziehungen zwischen Mensch und Tier gehen im Volksglauben und in der Märchenwelt bunt durcheinander; Tiere, die sich zu Zeiten in Menschen verwandeln, und Menschen, die sich um­ gekehrt in Tiere verwandeln, spielen eine so große Rolle, daß nur eben die Sippen­ gliederung nach bestimmten, willkürlich gewählten Totemzeichen fehlt. Daß ganz China von guten und bösen Geistern wimmelt, braucht nur eben erwähnt zu werden; ebenso daß Zauberei und Magie, Vorzeichenkunde und Traumdeutung zu allen Zeiten reichlich geübt, ja geradezu zu Wissenschaften ausgebaut sind. Auch jenes merkwürdige Oberstockwerk, der Glaube an einen lichteren, mächtigeren Gott, den Geber vieler guten Gaben, von dem wir Spuren in den Religionen der Primitiven fanden, ist vorhanden: Schangti, der oberste Gott, der in alten Zeiten irgendwie mit der Sonne identifiziert war — wird er doch als Hiero­ glyphe Sonne-Mann geschrieben —, gehört sicher zu dem uralten Religionsgut Chinas. Man übertreibt also nicht, wenn man sagt, China stecke noch im Animismus der primitiven Religionen. Allein gerade dabei macht man zwei interessante Beobachtungen. Man ist im allgemeinen der Ansicht, daß sich jedes Volk nur durch einen Bruch mit der primitiven Religion der vorgeschichtlichen Zeit zu einer Kulturreligion emporarbeiten kann, und der Unterschied sei nur, ob dieser Bruch durch die Übernahme einer von anderswoher eingeführten Religion eintritt — wie bei den keltischen, germanischen und slawischen Völkern — oder durch das Auftreten pro­ phetischer Persönlichkeiten — wie Moses bei den Israeliten, Zarathustra bei den Persern, Mohammed bei den Arabern. Die Chinesen beweisen, daß sich auf dem Boden eigener religiöser Entwicklung dieser Übergang so langsam und unmerklich vollziehen kann, daß die Kulturreligion nur gleichsam als ein oberes Stockwerk desselben Hauses erscheint. Und ferner, der animistische Urstoff bleibt nicht als rudis indigestaque moles wie ein Hemmschuh an den Rädern der vorwärts schrei­ tenden Religionsentwicklung hängen, sondern läßt sich von den fortgeschrittenen Anschauungen aus sozusagen „wissenschaftlich" verarbeiten und in wenn auch noch so kuriose Systeme bringen. So sind die Seelenstoffvorstellungen in die Arznei­ mittellehre hineingearbeitet; die animistischen Vorstellungen von guten und bösen Einflüssen von Winden, Bergen und Flüssen, von lokalen Erd-, Berg-, Wasserund Luftgeistern sind zu einer anspruchsvollen Wissenschaft, dem Feng schui, der „Wind-Wasserlehre", ausgebildet worden. Der Fortschritt von den primitiven Religionsformen zur Kulturreligion liegt auch in China wie in Ägypten und Mesopotamien in dem für uns unerreichbaren vorgeschichtlichen Stadium. Uns beschäftigt nicht die Frage, wann und unter

Die Religionen Chinas und Japans.

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welchen geschichtlichen Begleitumständen er sich vollzogen hat, sondern welches die eigentlich vorwärts treibenden Faktoren, die schöpferischen Ideen gewesen sind. Man hat mit einer gewissen Vorliebe auf den bereits erwähnten Schangti, d. h. „höchster Herrscher, höchster Herr", hingewiesen. Wenn dieser auch ver­ hältnismäßig selten als persönlich mit Menschen, d. h. mit chinesischen Kaisern, redend vorgestellt wird, und die Idee von ihm schon in alten Zeiten, seit Konfuzius in wachsendem Maße mit der abgeblaßten Vorstellung des „Him­ mels" zusammenfließt, so ist er doch sicher in den alten Zeiten als persönlicher, oberster Herrscher des Weltalls gedacht. Und zwar ist er nicht ursprünglich ein Lokalgott gewesen, der durch den politischen Erfolg seiner Klienten allmählich zu umfassenderer Bedeutung aufgestiegen ist (wie Marduk oder Aschur in Meso­ potamien, Ptah oder Amon in Ägypten); er ist auch nicht durch die philosophische Spekulation und das Ringen des Geistes nach einer einheitlichen Zusammen­ fassung des Weltalls zu seiner überragenden Bedeutung gekommen (wie Brahma in Indien), und es hat ihm nicht der zerschmetternde Widerhall des prophetischen Ringens nach Gotteserkenntnis emporgeholfen (wie Jahwe in Israel). So hat man in ihm einen chinesischen Urmonotheismus vermutet und hat darin eine wichtige Stütze der These gefunden, daß der Anfang der religiösen Entwicklung bei den Völkern in der Regel der Glaube an einen überragenden, heiligen Gott oder an einen Urheber materieller und kultureller Güter gewesen sei. Allein einmal glauben andere Gelehrte nachweisen zu können, daß Schangti ursprünglich ein Fruchtbarkeitsdämon gewesen sei, sodann stellt schon das älteste Zeugnis für die Schangtiverehrung diesen an die Spitze einer Menge anderer göttlicher Wesen. In dem alten Schuking (II, 1, 6) heißt es: „Kaiser Schun brachte ein besonderes Opfer (lei), aber unter den gewöhnlichen Formen, dem Schangti dar; er brachte sein Opfer den sechs Verehrungswürdigen (Himmel, Erde und den vier Himmels­ gegenden?); er opferte, wie es sich gehörte, den Bergen und Flüssen und dehnte seine Verehrung auf die hundert Geister aus". Da ist also von einem Urmono­ theismus wenig zu spüren. Es scheint aber auch, daß der Ausgangspunkt zum Emporstieg der Kultur­ religionen nicht notwendig die Idee eines höchsten Gottes, sondern die einem Volke in Fleisch und Blut übergehende Idee der Weltordnung, des Kosmos, sei, die zugleich als sittliche Weltordnung im Menschenleben gefaßt wird. Diese erhabene Idee kann sich an hohe Himmelsgötter anknüpfen, wie in den vedischen Liedern an Varuna; aber im späteren Indien hat sich die Idee nicht mit irgend­ einem speziellen Gottesglauben, sondern mit den Grundanschauungen von Seelenwanderung und Vergeltung verschmolzen, und in dieser Kombination hat sie Indiens religiöses Leben beherrscht. In China hat sich, soweit wir ver­ folgen können, zu allen Zeiten die Idee der Weltordnung an zwei Grund­ begriffe geheftet, deren Verständnis deshalb für die chinesische Religion von entscheidender Bedeutung ist, Tao und Te. Tao kann vielerlei bedeuten: Weg, Bahn, Denken, Vernunft, Urgrund der Welt, das Absolute; es scheint aber schon in alter Zeit ein geprägter Kunstausdruck für den geistigen Urgrund des Kosmos gewesen zu sein: „planmäßige Anlage und Daseinsäußerung des Universums, sein Leben und Wirken, die Gesamtheit aller seiner regelmäßig wiederkehrenden Erscheinungen, der Gang des Alls, die natürliche Weltordnung".

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Die Religionen der Völker.

Dies Tao umfaßt Himmel und Erde, beide sind also von demselben Wesen erfüllt und werden von denselben Gesetzen regiert. Dies Tao spaltet sich in zwei Grund­ prinzipien: Jang, das männliche, himmlische, helle, heilige Prinzip, und Jin, das weibliche, schlechte, schwarze, träge, tote Prinzip. (Wir machen nur beiläufig darauf aufmerksam, wie durch diese tiefgewurzelte Anschauung das Urteil über die Minderwertigkeit des Weibes schon in den kosmischen Grundanschauungen ver­ ankert ist). Von Jang her kommen die Schm oder Schen, die himmlischen Geister, von Jin her die Kwei, die niederen Geister und Dämonen. Jeder Mensch hat sein Schin und sein Kwei, seine göttliche, himmlische und seine irdische, niedrige Seele. Wir tun vielleicht gut, diese Vorstellung vom Tao noch einen Schritt weiter zu verfolgen, um zu sehen, wie sie sich folgerichtig auswirkt. Aufgabe alles mensch­ lichen und kulturellen Lebens ist es, das Tao zu erhalten und zu mehren. Das geschieht z. B. durch eine ausgebildete Atemkunst; denn der Atem zieht den von Jang geschwängerten Äther ein, speichert ihn im Körper auf und verlängert da­ durch das Leben in Jugendfrische. Vor allem aber muß die Heilkunst genau dem Tao der Natur angepaßt sein, und das ergibt als ihre Grundlage ein außer­ ordentlich kompliziertes System. Im Frühling überwiegt das Jang bis zum längsten Tage; dann gewinnt das Jin mehr und mehr Einfluß, bis es im Winter herrscht. Derselbe Prozeß vollzieht sich im Tageslaufe vom Sonnenaufgange bis zur Nacht. Himmel und Erde entsprechen sich; aber auf der Erde und im Menschenleben durch­ dringt diese Entsprechung das ganze Dasein. Den fünf Elementen — bei den Chinesen sind es Feuer, Wasser, Erde, Holz und Metall — entsprechen die fünf Himmelsrich­ tungen: Ost, West, Süd, Nord, Mitte; ebenso die fünf äußeren Körperbestand­ teile: Fleisch, Knochen, Haut, Blut, Muskeln, und die fünf inneren Bestandteile: Herz, Lunge, Leber, Nieren, Milz. Diese Entsprechungen müssen dann noch weiter auf die Jahreszeiten, die Wettererscheinungen, die Gemütsaffekte und den ver­ schiedenen Geschmack der Dinge ausgedehnt werden. Das ergibt folgendes Schema, das also der chinesischen Tao-Wissenschaft und damit ihrer Lebenslehre zugrunde liegt: Ost. Süd. Mitte. West. Nord.

Frühling Sommer — Herbst Winter

Wind Wärme Nässe Trockenheit Kälte

Holz Feuer Erde Metall Wasser

sauer bitter süß scharf salzig

Leber Herz Milz Lungen Niere

Muskeln Blut Fleisch Haut Knochen

Zorn Freude Gedanke Sorge Furcht.

Lohn und Strafe werden nach ausgleichender Gerechtigkeit verteilt; Glück ist der Lohn der guten, Unglück die Strafe der bösen Taten. Auf eine Vergeltung nach dem Tode, also in einem Himmel oder einer Hölle, noch weniger auf eine allmähliche Vervollkommnung durch wiederholte Geburten auf dem Wege der Seelenwanderung ist nicht zu rechnen.

Es liegt auf der Hand, daß diese eigentümliche Anschauung vom Kosmos als einem einheitlichen, von gleichen Gesetzen beherrschten Ganzen, von der Ent­ sprechung des himmlischen und irdischen Geschehens, überhaupt von Himmel und Erde, und von der nicht nur Gleichartigkeit, sondern Identität der physischen und sittlichen Ordnungen sich in eigenartiger Weise mit der gleichen Weltanschauung Babyloniens und wohl schon der vorbabylonischen Sumerer und Akkader berührt. Die Vermutung, daß hier vorgeschichtliche Zusammenhänge vorliegen, ist kaum von der Hand zu weisen. Man muß aber anderseits beachten, daß auf dieser An-

schauung in Ostasien eine wesentlich andere Welt aufgebaut ist wie in Babylonien. Es sind daraus vielfach andere tiefgreifende Folgerungen gezogen, und es sind in Ostasien eigenartige Systeme darauf gegründet. Das Merkwürdige ist nämlich, daß wir wohl die Grundzüge und Bruchstücke dieser Weltanschauung schon in der altersgrauen Vorzeit verfolgen können, daß sie uns aber als ein einheitliches Ganzes erst in den Systemen eines Laotse und Konfuzius entgegentritt. Wie sich nun jene Weltanschauung auf der zuerst skizzierten animistischen Religion aufbaut und sich mit ihr in so mannigfaltiger Weise verflicht, daß wir beide auseinanderzuhalten gar nicht in der Lage sind, so sind die Systeme der beiden großen Weisen nur verschieden orientierte Ausgestaltungen der gleichen Grund­ anschauungen. Laotse heißt nur „alter Lehrer"^ der Mann gehörte zur Familie Li, und sein Name war Pejang. Er ist wahrscheinlich im Jahre 604 v. CH. geboren. Er war Archivar in Lojang, der Hauptstadt des Reiches Tschau; dies aber ging damals durch die Selbstsucht der nach erblicher Macht strebenden Lehnsfürstentümer schnell dem Verfall entgegen. Laotse war so traurig über diesen Verfall, daß er sein Amt niederlegte und nach dem wilden Westen auswanderte. Am westlichen Grenz­ paß wurde er von dem Kommandanten um eine kurze Niederschrift feiner Weis­ heit gebeten und händigte ihm das Büchlein aus, das unter dem Namen Taoteking, „Klassiker vom Tao und Te", berühmt geworden ist. Das außerordentlich schwierige, oft und sehr verschieden übersetzte Buch ist kaum umfangreicher als das Marcusevangelium, es umfaßt in feinen kurzen 81 Kapiteln „Pensees“, Ge­ dankensplitter ohne inneren Zusammenhang, aber aus einem einheitlichen System heraus. Es beginnt (nach Grills Übersetzung): „Das Tao, das wirklich als Tao bezeichnet werden kann, ist nicht das Tao in seinem ewigen Ansichsein. Ein Name, der als (wirkliche) Bezeichnung gebraucht werden kann, ist kein Name des Dinges an sich. Ein Namenloses ist der Ursprung und die Substanz der Welt, ein Nenn­ bares ist das Prinzip der Ausgestaltung der Welt. Darum (heißt es): „Beständige Begierdelosigkeit befähigt dazu, sein hehres Geheimnis zu schauen; beständige Begehrlichkeit läßt nur das Äußerste seiner Erscheinung sehen". Wir können die Grundgedanken von Laotses Lehre etwa so zusammenfassen: Während das Tao als Unveränderliches und Ewiges keinen Namen hat, wird es benennbar, wenn es eine Ordnung oder die Welt der Erscheinungen aus sich herausgesetzt hat. Nach seinem Wesen ist es ruhig, leer, einsam, unwandelig; in seinem Wirken läuft es durch die Seinswelt, überall tätig, tätig aber in geheimnisvoller Weife, spontan und ohne Anstrengung. Es ist die erste Ursache des Universums und ist das Vorbild oder die Regel für alle Kreatur, besonders aber für die Menschen. Es repräsentiert aber auch jenen Jdealzustand uranfänglicher Vollkommenheit, in dem alle Dinge harmonisch sind. Durch das künstliche Atemholen werden die fünf Odem des Tao der Welt in den menschlichen Körper hineingeführt und sichern je nach den Jahreszeiten, wie es die Tabelle angibt, die Gesundheit der entsprechenden Körper­ teile und Lebensorgane, verlängern somit das Leben und führen sogar zur Un­ sterblichkeit. Die Wirkungsweise nun des Tao ist das Te; dies muß man studieren, um die Lebensgesetze des Weltalls zu erkennen; indem man das Te auch in seinem persönlichen Wirken ausgestaltet, wird man tugendhaft, heilig. Reimann (Richter), Geschichtswerk.

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Die Religionen der Böller.

Da das Tao genau gleich wie im Himmel auch auf Erden wirkt, entsprechen einander die himmlische und die irdische Welt vollkommen; nur da im Himmel Jang, aus Erden Jin vorwiegen, ist der Himmel höher, vorbildlicher. Dem Reiche der Himmel entspricht auf Erden das Land der Mitte, China; dem höchsten Herrscher im Himmel, Schangti, der höchste Herrscher auf Erden, der Kaiser als der Himmelssohn. Wie aber dem Kaiser zur Durchführung der Verwaltung zahl­ reiche hohe und niedere Beamte zur Verfügung stehen, so dem Schangti die Götter und Geister. Es ist auch das gleiche Te, das im Himmel wie auf Erden gilt, und zwischen physischem und ethischem Gesetz ist kein Unterschied, beide sind von der­ selben himmlisch-irdischen Weltordnung umspannt. Alle Unregelmäßigkeiten in dem einen rächen oder belohnen sich deshalb in dem andern. Wenn Herrscher und Volk tugendhaft sind, trägt das Land reiche Frucht, und Friede und Wohlfahrt gedeihen. Wenn aber der Fürst oder das Volk zuchtlos werden und Sünden begehen, so wanken die Grundordnungen der Welt, die Flüsse verursachen Über­ schwemmungen, feindliche Horden brechen in das Land usw. Und zwar wie im Himmel Schangtis Willen entscheidend ist, so auf Erden der des Himmelssohnes. Es kann dem Kosmos nichts Furchtbareres passieren, als wenn der Himmelssohn ein frecher Sünder ist; dann ist die Weltordnung gestört, das Reich der Mitte wird von entsetzlichen Plagen heimgesucht; der Entscheid des Himmels beseitigt den Kaiser und sein Haus und beruft den tugendhaftesten Menschen zur Führung der Regierung. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung des Weltalls gehört es, daß die regelmäßigen . Opfer dargebracht werden, und zwar genau entsprechend der Stellung und Würde der himmlisch-irdischen Weltordnung: dem höchsten Gott des Himmels hat der Himmelssohn, also der Kaiser, zu opfern; ihm allein steht auch das Recht der Opfer für die kaiserlichen Ahnen und die früheren Kaiser zu; denn er ist ja sozusagen ihr Sohn, sie gehören zu seiner Familie. In abgestufter Folge haben die Vizekönige, die Gouverneure, die Kreismandarine, die Stadt­ oberhäupter, die Dorfschulzen für die Götter und Geister des ihnen unterstellten Gebietes zu opfern, und zwar von Amts wegen. Dieser Opferdienst ist Staats­ religion. Bon seiner pünktlichen Durchführung hängt das Wohl des Reiches ab. Auf demselben Grundgesetz der Entsprechungen beruht die uralte Mantik und Orakelkunst, die deshalb auch nicht ekstatische Eingebung, sondern studierte Wissenschaft ist, und zwar ganz gleich, ob man aus der ins Feuer gelegten Schildkrötenschale oder aus den Stengeln der Schafgarbe oder aus den mystischen Linien des uralten Mantikbuches Jihking wahrsagt. In den durch die Röstung im Feuer deutlich hervortretenden Linien der Schildkrötenschale spiegelt sich nämlich nach chinesischer Anschauung das Universum etwa ähnlich wie nach der Meinung der Babylonier oder Etrusker in der Schafleber. Die Mantik des Jihkingbuches beruht auf der Kombi­ nation von drei geraden und gebrochenen Linien —--------- —— usw., die sich in 64 Zusammenstellungen variieren läßt. In ihnen sollen die Kom­ binationen von Jang und Jin, die Wirkungsweisen des Tao und Te, kurz alle Geheimnisse des Weltalls verborgen liegen. Schon der Weise Konfuzius ver­ wandte die letzten Jahre seines Lebens damit, die Geheimnisse dieses Buches gründlich zu studieren. — Die Gesetze des Tao und Te wirken sich in diesem Leben in der Weise aus, daß sie spontan wirkten, auch wo man von Gut und Böse noch

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nichts wußte. Die Rückkehr zu diesem Zustand bedeutet das höchste Gut der Philo­ sophie. In das Leben der Menschheit tritt deshalb das Tao als Moralprinzip in der Form des Te. Der Tugendsame sucht sich immer und in allen Dingen dem Tao anzugleichen, aber er tut das so wie das Tao, ohne sich anzustrengen, dem Wasser gleich, das demütig immer den untersten Platz sucht und allen dient. So soll der Mensch auch sein — wu wei, ohne Tätigkeit, ohne Ehrgeiz, Vielgeschäftigkeit und Tatendrang, nicht erpicht auf literarische Gelehrsamkeit durch Bücher, sondern auf die Erkenntnis des Tao. Auch der Fürst soll nur im stillen Rahmen der natürlichen Entwicklung sich auswirken, nicht zu nationaler Betätigung, zum Wissensdrang oder zum Vorwärtsstreben anregen. Der Regent soll das Volk zur Genügsamkeit und Einfachheit erziehen; er soll ihm nicht viel Wissen bei­ bringen und keine Wünsche in ihm erwecken, sondem die Untertanen möglichst unwissend und wunschlos lassen. Von diesen Grundsätzen aus entwickelt Laotse auch überraschend reine ethische Grundsätze: „Gegen die, welche gut und aufrichtig gegen mich sind, bin ich gut und aufrichtig; gegen die, welche nicht gut und aufrichtig sind, bin ich auch gut und aufrichtig; so werden alle gut und aufrichtig". „Es gehört zum Wege des Tao, Ungerechtigkeit allezeit zu vergelten mit Gütigkeit." Von den mystischen Universismus des Laotse mit starkem ethischen Einschlag aus waren verschiedene Entwicklungen möglich. Einige tiefsinnige Philosophen sind als echte Schüler des Meisters denselben Weg tiefsinniger philosophischer Betrachtung gegangen. Andere haben das Trachten nach Aneignung des Tao benutzt, um den brennendsten Wunsch der Chinesen, ein unabsehbares, langes Leben, zu erlangen. Von Kaiser Huang wird erzählt, wie er zu dem weisen Kuangtsing kam, um von ihm Belehrung zu erlangen: „Ich habe vernommen, daß du, mein Weiser, das höchste Tao durch und durch erforscht hast. Ich unterfange mich, dich zu fragen, wie ich über meinen Leib herrschen soll, auf daß er ewig bestehe." Da antwortete Kuangtsing: „Fürwahr, eine gute Frage. Komm her, ich will vom höchsten Tao zu dir reden. Die Verfeinerung, welche der Besitz des höchsten Tao verleiht, ist einsamste Einsamkeit und dunkelste Finsternis. Das Höchste des höchsten Tao ist dunkelstes Dunkel und stillste Stille. Nichts ist da zu sehen, nichts zu hören; es hüllt die Seele in Schweigen, und der stoffliche Körper wird dadurch von selbst in den richtigen Zustand versetzt. Sei also still und schweigsam und werde dadurch rein; strenge deinen Körper nicht an und bewege also deine Verfeinerung nicht — denn das ist das Mittel, wodurch sich dein Leben verlängern kann. Wenn dann deine Augen nichts mehr sehen, deine Ohren nichts mehr hören, dein Herz nichts mehr fühlt, dann wird deine Seele (Schin) deinen Körper bewahren, und dein Körper wird dann Fwig leben. Hüte also ja, was in dir ist und laß nichts herein, was draußen ist. Denn Vielheit der Empfindungen gereicht zum Verderben. Dann will ich dich hinter mir hinaufführen über das große Licht (der Sonne), wo wir die Urquellen des höchsten Jang erreichen; dann will ich dich geleiten zur Pforte der Ewigkeit und der Finsternis bis an den Ursprung des höchsten Jin; dort herrschen Himmel und Erde; dort wird alles im Jin und Jang ausgenommen. Überwache aber mit Sorgfalt deinen Körper, damit dein Stoff von selbst kräftig und dauer­ haft werde. Ich selbst habe diese Disziplin in vollem Umfang geübt und ihre harmonische Wirkung an mir festgestellt. Demzufolge habe ich 1200 Jahre lang meine Person pflegen können, und noch immer nicht fängt mein stofflicher Körper zu verfallen an."

Diese mystische Technik vermochte natürlich nur Einsiedler und Mönche her­ vorzubringen. Vielleicht ist eine stärkere Entwicklung des Mönchtums auf taoisti­ scher Grundlage nur dadurch verhindert, daß um die Zeitenwende der Buddhismus in China einzog, der seinerseits eine konkurrierende Mönchsreligion brachte. Das Streben nach Aneignung von möglichst viel Tao, um dadurch langes Leben, Glück und Unsterblichkeit zu erlangen, nahm aber auch gröbere Formen 5*

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an. Es wurden Sagen von den Inseln der Seligen im östlichen Weltmeere er­ zählt, wo man die Äpfel der Unsterblichkeit oder den Stein der Weisen finden könne. Und der gewaltige Kaiser Schihwangti rüstete eine Flotte aus, um die ersehnten Schätze zu holen. Man erzählte auch wunderschöne Geschichten von den Paradiesgärten der Feen im Kuenlungebirge, wo das Wasser des Lebens sprudele und Ginseng, das Kraut der Unsterblichkeit, wachse. Wieder und wieder haben sich Lebenssucher auf den Weg nach diesem westlichen Paradiese gemacht. Andere begnügten sich mit der alchymistischen Kunst, vermittelst des Tao Gold zu machen. Der Taoismus verschmolz sich aber auch in großem Umfang mit der animistischen Volksreligion, aus der er herausgewachsen war, und bildete sie, ihre Heilkunst, ihre Wind-Wasser-Lehre, ihre Wahrsagerei und Mantik zu sog. wissen­ schaftlichen Systemen aus, eine ost geradezu groteske Vermischung von philo­ sophischem Tiefsinn und abergläubischem Unsinn. Der jüngere Zeitgenosse von Laotse war Konfuzius, chinesisch: Kung tse oder Kung fu tse. Sein Vater stammte aus altem Adel; die Familie führte ihren Stammbaum auf das Kaiserhaus Schang zurück. Der Vater war schon 64 Jahre alt, als er noch eine ganz junge Frau heiratete, weil er keinen Sohn hatte; das ist nach chinesischen Begriffen das größte Unglück. Es wurde ihm um 550 v. Chr. ein Knabe geboren, den er Kiu nannte. Der Vater starb bald nach der Ge­ burt des Knaben. Als dieser Heranwuchs, erhielt er den Mannesnamen Tschung ni. Unter diesem Namen ist Konfuzius zu seinen Lebzeiten bekannt gewesen. Nach seinem Tode heißt er gewöhnlich „der Weise aus dem Stamme Kung": Kung fu tse. Er war in sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, heiratete nach chinesischer Sitte schon sehr jung, mit 19 Jahren. Er hatte einen Sohn und zwei Töchter, hatte aber weder zu seiner Frau noch zu seinen Kindern ein inniges Verhältnis. Er lebte in dem kleinen Lehnsfürstentum Lu, einem Teile des Reiches Tschau. Er war zunächst Magazinverwalter, wurde aber bald Lehrer und Privatgelehrter. Im Jahre 517 machte er einen Besuch in der Reichshauptstadt Lojang, wo er mit tiefster Bewunderung die ehrwürdigen Gebräuche der Tschau-Dynastie sah und auch dem Laotse begegnete. In seine Heimat zurückgekehrt, wurde er drei Jahre lang erst Distriktsverwalter, dann Ackerbau-, dann Justizminister, wurde aber wegen seines großen Einflusses von einem eifersüchtigen und intriganten Nachbarfürsten dadurch gestürzt, daß dieser dem Herzog von Lu 80 schöne Frauen schickte, um ihn von seiner Sittenstrenge und von seinem ernsten Streben für das Staatswohl abzubringen. Kung fu tse machte dem Herzog wegen des am Hofe eingerissenen leichtsinnigen Lebens Borwürfe und nahm, als diese erfolglos blieben, seine Entlassung. Seitdem war er dreizehn Jahre auf der Wanderschaft, um bei einem der zahlreichen Lehnsfürsten Gelegenheit zu suchen, praktisch seine Ideale und Regierungsgrundsätze auszubilden. Da alle seine Bemühungen vergeblich waren, kehrte er als betagter Greis 483 nach dem Fürstentum Lu zurück, wo er, von einem bewundernden Schülerkreis umgeben, im Jahre 477 starb. Sein Leben lief fast genau dem Leben des Buddha Sakyamuni in Indien parallel. Um die ungeheure Bedeutung des Konfuzius für das chinesische Volk zu verstehen, muß man sich dreierlei vergegenwärtigen: Konfuzius sammelte und edierte die kanonischen Schriften der alten chinesischen Kultur: das MH king oder Buch der Wandlungen, das Schu king, das Buch der Lieder, das Schi king,

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das Buch der geschichtlichen Urkunden, und das Li ft, das Ritenbuch. Konfuzius fügte selbst als fünften Klassiker das Tschun tschiu, Frühling und Herbst, die ziem­ lich stumpfsinnigen Annalen des Fürstentums Lu von 722—481 v. Chr. hinzu. Unmittelbar aus der Schule des Konfuzius sind noch weitere vier klassische Werke hervorgegangen: Lun yü, die von seinen Jüngern gesammelten Gespräche des bewunderten Meisters, Ta hio, die große Lehre, ein von seinem Enkel verfaßtes Lehrbuch, Tschong Yong, das Buch von der rechten Mitte, und die Lehrsprüche des Meng dsi (Menzius), vielleicht seines größten Schülers. Diese neun Werke gelten als die Klassiker der chinesischen Literatur und als die eigentliche Grundlage aller literarischen Bildung. Da man in die chinesische Zeichen­ schrift nur durch gründliches Studieren dieser Klassiker eindringt, bilden sie geradezu den Hauptinhalt des Schulwissens und der Gelehrsamkeit der Bildungsschichten Chinas. Konfuzius ist also damit in einem Umfang der große Lehrer seines Volkes, wie das keinem anderen Menschen in irgendeinem Volke zuteil geworden ist. — Konfuzius ist aber auch der Typus und das Ideal der Chinesen. Schon in den Lün yü, den von seinen Schülern gesammelten Sentenzen des Meisters, wird geflissentlich Konfuzius als der Jdealchinese dargestellt. Wir Abendländer können uns ja nicht leicht vorstellen, wie strengste Formen des Verkehrs und des Umgangs das ganze Leben vom Fürstenhause bis zur geringsten Hütte und in allen großen und kleinen Ereignissen des Lebens regeln können. Das erscheint uns als ein ertötender Formalismus, aus dem der Geist entwichen ist. Für die Chinesen ist die von Konfuzius teils konservierte, teils geprägte Lebens- und Um­ gangsform tatsächlich durch die Jahrtausende hindurch Richtschnur und Norm gewesen. Sie hat dem chinesischen Leben jenen eigentümlichen Stempel von Formalismus und feiner Sitte ausgeprägt, der die Chinesen so außerordentlich empfindlich macht gegenüber dem ungehobelten Auftreten der rothaarigen Teufel (der Europäer). — Konfuzius hat aber auch den allem chinesischen Denken zugrunde liegenden Universismus, also die Lehre vom Tao und Te in eigentümlicher Weise aus­ gebildet. Er war kein spekulativer Kopf und tiefsinniger Denker wie Laotse. Er war nüchtern praktisch, aber sehr stark ethisch orientiert. Wenn das chinesische Reich das Abbild des himmlischen Kosmos ist und von den Grund­ gesetzen des Tao regiert werden soll, dann kommt es darauf an, die menschliche Gesellschaft nach den Grundordnungen des Tao zu regeln. Dafür aber sind maß­ gebend die fünf Beziehungen (Li) des Fürsten und Untertanen, des Mannes und Weibes, der Eltern und Kinder, der älteren und jüngeren Geschwister und der Freunde und Nachbarn. „Welches sind die menschlichen Pflichten? Es sind Vaterliebe, Unterwürfigkeit und die anderen Pflichten des Kindes gegen die Eltern; Sanftmut des älteren Bruders gegenüber dem jüngeren; Folgsamkeit des jüngeren Bruders gegenüber dem älteren; Pflichtgefühl des Mannes gegenüber der Ehefrau; Gehorsam seitens der Frau ihrem Manne gegenüber; Wohlwollen der Alteren gegenüber den Jüngeren; Willfährigkeit der Jüngeren gegenüber den Älteren; Menschenliebe des Fürsten; Treue des Untertanen — das sind die

zehn Tugenden des Menschen." Auf derselben Grundlage baut sich die Regierungs­ wissenschaft auf. „Alle Dinge haben eine Wurzel und einen Gipfel, alle Sachen ein Ende und einen Anfang; wer richtig versteht, was zuerst kommt und was

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folgt, der nähert sich dem Tao. Die Alten, die da trachteten, die glänzendsten Eigenschaften und Tugenden in der sich unter dem Himmel erstreckenden Welt klar scheinen zu lassen, beabsichtigten vor allen Dingen für ihr Reich eine gute Regierung zu schaffen. Aber um ihr Reich gut zu regieren, stellten sie die Rege­ lung ihres Hauses voran: Der Regelung des Hauses ließen sie die Pflege ihres eigenen Lebens vorangehen. Um ihr eigenes Wesen zu pflegen, machten sie zuerst ihr Gemüt wahr; um ihr Gemüt wahr zu machen, begannen sie zunächst ihre Ge­ sinnung heilig zu gestalten, und um heilig in der Gesinnung zu werden, entwickelten sie ihr Gewissen bis zum äußersten." Des Konfuzius Lehre war ausgesprochener maßen Staatsethik. Es lag ihm deswegen hauptsächlich an einem Doppelten: Einmal, daß der gesamte Opferkult, von den Himmelsopfern des Himmelsohnes herunter bis zu den Ahnen­ opfern in jeder einzelnen Familie, gewissenhaft nach den von uralter Zeit fest­ stehenden Formen verrichtet werde; und zum anderen, daß das unerreichte Vorbild des klassischen Altertums mit seinen Tugenden und seinem Glück jedem nach­ folgenden Geschlechte als Spiegel der Lebensweisheit vorgehalten werde. Konfuzius hat den Geist Chinas mit einer so souveränen Gewalt und Stetigkeit geprägt wie kein anderer Philosoph oder Religionsstifter. Wir werfen die Frage auf, ob denn diese Staatsethik auch wirklich eine Religion sei. Die Frage ist verschieden beantwortet worden. Konfuzius war kaum eine religiöse Persönlichkeit. Der von den Alten persönlich gedachte höchste Himmels­ gott Schang ti wird ihm zur unpersönlichen ethischen Weltordnung des Himmels. Betreffs des Dienstes der Ahnengeister bemerkt er gelegentlich kühl: „Ehre die Geister, aber halte sie dir vom Leibe!" Auf eine Frage über das Leben nach dem Tode antwortet er: „Wir wissen nicht einmal über dieses Leben Bescheid, wie sollten wir über jenes wissen!" Als er einmal schwerkrank war und einer seiner Lieblingsjünger um die Erlaubnis bat, für ihn zu beten, antwortete er: „Daß ich gebetet habe, ist lange her." Und selbst derartige zurückhaltende religiöse Äußerungen finden sich nur spärlich in seinen Gesprächen. Aber Konfuzius lebte und webte durchaus in den Anschauungen des chinesischen Volkes, und zwar von dem primitiven Animismus und Manismus bis zum Universismus hin. Diese Gedanken der harmonischen Weltordnung des Kosmos und der ihr zugrunde liegenden ethischen Gesetze waren ihm selbstverständlich. Diese Anschauungen bilden eben die Grundlage, von der aus allein sein System und seine Welt­ anschauung verstanden werden kann. Es ist begreiflich, daß, während der Taoismus sich in der mannigfaltigsten Weise ausgestaltete, ja geradezu gewuchert hat, der Konfuzianismus, wenn auch durch des Konfuzius Schüler erst in ein eigentliches, geschlossenes System ge­ bracht, im wesentlichen durch die Jahrhunderte dasselbe Gepräge beibehalten hat. Wir werfen noch einen Blick auf Japan hinüber. In der allgemeinen reli­ giösen Struktur finden wir dieselben Anschauungen und Bräuche, die in China den breiten animistischen Untergrund bilden: zahllose Geister (kami) in Feld und Wald, in Berg und Meer, die man bei guter Laune erhalten, und denen man gelegentlich Opfer darbringen muß; Verehrung der Ahnen der eigenen Familie; die Einheit des Kosmos, und zwar so, daß der Himmelswelt das japanische Reich auf Erden entspricht, so daß also Japan auf Erden das Gegenbild der Himmelswelt

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ist. Von diesem allgemeinen Hintergründe hebt sich ein spezifisch japanischer Zug scharf und deutlich heraus: nämlich die göttliche Verehrung der kaiserlichen Familie. Japan hat das einzigartige Glück gehabt, daß dasselbe Kaiserhaus vom Morgen­ grauen seiner Geschichte bis zur Gegenwart auf dem Kaiserthron sitzt. In Ver­ bindung mit jener Anschauung des Universismus, also der Entsprechung von Himmel und Erde, wird der Kaiser der Repräsentant der Gottheit auf Erden. Das japanische Kaiserhaus stammt direkt von der Sonnengöttin ab und ist Träger der göttlichen Himmelskräfte für das japanische Volk. Nun ist allerdings diese japanische Volksreligion, der sog. Schm to (Weg der Geister), mehr als ein halbes Jahrtausend lang beiseite gedrängt gewesen durch den Buddhismus, der mit ziemlichem Recht den Anspruch erhoben hat, die Nationalreligion des japani­ schen Volkes zu werden. Er hätte seinen Anspruch auch wohl durchgesetzt, da er Japan in enge Beziehung mit der chinesischen Kultur brachte und auf allen Ge­ bieten des kulturellen Lebens, in der Literatur und Poesie, in der Malerei und Baukunst, in der Skulptur, im Kunsthandwerk, die japanische Kultur außerordent­ lich bereichert, vielfach geradezu neu geschaffen hat. Auch ist der japanische Bud­ dhismus von ungleich größerer Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit als der Bud­ dhismus in China. Er hat nicht derartig furchtbare Verfolgungen wie der chine­ sische Buddhismus zu überstehen gehabt. Trotzdem hat sich der Schintoismus behauptet, weil er eben mit den Grundlagen des japanischen Denkens, der ihm gleichsam im Blute liegenden universistischen Weltanschauung und mit dem extremen Patriotismus, der hervorstechendsten Tugend der Japaner, unlösbar verbunden ist. Merkwürdigerweise hat im letzten Jahrhundert der Schintoismus verschiedene starke Erweckungsbewegungen erlebt. Die bekanntesten sind das Tenrikyo und das Daihongkyo oder Omotokyo. Beide Religionen wurden von unwissenden Frauen gegründet; beide waren Gebetsheiler. Miki ko nakayama, die Stifterin des Tenrikyo, erhielt mit 41 Jahren die Erleuchtung einer neuen Religion. Zehn Götter des Schinto-PantheoNs, Himmel und Erde, Sonne und Mond vereinigten sich zu einem unbestimmten Gottesglauben. Acht Befleckungen: Gier, Neid, un­ reine Lust, Haß, Bosheit, Stolz, Zorn und Begehrlichkeit sollen überwunden werden. Miki starb am 26. Januar 1897; ihre Religion soll bereits 3 Millionen Anhänger und etwa 3000 Tempel besitzen. Die Stifterin des Daihongkyo oder Omotokyo, die Bäuerin Naoko, war mit einem ungebildeten, liederlichen Bauern verheiratet, der aber glücklicherweise bald starb. Als Witwe hatte sie Verzückungs­ zustände, redete in einer fremden Sprache und verrichtete zahlreiche Wunder. Es erregte Aufsehen, daß Naoko erst den chinesisch-japanischen, dann den japanisch­ russischen und schließlich auch den großen Weltkrieg voraussagte. Nach ihrer Lehre ist das Universum in zwei Welten geteilt: die geistige und die materielle. Aus der letzteren ging der „Herr der Welt" hervor, der sich der Witwe Naoko offen­ barte. Seine Frau, die Göttin Toyokomono, erfüllte und inspirierte ihren Schwiegersohn und Oberpriester Deguschi. Der menschliche Körper ist der Tempel einer lebendigen Gottheit, und solange er rein und ehrbar ist, kann keine Krank­ heit ihm nahen. Die materielle Welt ist nur ein Echo, ein Widerschein, ein Spiegel­ bild der geistigen Welt. Auch diese Sekte hat in Japan erstaunlich große Aus­ breitung gefunden und soll einige Millionen Anhänger zählen.

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Griechische, römische und germanische Religionen. Wir haben uns nun mit den Religionen zu beschäftigen, welche das Christentum in Europa verdrängt hat. Jedoch ist unsere Kenntnis der keltischen und der slawi­ schen Religionen so bruchstückartig und unzureichend, daß wir kaum zu beurteilen vermögen, wie sie zur Zeit ihrer Verdrängung durch das Christentum beschaffen waren, welche geschichtliche Entwicklung sie bis dahin durchlaufen hatten, oder welchen Beitrag zur Kulturentwicklung ihrer Völker sie geleistet haben. Es trifft bei ihnen im besonderen jene eigentümliche religionsgeschichtliche Tatsache zu, daß Völker, welche neu auf dem Schauplatz der Weltgeschichte auftreten, sich gern bei dieser Gelegenheit mit einer Kulturreligion, die ihrer etwa entgegen­ tritt, für ihre weltgeschichtliche Laufbahn ausrüsten. Die allein in Betracht kom­ mende Religion ist bei allen diesen Völkern das Christentum gewesen; da sie diese höhere Religion am Anfang ihres geschichtlichen Daseins angenommen hatten, haben sie die heidnische Religion ihres vorgeschichtlichen Daseins vergessen. Diese Lücke unserer religionsgeschichtlichen Kenntnis mag besonders bedauerlich bei den kel­ tischen Völkern sein; denn es liegen zahlreiche Anzeichen vor, daß diese auch bereits in ihrem vorgeschichtlichen Dasein in allgemeiner Kultur und in religiöser Ent­ wicklung eine verhältnismäßige Höhe erreicht hatten, und ihre Sagenkomplexe, wie z. B. die Gralsage, haben im christlichen Mittelalter eine große Bedeutung gehabt.

I. Unsere Kenntnis ist am umfassendsten von der griechischen Religion; sie wird auch weitaus die reichhaltigste gewesen sein. Auch auf dem religiösen Gebiet bewies der griechische Geist seine geniale Fruchtbarkeit und Schöpferkraft. Wir werden gut tun, verschiedene Schichten in der religiösen Entwicklung der Griechen zu unterscheiden, ohne daß sie sich immer zeitlich folgen; sie gehen vielfach nebenund durcheinander. Wir halten uns gegenwärtig, daß die griechische Religion auch abgesehen von ihrem inneren Reichtum dadurch ein überaus fesselndes, fast einzigartiges Problem bietet, weil wir hier eine durch ein Jahrtausend verlaufende Entwick­ lung von den primitiven Zuständen nomadischer Wanderstämme bis zur höchsten Kulturblüte und von da bis zur religiösen Selbstzersetzung und zu allerlei Reformationsversuchen verfolgen und meist aus einem überaus reichhaltigen Quellenmaterial belegen können. a) Der Anfang der Entwicklung ist trotz eindringender Forschungen noch vielfach in Dunkel gehüllt. Sicher scheint zu sein, daß wir drei Hauptgruppen von religiösen Tatsachen unterscheiden müssen, ohne daß wir in vielen Fällen ihr gegenseitiges Verhältnis bestimmen können: ein reiches animistisches Erbe aus der vorgeschichtlichen Zeit, eine von den einwandernden Stämmen der Griechen zumal an der Küste und im Süden vorgefundene, verhältnismäßig hoch entwickelte kretisch-mykenische Kultur, und die besondere Götterwelt der Griechen, die sie gleich andern indogermanischen Stämmen verhältnismäßig früh ent­ wickelt haben werden. Das animistische Erbe hat dauernd in der griechischen Religion größeren Umfang und Bedeutung gehabt als z. B. im Mosaismus und Parsismus, weil niemals in Griechenland ein großer Religionsstifter mit starker Hand tief in die Entwicklung eingegriffen und sie von Grund auf neugestaltet hat. Da nun diese animistischen Elemente überall ein zähes Leben haben und

Griechische, römische und germanische Religionen.

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sich in Griechenland nicht als Aberglauben oder sonstige Religion zweiten Grades zu verstecken brauchten, überrascht es nicht, daß wir sie in allen Entwicklungs­ stufen der griechischen Religion üppig wachsen finden. Es sind fast alle Grund­ elemente der animistischen Religion reichlich vertreten; nur vom Totemismus haben sich bisher keine Spuren nachweisen lassen. Der Abstand von Mensch und Tier ist fast durchweg größer geblieben als z. B. in den Jndianerreligionen oder der ägyptischen, und die Sippengliederung der Phratrien scheint nie darauf begründet. Die Manavorstellungen sind auf weite Strecken vorherrschend; wir bemerken besonders zwei Gebiete, das Tabu und die Fruchtbarkeitsriten: „Das ganze Leben wird von Tabuvorschriften geregelt, die sich ganz besonders an den kritischen Punkten des Menschenlebens häufen, bei Hochzeit, Geburt und Tod, bei welchen Gelegenheiten der Mensch mehr als sonst dem Einfluß der Kraft und den Angriffen der Mächte ausgesetzt ist... Gewisse Kräuter werden neben die Wöchnerin gelegt, um Böses von ihr abzuwehren, und ihre Kleider schaffte man in Athen dadurch weg, daß man sie der Artemis Brauronia weihte. Am fünften Tage nach der Geburt wurde das Kind um den Herd getragen und so in die Familie ausgenommen. Die Nähe des Todes und der Toten führte andere gefährliche Kräfte herbei, gegen die man sich in mannigfaltiger Weise zu schützen versuchte. Mm allgemeinen Seelenfest der Anthesterien, an dem die Toten die Häuser besuchten und überall umherschärmten, kaute man Weißdorn und bestrich die Türe und den Körper mit Pech. Die meisten Schutzmittel werden Reinigungen genannt, weil sie bezwecken, die gefährliche Kraft wegzu­ schaffen, die wie eine Ansteckung auf jeden übergeht, der mit ihr in Berührung oder ihr auch nur nahe kommt. Wer ein Haus besucht, wo ein Toter aufgebahrt ist, wird unrein und muß sich reinigen; daher wurden Wasserbecken vor dem Trauerhaus aufgestellt, damit die Hinausgehenden sich durch Besprengung mit Wasser reinigen konnten. Wasser, Feuer und Essen werden verunreinigt und müssen neu von auswärts geholt werden"*). Der Ackerbau hat wohl schon vor der Einwanderung in Hellas bei den Griechen eine große Rolle gespielt; zahlreiche Bräuche und Feste haben agrarischen Charakter. Hesiods „Werke und Tage" geben zahlreiche Bauernregeln. Mit welchen Fruchtbarkeitszaubern man die Saat in die Erde bringen, dem gepflügten Acker die Fruchtbarkeit sichern, die Saat während der Wochen und Monate des Wachstums vor schädlichen Einflüssen bewahren, die reife Ernte aus dem Machtbereich der Fruchtbarkeitsdämonen los­ kaufen, die letzte Garbe als potenzierte Trägerin der Fruchtbarkeit besonders be­ handeln, das geborgene Korn in unterirdischen Behältern und Kammern dem Schutze des Pluton anvertrauen und wie man aus der gewonnenen Ernte die ersten Brote und Breie mit doppelter Vorsicht behandeln muß — bei alledem handelt es sich um Erhaltung und Mehrung des Mana im Acker und der Saat. — Die Seelen- und Seelenstoffvorstellungen und Bräuche sind nicht so mannig­ faltig entwickelt wie z. B. bei den malaiischen Völkern Indonesiens. Sie beherr­ schen besonders die Vorstellungen vom Tode und dem Leben nach dem Tode. Letzteres wird als eine Fortsetzung des diesseitigen Lebens vorgestellt. Dem *) Aus der vorzüglichen Darstellung von Prof. Nilsson in „Bertholet-Lehmanns Lehr­ buch der Religionsgeschichte", Bd. II, 280 S., die als Ergänzungsliteratur warm zu em­ pfehlen ist.

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Toten werden deshalb seine Geräte, zumal die Waffen, mit ins Grab gegeben. Man muß ihm auch Speise und Trank liefern. Oft führten Röhren sie bis zu den Totengebeinen hinunter. Geringe Leute wurden bald vergessen, sie waren dann auch im Jenseits gestorben. Große Krieger und Fürsten galten auch nach ihrem Tode als mächtig zum Guten und Bösen. Es ist seltsam, wie unter dem Einflüsse Homers sich diese Vorstellungen in die eines öden, trostlosen Schatten­ reiches gewandelt haben, wie sie bei den semitischen Völkern bräuchlich waren. — Die ganze Natur wurde beseelt gedacht von zahllosen Dämonen, Geistern und Nymphen, die im Meere, in den Flüssen und Teichen, in den Päumen und Bergen, an den Kreuzwegen, in Grotten und abgelegenen Talschluchten ihr Heim hatten und ihr gespenstiges Wesen trieben. Sie hatten unzählige lokale Kulte, kleine Heiligtümer, heilige Bäume, vielleicht auch eigene Feste. Sie haf­ teten am Boden und sind deswegen selten in die große, lichte Götterwelt auf­ gestiegen. Aber ihr Leben war um so zäher. Sie haben Aufstieg und Niedergang der griechischen Religion, zum Teil sogar die Jahrhunderte christlicher und kirch­ licher Kultur überdauert. Es ist nicht auszumachen, wieviel von diesem boden­ ständigen Polydämonismus die Griechen einfach bei ihrer Einwanderung von ihren Vorgängern übernahmen. b) Die kretisch-mykenische Kultur ist uns in einer Unzahl von großen und kleinen Denkmälern, aber ohne Inschriften und Texte über­ kommen. Und die darin sich offenbarende Welt ist sowohl von der griechischen wie von der vorderasiatischen so verschieden, daß man schwer sichere Schlüsse aus Vergleichen ziehen kann, wieviel davon in den geistigen Gehalt der grie­ chischen Religion übergegangen ist. Als die Arier in Indien einbrachen, trugen sie ihre überlegene Kultur in ein kulturarmes Land, sie waren die eigentlichen Kulturschöpfer. Mlem Anschein nach fanden die Griechen bei ihrem Eroberungs­ zug in Griechenland eine der ihrigen damals überlegene Kultur vor, die sie sich assimilierten. Aber wie ist dieser Prozeß vor sich gegangen? Hier lassen uns die Quellen im Stich; denn dem Anschein nach liegt zwischen dem Untergang der mykenischen und dem Aufstieg der griechischen Kultur ein überlieferungsarmer Zwischenraum von einigen Jahrhunderten. Aber die meisten Burgen und Fürsten­ schlösser der Griechen wurden auf den Fundamenten mykenischer Burgen er­ richtet, und die in diesen vorhandenen Heiligtümer scheinen einfach übernommen zu sein, so in Mykenae, Athen und Eleusis. Eine Göttin wie Athene, deren Name sich aus dem Griechischen nicht erklären läßt, scheint mit ihrem großen Schild, der sie begleitenden und als Hauswächterin charakterisierten Schlange, mit ihrem Sitz in der mykenischen Burg auf der Akropolis Athens und anderen Eigentümlichkeiten kretisch-mykenischen Ursprungs zu sein. Aber die Griechen nahmen auch in jener alten Zeit schon gern von anderswoher zuwandernde Götter auf. Dionysos ist wahrscheinlich aus Thrakien gekommen und scheint von Anfang an mit einem orgiastischen, von rasenden Weibern, Mänaden, ausgeübten Kult verbunden gewesen zu sein. Artemis und ihr Zwillingsbruder Apollo sind aus Kleinasien gekommen; allerdings ist Artemis wohl aus den allerorten ver­ ehrten Berg-, Feld- und Waldgeistern hervorgewachsen und hat dann eine Menge anderer Funktionen übernommen, vielleicht indem andere Götter mit ihr verschmolzen wurden. Was der Syrer Apollo ursprünglich für Funktionen

Griechische, römische und germanische Religionen.

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gehabt hat, ist unsicher; er ist auf griechischem Boden der Sender von Krank­ heit und der Heilgott, und später vor allem der Offenbarungsmittler, der von Delphi die in ganz Griechenland hoch verehrten Orakel gab. c) Wahrscheinlich besassen die Griechen schon bei ihrer Einwanderung in Hellas ihr eigenes Pantheon, wie die Arier bei ihrem Einbruch in Indien; aber diesen ihren originalen Anteil auszusondern ist schwierig. Hatte man früher große Neigung, möglichst viele Parallelen zwischen der griechischen und der indischen Götterwelt zu ziehen, so hat ein eindringendes Studium deren Unverläßlichkeit gezeigt. Während in Indien Dyauspitar schon zu den fast untergegangenen Göttern gehört, hat sein Pendant Zeus pater in Griechenland von Anfang an eine überragende Stellung gehabt und alle Zeit behauptet, nur ob er ursprüng­ lich den lichten Himmel bedeutet hat, ist zweifelhaft. Die Griechen haben nie die Neigung verspürt, einfache Natur- oder Temperaments-Erscheinungen zu ver­ göttlichen wie die Indier und Jranier; weder Sonne, noch Mond und Sterne, weder Eos als Morgenröte noch selbst Eros als Liebesgott haben je in seinem Pantheon eine Rolle gespielt. Zeus ist der Gott der Naturerscheinungen, die mit dem Ackerbau zusammenhängen, des Gewitters und Regens, die den Acker fruchtbar machen; er ist der Spender der Fruchtbarkeit und als solcher der „Erdige" (Chtonios), er sendet die Gabe der Brotfrucht herauf, er ist der Er­ werber (Ktesios), er ist geradezu der „Bauer" (Georgos), zugleich ist er der Schützer des Hofgeheges vor Feinden und wilden Tieren (Herkaios). Neben Zeus stand Hestia, die Göttin des häuslichen Herdes, um den sich das schlichte Leben der Griechen in jenen einfachen Zeiten abspielte. Demeter hat sich viel­ leicht aus jener letzten Korngarbe des Ackers entwickelt, die bei so vielen indo­ europäischen Völkern als Trägerin der Fruchtbarkeit und deren Bürge für das neue Ackerjahr gilt; sie ist die Göttin des Ackerbaues. Hermes, zu deutsch „der vom Steinhaufen", verdankt vielleicht seinen Ursprung den Steinhaufen, die an den Kreuzwegen als Wegzeichen und über den Gräbem der Toten aufgehäuft wurden; so wurde er der Wegweiser und Führer für lebende und verstorbene Menschen. Athena wurde, da sie von ihrer mykenischen Vergangenheit her Stadtgöttin war, die Hüterin der in der Stadt gepflegten Gewerbe, besonders des von den Frauen geübten, der Webekunst. Die Griechen sind angesichts der besonderen Gunst ihrer Lage früh Seefahrer geworden; so gewann Poseidon als Gott des Meeres und aller Gewässer im Lande eine große Bedeutung. Der wilde, stürmische Ares hatte mit den vielen großen und Keinen Kriegszügen der Eroberungszeit zu tun. Gott kam zu Gott, das Pantheon bevölkerte sich aus mitgebrachten, einheimischen oder umgestalteten, und zugewanderten Göttern. Dies allmähliche Werden zu beobachten, sind wir nicht imstande. d) Aber plötzlich steht in den Homerischen Gesängen diese ganze lichte Götterwelt wie ein Zauberbild vor unseren Augen. Es haben wohl Jahrhun­ derte gedichtet und gesungen, ehe die Lieder von den Kämpfen um Troja und von den Irrfahrten und der Heimkehr des Odysseus abgeschlossen waren. Und es ist vielleicht hauptsächlich der Ritteradel der jonischen Städte, deren Welt uns hier entgegentritt. Aber doch wirken Ilias und Odyssee als Werke aus einem Guß, und sie haben auf die Gestaltung der religiösen Welt Griechenlands in den folgenden Jahrhunderten eine größere Wirkung ausgeübt als irgend ein

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anderer einzelner Faktor. Wenn auch der animistisch-manistische Untergrund pri­ mitiver Religion vielfach noch durchscheint und sich auch außerhalb dieser Dich­ tungen besonders in lokalen Kulten, in Feld-, Berg-, Meer- und Quellengeistern, in Zauberei und Aberglauben zäh behauptet hat, so werden wir doch in diesen Dichtungen in die Welt der olympischen Götter versetzt. Zeus, der „Vater der Götter und Menschen", und Hera, seine aristokratische Gemahlin, Apollo und Poseidon, Ares und Hephästus, Aphrodite und Athene stehen im Vordergründe des religiösen Interesses; sie sind idealisierte und gleichsam in großen Linien gezeichnete Menschen; sie unterscheiden sich von diesen haupt­ sächlich dadurch, daß sie unsterblich, die Menschen sterblich sind. Im übrigen sind sie schier allzu menschlich, sie haben ihre Lieblinge, welchen sie durch Dick und Dünn beistehen, und andere, denen sie gram sind; sie haben ihre abenteuerlichen, bisweilen recht gewagten Liebschaften und genieren sich auch vor grobem Ehebrüche nicht; sie sind eifersüchtig, neidisch; sie sind leicht umzustimmen; „durch Räucherwerk und freundliche Gelübde, durch Spende und Opferdampf erweichen sie die Men­ schen mit ihren Bitten, wenn einer sich einer Übertretung und eines Vergehens

schuldig gemacht hat" (Ilias IX). Vater Zeus, der vom Jdagebirge her herrscht, der alles sieht und hört, bestraft auch in der Tiefe die gestorbenen Menschen und rächt den Meineid. Die Toten aber weilen in dem öden Schattenreiche des Hades. Odysseus schildert anschaulich, wie er zum Westpunkt der Erde jenseits des Okeanos gefahren ist und von dort in der ewigen Finsternis den Eingang gefunden hat. Er schlachtet mit seinen Gefährten die Opfertiere und schüttet für alle Toten die Spenden von Gewürzbier, süßem Wein, Wasser und weißem Mehl aus: „Da sammelten sich aus dem Erebos her die Seelen der verstorbenen Toten, Mädchen, Jünglinge, Greise, die vieles erduldet hatten, zarte Jungfrauen, frisch getroffen vom Todesschmerz, viele im Kampf gefallene Männer, verwundet von erzbeschla­ genen Lanzen, in blutiger Rüstung. Zahlreich scharten sie sich von allen Seiten um die Opfergrube mit wunderlichem Geschrei" (Odyss. XI, 23 ff.). Dabei gibt es noch wenig Tempel und noch weniger Götterbilder. Weder die Strenge des sittlichen Bewußtseins noch die erhabene Ruhe des religiösen Gefühls, weder die heilige Scheu vor dem undurchdringlichen Geheimnis noch die Anziehungskraft des mystisch Nahen beherrscht diese Götterwelt; es ist eine phantasievoll aus­ gestaltete Projektion des hellenischen Geistes und Lebens, Denkens und Fühlens in jene Heroenzeit ihrer Geschichte. e) Zwei Strömungen haben in der nachhomerischen Zeit besonders zur Gestaltung des religiösen Lebens beigetragen. Maß, Ordnung ist einer der Grund­ züge des griechischen Wesens. Er sollte sich auch in der griechischen Religion geltend machen. Zwar einen versteinerten Ritus mit überladenen Liturgien wie der Hinduismus oder Buddhismus hat sie nicht hervorgebracht. Aber es lag ihr daran, das ganze Leben des Einzelnen von der Geburt bis zum Tode, den Ackerbau durch alle Jahreszeiten, das Gemeinschaftsleben der Stadt, den Verkehr mit den Göttern in feste und anerkannte Regeln zu bringen. Religiöse Über­ lieferung, Aberglaube, Ordnungsliebe und Gerechtigkeitssinn trugen dazu bei. Hesiod in seinen „Werken und Tagen" brachte diese Stimmung in poetische Form. Die Gesetzgeber dieser Zeit, ein Drakon, Solon, Lykurgos und viele andere trugen das ihre dazu bei, die religiösen Übungen in das bürgerliche

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Leben einzugliedern und das letztere unter religiöse Sanktionen zu stellen. Es ist ein besonderes Verdienst des delphischen Apollo, bezw. der national aner­ kannten Orakelstelle in Delphi, daß sie in zahlreichen Weisungen und Mahnungen, oft aus einer erstaunlich guten Kenntnis der Verhältnisse und dem Gefühl für die derzeitigen Notwendigkeiten heraus diese Gestaltung des öffentlichen Lebens nach religiösen Motiven beförderte. Die Stadtstaaten waren zudem in Griechen­ land so klein, daß es verhältnismäßig leicht war, sie zu gestalten. Jeder kleine Stadtstaat bildete sich mit der umgebenden Landschaft zu einem Kirchenstaat aus. Die Pflege des gottesdienstlichen Lebens an den nationalen Heiligtümern wurde eine wichtige öffentliche Angelegenheit. Die großen Feste dieser Götter waren Höhe­ punkte des öffentlichen Lebens mit prunkvollen Prozessionen, mit den bekannten öffentlichen Wettspielen, mit schlichten, aber hochgeschätzten Ehrungen verdienter Bürger, mit Theateraufführungen religiösen Charakters, wozu womöglich noch das Eintrittsgeld gestiftet wurde, mit reichlichen Speisungen der Volksmassen auf Kosten des Staatssäckels, mit dem Trubel und den Versuchungen eines bunten Jahrmarkttreibens. Dieser Kultus ist nicht der Privatinitiative überlassen; er ist Staatsangelegenheit und wird in allen seinen Obliegenheiten von der Stadtverwaltung geordnet und aus Staatsmitteln bestritten. Wir haben eine ausführliche Inschrift aus der Stadt Demetrias am pagasäischen Golfe aus dem letzten vorchristlichen Jahrhundert. Dort bestand anscheinend von alten Zeiten her ein Apollorakel, das in Wettbewerb mit dem delphischen trat. Nun beschließt die Stadtverwaltung, dies Orakel zu verstaatlichen: „Da es gerecht und gezie­ mend ist, zumal das Orakel alt und dauernd bei unseren Vorfahren hochgehalten ist und auch Fremde sich in großer Zahl an das Orakel wenden, soll die Stadt eifrigere Vorsorge für die würdige Instandhaltung des Orakels treffen usw." Merkwürdig, diese staatliche Organisierung der Wahrsagung fand zu einer Zeit statt, als längst Zweifel und Unglaube die Grundlagen der griechischen Frömmig­ keit unterwühlt hatten. Dieser religiöse Staatsbetrieb konnte wie eine gut auf­ gezogene Maschine noch Jahrhunderte lang weiter laufen, nachdem längst die treibenden inneren Kräfte entwichen waren. — Die Verstaatlichung des kultischen Lebens hatte noch zwei andere überraschende Nebenwirkungen. Sie wurde die Unterlage für den in einigen Jahrhunderten üppige Blüten treibenden Heroen­ kultus. Von alten Zeiten her hatten neben den nur im Familienkult verehrten und bald vergessenen Vorfahren der eigenen Familie die Ahnen der Sippe, des Stammes, wirkliche oder mythische, eine allgemeine Verehrung gefunden. War doch die Sippe, der Stamm eine große Familie, welche durch das Gedächtnis und die Feier der Ahnen zusammengehalten wurde. Als nun die großen Götter ihren himmlischen Adelsstaat auf dem Olymp etabliert hatten, wußte sich zwar jeder Staat mit irgend einem von ihnen besonders verbunden. Aber immerhin mußten selbst Athena, Artemis, Apollo, Poseidon, von dem Allherrn Zeus gar nicht zu reden, einigermaßen unparteiisch sein, denn sie hatten in den verschiedenen Städten ihre Heiligtümer. Dagegen der Stammesheros galt nur dem einzelnen Stadtstaate; auf ihn konnte man bei den nie abreißenden kriegerischen Verwick­ lungen rechnen. Er war der Vorkämpfer, er mußte durch Gut und Böse alles daran setzen, der Sache seiner Volksgenossen zum Siege zu verhelfen. War sein Grab bekannt, so war es der gewiesene Mittelpunkt dieses Heroenkultes; meist

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war das nicht der Fall, zumal bei den zahlreichen mythischen Heroen. Denen baute man ein Kenotaph und erfand einen romantischen Mythus und Stamm­ baum, der mit Vorliebe bei einem der großen Götter endete. — Und als in den Zeiten des politischen und religiösen Niedergangs „Tyrannen" und Könige Herrschaft und Macht an sich rissen, wurde der Heroenkult der bequeme Über­ gang zur göttlichen Verehrung dieser Herrscher: sie wurden „rettende Götter", der erste Archon wurde ihr Priester, ihre Bilder wurden neben denen der Götter in den Peplos, das göttliche Festgewand, hineingewoben, das an den Panathenäen der Athena dargebracht wurde. Es wurden ihnen Altäre geweiht. Selbst ihren Hetären und Günstlingen wurde Herorenkultus dargebracht — eine allerdings späte Entartung der griechischen Religion. f) Die andere Entwicklung führte auf eine Verinnerlichung, Persönlichmachung der Religion in den Mysterien. Auch diese reichen bis in die älteste Zeit der griechischen Religion zurück, und es ist vieles an ihnen unsicher und unklar, obwohl die wuchernde Legende vieles mit Mythen umrankt hat. Wohl die ältesten Mysterien waren die eleusenischen, die bei der Einverleibung des kleinen Stadt­ staates Eleusis in den attischen zum Teil nach Athen übertragen wurden. Ob­ gleich früher oder später manche Nebenmotive in die Weihungen und heiligen Handlungen eingeflochten wurden, scheinen zwei Grundanschauungen vorzuliegen. Bei der Ernte wird die Saat des nächsten Jahres in unterirdischen Kammern geborgen, um im nächsten Frühling heraufgeholt und ausgesäet zu werden. Im Mythos heißt das, der Demeter Tochter Kore ist von dem König der Unter­ welt Pluton geraubt. Die trostlose Mutter hat sie auf der ganzen Erde gesucht, bis sie sie im Hades wiedergefunden hat. Aber sie kann nur erreichen, daß, Pluton ihre Tochter für ein halbes Jahr freigibt, am hellen Licht der Sonne sich zu erfreuen. Und mit diesem vom Ackerbau genommenen Naturmythus ver­ band sich die Idee von dem Wiedererstehen des Lebens aus dem Tode. In den von Thrakien eingeführten dionysischen Mysterien tanzten rasende Weiber, die Mänaden, aus den Bergen und sahen in der Halluzination den Gott in einem Tier, ergriffen es, zerrissen es und fraßen die zuckenden, blutigen Glieder auf, um der Gemeinschaft mit der Gottheit ganz teilhaft zu werden. Und dieses brennende Verlangen nach voller Gemeinschaft mit der Gottheit — der „Enthu­ siasmus", das „mit Gott angefüllt sein" — bahnte diesem an sich ungriechischen, wilden Rausche die Bahn. Diese Mysterien mit ihren dramatischen Darstel­ lungen sollten der Ausgangspunkt für eine der höchsten Entwicklungen der grie­ chischen Kunstpoesie, die Tragödie werden. Einflußreicher als beide erwähnten Mysterien waren die orphischen, zumal sie eine große, uns freilich verloren­ gegangene Literatur hervorgebracht und selbst so edle Geister wie Platon tief beeinflußt haben. Wir wissen kaum, welche Vorgänge und Mythen dem Orphismus zu Grunde liegen. Der mythische Sänger Orpheus soll durch den Zauber seines Gesanges die ganze Natur, Menschen und Götter gebändigt, er soll um ein Haar seine verstorbene Gattin Eurydike aus der Unterwelt wieder befreit haben. Sicher ist, daß sich daran tiefsinnige Spekulationen knüpfen. Die Titanen hatten des Zeus Sohn Zagreus zerrissen und gefressen. Im Zorn hatte sie Zeus mit seinem Blitz zu Asche zermalmt, aber dann aus der Asche die Menschen gebil­ det, die so Göttliches, Titanisches und Irdisches in ihrem Wesen verbinden. —

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Das Urwesen der Welt ist die Zeit; sie bildete im göttlichen Äther ein silbernes Ei. Aus dem Ei ging der erste Gott hervor, dessen Sohn Zeus dann die Erde schuf und ordnete. — Die Verstorbenen erhalten in der Unterwelt den Lohn ihrer Taten und kommen dementsprechend in Himmel oder Hölle. Hier im Orphismus tauchen an sich ungriechische Vorstellungen einer ganz individuellen Vergeltung nach dem Tode auf und sind dann bald von dem großen Maler Polygnot in einem ergreifenden Gemälde Plastisch dargestellt. — Mit diesem Fortleben nach dem Tode geht die Vorstellung von der Seelenwanderung Hand in Hand, die im Anschluß an die Orphik von den pythagoräischen Philosophen weitergebildet wurden. Soweit wir sehen, hatten die Mysterien als Privatreligion kleiner, tief religiöser Kreise in den Jahrhunderten vor Homer bis in die Perserkriege großen Einfluß, wurden dann aber von der öffentlichen Religion der Städte sehr in Schatten gestellt, um erst Jahrhunderte später, als diese öffentliche Staatsreligion ihre Kraft eingebüßt hatte, in Verbindung mit den vom Orient einwandernden Religionen zu neuer Bedeutung zu kommen. g) Tiefer greifen und graben die religiösen Gedanken und Dichtungen jener langen Reihe großer Hellenen, welche im 6., 5. und 4. Jahrhundert die höhere Ge­ dankenwelt des klassischen Hellenentums geformt haben. Bei Herodot (t 425) machen sich zwar jene alten, echt griechischen Gedanken vom Neide der Götter gegen ein zu großes Glück oder eine zu große Macht und von der Hybris, der Über­ hebung des über die ihm eng gezogenen Grenzen hinausstrebenden Menschen geltend. Aber sie werden doch überstrahlt von der großzügigen Hilfe, welche die olympischen Götter den Griechen haben wider die Perserheere zuteil werden lassen. Die griechischen Götter sind die Vorkämpfer der griechischen Freiheit. Pindar (f 443) weiß, daß es angemessen ist, von den Göttern nur Gutes und Schönes zu sagen; die ihnen angedichteten Abenteuer und Schlechtigkeiten sind nur leuchtende Lügen. Dabei denkt der Dichter viel nach über die strafenden, prüfenden oder seligen Schicksale der Seele nach dem Tode. Äschylos (525—456), der große Zeitgenosse des Buddha und Konfuzius, veredelt die Mythen und weiß von einer sittlichen Weltordnung, welche auch über den Göttern steht; haben sie Unrecht getan, so müssen sie Buße tun. Aber die höchste Gottheit ist „der König der Könige, dessen Thron von keinem Throne beherrscht wird, der Selige unter den Seligen, die Macht der Mächte, welche in unermüdlichem Laufe durch die ganze Strecke der Zeit waltet: er ist unergründlicher Gedanke, dessen Tiefe aus­ messen zu wollen Torheit wäre; er ist unwiderstehlicher Wille, der durch dunkle, dem Menschen unerforschliche Wege zur unfehlbaren Ausführung seiner Pläne schreitet; er ist die höchste Ursache, der Urheber alles Handelns". „Zeus ist der Äther, Zeus ist die Erde, Zeus ist der Himmel, Zeus ist alles und noch mehr, wenn es das gibt." Sophokles (f 405) steht stark unter dem Eindruck, wie hilflos das Menschenleben ist in den Verwicklungen und Nöten unter dem unbegreiflichen Walten der Götter, unter das sich der Mensch geduldig und demütig fügen muß. Aber Antigone kennt ein ungeschriebenes, ewiges Gesetz, dem sie auch gegen den Willen des Königs Kreon auf Gefahr ihres Lebens gehorcht. Sokrates (t 399) ist beseelt von ausgesprochenem sittlichen Pathos, das Gute zu tun ohne Rücksicht auf die Folgen, selbst wenn es der Tod wäre. Er will die oberflächlichen und genußsüch-

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tigen Menschen zum Nachdenken und zur sittlichen Vertiefung anregen. Es leitet ihn dabei sein Daimonion, ein instinktives, aber sicheres Gefühl für das Rechte und Zweckmäßige; es ist also nicht dem Gewissen gleichzusetzen, dem Warner wider das Böse. Des Sokrates eigenste Gedankenwelt spiegeln nicht die ihm in den Mund gelegten Spekulationen über die Unsterblichkeit der Seele und die Seelen­ wanderung (im Phaedon) wider, sondern die ruhige Gelassenheit im Angesicht des Todes, das sittliche Gottvertrauen und die klare Sicherheit im Wege des als göttlichen Auftrag erkannten Berufes (in der Apologie). Diese Reihe sittlicher Vertieser kommt zu ihrer Vollendung in Plato, dem tiefsten und reichsten Geist des alten Hellas (f347). Uber dieser Welt mit den der Vergänglichkeit unterworfenen Kreaturen liegt die höhere Welt der Ideen, der Urbilder, von denen die Dinge auf Erden nur schwache und unvollkommene Abbilder sind. Die höchste Idee ist die des Guten und damit Gottes. „Gott kann, da er gut ist, nicht die Ursache von allem, auch dem Bösen sein. Gott ist immer derselbe, wahr in Wort und Tat. Es ist schwer, den Ursprung und den Vater des Alls zu entdecken, und hat man ihn entdeckt, so ist es unmöglich, ihn allen anderen zu offenbaren." Aus Religiosität übt deshalb Plato Kritik an den Göttermythen; es kann und soll den Göttern nichts angedichtet werden, was ihrer unwürdig wäre. Die Seelenwanderung als ein Prozeß der Läuterung und des Aufstiegs ist dem Philosophen sehr sympathisch. Bei allen diesen Dichtern und Denkern finden wir ernste Religiosität; sie suchen den spröden überlieferten Stoff der Volksvorstellungen, der Kultgebräuche und der üppig wuchernden Mythen mit religiösen und ethischen Gedanken zu durchdringen, also der Volksreligion den Dienst einer guten Theologie zu leisten. Sie waren nur in beschränktem Maße erfolgreich. Einmal war der griechische Geist viel zu reich und vielgestaltig, um sich auf bestimmte religiöse Anschauungs­ kreise festzulegen. Sodann lauerten im Hintergründe die religiös unassimilierbaren -Gedanken eines über den Göttern stehenden Schicksals, einer ehernen Not­ wendigkeit des Weltgeschehens, ohne daß diese alle echte Religiosität abtötenden -Gedanken wie in Babylonien mit einer asttalmythologischen Weltanschauung verbunden wären; aber die Tyche, die Moira, die Aisa, die Heimarmene und wie die dunklen Namen von den blinden Schicksalsgewalten heißen, durchtteuzten doch immer wieder den Gedanken der sittlichen Weltordnung und ließen ihn nicht rein und ungehemmt zur Herrschaft gelangen. Dazu bildeten der schönheitsfrohe Götter­ dienst in den Tempeln, die Meisterwerke der Kunst, die vollendeten Götter.gestalten eines Phidias und Praxiteles und noch mehr die minderschönen, aber realistisch wirksameren Kulte der alten Götter in Stadt und Land ein zu starkes -Gegengewicht gegen die poetischen oder philosophischen Verfeinerungen und Idealisierungen. Die Hellenen empfanden zu sehr die Götter als Geist von ihrem -Geist und — Fleisch von ihrem Fleisch, um sich auf die Dauer und gleichmäßig von dem Gottesgedanken sittlich über sich hinaufheben zu lassen. h) Darum geht neben diesen Bestrebungen zur Vertiefung und Reinigung der religiösen Vorstellungen eine erst verwunderte, dann ironische, dann beißend satirische Kritik an den Göttern her, und weiter neben ihr das Bemühen, eine von dem Mythos und der Volksreligion unabhängige Wissenschaft zu gründen. Gewiß haben die Hellenen darin einen ungeheuren und für die Kultur der Menschheit unentbehrlichen Fortschritt vollbracht, daß sie wissenschaftliche Prin-

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zipien zur Aufhellung der Naturvorgänge aufstellten. Es zeigte sich darin die eigentümliche Kraft des griechischen Geistes, sich liebend in die sie umgebende Um­ welt zu versenken und ihren Lebensgesetzen nachzuspüren, anstatt wie die indischen Denker in der einseitigen Richtung auf die etwa hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen sich offenbarende Einheit des Alls den Sinn für die Wirklichkeiten und Verschiedenheiten dieser Welt zu verlieren. Aber für die griechische Religiosität war diese Richtung auf exakte naturwissenschaftliche Forschung verhängnisvoll; sie wirkte zersetzend und abkühlend. Schon der Lyriker Theognis dichtet: „Lieber Zeus, ich wundere mich über dich. Denn du herrschest über alle; dein ist die Ehre und große Macht, du kennst wohl Sinn und Gemüt eines jeden Menschen, und dein ist die höchste Gewalt über alles, o König. Wie gewinnt da dein Sinn es über sich, frevelnde Männer gleichzuachten den Gerechten, ob nun ihr Sinn zur Mäßigung erzogen ist, oder zum Übermut bei Männern, die zu ungerechtem Handeln sich verleiten lassen?" Der etwas jüngere Xenophanes von Kolophon grübelt: „Die Sterblichen meinen, die Götter würden geboren und hätten wie sie Kleidung, Stimme und Gestalt. Aber wenn die Rinder, die Pferde und die Löwen Hände hätten, oder mit ihren Händen malen und Werke schaffen könnten wie die Menschen, so würden die Pferde pferdeähnliche, die Rinder rinderähnliche Göttergestalten malen und Körper bilden von solcher Gestalt, wie sie selbst hätten." Seine Kritik richtet sich indessen nur gegen die Gottesvorstellungen, nicht gegen die Gottes­ idee. Davon urteilt er vielmehr: „Ein einziger Gott ist, unter Göttern und Men­ schen der größte, weder an äußerer Gestalt den Menschen gleich noch in seinem Denken. Darum ist es gut, zur Ehre der Götter zu singen und sie um Kraft zu bitten, das Rechte zu tun." Kritischer ist Heraklit der Dunkle (um 500). Er sagt, die Götter seien unsterbliche Menschen, die Menschen sterbliche Götter. Statuen anzubeten sei so töricht wie mit Wänden zu sprechen. Sich durch das Blut der Opfer reinigen zu wollen, heiße sich mit Schmutz waschen. Aus solchen vieldeutigen Worten spricht mindestens eine kühle Zurückhaltung den Göttern und dem Gottes­ dienst gegenüber. Allein dann kam die griechische Aufklärung, eingeleitet durch Männer wie den Arzt Hippokrates und den Naturforscher Demokrit, den Erfinder der Atomenlehre (beide geb. 460). Sie erkannten, daß die Sonne eine glühende Masse von Eisen oder von Stein sei, daß Regen und Donner nicht von den Göttern gesandt werden, sondern sich nach Naturgesetzen entwickeln. Gab es jenseits des Naturprozesses überhaupt Götter? Hatte nicht vielleicht Euhemerus von Messene recht, der (um 240) lehrte, die Götter seien nur vergöttlichte Menschen oder Natur­ erscheinungen oder Himmelskörper? Damit setzte ein kritisches und rationales Studium ein, welches die Götter und die Göttergeschichten durch Allegorien oder Etymologien aufzulösen begann. Die Griechen waren doch eben stark intellektualistisch veranlagt, und viele setzten ihren Witz und Scharfsinn daran, sich an den Göttern und den Göttergeschichten zu reiben. Nun erwies sich das buntfarbige mythologische Kleid des alten Götterglaubens eher als ein Hindernis wahrer Frömmigkeit; für die einen, wie für den Römer Ovid, werden die Mythen zu lustigen Fabeln, andere, wie Lukian, gossen darüber die giftige Lauge ihrer beißenden Satire nus. Da den Gebildeten die Göttersagen nicht mehr einen festen Rückhalt ihres Reimann (Richter), Geschichtswerl.

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Lebens gewährten, schuf man sich Surrogate durch philosophische Systeme. Allein während die Religionen doch eben den großen Vorzug haben, daß sie geistiges Eigentum ganzer Völker sind, blieben diese Philosophien sozusagen Geheimlehren kleiner Literatenkreise, und bei dem Sprühen des hellenischen Geistes wechselten sie oder wandelten sie sich mit großer Leichtigkeit. Drei philosophische Richtungen wetteiferten in den letzten Jahrhunderten vor und den ersten nach Jesus Christus um Ansehen und Einfluß. Weitaus die edelste und angesehenste war die Stoa, geführt von Männern wie Zeno (f 270 v. Chr.), Kleanthes (f 220 v. Chr.), dem tugendstolzen Seneca (f 65 nach Chr.), dem frommen lahmen phrygischen Sklaven Epiktet, in dessen ärmlichem Körper eine erhabene Seele wohnte (t 125 n. Chr.), und dem Kaiser Marc Aurel (f 180 n. Chr.). Diese Richtung vertrat die Gesetzmäßigkeit des Naturverlaufes. Hinter der Natur aber stehe in erhabener Ruhe die absolute, durch unser Denken unerreichbare Gottheit. Gott sei der Zeuge unseres Tuns; unser Leben solle vor Gott wie ein aufgeschlagenes Buch sein; des Menschen Ehre sei es, dem Willen Gottes vollkommen untertan zu sein. Das geschehe, indem man sich harmonisch in die Natur einpasse und ihr folge. Dem wechselnden Weltgeschehen mit seinem vorübergehenden Regen, Sturm und Sonnenschein aber müsse man sittlichen Gleichmut oder Heldenmut entgegensetzen. Suchte diese Richtung gegenüber einer in Leichtsinn und Zuchtlosigkeit entartenden Gesellschaft sittliches Rückgrat und Eisen im Blut zu schaffen, so diente die Richtung Epikurs wenigstens in praxi viel mehr dazu, die in üppigem Wohlstand schwelgenden oberen Volksschichten in selbstgenugsamem Genießen zu bekräftigen. Die Götter haben zwar die Welt geschaffen und eingerichtet; seitdem haben sie sich aber von ihr zurückgezogen und sie ihrer Gesetzmäßigkeit überlassen; sie leben in seliger Ruhe. Mcht um von ihnen etwas zu verlangen, sondern zur eigenen Veredelung sei ihre Verehrung zu empfehlen. Das ist eine religiöse Richtung für die Aristokratie mit der Losung: „Ich hasse den gemeinen Pöbel". Noch verheerender wirkte der frivole Spott der Zyniker wie Antisthenes (f 370 v. Chr.) und Diogenes (f 325 v. Chr.), die in ihrer Selbstgenügsamkeit auch der Götter nicht zu bedürfen meinten. i) Während so teils der geistreiche Rationalismus die buntfarbige, alte Götter­ welt zerzauste, teils die verschiedenen philosophischen Richtungen Surrogate be­ schafften, zog bereits eine neue Ära des religiösen Lebens herauf. Seitdem Ale­ xander der Große sein Weltreich begründet und in ihm Orient und Okzident zu einer Einheit verschmolzen hatte, fand ein von Menschenalter zu Menschenalter größeres Ausmaß annehmender Austausch geistiger Güter zwischen Hellas und dem Orient statt. Hellas führte seine höhere Geisteskullur, seine Poesie und Philosophie, seine Baukunst und Städtegründungen nach dem Orient; es bezog von da nicht nur die begehrten Handels- und Luxusartikel, sondern auch eine Menge religiösen Geheimgutes. Vom Osten her strömte der Sternenglaube und die dahinterliegende Weltanschauung der Entsprechung von Himmel und Erde, im Zusam­ menhang damit mancherlei Zauber, Wahrsagung, Traumdeutung u. a. ein. Der geistige und religiöse Austausch nahm noch viel größeren Umfang an, als die Römer ihr Weltreich aufgerichtet hatten und nun mit der ihnen eigenen Staatskunst die weit auseinander liegenden und auseinander strebenden Teile des Reiches zu einer Kustureinheit zusammenzufügen bestrebt waren. Nun unternahmen die

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orientalischen Religionen geradezu einen Siegeszug in die Mittelmeerwelt Griechen­ lands und Roms. Nicht daß die Götter Griechenlands abgesetzt oder vergessen wären. Aber neben ihren alteingebürgerten Kulten kamen neue Formen der Gottes­ verehrung auf. Und es war merkwürdig, daß die aus dem Orient eingeführten Religionen einmal vielfach religiöse Gestalten und Formen in den Vordergrund schoben, welche in der alten Heimat kaum beherrschend im Vordergrund gestanden hatten, und daß die neuen Religionen mit Vorliebe den eigentümlichen Stempel von Mysterienkulten oder -vereinen annahmen, der ihnen in ihrer Heimat fremd gewesen war. Die Wandlungen sind am wunderlichsten im Mithraskult. Mithras war gewiß einer der uralten indopersischen Volksgötter gewesen; ob Mond- oder Sonnengott, läßt sich kaum entscheiden. In der iranischen Religion Zarathustras war er früh unter den Jazatas, sozusagen den Erzengeln zweiten Grades, wieder aufgetaucht, ohne im Mittelpunkt der religiösen Verehrung zu stehen. Vom zweiten nachchristlichen Jahrhundert an begann er seinen Sieges­ zug durch die griechisch-römische Welt und rang ein Jahrhundert lang mit dem Christentum um die Vorrangstellung als Weltreligion. Er gewann also in dieser späten Zeit auf anderem Boden eine so überragende Bedeutung, wie er nie in seinen Heimatländern, in Iran oder Indien, besessen hatte. Es scheint, daß in den orientalischen Mysterienkulten gewisse religiöse Grundbedürfnisse der Griechen um Befriedigung rangen: das spezifisch hellenische Verlangen nach Unsterblichkeit durch Überwindung des Todesschicksals, die Vereinigung oder Verschmelzung mit der Gottheit durch die Kultmahlzeit, durch Taufen oder andere sakramentale Handlungen, die Erwartung eines Welterlösers, eines Soter, der die aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung bringen wird; dazu die tief im Wesen der Religiosität liegende Neigung, durch Übersteigerung wirklicher oder vermeint­ licher religiöser Zustände in Trance oder Ekstase sich zur Gottheit auszuschwingen und das religiöse Erlebnis mit dem Zauber des Geheimnisvollen zu umgeben. Es machte nicht so sehr viel aus, ob diese Bedürfnisse in der Form der ägyptischen Jsis-Osiris-Serapis-Mysterien oder der phrygischen Kybele-Attis-Mysterien oder der syrischen Adonis- oder der iranischen Mithrasmysterien Befriedigung suchten. Nur die Kultusformen waren verschieden. Und selbst dabei hielten sich die Gebete und Hymnen oft auf einer so luftigen Höhe, daß sie mit geringen Änderungen an jeden der Mysteriengötter gerichtet werden konnten. k) Nun raffte sich noch einmal der griechische Geist in der ausgehenden Antike zu einer Weltanschauung größeren Stils aus, zum Neuplatonismus eines Ammonius Sakkas, Plotinus, Porphyrins, Jamblichus, einer Hypatia und anderer Hellenen des dritten, vierten und fünften nachchristlichen Jahrhunderts. Diese Philosophie suchte das philosophische Erbe der klassischen Vergangenheit und der nachfolgenden Jahrhunderte, Religion und Frömmigkeit der Volksmassen und der Mysterienvereine und die aus dem Orient zugeflossenen Weltanschauungs­ elemente zu einer Einheit zusammenzufassen: Der Urgrund der Welt ist das Absolute, das „Nichtseiende", das in abgrundtiefer Verborgenheit unnahbar thront. Von ihm ist ein sich allmählich vergröbernder Emanationsprozeß geistiger Potenzen ausge­ gangen, der schließlich in dieser Welt materialisiert ist. Das gibt also eine Hierarchie von Geistwesen, Nus, Logoi, Vernunftwesen, Götter, Seelen, die wie auf einer Stufenleiter von der unendlichen Gottheit, dem reinen Geist, bis zur Materie her6*

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untersteigen — einer der vielen vergeblichen Versuche, zu einer monistischen Welt­ anschauung des Geistes dadurch zu kommen, daß man annimmt, der Geist habe sich in einem absteigenden Vergröberungsprozeß materialisiert. Damit ist die Erlösungsauf­ gabe gegeben: der Geist muß sich aus den Banden der Materie befreien. Dazu die­ nen philosophisches Nachdenken, Askese, mystische Meditation und andere Übungen. Das Höchste aber ist, daß man sich in mystischer Ekstase zur beseligenden Anschauung der strahlenden Gottheit erhebt; freilich kann man diesen erhabenen Geistesschwung nicht erzwingen oder erarbeiten. Er fällt dem demütig Harrenden wie ein Gnaden­ geschenk der Gottheit zu. Im Lichte dieses mystisch-ekstatischen Monismus müssen vermöge einer wildwuchernden allegorischen Auslegung oder Umdeutung die Göttermythen interpretiert werden; die Epen Homers werden auf Grund solcher Allegorie geradezu zu kanonischen Büchern dieser Philosophie. Es ist lehrreich, daß griechisches Philosophieren und griechische Frömmigkeit nach einem Ent­ wicklungsgänge von mehr als einem Jahrtausend trotz der griechischen Weltoffen­ heit und Diesseitigkeit bei einer Philosophie des geistigen Monismus anlangte: der Geist das eine, einzige Weltprinzip, und die Aufgabe des Menschen, dieser reinen Geistigkeit gewiß zu werden. Auf ganz anderen Wegen gelangt also die griechische religiöse Philosophie oder philosophische Religion annähernd zu dem gleichen Ziele des All-einen wie die indische Vedantalehre. Es ist ein eigentümlich reiches und mannigfaltiges Bild, das uns die griechische Religion in ihrer mehr als ein Jahrtausend umfassenden Entwicklung gezeigt hat. Wir denken gern daran, daß es vielfach die Religiosität gewesen ist, welche den griechischen Geist zu seinen genialsten Schöpfungen begeistert hat: Die Religion hat die llassischen griechischen Bausttle, den dorischen, ionischen und korinthischen, geschaffen; an Göttertempeln sind sie zu ihrer höchsten Vollendung gekommen. Die Religion hat die Bildhauer zu den vollendetsten Marmorstatuen der Götter begeistert; der olympische Zeus, die Athene des Parthenon, die Venus von Milo, der Apollo von Belvedere gehören zu den schönsten und erhabensten Gebilden von Menschenhand. Die Religion, speziell die dionysischen Mysterien, haben den Anlaß zu den Tragödien eines Äschylus, Sopholles und Euripides geboten. Und doch scheiden wir von der griechischen Religion mit einem Gefühl der Enttäuschung. Sie hat ihrem Volke den höchsten Dienst zu leisten nicht verstanden, ihm in einem erhabenen Gottesgedanken für sein Denken und für sein sittliches Handeln ein festes Rückgrat, im Sturme der Zeiten einen festen Halt zu geben. Die Götter Griechenlands sind allzu menschlich geworden, aber eben deswegen die Griechen allzu wenig göttlich. Es wäre eine lohnende Aufgabe, nachzuweisen, ein wie großes geistiges Erbe die griechische Religion ihrer Nachfolgerin, der christlichen Kirche, hinterlassen hat. Jedenfalls wird man verstehen, wie das aus dem verachteten, kulturarmen Barbarenlande Palästina stammende Christentum in einem schnellen Siegesläufe von kaum einem Vierteljahrtausend sie über den Haufen rennen und beseitigen konnte. Das Christentum brachte, was die griechische Religion entbehrte: einen großen, Haren, heiligen Gottesgedanken, eine feste Sittlichkeit und sittliche Lebensordnung und eine geschlossene religiöse Gemeinschaft mit dem engen Bande der Bruderliebe und dem weltweiten Horizonte des Reiches Gottes. II. Haben wir uns mit der griechischen Religion eingehender befaßt, so können wir die römische um so kürzer erledigen. Sie ist ein merkwürdiger Beweis, wie

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wenig das Römertum auf dem Gebiete des höheren Geisteslebens schöpferisch tätig war. a) Wir teilen die römische Religionsgeschichte in vier Abschnitte; der erste läuft bis zum Ende der Königszeit, also bis Tarquinius Superbus (534—510). Damals waren die Gottesvorstellungen noch einfach und formlos; die Götter waren wenig individualisiert; Mythen, Tempel und Götterbilder waren noch kaum vorhanden. Die drei Hauptgötter, zu einer Dreiheit zusammengefaßt, waren Juppiter, Mars und Quirinus. Juppiter fließt mehr oder weniger mit dem Himmel zusammen; als Juppiter über ist er der Spender des Reichtums, als Juppiter fulgur läßt er blitzen, als Juppiter feretrius trifft er mit seinem Donner­ keil, als Juppiter elicius läßt er sich um Regen erbitten, als Juppiter fidius wacht er über der Vertragstreue. In allen Fällen hat er auffallend wenige persönliche oder individuelle Züge. Der Lieblingsgott der Römer war Mars, später besonders verehrt als der Stammvater des Julischen Kaiserhauses. Quirinus ist schon ftüh wieder verschollen. Von anderen Göttern treten besonders die hervor, welche mit dem Hause und der Familie zu tun haben: Janus, der Gott der Haustür, janua, dann der Eröffner des Monats (der Kalenden) und des Jahres (Januarius); und Vesta, die Göttin des häuslichen Herdes. Die Volksgemeinschaft galt als eine große Familie, der König als ihr Hauspriester im Tempel der Vesta; da dort das heilige Herdfeuer gehütet wird, wie in jeder Wohnstatt, bewahren es sechs Vesta­ linnen, und da dem Feuer wie in so vielen anderen Religionen die Kraft der Reinigung zukommt, müssen es reine Jungfrauen sein. Eine dritte, besonders zahlreiche Gruppe von Gottheiten oder Genien sind die Pfleger aller einzelnen Obliegenheiten des häuslichen Lebens und des Ackerbaues als der Hauptbeschäf­ tigung: da bewacht ein Sterculinus das Düngen, ein Veruactor die erste, der Reparator die zweite, der Jmparcitor die dritte Pflügung; der Jnsitor die Aus­ saat, der Obarator die übliche Überpflügung der Saat, der Occator die Eggung, der Sartor die Jätung des Unkrautes, die Seia schützt die eben ausgehende Saat, die Segesta den wachsenden Halm, die Nodotus den Knotenansatz, die Bolutina die Knospenbildung, die Flora die Blüte usw. Ebenso zahlreiche Genien Pflegen alle einzelnen Obliegenheiten von der Geburt bis zum Tode. Andere Gottheiten sind kaum mehr als Abstraktionen, wie Fides, Concordia, Prudentia usw. Den Göttern wurden nach einem peinlich genauen Ritual die Opfer dargebracht; die „Jndigitamenta", die Opferformulare und Götteranrufungen, bildeten ein wich­ tiges Stück der religiösen Überlieferung; die strenge Förmlichkeit des alten Römertums kam darin zum Ausdruck. Eigene Genossenschaften, sog. Sodalitia, hatten von Staats wegen bestimmte Teile dieser religiösen Obliegenheiten zu verrichten, so die drei Flamines, die Arvales (Flurbrüder), die Salü (kriegerischen Tänzer) und die Pontifices (die Oberaufseher des Opferkultus). Im ganzen war es eine schlichte, strenge religiöse Übung, die nicht gerade tiefen geistigen Gehalt verriet und auch das religiöse Gemüt nicht sonderlich anregte; es war ein unentbehrliches Stück der feststehenden Lebensform in Staat, Familie und Ackerbau. b)Die zweite Periode, vom Ende der Königsherrschaft bis zum Ende des zweiten punischen Krieges 204 v. Chr., ist die Periode, in welcher sich der römische Stadt­ staat zum italischen Landstaat entwickelte und seine gesellschaftlichen und recht­ lichen Formen ausgestaltete. Charakteristisch dafür war die Ausgestaltung des Kultus des Juppiter optimus maximus als der Verkörperung der römischen Welt-

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Herrschaft in einem prächtigen Tempel auf dem Kapitol. Daneben machten sich bereits die Spuren der Ausländerei in der religiösen Übung geltend. Am auf­ fallendsten waren die sibyllinischen Bücher. Vom delphischen Orakel her hatten sich in vielen Städten des hellenischen Kultur- und Kolonisationskreises Apollo­ orakel gebildet, die durch Sibyllen als Prophetinnen ihre Wahrsprüche gaben. Ein berühmtes derartiges Orakel befand sich in Cumae in Unteritalien. Die dortige Sibylle hatte dem letzten römischen Könige eine umfangreiche Samm­ lung ihrer Wahrsprüche angeboten, die sog. Sibyllinischen Bücher; der König hatte nur widerstrebend einen Rest davon gekauft, nachdem die Sibylle den größeren Teil davon verbrannt hatte. Diese Bücher wurden als Heiligtum in den Kellern des kapitolinischen Tempels bewahrt und bei drohenden Gefahren be­ fragt. Es handelte sich in ihnen nicht um Zukunftsweissaguugen, sondern um Abwehrmaßregeln bei Gefahren oder außerordentlichen Naturereignissen. Die Befragung dieser geheimnisvollen Bücher gehörte fortan zur regelmäßigen Übung des römischen Volkes in Notzeiten. Ein derartiges Orakel forderte im Jahre 204, daß angesichts der drohenden Gefahr der panischen Heere Hannibals die Magna mater aus dem phrygischen Pessinus nach Rom eingeladen und überführt werde. Repräsentant der Gottheit war ein schwarzer Meteorstein, der mit großer Feier­ lichkeit nach Rom eingeholt wurde. Mit ihm kam der fremdartige Kult der großen phrygischen Göttin; ihre Priester, die Archigalli, die sich entmannt hatten, feierten unter rauschender Musik in den Straßen Roms ihre aufregenden Feste und Umzüge. Es war das erste Beispiel einer offiziellen Verpflanzung eines fremden und fremdartigen Kultes in die römische Hauptstadt.

c) Gerade diese Entwicklung wurde nun für die folgende dritte Periode, vom Ende des zweiten Panischen Krieges bis zum Ende der Republik, charakteristisch. Das nicht gerade reiche religiöse Erbe Roms wurde geradezu überwuchert durch das bunte, viel­ gestaltige, mythenreiche Pantheon Griechenlands. Die „einheimischen Götter" (di indigites) mußten es sich gefallen lassen, daß neben ihnen „neuangesiedelte Götter" (di novensides oder consentes) Heimatrecht bekamen. Am einfachsten geschah das dadurch, daß die griechischen Götter mit lateinischen, die ihnen einigermaßen ent­ sprachen, identifiziert und damit auf diese einfach ihre Kulte, Attribute und Mythen übertragen wurden; und diese Götter wurden dann in schematischer Weise zu Ehepaaren zusammengefügt: Zeus wurde mit Juppiter, Hera mit Juno identifiziert, und damit das Götterpaar Juppiter-Juno gebildet. Poseidon wurde mit Neptunus, Athene mit Minerva identifiziert, und damit das Götterpaar Neptun-Minerva gebildet. Ares wurde mit Mars, Aphrodite mit Venus identifiziert, und damit das Götterpaar Mars-Venus gebildet. Apollo wurde neu übernommen, neben ihm Hestia mit Vesta identifi­ ziert, und so das Götterpaar Apollo-Vesta gebildet. Hermes wurde mit Mercurius, Demeter mit Ceres identifiziert, und so das Götterpaar Mercur-Ceres gebildet.

Es liegt auf der Hand, daß bei diesem Prozesse die alten römischen Götter etwas ganz anderes wurden, als sie in der Vorzeit gewesen waren; sie zogen ebenso

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griechisches Gewand und griechische Kultusformen an, wie die „gebildeten" Römer vergriechten. Es siedelte nun aber nicht nur das griechische Pantheon nach Rom über, sondern gleichzeitig alle die Religionskritik und Satire, die rationalisierende Umdeutung des Euhemerus, die philosophischen Schulen und ihre Religions­ surrogate. Und da der Glaube abnahm, der Unglaube als vornehm galt, so wucherte in der Stille der bunteste Aberglaube, Traumdeuterei, Astrologie, Haruspizien, Vogelschau usw. d) Die Kaiserzeit, die vierte Periode, begann mit einem großen Versuche, die alte Religion zu restaurieren, ebenso wie man auf anderen Lebensgebieten die Lebensordnungen und Tugenden des alten Rom neu zu beleben suchte. Die alten Götter kamen wieder zu Ehren, die alten Riten wurden möglichst genau wieder hergestellt, die alten Sodalitia wieder eingerichtet. Daneben fuhr die Einführung fremden Religionsgutes fort, nur holte man es jetzt nicht mehr aus Griechenland; das hatte man bereits gründlich ausgeplündert; es bot auch nicht Nervenkitzel genug für die alternde römische Gesellschaft. Wieviel geheimnisvoller und prunkender traten dagegen die orientalischen Mysterienreligionen auf! Einer nach dem andern von diesen Mysteriengöttern, Attis, Isis-Osiris, Mithras u. a. erhielten sie ihren Tempel in Rom und wurden damit offiziell anerkannt. Aber der eigentlich charakteristische Zug dieses ausgehenden Römertums lag weder in der künstlichen Restauration noch in der Einführung der Mysterienkulte, sondern in dem Kaiserkulte. Zuerst wird er wohl im Orient gewuchert haben, wo ohnehin von alters her Neigung bestand, die Fürsten mit göttlichem Range zu umgeben. Sagen wir es genauer: nach der Lehre der Entsprechung von Himmel und Erde war der oberste Gott im Himmel der Herr, aber ebenso der König als sein Reprä­ sentant auf Erden; und da man das eigene Land als Inbegriff des Kosmos, als Gegenbild der Himmelswelt ansah, flössen wie von selbst dem Herrscher göttliche Ehren zu. Mit dieser Weltherrscheridee verknüpfte sich um die große Zeitenwende die Welterlösererwartung; durfte man ihn nicht in einem Kaiser wie Augustus sehen, der nach einem Jahrhundert voll Bürgerkriege und Ver­ wüstung der Welt den ersehnten Frieden und allen Ländern einen unerhörten Aufschwung von Wohlstand und Verkehr gebracht hatte? Indem die römische Reli­ gion beide orientalischen Ideen übernahm, verknüpfte sie sie mit der echtrömischen Idee der Reichseinheit, die ehedem ihr Symbol in dem Tempel des Juppiter optimus maximus auf dem Kapitol gehabt hatte. War nicht in dem die bekannte Erde umspannenden Weltreiche das Gegenbild des Reiches im Himmel gegeben? war nicht der Kaiser die Verkörperung der obersten Herrschergewalt? Es machte nicht soviel aus, ob die Verehrung dem Genius des lebenden oder den Manen des verstorbenen Kaisers dargebracht wurde, oder ob eine gröbere, massivere Zeit ohne Vorbehalt den Kaiser selbst als Gottheit verehrte. Jedenfalls wurde der Kaiserkult das Schibbolet des Kaiserreiches, und es wurde um so krampfhafter an ihm festgehalten, je mehr seine Fundamente durch Wirren im Innern und Feinde von außen untergraben wurden. Es war fast tragisch, daß gerade an diesem Punkte die absterbende römische Religion in einen leidenschaftlich bewegten Kampf gegen das Christentum verstrickt wurde. Dieses brachte ein anderes Himmelreich auf Erden und einen anderen König des Reiches, und die Christen lehnten es selbst in höchster Todesgefahr ab, dem Kaiser die Anbetung zu gewähren, die

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allein ihrem himmlischen König Jesus Christus gebühre. Es war aber die Folge dieser Zuspitzung des tragischen Konfliktes, daß in dem Augenblick, wo das Christen­ tum endgültig den Sieg davontrug, der römischen Staatsreligion der Todesstoß versetzt wurde. Sie hatte sich dadurch zu stützen gesucht, daß sie sich mit dem Staate identifizierte; sie wurde deshalb in dem Augenblick abgeschafft, wo dieser Staat christlich wurde. III. Die griechische und römische Religion hatten sich bereits in Zersetzung und Auflösung befunden, als das Christentum über sie kam. Die germanischen Religionen befanden sich anscheinend noch in ihrer Jugendfrische; man möchte sie etwa mit dem Entwicklungsstadium der griechischen Religion im homerischen, der indischen Religion im vedischen Zeitalter vergleichen. Leider ist unsere Kenntnis von ihnen unzureichend. Wohl wissen wir, daß die Germanen in drei große Gruppen zerfielen, die Südgermanen (Friesen, Marsen, Alemannen, Sueven, Jngaevonen und Jstaevonen), die Westgermanen (Angelsachsen) und die Nord­ germanen (Schweden, Dänen, Norweger, Isländer). Allein nur von den Nord­ germanen haben wir, und zwar auch nur von ihrem isländischen Zweige durch die beiden Eddas, die Saemundar Edda und die Snorre Edda, ausführliche Kunde von ihrem religiösen Besitze, ihren Kulten und Mythen. Im übrigen haben wir viele Bruchstücke, welche man nur mit Zuhilfenahme von viel Phantasie zu einem einheitlichen Bilde zusammenfügen kann. Den Typus der germanischen Reli­ gionen machen wir uns vielleicht am besten klar, wenn wir sie mit der homerischen Religion vergleichen und uns den Abstand des sonnigen, glück­ lichen Klimas, Landes und Lebens von dem wilden Kampf ums Dasein in Sturm und Wetter, Sumpf und Urwald, Felsenwüsten und Wogengebraus in den rauhen Nordländern vergegenwärtigen und dazu nehmen, daß diese wilde Natur ungebändigten Trotz, in die Feme hinaus strebenden Tatendrang, Männer von Stahl und Herzen voll goldiger Treue und zarter Minne hervorgebracht hat. Es ist schwer zu sagen, wie sich die echte, tiefe Religiosität der Germanen mit dem Adel ihrer Charaktere und der Wildheit der sie umgebenden Natur zu einer Einheit verschmolzen hat und sich in den Göttern und den Mythen wieder­ spiegelt. Zwei Grundanschauungen scheinen wie ein roter Faden die ganze germa­ nische Religionswelt zu durchziehen; sie berühren sich mit animistischen Manaund Sippensolidaritäts-Vorstellungen, wie wir sie bei den primitiven Völkern fanden, nur daß sie hier veredelt und vertieft sind. Die Germanen haben ein tiefes Gefühl von der Lebenskraft, welche im Sippenverbande beschlossen ist. Der König oder Häuptling trägt sie in gesteigertem Maß und soll sie für das Wohlergehen seines Volkes, für die Fruchtbarkeit des Feldes und den Sieg im Kampfe wirksam werden lassen. Sie ruht in Sonderheit in dem Abzeichen seiner Würde. Wenn er mit dem Armring, Schwert und Speer ausgestattet ist, fließt ihm dadurch höhere Einsicht und Kraft zu. Die Abzeichen wirken auch für sich, wenn sie der König mit seinem Heere in den Krieg sendet. Ein Ver­ brechen eines Stammesgliedes belastet alle Sippengenossen; auf ihnen allen lastet der Fluch, solange es ungesühnt bleibt, und die Blutrache der geschädigten Sippe richtet sich nicht sowohl gegen den Übeltäter als gegen dessen Sippe. Die geheimnisvolle Kraft des Segens und des Fluches wird durch das gesprochene

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Wort wirksam, das des sterbenden Vaters für seine Kinder, das des Königs für sein Volk. Sie ist eine auf Geschlechter hinaus wirksame Macht. Mit der Über­ tragung eines Besitztums, also etwa dem Verkauf eines Ackers oder dem Geschenk eines Schwertes gibt man einen Teil seiner Seele in andere Hände, man wird das in feierlichen Formen tun und dem Empfänger die Geschichte der Gabe erzählen. Die Sippe weiht beim Opfer durch gemeinsames Gelübde den bevor­ stehenden Kriegszug oder die neue Aussaat, die eben geschlossene Ehe oder das neugeborene Kind durch den Segensspruch beim Rundtrunk. Die Trinkgelage haben also religiösen Wert und sind deshalb auch in der christlichen Zeit fast unverändert fortgesetzt. Neben solchen Zügen, die dem Wandel der Zeiten trotzen, ist allem An­ schein nach die germanische Religion durch tiefgreifende Veränderungen gegangen. Es hat wohl eine Zeit gegeben, in welcher das Göttliche und die Götter kaum individuell gesondert waren, die Götter also keine Eigennamen besaßen oder diese leicht tauschten, so daß bei verschiedenen Stämmen und zu verschiedenen Zeiten dieselben Götter verschieden bezeichnet wurden. Vor allem hat die Wikingerzeit (vom siebenten bis zehnten Jahrhundert) den Charakter der nordischen Völker nachhaltig umgestaltet, und damit auch ihrer Götterwelt, dem getreuen Wider­ schein des Volkslebens, ihren Stempel aufgedrückt. Damals kamen die urgerma­ nischen ethischen Grundbegriffe von „Glück" und „Ehre" zur vollen Entfaltung: „Glück" ist die in der Gemeinschaft des Lebens begründete Einheit der Sippe, die sich im Aussehen, der Ähnlichkeit, den Gewohnheiten, den Vorurteilen zu erkennen gibt: die gleichen Erinnerungen, der gleiche Stolz, die gleichen Ziele. „Ehre" ist die Erhaltung dieses gemeinsamen Erbes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Beide sind zu erhalten und zu mehren, indem man in frischem Tatendrange sein Leben einsetzt. Man zieht mit kühnem Wagemute in die Welt hinaus; man entdeckt und erobert neue Länder; man gewinnt Ehre und Reich­ tum, oder man geht im Heldenkampfe unter. Gerade aus dieser Zeit der Hochspannung haben wir bei den nordischen Völkern die umfangreichsten literarischen Urkunden. Es ist ganz wohl möglich, daß vieles, was uns die beiden Eddas berichten, eben nur der konkreten Aus­ prägung dieser Wikingerzeit angehört. Wir haben aus anderen germanischen Gebieten zu wenig konkrete Aufzeichnungen, um dies farbenprächtige nordische Bild zu berichtigen. Wir geben deshalb die nachfolgende Skizze mit dem Vor­ behalt, daß nicht überall und nicht zu allen Zeiten die germanische Religion diese hellen Farben getragen habe. Überall in der Welt, in Sonnenschein und Sturm, in Feld und Wald, in Fels und Meer, sieht das fromme Germanenauge Geister, Elfen, Nixen, Zwerge, Kobolde, Jdisi („kluge" Frauen), Tomte (in Schweden), Huldinnen, aber auch Unholdinnen, Hexen und Waldweiber. Über diesem kleinen Geistergeschlecht erheben sich auf der einen Seite die wilden, rohen Riesen, die Jötune und Thursen, in welchen die ungebändigten Naturgewalten leben; sie sind die Feinde des von der Kultur erschlossenen und gesittet gemachten Landes und Lebens. Auf der anderen Seite stehen zwei lichte Göttergeschlechter, die Manen und die Äsen, ohne daß man ihr Verhältnis genau abgrenzen kann; die Äsen aber stehen im Vorder­ gründe. Sie sind die großen Götter der Lebenden. Drei Äsen bilden die typische

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Die Religionen der Völker.

Dreiheit der obersten Götter: Thu oder Tyr, der Kriegsgott fast aller Germanen­ stämme, da sie alle von Haus aus kampfesfroh waren. Die römischen Schriftsteller identifizieren ihn mit Mars, des Mars Tag (Mardi) ist deshalb Dienstag (Tuesday) geworden. Neben ihm steht Thor oder Donar, der plumpe, gutmütige Haupt­ gott der Ackerbauer, der mit Donner und Blitz Regen und Wachstum gibt. Er schützt aber auch vor Krankheiten, er ist voll Güte und Gerechtigkeit; mit seinem Hammer weiht er die Ehe und sichert die Grenzen des Eigentums. Es ist will­ kürlich, wenn die Kombination der lateinischen Schriftsteller ihn mit Juppiter zusammengestellt hat, von dessen Art er wenig hat. Demnach gehört ihm Juppiters Tag (Jeudi) als Donnerstag. Der dritte, wohl der jüngste, ist Odin oder Wotan, der Wütende, Rasende, der Gott der Stürme, besonders der Winterstürme; Wotans wildes Heer, die Geister der in der Schlacht Gefallenen, rasen mit ihm in finsterer Nacht durch die Wälder und Berge; er beherrscht die wütende Schlacht, seine Waffe ist der Speer, seine heiligen Tiere sind die Raben, die krächzend über den Leichen der Erschlagenen aus dem Schlachtfeld kreisen. Er reitet auf seinem schnellen, achtbeinigen Roß Sleipnir. Die tapferen Krieger aber, welche auf der Walstatt gefallen sind, holen die Walküren nach Walhalla, Wotans Herrscher­ saal, wo sie alle Tage Met trinken und Schweinefleisch essen, aber auch alle Tage sich blutig schlagen, um sich dann wieder friedlich zu vertragen. Dadurch wird Wotan auch der Gott der Toten bzw. ihrer Geister. Er ist aber auch der Gott der Runen und damit der Weisheit, des Wissens von Vergangenheit und Zu­ kunft. Von dem Jötun Mimir hat er aus dessen Brunnen die Weisheit getrunken und dafür sein eines Auge zum Pfand gegeben. Nebenbei ist er so liebeshungrig wie der griechische Zeus, und seine Liebschaften und die Eifersucht seines Weibes bilden ein beliebtes Thema der Mythen. Die Römer haben ihn merkwürdigerweise mit Mercurius identifiziert, der Mittwoch (Mercredi) ist deshalb sein Tag — Wednesday. Neben diesen drei Göttern tauchen viele andere mehr in Mythen auf: Frey (Frö), der schwedische Gott der Fruchtbarkeit, der darum auch mit einem besonders großen Symbol der Zeugungskraft dargestellt wird, der lichte Baldur, der böse Loki, der blinde Hödur. Von Göttinnen treten nur zwei etwas deutlicher hervor, Frigga oder Frya, die Gemahlin Wotans oder Odins, und Nerthus, die Göttin der Früh­ lingsfruchtbarkeit der Erde. Tacitus schreibt darüber: „Viele Germanenstämme glauben, daß sich Nerthus in menschliche Angelegenheiten mische und auf einem Wagen unter den Völkern umherfahre. Auf einer Insel des Ozeans befindet sich ein heiliger Hain und in ihr ein geweihter Wagen, der mit einem Tuche bedeckt ist. Ihn zu berühren ist nur dem Priester gestattet. Dieser weiß, wenn die Göttin im Heiligtum gegenwärtig ist, und von Kühen gezogen, geleitet er sie mit großer Ehrfurcht. Dann gibt es frohe Tage, überall Feste, wohin die Göttin kommt und gastlichen Empfangs gewürdigt wird. Dann gibt es keinen Krieg, nicht greift man zu den Waffen; alles Eisen bleibt verschlossen, Friede und Ruhe herrscht dann bis derselbe Priester die Göttin in ihr Heiligtum zurückführt, nachdem sie genügende Zeit unter den Menschen geweilt hat. Darauf werden der Wagen, die Tücher und, wenn man es glauben will, die Gottheit selbst in einem geheimen See gewaschen. Sllaven verrichten die Arbeit, die sogleich derselbe See verschlingt" (d. h. sie werden im See ertränkt). Tacitus, Germania, Kap. 40.

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Der Opferdienst der Götter verlief in feierlichen festen Formen. Der Edeling Thorof hat Weib, Kind und Mannen auf Schiffe verladen, um nach Island auszuwandern. Er brach auch das Heiligtum (Hof) ab und nahm das meiste von dessen Gebälk mit sich und dazu noch Erde unter den Altarsteinen (stall), auf deren Thor seinen Sitz gehabt hatte. In Island angekommen, warf er die Hochsitzpfeiler über Bord und gelobte dort dem Thor ein neues Heiligtum zu bauen, wo er sie landen ließ. Das war in Hofsweg. Dort ließ er ein großes Heiligtum errichten, — ein sehr großes Haus mit Türen in den Seitenwänden an den Enden des Hauses. Drinnen standen die Hochsitzpfeiler; in sie waren die heiligen Nägel (regin-Nagler) eingeschlagen; da war eine große Friedstätte. Im Innersten war eine Klause, da stand ein stall (Altar) mitten auf dem Fuß­ boden. Darauf lag ein offener Ring, an Gewicht zwei Oere. Auf diesen Ring sollte jedweder Eid geschworen werden; und der Priester (gode) sollte ihn in jeder Volksversammlung an seinem Arme tragen. Fand ein großes Opfer (Blot) statt, so kamen die Bauern weit und breit zusammen; jeder brachte seinen Speise­ sack mit; denn die Feier dauerte wohl eine ganze Woche. Da wurde allerlei Kleinvieh, auch Pferde geschlachtet. Von dem Blute färbte man mit einem Wedel die Altäre (stall) und die Wände des Tempels (des Hofs) außen und innen rot und besprengte damit die Mauern. Das Fleisch ließ man zum Gast­ mahl kochen. Mitten im Tempel brannte ein Feuer, darüber ein Kessel. Becher trug man über das Feuer. Der das Opfermahl veranstaltete, segnete Becher und Opferspeise: den ersten Becher auf Odin für des Königs Macht und Sieg, den zweiten auf Njord (Nerthus?) und Frey für Jahressegen und Frieden, den dritten auf die Ahnen (minni = Andenken). Man opferte auch im vorderen Thing, wo sich die Mannen zum Rate versammelten. In diesem Kreise stand Thors Stein, über dem der Rücken der Männer gebrochen wurde, die geopfert werden sollten. Oder das Heiligtum war nur ein Steinhaufen, ein hörg, bei einem Felsen, in einem Haine oder unter einem weithin schattenden Baum. Die Opferfeste waren heilige Zeiten, in denen die Sippe sich mit göttlicher Kraft angefüllt glaubte. Glücklich waren die Helden, die im blutigen Kampfe auf der Walstatt gefallen waren. Die andern kamen zu Hel (Höhle) in sein trübes Schattenreich. Das lag im Schoße der Berge. Auch dort wurden die neuan­ kommenden Toten mit dem Lärm von Stimmen und Trinkhörnern von den Sippengenossen willkommen geheißen. Mer die Toten konnten etwa auch wieder zu den Lebenden kommen, ähnlich wie in Bürgers berühmter Ballade. König Helges Witwe Sigrun ist untröstlich über den Tod ihres Mannes. Er kommt in mitternächtlicher Stunde angeritten. Sigrun geht hinaus zu ihm: „Ich will den leblosen König küssen, ehe er die blutige Brünne ablegt. Dein Haar, Helge, ist schwer vom Reif, ganz ist der Rist mit Blutton bedeckt." „Du hast es dazu gebracht, Sigrun, daß Helge mit Blut bedeckt ist. Du weinst, du gold­ geschmückte, bittere Tränen; jede fällt blutig auf des Fürsten Brust." Sigrun macht ihm im Hügel ein Bett zurecht. „Hier habe ich dir, Helge, ein Bett be­ reitet, wo furchtlos du ruhen kannst. Hier will ich, Fürst, an deinem Busen schlafen, so wie ich's dem lebenden Könige tat." Helge muß im Morgengrauen wieder weg, ins Totenreich reiten. Sigrun folgt ihm vor Kummer und Schmerz bald im Tode nach.

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Die Religionen der Böller.

Die alten Germanen waren nachdenkliche Leute; sie machten sich über Welt­ anfang und Weltende tiefsinnige Gedanken*). Am Ende der Erde, wo das Meer aufhört, liegt ein ungeheurer Schlund, aus dem das Meer hervorsprudelt, Ginnungagap, „klaffende Gähnung". Nördlich davon ist es eisig kalt; da liegt Niflheim, die Nebelwelt. Hier liegt der Brunnen Hvergelmir, aus dem zwölf Eis­ ströme hervorquellen, die sich nach Ginnungagap ergießen. Im Süden des Schlun­ des liegt Muspellsheim, die Feuerwelt. Auch von hier entquellen Ströme, die brennendes Wasser mit sich führen; das sind die Elivagar. Als sich diese mit den Eisströmen mischten, da bildete sich der Reif, und aus diesem Zusammenwirken von Kälte und Wärme entstand das erste Wesen, der Riese Ymir. Als dieser schlief, geriet er in Schweiß, und bald wuchsen ihm unter dem Arme Mann und Weib, neue Riesen. Zugleich entstand auch aus dem schmelzenden Reife die Kuh Audhumla, aus deren Eutern Milchströme rannen, die den Riesen Nahrung gaben. Die Kuh selbst nährte sich von dem Salz der Reifsteine in Ginnungagap. Wie sie aber so die Steine beleckte, entstanden zwei Riesen, Bor und Bestla. Ihre Kinder waren Odin, Wili und We. Diese töteten den Urriesen Ymir und bauten aus seinem Leichnam die Erde auf. Soviel von der phantastischen Weltentstehung, die aber in anderen Relationen in anderen Farben schillert. Gewaltiger sind die Mythen von dem Weltuntergänge, dem Ragnarök oder der Götterdämmerung. Seit Thor durch sein Dreinschlagen die Verträge mit den Riesen zunichte gemacht hat, werden die Vorbereitungen zu dem großen Kampfe zwischen den Äsen und den Jötunen getroffen. Auf jener Seite stehen alle fin­ steren Mächte, auf dieser die Einherjer. Der Fenriswolf, der lautbrüllende Garm, zerreißt seine Fesseln, unter den Menschen herrschen Krieg und Unzucht, die Wellen­ berge steigen, die Weltesche Yggdrasil bebt. Da bläst Heimdall, der Wächter auf der Götterburg Asgard, ins Horn, während Odin mit dem Haupte des Riesen Mmir zu Rate geht. Es folgt ein Kampf aller gegen alle. Odin fällt im Kampfe gegen den Fenriswolf, wird aber gleich von seinem Sohne Widar gerächt. Thor und die Midgardschlange fallen beide in gegenseitigem Kampfe, Frey fällt durch das Schwert Surts. Alsdann wirft Surt den Feuerbrand in die Wohnung der Götter und vernichtet so diese. Nun versinkt die Erde in den Fluten. Aber sie taucht von neuem hervor, ein neuer Himmel und eine neue Erde; in einem gol­ denen Saale lebt ein neues Geschlecht. Es ist, wie wenn in diesem gewaltigen Gedichte vom Weltuntergänge der Untergang der germanischen Götterwelt unter dem Einzuge des Christentums durchklinge, zugleich aber mit dem hoffnungsvollen Ausblick auf eine neue, schönere Weltzeit. Aus der Voluspa, dem Liede vom Weltuntergang.

Gewaltig Garm vor der Gniphöhle bellt; die Fessel reißt, der Wolf ent­ rinnt. Ich kenne die Kunde, weit schau ich aus: der Götter gewaltiges Ragnarog (der Götter Schicksal). Brüder schlagen sich, bis beide fallen, Vettern vertilgen ihre Verwandtschaft; wüst ist die Welt, Ehebruch üben sie; keinen gibt's, der den andern schonet. Jetzt treiben ihr Spiel die Söhne Mims; es droht die Entscheidung, das *) Nach der Weissagung der Wolwa, Voluspa. Lehmann-Haas. a. a. O. S. 243 ff. Man lese diese gewaltige Dichtung.

Griechische, römische und germanische Religionen.

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alte Horn erdröhnt; laut in der Luft bläst Heimdall das Horn; es beben der Hölle Bewohner. Yggdrasil zittert, die standfeste Esche; es kracht der Urbaum, der Unhold ent­ läuft. Odin sucht Kunde vom Kopfe Mims, bis der Surt-Sohn ihn selbst verschlingt.

Gewaltig Garm vor der Gniphöhle bellt usw., wie oben. Jetzt kommt der gewaltige Sohn der Erde; Odins Sohn geht dem Drachen entgegen; wütend haut ihn des Midgards Wächter, — alle Leut' von der Heimat laufen. Der Ruhm gerettet! — doch Thor war des Todes; neun Schritte nur ging er vom Ungetiere. Schwarz wird die Sonne, das Land sinkt ins Meer; vom Himmel schwinden die hellen Sterne. Es rast der Rauch, es lodert die Lohe; die Hitze schlägt zum Himmel empor.

Gewaltig Garm vor der Gniphöhle bellt usw., wie oben.

Auf seh' ich steigen zum zweiten Mal das Land aus dem Meer, vom Grün belebt. Wasserfälle vom Felsen fallen; der Aar fliegt darüber, Fische zu fangen. Die Äsen sammeln sich auf dem Jdafelde, sprechen vom mächtigen Erd­ umschlinger, gedenken auch der gewaltigen Dinge und des großen Gottes uralten Runen....

Unbesäet wird der Acker tragen. Es weicht das Böse, Baldr kommt. Hod und Baldr werden wieder Odins Kampfhof errichten. Einen Saal seh ich stehen, heller als die Sonne, mit goldenem Dache, auf Gimleberg. Da soll ein Geschlecht der Gerechten wohnen und ewiglich Frieden und Glück genießen....

Odin prüft die Weisheit des Jotun Wafthrudnir. Odin sagte: Sag es zunächst, wenn dein Verstand es vermag, und du es, Wafthrudnir weißt: woher die Erde und der Himmel oben ursprünglich kamen, du kluger Jotun!

Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen, aus seinen Gebeinen die Berge; der Himmel aus dem Schädel des reifkalten Jotun und aus seinem Blute das Meer.

.... zum sechsten: Woher ursprüng­ lich Aurgelmir (der erste Jotun) mit den Jotunsöhnen, du kluger Jotun?

Aus Elli Wagar (Eismeer) sprühten Eitertropfen; das wuchs und wurde ein Jotun; daher kommen alle in unserm Stamm, drum sind wir ein grimmig Geschlecht.

.... zum siebenten: Wie kam er zu Kindern, der kecke Jotun, ohne einer Gyge (Weib) Gunst?

Unter den Armen, sagt man, des Reifthursen wuchsen Maid und Mann hervor; Fuß mit Fuß erzeugten dem Jotun einen sechsköpfigen Sohn.

.... zum elften: Auf welchem Platz die Männer Pflegen sich täglich zum Kampf zu treffen?

Alle Einherjer in Odins Hof treffen sich täglich zum Kampf; fordern und fällen einander, reiten vom Kampfe heim, sitzen hernach als Freunde zu­ sammen.

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Die Religionen der Völker.

.... Viel fuhr ich umher, vieles er­ fuhr ich; vielfach versucht ich die Schick­ salsmächte. Was lebt von den Menschen, wenn der Timbalwinter, der furchtbare, vorüber ist?

Lif (Leben) und Lifthrasir (Lebens­ drang) liegen in Hoddmin's Hain ver­ steckt; Morgentau essen die Menschen­ kinder; davon leben sie lange.

.... Welche Äsen walten des Erbes, wenn die Lohe Surts (der Feuerhölle) erlischt?

Widar und Mali im Götterhof walten, wenn Surts Lohe erlischt; Modi und Magni sollen Mjölnir (Thors Hammer) haben, wenn Wingnir (Thor) räumt das Feld.

.... Wer wird Odins Ende bereiten, wenn die Äsen untergehen?

Der Wolf (Fenrir) wird den Vater der Menschen verschlingen; ihn aber wird Widar rächen, zerspaltet die kalten Kiefer im Kampfe mit dem Wolf.

Die drei monotheistischen Religionen. Wie die verschiedenen indischen Religionen denn doch trotz tiefgreifender Unterschiede und oft schroffer Gegensätzlichkeit sozusagen als eine Religionsfamilie anzusehen sind, so auch die drei auf dem Boden der semitischen Völker gewach­ senen, monotheistischen Religionen, die israelitisch-jüdische, die christliche und die mohammedanische. Allerdings darf man die Vergleichung nicht zu weit treiben. Die indischen Religionen, auch der Buddhismus, haben sich in der Hauptsache auf ihrem indischen Mutterboden entfaltet und aus dieser mütterlichen Erde ihre Lebenskraft gezogen. Alle drei semitischen Religionen haben eine gebrochene Entwicklung gehabt. Das Judentum ist nach sieben Jahrhunderten grundlegender religiöser Entwicklung in Palästina seit der Zerstörung Jerusalems und der baby­ lonischen Gefangenschaft in die Weiten der Welt zerstreut. Und seit der zweiten Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. hat Palästina nur noch vorübergehend eine Rolle in seiner Geschichte gespielt. Das Christentum ist schon in dem ersten Menschenalter nach der Gründung der christlichen Kirche in die griechisch-römische Welt verpflanzt und hat seit dem Anfang des zweiten Jahrhunderts den Zusammen­ hang mit dem semitischen Mutterboden fast ganz verloren. Das Griechische ist seine maßgebende Kirchensprache und der Hellenismus seine Kulturatmosphäre geworden. Der Islam ist schon in dem Jahrzehnt nach Mohammeds Tode aus den arabischen Steppen in die vorderasiatische Kulturwelt eingetreten, und die radikalen, damit zusammenhängenden Wechsel treten dem oberflächlichen Beob­ achter nur deshalb nicht so deutlich in die Erscheinung, weil das Arabische seine Kirchensprache und der Träger seiner Kultur geblieben ist.

Man darf auch die drei Religionen nicht in der Weise nebeneinanderstellen, als seien nur sie die eigentlichen semitischen Religionen. Es hat neben ihnen sehr zahl­ reiche große und kleine semitische Religionen gegeben, die assyrisch-babylonische, die phönizische, die kanaanäische, die mandäische u. a.; sie tragen alle ein so ganz anders geartetes Gepräge, daß schon ein eindringendes Studium dazu gehört, um überhaupt eine Familienverwandtschaft der semitischen Religionen heraus­ zufinden. Auf der anderen Seite sind die drei Religionen nicht die einzigen mono-

Die drei monotheistischen Religionen.

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theistischen; es hat teils monotheistische Religionsgründungen, teils mehr oder weniger ausgeprägte monotheistische Richtungen bei sehr verschiedenen Völkern und auf dem Boden sehr verschiedener Religionen gegeben. Und in den drei monotheistischen Religionen haben sich in älterer und in neuerer Zeit unter ver­ schiedenen Namen und Formen polytheistische Richtungen geltend gemacht, so daß es jedenfalls mit großer Vorsicht aufzunehmen ist, wenn Ernst Renan den semi­ tischen Religionen die Neigung zum Monotheismus als das eigentlich entscheidende Merkmal zuspricht. Noch einem Vorurteil müssen wir gleich eingangs entgegentreten, das sich leicht aus der Art unserer Nebeneinanderstellung von Judentum, Christentum und Islam ergeben könnte: als sähen wir sie gleichsam in einer Linie. Gewiß wußte sich auch Mohammed als einen von Gott inspirierten Propheten, und es ist eine törichte Kurzsichtigkeit, ihn kurzerhand als den falschen Propheten abtun zu wollen. Und doch sind wir überzeugt, daß die eigentliche Gottesoffenbarung, die Heilsgeschichte Gottes mit der Menschheit von Moses über die Propheten zu Jesus Christus ver­ läuft, und daß wir als Christen berechtigt sind, in die Apostellosung einzu­ stimmen: Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben zur Seligkeit. Aber wir schreiben hier keine theologische Abhandlung und kein Erbauungsbuch, sondern wir studieren, wie und was die Religionen geworden sind, und was sie ihren Völkern und der Menschheit geleistet haben. Und da kann kein Zweifel sein, daß der Islam seine stärksten religiösen Impulse und seinen wertvollsten religiösen Inhalt aus dem Judentum und Christentum überkommen, also ihnen gegenüber als Tochterreligion einzuschätzen ist.

A. Die israelitisch-jüdische Religion. Wir haben auf der einen Seite die sieben Jahrhunderte der Religionsentwicklung vor der Babylonischen Gefangenschaft von den sieben Jahrhunderten nach ihr zu scheiden und bezeichnen die eine als israelitische, d.h. als die Religion des israelitischen Volkes und Staates, die andere als die jüdische, d. h. als die des nach der Gefangen­ schaft teils nach Palästina zurückkehrenden Restes, teils des in Babylonien verbliebenen Restes, teils der in der ganzen Welt zerstreuten Diaspora; jedenfalls handelte es sich damals nicht mehr um eine Nation, sondern um fine religiöse Gemeinschaft, eine Kirche. a) Der Anfangspunkt der israelitischen Religionsgeschichte ist Moses; er ist in demselben Sinne Religionsstifter wie Jesus Christus, Mohammed, Buddha oder Zarathustra. Das gilt nicht in dem Sinne, als hätte das werdende israelitische Volk vor ihm keine Religion gehabt, oder als sei der von ihm verkündigte Gott ein anderer Gott als der der Väter. Aber einmal hat er der israelitischen Religion den Gottesnamen Jahwe und die konkreten Züge gegeben, die mit diesem Gottesnamen zusammenhängen. Dadurch bekam Israel ebenso seinen Volksgott wie Assur und Babel, Moab und Edom ihre Nationalgötter hatten. Jahwe und sein Volk wuchsen zu einer Einheit zusammen. Vor allem aber beruhte das Gottes­ bewußtsein des Moses auf jener unmittelbaren, geheimnisvollen Erfahrung, die wir Offenbarung nennen. Die Propheten sind sich ihres grundlegenden Gottes­ erlebnisses als einer einzigartigen, ihr Leben umgestaltenden und sie mit allem ihren Denken und Wollen in seinen Dienst stellenden Erfahrung bewußt

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geworden. Es ist eine Torheit, solche religiösen Grunderlebnisse wie die des Moses am brennenden Busch oder des Paulus vor Damaskus rationalisieren zu wollen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob und wie weit wir sie „psycho­ logisch" erklären und zergliedern können, sondern ein grundsätzliches Entweder — Oder. Entweder handelt es sich um ein majestätisches Eingreifen Gottes in das Leben des Propheten, und diese Gottestat ist von entscheidender Bedeutung für den Propheten, sein Volk und die Menschheit. Oder es handelt sich um eine Verobjektivierung des heiligsten und tiefsten Seelengrundes in der Form einer Vision, einer Schauung, in welcher die Seele gleichsam über sich selbst hinaus­ gehoben wird und mehr wird und mehr gibt, als sie in gewöhnlichen Zeiten ahnt. Wir, die wir in der Geschichte der mosaischen und der christlichen Religion die Selbstoffenbarung Gottes zum Heil der Menschheit sehen, fällen das erste Urteil, wissen aber, daß es ein Glaubensurteil ist. Jedenfalls sind alle Versuche verkehrt, welche das grundlegende Gotteserlebnis des Moses teils aus seiner ägyptischen Bildung, teils aus einer von seinem Schwiegervater Jethro übernommenen Religion der sinaitischen Beduinen, der Midianiter oder Keniter, erklären wollen. Was dem Gotteserlebnis des Moses das entscheidende Gepräge gab, war ein fünffaches: Jahwe tat sich kund als der Gott der Väter, unter dessen gütiger Hut das Volk seit seiner Urzeit gelebt hatte. Jahwe ist der Heilsgott, dessen Name heißt barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte. Jahwe ist Israels Gott und Israel ist sein Volk; es besteht ein persönliches Verhältnis zwischen beiden, das am einfachsten unter dem Bilde eines Bundes vorgestellt wird. Jahwe ist der heilige Gott, der an sein Volk bestimmte sittliche und zeremonielle Forderungen richtet. Die Zehngebote als die Grundordnung des Bundesverhältnisses gehören sicher zu den ältesten Bestandteilen der £)ffen6aning§ietigion*1).2 3Und 4 5 * Jahwe 7 8 9 10 er­ rettet sein Volk aus dem Knechtshause Ägyptens und beweist mit dieser ersten, großen Erlösung, wieviel Heil Israel von seinem Gotte erwarten darf. Es ist in der alttestamentlichen Forschung seit einem Menschenalter heiß umstritten, wieviel von den fünf in unserer Bibel unter dem Namen des Moses gehenden Büchern auf Moses selbst zurückgeführt werden kann bzw. ob am Anfang der Geschichte Israels eine so ausführliche und großenteils erst auf die Zustände eines in geordneten Verhältnissen Ackerbau treibenden Volkes berechneten Gesetzgebung gestanden hat, wie sie die fünf Bücher Mosis enthalten. Wir lassen diese ge­ lehrte Frage auf sich beruhen; jedenfalls ist Moses in dem skizzierten Sinne der Prophet und Stifter der israelitischen Religion gewesen. *) Der ursprüngliche Wortlaut des Dekalogs mag etwa (nach Lttli, Geschichte des Volkes Israel) so gelautet haben: I. Tafel: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Agyptenland ausgeführt hat. 1. Habe keinen anderen Gott neben mir. 2. Mache dir kein Gottesbild. 3. Brauche den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht trügerisch. 4. Gedenke des Sabbattages, ihn zu heiligen. 5. Ehre deine Eltern. II. Tafel: 6. Morde nicht. 7. Brich die Ehe nicht. 8. Stiehl nicht. 9. Lege nicht falsch Zeugnis gegen deinen Nächsten ab. 10. Begehre nicht deines Nächsten Haus.

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b) Die sieben Jahrhunderte von Moses bis zur Babylonischen Gefangenschaft (von 1320 bis 586 v. Chr.) teilen wir vielleicht praktisch in drei Abschnitte: die Zeit des mühsamen Ringens um die nationale Existenz und die religiöse Eigenart bis zum Aufkommen des Königtums (1320—1000); die Zeit der gefestigten Königs­ herrschaft, aber der synkretistischen Gefahr (1000—750 v. Chr.); und die Zeit des politischen Untergangs und der älteren Propheten (750—586 v. Chr.). Jede Stifterreligion steht zunächst vor der großen Frage, ob die neue Religionsstiftung sich durchsetzt, ob der von dem Propheten verkündigte Gott wirklich in das Volks­ bewußtsein eindringt und in ihm die entscheidende religiöse Macht wird. Dieser Prozeß wurde abgesehen von dem anscheinend damals noch äußerst losen natio­ nalen und politischen Zusammenhalt Israels durch zwei Umstände erschwert: Die israelitischen Stämme mußten mühsam um die Besitzergreifung von Kanaan ringen; nach einem ersten sieghaften Anlauf zogen sich die Kämpfe durch Jahr­ hunderte hin. Teils behaupteten die noch im Lande wohnenden kanaanäischen Stämme ihren Besitz zähe gegenüber den unbequemen Eindringlingen; teils drängten die umwohnenden, beiseite geschobenen Völker immer wieder nach. Gewiß war es in dieser Zeit der Zerrissenheit und Drangsal, religiös angesehen, eine große Förde­ rung, daß Gott des Moses, Jahwe, sich grundlegend durch die Errettung seines Volkes aus dem Knechtshause Ägypten als der Wohltäter und Retter erwiesen hatte; gerade das verschaffte ihm Boden, daß Israel im Kampfe gegen seine Feinde immer wieder einen Erretter brauchte, und daß die „Richter" sich auf Jahwe be­ riefen, um drückende Feindesnot durch die zusammengeraffte Volkskraft abzu­ wehren. Nicht die erhabene religiöse Einsicht und nicht der hohe ethische Wert, die in dem Bekenntnis zu Jahwe beschlossen waren, verschafften ihm Boden, sondern seine Erlöserqualität, die sich immer in der größten Not von neuem be­ währte. Der andere hemmende Umstand war die kulturelle Überlegenheit der heidnischen, kanaanäischen Stämme, in deren Mitte bzw. an deren Stelle fortan Israel wohnte. Die israelitischen Stämme waren in Ägypten und noch mehr während der Zeit des Wüstenzuges Nomaden, Hirten gewesen. Jetzt bekamen sie zum Besitz ein Land, das überwiegend auf den Ackerbau eingestellt war, und zwar auf einen durch die klimatischen und die Bodenverhältnisse sehr erschwerten Ackerbau, der ein besonderes Maß von Einsicht erforderte. Die kanaanäischen Kulte waren wie fast alle semitischen in ihren Anfangszeiten lokal gebunden: der Baal (Besitzer), El (Gottheit), Sar (Herr) dieser Stadt, dieser Fruchtebene, dieser Quelle verlangte Verehrung, und von den ihm dargebrachten Opfern hing die Wohlfahrt der Stadt und die Fruchtbarkeit der Äcker ab; er weihte die Aus­ saat; ihm wurden die Erstlinge des Ernteertrages dargebracht; die Gottheiten, nicht die Menschen waren die ideellen Besitzer des Landes; sie hatten nur ihre getreuen Diener in ihre Geheimnisse gezogen. Ließen sich diese bodenständigen Götter so leichten Kaufes enteignen? Würden sie sich nicht durch allerlei Fluch rächen? Man braucht sich nur der bekannten religionsgeschichtlichen Erfahrung zu erinnern, wie immer die kulturärmeren Wilden von den kulturtragenden Urein­ wohnern assimiliert werden, wenn sie durch Völkerverschiebungen in deren Bereich verschlagen werden, so die Goten, die Langobarden, die Vandalen, die Burgunder in den alten römischen Kulturprovinzen. Wie konnte sich Israel gegen eine derartige Kanaanisierung seiner Religion behaupten? Reimann (Richter), Geschichtswerk.

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Einen besonders lebendigen Einblick in die religiöse Stimmung und Haltung der Frommen in Israel in dieser schwierigen Werde- und Übergangszeit gewährt uns wohl das um 1250 v. Chr. gedichtete Deboralied, in dem es heißt (Richt 5, 5—7): Höret zu, o Könige! Merket auf, ihr Fürsten! Ich will Jahwe, ich will singen, will spielen Jahwe, dem Gotte Israels!

Jahwe, als du auszogst aus Seir, einhertratest vom Gefilde Edoms her, da bebte die Erde, es troffen die Himmel, es troffen die Wolken von Wasser; Berge wankten vor Jahwe, dieser Sinai vor Jahwe, dem Gotte Israels.

In den Tagen Samgars, des Sohnes Anaths, in den Tagen Jaels feierten die Pfade, und die auf den Wegen gingen, gingen krumme Pfade. Es feierten die Bauern Israels, feierten, bis du aufstandest, Debora, aufstandest, eine Mutter in Israel!

c) Unter Saul, David und Salomo festigte sich ebenso der Staat, wie auch der nationale und religiöse Zusammenhalt. Israel war eine Nation geworden und Jahwe sein nationaler Gott. Daran änderte auch die leider sobald eintretende Spaltung des Keinen Völkchens in ein Nord- und Südreich, Israel und Juda, nicht viel. Wohl verehrte man Jahwe noch an verschiedenen Orten im Lande; aber daneben bestand doch wenigstens für Juda ein nationales Jahwe-Heiligtum in Jerusalem, und auch Israel erkannte die religiöse und politische Bedeutung einer derartigen Zentralisierung, wenn seine Könige in Dan und Bethel Kon­ kurrenzheiligtümer errichteten. Allein gerade die nationale und politische Erstar­ kung hatte andere Gefahren in ihrem Gefolge. Hatte Israel in Jahwe seinen Volksgott, wie die anderen Völker ihre Baale oder Ele oder Melechs, mußte sich dann die Verehrung Jahwes notwendig so ganz anders gestalten als die der Götter der Nachbarvölker? Dort gab es schön gemeißelte, mit Gold und Edelsteinen geschmückte Götterbilder; jeder Stadtgott hatte seine Gemahlin; von manchen Göttinnen, die den Naturverlauf des Absterbens im Herbste und des Wieder­ erwachens im Frühling darstellten, wußte man reizvolle Geschichten zu erzählen und rauschende Feste voll Ausgelassenheit und Ausschweifung zu feiern; Männer und noch mehr Frauen widmeten sich der Prostitution als einer besonderen Art des Gottesdienstes. In Stadt und Land gab es Massebas, Bamoth, Gilgal (Denk­ steine, Opferplätze, Steinrunden für religiöse Volksfeste). Sollte das alles in Israel mit seinem schlichten Jahwekult ohne Mythus, ohne Gemahlin, ohne Natur­ hintergrund, man möchte sagen, ohne bodenständige Haftung im Lande unmöglich sein? Zudem trat man mit den hochgebildeten Kulturvölkern im Osten und Westen, mit Assyrien, Babylonien und Ägypten in politische und wirtschaftliche Beziehung. Die assyrisch-babylonische Kultur hatte schon längst vor dem Einbruch der Israeliten in Kanaan das geistige Leben Vorderasiens beherrscht und hatte ihre astral-mytho­ logische Weltanschauung, ihren Sternenkult, ihre okkulten Künste überall hin verschleppt. Konnte sich der schlichte Jahwekult gegen diese mit dem Anspruch, der tieferen Einsicht auftretenden Strömungen behaupten?

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Wollen wir dieser religiösen Entwicklung in das Herz schauen, so lesen wir einerseits einige der schönen, innigen Psalmen, die wohl mit Recht David zugeschrieben werden, wie den 23. : „Der Herr ist mein Hirte", oder wir blicken auf das heldenhafte Ringen des Propheten Elias gegen den von Phönizien her nach Israel eingeführten Kult des Baal und der Astarte. Gewiß war jener Tag auf dem Karmel mit seinem erschütternden Erlebnis: Jahwe ist Gott, Jahwe ist Gott! ein Höhepunkt nationaler Glaubenserfahrung im Gegensatz zu dem ver­ führerischen Reiz der Fremdgötterei. d) Kanaan hatte in der alten Welt eine merkwürdige Doppelstellung. Auf der einen Seite war es durch Meere, Gebirge und Wüsten von den Nachbar­ ländern so abgeschlossen, daß es jahrhundertelang seine eigene Geschichte führen und seine religiöse Kultur ausbauen konnte. Aus der anderen Seite lag es auf dem Wege der imperialistischen Expansion aller großen Völker der alten Welt und wurde in den Wirbel ihrer Geschichte hineingezogen, sobald diese Weltreiche aufbauten. Wenn Ägypten sich über seine natürlichen Grenzen hinaus ausdehnte, richteten sich seine begehrlichen Augen auf Kanaan und Syrien. Für Assyrien und Babylonien, Persien, Griechenland und Rom war nacheinander Ägypten ein wich­ tiges Glied in der Reihe der unterworfenen Provinzen, und Kanaan lag auf der Hochstraße ihrer erobernden Heere. Seit dem Anfang des achten vorchristlichen Jahr­ hunderts begann jene imperialistische Expansion der vorderasiatischen Herrenvölker, die dann mit geringen Unterbrechungen dreiviertel Jahrtausend angehalten und über fast alle Länder Vorderasiens unsäglich viel Leid gebracht, aber auch für sie eine neue Zeit heraufgeführt hat. In diesem gewaltigen Strudel sind die kleinen Reiche Israel und Juda zerrieben und untergegangen, wie so viele andere Völker auch. Und doch ist da ein bemerkenswerter Unterschied. Assyrien und Babylonien, das Hettiterreich und Lydien, Elam und Medien, Phönizien und Philistaea, Moab und Edom und viele andere Völker gingen in jenen wüsten Zeiten so völlig unter, daß sie auf Jahrtausende verschollen waren. Jsrael-Juda ging zwar als politisches Gemeinwesen unter, aber das israelitische Volk überlebte nicht nur diese entsetzlichen Stürme, sondern es erarbeitete sogar in diesen schlimmen Jahrhunderten die Ewigkeitswerte der monotheistischen Religion, die nicht nur ihm selbst ewiges Leben eingehaucht, sondern auch der Menschheit religiöse Güter von höchstem Werte vermittelt haben. Die Träger dieser religiösen Erweckungs­ und Aufstiegbewegung waren die Propheten; eine lange Reihe gottbegeisterter Männer, welche in einer wildbewegten Zeit, vom Meere der Volksleidenschaften und von den Heereszügen der Weltvölker umbrandet, wie Felsen feststanden und die Botschaft von Jahwe und seinen Gerichts- und Heilsabsichten mit Israel und der Menschheit vertraten. Es ist ein verhältnismäßig enger Gedankenkreis, in welchem sich ihre Predigt bewegt. Zunächst wissen sie auf das bestimmteste, daß sie nicht aus sich selbst reden, sondern daß sie von Jahwe berufen sind, daß Jahwe ihnen seine Botschaft in den Mund legt, und daß sie nur reden dürfen, wenn das Wort Jahwes oder die „Last" aus sie gekommen ist. Der Mittelpunkt ihrer Botschaft ist Jahwe selber. Israels Nationalgott ist zum Weltengott herangewachsen. Von seiner Majestät wird in grandiosen Bildern gezeugt und gesungen. Wohl ist Israel sein auserwähltes Volk, sein Augapfel; aber Jahwe hat auch die Geschicke aller anderen Völker in seiner allmächtigen Hand; sogar die mächtigen Herrenvölker sind nur 7»

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die ausführenden Organe seines Heilswillens mit der Menschheit. Jahwe nun hat mit Israel einen Bund gemacht, welcher das auserwählte Volk verpflichtet, entsprechend seinem heiligen Willen zu leben. Und wie sehr ist Israel von dieser eingegangenen Verpflichtung abgewichen! Gleichsam die Kehrseite des starken Gottesbewußtseins ist ein nicht minder lebhaftes sittliches Bewußtsein, das sich besonders gegen die Machthaber und Reichen, ihre Gewalttat und Ungerech­ tigkeit, ihre Üppigkeit und Unterdrückung der Armen, der Witwen und Waisen richtet. Wenn sie einen kostspieligen Gottesdienst mit einer Menge von Opfern eingerichtet haben, er ist Jahwe ein Greuel, denn er sieht die Herzen an. Amos 5, 20—24: Ja! Finsternis ist der Tag Jahwes und nicht Licht, dunkel und glanzlos! Ich hasse, ich verachte eure Feste und kann nicht erriechen eure Festversammlungen. Wenn ihr mir Brandopfer und eure Gaben darbringt, so nehme ich's nicht gnädig auf, und wenn ihr mir ein Heilsopfer von euren Mastkälbern herrichtet, so sehe ich nicht hin. Hinweg von mir mit dem Geplärre deiner Lieder; das Rauschen deiner Harfen mag ich nicht hören! Möge vielmehr Recht sprudeln wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nimmer versiegender Bach!

Jesaja 1,10-17: Höret das Wort Jahwes, ihr Sodomgebieter! Vernimm die Lehre unseres Gottes, du Go­ morrhavolk ! Was soll ich mit der Menge eurer Schlachtopfer? spricht Jahwe. Ich bin satt der Widderbrandopfer und des Fettes der Mastkälber, und an dem Blute von Farren, Lämmern Und Böcken habe ich kein Gefallen. Wenn ihr hereinkommt, um vor mir zu erscheinen — Wer hat das von euch verlangt, meine Vorhöfe zu zertreten? Bringt nicht mehr unnütze Gaben dar — ein greulicher Brand sind sie mir! Neumonde und Sabbate, Versammlungen Berufen — ich halte es nicht aus: Unrecht und zugleich Festfeier! Eure Neumonde und Feste mag ich nicht; sie sind mir zur Last geworden, ich bin's müde zu tragen. Und wenn ihr eure Hände, Ihr eure Hände ausbreitet, so verhülle ich meine Augen vor euch, und wenn ihr noch so viel Betet, so höre ich euch nicht. Eure Hände sind voll Blutschuld! Waschet, reiniget euch! Schafft mir eure bösen Taten aus den Augen! Hört auf, Böses zu tun! Lernet Gutes tun! Trachtet nach Recht! Bringt die Gewalttätigen zurecht! Verschafft den Waisen ihr Recht! Führt die Sache der Witwen! Micha 6, 6—8: „Womit soll ich vor Jahwe treten, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich etwa mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? Gefallen Jahwe etwa Tausende von Böcken, unzählige Bäche Ols? Soll ich ihm etwa meinen Erstgeborenen als Sühne für mich geben, meine Leibesfrucht als Buße für mein Leben?" Er hat dir «gesagt, o Mensch, was frommt! Und was fordert Jahwe von dir Außer Recht zu tun, dich der Liebe zu befleißigen und demütig zu wandeln vor deinem Gott?

Jer. 7, 21—23: So spricht Jahwe der Heerscharen, der Gott Israels: Fügt nur eure Brandopfer zu euren Schlachtopfern und esset ihr Fleisch! Denn ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten wegführte, nichts gesagt und nichts geboten in betreff von Brandopfern und Schlachtopfern, sondern das habe ich ihnen anbefohlen: Gehorcht meinen Befehlen, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein, und wandelt auf dem Wege, den ich euch verordnen werde, auf daß es euch wohlgehe!

Wie diese vier Propheten, so vertreten auch die andern den religiösen und sitt­ lichen Ernst der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Um der Ungerechtigkeit des Volkes

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willen kommt alles Unheil über sie; Gott kann gar nicht anders handeln, als sie in seinem gerechten Zorn zu strafen und sie in die Hände ihrer Feinde zu geben. Aber er verwirft sie deswegen nicht. Und nun ist es, als stimmten die Propheten ihre Harfen auf einen anderen Schlüssel, als suchten sie nun nach den lieblichsten und lockendsten Tönen, um die suchende, erbarmende Gnade und Barmherzigkeit Jahwes zu rühmen. Hos. 2,16 ff.: Darum will ich fürwahr sie locken und in die Wüste führen und ihr Mut einsprechen. Und ich gebe ihr dort ihre Weinberge und mache ihr das Tal der Trübsal zu einer Pforte der Hoffnung, daß sie dort willfährig werde, wie in der Zeit ihrer Jugend und wie damals, als sie aus Ägypten heraufzog. An jenem Tage, ist der Spruch Jahwes, wirst du mich „mein Mann", aber nicht mehr „mein Baal" nennen.

Dann wlll ich die Namen der Baale aus ihrem Munde verschwinden lassen, daß sie nicht mehr mit ihrem Namen genannt werden sollen. Jenes Tages will ich zu ihren Gunsten eine Verfügung treffen gegenüber den wilden Tieren und den Vögeln unter dem Himmel und dem Gewürm auf der Erde und will Bogen und Schwerter und Krieg aus dem Lande hin­ wegtilgen und will sie sicher wohnen lassen. Und ich werde dich mir verloben auf immer; ich werde dich mir verloben auf der Grundlage von Recht und Gerechtigkeit und in Güte und Liebe; ich werde dich mir verloben auf Treue, daß du Jahwe erkennest! Zu jener Zeit aber werde ich willfahren, ist der Spruch Jahwes, werde ich willfahren dem Himmel und der wird der Erde willfahren, Und die Erde wird dem Getreide und dem Most und dem Ol willfahren und die werden Jesreel willfahren; Und ich will „ihn" mir in das Land einsäen und der „Nichtgeliebt" Liebe erweisen und zu „Nichtmeinvolk" sagen: Mein Volk bist du! und dieses wird rufen: Mein Gott!

Wenn jene Heilszeit kommt, dann wird sich Gottes Gnade zu allererst darin beweisen, daß er Israel von innen heraus neu schafft und ihm eine Gesinnung gibt, die seiner Gerechtigkeit entspricht: Hes. 36, 26, 27: Und ich werde euch ein neues Herz verleihen und einen neuen Geist in euer Inneres legen und werde das steinerne Herz aus eurem Leibe entfernen und euch ein fleischernes Herz verleihen. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres legen und schaffen, daß ihr nach meinen Satzungen wandelt und meine Ordnungen beobachtet und danach tut. Jer. 31, 33. 34: Vielmehr darin soll der Bund bestehen, den ich nach dieser Zeit mit dem Hause Israel schließen will — ist der Spruch Jahwes: Ich lege mein Gesetz in ihr Inneres und schreibe es ihnen ins Herz, und so will ich ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein! Fürderhin sollen sie nicht mehr einer den anderen oder ein Bruder den anderen also belehren: Erkennet Jahwe! Denn sie werden mich allesamt erkennen vom Kleinsten bis zum Größten — ist der Spruch Jahwes —, denn ich wlll ihnen ihre Verschuldung vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken!

In jener großen Heilszeit aber wird Jahwe die ganze Welt neugestalten, so daß alle Sünde und Ungerechtigkeit, Not und Tod, Wüsten und Meere beseitigt sind und die ganze Erde wie ein Paradies der Herrlichkeit Jahwes voll wird; und der persönliche Träger und Bringer dieser Heilszeit wird der Gesalbte des Herm, der heilige Davidsohn sein, der das Reich der Gottesgerechtigkeit auf Erden aufrichtet.

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e) Jsrael-Juda waren als Reich und Volk untergegangen. Nur zerbrochene Reste von ihm bauten sich teils in Palästina neu an, teils gründeten sie am Euphrat und Tigris neue Heimstätten, teils zerstreuten sie sich als ein Händler- und Makler­ geschlecht über die ganze Erde. Damit brach eine neue Zeit an; die Zeit des Juden­ tums. Wir überschauen die siebenhundert Jahre vom Babylonischen Exil 586 v. Chr. bis zur Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. mit einem Blick. Was waren die her­ vorstechendsten Züge? Zunächst daß das jüdische Volk in eine Lebensgemein­ schaft, in einen Austausch mit den großen Herrenvölkern mit ihren mächtigen Religionen und imponierenden Kulturen eintrat. Man kann zwei Perioden dieses religiösen Synkretismus scheiden: die persische von 539 bis zur Zeit Alexanders des Großen und seitdem bis in das erste christliche Jahrhundert hinein die hellenistische. Für die erste sind charakteristisch der Ausbau der himmlischen Engel-Hierarchie, die Anschauung von der leiblichen Auferstehung der Toten, die konkrete Ausprägung von Himmel und Hölle, die phantastische Aus­ malung der großen Kämpfe, welche dem Siege des Reiches Gottes voraufgehen, in einer immer mächtiger anschwellenden eschatologisch-apokalyptischen Literatur; für die andere braucht man nur an die griechische Bibelübersetzung der Septua­ ginta und an Philo von Alexandrien zu erinnern. Aber das Judentum ging keineswegs im Synkretismus unter. Es entwickelte ein durchaus eigenartiges religiöses Leben. Besonders hervortretende Entwicklungen sind einmal die liebe­ volle Ausgestaltung des Tempelkultes in dem Nationalheiligtum in Jerusalem, in Verbindung damit eine reiche, religiös bewegte Psalmenpoesie für den Gebrauch in diesem Tempeldienst und der Ausbau der kultischen Ord­ nungen im Priesterkodex, dem letzten großen Beitrag zu der „mosaischen" Gesetz­ gebung; ferner nach dem Erlahmen des prophetischen Geistes gleichsam als deren Epigonen und geistesarmen Nachtreter die Ausgestaltung eines Standes von Schriftgelehrten. Ein solcher Stand wird sich in der einen oder anderen Form immer da bilden, wo eine heilige Offenbarungsurkunde den eigentlichen Schatz einer Volksreligion bildet, an deren Studium deshalb die besten Geister ihre Kraft setzen. Endlich entstanden damals die Richtungen oder Spaltungen oder Sekten­ bildungen im jüdischen Volk, die Pharisäer, Sadduzäer, Essener u. a. Und neben diesen das öffentliche Leben beherrschenden Richtungen gab es kleine Kreise der Stillen im Lande, welche auf den „Trost Israels" warteten. f) Das Judentum seit 70 n. Chr. In zwei großen und langhingezogenen Kriegen, dem Unabhängigkeitskriege 63—70 und dem Aufstande Bar Kochbas 132—5, brach das jüdische Volk zusammen. Jerusalem wurde wiederholt zerstört, der nationale Bestand des Volkes vernichtet. Seitdem hat das jüdische Volk als eine kleine, fremdrassige und fremdgläubige Minorität unter den verschiedensten Gastvölkern leben müssen Es ist bewundernswert und in der Weltgeschichte einzig­ artig, daß die Juden in dieser langen Zeit ihre nationale und religiöse Eigenart zähe behauptet haben. Manchmal lächelte ihnen die Gunst ihres Herrenvolkes, niemals mehr als in Westeuropa und Nordamerika seit den Tagen der Auf­ klärung, des Liberalismus und der Demokratie. Solche Zeiten eines behaglichen Reichtums und gesicherter Lebenshaltung waren für ihr inneres Leben und die Eigenart ihrer Kultur gefährlicher als die viel häufigeren Zeiten der Verfolgung, der Unterdrückung, ja selbst der antisemitischen Pogrome. Zumal das Mittelalter

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mit seiner kirchlichen Gebundenheit war dem Judentum überall ungastlich, aller­ dings auf dem Boden des Christentums noch mehr als auf dem des Islam. Neben diesem Wechsel von Sonnenschein und Sturm ging ein anderer, nicht minder charakteristischer Wechsel her, der von Jahrhunderten, in welchen das Judentum sich spröde in sein Eigenleben zurückzog und sich von der umgebenden Kultur abschloß. Das waren allerdings meist Zeiten des geistigen Rückgangs und der kulturellen Verarmung. Ihnen folgten Zeiten, in welchen sich das Judentum geradezu mit Leidenschaft in den Strom der zeitgenössischen Kultur­ bewegung hineinwarf. Es ist bedeutsam, daß fast in jeder der großen Kultur­ wellen, welche mit dem Anfang unserer Zeitrechnung über die orientalisch­ abendländische Welt gingen, Juden zu den bedeutendsten und charakteristischen Vertretern gehören. Die große geistige Begabung der Rasse kommt darin zum Ausdruck. Zunächst schloß das Judentum in jahrhundertelanger Arbeit durch den Patriarchen Juda die Mifchra und etwa gleichzeitig die Tosefta ab (um 200 n. Chr.), die kanonische und außerkanonische Überlieferung, die solange nur mündlich in den Schulen der Schriftgelehrten fortgepflanzt war. Dann wurde diese abstruse Wissenschaft des Gesetzes in dem palästinensischen und dem babylo­ nischen Talmud (400—500) kodifiziert, das war fortan die Grundlage der jüdischen Schriftgelehrsamkeit. Waren das eigenartige Leistungen des niedergebrochenen, in sich selbst zurückgezogenen Judentums nach den furchtbaren Krisen, so nahm bald das Judentum Teil an dem geistigen Leben, das in dem jungen Jflam pulsierte. Die liberale Schule der Mutazila fand ihr Gegenbild in der von Anan ben David begründeten Schule der Karaiten, die sich um ein ein­ facheres Schriftverständnis bemühten und das selbständige Forschen in der Schrift auch den Laien zur Pflicht machten. Ein bedeutender Vertreter dieser Richtung, der in beständiger Auseinandersetzung mit den moflemischen Theologen lehrte, war Saadia (f 942), dessen Buch „Glaube und Dogma" und seine vor­ zügliche arabische Übersetzung großer Teile des Men Testaments bedeutenden Einfluß ausübten. Als in den folgenden Jahrhunderten im Jflam der Neu­ platonismus eine religiöse Verinnerlichung, eine philosophische Vertiefung und eine mystische Richtung annahm, entsprach dem im Judentum das vielgelesene religiöse Erbauungsbuch Bahja ibn Pakudas' „Pflichten des inneren Menschen" und Salomon ibn Gabriels (Avicebrons) (f 1058) Fons vitae, ein wesentlich neuplatonisches philosophisches System. Als diese Richtung durch den allmählich besser bekannt gewordenen Aristotelismus abgelöst wurde, gewann das Judentum in Moses ben Maimun (Maimonides, f 1194) einen bedeutenden und originalen Philosophen. Als in den folgenden Jahrhunderten der Widerspruch gegen diese philosophische Sublimierung des Judentums einsetzte (wie gleichzeitig im Islam), erstarkte die mystisch-magische Richtung der Kabbala („Überlieferung"), die im Zohar, einem aus den verschiedensten Quellen zusammengeflossenem Sammelwerk, ihren Kanan fand. In jenen Jahrhunderten, an der Grenze des Mittelalters und der Neuzeit, traten besonders häufig Messiasaspiranten auf, vielleicht der bekannteste unter ihnen Shabbatai Zebi (um 1666). Inzwischen hatte sich das höhere Geistesleben des Judentums aus der Verbindung mit dem Jflam gelöst und war in eine innige Verbindung und geistigen Austausch mit den Strömungen der christlichen Länder getreten. Das erste Anzeichen war die mystisch-pietistische

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Richtung der Chassidim des Baal Schein (f 1760), ein schwärmerischer Pantheismus mit starkem magisch-theurgischen Einschlag, der auf dem Boden der russischen Frömmigkeit gedieh. Philosophisch tiefer war das pantheistische System des Amsterdamer Juden Baruch Spinoza (f 1677), der aber ebenso wie 16 Jahr­ hunderte ftüher sein Gegenbild Philo mehr auf die christliche als auf die jüdische Welt Einfluß gewonnen hat. Mit Moses Mendelssohn (f 1786) ging das in das westeuropäische Abendland verpflanzte Judentum mit Hingabe auf die Aufklärung und den Liberalismus, zunächst des Deutschlands Lessings und der friderizianischen Zeit ein. Es ist seitdem als Reform-Judentum eine der stärksten geistigen Strömungen geblieben, hat allerdings auch viel zur nationalen und religiösen Zer­ setzung beigetragen. Seit dem Aufkommen entschieden nationalistischer Bewegungen in allen europäischen Ländern haben auch diese im Zionismus ihr Gegenbild gefunden, Theodor Herzls „Judenstaat" 1904 war das Programm der Richtung, welche sich seitdem unablässig, wenn auch vergeblich, um die Begründung eines nationalen Judenstaates in Palästina bemüht. Neben allen diesen sich der Kultur­ bewegung ihrer Umwelt anpassenden Bewegungen hat es aber zu allen Zeiten ein orthodoxes und reaktionäres Judentum gegeben, das mit Zähigkeit, ja mit Fanatismus an den im Talmud kodifizierten gesetzlichen Überlieferungen festhält und das ganze Leben danach gestalten will. Die ständige Spannung zwischen Reaktion und Fortschritt, zwischen Gesetzestreue und Modernismus hat das Judentum trotz aller Kämpfe und Unterdrückung vor der geistigen Er­ starrung bewahrt.

B. Das Christentum. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, das Wesen des Christentums erschöpfen darzustellen oder eine Wanderung durch die Kirchengeschichte anzutreten. Es genüge einleitend darauf hinzuweisen, daß das Christentum im Leben der Völker Dienste großen Stiles geleistet hat, wie sie kaum von einer anderen Religion er­ reicht sind. Es hat den Völkern der aus- und untergehenden Antike neuen Lebens­ odem eingehaucht und ihren Lebenstag im weströmischen Reiche um ein halbes, im oströmischen um ein ganzes Jahrtausend verlängert. Dabei hat es die Kultur der alten Welt in sich ausgenommen und mit ihrem eigenen Geistesgehalte ver­ bunden und weitergebildet. Es hat die keltischen, germanischen, nordischen und flawischen Völker West-, Ost- und Nordeuropas in seine Schule genommen und hat sie als Völkererzieher, zu den Herrenvölkern der Erde herangebildet, wobei man allerdings nicht vergessen darf, daß es gerade den germanischen Völkern zu Zeiten auch schwere Hemmungen ihres kulturellen Aufstiegs bereitet hat, wie in den Jahrhunderten des Streites zwischen Kaiser und Papst. Es hat ein Jahr­ tausend lang das Kultur- und Geistesleben auch dieser Völker beherrscht, und selbst, nachdem sich ein Kulturzweig nach dem andern von seiner Führung und Kontrolle losgelöst hat, hat es eine geachtete, vielfach entscheidende Stellung im Leben dieser Völker behauptet. Es ist bis heute das religiös-sittliche Mckgrat der Völker Europas. Wir skizzieren nur kurz einige der großen Tatsachen oder Gedankenkomplexe, durch welche das Christentum zu diesem Menschheitsdienste großen Stiles befähigt ist. Das Geheimnis der religiösen Persönlichkeit Jesu war sein Kindschaftsverhältnis

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zu seinem himmlischen Vater. Wenn es der höchste Dienst der Religion ist, dem Menschen eine solche Stellung in dem Wirrsal der Welt zu geben, daß auf der einen Seite die lähmende Furcht aufgehoben wird durch das hingebende Ver­ trauen, auf der anderen Seite alle edlen Kräfte zu höchster Lebensentfaltung gebracht, die dämonischen Kräfte aber niedergehalten werden, so ist diese Lei­ stung in Jesu Christo erreicht, und er will wenigstens bis zu dem von ihnen erreichbaren Grade alle Menschen dahinführen, daß sie auch sprechen lernen: „Unser Vater, der du bist im Himmel", „auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten". Man vergleiche diese Lösung des Lebensrätsels etwa mit der babylonischen von dem ehernen Weltgesetze, das uns als Schicksal beherrscht, oder mit der indischen von den ewigen, unpersönlichen Gesetzen der Seelenwanderung und Vergeltung, oder mit der chinesischen von der Weltharmonie des Kosmos oder mit dem un­ sicheren Suchen und Fragen der antiken Welt, so wird man die Überlegenheit der christlichen Lösung anerkennen. Es gehört ein kindlich gläubiges Gemüt dazu, allem Widersinn des Weltgeschehens zum Trotz mit innerer Wahrhaftigkeit und Freudigkeit in diesem Vaterglauben zu verharren. Aber solche religiöse Persön­ lichkeiten sind wie sicher verankerte Schiffe in tobender See. Jesus weiß sich von seinem himmlischen Vater mit einem großen Auftrag in die Welt gesandt. Er ist der Messias. Da seine fromme Seele in den Weis­ sagungen der Propheten lebte, war es ihm selbstverständlich, daß er die er­ habenen Aussagen von dem Gesalbten Gottes auf dem Stuhle Davids und in seinem Königreiche aus sich bezog. Damit ergab sich in seinem Leben die innere Spannung zwischen zwei Aussagenreihen, die sich dann auch in den Berichten der Augenzeugen seines Lebens widerspiegeln: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig." „Er entäußerte sich selbst und nahm die Gestalt eines Sklaven an und ward wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden." Und: „Ich und der Vater sind eins. Alles ist mir übergeben von meinem Vater. Wer mich siehet, der siehet den Vater." Gewiß ist es für uns nur bis zu einem gewissen Grade begreiflich, wie sich das hochgespannte Messiasbewußtsein, in dem er sich als den Mittelpunkt und das Werkzeug der Heilsratschlüsse Gottes weiß, mit der Niedrigkeit und Beschränktheit seines Lebensweges einte. Aber diese innere Span­ nung ist eben der Schlüssel zum Verständnis seines Lebens. Was ihm auf Erden zu bringen aufgetragen ist, hat er von Anfang an in die Worte zusammengefaßt: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Wir lassen es auf sich beruhen, ob er zu Anfang seines öffentlichen Wirkens noch er­ wartet hat, daß er die Vollendung des Gottesreiches in den Tagen seines Erden­ daseins erleben werde. Jedenfalls legte sich ihm bald der Reichtum göttlichen Heils, das im Gottesreiche beschlossen ist, in eine Vielheit auseinander: die Herr­ lichkeitsvollendung der Menschheit und der Erde zur Zeit seiner Parusie, d. h. seiner Wiederkunft auf den Wolken des Himmels, um seine Königsherrschaft anzu­ treten; eine Jüngerschaft auf Erden, welche schon hier als unter der Königsherrschaft Gottes lebt mit der Losung: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist; Bürgschaft und Anbruch des Himmelreiches da, wo er, der Herr und König dieses Reiches, gegenwärtig ist und von ihm die Kräfte des ewigen Lebens ausgehen.

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Und nun kam, was Menschenaugen als seinen furchtbaren Untergang anzu­ sehen geneigt waren, worin er selbst aber und seit seiner Auferstehung auch seine Jüngerschaft den Mittelpunkt der Wege Gottes und seiner Sendung an die Mensch­ heit sahen. Sein Kreuzestod mußte ein unentbehrlicher Bestandteil der Heils­ pläne Gottes sein, die er zu verwirklichen berufen war. Die Lösung dieses Rätsels wurde bald in der Richtung gefunden, welche Jesaias 53 in dem Liede vom „Knecht Gottes" gewiesen hat: Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. An diesem Punkte fand der Glaube der ältesten Christenheit zugleich Licht und Wegweisung über das Leben nach dem Tode: dieses ist nicht ein trostloses Schattendasein im Scheol, nicht eine leiblose Unsterblichkeit der Seele, nicht eine grobsinnliche Fortsetzung des Leibeslebens in einem wiederhergestellten Körper, sondern eine Verklärung des irdischen Leibes zu einem pneumatischen Leibe nach dem Vorbilde des Auferstehungsleibes Jesu; und Jesus ist der Erstling der Auferstandenen aus dem Tode, die sie alle nach sich zieht. Unmittelbar neben Jesus trat Paulus, sein größter Jünger, der beredteste und geistvollste Dolmetscher des Geheimnisses seines Werkes und seiner Person. Wahrscheinlich fällt seine Bekehrung auf dem Wege nach Damaskus schon in das Jahr 31, also nur ein Jahr nach dem Tode und der Auferstehung Jesu. Auf den ersten Blick ist der Abstand zwischen seiner Botschaft und der Jesu auffallend groß. Wenn es auch nicht sicher ist, ob er den erhöhten Herrn geradezu Gott genannt hat, so hat er ihn doch unmittelbar an Gott herangerückt, wenn er z. B. Phil. 2, 8 ff. auf ihn die Prophetenworte anwendet, in welchen die Einzigartigkeit der göttlichen Majestät ausgesagt ist. Während Jesus Rede in der Einfachheit volkstüm­ licher Rede tief und klar dahinfließt, geht Paulus in der schweren Saulsrüstung theologischer Gedankenarbeit einher. Unsere jungen Theologen müssen an Pauli Briefen theologisch denken lernen. Was ist für die Prägung des Christentums das Entscheidende an der Predigt des großen Apostels? Er hat die Botschaft und Sendung Jesu in ein Menschheitsevangelium, eine Botschaft an die Heidenwelt ausgestaltet. Jenes einem tiefen, klaren Bergsee vergleichbare Gotteskindschaftsbewußtsein Jesu war nur möglich auf dem Grunde seiner Sündlosigkeit; es bestand keine trennende Kluft zwischen ihm und dem heiligen Gott. Das ist anders bei den übrigen Menschen. Sie können zu Gott nur kommen und in die Lebens- und Liebesgemeinschaft mit ihm nur eintreten, wenn die durch die Sünde gerissene Kluft beseitigt ist. Das ist aber die Heilsabsicht Gottes mit dem Kreuzestode und der Auferstehung Jesu gewesen. Dadurch bietet Gott in einer von ihm selbst veranstalteten Versöhnung dem Glauben die Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden an, und wer diese von Gott entgegengestreckte Hand ergriffen hat, der darf triumphieren: Ich bin gewiß, daß schlechterdings nichts mich scheiden mag von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist. Das ist der dem modernen Menschen fremdartig gewordene Gedankenkreis von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Da Paulus alles Gewicht darauf legte, daß nicht in erster Linie die Men­ schen zu Gott sich hinaufrecken, sondern Gottes Gnade die Menschen sucht und ihnen entgegenkommt, lag ihm daran, die Punkte herauszustellen, wo sich Gottes Liebe den Menschen am deutlichsten entgegenstreckt. Er fand drei: das

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Kreuz Jesu Christi, das er deshalb seinen Gemeinden so deutlich vor Augen zu malen bestrebt war, „als wäre Christus in ihrer Mitte gekreuzigt", und die beiden durch die Gemeindeüberlieferung geheiligten Handlungen, die sog. Sakramente Taufe und Abendmahl. Er mag gerade auf sie gewiesen sein durch den Umstand, daß damals die sog. Mysterienreligionen in geheimnisvollen, heiligen Handlungen schwelgten, in denen teils Lebens- und Wesensgemeinschaft mit der Gottheit, teils Überwindung des Todes durch Aneignung des Auferstehungslebens der Gott­ heit erlangt werden sollte. Es mag sein, daß bei Paulus der Gedanke mitgeschwungen hat: Was jene Mysterien dem Mysten in Aussicht stellen, hat in höherem Maße und in größerer Wahrheit der Christ, wenn er in der Taufe durch die Vergebung der Sünden in den Gnadenbund Gottes ausgenommen wird oder im Abendmahl den für uns im Tode gebrochenen Leib oder das am Kreuz für uns vergossene Blut genießt. Jedenfalls hat Paulus dadurch eine der eigenartigsten Entwicklungen des kirchlichen Lehrens und Lebens, die Ausgestaltung des Christentums als Mysterienreligion, vorbereiten helfen. Wichtiger war für Paulus, daß er sich in das Geheimnis des Wesens des erhöhten Herrn versenkte, den er vor Damaskus geschaut hatte. Gewiß hatten die Jünger von Anfang an einen tiefen Eindruck davon, was sie in Jesus von Gott hatten; und in jeder Religion ist das der eigentliche Kern und der Schatz, worin sie Gott zu haben oder Gott nahezukommen meint. Jenes einzigartige Gottes­ kindschaftsverhältnis, der Jesus zuteil gewordene Messiasauftrag, seine erwartete messianische Königsherrlichkeit, daß Gott ihn zum Mittel der Versöhnung in seinem Tode benutzt hat, daß er der Erstling der Auferstandenen von den Toten ist —, dies und vieles andere gab Antrieb, über das geheimnisvolle Wesen dieses Sohnes Gottes nachzudenken. Das sind ebensoviele Knospen gewesen, aus denen die sog. christologische Spekulation hervorgewachsen ist, die Kern und Stern der Kirchen­ lehre überhaupt geworden ist. Für Paulus persönlich war wohl ein anderes noch wichtiger. Dieser erhöhte Herr, den er geschaut, war ihm nicht nur einmal vor Damaskus genaht; wie er seinen Jüngern die Verheißung gegeben hatte: Siehe, ich bin bei euch alle Tage, so erfuhr es Paulus, daß er mit ihm in eine persönliche Lebensgemein­ schaft eingetreten war: „Ich lebe, doch nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir"; und durch Christus steht er in Lebensgemeinschaft mit Gott: „Unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott." Paulus hat von diesem geheimen Grunde seines religiösen Lebens nicht viel gesprochen; er deutet es an, wenn er so oft voraussetzt, daß die Gläubigen „in Christo" seien, lebten und stürben, daß sie mit Christo gestorben sind durch die Taufe in seinem Tod, um auch seines Auferstehungslebens teilhaftig zu werden. Das ist die Mystik des Apostels, jener tiefe, warme Hintergmnd des chrisüichen Lebens, durch den es seine Wurzeln hineinsenkt in den fruchtbaren Mutterboden des Gotteslebens. Diese Gedanken oder religiösen Erfahrungen fassen sich bei Paulus zusammen oder runden sich ab in der Anschauung, daß die christliche Kirche der geistliche Leib des erhöhten Herrn sei, an dem alle Christen Glieder mit der besonderen, ihnen zukommenden Funktion sind, die gleichmäßig die Lebenskraft — mit einem Bilde des Herrn wie die Weinreben aus dem Weinstock ziehen. Mit ihm aufs engste verbunden zu bleiben ist für sie die entscheidende Lebensfrage

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und die Voraussetzung alles Fruchttragens. Und dieser geistliche Leib des er­ höhten Herrn ist darauf angelegt, die ganze Menschheit zu umspannen und sie zu einem neuen, reineren, göttlicheren Menschheitstypus hinanzuführen, „nach dem Maße des Wuchses Christi". Schaut man in die Schriften des Neuen Testaments hinein, so sieht man wie in einen grünenden und blühenden Maiengarten. Es ist ein einzigartiges Gotterlebnis eingetreten, das hat alles Denken, Fühlen und Wollen der davon ergriffenen Menschen in Bewegung gesetzt. Es hat sie über sich selbst hinausgehoben und hat ihnen neue, höhere Ziele gezeigt.

C. Der Islam. Die Ausdehnungswege des Christentums hatten überwiegend nach Westen und Norden, in die griechisch-römische Kulturwelt geführt. So kam es, daß nahe bei seinen Stammlanden in der weiten, öden Halbinsel Arabien, der Urheimat der semitischen Völker, die Beduinenstämme der Wüste im Heidentume verharrten. Es hatte ihnen an Kulturanregungen nicht gefehlt. Der Handelsweg, auf dem sich die Völker des Westens die begehrten Kulturgüter Indiens und den Weih­ rauch für ihren Tempeldienst verschafften, führte damals von Syrien und der Sinaihalbinsel längs der Westküste Arabiens nach Demen und Hadramaut im Südwesten und Süden. Daß das in einem öden Felsentale gelegene Mekka der Umschlagsort war, wo in der Regel die von Süden und von Norden her kommenden Karawanen sich begegneten und ihre Waren austauschten, verlieh der Stadt eine ungewöhnliche Bedeutung. Die Araber hatten im ganzen ein schlichtes Heiden­ tum zähe festgehalten: Sonne, Mond und Gestirne, seltsame Felsgruppen, Quellen und anderes genoß göttliche Verehrung. In den Hauptheiligtümern wurden roh geschnitzte oder steinerne Götterbilder aufbewahrt, so in der Kaaba von Mekka Bilder des Hobal, der Manat, Ussa und Lat, vielleicht 360 Symbole der Tage des Jahreslaufes. Die Wüste galt als bevölkert von zahlreichen Geisterwesen, den Dschinnen, welche auch gern von den Menschen Besitz nahmen und dadurch Besessenheits- oder andere Krankheitszustände veranlaßten. Besondere Verehrung genossen einige Meteorsteine, vor allem die beiden in die Mauer der Kaaba in Mekka einge­ mauerten. Dabei schlummerte im Hintergrund die Kunde von dem Weltengott Allah. Die Sittlichkeit der Wüstenstämme war einfach und streng; enger Zusammenhalt der Sippe, Blutrache gegen den Frevler am Stamme, eine in mäßigen Schranken gehaltene Vielweiberei, Beseitigung der überzähligen Mädchen bald nach der Geburt, meist durch Begraben, u. dgl. waren charakteristisch. Es fehlte im Lande nicht an christlichen Einflüssen; an den Grenzen gab es mehrere christliche König­ reiche, und auch in Mekka lebten einige Vertreter einer geläuterten, dem Christentume nahestehenden Frömmigkeit. Fast noch stärker waren die jüdischen Ein­ flüsse. Ganze Stämme oder Sippen waren entweder eingewanderte Juden oder in früheren Jahrhunderten zum Judentums übergetretene Araber. Zumal in Jathrib-Medina und Khaibar gab es größere jüdische Siedelungen. In diesem schlichten Kulturmilieu wuchs Mohammed auf. Von armen Eltern um 570 geboren, hatte er das Unglück, daß sein Vater Abdallah in seiner frühesten Kindheit, seine Mutter Amina, als er noch ein Knabe war, starben. Auch sein Großvater Abd al Mutallib, welcher sich der Waise annahm, starb schon 579. Ein

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Oheim, Namens Abu Taleb, nahm sich seiner an, aber er war selbst nicht reich und hatte eine große Familie zu versorgen. Mohammed hatte die Ziegen auf den mageren Weiden in der Steppe um Mekka zu hüten, er lernte früh die Not des Lebens kennen: In der 93. Sure heißt es von dieser Zeit: S. 93, 6—8: „Fand ich dich nicht als Waise und nahm dich auf, und fand dich irrend und leitete dich, und fand dich arm und machte dich reich."

Später widmete er sich nach mekkanischem Brauch der Teilnahme an dem schwunghaften Karawanenhandel. Er hatte das Glück, daß ihn eine begüterte Witwe, Chadidja, die anderthalb Jahrzehnte älter war als er, erst zu ihrem Ge­ schäftsführer und zum Leiter ihrer Karawanen machte und später heiratete. Damit war der Druck seiner Jugend mit einem Schlage beseitigt. Erst jetzt kam es ihm zu Nutz, daß er dem Herrenstamme von Mekka, Koraisch, wenn auch in der ver­ armten Seitenlinie Haschim, angehörte. Mohammed hatte von Kind auf eine grüblerische Natur gehabt und hatte die Einsamkeit in der menschenleeren Steppe um seine Vaterstadt gesucht. Auf seinen ausgedehnten Karawanenreisen war er mit Vertretern anderer Religionen, zumal christlichen Mönchen und Einsiedlern, in Berührung gekommen und hatte von ihnen alt- und neutestamentliche Ge­ schichten, wenn auch in bunter Ausmalung, gehört. Auch von den religiös an­ geregten Männern in Mekka, den sog. Hanifen, und von den Juden im Lande scheint er viele Anregungen und viel von seinem religiösen Besitz übernommen zu haben. Das alles hielt er mit einem guten Gedächtnis, aber einer ungezügelten Einbildungskraft fest; man vergleiche nur, wie romantisch und willkürlich er in der 12. Sure die Josephsgeschichte, „die schönste der Geschichten", ausgestaltet hat. Im übrigen genoß er wegen seines geraden und zuverlässigen Verhaltens Ansehen und soll sogar einmal bei Gelegenheit einer größeren Reparatur an der Kaaba zum Schiedsrichter der streitenden Koraischsippen berufen sein. Seine Ehe mit Chadidjah war glücklich, auch durch die Geburt mehrerer Kinder gesegnet, von denen ihn aber nur eine Tochter, Fatima, überlebte. Mohammed war schon vierzig Jahre alt, als ihm völlig unvermutet eine erste Offenbarung zuteil wurde. Allah selbst oder der Engel Gabriel erschien ihm, trat nahe vor ihn und sagte: Lies (Rezitiere!). Mohammed antwortete: „Ich lese nicht." Darauf, so erzählte Mohammed, drückte jener mich, daß ich zu ver­ gehen glaubte, und wiederholte: Lies. Wieder verneinte ich, und wieder drückte mich die Erscheinung, und ich las die Worte: S. 96, 1—5: „Lies, im Namen deines Herrn, der dich schuf, den Menschen schuf aus zähem Blut, lies, dein Herr ist's, der dich erkor, und unterwies mit dem Schreibrohr, den Menschen unterwies in dem, was er nicht wußte zuvor."

Da wich die Erscheinung von mir, ich erwachte aus meinem Traum, und mir war, als trüge ich die Worte ins Herz geschrieben. Mohammed war zunächst über die Erscheinung und ihre Begleitumstände sehr erschrocken. Hatten etwa die Dschinnen der Wüste von ihm Besitz ergriffen und ihn besessen gemacht? Er war zu Zeiten der Verzweiflung nahe und wollte sich in der Wüste von einem Felsen stürzen. Aber sein Weib Chadidja tröstete ihn. Später wieder­ holten sich ähnliche Erscheinungen in schnellerer Folge. In einem wohl zuverlässigen

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Hadith (Überlieferung) erzählt Mohammed: „Zu Zeiten kommt es über mich wie das Läuten einer Glocke; das ist am schmerzlichsten für mich; dann hört es auf, aber ich habe behalten, was es sagte. Zu Zeiten stellt sich der Engel selbst mir dar wie ein Mensch und redet mit mir; dann behalte ich, was er sagt." Sein Weib Ayscha erzählte: „Offenbarung kommt auf ihn an einem kalten Tage; dann hört sie auf, und seine Augenbraue trieft von Schweiß." Zu anderen Zeiten schnarchte er in den Anfällen wie ein Kamel, und der Schaum trat ihm vor den Mund. Die Erscheinungen ähnelten den typischen, seinen Landsleuten bekannten Formen der Besessenheit oder der Epilepsie. Trotzdem sind die wahrscheinlich im Irrtum, welche Mohammed als Epileptiker, also pathologisch erklären wollen. Bei den epileptischen Anfällen ist es charakteristisch, daß sie mit einer Abspannung der höheren Geisteskräfte und oft in fortgehendem Maße mit einer Abstumpfung ver­ bunden sind. Für Mohammed umgekehrt brachten die Anfälle eine Übersteige­ rung seiner geistigen Kräfte, die ihn zu Leistungen befähigte, die er in dem gewöhn­ lichen, wachen Zustande nicht vermocht hätte. Sowohl an poetischer Kraft, wie an religiösem Gehalte, wie an Schönheit der Sprache stellen wenigstens die älteren mekkanischen Suren einen Höhepunkt dar und werden von den Arabern und Arabisten bewundert; schade, daß noch keine deutsche Übersetzung den Zauber des Originals ganz festzuhalten verstanden hat. Die Botschaft der älteren Suren war einfach, aber immerhin für die heid­ nischen Araber fremdartig: Das Weltgericht steht unmittelbar bevor, und der Gerichtstag wird unvermutet und plötzlich hereinbrechen; dann droht dem Frevler die unaussprechliche Qual der Hölle, den Gerechten aber belohnt die unbeschreib­ liche Herrlichkeit des Paradieses. Die daraus sich ergebende sittliche und religiöse Haltung spiegelt sich in einer allerdings apokryphen Botschaft eines der ersten Gläubigen an den Herrscher von Abessinien wieder: „O König, wir waren tief in Unwissenheit und Barbarei. Wir beteten Götzen an. Wir lebten unkeusch, wir verzehrten Aas, wir sprachen Greuel, wir mißachteten jedes Gefühl der Menschlichkeit und die Pflichten der Gastfreundschaft und Nachbarschaft. Wir kannten kein Gesetz außer dem des Stärkeren. Da erweckte Gott uns einen Mann, dessen Herkunft, Zuver­ lässigkeit, Ehrenhaftigkeit und Reinheit wir kannten. Er rief uns zur Einheit Gottes und lehrte uns, Gott keinen Genossen zu geben; er verbot uns den Götzendienst; er prägte uns ein, die Wahrheit zu sagen, unsere Versprechen einzulösen, barmherzig zu sein und die Rechte der Nachbarn zu achten. Er verbot uns, von Frauen schlecht zu reden und das Vermögen der Waisen zu essen. Er gebot uns, die Laster zu meiden und uns des Bösen zu enthalten, zu beten,, zu fasten und Almosen zu geben. Wir haben an ihn geglaubt, wir nahmen seine Lehre unb' sein Gebot an, Gott anzubeten und ihm keinen Genossen zu geben."

Das war also die Botschaft eines ernsten, sittlich-religiösen Reformers, kaum schon die eines Religionsstifters. Mohammed fand langsam und schwer Glauben.. Es war ein großer Gewinn und ein gutes Zeugnis für seine Echtheit, daß in seinem engsten Familienkreise ernste und biedere Menschen sich ihm vertrauens­ voll Hingaben: sein treues, alterndes Weib Chadidja, welche 619 starb, sein Vetter und Schwiegersohn Ali, sein Freigelassener Zaid und ein Freund Abu Bekr. Ein großer Gewinn für seine Sache war es, als sich bald nacheinander drei hoch­ angesehene Koraischiten, Omar, Hamza und Othman, ihm anschlossen. Aber weitaus die Mehrzahl seiner mekkanischen Landsleute verhielt sich kühl, ja feindlichablehnend. Sie hatten für ihn nur Spott und Verachtung, ja wegen seiner Ver-

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Weisung der in der Kaaba angebeteten Götterbilder sogar offene Feindschaft. Wohl versuchte er ihnen in einer schwachen Stunde durch einen lahmen Kom­ promiß entgegenzukommen. In der Sure 53, 19 f. heißt es: „Was meinet ihr darum von Mat und El Uzza, und von Manat, der dritten daneben?" Hier hieß es ursprünglich weiter: „Dies sind die zwei hochfliegenden Schwäne, und ihre Fürsprache werde erhofft." Aber bereits am folgenden Tage verwarf das Mo­ hammed und setzte dafür: „Sollen euch Söhne sein und Allah nur Töchter? Das wäre dann eine ungerechte Verteilung." Mohammed suchte sich dem Drucke in seiner Vaterstadt dadurch zu entziehen, daß er zweimal Botschaft an den christlichen König von Abessinien schickte. Seine Meinung war, Allah habe jedem Volke die gleiche Offenbarung zuteil werden lassen; dem Inhalt nach müßte also die Taurat (Gesetz) der Juden und das Jndschil (Evangelium) der Christen mit der ihm zuteil gewordenen Offenbarung identisch sein. Wenn also der christliche König von seinen Offenbarungen höre, so werde er deren Gleichartigkeit mit seiner eigenen Religion erkennen und anerkennen. Aber auch von dort kam keine Hilfe. Die Erbitterung stieg in Mekka so hoch, daß die Koraischiten die Sippe Haschim, zu der Mohammed gehörte, in einem abgelegenen Stadtteil einschloß und ihr den Zugang zu der einzigen Quelle der Stadt, dem Zemzem-Brunnen bei der Kaaba, verbot. Derweil organisierte Mohammed grundlegend die kleine, sich um ihn scharende religiöse Gemeinschaft: Der Hauptpunkt wurde immer mehr der reine Monotheismus; alle Naturgötter, welche die Araber neben Allah haben, sind im Wesen von ihm verschieden, sind nur Dämonen wie die Dschinnen der Wüste. Der Tag des Weltgerichtes und der großen Scheidung von Gerechten und Un­ gerechten steht unmittelbar bevor. Witwen und Waisen soll man reichlich ver­ sorgen; religiöse Übungen wie das täglich fünfmal wiederholte Gebet (Salät) wurden Brauch. Immerhin war es eine große Erleichterung für Mohammed, als sich ihm unerwartet im Frühjahr 622 eine ehrenvolle und vielversprechende Gelegen­ heit zur Auswanderung nach Jathrib-Medina bot. Jathrib — oder wie es seither bei den Moslemen heißt, Medinat al nabi, die Stadt des Propheten, oder Medina, die Stadt schlechthin, war ein ausgedehnter Oasenkreis mit Dattelpalmenwäldern, in dem sich teils von Renten im Süden eingewanderte Araberstämme wie die Aus und Chasradsch, teils Judensippen wie die Banu Kainuka, Banu Kuraiza und die Banu Nadhir angesiedelt hatten. Die Aus und Chasradsch waren miteinander verfeindet; sie luden Mohammed und seinen Anhang ein, als Schieds- und Friedensstifter zu ihnen zu kommen. So wanderte er mit seinen Getreuen, die den Namen „Muslime" erhalten hatten, nach Medina aus. Das ist die berühmte Hidschra vom 16. Juli oder 24. September 622, der Wendepunkt im Leben Mohammeds und der Anfang der moslemischen Zeitrechnung. Die zehn letzten Jahre Mohammeds in Medina unterschieden sich wesentlich von der vorausgegangenen mekkanischen Zeit. Sie unterliegen auch einer ver­ schiedenen Betrachtungsweise je nach dem Maßstabe, den man anlegt. Richtet man den Blick auf die politisch-militärischen Erfolge des Propheten, so grenzen sie an das Wunderbare. Als ein verspotteter, angefeindeter Sonderling war er aus Mekka verdrängt; als er zehn Jahre später die Augen schloß, war er der un­ bestrittene Herr der riesigen arabischen Halbinsel; er hatte zustande gebracht, was

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noch nie einem Herrscher vor ihm gelungen war, die freiheitsgewohnten Beduinen­ stämme zu einem zentralisierten Reiche zusammenzuschließen. Seine Stellung in Medina schien durch seine mekkanischen Feinde aufs äußerste bedroht; denn wollten diese ihn überhaupt nicht aufkommen lassen, so konnten sie am wenigsten in jener Gegend dulden, wo er jederzeit ihre nach Syrien ziehenden Karawanen bedrohen oder abfangen konnte. Als er starb, hatte er Mekka unterworfen, die Kaaba von den Spuren des Götzendienstes gereinigt und den Stamm Koraisch wenigstens zur äußerlichen Annahme seiner Religion genötigt. Von seiner vor­ gefaßten Meinung ausgehend, daß die ihm zuteil gewordene Offenbarung mit dem Inhalt der jüdischen Taurat identisch sei, hatte er erwartet, daß sich die Judenstämme von Medina in hellen Haufen ihm anschließen würden. Als er sich überzeugt hatte, daß sie ihn ablehnten, ja wohl gar verspotteten, rottete er sie zum Teil mit barbarischer Grausamkeit aus und schuf so unter Ausmerzung der jüdischen Elemente ein im Islam geeintes Arabien. Diese Leistungen sind um so erstaunlicher, als die Erfolge fast Schlag auf Schlag folgten und denn doch — im Vergleich mit der Größe des Erreichten — wenig ernste kriegerische Unternehmungen erforderten. Die Kriegshandlungen gegen Mekka waren romantisch genug; sie bilden geradezu den buntbewegten Hintergrund des Aufstiegs der jungen Religion in diesem Jahrzehnt. Aber bei dem „großen Siege" von Bedr 624 standen nur 317 Moslime gegen 950 Koraischiten; in der von Mohammed verlorenen Schlacht von Uhud 625 standen 700 Moslimen 3200 Mekkaner gegenüber. Es handelte sich also nach unseren Anschauungen um kaum mehr als Borpostengefechte. Und die späteren Züge 628 und 629 verliefen dank dem diplomatischen Geschick Moham­ meds überhaupt unblutig. Auch in der Beziehung kann man Mohammed seine Bewunderung nicht ver­ sagen, daß er sich ernst und erfolgreich bemühte, seiner großen Stiftung durch Gesetze und Ordnungen Bestand und Charakter zu geben. Das war für einen ehemaligen armen Hirtenjungen, bei dem es selbst zweifelhaft ist, ob er lesen und schreiben konnte, eine große Leistung. Gewiß hat er weder eine Verfassung seines Reiches noch ein Gesetzbuch des sich neu bildenden islamischen Rechts geschaffen. Er hat nach Zeit und Umständen Verträge abgeschlossen und die ihm Tag für Tag vorkommen­ den Rechtsfälle entschieden, er hat sich dabei teils durch das Herkommen seines Volkes, teils durch die Normen seiner Religion, teils durch unmittelbare „Offen­ barungen" leiten lassen, bei denen man allerdings in dem Grade, wie sie sich als rettende Engel immer im entscheidenden Augenblick einstellten, um die auftauchen­ den Schwierigkeiten zu lösen, bedenllicher wird, ihren religiösen Wert anzuerkennen. Es fehlt in diesen Bestimmungen Mohammeds nicht an Widersprüchen; er mußte unpraktische frühere Entscheidungen durch entgegengesetzte spätere ersetzen; er kam über Bruchstücke nicht hinaus, die sich zumal in den ersten Koransuren wie ein wirres Durcheinander planlos aneinander reihen. Immerhin sind diese Gesetze und Ordnungen die Unterlage für das Staats- und Rechtsleben des Islam ge­ worden, und man kann ihnen, aufs Ganze gesehen, einen großen Zug nicht ab­ sprechen. Anders wird das Urteil, wenn man Mohammed als sittliche und religiöse Persönlichkeit ansieht, und das will er als Religionsstifter doch in erster Linie sein. Gewiß ist es möglich, Mohammed mit den sittlichen Maßstäben seiner Zeit

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und seines Volkes zu messen, und dann wird man vieles begreiflich finden oder mit in Kauf nehmen, wie etwa bei Jakob und David. Aber es ist doch gerade das Entscheidende, wieweit sich ein Religionsstifter über die Anschauungs- und Handlungsweise seiner Zeit erhoben hat; denn sein Beispiel wirkt für ungezählte Gläubige als Vorbild und Richtschnur. Mohammed scheute sich nicht, die bei den Arabern seiner Zeit geltenden Abmachungen oder stillschweigenden Überein­ künfte zu brechen: Er unternahm in dem heiligen Monat Radschab, dem Monat der allgemeinen Waffenruhe, einen Raubzug gegen den Stamm Kinama. Er schlug die Dattelpalmen der Bann Nadhir nieder. Er gab am Brunnen von Marasi 200 kriegsgefangene Frauen der Banu Mustalik preis. Er verurteilte die Juden­ sippen Kainuka und Nadhir zur Auswanderung unter Hinterlassung ihrer ge­ samten Habe; von der Sippe der Banu Kuraiza wurden 600 bis 900 abgeschlachtet. Er unternahm ohne besonderen Anlaß unverschuldete Überfälle gegen die Christen­

sippen von Midian und Duma im fernen Nordarabien und ließ sie in die Sklaverei verkaufen. Von der ungezügelten Rachsucht des Propheten legt die Abu-LahabSure (111) Zeugnis ab. Als eine satirische Dichterin ihn mit ihren Spottversen verhöhnte, ließ er sie durch Meuchelmord in der Nacht mit ihrem kleinen Kinde an der Brust durchbohren. Als der Mekkaner Ukba nach der Schlacht von Bedr ihn fragte, warum er ermordet werden solle, antwortete er: „Wegen deiner Feind­ schaft gegen Gott und seinen Propheten." „Wer wird für meine Kinder sorgen?" „Die Hölle." Solange Chadidja lebte, hatte er geordnete eheliche Verhält­ nisse. Seit ihrem Tode 619 brach seine ungezügelte Sinnlichkeit unge­ hemmt hervor. Binnen einem Jahrzehnt hatte er sich mit einem Harem von elf Frauen umgeben; und bei vielen dieser Ehen wird bei ihrem Beginn von einer ausnehmenden Verliebtheit berichtet. Die Jüdin Safijje heiratete er, allerdings mit ihrer Zustimmung, in der Nacht nach der Ermordung ihres Gatten. Seinem Adoptivsohne Zaib nahm er seine Frau, in die er verliebt war, weg. Seines Freundes Abu Bekr Tochter Ayscha heiratete er als achtjähriges Kind. Diese Unregelmäßigkeiten wirken um so peinlicher, als Mohammed die Zahl der zu­ lässigen rechtmäßigen Frauen auf vier festgesetzt hatte; auch da blieb durch die Erlaubnis von Kebsweibern und Sklavinnen in unbegrenzter Zahl Spielraum genug. Als Mohammed die Zahl seiner Frauen darüber hinaus vermehrte, scheute er sich nicht, sich für dies Privilegium als eine ihm besonders von Allah verliehene Gnade aus eine besondere Offenbarung zu berufen. Als er im Widerspruch mit der arabischen Sitte die Frau seines Adoptivsohnes Zaib zu heiraten begehrte, mußte wieder eine Offenbarung herhalten, daß die Adoption nicht als leib­ liche Verwandtschaft zu werten, eine derartige Heirat also nicht als Blutschande zu beurteilen sei. Überhaupt ist in den späteren, medinensischen Suren ein merkliches Nachlassen des religiösen Schwunges im Vergleich zu den ersten mekkanischen Suren festzustellen. Nicht daß es in ihnen an leuchtenden Geistesblitzen fehlte; aber im allgemeinen schleppen sich die gesetzlichen Verordnungen und die phantastisch aus­ geputzten Erzählungen ungeordnet und mühsam durch ellenlange und langweilige Suren. Mohammed hatte von Anfang an als Form für seine Offenbarung die gebundene Rede der Reimprosa, das sog. Sadsch, gewählt, wie es bei den Orakel­ sprüchen der Kahms, der anerkannten Wahrsager an den nationalen Heiligtümern, Brauch war. Das war ein vortreffliches Ausdrucksmittel, solange der Schwung Reimann (Richter). Geichichtswcrl.

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der Gedanken und der Sprache fortriß; es wurde zu einem Hemmschuh, als in diese halb poetische Form langatmige Gesetzesparagraphen und Bestimmungen aller Art gezwängt wurden. Man hat mit zelotischem Eifer zumeist wohl im Blick auf diese und ähnliche Entartungserscheinungen Mohammed als „falschen Propheten", d. h. als bewußten Betrüger denunziert; offenbar zu unrecht. An der Echtheit und Lauterkeit seiner persönlichen Überzeugung, vor allem auch an seinen Glauben an seine göttliche Sendung und Stellung als Offenbarungsmittler ist nicht zu zweifeln. Aber aller­ dings steht sein Leben unter einem tragischen Verhängnis, bei dem es außer­ ordentlich schwierig ist, Schuld und Schicksal gerecht abzumessen. Vielleicht stellt der Vergleich mit der parallelen inneren Entwicklung Jesu das Problem in Helles Licht. Mohammed wußte sich wie Jesus berufen, die Gottesherrschaft auf der Erde aufzurichten; das Mittel dazu war für beide der unbedingte Glaube an ihre Sendung und Botschaft. Beide Propheten fanden in ihrem Kreise Ablehnung, Unglauben und Feindschaft. Jesus urteilte, daß Gott sein Reich gewiß aufrichten und ihn zum König in seinem Reiche erheben werde, auch wenn sein Erdenleben im Untergang ende; und sein Glaube schwang sich zu der Erkenntnis auf, daß gerade sein Kreuzes­ tod in Gottes Hand das Mittel zur Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes sein werde. Mohammed sah in seiner Einladung nach Medina und den günstigen, sich ihm dort bietenden Gelegenheiten den ihm von Allah gewiesenen Weg, den Gottesstaat mit Gewalt in Arabien aufzurichten, und das Bewußtsein seiner göttlichen Sendung und der unbedingte Herrschaftsanspruch Allahs gegenüber dem überwiegend heidnischen Volke ließen ihm alle Mittel und Wege recht erscheinen, um dem göttlichen Herrscherwillen Allahs Anerkennung durch die Unterwerfung der heidnischen Völker zu verschaffen. Mohammed starb unvermutet 632 in Medina. Er hatte über seine Nachfolge keine Bestimmungen getroffen. Da er selbst in seiner Religion schlechterdings keine andere Stellung als die eines zuverlässigen Vermittlers der göttlichen Offen­ barung einerseits und des Aufrichters der Theokratie Allahs anderseits in Anspruch genommen hatte, so lag nach seinem Tode den Gläubigen eine doppelte Aufgabe ob: Zuerst und vor allem galt es, die verstreuten Bruchstücke von Offen­ barungssprüchen, wie sie teils im Gedächtnis der Mekkaner und Medineser, teils auf Pergamentstreifen und allem möglichens onstigen Schreibmaterial vorhanden waren, zu sammeln. Dieser Aufgabe unterzog sich Mohammeds Privatsekretär, und das Ergebnis war die offizielle Ansgabe des „Koran", welche der Khalif Othman veranstaltete und durch Vernichtung aller Quellen und abweichenden Relationen zur ausschließlichen Norm machte. Der Koran ist in 114 Suren in der Weise eingeteüt, daß eine kurze, schöne Sure das heilige Buch eröffnet (daher Fatiha, die Eröffnerin, genannt) und dann die Suren nach der Länge geordnet sind, die längsten zu Anfang, die kürzesten am Ende. In den einzelnen Suren sind oft die verschiedensten Stoffe aus verschiedenen Zeiten bunt nebeneinander gestellt, so daß man nicht begreift, warum gerade diese Sprüche in dieser Reihenfolge zusammengeordnet sind. Für die andere Aufgabe, die Aufrichtung der Gottesherrschaft, braucht man, nachdem einmal Mohammed zum Schwerte, zu List, Gewalttat und Verträgen gegriffen hatte, einen „Herzog" als Führer der Gläubigen im heiligen Kriege. So

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wurden zunächst aus dem engsten Kreise der Gläubigen nacheinander vier teils durch Wahl der Gemeinde, teils durch Bestimmung der Vorgänger berufen, die vier ersten „Khalifen" Abu Bekr, Omar, Othman und Ali. Dann riß der einflußreichste Zweig der mekkanischen Familie Koraisch, die Sippe Umajja, die Herrschaft an sich und richtete unter Muawijja in Damaskus ein moflemisches Weltreich auf. Es ist weder unsere Aufgabe, die verworrene Geschichte der mohammedanischen Staaten und Völker zu verfolgen, noch ist hier der Ort, die innere Geistesgeschichte des Jsiam als eines religiösen und theologischen Systems und einer Gesellschaftsordnung darzustellen. Wir geben nur einige Andeutungen. Arabien ist seit dem Anfang der geschichtlichen Überlieferung einem Topfe vergleichbar gewesen, der von Zeit zu Zeit überkochte. Wenn das arme Land durch die natürliche Vermehrung seiner nomadischen Beduinenvölker oder durch schwere Dürren und Hungersnöte das Volk nicht mehr zu ernähren vermochte, dann fand eine mehr oder weniger umfangreiche Völkerwanderung statt, die sich nach Zeit und Umständen in verschiedene Richtungen ergoß, nach Mesopotamien, Palästina und Syrien, Ägypten und Abessinien. Die größte arabische Völker­ wanderung war die in dem Jahrhundert nach Mohammeds Tode. Sie führte die leichten, schnellen Reiterscharen bis zu den Säulen des Herkules, Spanien und Frankreich im Westen, und nach Hochasien und Indien im Osten. In einem un­ erhörten Siegesläufe wurde ein Weltreich erobert, gegen welches selbst das Rö­ mische Reich klein erschien. Und dies Reich umfaßte in großer Zahl die Länder, welche von den ältesten Zeiten an Mittelpunkte und Träger der Menschheits­ kultur gewesen war, Ägypten, Palästina, Syrien, Mesopotamien, Persien, Kar­ thago, Mgier, Spanien usw. Die bisher nur an die einfachen Staats- und Volksverhältnisse der arabischen Steppe gewöhnten neuen Weltherrscher standen vor der ungeheuren Aufgabe, ihr Regiment den ungemein verwickelten Verhältnissen verschieden gearteter Kulturländer anzupassen, und das noch dazu gehemmt durch eine vielfach bis ins kleine und kleinliche gehende Gesetzgebung ihres Propheten, der nur die Bedürfnisse der arabischen Oasen und Wüsten vor Augen gehabt hatte. In diesem Weltreiche trat der Jflam zugleich in das geistige Erbe der alten Kulturvölker in Theologie und Philosophie ein und bekam damit das geistige Rüstzeug, um den zunächst gedankenarmen und starren Glauben der prophetischen Botschaft Mohammeds zu einer Weltreligion auszugestalten. Dies Erbe umfaßte die alte Weisheit Ägyptens, Griechenlands und Roms, die Philo­ sophie der Antike und die Theologie der christlichen Kirche, aber auch die Ge­ dankenschätze des Parsismus, die zähe lebenden Weltanschauungen Mesopotamiens und die ganz anders gearteten Gedankenrichtungen Indiens. Es war eine Riesenaufgabe der islamischen Theologen, die weder sehr zahlreichen noch sehr ergiebigen Keime und Ansätze ihrer Religion mit diesem Rüstzeuge zu entwickeln, ohne den Boden unter ihren Füßen zu verlieren und die Eigenart ihres Glaubens aufzugeben. Dabei fiel obendrein einerseits die Eigenart des semitischen Geistes ins Gewicht, der wohl mit bohrendem Scharf­ sinn einzelne Gedankengruppen durchdringt, aber nicht das Interesse zu haben scheint, zu großen, zusammenfassenden Weltanschauungen durchzudringen. So wurde die geistige Arbeit an einer ganzen Anzahl einzelner Dogmen in Angriff genommen: Gegenstände der theologischen Arbeit wurden der göttliche Offen8*

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barungscharakter des Koran; das Verhältnis der menschlichen Willensfreiheit zu Gottes Allmacht; die göttlichen Eigenschaften und ihr Verhältnis zum Wesen Gottes; der Grad und die Art, in welcher Mohammed als Offenbarungsmittler der Träger göttlicher Qualitäten war u. dgl. m. Aber es handelt sich mehr um lose nebeneinander stehende Dogmen, die zum Teil mit großer Feinheit und Schärfe ausgefeilt sind, als um theologische Gesamtanschauungen. Ander­ seits bewährte sich auch in diesem geistigen Ringen die oft beobachtete Art theolo­ gischer Kämpfe, daß in der Regel die schroffsten Thesen den Sieg davontragen, weil in ihnen das Geheimnis des Glaubens am sichersten verbürgt erscheint. So endeten die Kämpfe um die Gotteslehre mit der Behauptung, daß Allah Augen, Ohren, Hände und Füße habe, daß er rede, höre, gehe und sitze, nur bedeuten alle diese Aussagen bei Allah durchaus etwas anderes als bei den Menschen. Wir heben nur einige der wichtigsten Punkte des islamischen Glaubens und Lebens heraus, um einen Blick in das innere Leben dieser Religion zu tun: Durchaus ihr Herz und Lebenszentrum ist der Gottesgedanke. Die Losung des Islam lautet: Es ist kein Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter. Unter den drei monotheistischen Religionen ist der Islam diejenige, welche den Monotheismus am schroffsten und entschiedensten vertritt. Gleichsam das Schibboleth des Islam ist die 112. Sure: „Verkünde: Allah ist ein einziger. Mah ist der Ewige. Er hat nicht gezeugt und ist nicht gezeugt worden, und keiner ist ihm ebenbürtig." Die islamische Theologie wird nicht müde, diesen schroff-mono­ theistischen Gottesgedanken nach allen Seiten herauszuarbeiten. Neun Zehntel der islamischen Katechismen und Dogmatiken sind in der Regel mit der Gotteslehre an­ gefüllt. Dabei fällt besonders auf, in welchem Maße die hyperphysischen Eigen­ schaften die ethischen überwiegen. Wir Christen stellen zwei Grundaussagen von Gott als gleich wichtige Ausgangspunkte des religiösen Denkens nebeneinander: Gott ist Geist, und Gott ist Liebe. Für den Moslem steht ein Gedanke einseitig und beherrschend im Mittelpunkt: Allah ist der Allmächtige. Sein Prototyp ist der orientalische Weltherrscher, dessen unberechenbarer aber großherziger Wille Wohl und Wehe seiner Untertanen bestimmt; er kann viele edle Eigenschaften haben, barmherzig und großmütig, freigebig und gerecht sein usw. Aber er kann auch anders. Sein Wille ist das höchste Gesetz, gegen das es keine Berufung gibt. Mah machte am Anfang aus der Hälfte eines Lehmlloßes Menschen, warf sie in die Hölle und sagte: Diese sind für das Höllenfeuer, und was schiert mich das. Und aus der anderen Hälfte machte er andere Menschen, warf sie in den Himmel und sagte: Diese sind für das Paradies, und was schiert mich das! Alles, was geschieht, auch alles Tun der Menschen, ist das Wirken und Tun des all­ mächtigen und allwissenden Gottes. Ihm gegenüber gibt es keinerlei freie Willensentscheidung des Menschen; dieser geht nur auf das Wirken Mlahs ein und eignet sich dadurch das Tun Allahs an. Die Lehre von der Unfreiheit des Willens hat merkwürdigerweise im Islam zu verschiedenen Zeiten entgegenge­ setzte Willensrichtungen ausgelöst. In der früheren Heldenzeit entflammte sie zu rücksichtslosem Tatendrang und zur Hingabe des Lebens. Allahs Wille allein sollte geschehen. Sein Wille war die Aufrichtung der Gottesherrschaft auf Erden. Selig, wer bei diesem Gotteswerke sein Leben verlor; er war der Freuden des

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Paradieses gewiß. In späteren, nicht unter der gleichen religiösen Hochspannung lebenden Zeiten hatte sie jene gedrückte, den Willen lähmende Stimmung zur Folge, den wir mit dem Worte Kismet (Schickung) oder Jnschallah (So Allah will) verbinden. Da doch unter allen Umständen Allahs Wille geschieht, ist jede eigene Anstrengung zwecklos, jedes Ankämpfen gegen das Schicksal unfromm. Außer dem Glauben an Allah und an die Vorherbestimmung von Gut und Böse schließt das istamische Bekenntnis noch ein den Glauben an die Engel, die Bücher, die Propheten, die Auferstehung und den Gerichtstag. Heilige Bücher, welche Allah durch den Engel Gabriel herniedergesandt hat, soll es insgesamt 104 gegeben haben: 10 gingen an Adam, 50 an Set, 30 an Henoch, 10 an Abra­ ham, endlich — da diese alle durch die Unachtsamkeit der Menschen verloren gingen, das Taurat (Alte Testament) und des Zabur (Psalter) an die Juden, das Jndschil (Neue Testament) an die Christen und der Koran an die Mohammedaner. Der Inhalt dieser Gottesoffenbarungen ist, da sie alle von demselben Gott kommen, stets der gleiche; wenn deshalb jetzt die heiligen Bücher der Juden und Christen mit dem Koran nicht übereinstimmen, so haben sie, besonders die Christen, ihre Bücher gefälscht und haben besonders die Weissagungen auf Mohammed beseitigt. Ein weitausgesponnenes Lieblingskapitel moslemischer Dogmatik ist das vom Gerichtstag, von Paradies und Hölle. Schon Mohammed konnte sich in ihrer Schilderung nicht genug tun; hier nahm seine dichterische Phantasie einen besonders hohen Schwung. Sure 56 mit ihrer Schilderung von der Seligkeit der Gefährten des Propheten: Wenn das Hereinbrechende naht, Kein Verringern, kein Erhöhen!

Wenn Berg an Berg sich reibt Dann werdet ihr dreifach gereiht:

Sie als Erste weiden Viele von den Vätern, Auf Thronen von Demant Vom einen zum andern gehen ewige Knaben Mit Getränken, die nicht be­ rauschen noch betören, Mit Geflügel, wie es Selige mögen verzehren. Belohnen sie für ihr Erdentum.

Nein, „Friede, immerfort.

Friede"

Dann findet kein Leugnen mehr statt, Wenn die Erde sich windet in Wehen, Und zu einem Nichts zerstäubt: In solche zur Rechten — In solche zur Linken — In Vorgehende, Vorstehende! Sich an Edens Freuden: Wenige von den Spätern! Sitzen sie einander zugewandt. Aus Bechern, Krügen und Schalen sie zu laben Mit Früchten noch eines jeden Begehren, Und Jungfrauen wie Perlen, die in der Schale noch ruhn, Es tönet kein frevelhaft sün­ diges Wort, (Sure 56)

nur

Das Pochende, was ist es? Wenn die Menschen wie Motten durcheinander schwirren, Bei wem dann die Wagschale sich senkt

Das Pochende, wer ermißt es? Wenn die Berge sich wie Woll­ flocken wirren: Der wird mit Wonnen beschenkt.

Wer zählt zu ihnen? Wer zählt zu ihnen?

Bei wem sich die Wagschale hebt, Und was ist ihm dort verhängt?

Fühlt von Hawija's (der Hölle) Arm sich umschränkt. Feuer, das ihn sengt. (Sure 101, 1—8)

Nicht in dem Lehrgehalte liegt der Schwerpunkt des Islam, sondern in seiner Lebensgestaltung und Willensrichtung. Das Wort „Islam" hat die spezifisch religiöse Bedeutung „Hingabe an Allah", rückhaltlose Unterwerfung unter seinen Willen erhalten. Wie stark nun die innere Abhängigkeit Mohammeds von den ihn um­ gebenden jüdischen Einflüssen war, kommt darin zum Ausdruck, daß seine Reli­ gion einen gesetzlichen Charakter bekommen hat. Bei dem Hinauswachsen des Islam über die engen Grenzen und beschränkten Verhältnisse Arabiens stellte es sich bald heraus, daß der Koran eine zu schmale Unterlage war, um darauf das Gebäude einer Weltreligion und Weltkultur zu errichten. Es bildete sich eine breite Schicht von Überlieferungen, die ihm er­ gänzend zur Seite trat: Teils die Handlungsweise des Propheten oder seiner Genossen, teils Aussprüche von ihnen über alle möglichen Fragen wurden zu­ nächst zusammenhanglos als „Hadithe" berichtet; bald wurden diese nach Zehn­ tausenden zählenden Hadithe zu einer umfassenden „Sunna" (Überlieferung) zu­ sammengestellt. Zweifellos sind darin viele echte Züge von Mohammeds Leben und Lehre aufbewahrt, ohne die der Mohammed des Koran wie ein blutleerer Schatten erscheinen würde. Aber diese wahllose Ansammlung von echten und unechten Erinnerungen gab auch Gelegenheit, vieles von dem in Mohammeds Leben hineinzuschmuggeln, was sich der Islam in den folgenden Menschenaltern von fremdem Gut aneignete. Nun war es nicht verwunderlich, daß, als Theologen und Juristen begannen, diese Stoffmassen durchzuarbeiten, sich verschiedene Richtungen bildeten. Vier von ihnen haben kanonische Wertung erhalten: die Hanifiten (so genannt nach ihrem Meister Abu Hanifa, f 767), die Malikiten (nach Malik bin Anas, t 795), die Schafiiten (nach el Schafii, f 819) und die Hanbaliten (nach Ahmed bin Hanbal, f 855). Das sind die vier Madhab's, von denen je einer in den verschiedenen Ländern des Islam herrschend geworden ist. Mochten ihnen ursprünglich tiefer greifende Unterschiede zugrunde liegen, so sind diese doch im Laufe der Jahrhunderte einander angeglichen vermöge einer merkwürdigen Kraft des Islam, dem Jdschma, d. h. der Glaubensübereinstimmung der Frommen, die als ausschlaggebende Instanz in Lehrfragen und Richtungsgegensätzen anerkannt wird. Vermöge des Jdschma hat der Jflam in allen Ländern eine erstaunliche Gleichartigkeit des Glaubens und des Lebens erzielt, trotzdem keine Konzile und keine Päpste die Entwicklung beeinflussen und leiten konnten. Das Hauptinteresse dieser Eutwicllung ging dahin, für alle Verhältnisse den Willen Gottes festzustellen, also eine alle Lebensverhältnisse umfassende und durch den Willen Mlahs normierte objektive Ethik zu schaffen. Da sind zunächst von entscheidender Bedeutung die fünf „Säulen" des Islam: das Glaubens­ bekenntnis zu Mlah und seinem Propheten, das fünfmalige tägliche Ritualgebet (Salät), das Fasten im Monat Ramadhan, die Almosensteuer und die Wall­ fahrt nach Mekka (Hadsch). Das moslemische Grundbekenntnis, die Kalima, erwähnten wir schon: Es ist kein Gott außer Mlah, und Mohammed ist sein Prophet. Keine Religion hat ein

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so kurzes und die Hauptpunkte so scharf heraushebendes Bekenntnis; allerdings zeigt sich auch daran, wie verhältnismäßig gedankenarm der Islam ist. — Das tägliche, fünfmalige Ritualgebet, die Salät, ist eine in feststehenden Formen und Formeln verlaufende Übung, die in der Mehrzahl der heute lebenden Mohamme­ daner unverständlichen klassischen arabischen Sprache gehalten wird. Sie ist arm an religiösen Gehalt, hat aber viel dazu beigetragen, dem Leben der mohammedani­ schen Völker das Gepräge Religion aufzudrücken.—Das Fasten im Monat Ramadhan ist in den heißen Heimatlanden des Islam eine große Leistung; während des ganzen Monats darf von Sonnenaufgang bis zum Untergang kein Bissen Speise, kein Trunk Wasser genossen werden. Es ist oft beobachtet, wie sehr die strenge Durchführung des Fastengebotes den Fanatismus der Mosieme steigert. — Die Almosensteuer entsprang zunächst dem warmen sozialen Zuge des Propheten, der sich den Witwen, Waisen und Armen zuneigte. Sie hat sich später in eine offi­ zielle Besteuerung der Mosteme gewandelt, wobei im allgemeinen von den land­ wirtschaftlichen Produkten der Zehnte, von dem Verdienst in Handel und Gewerbe­ fleiß nur 21/2°/o erhoben wurden. — Die Wallfahrt nach Mekka, bezw. die Prozession nach Arafat bei Mekka, der Hadsch, soll wenigstens einmal im Leben von jedem moflemischen Manne ausgeführt werden. Der Zusammenstrom von Zehntausenden frommer Mohammedaner aus allen moflemischen Ländern vom fernen Ostasien bis zum Kongo hat ungemein geholfen, die Mohammedaner mit einem Solidaritätsgefühl zu erfüllen und das ihnen eigentümliche Bruderschafts­ gefühl zu stärken, das sie zu einer Gemeinschaft zusammenschließt, sich aber gegen die Ungläubigen spröde ablehnend verhält. Außer diesen fünf religiösen Grundformen ist das Leben in allen seinen Beziehungen, die Individual- und Sozialethik, das Staats-, Che-, Familien-, Erb-, Sachen- und Obligationenrecht usw. zu einem verwickelten und bis in die Einzel­ heiten einer haarspaltenden Kasuistik ausgearbeiteten System des vermeintlich dem Willen Mlahs entsprechenden Handelns ausgestaltet. Man nennt diese dem Willen Mlahs entsprechende Rechts- und Lebensnorm die Scharia. Sie teilt grundsätzlich alle Handlungen in fünf Gruppen: die schlechthin guten, die er­ laubten, die gleichgültigen, die zu widerratenden, die schlechthin bösen. Große religiöse Persönlichkeiten, wie M Ghazali, haben sich ernstlich bemüht, trotz der Verobjektivierung des Handelns, die entscheidende Bedeutung der „Gesinnung" als der treibenden Kraft aufrechtzuerhalten und zu betonen. Es ist aber begreif­ lich, daß die veräußerlichende Tendenz vielfach im Leben die Oberhand gewinnt. Sittlichkeit, Sitte und Recht sind nicht geschieden. Nun sind aber tatsächlich die Lebensverhältnisse in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kulturstufen so grundverschieden, daß ein gleichmäßig derselben Norm entsprechendes Handeln Widersinn ist. Das moflemische Recht baut sich auf den Vorschriften und Ent­ scheidungen Mohammeds auf, welche geschickt den primitiven Verhältnissen des Arabien im 7. Jahrhundert angepaßt waren. Bestrafung des Diebstahls, Geld­ wirtschaft, Staatsverwaltung, Grundrecht, Kriegsrecht und Friedensverträge ge­ stalten sich aber begreiflicherweise in dem verwickelten Kulturleben einer modernen Großstadt oder im Weltverkehr anders als damals in einer arabischen Oase. Die Folge ist, daß große Teile der Scharia gleichsam nur ideales Recht, nicht praktisch gültiges sind. Sie stellen dar, wie normaler- oder idealerweise das Leben des

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frommen Moslem und der moslemischen Gesellschaft gestaltet sein sollte. Aber dieses der Norm Mlahs entsprechende Verhalten ist in dieser bösen Welt nicht möglich. Es wird eine Zeit kommen, wo die Gottesherrschaft auf Erden völlig aufgerichtet wird, nämlich wenn der Mahdi, der „Rechtgeleitete", kommt.

Eine selbständige Bedeutung und Entwicklung hat im Jflam von Anfang an die Mystik gefunden. Verschiedene Faktoren kamen ihr entgegen. Die pro­ phetische Predigt Mohammeds hatte starke religiöse Triebe ausgelöst, und als sich schon unter der Herrschaft der Omajjaden der Jflam zu einer glänzenden Weltmacht mit weltlichen Lebensformen ausgestaltete, suchten die Frommen um so mehr, in weltferner Übung das Wohlgefallen Allahs und seines Propheten zu gewinnen, besonders durch genaueste Nachahmung der äußeren Lebensformen Mohammeds. In den Ländern, über welche der Jflam die Herrschaft an sich riß, hatten teils das christliche Mönchs- und Einsiedlertum, teils das indische Pogiund Sanyasitum feste Formen für das „fromme Leben" (vita religiosa) aus­ gestaltet, die zur Nacheiferung und zur Übertragung ins Islamische anregten. Wenn die islamische Theologie den Abstand zwischen Gott, dem Herrn, und dem Menschen, dem. Sklaven, zu einem Abgrund erweiterte, so ruhte die Fröm­ migkeit nicht, bis sie diese Kluft in dem kühnen Schwünge mystischer Schauung übersprungen und die Einigung mit der Gottheit erreicht hatte. Der Jflam hatte vielen der edelsten und tiefsten Völker der alten Welt die nationale Eigenart und staatliche Selbständigkeit zerbrochen; kein Wunder, wenn diese gebrochenen Geister aus der rauhen Wirklichkeit in seine schöne Traumwelt flüchteten und sich dort einen Zaubergarten aus Gottessehnsucht, zarter Minne und Weinseligkeit aufbauten. Die islamische Mystik ist zu ihrer höchsten Vollendung bei den persischen Sufidichtern und bei einigen bedeutenden Theologen wie al Ghazali gekommen. Wir unternehmen einige Streifzüge in dieses Wunderland. Die Lehre der Eingeweihten war, daß die Seele im Körper wie in einem Gefängnis sitzt. Dem entsprach die philosophische Anschauung, daß das Wissen die Seele von dem Banne der Materie befreit; sie der Welt entfliehen läßt um ihre wahre Bestimmung zu erreichen. Führerin dazu ist die Liebe (mahabba). Der Geliebte (habib) ist Gott. Wahre Liebe macht trunken. Solche Trunkenheit artet aus in Raserei, wobei der einzelne als madschnun, d. h.: von dschinn, den Geistern besessen, bezeichnet wird. Der ekstatische Zustand, in den sich der Liebende versetzt, führt zur Vernichtung, zur Aufhebung des Irdischen und zur Einswerdung mit Gott (tauhid). Der bekannteste Vertreter der sufischen Richtung im alten Jflam war Hussein el Halladsch, ein arabisierter Perser. Er sah sich als eine Verkörperung der Gottheit an: ana el haq, d. h. „Ich bin die Wahrheit" oder „Ich bin Gott". Er wurde unter schrecklichen Martern im Jabre 921 in Bagdad hingerichtet.

Ibn Arabi (f in Damaskus 1240) sieht Gott als das universelle Sein an, als die höchste Substanz, der gegenüber alles andere Nichtsein ist. Der Kosmos ist nach ihm ein Kreis­ lauf, in dem alle Dinge aus Gott emanieren und sich zu Gott wieder emporentwickeln. Ein­ heit in Gott zu erlangen, ist das Ziel aller Geschöpfe, das durch Abstreifen des Individuellen erreicht wird. Der Mystiker soll in Gott versinken und untergehen. Dies wird auf dem Wege der Askese erreicht, in der eine Vergöttlichung der menschlichen Natur erstrebt werden muß.

„Mein Herz ist für jede Form (des religiösen Kultus) aufnehmend geworden. Es ist daher ein Weideplatz für Gazellen (mystische Weisheit), ein Kloster christlicher Mönche. Ich hänge der Religion der mystischen Liebe an, wohin auch immer deren Kamele ihren Weg einschlagen. Dieses ist meine Religion und mein Glaube." Al-Ghazali (f 1111) war der große Theologe, der die schwärmerische Mystik mit Der theologischen Rechtgläubigkeit verschmolz und ihr dadurch einen anerkannten Platz im ifla-

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mischen Glauben und Leben sicherte. Charakteristisch für seine religiösen Erfahrungen ist die Schilderung seiner „Bekehrung" in seiner Selbstbiographie: „Darnach, als ich schwankte, faßte ich den Entschluß, Bagdad zu verlassen und jenen Zustand (des Schwankens) zu beenden, an einem Tage und gab den Plan wieder auf am nächsten." ... „Am Morgen stand bei mir fest, nur mit dem künftigen Leben mich zu beschäftigen, aber dagegen lief eine Legion fleisch­ licher Begierden Sturm und zerstreute meine Entschlüsse, wenn es Abend wurde. So fesselten mich die weltlichen Freuden, indem sie mich mit ihren Ketten auf meinen Platz banden, während die Stimme des Glaubens mir zurief: Vorwärts, vorwärts, nur kurze Frist bleibt dir zum Leben. Alles, was in dir ist, im Tun und Wissen, ist eitel und trügerisch." ... „Dar­ über reifte der Entschluß, und es erwuchs der Plan zur Preisgabe und zur Flucht." . . . „Als ich meine Schwäche fühlte und mein freier Wille vollkommen darniederlag, nahm ich meine Zuflucht zu Allah, und er erhörte mich, der den Bedrängten erhört, wenn er zn ihm ruft. Er machte mir innerlich leicht die Loslösung von Ehre und Reichtum und Familie und Kin­ dern und Freunden." So zog sich Ghazali in die Einsamkeit zurück, behielt nur das zum Leben unbedingt Notwendige und verließ Bagdad. Er kannte jetzt ein größeres Glück, die mystische Versenkung in Gott. „Worum es sich handelt, kann ich nicht sagen. Preise mich glücklich, mehr sollst du nicht fragen." In dieser Einsamkeit reinigte er sein Herz für das Ge­ denken (dhikr) Gottes, wie ers von der sufischen Wissenschaft gelernt hatte. Er erzählt: „Die Ekstase kam nur in einzelnen Stunden über mich, aber trotzdem verlor ich nicht die Hoffnung darauf. Ja, je mehr Hindernisse mich von ihr abhielten, desto mehr kam ich darauf zurück. In dieser Lage blieb ich 10 Jahre, und es wurden mir während dieser Einsamkeit Dinge ge­ offenbart, die ich nicht aufzählen oder ergründen kann . . ." „Ich wußte ganz sicher, daß die Sufis im besonderen auf Gottes Wegen wandeln und daß ihr Lebenswandel am vollkom­ mensten ihr Weg am zutreffendsten ist. Ob sie in Tätigkeit oder Ruhe sind, nach innen wie nach außen sind sie erleuchtet von dem Licht, das von der Prophetie ausgeht.. ." Die erste Bedingung ist ein Herz, das ganz von dem gereinigt ist, was Gott fremd ist. Der Schlüssel dazu ist eine völlige Inanspruchnahme und das Eintauchen des Herzens in dem Gedenken Gottes. Sein Ende ist das völlige Aufgehen in Allah. Die Ekstase erhebt sich über die Wahr­ nehmung von Formen und Bildern bis zu Graden, denen die Möglichkeit der Darstellung fehlt. Kein Mensch kann darnach trachten, es zu erklären, ohne daß sein Wort schwere Sünde in sich schließt, keiner vermag es, ohne dem zu entgehen. . . ." „Wer davon nicht etwas kostet, der kennt vom wahren Wesen der Prophetie nur den Namen." Djelal ed-din Muhammed, genannt Rumi, d. h. der aus Ost-Rom, dem Ostland, stammende, war geboren im Jahre 1207, bekleidete das Amt eines Vorstehers der moham­ medanischen Schule zu Koma in Kleinasien, begründete den Mevlevi-Orden und starb im Jahre 1273. Seine literarische Tätigkeit war ungemein fruchtbar. Nur ein paar von feinen Liedern: 1. „Höchste Liebe, wo du thronest, laß' vor deinem Throne knien Meine schönsten, ewig deinem Thron geweihten Melodien!".... 2. „Komm, der Liebe Sklave sei! Denn die Lieb' ist Sklaverei. Laß den Sklavendienst der Welt, Tritt der Liebe Sklaven bei! Freie macht zu Sklaven Welt, Liebe macht die Sklaven frei. Aus der Welt bin ich geschlüpft Wie der Bogel aus dem Ei. Mach' mich von der Schale, die Mir noch anklebt, mach' mich frei!"

3. „Das spröde Herz ist weich geworden, Weich unter deinem Streich geworden, Das starre Herz war arm von Hochmut, Und ist in Demut reich geworden. Das Reich der Welt ging in Dir unter Und ist zum Himmelreich geworden;

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Die Religionen -er Völker. Der Der Wir Und

Liebende ward zum Geliebten. Jünger ist zum Scheich geworden. waren ungleich an Begierden sind in Liebe gleich geworden."

4. Ich sah empor, und sah in allen Räumen eines; Hinab ins Meer, und sah in allen Wellenschäumen eines. Ich sah ins Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten, Voll tausend Träumt ich sah in allen Räumen eines. Du bist das Erste, Letzte, Äußre, Innre, Ganze; Es strahlt dein Licht in allen Farbensäumen eines. Du schaust von Ostens Grenze bis zur Grenz' im Westen, Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen eines. Vier widerspenstige Tiere ziehn den Weltenwagen; Du zügelst sie, sie sind an deinen Zäumen eines. Luft, Feuer, Erd' und Wasser sind in eins geschmolzen In deiner Furcht, daß dir nicht wagt zu bäumen eines. Der Herzen alles Lebens zwischen Erd' und Himmel, Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen eines!

5. Obgleich die Sonn' ein Scheinchen ist deines Scheines nur, Doch ist mein Licht und deines ursprünglich eines nur. Ob Staub zu deinen Füßen der Himmel ist, der kreist; Doch eines ist und eines mein Sein und deines nur. Der Himmel wird zu Staube, zum Himmel wird der Staub; Und eines bleibt und eines dein Wesen, meines nur. Wie kommen Lebensworte, die durch den Himmel gehn, Zu ruhn im engen Raume des Herzensschreines nur? Wie bergen Sonnenstrahlen, um heller aufzublühn, Sich in die spröden Hüllen des Edelsteines nur? Wie darf, Erdmoder speisend, und trinkend Wasserschlamm, Sich bilden die Verklärung des Rosenhaines nur? Herz, ob du schwimmst in Fluten, ob du in Gluten glimmst, Flut ist und Glut ein Wasser; o sei du reines nur! O Mewlana! Am Morgen wacht' ich mit dir, und sah: Mein Auge, statt voll Tränen, voll Himmelsweines nur. 6. Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch schauert Leben vor dem Tod. Das Leben sieht die dunkle Hand, Den hellen Kelch nicht, den sie bot. So schauert vor der Lieb' ein Herz, Als wie von Untergang bedroht. Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot. Du laß ihn sterben in der Nacht Und atme frei im Morgenrot.

Ein angesehener persischer Mystiker war Hafis, geboren im Jahre 1300 und ge­ storben 1389 in Schiraz. Die Ansichten sind darüber verschieden, ob man seine Trink- und Liebeslieder wörtlich verstehen soll, wie Goethe in seinem Westöstlichen Divan, der Orienta­ list Hammer u. a. oder als Einkleidung für die mystische Liebe und den Zustand der reli­ giösen Begeisterung. So heißt es in dem „Schenkenbuch" des Hafis:

„Komm, gib mir den Wein, o Schenk, der mystische Ekstase schafft, Der den Edelsinn mir steigert, der mich zur Vollendung bringt. Reich ihn mir; denn vielfach bin ich als ein Tor dahingesunken, Hingesunken ohne Teil an Edelsinn und an Vollendung!"

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„Gestern Nacht sah ich, daß die Engel an die Schenke klopften, Sie kneteten Adams Ton und warfen ihn in den Mischkrug. Die Bewohner des verschleierten Heiligtums und der keuschen unsichtbaren Welt Kredenzten mir, dem Staubbewohner, den berauschenden Trank (der Liebe)..."

„Wirf eilig dein Leben und dein Gold auf dem Wege der Liebe fort; wenn du zu den Wanderern gehörst, so wirf deine Seele fort; wandere eilig zu der ewigen Stätte und wiffe, daß alles Vernichtung ist außer Gott." Die Menschen sind nichts — Gott ist alles: „Wir find Schachfiguren, der Himmel ist der Spieler." Und die Seele ist „ein Hauch, der aus einem Meere aufgestiegen, dann wieder in des Meeres Abgrund sinkt." Der einzig Seiende ist Gott. Alle eigenen, außergöttlichen Hand­ lungen muß der Sufi aufgeben, sie sind das „Nichtseiende". Gott muß ihm alles in allem werden durch mystische Vereinigung, die bis zum Schwinden des Selbstbewußtseins fortschreitet.

Sufis, „Wollene", nannte man die Vertreter dieser Mystik, nach dem schlichten Wollgewand, in das sie sich kleideten. Bald vollzog sich unter dem Vorbilde der chrisüichen Mönchsorden auch in ihren Kreisen die Entwicklung, daß sich losere ödere festere Orden bildeten, die sog. Derwischorden. Man zählt ihrer heute in der Welt des Islam 88. Manche unter ihnen sind weit verbreitet und haben großen Einfluß, so die Kadirijja, der Orden des sagenhaften Abdul Kader, und die Senussija, der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene, aber in Nord­ afrika weitverbreitete Orden Senussis. Meist gliedern sie sich in den engeren Kreis der eigentlichen Bruderschaft, die in den sog. Sawijas in klösterlicher Gemein­ schaft leben, und den weiteren, oft zahlreichen Kreis von Laienfreunden, die nur nach Zeit und Umständen an den religiösen Übungen teilnehmen. Die bekannteste und beliebstete dieser Übungen ist das Dhikr, eine meist im Anschluß an die Salät ausgeführte Übung, bei der unter Leitung eines Schech nach feststehender Ord­ nung unter Musikbegleitung bestimmte religiöse Formeln so lange rezitiert werden, bis ein hypnotischer Zustand (hal) erreicht ist. Die Exerzitien der „tanzenden" und „heulenden" Derwische in Kairo und Konstantinopel sind oft beschrieben. In ihnen mischt sich orgiastischer Mysterienkult aus uralter Vergangenheit mit mostemischen Frömmigkeitsmotiven. Der Jflam hat sich in schnellem Eroberungszuge das Herz der Welt, die Länder, welche die Wiege der Menschheitskultur waren, unterworfen. Er hat fast in jedem Lande zunächst eine Kulturblüte erzeugt, die oft die dort wohnenden Völker zu einer nie vorher erreichten Höhe hinaufgeführt hat, so Ägypten, Syrien, Samarkand, das indische Mogulreich, Marokko, das Spanien der Alhambra usw. Aber der Islam hat sich seltsam unfähig erwiesen, seine Völker auf der in schnellem Fluge erreichten Kulturhöhe zu erhalten. Überall ist erst Stillstand, dann Rück­ gang, dann Verfall eingetreten. Der Jflam hat bisher nirgends die Kraft bewiesen, wie das Christentum im Reformationszeitalter, seine Völker aus seinen innersten Lebens­ mächten heraus neu zu befruchten und einem neuen Frühling entgegenzuführen.

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Die Religionen der Völker.

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