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German Pages 239 [243] Year 2010
Christa Frateantonio / Helmut Krasser (Hg.) Religion und Bildung
POTSDAMER ALTERTUMSWISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE (PAwB)
Herausgegeben von Pedro Barceló (Potsdam), Peter Riemer (Saarbrücken), Jörg Rüpke (Erfurt) und John Scheid (Paris) –––– Band 30
Christa Frateantonio / Helmut Krasser (Hg.)
Religion und Bildung Medien und Funktionen religiösen Wissens in der Kaiserzeit
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09690-4 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung ................................................................................................................. 7 Fritz Graf Priester und Lehre im Spannungsfeld von Antike und Christentum ..................... 13 Jörg Rüpke Zwischen Rationalismus und Ritualismus: Zur Entstehung des Diskurses ÄReligion³ in der späten römischen Republik ....................................................... 29 Vera Binder Nil credo auguribus: Zur Chaldäerrede des Favorinus von Arles (Aulus Gellius, Noctes Atticae XIV 1) .................................................................. 47 Helmut Krasser Religion auf Reisen: Zwischen antiquarischer Lust und sophistischer Selbstinszenierung .................... 67 Christa Frateantonio Die Exegeten kommen: Griechische Religion im Fokus gelehrter Ambitionen. $QPHUNXQJHQ]X3DXVDQLDV¶Periegese............. 87 Ulrike Egelhaaf-Gaiser Blütenlese fürs Bankett: Die Organisation und Präsentation religiösen Wissens in den Deipnosophisten des Athenaios ................................. 111 Katharina Luchner ÄAuch wenn eineU]HKQ=XQJHQXQG]HKQ0QGHUKlWWH«³ (Hieroi logoi 1,1): Aelius Aristides und die Inkommensurabilität des Göttlichen ............................ 133 Ian H. Henderson Memory, Text and Performance in Early Christian Formation ........................... 157 Andreas Schwab Von der Leseform zur Lebensform: Basilius von Cäsarea zur Rolle der Dichtung im Kontext eines christlichen Bildungskonzepts ........................... 185 Katharina Lorenz Bilderkreise: Visuelles und religiöses Wissen im Kuppelsaal der Villa von Centcelles .............................................................. 197 Hubert Cancik Römische Religion in spätantiken Vergil-Kommentaren .................................... 223
EINLEITUNG Christa Frateantonio, Helmut Krasser Das SFB-Kolloquium ÄBildungsgut Religion in Griechenland und Rom. Medien der Wissensvermittlung in der Hohen Kaiserzeit³ (Schloss Rauischholzhausen, 29.04. ± 1.05.2004) diente als Diskussionsforum für die am Gießener SonderforVFKXQJVEHUHLFK Ä(ULQQHUXQJVNXOWXUHQ³ beteiligten altertumswissenschaftlichen Arbeitsvorhaben im Projektbereich A. Das Kolloquium wurde von der zum 6)% JHK|ULJHQ $UEHLWVJUXSSH Ä:LVVHQVRUGQXQJHQ³ YHUDQVWDOWHW Zum besseren Verständnis der thematischen Orientierung seien einige Bemerkungen vorangestellt, die generelle Fragestellungen illustrieren, die von diesen Projekten insbesondere im Rahmen der Arbeitsgruppe Wissensordnungen, der alle altertumswissenschaftlichen Teilprojekte angehörten, verfolgt wurden. Erinnerung wurde hier in erster Linie als Form des wissensorientierten Vergangenheits- und Traditionsbezuges verstanden. In der Arbeitsgruppe Wissensordnungen waren bei den Beteiligten insgesamt Fragen der Organisation, Selektion, Systematisierung und Präsentation von Wissen in besonderer Weise für die Arbeitsprojekte relevant. Innerhalb dieses Problemfeldes galt den Fragen nach den kulturellen Rahmenbedingungen der Wissenserschließung und -speicherung sowie nach der Beziehung zwischen Speichermedien und gespeicherten Inhalten ein besonderes Augenmerk. Die Frage nach den Gründen für Traditionsbildungen und -verwerfungen stand dabei in engem Zusammenhang mit der identitäts-konstitutiven Funktion der Erinnerung. Besondere Arbeitsschwerpunkte waren Wissensordnungen und ihre Applikation im Bereich religiöser Erinnerung, Formen antiquarischer und enzyklopädischer Wissensspeicherung und -erschließung, Techniken narrativ-anekdotischer Wissenspräsentation, die literarische Kanonbildung sowie die Bibliothek als Ordnungssystem und Gedächtnisfigur. Die Basis der gemeinsamen Überlegungen war der Begriff der Wissensordnung, verstanden als formale Verfasstheit eines Bereichs kollektiver Erinnerung. Die altertumswissenschaftlich orientierten SFB-Projekte bearbeiteten Gegenstände innerhalb eines Zeitrahmens, der von der Späten Republik bis hin zur Spätantike reichte. Dieser Zeitrahmen spiegelt sich auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes. Im Zentrum ± und auch das gilt für diesen Band ± standen allerdings die Kaiserzeit und deren kulturelle und literarische Diskursformen. Das zeitliche Ausgreifen nach vorne und hinten geschah ganz wesentlich im Horizont von Fragestellungen, die zunächst im Zusammenhang mit kulturellen Phänomenen und Wahrnehmungsgewohnheiten der Kaiserzeit entwickelt wurden. Ein besonderes Augenmerk galt dabei den Prozessen kultureller Transformation sowie der Emergenz neuer Deutungs- und Kommunikationsmuster, die mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Kaiserzeit einhergin-
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gen. Hier lag der Ansatzpunkt für erinnerungskulturelle Konzepte, da in diesem dynamischen Prozess der Neukonstruktion des Imperiums der Vergangenheitsrekurs auf unterschiedlichen Ebenen von Relevanz war. Dies gilt sowohl für Formen des legitimatorischen Rückgriffs auf die Tradition, als auch für Um- und Verformungen traditioneller Diskurse. Darüber hinaus machen das Nebeneinander von imperialen und lokalen Referenzsystemen und die daraus resultierende Spannung von Homogenität und Pluralität die Kaiserzeit zu einem Raum für die Konkurrenz unterschiedlicher Formen der Identitätskonstruktion und -beglaubigung. Durch eine solche Perspektivierung scheint die in der Kaiserzeit vielfach thematisch bearbeitete Korrelation von Religion und Vergangenheitsrekonstruktion nunmehr weniger in einem nostalgischen, sondern eher gelehrten und damit besonders auch distinktiven Kontext zu stehen. Der Rekurs auf lokale Traditionen und Traditionsbestände vor allem im griechischen Osten spielte hier eine ebenso wichtige Rolle wie integrative Tendenzen in Gestalt der Herausbildung eines kulturellen Stratums, das für die intellektuelle Elite des Imperium ein translokales Identifikationspotential bereitstellt und wesentlich zur Reichsintegration beiträgt. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Bildungs- und Wissenskultur der Kaiserzeit insbesondere des ausgehenden ersten und beginnenden zweiten Jahrhunderts, also jene Kultur der Paideia, die kulturelle Kompetenz zu einem wesentlichen Merkmal sozialer Distinktion werden ließ.1 An diesem Prozess waren unterschiedliche Gruppen beteiligt, die zum einen den traditionellen Eliten entstammten, die gerade im kulturellen Bereich ein Feld entdeckten, auf dem sie soziale Distinktion und öffentliche Wirksamkeit erreichen konnten. Zum anderen aber sieht man auch eine Reihe von Professionals, die qua Bildung und Wissen zu Prestige und Ansehen gelangten. Innerhalb dieses kulturellen Horizontes kommt Religion und religiösem Wissen eine entscheidende Bedeutung zu. Zwei Grundfragen sind hier von übergreifender Bedeutung: Erstens die Frage, in welcher Weise religiöses Wissen auf das für die Selbstwahrnehmung kaiserzeitlicher Gesellschaft prioritär relevante Feld Paideia bezogen werden kann, und zweitens die Frage, in welchen unterschiedlichen Funktionszusammenhängen religiöses Wissen innerhalb dieses Feldes aufgerufen und instrumentalisiert werden kann. Folgende Einzelaspekte sind dabei konstitutiv: 1. Religion stellt einen festen Bestandteil der gängigen kulturellen Praxis dar. 2. Religion und religiöse kultische Praxis weisen durch ihre Traditionsgebundenheit einen spezifischen Vergangenheitsbezug auf. Die Bandbreite reicht hier über aitiologische Mythen, Bauten und Skulpturen bis hin zu sprachlichen Besonderheiten kultischer Terminologie.
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Zur Diskussion siehe besonders B.E. BORG (Hg.), Paideia. The world of the Second Sophistic, Millennium-Studien 2, Berlin/New York 2004; T. SCHMITZ, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophisitk in der griechischen Welt der Kaiserzeit, Zetemata 97, München 1997 und T. WHITMARSH, The Second Sophistic, Greece & Rome ± New Surveys in the Classics 35, Oxford 2005.
Einleitung
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Religion und kultische Praxis sind wesentliche Bestandteile lokaler Identitätsbildung. Auch hier ist der Bezug zu Vergangenheit einer bestimmten Polis und ihren kulturellen Traditionen von zentraler Bedeutung. Religion stellt in der römischen Kaiserzeit einen wichtigen Bestandteil des Wissens des Pepaideumenos dar und ist damit zugleich in hohem Maße statusrelevant.
Mit diesem Interpretationsrahmen soll auch die nach wie vor populäre Auffassung, Religion in der Kaiserzeit, zumal im Osten des Imperium Romanum, bilde ein eigenes und von den Pepaideumenoi besonders intensiv bearbeitetes Feld des politischen Eskapismus, aus einer neuen Perspektive beleuchtet werden. Demgegenüber lässt sich feststellen, dass Religion Schnittpunkt und Projektionsfläche unterschiedlicher kultureller Felder darstellt, in denen Wissen um kultische Praktiken und Phänomene ebenso relevant ist wie die Kenntnis mythologischer Traditionen, ästhetische Expertise und antiquarische Kennerschaft. Entsprechend nimmt das Diskursfeld Religion innerhalb der kommunikativen Räume kaiserzeitlicher Bildungskultur einen prominenten Platz ein. D.h. Religion und religiöse Kenntnisse sind für die zeitgenössische Gesprächskultur, für alle Formen performativer Bildungsinszenierung wie etwa die epideiktische Rede ebenso relevant wie für den Bereich der Administration, in dem gerade angesichts der kulturellen, gesellschaftlichen und organisatorischen Vielschichtigkeit des Imperiums das Wissen um lokale Besonderheiten und Traditionen von Bedeutung waren. Zum besseren Verständnis der auch diachronen Entwicklung des religiösen Diskurses und der Emergenz kultureller Praktiken ist es unverzichtbar, zeitlich über die Kaiserzeit nach vorne und hinten auszugreifen. Vor dem Hintergrund dieser systematischen Überlegungen präsentierten sowohl Mitglieder des Giessener SFB als auch die von auswärts eingeladenen Gäste ihre Überlegungen zum Kontext von Wissensordnung, Religion und Bildung in der Kaiserzeit. Da die Beiträge in der Regel meist mehrere der systematischen Aspekte berühren, haben wir uns entschlossen, sie im Wesentlichen nach chronologischen und geo-kulturellen Kriterien zu ordnen (West-Ost). Der systematische und zeitliche Rahmenbeitrag stammt von Fritz GRAF. Er behandelt ÄPriester und Lehre im Spannungsfeld von Antike und Christentum³ und verdeutlicht anhand der Selbstentwürfe religiöser Spezialisten des griechischen Kulturraumes, dass Gelehrsamkeit auf dem Gebiet der Religion eine ausgeprägte pagane Tradition hat, die sich vom 5./4. Jh. v. Chr. bis in das 4. Jh. n. Chr. verfolgen lässt. Religiöse Bildung war fester Teil der Rollenkonstruktion aber nicht nur von paganen Priestern, sondern wird auch zum Kriterium christlicher Identitätskonstruktion. In seinem Beitrag ÄZwischen Rationalismus und Ritualismus: Zur Entstehung des Diskurses ÃReligionµ in der späten römischen Republik³ zeigt Jörg RÜPKE, dass die Formierung eines religiösen Diskurses und des Diskurses um die Relevanz religiösen Wissens in Rom bereits vor dem Erscheinen der sogenannten Antiquarischen Literatur, die u.a. prominent Religion thematisiert, etabliert ist. Thematische und funktionale Ausdifferenzierungen dieses Diskurses Religion in der römischen Kaiserzeit nimmt Vera BINDER in ihrem Beitrag ÄNil
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credo auguribus: Zur Chaldäerrede des Favorinus von Arles³ in den Blick. Den Fokus legt sie dabei auf die konkurrierende Inszenierung religiöser Kompetenz im Horizont der Paideia und dem literarischen Medium der Wissensspeicherung. Die Cicerorezeption bei Aulus Gellius wird hier nicht auf einen antiquarischen Rekurs reduziert, sondern Binder zeigt, dass Cicero als literarisches und diskursives Vorbild des Aulus Gellius zu verstehen ist. Das Diskursfeld ist hier die Astrologie, die im griechischen, aber auch römischen Religionsverständnis eine prominente Rolle spielte. Helmut KRASSER widmet sich unter der Überschrift ÄReligion auf Reisen. Zwischen antiquarischer Lust und sophistischer Selbstinszenierung³ einem für das Verständnis religiöser Bildung in der Kaiserzeit zentralen Konzept in der Figur des Reisenden und des Reisens. Hier lässt sich zum einen die Funktionalisierung von Religion als Teil intellektueller oberschichtlicher Repräsentation, zum anderen die Relevanz translokaler Wissensbestände exemplarisch fassen. Gerade religiöse Objekte als Träger und Projektionsfläche tradierten Wissens geraten in den Fokus des gelehrten Interesses und werden Gegenstand translokaler Kommunikation. Für den östlichen, griechischsprachigen Teil des Imperium Romanum nimmt Christa FRATEANTONIO in ihrem Beitrag ÄDie Exegeten kommen: Griechische ReOLJLRQ LP )RNXV JHOHKUWHU $PELWLRQHQ $QPHUNXQJHQ ]X 3DXVDQLDV¶ 3HULHJHVH³ diese Thematik ebenfalls in den Blick. Anhand des reisenden Exegeten Pausanias analysiert sie die (Selbst-)Inszenierung von Gebildeten, zugleich in der Kaiserzeit vielfach selbst ernannte religiöse Experten, im Feld der Konkurrenz von urbanen d.h. lokalen sowie translokalen Wissensbeständen. Religion, Reise und Paideia sind hier in dem Begriff des Exegeten gleichermaßen kondensiert. Die für die Kaiserzeit ganz typische Entfaltung des Diskurses Religion im kulturellen und literarischen Kontext des Symposions analysiert Ulrike EGELHAAF-GAISER in ÄBlütenlese fürs Bankett. Die Organisation religiösen Wissens in den Deipnosophisten des Athenaios³. Sie führt vor, dass religiöses Wissen Teil intellektueller Statusdemonstration geworden ist; dabei wird Religion in gängige literarische Repräsentationsformen eingebettet: Religion ist Medium der Wissensostentation, religiöse Kompetenz ist zugleich literarische Kompetenz in der Gastmahlliteratur der Kaiserzeit. An dieses religiöse Milieu knüpfen mitunter auch emphatische Akte der individuellen literarischen Selbstinszenierung an, etwa die textuelle Diskursivierung von Religion, Körperlichkeit und Körper als Medium der religiösen Erfahrung, wie Katharina LUCHNER unter dem Titel ÄAuch wenn einer zehn Zungen XQG]HKQ0QGHUKlWWH«+LHURLORJRL $HOLXV$ULVWLGHVXQGGLH,QNRPPHnsurabilität des Göttlichen³ vorführt. Die in der Kaiserzeit entstandene Schrift rekurriert auf ein Publikum, das mit hochgradig intellektuellen und artifiziellen Bezügen zur Religion vertraut ist und diese entziffern kann. Hier mutiert individuelle Religion zum Distinktionsmerkmal des literarischen Virtuosen. Kontinuität und Traditionsbruch im Rahmen der Christianisierung sowie insbesondere die Interaktion mit paganen Modellen der Paideia analysiert Ian HENDERSON in seinen Ausführungen zu ÄMemory, Text and Performance in Early Christian Formation³. Im Zentrum seines Interesses steht neben der christlichen Adaption paganer religiöser Selbstkonstruktion auch die Formierung christlicher
Einleitung
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Identitätsformen durch markierte Diskontinuitäten, besonders in den Medien Text und Ritual. Die christliche religiöse Distinktion wird hier durch Abgrenzungsund Überbietungsmodelle erreicht, vor allem seit dem 2. Jh. n. Chr. Dies thematisiert auch der Beitrag von Andreas SCHWAB ÄVon der Leseform zur Lebensform: Basilius von Cäsarea zur Rolle der Dichtung im Kontext eines christlichen Bildungskonzeptes³. Paideia ist nicht nur Teil christlicher Selbstdarstellung und Identitätskonstruktion, sondern Dichtung wird bzw. bleibt Medium der Unterweisung, wie hier an der Rezeption des paganen Modells poeta doctus ± lector doctus vorgeführt wird. Bildung und Vermittlung religiösen Wissens mit visuellen Mitteln im 4. Jh. n. Chr. thematisiert Katharina LORENZ: ÄBilderkreise ± Visuelles und religiöses Wissen im Kuppelsaal der Villa von Centelles.³ Hier geht es zum einen darum, dass Religion selbst zum Gegenstand und Medium adeliger Selbsrepräsentation wird, zum anderen auf der Ebene der Bildersprache die Ãneueµ christliche Religion an den Betrachter vermittelt werden soll. Für die Zeit ganz signifikant sind dabei die Interferenzen von paganen und christlichen Identitätsformen, die, anders als zumeist im Medium der Literatur, nicht dezidiert voneinander abgesetzt sind. Den chronologischen und systematischen Schlusspunkt bildet der Beitrag von Hubert CANCIK ÄRömische Religion in spätantiken Vergil-Kommentaren³. CANCIK zeigt, dass sich im literarischen Medium Kommentar greifen lässt, wie die römische Religion im vierten und fünften Jahrhundert n. Chr. ihrerseits zur ÃGelehrtenreligionµ wird: Tradierungsstränge religiösen Wissens, hier des Wissens von römischer Religion, reduzieren sich von der nunmehr zunehmend untersagten kultischen Praxis auf die Vermittlung von Religion einerseits in der Schulbildung, andererseits in den gelehrten Ausdeutungen paganer Autoren. Der Band und die in ihm versammelten Fallstudien verstehen sich damit als Beitrag zum Verständnis von Akten der De- und Rekontextualisierung von Wissen, von Aktualisierung und Transfer religiöser Traditionsbestände, sowie ihrer medialen und gesellschaftlichen Dimension im Horizont der kaiserzeitlichen Bildungskultur. Zugleich soll damit die historische Spannbreite und die mediale Diversifikation der Kommunikation über religiöses Wissen sichtbar gemacht werden. Bei den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes handelt es sich zum großen Teil um überarbeitete Fassungen der auf dem internationalen Kolloquium gehaltenen Vorträge. Diese Vorträge werden im hier vorliegenden Band durch zwei weitere Beiträge ergänzt, die sich unter dem Aspekt der Relevanz von Bildung mit dem Christentum beschäftigen. Dabei handelt es sich um den Aufsatz von Ian HENDERSON, der als Mitglied des kanadischen ForschungsprojektHV ÄReligious Rivalries and the Struggle for Success: Jews, Christians and Other Religious Groups in Local Settings in the First Two Centuries C.E.³ (McGill-Universität, Montreal, Faculty of Religious Studies) einen seiner Forschungsschwerpunkte auf der Interaktion von Christentum und seinem kulturellen Umfeld hat, sowie den Beitrag von Andreas SCHWAB (Universität Trier), der sich mit der Stellung poetischer Literatur im christlichen Kontext auseinandersetzt.
PRIESTER UND LEHRE IM SPANNUNGSFELD VON ANTIKE UND CHRISTENTUM Fritz Graf Religion ist immer Teil der Bildung: Zum Erwachsensein gehört, dass man die religiösen Traditionen der eigenen Gruppe, die Riten und die Mythen, die man sich über die Götter und ihre Feste erzählt, kennt, sie vollziehen und weitergeben kann. In dieser so verstandenen religiösen Bildung haben Priester, Spezialisten des Heiligen, eigentlich keinen Platz; es ist im Wesentlichen die Familie, welche diese Bildung weitergibt. Und doch würde eigentlich erstaunen, wenn bei der Formulierung und Tradierung eines religiösen Bildungsdiskurses Priester, denen ihre Gemeinschaft den Umgang mit der Religion spezifisch anvertraut hat, keine Rolle spielten; bloß ist das Thema für die antiken Gesellschaften kaum andiskutiert, wie überhaupt antike Priester seltsam in der Forschung schattenhafte Gestalten geblieben sind, jenseits der Beteuerung, wie ganz anders das christliche Priestertum sei.1 1. CHRISTEN UND HEIDEN 1.1. Praeceptores Christiani In der Einleitung zu seiner Schrift De officiis verweilt Ambrosius ausführlich auf dem Geschäft des Lehrens: Schließlich ist die Schrift an die jungen Priester, seine JHLVWLJHQ6|KQHJHULFKWHWVRZLH&LFHUR$PEURVLXV¶9RUELOGVHLQHJOHLFKQDPige Schrift an seinen Sohn Marcus gerichtet hatte.2 $PEURVLXV¶6WHOOXQJLVWIUHLOLFK ungleich ungünstiger als diejenige Ciceros; konnte Cicero darauf verweisen, dass er schon immer das betrieben hatte, was er nun lehren würde, nämlich die Philosophie,3 muss der vor ganz kurzer Zeit, im Jahr 374, vom Provinzverwalter zum christlichen Bischof gemachte Ambrosius eingestehen: ÄIch muss mithin gleichzeitig lernen und lehren, da ich zuvor zum Lernen keine Zeit hatte.³4 Das ist, neben dem erwarteten christlichen Bescheidenheitstopos, der hier freilich in der biographischen Realität verankert ist, zugleich eine klare Einsicht in die Rolle des Lernens und Lehrens im frühen Christentum und die Aufgabe des Priesters, immer auch Lehrer des Glaubens zu sein: Kaum zum Bischof erhoben, wird der 1 2 3 4
Literatur zum Thema ist selten; Mary BEARD und John NORTH, Hgg., Pagan Priests, London 1990 ist weitgehend ohne Nachfolger geblieben. Ambros. Off. 1,1,1 Non adrogans videri arbitror si inter filios suscipiam adfectum docendi. Off. 1,1f. Ambros. Off. 1,1,4 discendum igitur mihi simul et docendum est quoniam non vacuit ante discere.
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Fritz Graf
Verwaltungsmann zum Kirchenlehrer. Doch ist Lehre zentral im Selbstverständnis des frühen Christentums: Ambrosius selbst verweist auf Christus als den größten Lehrer und als den einzigen, der nicht erst zu lernen hatte. Das ist nicht bloß Meinung der Kirchenväter, also der gelehrten Elite des Christentums; Inschriften christlicher Priester gehen damit zusammen und bezeugen das Ideal des lehrenden Priesters. Die Weihinschrift einer Kirche aus dem 6. Jahrhundert in Thessalonike etwa charakterisiert den Stifter, einen gewissen Petros, als ÄLehrer der weisen Biene und berühmter Oberpriester der spirituellen Weisheit³,5 und eine lange und sorgfältige metrische Grabinschrift für Nestor, Sohn des Telephos, und seine Frau Mammin aus der Gegend von Lystra in Lykaonien, die ungefähr zeitgleich mit der für Vettius Agorius Praetextatus aufgestellt wurde, rühmt den Bischof als Ästarken Helfer bescheidener Witwen, züchtigen Helfer junger Mädchen, edlen Diener Christi, erlesenes Juwel des ganzen Distrikts, den jungen Männern Lehrer himmlischen Wissens, den Menschen weiser und zuverlässiger Richter³.6 Das Epigramm ist in seinem Aufwand und seiner Form in der Gegend isoliert, doch zeigt es schön die christliche Definition eines vorbildlichen Priesters; der Mann nebenbei, der es aufstellte, der Presbyter Gaios, weist nicht unbescheiden auf seine eigenen Verdienste als herausragender Sänger und Verfasser von christlichen Hymnen hin. 1.2. Gelehrte Heiden 6RZHLWGLH&KULVWHQ=HKQ-DKUHQDFK$PEURVLXV¶HLQLJHUPDHQWXmultuöser Erhebung zum Bischof von Mailand verstarben in Rom Vettius Agorius Praetextatus, Freund und Mitstreiter des Symmachus in seinem Streit mit dem Mailänder Bischof, und seine Frau Aconia Fabia Paulina. Die ausführliche Inschrift auf seinem Grab (mit einem Relief, das auf seine Rolle im Kult der Magna Mater anspielt), gibt eine eindrückliche Liste seiner religiösen und politischen Funktionen (in dieser Reihenfolge),7 die immer wieder als Zeugnis spätantiker paganer Religiosität der Elite ausgewertet worden ist, auch wenn die enge Verbindung politischer und religiöser Funktionen seit jeher selbstverständlich für einen Angehörigen des Senatsadels ist, und auch wenn öfters in solchen Listen die religiösen Ämter vor den zivilen genannt werden.8 Doch haben die kultischen 5 6
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Suppl. Epigr. Graec. 37, 501 Monumenta Asiae Minoris Antiqua VIII no. 132 = G. LAMINGER-PASCHER, Die kaiserzeitlichen Inschriften Lykaoniens 1 (Wien 1992) 190 Nr. 306 = R. MERKELBACH und J. STAUBER, Steinepigramme aus dem griechischen Osten 3 (München und Leipzig 2001) 133 Nr. 14/12/01. CIL VI 1779 = Carm. Epigr. Lat. 111 BÜCHELER-LOMMATSCH = Inscr. Lat. Sel. 1259 Dessau = Ed. Courtney, Musa Lapidaria. A Selection of Latin Verse Inscriptions (Atlanta, Gia., 1995) Nr. 32. Zum ganzen Komplex noch immer G. POLARA, ÄLe iscrizioni sul cippo tombale di Vezzio Agorio Pretestato,³ Vichiana 4 (1967) 264±89. Vgl. z. B. die Grabinschrift Inscr. Lat. Sel. 2927 ed. Dessau (der jüngere Plinius: als erstes der Augurat von 104). 2934 (C. Sallius Aristaenetus). 2935 (L. Marius Maximus, cos. 223). Um-
Priester und Lehre im Spannungsfeld von Antike und Christentum
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Funktionen für Praetextatus eine ganz besondere und weit bedeutsamere Rolle als selbst der Augurat für Cicero, und die Grabinschrift ist auch im zeitgenössischen Material (etwa verglichen mit denen seiner Freunde Q. Aurelius Symmachus oder Virius Nicomachus Flavianus) isoliert durch den gewaltigen Umfang: es sind nicht einfach die höchsten Ehren, welche Rom zu vergeben hatte, sie sind vielmehr kombiniert mit seinen Rollen in den Mysterienkulten von Eleusis, Dionysus, Mater und Mithras: Auf augur, pontifex Vestae, pontifex Solis, quindecimvir, curialis Herculis folgen sacratus Libero et Eleusiniis, hierophanta, neocorus, tauroboliatus, pater patrum. Das Grabgedicht, in dem Fabia Paulina ihren Gatten anspricht, unterstreicht die Bedeutung, die er selbst seinen priesterlichen Ämtern im Vergleich zu allen übrigen Ehrenstellen beimaß: quid nunc honores aut potestates loquar hominumque votis adpetita gaudia? quae tu caduca ac parva semper autumans divum sacerdos infulis celsus clues. (vv. 18±21).
Und in dieser Rolle war er Lehrer seiner Frau und führte sie ihrerseits in die Welt seiner Götter ein:9 doctus war er als Verehrer der Götter (divumque numen multiplex doctus colis, v. 15), und das bonum doctrinarum verhilft seiner Frau ihrerseits zur Befreiung vom gewöhnlichen Todeslos.10 Auch pagane Angehörige der senatorialen Führungsschicht, die sich auch (und hier: vor allem) als Priester verstehen, legen Wert auf ihre religiöse Bildung, nicht viel anders als die Bischöfe: Religiöse Bildung ist Teil der Kultur, und diese Bildung kann lehrend weitervermittelt werden, wenn auch nicht institutionell, sondern im intimen Raum einer Ehe. Dass der christliche Priester Lehrer zu sein hat, erstaunt nicht weiter in einer Religion, in der heilige Schriften und ihre gelehrte Ausdeutung das geistige und liturgische Zentrum bildeten. Dass Ähnliches auch für den gleichzeitigen paganen Priester gelten kann, muss eher überraschen: Nicht Lehre, sondern Rituale sind in gewöhnlicher Anschauung die Domäne des Priesters. ÄEs gibt selbst in den dauerhaft etablierten Kulten keine ÃLehreµ, disciplina, nur ÃBrauchµ, nómos³, ist Walter BURKERTS Zusammenfassung dessen, was wir über das Priestertum in Griechenland zu wissen glauben.11 Für die Römer gilt Ähnliches; hier kann ein Römer sprechen. Es gebe, formuliert Cicero, drei Gruppen von kultischen Funktionären: ÄDie einen sorgen für den Frieden mit Göttern und stehen dafür den regelmäßigen Opfern vor; die andern deuten die Voraussagen der Seher; die bedeutendste und gekehrt etwa Inscr. Lat. Sel. 2946 (Q. Aurelius Symmachus) oder 2947 (Virius Nicomachus Flavianus). 9 André-Jean FESTUGIERE, Ä,QLWLpSDUO¶pSRX[³ Monuments Piot 53 (1963) 135±146. 10 13 tu pius mystes sacris | teletis reperta mentis arcano premis | | divumque numen multiplex doctus colis, | sociam benigne coniugem nectens sacris | hominum deumque consciam ac fidam tibi.| quid nunc honores aut potestates loquar | hominumque votis adpetita gaudia?|| quae tu caduca ac parva semper autumans | divum sacerdos infulis celsus clues.| tu me, marite, disciplinarum bono | puram ac pudicam sorte mortis eximens | in templa ducis ac famulam divis dicas. || te teste cunctis imbuor mysteriis. 11 W. BURKERT, Griechische Religion (Stuttgart 1979), 157.
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hervorragendste Stellung aber im Staat haben die Augurn.³12 Opfer, Zeichendeutung und religiöse Kontrolle der staatlichen Vorgänge sind gefragt; von Lehre ist nicht die Rede. Nachdenken über die Götter, Theologie, ist Domäne der Philosophen und Antiquare, meinten wir, nicht der Priester. 2. DIE PRIESTERREFORM JULIANS 2.1. Die Reform Im vierten Jahrhundert freilich ist dies anders, nicht bloß bei Praetextatus; noch viel eindrücklicher ist dies beim Reformprojekt oder, wie man gewöhnlich, aber unrichtig, liest, Restaurationsprojekt des Kaisers Julian.13 In diesem Projekt ist den Priestern eine Schlüsselrolle zugedacht: Sie manifestiert sich zum einen in der Selektion und den moralischen und intellektuellen Anforderungen an die Priester, zum anderen in einer straffen Organisation des Priesterstandes. In dieser Organisation wird für jede Provinz ein Oberpriester (ਕȡȤȚİȡȑȣȢ) eingesetzt, der zuständig ist für die Ernennung und die Kontrolle aller lokalen Kultpriester: Das verwandelt den alten provinziellen Oberpriester des Kaiserkults, der kaum andere Funktionen hatte als die der religiösen Repräsentation des Kaisertums, zu einem religiösen Funktionär, der hierarchisch klar über den einzelnen lokalen Kulten der Provinz steht. An diese lokalen Priester, vor allem aber an die Oberpriester, stellt Julian hohe Anforderungen, was ihren Lebenswandel und ihre intellektuellen Fähigkeiten angeht. Sie müssen, wie Julian formuliert, Liebe zu den Göttern und Liebe zu den Menschen, IJઁ ijȚȜȠșİȠȞ țĮ IJઁ ijȚȜȞșȡȦʌȠȞ, kombinieren.14 Sie müssen mithin zum einen von ausgezeichnetem Charakter und Lebenswandel sein und eine Reinheit anstreben, die sie von den übrigen Bewohnern der Provinz absondert, bis hin zu einem Lektürekatalog, der Romane oder etwa die Anzüglichkeiten eines Archilochos verbietet. Zum anderen aber haben sie gelehrt und philosophisch gebildet zu sein und durch ihr philosophisches Wissen Einsicht zu haben in die Natur des Göttlichen. Nur so verdienen sie ihre Stellung, die höher und privilegierter ist als diejenige der provinziellen Verwaltungsbeamten. ÄDas Leben eines Priesters³, schreibt der Kaiser einem uns nicht mehr fassbaren, vielleicht priesterlichen Adressaten, Ämuss ehrwürdiger sein als dasjenige eines Beamten, und man muss dafür werben und lehren; vermutlich werden bloß die besten Folge leisten. Obschon ich mir denken könnte, dass alle das tun würden, hoffe ich doch, dass es bloß diejenigen sein werden, die ernsthaft und von Natur dazu geeignet sind.³15
12 Cic. Leg. 2,30 ad placandos deos alii constituti, qui sacris praesint sollemnibus, ad interpretanda alii praedicta vatium, neque multorum, maximum autem et praestantissimum in re publica ius est agurum cum auctoritate coniunctum. 13 Wichtig Polymnia ATHANASSIADI, Julian. An Intellectual Biography, Oxford 1981 (repr.1992), bes. Kap. 5, ÄThe Priest King and the Philosopher Priest³. 14 Iul. Ep. 89b, p. 305Aff. (zitiert nach BIDEZ-CUMONT); dieser Brief ist zentral. 15 Ibid. p. 289B.
Priester und Lehre im Spannungsfeld von Antike und Christentum
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Die Zeiten, in denen die Städte Westkleinasiens lebenslange Priestertümer an den Meistbietenden verkauften, liegen weit zurück. Dass die administrativen Details seiner Reform mit provinziellen Archiereis, die zuständig sind für die Ernennung und Kontrolle der lokalen Priester, das christliche System der Bischöfe kopieren, ist längst gesehen und weitgehend unbestritten;16 und so wie die christlichen Bischöfe gelehrt sein müssen, so sind auch die von Julian eingesetzten Archiereis, soweit wir sie fassen können, angesehene neuplatonische Philosophen ± so etwa sein Studienfreund Theodoros, Oberpriester von Asia,17 oder Chrysanthios von Sardis und seine Frau Melite, Freunde seines Lehrers Maximos, die gemeinsam zu Oberpriestern Lydiens ernannt wurden;18 dem Pegasios, Priester und früher christlicher Bischof von Ilion, wird wenigstens attestiert, dass er schon als Bischof Ƞț ਕȖȞઆȝȦȞ IJ ʌȡઁȢ IJȠઃȢ șİȠઃȢ gewesen sei.19 2.2. Der neuplatonische Hintergrund Doch ist die Kopie einer christlichen Institution für Julians Verwaltung bloß die administrative Ausgestaltung eines Anliegens, das weit tiefer geht, wie insbesondere Polymnia ATHANASSIADI gezeigt hat:20 Man kann Julians Projekt nicht einfach (mit LABRIOLLE) als Ãheidnische Reaktionµ, réaction païenne lesen,21 schon gar nicht als Reaktion, die naiverweise christliche Kategorien übernimmt. Die spezifischen Anforderungen an die Priester, was Geistes- und Charakterbildung betrifft, sind nicht aus Christlichem abzuleiten: Julians gelehrte Priester haben vielmehr eine philosophische Ahnenreihe, die über Julians Lehrer Maximos von Ephesus auf die Neuplatoniker Iamblich und Porphyrios zurückgeht. Zwar hat Iamblich sein Verständnis des Priestertums nirgends in seinen erhalten Schriften zusammenfassend dargestellt. In seiner Hauptschrift Über die Mysterien der Ägypter konzentriert er seine Aussagen auf den ਥʌȚıIJȝȦȞ șİȠȣȡȖંȢ der durch sein Wissen der ideale Mittler zwischen Gott und Mensch ist: ਥʌȚıIJȝȘ ist nicht allein das platonische Wissen, das den perfekten Professionellen auszeichnet, sondern auch die Kenntnis der theurgischen Riten, die den Priester zur 16 $XJXVWXV¶DQDORJH5HIRUPGHVlJ\SWLVFKen Priestertums mit einem römischen ÄOberpriester für Alexandria und ganz Ägypten³ an der Spitze und der Unterordnung der lokalen Priestertümer unter die kaiserliche Verwaltung und Finanzierung ist eher ein Analogon als ein Vorbild für Julian. Zu dieser Reform vgl. Emil SECKEL und Wilhelm SCHUBART, Der Gnomon des Idios Logos (Berlin 1919); zusammenfassend J. GRAFTON MILNE, A History of Egypt under Roman Rule (London 1924), 180±182 und öfter. 17 Iul. Ep. 89a, 452A (vgl. Ep. 89b, 298B), vermutlich identisch mit dem Ep. 30 angeredeten Philosophen. 18 Eunap. V. soph. 7.4.9. Mehr bei ATHANASSIADI, a.a. O. (oben Anm. 13) 185. 19 Ep. 79 BIDEZ-CUMONT. 20 Op. cit. (Anm. 13). Nicht gesehen habe ich Scott G. BRADBURY, Innovation and Reaction in the Age of Constantine and Julian, PhD Thesis, University of California at Berkeley 1986. 21 Pierre DE LABRIOLLE, La réaction païenne. Étude sur la polémique anti-chrétienne du Ier au VIe siècle, Paris 1934.
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Vision des Göttlichen befähigt.22 Dies ist die theurgische Anwendung eines Konzepts, das er von seinem Lehrer Porphyrios übernommen hatte ± doch ist der ਥʌȚıIJȝȦȞ șİȠȣȡȖંȢ eben kein marginaler Winkelpriester, sondern die ideale Form des rituellen Praktikers und damit auch die ideale Form des Kultpriesters, dessen rituelles Wissen ihn nicht auf egozentrische Trips zu den Göttern sendet, sondern seine Visionen zugunsten der von ihm betreuten Menschen hat; dies ist es, was Julians Kombination vonijȚȜંșİȠȞundijȚȜȞșȡȦʌȠȞ, letztlich meint ± man vergleiche etwa den warmen Dankbrief, den Julian an eine ungenannte Priesterin sendet für die Äschönen und guten Botschaften und Gaben von den Göttern³, die ihr Dank ihrer Klugheit (ijȡંȞȘıȚȢ) mitgeteilt wurden und die sie ihrerseits dem Kaiser gemeldet hat.23 Porphyrios seinerseits hatte ausführlicher Philosoph und Priester verbunden und unter den Priestern eine Hierarchie erstellt: Neben den Priestern der spezifischen Götter, die sich auf den Kult verstehen (Ädas Errichten von Bildern, ekstatische Riten, Weihungen, Reinigungen und dergleichen³), stehen die Priester des obersten Gottes (șİȠ૨ IJȠ૨ ਥʌ ʌ઼ıȚȞ), deren tiefe Einsicht in die Natur des Göttlichen sie den Philosophen gleichstellt: Wie diese verzichten sie auf Fleischnahrung;24 sowohl die besonderen Ansprüche auf Reinheit wie die hierarchische Trennung von spezifischen Kultpriestern und den philosophischen Priestern des obersten Gottes erinnern an Julian, und man wird davon ausgehen können, dass es Porphyrios Verständnis des Priestertums ist, von dem Julian herkommt, und nicht von einem uneingestandenen Christentum, das der Kaiser naiv als pagane Reform angesehen hätte. Jenseits der christlich geprägten administrativen Form wird Julians neuplatonisches Gottesverständnis zentral für sein Verständnis des philosophisch gelehrten Priesters. 2.3. Ältere Traditionen Doch dürfen wir dabei nicht stehen bleiben. Das neuplatonische Verständnis von Priestertum steht in einer Tradition, die beträchtlich weiter zurückgeht. Porphyrios selbst zitiert anderswo ausführlich und in zustimmendem Sinne die Beschreibung, die der Stoiker Chairemon von den Priestern Ägyptens gab.25 ÄDie Priester³, schreibt Chairemon im längsten erhaltenen Fragment, das wir eben Porphyrios verdanken, Äwerden von den Ägyptern als Philosophen angesehen³. Ihr eindrückliches Wissen verdanke sich dem Umstand, dass sie ihr ganzes Leben im Tempel verbringen müssten und so, neben ihren nicht allzu anstrengenden liturgischen Pflichten im Dienste der Gemeinschaft, ausführlich Gelegenheit zur Betrachtung des Göttlichen hätten, woraus sie nicht bloß ihr Wissen um das Göttliche, sondern 22 Iambl. Myst. 5,21. 7,4. Vgl. auch Beate NASEMANN, Theurgie und Philosophie in Jamblichs De mysteriis (Beiträge zur Altertumskunde 11), Stuttgart 1991. 23 Ep. 87 BIDEZ-CUMONT. Die Anrede ist verloren; dass die Adressatin eine Priesterin ist, ist bloße Vermutung. 24 Porph. Abst. 2,49f. 25 Abst. 4,6 = Chaeremon frg. 10 VAN DER HORST.
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auch um das richtige Leben herleiten: ÄSie widmen ihr ganzes Leben der intellektuellen Betrachtung (șİȦȡĮ) und der visionären Schau (șĮıȚȢ) des Göttlichen: Aus der Schau erwächst ihnen Ehre, Sicherheit und Frömmigkeit, aus der Betrachtung aber Wissen ਥʌȚıIJȝȘ und aus beidem ein sittlicher Lebenswandel, der wenig sichtbar, aber verehrungswürdig ist.³26 Der Ägypter Chairemon war Stoiker, lebte und lehrte in Alexandria und war unter anderem Botschafter seiner Stadt zum Kaiser Claudius und, wohl als Folge davon, Lehrer des jungen Nero (vermutlich vor der Rückberufung des Seneca).27 Wenn der Neuplatoniker Porphyrios den Stoiker über die Schulgrenzen hinweg ausführlich zitiert, so tut er dies aus Interesse an seinem Bild der idealen Priester, in dem Chairemon die ägyptischen Verhältnisse gewaltig idealisiert und die ägyptischen Tempelpriester zum Muster priesterlichen Lebens schlechthin erhebt. Chairemon ist nicht der einzige kaiserzeitliche Schriftsteller, der dies tut. Eine Generation später preist Plutarch die Reinheit und Abstinenz der ägyptischen Priester und die theologische Tiefe ihrer Rituale, die er in ihrer philosophischen Einsicht in das Göttliche fundiert sieht: ÄDie weisesten der Griechen bestätigen dies, Solon, Thales, Platon, Eudoxos, Pythagoras und nach einigen auch Lykurg, die nach Ägypten reisten, um mit den Priestern zusammenzukommen.³28 Die Priester Ägyptens sind die theologischen Lehrer der griechischen Philosophen.29 Eine der (aus religionswissenschaftlicher Sicht) interessantesten Gestalten in Heliodors Roman Aithiopika ist der Priester Kalasiris, der sich effizient und hingebungsvoll der Heldin, der schönen Charikleia, angenommen hat: Bevor er in die Turbulenzen der Romanhandlung verwickelt wurde, war er Priester und Prophet in Memphis. Er ist nicht bloß moralisch unanfechtbar (wenigstens argumentiert er so) und auf seine rituelle Reinheit bedacht; er legt auch Wert auf seine theologische Bildung (ıȠijĮ), und ist gerne bereit, seine Gegenüber theologisch zu unterrichten.30 Zur Zeit Heliodors also (im späteren 2. oder frühen 3. Jh. n. Chr.) ist eine solche Anschauung der ägyptischen Priester als der idealen Verkörperung von Priestertum schlechthin in der antiken Gesellschaft weit verbreitet und geläufig. Dieses Verständnis der ägyptischen Priester ist durchaus in den Realitäten des ptolemäischen und kaiserzeitlichen Ägyptens verwurzelt ± nicht bloß in der für Griechen und Römer bemerkenswerten und mitunter eindrücklichen Präsenz der weiß gekleideten Tempelpriester im ganzen Land, aber auch in ihrer durchaus rea26 Ibid.: ਕʌįȠıĮȞ ȜȠȞ IJઁȞ ȕȠȞ IJોȞ IJȞ șȚȦȞ șİȦȡĮȚ țĮ șİıİȚ, įȚ ȝȞ IJĮIJȘȢ IJં IJİ IJȝȚȠȞ țĮ ਕıijĮȜȢ țĮ İıİȕȢ ʌȠȡȚȗંȝİȞȠȚ, įĮ į IJોȢ șİȦȡĮȢ IJȞ ਥʌȚıIJȝȘȞ, įȚ¶ ਕȝijȠȞ į ਙıțȘıȚȞ șȞ țİțȡȣȝȝȞȘȞ IJȚȞ țĮ ਕȡȤĮȚȠʌȡʌો. 27 Pieter W. VAN DER HORST, Chaeremon. Egyptian Priest and Stoic Philosopher (ÉPRO 101), Leiden 1984. 28 Plut. De Is. 3±10; das Zitat 10,1 p. 354D. 29 Für die ägyptische Perspektive David FRANKFURTER, Religion in Roman Egypt. Assimilation and Resistance, Princeton 1998, 204±210; zu einem (wichtigen) Teilbereich DERS., ÄDynamics of Ritual Expertise in Antiquity and Beyond. Towards a New Taxonomy of µMagicians¶³, in: Paul MIRECKI und Marvin MEYER, Hgg., Magic and Ritual in the Ancient World (Religions in the Graeco-Roman World 141), Leiden 2002, 159±178. 30 Ausführlich in der Selbstvorstellung von 2.24, die eine Reflexion zur Rolle der Divination enthält.
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len rituellen Reinheit.31 Ein Papyrus des 2. Jh.s aus Oxyrhynchos enthält Fragmente aus Priesterbüchern, unter anderem Stücke eines Priestereids, dessen Details (in Reinhold MERKELBACHS Worten) Änur in der pythagoreischen Literatur³ Parallelen finden, ohne dass man freilich eine solche Abhängigkeit annehmen darf ± auch wenn griechische Beobachter seit Herodot immer wieder eben diesen Schluss gezogen haben.32 Eine der Passagen, in der der Kandidat über seine Vergangenheit spricht, lautet: ÄNie habe ich den Kopf eines Tieres abgehauen. Nie KDEHLFKHLQHQ0HQVFKHQHUPRUGHW>«@1LHKDEHLFK*HVFKOechtsverkehr gehabt mit einem Knaben. Nie habe ich Verkehr gehabt mit der Frau eines anderen.³33 Etwas später verspricht der Kandidat seinen zukünftigen Lebenswandel: ÄIch werde die Dinge, die verboten und in den Schriften aufgezeichnet sind, nicht essen und nicht trinken, noch werde ich meine Finger sie berühren lassen [...] Ich werde an keinen unreinen Ort gehen. Ich werde kein Haar eines Schafs berühren. Ich werde bis zu meinem Todestag nie ein Schlachtmesser halten³34 ± letzteres nicht Vegetarismus, sondern ein unreiner Beruf; der Priester schwört auch, niemals Steuereintreiber oder Landvermesser sein zu wollen. Legt der Eidtext ausschließlich Gewicht auf die Lebensführung, ist der Verweis auf Priesterbücher (der Eid selbst wird Ämit lauter Stimme aus dem Buch³ gelesen)35 und damit implizit auf eine Tempelbibliothek wenigstens für griechische Beobachter, deren städtische Priester ohne jede Bücher auskamen, suggestiv für die große Gelehrsamkeit der ägyptischen Priesterkaste.36 Die Faszination der kaiserzeitlichen Welt mit diesen idealen Priestern, von den Intellektuellen zu den Roman lesenden Angehörigen der Mittelschicht, verdient Aufmerksamkeit. Es ist mehr als Ägyptomanie,37 romantisierende Sehnsucht nach dem Exotischen in der kaiserzeitlichen Gesellschaft. Der ägyptische Priester mit seiner Kombination von Aszese und theologischer Autorität musste vielmehr in der Kaiserzeit als der ideale Spezialist im Umgang mit dem Göttlichen erscheinen: Dieser Umgang verlangt nicht nur hohe moralische Integrität und eine als Ãreinµ verstandene Lebensführung, dieser Umgang fußt auch auf philosophischrationaler Durchdringung des Göttlichen ± oder besser, die beiden Dinge bedingen sich letztlich gegenseitig. Julians Reform kann so als Ergebnis und Abschluss ei31 Vgl. FRANKFURTER, Roman Egypt 198±203. 32 P.Washington University, inv. 138, aus Oxyrhynchos, ed. Verne B. SCHUMAN, ÄA SecondCentury Treatise on Egyptian Priests and Temples,³ Harvard Theological Review 53 (1960) 159±170, vgl. Reinhold MERKELBACH, ÄEin ägyptischer Priestereid,³ Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 2 (1968) 7±30, hier 14. ± Herodot 2,85. 33 Recto col. i, 20±24. 34 Recto, col. ii 6ff. 35 ibid. 17. 36 MERKELBACH, l. c. 29f. vergleicht die ethischen Gebote des Eids mit den Geboten, die auf den Tempeltüren von Edfu zu lesen waren, und verweist auf das noch wenig erschlossene Material der ptolemäischen Tempeltexte, aber auch auf bereits ramessidische Texte mit verwandten Geboten oder Beteuerungen. 37 Vgl. die Kritik, die John GWYN GRIFFITHS, Plutarch¶s De Iside et Osiride, Bangor 1970, 285 an Th. HOPFNER, Orient und griechische Philosophie, Leipzig 1925 übt; GRIFFITHS selbst ist freilich noch weniger an Ideologie interessiert als HOPFNER.
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ner Bewegung verstanden werden, die Jahrhunderte zuvor begonnen hatte, aber erst dann möglich wurde, als die Zerstörung oder Gefährdung der traditionellen Institutionen durch das Christentum einen solchen Neuanfang ermöglichte und aufzwang. Zu fragen bleibt erstens, wie weit dies als theoretische Forderung und Ideal in der paganen Kultur zurückgeht, und zweitens, ob sich Ansätze zur praktischen Umsetzung bereits vor Julian finden lassen. Die ÃReinheitµ der ägyptischen Priester, was auch immer ihre indigene Rechtfertigung gewesen ist, wird mithin von den griechischen (und römischen) Beobachtern in einer Matrix gelesen, die in ihrer eigenen Tradition fußt (ob eine solche Lesung der Sache gerecht wird oder nicht, soll uns hier nicht beschäftigen). Es ist, verknappt gesagt, eine vulgär-platonische und pythagoreisierende Matrix, in welcher intellektuelle, philosophische Anstrengung sich bevorzugt dem Göttlichen als dem eigentlichen Objekt des Denkens zuwendet, und in der dieses Denken mit Geringschätzung des Körperlich-Materiellen und moralisch guter Lebensführung untrennbar verbunden ist ± ersteres, die Hintanstellung des Materiellen, als Bedingung erfolgreicher geistiger Tätigkeit, letzteres, die Lebensführung, als zwingende Folge der Einsicht in die Natur des Göttlichen. Das ist geläufig und beinahe banal. Es fügt sich aber, dass sich tatsächlich bei Platon zum ersten Mal ein Hinweis auf Priester findet, die mehr sind als Opferer und Beter. In einer berühmten Diskussion des Menon verweist Sokrates auf ÄMänner und Frauen, die weise sind in Bezug auf das Göttliche³ ਕȞįȡȞ IJİ țĮ ȖȣȞĮȚțȞ ıȠijȞ ʌİȡ IJ șİĮ ʌȡȖȝĮIJĮ wie er dies erläutern soll, spricht er zum einen von Dichtern wie Pindar, zum andern von ÄPriestern und Priesterinnen, denen es ein Anliegen ist, Rechenschaft ablegen zu können über das, was sie tun³ (IJȞ ੂİȡȦȞ IJİ țĮ IJȞ ੂİȡİȚȞ ıȠȚȢ ȝİȝȜȘțİ ʌİȡ ੰȞ ȝİIJĮȤİȚȡȗȠȞIJĮȚ ȜંȖȠȞ ȠȠȚı IJ¶ İੈȞĮȚ įȚįંȞĮȚ, Men. 81 AB). Von Pindar zitiert er dann das berühmte Fragment über die Seelenwanderung, das orphische und pythagoreische Anschauung spiegelt. 38 Die Priesterinnen und Priester, denen Platon ebenso zustimmt, wie er Pindar zustimmend zitiert, gehören mithin in denselben Bereich einer Religion, die derjenigen der Polis gegenübersteht und die Einsicht in die Natur von Mensch und Gottheit mit Konsequenzen für die individuelle Lebensgestaltung, den ȕȠȢ ȆȣșĮȖંȡİȚȠȢ oder ȡijȚțંȢ, verbindet. Rechenschaft ablegen zu können über ihr Tun heißt mithin, den theologisch-philosophischen Hintergrund individueller Rituale zu verstehen und erklären zu können. Müsste man Namen für solche Priester nennen, so wären dies Pythagoras und Empedokles.39 38 Pind. frg. 131. Dazu v.a. Herbert Jennings ROSE, ÄThe Ancient Grief,³ in Greek Poetry and Life. Essays Presented to Gilbert Murray on His Seventieth Birthday, ed. Cyril BAILEY, E.A. BARKER, Cecile M. BOWRA, and J.D. DENNISTON (Oxford: Clarendon Press, 1936), 78±96. 39 Zu Pythagoras noch immer Walter BURKERT, Weisheit und Wissenschaft, Erlangen 1962, bes. 98±142 (nuanciert in ÄLore and Science in Ancient Pythagoreism,³ Cambridge, Mass., 1972, 120±165). Die priesterliche (Äschamanistische³, was zu eng ist, Jan N. BREMMER, The Rise and Fall of the Afterlife, London 2001, 27±40) Seite von Empedokles hat Peter KINGSLEY glänzend rehabilitiert, Ancient Philosophy, Mystery, and Magic. Empedocles and Pythagorean Tradition, Oxford 1995.
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Die Bedeutung der theoretischen Durchdringung des rituellen Tuns, aber auch ihre Abwesenheit in den meisten Kulten, wird bestätigt durch einen Hinweis des Interpreten, dessen Schrift der Derveni-Papyrus zitiert und der wohl im späten 5. Jahrhundert zuhause ist, wer er auch immer sei (zur Diskussion in diesem heiteren Beruferaten stehen momentan Euthyphron, Stesimbrotos von Thasos oder Diagoras von Melos).40 In einer polemischen Passage verwundert er sich über religiöse Professionelle: Ich wundere mich weniger über die, welche die Riten in den Städten vollziehen und diese Dinge gesehen haben (es ist unmöglich, zur selben Zeit die Worte zu hören und ihre wahre Bedeutung zu erfahren). Doch alle die, welche Wissen von jemandem zu erhalten hoffen, der sich professionell mit Ritualen abgibt, verdienen, dass ich mich über sie wundere und sie bemitleide: wundere, weil sie zwar meinen, sie würden vor den Riten Wissen erhalten, dann aber nach den Riten ohne Wissen weggehen und nicht einmal Fragen stellen, als ob sie nun wüssten, was sie gesehen hätten, und erfahren hätten, was sie gehört hatten; bemitleide, weil es ihnen nicht reicht, Geld ausgelegt zu haben, sondern sie zu früh und ohne Einsicht weggehen.41
Oder anders: Von den Polis-Priestern, selbst von der professionellen Priesterschaft der Mysterien von Eleusis, kann man nicht erwarten, dass sie jenseits der Riten auch noch theologische Ritendeutung liefern. Schließlich ist ihr Unternehmen selbst im Falle von Eleusis ein Massenunternehmen. Von den rituellen Spezialisten aber, die sich für individuelle Initiationsriten und Kathartik teuer bezahlen lassen, sollte man auch eine Deutung der Riten bekommen; so, wie der Autor des Textes die Theogonie des Orpheus allegorisch ausdeutet. Nur, dass er sich eben wohltuend abhebt von jenen anderen, weniger intellektuellen Spezialisten: Er wäre eben einer jener Priester, Ädenen es ein Anliegen ist, Rechenschaft ablegen zu können über das, was sie tun³. Das ist natürlich auch ein Stück Selbstpropaganda des Derveni-Autors. Zusammenfassend werden so zwei Dinge deutlich. Zum einen geht das hohe Ethos der julianischen Priester zurück auf die in pythagoreisch-platonischer Lesart verstandenen Tempelpriester des hellenistischen und frühkaiserzeitlichen Ägyptens; und zum anderen führen die im selben Umkreis bereits im späten 5. Jahrhundert lebendigen individuellen Mysterienkulte, mit ihrer engen Verbindung von mythologischer und theologischer Spekulation, ritueller Praxis und oft auch Lebensführung, zur Forderung, dass die Priester nicht bloß die Riten vollziehen, sondern auch Rechenschaft ablegen müssen über das, was sie tun, dass sie also nicht nur ministrieren, sondern auch lehren.
40 Walter BURKERT, ÄDer Autor von Derveni: Stesimbrotos Ȇİȡ ȉİȜİIJȞ?³ Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 62 (1986): 1±5; Richard JANKO, ÄThe Physicist as Hierophant. Aristophanes, Socrates and the Authorship of the Derveni Papyrus,³ Zeitschrift Für Papyrologie und Epigraphik 118 (1997): 61±94; Charles H. KAHN, ÄWas Euthyphro the Author of the Derveni Papyrus?³, in: André LAKS and Glenn W. MOST, Studies on the Derveni Papyrus (Oxford: Clarendon Press, 1996), 55±63. 41 P. Derv. col. 20 LAKS-MOST.
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3. GELEHRTE PRIESTERINNEN UND PRIESTER 3.1. Priesterliche Schriftsteller Eine weitere Seite desselben Komplexes stellen die gelehrten Priesterinnen und Priester dar, wie wir sie seit dem 5. Jahrhundert fassen, wie sie aber besonders in der Kaiserzeit im Umfeld des Platonismus wichtig werden. Einige davon treten als Schriftsteller in Erscheinung, die über das, was sie professionell treiben, auch in ihren Schriften reflektieren. Priesterliche Schriftsteller gibt es zahlreiche in der Antike. Als Erscheinung sind sie kaum diskutiert; das Thema ist aber zu groß, um hier auch annähernd andiskutiert zu werden. Ich nenne bloß drei Namen, um zu zeigen, was ich meine. Der erste ist der Athener Timotheos, einer der ਥȟȘȖȘIJĮ ਦȟ ǼȝȠȜʌȚįȞ, der im späteren vierten Jahrhundert als religiöser Spezialist sozusagen international tätig war. Der erste Ptolemaeus hatte ihn nach Alexandria geholt, um bei der Ausgestaltung des alexandrinischen Demeterkults nach eleusinischem Vorbild behilflich zu sein; zusammen mit dem ägyptischen Priester und Schriftsteller Manetho war er auch wesentlich für die Erfindung des Sarapiskultes verantwortlich. Doch schrieb er auch religiöse Texte: Von ihm stammt etwa der später kanonische Mythos des Magna-Mater-Kultes, den der Christ Arnobius ausführlich zitiert.42 Die beiden anderen Namen gehören zusammen ins spätrepublikanische Rom. Der eine ist der Pontifex Maximus Mucius Scaevola, Consul von 95 v. Chr. Von ihm berichtet Augustin, er habe Ädiskutiert, dass drei Arten von Göttern überliefert würden ± solche der Dichter, solche der Philosophen, und solche der politischen Eliten³.43 Das nimmt Varro vorweg ± Augustins Formulierung (relatum est in litteris) lässt freilich offen, ob seine Quelle eine mündliche Disputation oder eine Schrift des Pontifex zitiert. Eine Generation später dann treffen wir Ciceros Auguralkollegen Appius Claudius, bei dem sich Cicero für einen liber auguralis bedankt und den er anderswo als ausgezeichneten Kenner sowohl des Rechts wie des Auguralwesens schildert; Fragmente dieses Werks sind etwa bei Festus erhalten.44
42 Sarapis (und Eleusis): Tac. hist. 4,83 Ptolemaeus omine et miraculo excitus sacerdotibus Aegyptiorum, quibus mos talia intellegere, nocturnos visus aperuit. atque illis Ponti et externorum parum gnaris Timotheum Atheniensem ex gente Eumolpidarum, quem ut antistitem caerimoniarum Eleusine exciverat, quaenam illa superstitio, quod numen, interrogat. Plut. Is. 28,362a ıȣȝȕĮȜંȞIJİȢ Ƞੂ ʌİȡ ȉȚȝંșİȠȞ IJઁȞ ਥȟȘȖȘIJȞ țĮ ȂĮȞșȦȞĮ IJઁȞ ȈİȕİȞȞIJȘȞ.± Magna Mater: Arnob. 5,5 apud Timotheum, non ignobilem theologorum virum, nec non apud alios aeque doctos super Magna deorum Matre superque sacris eius origo haec, sita est. 43 Aug. CD 4,27: relatum est in litteras doctissimum pontificem Scaevolam disputasse tria genera tradita deorum: unum a poetis, alterum a philosophis, tertium a principibus civitatis. primum genus nugatorium dicit esse, quod multa de diis fingantur indigna; secundum non congruere civitatibus, quod habeat aliqua supervacua, aliqua etiam quae obsit populis nosse. 44 Cic. fam. 3.4.1 (ille liber auguralis quem ad me ... misisti); mehr in A. S. PEASE, M. Tulli Ciceronis de divinatione, Darmstadt 1963 (1920) 133.
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3.2. Philosophen als Priester Doch ist diese priesterliche Fachschriftstellerei bloß eine Seite einer Erscheinung, die im Laufe der hellenistischen Zeit und insbesondere mit dem seit dem Mittelplatonismus wachsenden Interesse an Theologie immer stärker fassbar wird und die sich insbesondere darin zeigt, dass einige mittel- und neuplatonische Philosophen lange vor Julian auch als theologisch interessierte Priester begegnen. ApuOHLXV¶ 5ROOH DOV 3ULHVWHU GHV .DLVHUNXOWV YLHOOHLFKW VHLQ 2EHUSULHVWHUDPW LQ GHU Provincia Africa mag diplomatische Gründe haben: Der angesehenste Rhetor und Philosoph der Stadt Carthago eignet sich ausgezeichnet für eine Position, die wohl auch mit Reden auf Mitglieder des Kaiserhauses verbunden war.45 Etwas anders sieht es mit dem literarisch produktivsten priesterlichen Philosophen aus, mit Plutarch: Dass er als delphischer Priester amtierte, der sein Amt Ämehrere Pythiaden lang ausübte³,46 lässt sich nur mit religiösem Interesse erklären, und der Philosoph hat denn sein Amt auch als Anlass seiner delphischen Dialoge genommen; er ist vermutlich das herausragendste Beispiel des philosophischen Priesters, der seine Funktion bruchlos in sein philosophisch-theologisches Werk einfließen lassen kann. Bemerkenswert ist auch die Adressatin von Pluarchs De Iside et Osiride, Klea, die Tochter eines Freundes, Priesterin der Isis und der delphischen Thyiaden.47 Die Eingangsworte dieser Schrift sind eine gute Definition dessen, worum es dem Philosophen und Priester Plutarch geht: Alle Güter, liebe Klea, sollten vernünftige ȞȠ૨Ȟ ਧȟȠȞIJĮȢ Menschen von den Göttern verlangen, vor allem aber beten wir, wenn wir dem Wissen ਥʌȚıIJȝȘ über sie nachgehen, dass sie uns dies geben, soweit dies dem Menschen erreichbar ist. 48
Die Rahmenerzählungen der drei delphischen Dialoge lassen auch einen, wenn auch stark gefilterten, weiteren Blick in die Realitäten hinter seiner Schriftstellerei zu: In allen drei Fällen wird eine Unterhaltung berichtet, die im Heiligtum von Delphi selbst stattgefunden hat. Wenn auch diese Gesprächsrunden in gut platonischer Tradition fiktional sind, so sind es doch historische Personen ± Plutarch, sein Bruder Lamprias, sein Freund Theon, ihr platonischer Lehrer Ammonios, der delphische Priester Nikandros ±, die sich im Heiligtum unterhalten: Genauso wie 3ODWRQ GHQNEDUH *HVSUlFKVUXQGHQ LQ 6RNUDWHV¶ $WKHQ GDUVWHOOWH VR VLQG LQ Plutarchs Zeit solche philosophisch-theologischen Gesprächsrunden in Tempeln durchaus nicht unwahrscheinlich: Delphi eignet sich außerordentlich als Treffpunkt für gelehrte und fromme Männer aus der ganzen Oikoumene (man denke an Heliodors Kalasiris). Ähnliches gilt für andere Tempel, nicht bloß die Ägyptens, 45 Florida 16, 38 docuit argumento suscepti sacerdotii summum mihi honorem Carthaginis adesse; vgl. Aug. Ep. 138, 19. 46 Plut. An seni 17,792 F: Äil periodo di sacerdozio di Plutarco dovette seere molto lungo, raggiungendo lo spazio certamente superiore ai venti anni³: Ernesto VALGIGLIO, Gli Oracoli della Pizia (Napoli, 1992), 7. 47 Zu Klea GWYN GRIFFITHS, De Iside p. 253f.; sie ist möglicherweise die (Flavia) Clea zweier delphischer Inschriften. 48 De Is. 1,351A.
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in denen die Priester nach Chairemon andauernd Philosophie betrieben. Aelius Aristides zeigt uns Diskussionsrunden im pergamenischen Asklepieion, wobei der Rhetor freilich mehr auf seine Gesundheit als auf seine Philosophie bedacht war,49 und Louis ROBERT hat Ähnliches detailliert für den Asklepios-Tempel von Aigai in Kilikien gezeigt.50 In diesem in der Kaiserzeit gleichberechtigt neben Pergamon und Epidauros genannten Heiligtum,51 dessen Bedeutung sich auch darin zeigt, dass Konstantin persönlich sich um seine völlige Abtragung kümmerte,52 pflegten die Patienten, wie in Epidauros und Pergamon ebenfalls, nicht bloß eine einzige Nacht zu verbringen: Der Rhetor Antiochos von Aigai (2. Jh. n. Chr.), Äaus einer Familie, die noch heute Konsuln stellt³,53 verbrachte seine meisten Nächte dort, der Träume wegen, aber auch wegen der Diskussionen mit anderen Besuchern ± kaum bloß über Krankheiten, wie schon Louis ROBERT bemerkte: Antiochos hatte in einer Rede die Kreter erfolgreich verteidigt, dank seines Wissens in Physiologie und Theologie (ijȣıȚȠȜȠȖĮȚ IJİ țĮ șİȠȜȠȖĮȚ ʌıȘȚ ਥȞĮȖȦȞȚıȝİȞȠȢ ȜĮȝʌȡȢ 54 Noch ausführlicher handelt Philostrat vom Aufenthalt des Apollonios von Tyana im selben Heiligtum, nach einer Schrift des Maximos von Aigai: Auch Apollonios lebt im Heiligtum, als Vertrauter des Priesters und seines Gottes; mit beiden, dem Priester und dem Gott, erörtert er theologische Fragen, und er geht soweit, dass er den Asklepios zum Philosophen erhebt: Äer schaute Asklepios [die Statue doch wohl] an und sagte: ÃAsklepios, du bist ein Philosophµ³.55 Der Redner Aelius Aristides, der Nächte und Tage im pergamenischen Heiligtum verbringt, ist also keineswegs so isoliert und so pathologisch, wie manche Interpreten ihn darstellen wollen.56 Priester, die fähig und willens waren, theologische Fragen zu erörtern, muss es in der Kaiserzeit manche gegeben haben; einige sind uns inschriftlich bezeugt. Im Jahr 92/3 n. Chr. dedizierte eine Claudia Trophime, ÄPriesterin und Prytanis³, der Hestia im Prytaneion von Ephesos ein Preislied, das die Göttin und ihren Herd theologisch ausdeutet:
49 Vgl. André-Jean FESTUGIÈRE, Personal Religion Among the Greeks, Berkeley 1954, 86f. 50 Louis ROBERT, ÄDe Cilicie à Messine et à Plymouth avec deux inscriptions grecques errantes,³ Journal des Savants (1973), 162±211 (repr. in Opera Minora Selecta 7, Amsterdam 1990, 225±275), hier 184±189 (=250±255). 51 Vgl. den Vers des Q. Serenus Sammonius aus dem Prooemium des Liber Medicinalis, zit. bei Ludwig und Emma EDELSTEIN, Asclepius, Baltimore 1945, Bd. 1 Nr. 615, v. 5 qui colis Aegaeas, qui Pergama quique Epidaurum. 52 Euseb. V.Const. 3,56. Es erstaunt nicht, dass Julian sich ebenso persönlich um seinen Wiederaufbau kümmerte, ZONARAS, Epit. 13,12CD. 53 Wie Philostrat anmerkt, Vit. soph. 2,4. 54 Ibid. 55 Philostr. V.Ap. 1,7±13; vgl. Fritz GRAF, ÄMaximos von Aigai. Ein Beitrag zur Überlieferung über Apollonios von Tyana,³ JbAC 27/28 (1984), 65±73. 56 Aristides als Äa brainsick noodle³ nach Campbell BONNER, zit. von E. R. DODDS, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1968, 43.
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Fritz Graf Diese beglückt die Götter in seligen Mahlzeiten, und ebenso bewahrt sie der Stadt ihr lebendes Licht. Süßeste Göttin, Blüte des Kosmos, ewig strömendes Licht, die du in deinem Altar einen Funken des himmlischen Lichts bewahrst.57
Das ewige Feuer im städtischen Herd wird nicht nur mythologisch zur Göttin, deren Feuer auch Mittelpunkt der olympischen Bankette ist; es ist zugleich, in einer sozusagen vulgär-stoischen Lesung, ein irdischer Ableger des kosmischen Feuers. Die Dichterin dieses kleinen Hymnus, römische Bürgerin, Prytanin und Priesterin, gehört der städtischen Elite des spätflavischen Ephesos an. Weder Philosophie noch Verskunst des Textes sind exquisit, doch sind sie ein interessantes Zeitzeugnis. Ein anderes Beispiel ist der Philosoph, Priester und Mitglied der städtischen Elite T. Flavius Pantaios, der unter Trajan auf der Agora von Athen eine Bibliothek mitsamt den Büchern stiftete.58 In der Stiftungsinschrift nennt er sich ੂİȡİઃȢ ȂȠȣıȞ ĭȚȜȠıંijȦȞ± das ist ein realer, wenn auch privater Kult, nicht eine Metapher für einen Philosophen. Und doch ist Pantaios vor allem Philosoph, Nachfolger seines Vaters Flavius Menander Diadochos, dessen Name allein ihn als Glied in einer Kette von Leitern einer Philosophenschule macht, die wir freilich nur versuchsweise als stoisch identifizieren können. Wenn er in einer anderen Inschrift vielleicht als Archon genannt ist, weist dies auf seine Stellung als Mitglied der athenischen Führungsschicht hin.59 Ein anderer Pantaios, wohl angesichts der Seltenheit des Namens ein Verwandter, jedenfalls ein Athener, war unter Commodus erst stoischer Philosoph und wurde nach seiner Konversion Leiter der katechetischen Schule in Alexandria, wie Clemens und Euseb wissen:60 Nichts könnte die Verbindung von paganer Philosophie, Frömmigkeit und christlicher Lehrtätigkeit besser belegen. 4. ZUSAMMENFASSUNG Gelehrte und lehrende Priester sind mithin keine Eigenheit allein des spätantiken Christentums. In der paganen Welt sind es zwei Bewegungen, aus denen theolo57 Dieter KNIBBE, Der Staatsmarkt. Die Inschriften des Prytaneions (Forschungen in Ephesos IX,1,1), Wien 1981, 62 Nr. F1; vgl. die Diskussion von KNIBBE, ibid. 101f., der von einer eigentlichen ÄFeuertheologie³ spricht. 58 Die Inschrift des Flavius Pantaios ist publiziert von Benjamin MERRITT, Hesp. 1946,169 233, no. 64 (Bull. Ep. 1946±1947, 81); eine ausführliche Diskussion bei A. W. PARSONS, ÄA Family of Philosophers at Athens and Alexandria,³ in: Commemorative Studies in Honor of Theodore Leslie Shear (Hesperia, Supp. 8, 1949) 268±272 (mit der Korrektur durch die ROBERTS in Bull.Ep. 1951, 82). 59 IG II² 2017, ergänzt von T. L. SHEAR und PARSONS [ਥʌ ਚȡȟȠȞIJȠȢ ȉ. ĭȜ. Ȇ]ĮȞIJĮȠȣ, datiert Äshortly after A. A. 102³. MERITT, l.c. verweist auf das Fehlen eines Demotikons in unserer Inschrift, was auf Nichtbürger weist, und denkt sich Äthat the priest came from the famous library in Alexandria³. 60 Euseb. Hist. eccl. 5,9± EHL &RPPRGXV¶ 7KURQEHVWHLJXQJ ZDU HU EHUHLWV /HLWHU GHU Katechetenschule); Clem. Strom. 1,11,1f. preist ihn, teilt auch seinen Tod mit (um 200 n. Chr.); Athener nennt ihn Philippos von Side in seiner Liste der Schulleiter, PARSONS, l.c. 272.
Priester und Lehre im Spannungsfeld von Antike und Christentum
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gisch gebildete und bildende Priester hervorgehen. Zum einen sind es die professionellen Priester, sowohl Mitglieder der etablierten priesterlichen Geschlechter wie die athenischen Eumolpiden, wie wandernde Priester marginaler Kulte, welche Ãüber ihr Tun Rechenschaft ablegen wollenµ; das ist seit dem späten 5. Jh. fassbar und hat ein Echo in der Schriftstellerei römischer Augurn oder Pontifices. Zum anderen sind es philosophisch gebildete Mitglieder zumeist der städtischen Eliten der Kaiserzeit, die im Rahmen ihrer bürgerlichen und oft euergetischen Verpflichtungen Priestertümer bekleiden und dies zum Anlass nehmen, ihre religiösen Aktivitäten schriftstellerisch zu reflektieren. Die beiden Bewegungen konvergieren deswegen, weil die dominant platonisierende Theologie der Kaiserzeit auf einen Platon zurückgeht, dem die marginalen religiösen Bewegungen nicht fremd sind. Der entscheidende Unterschied zum Christentum ist wohl der, dass Lehre nie zum obligatorischen Bestandteil priesterlicher Aktivität wird; am nächsten kommt wohl Julian mit seinem Ideal des philosophischen gebildeten Priesters. LITERATUR P. ATHANASSIADI 1981 (repr. 1992), Julian. An Intellectual Biography, Oxford. M. BEARD & J. NORTH (Hgg.) 1990, Pagan Priests, London. C. BONNER 1968, zit. von E. R. DODDS, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge, 43. J. N. BREMMER 2001, The Rise and Fall of the Afterlife, London. W. BURKERT 1962, Weisheit und Wissenschaft, Erlangen. DERS. 1972, Lore and Science in Ancient Pythagoreism, Cambridge, Mass. DERS. 1979, Griechische Religion, Stuttgart. DERS. 1986, ÄDer Autor von Derveni: Stesimbrotos Ȇİȡ ȉİȜİIJȞ?³ Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 62, 1±5. E. COURTNEY 1995, Musa Lapidaria. A Selection of Latin Verse Inscriptions, Atlanta, Gia., Nr. 32. L. & E. EDELSTEIN 1945, Asclepius, Baltimore, Bd. 1 Nr. 615, v. 5. A.-J. FESTUGIERE 1954, Personal Religion Among the Greeks, Berkeley. DERS. 1963, Ä,QLWLpSDUO¶pSRX[³ Monuments Piot 53, 135±146. D. FRANKFURTER 1998, Religion in Roman Egypt. Assimilation and Resistance, Princeton. DERS. 2002, ÄDynamics of Ritual Expertise in Antiquity and Beyond. Towards a New Taxonomy of µMagicians,¶³ in: P. MIRECKI und M. MEYER, Hgg., Magic and Ritual in the Ancient World (Religions in the Graeco-Roman World 141), Leiden, 159±178. F. GRAF 1984, ÄMaximos von Aigai. Ein Beitrag zur Überlieferung über Apollonios von Tyana,³ JbAC 27/28, 65±73. J. G. MILNE 31924, A History of Egypt under Roman Rule, London. C. H. KAHN 1996, ÄWas Euthyphro the Author of the Derveni Papyrus?,³ in: A. LAKS and G. W. MOST, Studies on the Derveni Papyrus, Oxford, 55±63. P. DE LABRIOLLE 1934, La réaction païenne. Étude sur la polémique anti-chrétienne du Ier au VIe siècle, Paris. J. GWYN GRIFFITHS 1970, 3OXWDUFK¶V'H,VLGHHW2VLULGH, Bangor. T. HOPFNER 1925, Orient und griechische Philosophie, Leipzig. R. JANKO 1997, ÄThe Physicist as Hierophant. Aristophanes, Socrates and the Authorship of the Derveni Papyrus,³ Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 118, 61±94.
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ZWISCHEN RATIONALISMUS UND RITUALISMUS: ZUR ENTSTEHUNG DES DISKURSES ÄRELIGION³ IN DER SPÄTEN RÖMISCHEN REPUBLIK Jörg Rüpke 1. FRAGESTELLUNG UND METHODE Die letzten beiden Jahrhunderte der römischen Republik (etwa 240±40 v. Chr.) zeigen eine städtische Gesellschaft, die in massiver politischer wie wirtschaftlicher Expansion und in massivem Import besonders griechischer Kultur einem schnellen Wandel in vielen Bereichen (Politik, Recht, Wirtschaft, Religion) unterliegt. Dieser Prozess ist als Konfliktverschärfung im politischen und (partielle) Modernisierung im kulturellen Bereich, vor allem aber als Verfall traditioneller Kultur und Gräzisierung beschrieben worden. Die hier vorgestellten Überlegungen unternehmen es dagegen, diesen Prozess, konzentriert auf den Bereich der Religion, mit dem Instrumentarium des Weberschen Rationalisierungsbegriffs und seiner Rationalitätstypen zu untersuchen. Dieser Zugriff erlaubt es nicht nur, Veränderungen im religiösen Bereich in der Analyse zum Ausgangspunkt zu machen, sondern auch intensiv nach dem Zusammenhang und den Unterschieden verschiedener Entwicklungen und Trägerschichten zu fragen. Die hier gewonnenen Beobachtungen scheinen mir deswegen von einem über den Zeitraum hinausreichenden Interesse zu sein, weil sie zum einen den Typ von Texten, der im Zentrum dieses Bandes steht, kontextualisieren, sozusagen kommunikativ situieren, zum anderen aber auch religiöse Praktiken selbst, die zu Gegenständen von Diskursen werden, in ihrer kommunikativen Funktion analysieren. Die Ausgangshypothese ist, dass die entsprechenden griechischen Vorbilder eines rationalen Diskurses über Religion sich nicht einfach durch ihre Rationalität durchsetzen, sondern auf rationalitätsempfängliche Öffentlichkeit angewiesen sind. Daher wird ein institutionsgeschichtlicher Zugriff ± von kurzen Reflexionen zur Rationalität gerahmt ± und die Ausbildung von Öffentlichkeiten im Mittelpunkt stehen. Religion ± als zentrales Medium der politischen Kommunikation der römischen Nobilität ± wird dabei den roten Faden bilden. Zwei Begriffe prägen meinen Zugriff. Das erste Instrument zur Untersuchung der skizzierten Entwicklungen ist der Begriff der Rationalität und der sich daraus ergebenden Rationalisierung, wie er Max WEBERS religionssoziologischen Arbeiten zugrunde liegt. Obwohl gerade die Texte der späten Republik ± und hier ist Cicero an erster Stelle und noch vor dem nachantik nur noch fragmentarisch erhaltenen Varro zu nennen ± jene Synthesen antiken Denkens geliefert haben, die aufgrund ihrer Sprache, des Lateinischen, bis weit in die frühe Neuzeit für das europäische Denken bestimmend gewesen sind, steht dabei aber nicht die Frage
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nach den Eigenheiten moderner okzidentaler Rationalität im Vordergrund. Vielmehr werden, Wolfgang SCHLUCHTER folgend,1 WEBERs religionssoziologische Arbeiten als Teil eines typologischen wie entwicklungsgeschichtlichen Forschungsprogramms verstanden, dessen ex- wie implizites Begriffsinstrumentarium2 zur Analyse wie komparativen Einordnung der Entwicklung spezifischer Gesellschaften verwendet werden kann. Dass dem WEBERschen Begriffs- und Hypothesengebäude Annahmen zeitgenössischer Religionsforschung zugrunde liegen,3 die heute als überholt gelten müssen, verlangt zwar entsprechende Vorsicht in der Übernahme, schließt aber die Verwendung in heuristischer Absicht und als Interpretationsrahmen nicht aus, solange die Implikationen reflektiert oder ausgeschaltet werden. Welchen Vorzug besitzt der Versuch, spätrepublikanisch-römische Entwicklungen mit dem Instrumentarium des WEBERschen Rationalitätsbegriffs, und das heißt vor allem der Annahme verschiedener Rationalitätstypen4 zu untersuchen? Das Quellenmaterial selbst impliziert, dass der Entwicklung religiöser Praxis und Reflexion eine Schlüsselrolle zufällt. Das ist keine grundsätzliche Bestätigung WEBERs Hypothesen, sondern eine als kontingent zu bewertende historische Konstellation, die sich der Überlieferungsgeschichte und der zentralen Rolle religiöser Medien in der politischen Kommunikation der römischen Nobilität verdankt.5 Veränderungen in diesem Bereich in das Zentrum zu rücken, zugleich aber mit dem multifaktoriellen Zugriff der WEBERschen Religionssoziologie zu kontextualisieren, verspricht ein Bild spätrepublikanischer Geschichte zu entwerfen, das gerade für die oberschichtliche Praxis die gängigen, implizit polaren Interpretationen als Paradoxie, kognitive Dissonanz oder Hypokrisie überwinden kann. Dass der Pontifex Cotta, Teilnehmer der (fiktiven) philosophischen Diskussion in Ciceros Dialog ÄÜber das Wesen der Götter³ (De natura deorum), in seiner priesterlichen Praxis einfach alle philosophische Skepsis ignoriere,6 ist selbst nur eine literarische Lösung des Problems durch Cicero. Diese Zweiteilung bietet keine adäquate Beschreibung der Lebensführung einer Oberschicht, die den praktischen Erfolg von Rationalisierungen am eigenen Leib erfährt. Mein Ausgangspunkt für das spätrepublikanische Rom ist die Präsenz ausgefeilter Rationalisierungen in praktischer wie theoretischer Hinsicht: ersteres als instrumentelle Rationalisierungen (die Lösung technischer Probleme) und Wertrationalisierungen, letzteres als kausale wie zum Beispiel intellektuelle Rationalisierungen in Erkenntnistheorien und Weltbildern. Präsent sind diese in der Form griechischer Schulen und Schriften. Gerade angesichts dieser Präsenz im Rahmen einer vielfach attraktiven Kultur ± römische Adlige wetteifern darum, mit griechischer Beutekunst ihre Villen auszustatten, griechische Kultur dominiert die Bühne ± gilt 1 2 3 4 5 6
SCHLUCHTER 1988: 1,101. 104. S. ebd., 2,22±42. Siehe KIPPENBERG 2001, z.B. 43f. und passim. Zum Versuch einer Systematisierung s. SCHLUCHTER 1988: 2,38f.; vgl. in der Nachfolge BRUBAKERS EKSTRAND 2000: 103±107. Siehe HÖLKESKAMP 1987; RÜPKE 2005: 1419±40. Siehe GOAR 1972, BRUNT 1989 u.a.; differenzierter JOCELYN 1977.
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meine Aufmerksamkeit der Entwicklung Äinsularer³ Rationalisierungen, gilt sie Systematisierungen von Teilbereichen und deren Auswertungen und Erfolgen. Gerade Letzteres, die Erfolge, möchte ich betonen: Wenn solche Rationalisierungen auch zunächst an formalen Kriterien, zuförderst an Systematisierungen im Modus der Sprache, festzumachen sind, kann die Frage nach der Problemlösungskapazität solcher formalen Rationalität ± wohlgemerkt in den Augen der Zeitgenossen ± nicht unterbleiben. In diesem Sinne wurde von mir der ebenso originelle wie überzeugende Versuch Claudia MOATTIs, die ÄGeburt der Rationalität in Rom³ in der Generation Ciceros, also im ersten Jahrhundert v. Chr. zu suchen, um eine Schwangerschaftsgeschichte erweitert, erweitert aber auch durch eine Differenzierung des von ihm verwendeten Rationalitätsbegriffes.7 Damit öffnet sich eine neue Perspektive auf eine Kultur, der ± zeitlich zwischen der griechischen ÄEntdeckung des Geistes³ und der Methodik des christlichen Mönchtums gelegen ± als bloß vermittelnder Kultur keine Originalität zugebilligt worden ist.8 Aber gerade den Prozess der Diffusion von Rationalität und ihrem Erlernen9 zu untersuchen, den clash von Rationalität und mythischem Weltbild (um plakative Charakterisierungen zu verwenden) in einer vormodernen Kultur, dürfte den Reiz gerade meines Gegenstandes ausmachen. Die metaphorische Rede von Inseln und Konflikten führt zu dem zweiten Begriff, der den Zugriff prägt. Es handelt sich um den Begriff der Öffentlichkeit. Karl-Heinz HÖLKESKAMP hat in einem im Jahr 2003 erschienenen, gemeinsam mit Jörn RÜSEN herausgegebenen Band über ÄSinn in der Antike³ einen Beitrag zur ÄEntstehung der Öffentlichkeit im frühen Griechenland³ vorgelegt.10 Grundgedanke ist hier der Zusammenfall von symbolischer Selbstdarstellung der Gemeinschaft in der Volksversammlung mit dem Ort der tatsächlichen Entscheidung: Was durch kontroverse Reden als entscheidbar angesehen wird, wird durch ebendiese Institution auch entschieden. Die Bindung an einen Ort ± die Agora ± und dessen architektonischer Ausbau in griechischen Städten erscheint als wichtiger Faktor für die Institutionalisierung. In diesem Sinne geht der benutzte Öffentlichkeitsbegriff nicht über den Begriff der Äpolitischen Öffentlichkeit³, den Jürgen HABERMAS als Gegenmodell zur ± bloß ± repräsentativen Öffentlichkeit mittelalterlicher Gesellschaften verwendet hat, hinaus. In Anbetracht der Sonderentwicklung zumal der athenischen Demokratie ist dieser Begriff allerdings nicht generalisierungsfähig.11 Egon FLAIG dagegen hat in seiner kürzlich erschienenen Monographie zur politischen Semiotik der römischen Republik und ihrer Pragmatik12 den Öffentlichkeitsbegriff ganz vermieden und das institutionelle Gefüge konsequent als Interaktion zwischen sozialen Gruppen beschrieben. Damit umgeht er das Problem der 7 8
Siehe MOATTI 1997. Ausnahmen bilden hier die rationalitätsgeschichtlichen Arbeiten von Hubert CANCIK (in CANCIK 1998). 9 Siehe HABERMAS 1981: 103f. 10 HÖLKESKAMP 2003. 11 HABERMAS 1990: 56f. 12 FLAIG 2003.
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normativen Implikationen des Öffentlichkeitsbegriffs, der Kommunikationen nicht nur beobachtet, sondern auch in ihrer Relevanz für die reflektierte Selbststeuerung des Gemeinwesens, eben das Politische, bewertet. In der Folge dieses Ansatzes kommt FLAIG aber zu einer Reihe harter Annahmen über die Sozialstruktur und zu einer starken Typisierung von Kommunikationssituationen, um das Zusammenspiel der Zeichen und Zeichenpraktiken plausibel machen zu können. Demgegenüber ist für meinen Zugriff gerade die Veränderung individueller Argumentationen und die Verschiebung von Plausibilitäten und Plausibilitätserwartungen von Interesse, die Ausbildung oder Veränderung von Kommunikationsräumen, in denen Argumentationen formuliert werden oder greifen, das Reflexivwerden von Institutionen und dadurch gesteigerte Institutionalisierungen. ÄÖffentlichkeit³ dient damit nicht als trennscharfer analytischer, sondern als ein heuristischer Begriff. Gerade als ein anachronistischer Begriff, der durch moderne partizipatorische Vorstellungen politischer Entscheidungsprozesse geprägt ist, fragt er nach Kommunikationsräumen, die als ÄÖffentlichkeiten³ über sich selbst hinaus ± auf die Gesamtgesellschaft hin ± weisen. In diesem Sinne bildet ÄÖffentlichkeit³ im Singular dann einen Kommunikationsraum, in dem offene, allgemeine Kommunikation und Gemeinschaft, publicité und communauté, zusammenfallen. Am Ende werden Ihnen so eher die Grenzen denn die Effekte römischer Rationalisierungsprozesse vor Augen stehen. Das Verhältnis von Rationalismus und Ritualismus soll so in den Blick geraten. 2. ENTSTEHUNG VON ÖFFENTLICHKEIT SEIT DER MITTLEREN REPUBLIK Wenn sich der Blick auf jene Entwicklungen richtet, die sich seit dem Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts in Rom abzuzeichnen beginnen, ist daran zu erinnern, dass wir es bereits hier mit einer komplexen Gesellschaft zu tun haben, die ein vielfältiges System von Kommunikationsräumen gekannt haben muss: Oberschichtliche Bankettkultur13 dürfte dazu ebenso gehört haben wie wohnviertel- oder berufsbezogene Vereinsbildung,14 dionysische Kultgruppen15 wie patrizische oder plebejische Sonderorganisationen, Familien- ebenso wie Klientelverbände.16 Mit dem patrizisch-plebejischen Ausgleich, der sich insbesondere mit den Licinisch-Sextischen Gesetzen wie dem patrizisch-plebejischen Konsulat verbindet, wurde aber die Entstehung einer einheitlichen Nobilität eingeleitet. Deren Wertformulierungen und insbesondere ihre Außenorientierung ± aristokratischer Wettkampf wurde weitgehend in imperialistische Aktivitäten gelenkt ± führten zu 13 14 15 16
Siehe ZORZETTI 1990. Siehe GABBA 1984; DE ROBERTIS 1955, 1974. So WISEMAN 2001. LINKE 1995.
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einer Dynamisierung der Entwicklung,17 die sich in schneller Expansion, wachsender innerer Differenzierung und steigendem Wohlstand niederschlug. Mit dem Ersten Punischen Krieg von 264 bis 241 v. Chr. war Rom von einer Regionalmacht zu einem mediterranen Schwergewicht aufgestiegen. Es ist dieser sich fortsetzende Prozess, der den Rahmen für die im Folgenden analysierten Veränderungen bildete. 2.1. Senat Mein Durchgang ist zunächst institutionenorientiert. Im Zentrum politischer Kommunikation steht der Senat, eine Versammlung der dreihundert führenden Männer, alter Männer (senes). Auch wenn die Institution alt ist, gewinnt sie erst um das Jahr 300 herum jene Stabilität, die sie zum Schwerpunkt republikanischer Entscheidungsprozesse und zum lange effizienten Gegenüber immer mächtigerer Magistrate macht: Im Prinzip lebenslange Zugehörigkeit und geordneter Eintritt nach der Ausübung höherer Ämter führen zu einer Zusammensetzung, in der das Senioritätsprinzip ± Rederecht und Abstimmungsreihenfolge nach Dienstalter ± völlig dominiert.18 Die Zentralisierung oberschichtlicher Öffentlichkeit in diesem Gremium wird in der Überlieferung mit dem Censor von 312 v. Chr., Ap. Claudius Caecus, verbunden, der die Spielregeln für die Aufnahme der Senatoren, die in der vorangehenden Zeit entwickelt worden waren, in seiner Amtszeit konsequent umsetzte. Sein Widerstand gegen den Ausbau der Priesterkollegien nach patrizischplebejischem Proporz lässt vermuten, dass hier alternative institutionalisierte ÄÖffentlichkeiten³ befürchtet wurden; dem selben Ziel dürfte auch die Publikation der Gerichtstage, die in der Entscheidungskompetenz der Priesterschaft der Pontifices lagen, gedient haben.19 Prinzipielle Zugänglichkeit reduziert hier den Einfluss breiter gestreuter Institutionen; Medium der Publikation ist Schriftlichkeit. Ein weiterer innovativer politischer Gebrauch von Schriftlichkeit hängt an dem Namen des Ap. Claudius. Seine Rede gegen den Friedensschluss mit Pyrrhos im Jahr 280 galt als älteste überlieferte Rede.20 Das ist mehr als ein kulturgeschichtliches Datum. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Konsulat (erstmals 307 v. Chr.) muss Claudius zu den dienstältesten und ranghöchsten Senatoren gehört haben. Die schriftliche Verbreitung der Rede ± ÄPrivatdruck³ gäbe schon eine falsche Vorstellung von der Auflagenhöhe ± markiert den Dissens mit dem Ergebnis der Senatsverhandlungen, einem Friedensangebot des Siegers, Pyrrhos, zuzustimmen. Die Publikation stellt hier eine ÄÖffentlichkeit³ her, die ± wie klein und diffus auch immer ± den Spielregeln senatorischer Konsensfindung nicht entspricht. In Unkenntnis des Inhalts ist nicht entscheidbar, ob Appius damit seinen 17 18 19 20
Ausführlich HÖLKESKAMP 1987; RÜPKE 1995b. Umfassend zum Senat: BONNEFOND-COUDRY 1989; TALBERT 1984. Siehe RÜPKE 1995a: 248±249. So Cic. Brut. 61 und spätere.
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Argumenten oder seiner Person zu mehr Gewicht verhelfen wollte: Ein Bruch wird hier sichtbar, kein Trend. Vermutlich in den direkt folgenden Jahrzehnten begannen die römischen pontifices maximi nicht nur schriftliche Protokolle anzufertigen, sondern auch Auszüge daraus auf einer geweißten Holztafel zu publizieren.21 Vorbilder solcher Protokolle dürften am ehesten Dokumentations-Verfahren im Senat geliefert haben, doch muss das in Anbetracht unserer Unkenntnis über beide Texttypen in diesem Zeitraum Spekulation bleiben. ÄPublikation³ bleibt dabei ein vieldeutiger Begriff: Wir kennen weder die intendierten noch die tatsächlichen Leser. Entscheidend dürfte die Geste des prinzipiellen Lesenkönnens, der Wendung an ein Publikum undefinierter Größe gewesen sein: Öffentliche Repräsentation sicherte dann institutionelle Selbstständigkeit und Bedeutung. Zu bewerten sind diese Publikationsgesten vor dem Hintergrund des Schriftgebrauchs: Zentraler politischer Gebrauch war die Sicherung von Beschlüssen in der Ausfertigung von Bronze-Exemplaren, die allgemein zugänglich platziert waren. Das galt auch für die Kodifikation der Zwölf Tafeln ± inwieweit der später kanonische Text dabei getreuliche Tradition aus dem fünften Jahrhundert oder Ergebnis eines Sammlungs- und Kommentierungsprozesses des dritten beziehungsweise zweiten Jahrhunderts v. Chr. war, kann hier offen bleiben.22 Wo eine zeitgenössische Öffentlichkeit tatsächlich angestrebt wurde, wurden hohe Zahlen physisch Anwesender festgelegt: Das gilt ebenso für den Centumviralgerichtshof, das ÄHundert-Männer-Gericht³, das in historischer Zeit aus je drei Personen aus allen fünfunddreißig römischen tribus bestand,23 wie für das Quorum von mindestens hundert Senatoren, die für Genehmigungen nach dem Senatsbeschluss über die Bacchanalien notwendig waren.24 2.2. Volksversammlungen Große Versammlungen waren die comitia und die contiones. Die althistorischen Forschungen der letzten Jahre haben deutlich gemacht, dass die komplizierten Abstimmungsverfahren der comitia die Tatsache, dass diese Abstimmungen zumindest für den legislativen Entscheidungsprozess ± Wahlen sind ein anderes Problem ± kaum eine Rolle mehr spielten, nur verdeckt haben. Die versammlungsleitenden Magistrate stellten ohne weitere Debatte Gesetze zur Abstimmung, die bereits die Rückendeckung durch den Senat hatten: Nicht Entscheidbarkeit wurde hier ausgelotet, sondern ein Ritual durchgeführt, das grundsätzlich Konsens signalisierte. Hauptmotiv zur Teilnahme dürfte vor allem die Möglichkeit gewesen sein, sich als Teil des strukturierten populus Romanus erleben zu können.25 21 22 23 24 25
RÜPKE 2005: 1493±97. Vgl. RÜPKE 2003. Fest. 47, s. PAULUS 1997. CIL I3 581. Dazu die Arbeiten von JEHNE (zuletzt 2003) und FLAIG (zuletzt 2003).
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ÄArgumente³ waren das Ansehen des gewählten Magistrats, die Kontrolle der Stimmabgabe durch die Patrone oder die Wahlentscheidung höhergestellter Stimmkörper. Demgegenüber dienten die beratenden contiones der Vorstellung von Kandidaten oder der Erläuterung von Gesetzesvorhaben: Entscheidungen blieben dabei offen, doch lag den Rednern natürlich daran, Präferenzen auszuloten oder herzustellen. Alternativen waren vor allem sprachlich zu markieren. Doch auch hier darf das Argumentative nicht überschätzt werden, wie der Blick auf das Prozesswesen zeigt, den uns vor allem Jean-Michel DAVID geöffnet hat: Demonstrative Unterstützung durch das Tragen von Trauerkleidung,26 das Ansehen von Freunden und die Größe der Klientel, aber auch die Bereitschaft, soziale Distanz durch Gesten persönlicher Nähe zu überwinden, die Bereitschaft zur Selbsterniedrigung in der Bittgeste,27 sind entscheidende Faktoren eines Wettkampfs, in dem Schlüssigkeit der Argumentation nur eine Ebene der Wertung benennt.28 Auch wenn solche Effekte als Tipps tradiert werden, werden sie von der Systematik rhetorischer Lehrbücher nur ganz unzureichend erfasst: Die Wertrationalisierung bleibt hier ± beschränkt durch die Lust an der eigenen Systematik ± durchaus lückenhaft. 2.3. Rituale Politische Versammlungen waren weder die häufigsten noch die attraktivsten Anlässe in Rom, große Zahlen von Menschen zu versammeln. Häufiger boten Feste, große Rituale, diese Gelegenheit. Und gerade in diesem Bereich lassen sich auch die größten Veränderungen im hier betrachteten Zeitraum feststellen. Das betrifft zunächst die Frequenz der Feiern. Beginnend mit den letzten Jahren des vierten Jahrhunderts zieht sich eine rasche Kette neuer Tempelgründungen durch das dritte Jahrhundert. Diese Tempelbauprojekte sind Gegenstände intensiver Auseinandersetzung der zumeist als Feldherrn liquide gewordenen Stifter mit dem Senat; große Einweihungsfeierlichkeiten und dauerhaft institutionalisierte Feiern an den Jahrestagen knüpfen sich daran. Durch Spiele (ludi) konnte der Kult weiter aufgewertet werden; das ist ein Prozess, der vor allem in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts einsetzte. Gegenstand dieser ÄSpiele³ waren traditionellerweise Wettrennen und Wettkämpfe; auch Tänze waren ein altes Element, die vermutlich unter etruskischem Einfluss zunehmend professionalisiert und um Spielszenen und possenartige Dialoge bereichert wurden. Spieltage mit dramatischen Schauspielen griechischen Typs (ludi scaenici) knüpften nach dem späteren römischen Selbstverständnis daran an:29 Für die Jahre 240 und 235 sind Aufführungen von Dramen der beiden ersten namentlich bekannten Dramatiker bezeugt, des viel26 27 28 29
Dazu FLAIG 2003: 102. Ebd., 117f. S. a. JEHNE. Zentral ist Liv. 7,2,1±3 und Val. Max. 2,4,4; dazu P.L. SCHMIDT 1989; BERNSTEIN 1998: 119±129.
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OHLFKW DXV 7DUHQW VWDPPHQGHQ Ä+DOE-*ULHFKHQ³ /LYLXV $QGURQLFXV XQG GHV DXV Kampanien stammenden Cn. Naevius.30 Die Zahl der Gelegenheiten für Aufführungen von Tragödien wie Komödien nahm binnen weniger Jahrzehnte explosionsartig zu: Aus dem rituellen Rahmen der ludi Romani wurden bis ans Ende des dritten Jahrhunderts etwa elf,31 bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts an die dreißig Spieltage;32 die beiden kanonischen Gattungen wurden nach ersten früheren Versuchen im Jahr 173 durch die feste Etablierung des Mimus an den nun jährlichen Ludi Florales ergänzt, der dann in der Kaiserzeit die anderen dramatischen Gattungen an den Rand gedrängt hat.33 Zunehmend überwogen die szenischen die circensischen Spiele.34 Das ist aber noch nicht alles. Triumphzüge und außerordentliche Spiele aus Anlass militärischer Siege gab es in den meisten Jahren, Feiern ohne Spiele ± zu denken ist an die auf drei und schließlich fünf Tage ausgedehnten Saturnalien ± traten noch hinzu, ebenso Bitt- oder Dankveranstaltungen, supplicationes, wo man Bankette in allen römischen Tempeln besuchte. Es ist noch einmal zu betonen: Wenn Veränderungen in der Äöffentlichen³ Kommunikation zu finden sind, dann im Zusammenhang dieser Rituale. Im Zentrum der traditionellen populären Feste standen Opfer und Mähler im Kreise von Familien oder Nachbarschaften; im Unterschied zu den Äwöchentlichen³ Feiern der Nundinen oder Kalenden, Nonen und Iden oft an wechselnden Orten oder gar außerhalb des Stadtzentrums: Das gilt für das ÄLaubhüttenfest³ der Neptunalia, die Parentalia an den Gräbern, die Matronalia und die Poplifugia auf dem Marsfeld oder das Wetttrinken im Kult der Anna Perenna am Tiberufer, ähnlich wohl für die Parilia, Reinigungsfeuer im April; die Saturnalien im Dezember waren eher ein häusliches Fest. Die alten Pferdewettrennen der Equirria, der Consulia oder des Equus October lassen den Grad ihrer Popularität nicht mehr erkennen. Dem beschriebenen Muster folgen die supplicationes. Als Bitt- und Dankfeste sind sie zunächst Krisenrituale, die die gesamte Bevölkerung zum Tempelbesuch und Straßenfeiern mobilisieren sollen; wir wissen nicht, inwieweit die zwanzigund fünfzigtägigen Dankfeiern, die für die Siege Caesars in Gallien beschlossen wurden, sich noch vom Alltag unterscheiden konnten: Der Beschluss war sicher einfacher als die individuelle Feier, für die meines Wissens nach keine öffentlichen Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Immerhin fand auf diese Weise eine Synchronisierung von Alltagsleben mit bedeutsamen militärischen Erfolgen statt; so kam der, in dessen Namen den Göttern gedankt wurde, in aller Munde. Der andere Typ neuer Rituale zeichnete sich dagegen durch eine völlige Synchronisierung und räumliche Zentralisierung der symbolischen Handlungen 30 Zu den Daten Cic. Brut. 72 (zur Spätdatierung des Accius ebd., 72f.) und Gell. 17,21,44f. Zur weiteren Entwicklung CANCIK 1978 für die Tragödie und BLÄNSDORF 1978 für die Komödie. 31 SUERBAUM 2002 (HLL 1), 99. 32 BLÄNSDORF (1978, 115) zählt 28 dem Theater vorbehaltene jährliche Festspieltage am Ende des 2. Jhs. v. Chr., außerordentliche Gelegenheiten nicht mitgerechnet. S. ausführlich L.R. TAYLOR 1937. 33 Zum Mimus s. RIEKS 1978; L. BENZ 1995. 34 Siehe BERNSTEIN 1998: 245f.
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aus. Kernelemente waren die Prozession (pompa) und das eigentliche Spiel. Die Prozession führte typischerweise von einem Tempel zu einem Circus; auch Theateraufführungen fanden auf improvisierten Bühnen und Zuschauerräumen in den großen Circi, dem Circus Maximus, seit dem Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr. auch im Circus Flaminius auf dem Marsfeld statt. Während der eigentliche rituelle Raum ± der Prozessionsweg, der Circus ± vielfältig nutzbar und entsprechend architektonisch eher unterdeterminiert blieb, wurde er vielfältig eingerahmt:35 In der Umgebung der Circi konzentrierten sich zahlreiche Tempelbauten, die wichtigsten Prozessionswege vom und zum Kapitol und Forum Romanum wurden durch Statuen, Säulen und Triumphbögen ± also Unterbauten für Statuen ± gesäumt. Damit wurde über die eher anspruchslose Architektur der politischen Versammlungsräume ± Comitium, Rostra, Curia ± hinausgehend ein zunehmend monumentalisierter, ein spezifisch Äöffentlicher³, auf den einzelnen verdankten Erfolg des Gemeinwesens bezogener Raum geschaffen. Als Medium dienten dazu primär Ehrenstatuen und besonders Sakralbauten ± im Architektonischen treffen sich die Charakteristika der ludi und der supplicationes. Wie verlief die Kommunikation in diesem Rahmen? Passivität ist der Normalfall. Die Rolle römischer Bürger war die der Zuschauer. Das gilt zunächst für die Prozession: Am Triumphzug des Aemilius Paullus teilzunehmen heißt drei Tage am Straßenrand zu stehen und die vorüberfahrende Beute zu bewundern. Im Triumphzug konnten die siegreichen Soldaten mitmarschieren, die Senatoren konnten den Zug begrüßen und sich einreihen, aber im Zentrum stand der Triumphator, der seine Beute ± lebende wie tote ± in unendlichem Zug vorführte. In der pompa circensis dominierten die bürgerrechtslosen Akteure: Zwar führte der spielgebende Magistrat und hierarchisch geordnete römische Jugendliche den Zug an, aber dann folgten die Wagenlenker, Gruppen von Tänzern, Musikanten, Possenreißern. Auch die Götter waren nur römische Bürger: Zwar wurden sie am Zugende mitgeführt, zwar galt ihnen ein Opfer am Zielort, aber vor allem waren sie Zuschauer der folgenden Spiele und Wettkämpfe. Sie saßen gewissermaßen in der ersten Reihe, wenn die Aufführungen nicht ohnehin vor ihrem eigenen Tempel stattfanden. Sie waren das rituell intendierte Primärpublikum, die römischen Zuschauer nur Zuschauer zweiten Grades. Letzteres wird auch darin deutlich, dass ± im Unterschied zum griechischen Festablauf ± eine allgemeine Beteiligung der Anwesenden am Opfermahl nicht erfolgte. Nur in seltenen Einzelfällen gab es allgemeine Bewirtungen; die verschiedentlich integrierten epula waren ± wie die lectisternia ± Speisungen der Götter, an denen allenfalls einzelne Priestergruppen und Senatoren teilnehmen konnten. Diese Vielschichtigkeit charakterisiert religiöse Kommunikation und sie sollte nicht zu schnell übergangen werden: Die Spiele wurden gestiftet, um erzürnte Götter effektiv zu besänftigen und um damit weitere katastrophale militärische Niederlagen oder Seuchen zu verhindern. Dafür war das Beste gerade gut genug ± die Zuschauer konnten lediglich beobachten, wie das geschah. Steigender Aufwand und Professionalisierung der Akteure gingen Hand in Hand: Die Textdichter 35 HÖLSCHER 1984.
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formieren sich noch in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts als offizieller römischer Verein (collegium), professionelle Schauspielergruppen konnten schon zuvor aus den noch stärker gräzisierten Teilen Italiens angeworben werden. Für die Wagenlenker sind ähnliche Professionalisierungsprozesse zu unterstellen, auch wenn Belege für den Kult der Rennstars erst aus der Kaiserzeit bekannt sind. Aber auch für die Republik lassen verstreute und zumeist späte Quellen diese Professionellen als Adressaten von Beifalls- oder Missfallensäußerungen der Zuschauer erkennen. Ich betone das deswegen, weil gerade in jüngerer Zeit ± ausgehend von George VILLEs Studie über die Gladiatur36 ± die Interaktionen innerhalb des Publikums, das Beobachten der Senatoren, das Beklatschen oder Ausbuhen einzelner von ihnen innerhalb eines zunehmend nach sozialen Gruppen getrennten Zuschauerraumes in den Vordergrund geschoben worden sind. 37 Ich möchte diesen Faktor nicht leugnen, aber mir scheint die Annahme, sekundäre Funktionen könnten anstelle von primären Intentionen die enorme Proliferation der Institution ÄSpiele³ erklären, unbefriedigend. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass die Wettkämpfe, zumal die Wagenrennen, langfristig das erfolgreichste Element waren. Wagenrennen dominieren das Spielwesen der Kaiserzeit bis in die Spätantike völlig: Nicht die einheitliche Meinung der Zuschauerschaft, sondern die unterschiedlichen Präferenzen für die Fahrer oder Parteien dürften den Reiz ausgemacht haben: Den Liebling der Freundin zu unterstützen, auch wenn dessen Niederlage absehbar war, brachte Punkte; mit dem richtigen Riecher gegen die Wette des eigenen Patrons zu siegen, dürfte Befriedigung gebracht haben ± zumindest Letzteres bloße Hypothese, gebe ich zu. 2.4. Inhalte religiöser Kommunikation Das zeigt die Notwendigkeit, sich den Inhalten der organisierten Kommunikation zuzuwenden. Rezipiert wird die ganze Gattungsvielfalt italischer und griechischer Produktion. Das beginnt bei Statuen und Malerei: Denkt man an den Triumphzug, erlangen großgriechische Statuen und andere ÄKunstwerke³, nun aus jedem funktionalen Zusammenhang gerissen, Unterhaltungswert; das schließt griechische Bibliotheken ein. Die Technik des Bronzegusses begeistert römische Adlige schon am Ende des vierten Jahrhunderts. Den Göttern werden nicht nur exotische Tiere zur Unterhaltung geboten: Auch dramatische Produktionen jeder Art werden übersetzt oder adaptiert: oskische Atellane, neue Komödie, Tragödien mit Sujets aus der griechischen Mythologie wie ± bald auch ± römischen Geschichte; letzteres, die Praetexta, war eine Gattung, die immer eine untergeordnete Rolle spielen sollte und mit der Republik praktisch verschwand.38 36 VILLE 1981. 37 S. besonders FLAIG 1992; 2003. 38 Die Texte bietet MANUWALD 2000. Zur Ausnahme der Octavia praetexta s. SCHMIDT 2000; 2001.
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Überlieferte Titel und erhaltene Texte noch aus dem späten dritten Jahrhundert vermitteln ein präziseres Bild der Inhalte. Zunächst spielen präzise zeitgenössische Bezüge oder ein enger Bezug zu den jeweiligen Festanlässen keine erkennbare Rolle ± das unterscheidet diese Dramatik deutlich vom athenischen Theater des fünften Jahrhunderts. Die Titel und wenigen erhaltenen Fragmente der schon erwähnten beiden frühesten Dramendichter in Rom, Livius Andronicus und Naevius, lassen ein Übergewicht mythologischer Stoffe erkennen, die traditionellen griechischen Sagenkreisen zugeordnet sind: Achilles, Aegistus, Aiax mastigophorus, Andromeda, Antiopa, Danae, Equos Troianus, Hermiona, Ino, Tereus lautet die Reihe der bekannten Tragödientitel für Livius Andronicus, Aesiona, Danae, Equos Troianus, Hector proficiscens, Iphigenia, Lycurgos für Naevius, der darüber auch die sicher römischen Stoffe Clastidium sive Marcellus ± über einen rezenten Sieg über die Kelten ± sowie einen Lupus, ÄWolf³ und Romulus auf die Bühne brachte. Von weit zahlreichen Komödien des Naevius sind immerhin fünfunddreißig Titel bekannt. Alphabetisch beginnt ihre Reihe mit Acontizomenos, Aigtatoria, Agrynuntes, Appella, Ariolus, Astiologa, Carbonaria, Clamidaria und Colax.39 Die erhaltenen Stücke eines Plautus und Terenz aus den folgenden Jahrzehnten bestätigen nur den Eindruck dieser Titel: Vorgeführt werden Handlungen in einer griechischen Welt, auch wenn die verhandelten Probleme oft deutlich römische Züge tragen. Wie kann man den Befund interpretieren? Die Gegenstände und Formen der Unterhaltung sind vielfach ethnisch markiert. Den meisten Zuschauerinnen und Zuschauern muss klar gewesen sein, dass sie ± im weitesten Sinne ± griechische Unterhaltung konsumierten, Produktentwicklungen einer in dieser Hinsicht durchaus als überlegen und damit attraktiv eingestuften Kultur. Das hat eine Kehrseite: Rom importiert diese Produkte, oft genug gegen den Willen der Urheber ± Kunstraub und Sklavenfang sind zentrale Modi des Kulturtransfers; die Kriegsgewinne reichen dazu aus, die besten freien Schauspielertruppen und Künstler zu engagieren. Vielfach handelt es sich ja um Siegesfeiern oder werden Siege kommemoriert:40 Rom erscheint als Mittelpunkt der Welt. Aber: Rom erscheint als Mittelpunkt einer Welt, einer Welt außerhalb Roms, einer Welt, die älter ist als Rom. Es sind vor allem griechische Erzähltraditionen, die die Mittelmeerwelt beherrschen, die in Geschichten von umherziehenden Göttern, städtegründenden Exilierten oder abenteuerlichen Militärexpeditionen, zumal den Küstenorten des Mittelmeerraums eine Genealogie, einen Platz in der griechischen Geschichte geben: Rom wird, wie später Varro aus diesen Traditionen errechnet, vierhundertdreißig Jahre nach dem Fall Trojas gegründet: Daraus ergibt sich 754/753 als Datum der Stadtgründung, das Jahr Äeins³ der Stadt ist ein Datum der griechischen Geschichte. Es sind Götter mit römischen Namen, nicht Zeus, sondern Iuppiter, nicht Hera, sondern Iuno, nicht Ares, sondern Mars, die in den Dramen eine Geschichte, Genealogien erhalten. Selbst der verstörend anspruchsvolle Gott Dionysos des Lycurgos ist ein so einheimischer Gott, dass seine 39 SUERBAUM 2002 (HLL 1), 108. 40 Das betont FLAIG 2003: 232±235.
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Anhänger nur wenig später, im Jahr 186, als Mitglieder einer Massenbewegung des Staatsstreiches verdächtigt werden.41 Die hier einsetzende Systematisierungsleistung ist in anderen Texttypen besser erkennbar, ich meine die lateinische Epik, die mit den gleichen beiden Autoren und inhaltlich einer ÄOdyssee³ und einem bis auf Troja und Aeneas zurückgreifenden ÄPunischen Krieg³ beginnt, sowie die römische Geschichtsschreibung, die noch in derselben Generation mit dem griechischsprachigen Werk des Fabius Pictor ihren Anfang nimmt. Beide Gattungen zielen nicht auf ein Massenpublikum: Das Epos wurde am ehesten im Rahmen oberschichtlicher Bankette rezitiert,42 die erst im zweiten Drittel des zweiten Jahrhunderts auf das Lateinische umschaltende Sprache der Historiographie legt von Anfang an die Rezeption in privater Lektüre nahe. Die Exklusivität beider Texttypen macht klar: Geschichtsunterricht fand in Rom im Theater statt.43 Ziel und Wirkung der Alltagsgeschichten der Komödie ist eine andere. Es sind Probleme römischer Menschen, die hier ± im Wortsinne ± in griechischem Gewande durchgespielt werden: Konflikte zwischen Geld und Liebe, überlegene Schlauheit abhängiger Sklaven, die Faulheit reicher Erben, die Großspurigkeit beutebeladener Soldaten. So nimmt es auch nicht wunder, dass tagespolitische Anspielungen eher hier als in den Tragödien zu entdecken sind, vielleicht ist es auch nicht überraschend, dass diese Texte, nicht die hohe Tragödie überliefert wurden. Aber nicht das Lokalkolorit ist das Entscheidende, sondern die hier geleistete Universalisierung: Eigene Erfahrungen werden unter den Bedingungen universaler Geltung reflektiert. Das mag hochtrabend klingen für Aufführungen, die vor allem der Erheiterung dienten. Aber wir dürfen nicht vergessen: In der Erheiterung wie der Besänftigung von Zorn mussten die Stücke auch den Ansprüchen gräzisierter Götter genügen. 3. RATIONALISIERUNG Das zweite Stichwort, das der Rationalität, ist ein wenig kurz gekommen. Es ging bislang darum, jene Räume zu rekonstruieren, in denen öffentliche Kommunikation überhaupt Raum für Systematisierungen bot. Wichtig war, die Diskursnormen sichtbar werden zu lassen, die die Kommunikation in diesen Räumen strukturierten, Diskursnormen, die nur bedingt Raum für Rationalisierungen boten oder gar prämierten. Aufschlussreich ist ein Blick auf die Selbstbeschreibungen der Institutionen, auf antiquarische oder historiographische Systematisierungen seit dem ausgehenden dritten Jahrhundert: Er lässt das Ausmaß der Reflexivität solcher Rationalisierungen klarer ermessen. Mit Blick auf Religion reicht das Spektrum gesteigerter Formen von Systematisierungen bis hin zu den bekannten Texten der ausgehenden Republik im ersten Jahrhundert v. Chr.: Lukrezens De rerum natura, 41 Zur langen Vorgeschichte des Bacchus-Kultes s. die Überlegungen von WISEMAN (2000). 42 Ausführlich begründet bei RÜPKE 2001. 43 Diese These hat Peter WISEMAN vielfältig argumentiert (WISEMAN 1995 u.ö.).
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ÄÜber die Natur der Dinge³, das nicht nur der Theologie im engeren Sinne, der physikalischen Beschreibung der Götter, Raum einräumt, sondern die Lehre Epikurs insgesamt als eine ÄHeilslehre³ (oder, vielleicht weniger anstößig, Lebensphilosophie) formuliert, die eine Alternative zu einer mit religiösen Praktiken und Gottesfurcht assoziierten Weltdeutung darstellt. M. Tullius Ciceros Dialog De natura deorum, der in breiter Darstellung älterer und jüngerer griechischhellenistischer Positionen die Frage nach dem ÄWesen der Götter³ und ihrer Beziehung zu den Menschen diskutiert; M. Terentius Varros Antiquitates rerum divinarum schließlich, die spätrepublikanisches Wissen über religiöse Institutionen und die durch sie verehrten Götter in einer Art und Weise zusammenfassen, mit der für die gesamte Kaiserzeit in positiver Rezeption wie polemischem Bezug ein kanonischer Ausgangspunkt für die Beschreibung spezifisch römischer Religion geliefert wurde, der uns selbst durch eben diese Breite der Verwendung in Umrissen und Fragmenten bekannt ist (CARDAUNS 1976).44 Die erhaltenen Werke lassen einen großen Einfluss attisch-hellenistischer Philosophie erkennen; philosophiegeschichtlich bilden sie noch immer zentrale Quellen zur Rekonstruktion griechischer Philosophie der hellenistischen Epoche, während sie sich selbst gerade als Versuche verstanden, deren Gedanken einem römischen Publikum nahe zu bringen und diesem zu erschließen.45 Sie verbinden die (für einen philosophischen Text) ungewohnte Sprachwahl Latein und Bemühungen um römische Beispiele mit dem rationalen Diskurs über einen Gegenstand, der, wie wir gesehen haben, nur scheinbar von bornierter Traditionalität ist, nämlich über Religion: Die Gültigkeit religiöser Annahmen wird an nichtreligiösen Prämissen und Evidenzen überprüft. Entsprechendes gilt für die parallelen Abhandlungen über politische Ordnung und menschliche Lebensführung. Aber, und das führt mich an den Anfang zurück: Das Verfahren des reddere rationem46 ist nicht allein an den Ansprüchen einer griechischen Logik zu messen. Die Kriterien von Evidenz sind abhängig vom kulturellen und sozialen Kontext. Plausibilität ist ± ein Kernthema antiker Rhetorik ± nicht zuletzt von der Person des Sprechers abhängig. Aber noch interessanter ist, was überhaupt in das Forum argumentativer Auseinandersetzung eintritt oder zum Gegenstand von Systematisierungsprozessen wird. Wenn Cato der Ältere zu Beginn seines Geschichtswerkes in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts Rechenschaft über das gesamte Leben ± das otium, die ÄRuhe³, wie das negotium, die ÄNicht-Ruhe³, die Geschäfte ± verlangt und gibt, deutet das darauf hin, dass mit dem Import griechischer Artefakte und Belustigung auch Ansprüche einer tendenziell universalistischen Ethik transportiert werden. In einem Weltreich ist es nicht unwichtig, sich solchen zu stellen ± und sei es zur Beruhigung der Untertanen. 44 In der Fülle weiterer zeitgenössischer Literatur, die nur noch in Titeln oder dürftigen Fragmenten erhalten ist, steht die Auseinandersetzung mit kultisch wie politisch relevanten Institutionen wie der Divination und den Festen des römischen Jahres an der Spitze (Übersicht bei RAWSON 1985: 298±312; für Literatur Äüber das römische Jahr³ s. DEGRASSI 1963: xxv±xxvi und RÜPKE 1997). 45 P.L. SCHMIDT 1979; GAWLICK, GÖRLER 1994; LEONHARDT 1999. 46 MOATTI 1997: 204ff.
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Zur Entstehung des Diskurses ÄReligion³ in der späten römischen Republik
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NIL CREDO AUGURIBUS: ZUR CHALDÄERREDE DES FAVORINUS VON ARLES (AULUS GELLIUS, NOCTES ATTICAE XIV 1) Vera Binder 1. EINLEITUNG In Rom wird Aulus Gellius Zeuge, wie der Philosoph und Sophist Favorinus von Arles eine Stegreif-Dissertatio Adversum istos qui sese Chaldaeos seu genethliacos appellant liefert; nach eigenem Bekunden1 habe Aulus Gellius sich unmittelbar anschließend Notizen über die Capita locorum argumentorumque quibus usus est gemacht und lässt diese nun seinem Leser zukommen, allerdings schon deshalb nicht wörtlich, weil Favorinus, so Gellius, griechisch gesprochen habe, der vorliegende Text aber unzweifelhaft lateinisch ist.2 Die Übersetzung bzw. lateinische Paraphrase stammt also vom Verfasser der Noctes Atticae selbst, woran kein Zweifel gelassen wird, denn er entschuldigt sich in gängiger Bescheidenheitstopik für die stilistischen Unzulänglichkeiten: Während Favorinus egregia atque inlustri oratione gesprochen habe, sei seine eigene oratio sicca, incondita et propemodum ieiuna, also Ätrocken, schlicht und fast schon nüchtern³ und längst nicht so Äausführlich, anmutig, brillant und flüssig³ wie die des Meisters selbst.3 Es handelt sich, was schon per se Aufmerksamkeit erregen muss, um einen der längsten commentarii der Noctes Atticae und um eine der drei großen kritischen Auseinandersetzungen mit der Astrologie der römischen Prosaliteratur neben den Ausführungen Ciceros im 2. Buch des Werkes De Divinatione und denen des Augustin im 5. Buch des ÄGottesstaats³.4 In den vorliegenden Überlegungen sollen weniger die einzelnen Argumente und ihr Pedigree nachgezeichnet werden, die weitgehend die sind, die auch heute noch gegen die Astrologie vorgebracht werden: Es handelt sich vorwiegend um 1 2 3
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Die Authentizität der Situation darf freilich bezweifelt werden (LAKMANN S. 234); für den gegenwärtigen Zusammenhang ist die Frage allerdings unerheblich. Auch wenn CRAMER (zu dem Favorinus-Diskurs insbesondere S. 197f.) das entgangen zu sein scheint. Aulus Gellius, Noctes Atticae 14. 1. 1f. Adversum istos, qui sese Chaldaeos seu genethliacos appellant ac de motu deque positu stellarum dicere posse quae futura sunt, profitentur, audivimus quondam Favorinum philosophum Romae Graece disserentem egregia atque inlustri oratione. (...) Capita autem locorum argumentorumque, quibus usus est, quod eius meminisse potui, egressus ibi ex auditione propere adnotavi eaque fuerunt ad hanc ferme sententiam. ibid. 14. 1. 32 Haec nos sicca et incondita et propemodum ieiuna oratione adtingimus. Set Favorinus, ut hominis ingenium fuit utque est Graecae facundiae copia simul et venustas, latius ea et amoenius et splendidius et profluentius exsequebatur. Bei BAKHOUCHE leider unerwähnt.
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sachliche Überlegungen wie etwa das Bestreiten einer adäquaten empirischen Basis, Verweis auf interne Unklarheiten (etwa die Frage danach, ob der Geburtsoder der Empfängniszeitpunkt der astrologisch bedeutsame sei),5 Ablehnung methodischer Grundvoraussetzungen wie z. B. das Sympathiekonzept,6 den empirischen Nachweis uneinheitlicher Ergebnisse und das Aufzeigen fehlgeschlagener Vorhersagen; aber auch ethisch-moralische Überlegungen spielen eine Rolle wie etwa die Frage, ob für einen Menschen angemessen oder wünschenswert sein könne, die Zukunft zu kennen.7 Hier aber soll darauf nicht weiter eingegangen, sondern vielmehr versucht werden, diese ÄNox Attica³ in ihren historischen Kontext einzuordnen und ± vor allem in der Konfrontation mit den einschlägigen Passagen aus dem Werk Ciceros ± die Frage nach der Funktionalisierung dieser Auseinandersetzung im Rahmen des Gesamtwerkes, also auch nach der Interaktion von Inhalt und Textsorte, zu stellen. Eine Vorbemerkung ist an dieser Stelle erforderlich: Das Thema des Sammelbandes lautet ÄReligion und Bildung³; wie bereits klar geworden ist, soll es in meinem Beitrag um die Astrologie gehen, was natürlich zunächst die Frage aufwirft, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt ist, sie als ÃReligionµ oder doch zumindest Ãreligiöse Praxisµ zu fassen und man nicht die moderne Scheidung zwischen Astronomie, der wissenschaftlichen Sternenkunde, und Astrologie, einem divinatorischen Tun, unzulässigerweise an antike Texte heranträgt, die diese terminologische Unterscheidung bekanntlich nicht treffen: Die Termini Astronomie, Astrologie und auch Mathematik werden in der Antike nahezu synonym verwendet,8 und auch die Bezeichnung ÄChaldäer³ wird in der späten Republik von einem Ethnonym zu einer Tätigkeitsbezeichnung.9 Auf dieses Problem macht in anderem Kontext auch Tamsyn BARTON aufmerksam. Eine Ausgrenzung der Astrologie aus der Wissenschaftsgeschichte sei gewissermaßen ein Anachronismus, denn die Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft seien letzten Endes künstlich, da ihrerseits Produkt ihrer geschichtlichen Rahmenbedingungen;10 auch wer die erste Aussage nicht akzeptiert, wird doch die zweite ernst 5 6 7
Vgl. die Erörterung BOUCHÉ-LECLERQ S. 373±393. DIHLE S. 93f., HÜBNER 1988 S. 24±29, LONG S. 167. Befürworter können sich darauf berufen, dass die Antizipation es dem Einzelnen möglich mache, sich auf die Zukunft einzustellen und sie so leichter ertragen zu können (BOUCHÉLECLERQ S. 596); vgl. Sen. Marc. 9 Quae multo ante praevisa sunt, languidius incurrunt. 8 Erste Unterscheidung bei Ptolemaios (LONG S. 178f.); vgl. auch HÜBNER 1988 S. 9±11, HÜBNER 1989. 9 FOWDEN S. 93; diesen Bedeutungswandel macht sich die allegoretische GenesisInterpretation des Philon v. Alexandria zunutze: dort wird die Abwanderung Abrahams aus dem Chaldäerland als Absage an die Astrologie gedeutet (Philo Abr. 15. 72, KOSTER S. 1011). Schon in der augusteischen Dichtung werden umgekehrt traditionelle bzw. mythologische Seherfiguren als sternenkundig präsentiert (BARTON S. 49). Allerdings ist der Sprachgebrauch des Aulus Gellius (ÄChaldäer³ für ÄAstrologen³) eher in der Republik beheimatet; Tacitus und Iuvenal sprechen von mathematici (von HOLFORD-STREVENS S. 230 als archaisierender Sprachgebrauch verstanden). 10 BARTON 6Ä$QFLHQWDVWURORJ\RIfers a contrasting case to our organization of knowledge illustrating the artificial, historically specific nature of boundaries between knowledge and
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nehmen müssen: Auch ein essentialistisches Wissenschaftsverständnis kann nicht über die Gebundenheit der Wissenschaftler und ihres Tuns an den jeweiligen historischen Kontext hinwegsehen.11 Graham ANDERSON verweist außerdem darauf, die wissenschaftliche Basis der antiken Astrologie sei, am antiken Standard gemessen, durchaus respektabel und derjenigen der Medizin keineswegs unterlegen.12 Der Gefahr, der Astrologie durch unreflektiertes Heranziehen moderner Maßstäbe unzulässigerweise ihren Platz in der Wissenschaftsgeschichte zu verweigern,13 entspricht die Gefahr, sie voreilig unter Religion zu subsumieren, was an und für sich eine Definition des Begriffs ÄReligion³ erfordern würde, die hier selbstverständlich nicht zu leisten ist. Hier soll eine Ãweicheµ, rein heuristische Religionsdefinition zugrunde gelegt und die Rechtfertigung, die favorinischgellianische Chaldäer-Dissertatio im Rahmen dieses Sammelbandes zu behandeln, aus folgender Überlegung abgeleitet werden: Wenn die Astrologie im Rahmen von Phänomenen behandelt wird, die sowohl in der Antike wie auch heute übereinstimmend als dem Diskurssystem ÄReligion³, IJ ʌȡઁȢ IJȠઃȢ șİȠȢ, angehörig verstanden werden, rechtfertigt das ihre Inklusion in den hier behandelten Themenkreis und eröffnet außerdem die Möglichkeit, unterschiedliche Einordnungen der Astrologie innerhalb der Antike selbst aufzuzeigen. Dass Astrologie aber auch bereits in der Antike nicht unhinterfragt als Wissenschaft akzeptiert, sondern auch in den religiösen Kontext gestellt wurde, lässt sich an vielen Stellen nachweisen. Cicero behandelt die Kunst der Chaldäer in seinem Werk De Divinatione, dem zweiten Teil einer gewissermaßen ÃTheologischen Trilogieµ, bestehend aus De Natura Deorum, De Divinatione und De fato; dort wird unter anderem die stoische Ansicht referiert, aus der Existenz der Götter folge unmittelbar die Divination.14 Plinius der Ältere sieht in seiner großen Anklage gegen die Magie im 30.
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pseudo-knowledge.³ Vgl. CRAMER S. 3 ÄScientific astrology has rightly been called the product of a marriage of religion and science³ und BOLL ± BEZOLD ± GUNDEL S. 72 ÄAstrologie will Religion und Wissenschaft zugleich sein.³ MACMULLAN S. 128: ÄTacitus and Tertullian show the tendency to jumble prediction and magic together.³ Vgl. das simple Verdikt von LIEBESCHUETZ 6Ä$VWURORJ\ZDVRI course a pseudo-VFLHQFH³ So behandelt z. B. ASTARITA in ihren Ausführungen zu ÄGellio e le altre scienze³ im Abschnitt S. 167±169 (Ä*HOOLRHO¶DVWURQRPLD³) nur in unserem Sinne astronomische Ausführungen; auf Noctes Atticae 14. 1 kommt sie gar nicht zu sprechen. ANDERSON S. 62; erschwerend kommt hinzu, dass sich die Gegner der Astrologie gelegentlich nicht auf der Höhe des Diskussionsstands befinden; das Argument Ciceros der dissimilitudo locorum ist zu dieser Zeit bereits in der astrologischen țȜȝĮIJĮ-Theorie berücksichtigt (PEASE S. 514, BOUCHÉ-LECLERQ S. 581, 587, IOPPOLO S. 83f.). Das Argument der Relativität der Lokationen auf der Erde wird dann irrelevant, wenn ± wie das Manilius oder Ptolemaios tun ± zwischen Ästellar determination of nations³ und individuellen Horoskopen unterschieden wird (LONG S. 175). Wenn vollends die Sterne nur einen unter mehreren Einflüssen darstellen (Ptol. Tetr. 1. 2) und Vorhersagen nur eintreffen, wenn Änothing stronger intervenes³ (LONG S. 187), bricht die antike Astrologie-Kritik weitgehend in sich zusammen. Was dann auch die Gefahr, skeptische Äußerungen fehlzuinterpretieren, einschließt (BARTON S. 53). Cic. Div. 1. 82±84 Quam quidem esse re vera hac Stoicorum ratione concluditur: ÃSi sunt di neque ante declarant hominibus, quae futura sint, aut non diligunt homines, aut, quid eventurum sit, ignorant, aut existumant nihil interesse hominum scire, quid sit futurum, aut
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Buch seiner Naturalis Historia die Astrologie neben der Medizin als einen der entstehungsbedingenden Faktoren dieser fraudulentissima artium an;15 bei Sextus Empiricus wird in der Tat eine Unterscheidung getroffen, die der unseren nahezu entspricht ± er trennt die Sternenkunde etwa eines Eudoxos von Knidos, die Vorhersagen nach Art der ȖİȦȡȖĮ oder țȣȕİȡȞȘIJȚț über meteorologische und geologische Phänomene treffe und die manche auch ÄAstronomie³ nennten, von der Genethlialogie nach Art der Chaldäer, die eine Mauer des Aberglaubens, der įİȚıȚįĮȚȝȠȞĮ, errichte.16 Doch führt die gedankliche Trennung ± erschwert dadurch, dass auch die Ãwissenschaftliche Astrologieµ des Sextus Vorhersagen trifft und sich auf empirische Beobachtungen, IJȡȘıȚȢਥʌijĮȚȞȠȝȞȠȚȢ, beruft und sich hierin in keinster Weise von den Chaldäern unterscheidet ± hier noch nicht zu einer terminologischen: Die Disziplin des Eudoxos benennt Sextus nach wie vor als Astrologie oder auch Astronomie; was die Chaldäer hingegen tun, ist für ihn lediglich eine unzulässige Usurpation des Begriffes Astrologie; erschwerend kommt hinzu, dass er auch die nach unseren Vorstellungen Ãechteµ Astronomie dekonstruiert, also gegenüber der chaldäischen keineswegs umstandslos aufwertet.17 non censent esse suae maiestatis praesignificare hominibus, quae sunt futura. At neque non diligunt nos (sunt enim benefici generique hominum amici) neque ignorant ea, quae ab ipsis constituta et designata sunt; neque nostra nihil interest scire ea, quae eventura sint (erimus enim cautiores, si sciemus), neque hoc alienum ducunt maiestate sua (nihil est enim beneficientia praestantius) neque non possunt futura praenoscere. Non igitur sunt di nec significant futura. Sunt autem di: significant ergo et non, si significant [sc. dii], nullas vias dant nobis ad significationis scientiam (frustra enim significarent); nec, si dant vias, non est divinatio; est igitur divinatio. Cic. Div. 2. 41 multo est probabilius: non est autem divinatio; non sunt ergo di. 15 Plin. Nat Hist. 30. 1. f.: Magicas vanitates saepius quidem antecedente operis parte, ubicumque causae locusque poscebant, coarguimus detegemusque etiamnum. In paucis tamen digna res est, de qua plura dicantur, vel eo ipso quod fraudulentissima artium plurimum in toto terrarum orbe plurimisque saeculis valuit. Auctoritatem ei maximam fuisse nemo miretur, quandoquidem sola artium tres alias imperiosissimas humanae mentis complexa in unam se redegit. Natam primum e medicina nemo dubitabit ac specie salutari inrepsisse velut altiorem sanctioremque medicinam, ita blandissimis desideratissimis promissis addidisse vires religionis, ad quas maxime etiam nunc caligat humanum genus, atque, ut hoc quoque suggesserit, miscuisse artes mathematicas, nullo non avido futura de sese sciendi atque ea de caelo verissime peti credente. Vgl. JANOWITZ S. 13±16; ausführliche Behandlung GRAF S. 50f. 16 Sext. Emp. Adv. Math. 5. 1 Ȇİȡܻ ޥıIJȡȠȜȠȖަĮȢ ݙȝĮșȘȝĮIJȚț߱Ȣ ʌȡިțİȚIJĮȚ ȗȘIJ߱ıĮȚ ȠއIJİ IJ߱Ȣ IJİȜİަȠȣȟܻȡȚșȝȘIJȚț߱ȢțĮޥȖİȦȝİIJȡަĮȢıȣȞİıIJެıȘȢ ȠއIJİIJ߱ȢʌĮȡޟIJȠ߿Ȣ ʌİȡޥǼއįȠȟȠȞțĮޥ ݴʌʌĮȡȤȠȞ țĮ ޥIJȠީȢ ݸȝȠަȠȣȢ ʌȡȠȡȡȘIJȚț߱Ȣ įȣȞޠȝİȦȢ ݚȞ į ޣțĮܻ ޥıIJȡȠȞȠȝަĮȞ IJȚȞޡȢ țĮȜȠࠎıȚ IJȡȘıȚȢȖȡਥıIJȚȞਥʌijĮȚȞȠȝȞȠȚȢ੪ȢȖİȦȡȖĮțĮțȣȕİȡȞȘIJȚțܻij¶ݞȢݏıIJȚȞĮރȤȝȠުȢIJİțĮޥ ʌȠȝȕȡަĮȢ ȜȠȚȝȠުȢ IJİ țĮ ޥıİȚıȝȠީȢ țĮܿ ޥȜȜĮȢ IJȠȚȠȣIJެįİȚȢ IJȠࠎ ʌİȡȚޢȤȠȞIJȠȢ ȝİIJĮȕȠȜޟȢ ʌȡȠșİıʌަȗİȚȞ ܻȜȜ ޟʌȡާȢ ȖİȞİșȜȚĮȜȠȖަĮȞ ݚȞ ıİȝȞȠIJޢȡȠȚȢ țȠıȝȠࠎȞIJİȢ ݷȞިȝĮıȚȞ Ƞ ݨȋĮȜįĮ߿ȠȚ ȝĮșȘȝĮIJȚțȠީȢ țĮܻ ޥıIJȡȠȜިȖȠȣȢ ıijߢȢ ĮރIJȠީȢ ܻȞĮȖȠȡİުȠȣıȚȞ ȝİȖȜȘȞ į¶ ਲȝȞ ਥʌȚIJİȚȤȗȠȞIJİȢįİȚıȚįĮȚȝȠȞĮȞ1DWUOLFKLVWGLH:LHGHUJDEHYRQįİȚıȚįĮȚȝȠȞܝĮGXUFK ÄAberglaube³ problematisch, ebenso wie lat. superstitio mit dem deutschen Terminus nicht deckungsgleich ist. Zur Wortgeschichte vgl. MOTSCHMANN S. 145±153. 17 Vgl. BARTON S. 32: Ä6H[WXV(PSLULFXV¶EOLVWHULQJDWWDFNRQDVWURORJ\ PXVWEHVHHQLQWKH context of his attacks on grammar, rhetoric, geometry, arithmetic, music, and philosophy, in
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So führt die Astrologie ± nun im modernen Sinne verstanden ± auch in der Antike ein Zwitterdasein zwischen Wissenschaft und Religion, das sie bald in die Nähe der Astronomie und Mathematik, bald in die Nähe des Aberglaubens und der Magie rückt,18 und man wird sich fragen müssen, welche Art von Einordnung jeweils getroffen wird und im Rahmen welcher Überlegungen sie wie behandelt wird. 2. INTERFERENZEN ZWISCHEN CICERO UND AULUS GELLIUS Doch ist zunächst weiterhin zu fragen, von welcher Art von Astrologie an beiden Stellen ± sowohl bei Cicero als auch bei Aulus Gellius ± überhaupt die Rede ist; zu trennen ist nämlich idealtypisch zwischen zwei verschiedenen, eigentlich in kontradiktorischem Verhältnis stehenden19 Applikationen, und zwar einerseits der Ägeneathlialogischen³, die aus dem Geburts- oder auch dem Konzeptionszeitpunkt und der zu diesem Zeitpunkt eingetretenen Konstellation von Planeten und Tierkreiszeichen auf physische wie psychische Eigenschaften sowie den Lebenslauf des betreffenden Individuums schließt, und andererseits der Äkatarchischen³, die etwa geeignete Zeitpunkte für bestimmte Vorhaben ausfindig macht und kurzfristige Vorhersagen zum Zwecke einer informierteren Entscheidungsfindung trifft.20 Auch wenn beide von denselben Spezialisten betrieben werden, so unterscheiden sie sich doch gravierend hinsichtlich ihrer philosophischen Grundannahmen. Bei der genethlialogischen Astrologie steht die Vorstellung eines Fatum, also einer Prädetermination, im Hintergrund: Es ist gerade der Umstand einer unauflöslichen kausalen Verkettung des gesamten Universums, eines Systems, où tout se tient, der Vorhersagen durch Gestirnbeobachtung möglich macht, wobei es in diesem Zusammenhang zweitrangig ist, ob den Gestirnen selbst eine direkte Kausalwirkung ± womöglich sogar als Gottheiten ± zugeschrieben wird oder ob sie eher als Indizien und Zeichen für künftige Ereignisse gewertet werden:21 Auch eine nach-
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short the ancient curriculum. In effect, he furnishes better testimony to the extent of astrolRJ\¶VLQFOXVLRQLQWKHFXUULFXOXPWKDQWRZLGHVSUHDGVHFRnd-FHQWXU\VFHSWLFLVPDERXWLW³ Vgl. auch die Beschreibung der Astrologenvertreibung Agrippas von 33 v. Chr. bei Cassius Dio 49. 43 ਕıIJȡȠȜંȖȠȣȢțĮIJȠઃȢȖંȘIJĮȢਥțIJોȢʌંȜİșȢਥȟȜĮıİȞ (BOUCHÉ-LECLERQ S. 560, BOLL ± BEZOLD ± GUNDEL S. 104); ferner formuliert Paulus Sent. 5. 21 Strafandrohungen an diejenigen, qui vaticinatores quo se deo plenos adsimulant qui novas sectas vel ratione incognitas religiones inducunt qui de salute pricipis vel summa rei publicae mathematicos hariolos haruspices consulit. GRAF S. 55: ÄDie hellenisierte römische Elite übernahm den griechischen Magiebegriff und band die divinatorische Technik der Astrologie in denselben Kontext ein.³ FOWDEN S. 93: ÄBy the 2nd century A. D. µChaldaean¶ had become a catch-all term for any expert in divination or even thaumaturgy and the occult arts generally.³ CRAMER S. 3, GUNDEL 1950 Sp. 817f. spricht von ÃUniversalastrologieµ vs. ÃKatarchenastrologieµ (wobei letztere Aufgaben der Orakel übernimmt; einer ihrer Zweige ist dann die Iatromathematik). Zu einfach FERGUSON, der konstatiert, Äastrological thought³ sei notwendig Äfatalistic³ gewesen und solches Denken auch grundsätzlich bei den Kunden voraussetzt: Äthose who consulted astrologers were seeking to know the future not to change it³ (S. 153). Zur Unterscheidung vgl. BOUCHÉ-LECLERQ S. 372, BAKHOUCHE S. 75f. Letzteres wäre eher die neuplatonische Sichtweise (BOUCHÉ-LECLERQ S. 599f.)
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weisbare Korrelation ist ja noch kein hinreichender Beweis für eine Kausalbeziehung. Es ist diese Grundannahme, die die genethlialogische Astrologie mit der Stoa und ihrem Konzept der ǼੂȝĮȡȝȞȘ kompatibel gemacht22 und dazu geführt hat, dass sie auch in Abhandlungen über das Fatum, wie wir sie etwa bruchstückhaft von Cicero kennen (aber auch von Pseudo-Plutarch oder dem AristotelesKommentator Alexander von Aphrodisias), Gegenstand der Erörterung ist.23 Die katarchische Astrologie hingegen fungiert eher als eine Form der Lebensberatung und Entscheidungshilfe; sie spricht unter Rekurs auf die Gestirne Warnungen oder umgekehrt Empfehlungen aus, gerät also im Rahmen einer strengen Prädeterminationslehre in ernsthafte Argumentationsnotstände.24 Entsprechend formuliert die lebenspraktische Astrologie ihre Aussagen oft als Konditionalsätze (so übrigens auch die ältesten erhaltenen aus dem Zweistromland25), was impliziert, dass dem Kunden ein Entscheidungsspielraum bleibt, den er ± gerade mit der Hilfe seines Astrologen ± besser nutzen kann. Damit werden ihre Aussagen auch kaum noch falsifizierbar und lassen sich nicht mehr von Erwartungen des common sense unterscheiden, was verschiedentlich als Gelegenheit zum Spott dankbar aufgegriffen wird, so etwa vom Poeten Lucillius aus neronischer Zeit:26 ȆȡઁȢIJઁȞȝȞIJȚȞਜ਼ȜȣȝʌȠȞȞıȚȝȠȢȜșİȞʌțIJȘȢ İੁ ȝȜȜİȚ ȖȘȡ઼Ȟ ȕȠȣȜંȝİȞȠȢ ʌȡȠȝĮșİȞ. ȀਕțİȞȠȢ ȃĮ ijȘıȞ ਥȞ ਵįȘ țĮIJĮȜıૉȢ ਗȞįȖİ ʌȣțIJİૉȢ੪ȡȠșİIJİıİȀȡંȞȠȢ Zum Seher Olympos kam ein Faustkämpfer; er wollte im Voraus erfahren, ob er alt werden würde. Jener darauf: ÃJa ± wenn Du jetzt aufhörst. Wenn Du aber weiterhin kämpfst, dann bestimmt Saturn Deine Stunde.
Auch Iuvenal verhöhnt in seiner Ehe- oder besser Anti-Ehe-Satire Frauen, die auch Entscheidungen über Lappalien nicht ohne vorherige Konsultation der Astrologie treffen:27 Ad primum lapidem vectari cum placet, hora sumitur ex libro; si prurit frictus ocelli angulus, inspecta genesi collyria poscit; aegra licet iaceat, capiendo nulla videtur aptior hora cibo nisi quam dederit Petoriris. 22 LONG 6 3ODWRQV $VWUDOWKHRORJLH XQG GHU VWRLVFKH 'HWHUPLQLVPXV VHLHQ ÄGRFWULQHV³ gewesen Äwhich helped to give astrology a theoretical foundation within the Greek philosophical tradition.³ Zur Vorsicht mahnend allerdings IOPPOLO S. 78: ÄNessuno di questi elementi [sc. del pensiero stoico] né preso isolatamente né nel complesso può far parlare di una SUHVHQ]DGHOO¶DVWURORJLDQHOORVWRLFLVPRDQWLFR³ Vgl. auch HÜBNER 1988 S. 24±29. 23 Auch christliche Zurückweisungen der Astrologie siedeln sich hauptsächlich im Diskurs über Fatalismus an (BARTON S. 64f.). Über stoische Vermittlung der Astrologie an den römischen Ähigher social level³ vgl. LIEBESCHUETZ S. 120f. 24 CRAMER S. 206. 25 BOLL ± BEZOLD ± GUNDEL S. 2. 26 Anthologia Palatina 11. 161. 27 Iuv. 6. 577±581.
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Wenn sie auch nur bis zum ersten Meilenstein zu fahren beschlossen hat, die geeignete Stunde entnimmt sie dem Buch; wenn ihr der Augenwinkel vom Reiben juckt, verlangt sie erst eine Salbe, wenn das Geburtshoroskop überprüft ist; und wenn sie krank daniederliegt, glaubt sie, nur zu dem Zeitpunkt Nahrung zu sich nehmen zu sollen, den Petosiris ihr angibt.
Beide Anwendungen der Astrologie liegen also überkreuz und schließen sich streng genommen wechselseitig aus,28 was auch der antiken Kritik nicht entgangen ist. Betrachtet man aber die Äußerungen bei Cicero und Aulus Gellius, so fällt ins Auge, dass es sich hier ausschließlich um Geburtshoroskope im Rahmen einer fatalistischen Konzeption handelt: Die monstra Chaldaeorum bestehen laut Cicero in den natalicia praedicta, die Auskunft über die ingenia, mores, animum, corpus, actionem vitae, casus cuiusque eventus geben könnten;29 ebenso definiert auch Aulus Gellius (und zwar er selbst) als Gegenstand der Kritik, diejenigen, die beanspruchten de motu deque positu stellarum dicere posse, quae futura sunt, inklusive genus, forma, ingenium, mores vita omnis et mors.30 Matthew W. DICKIE hat darauf aufmerksam gemacht, dass die eigentlichen vollständigen Geburtshoroskope, wenn man antiken direkten Zeugnissen glauben darf, nur einen Bruchteil des Astrologengeschäfts ausgemacht haben, eine Widerlegung im Rahmen einer allgemeinen Widerlegung eines Prädeterminismus also die gewöhnliche Praxis nicht notwendig beeinträchtigt hätte;31 als erste Beobachtung ist hiermit festzuhalten, dass sowohl Cicero als auch Favorinus von Arles sich in der Darstellung des Aulus Gellius vorwiegend gegen eine streng fatalistisch konzipierte Astrologie wenden, die gerade nicht die ist, die den Hauptgegenstand der Alltagspraxis und auch dichterischen Spotts bildet. 3. DAS LITERARISCHE SETTING Doch kommen wir nun zunächst zum jeweiligen literarischen ÃSettingµ der beiden Chaldäerdiskurse. Cicero siedelt sie, wie gesagt, im Werk De Divinatione an, und zwar im zweiten Buch des Dialogs: Im ersten Buch lässt Cicero seinen Bruder Quintus als engagierten Verfechter eines Wahrheitsanspruchs der Divination auftreten; er argumentiert zum einen mit der transkulturellen Universalität divinatori28 CRAMER S. 3 Äthere was obviously a logical contradiction between the one type of astrology and the other³ 29 Cic. Div. 2. 87. 30 Noctes Atticae 14. 1. 1f. Adversum istos, qui sese Chaldaeos seu genethliacos appellant ac de motu deque positu stellarum dicere posse quae futura sunt, profitentur; ibid. 14. 1. 15 Nam si ita modo coepta fieri observatio est, ut animadverteretur, quo habitu quaque forma quaque positura stellarum aliquis nasceretur, tum deinceps ab ineunte vita fortuna eius et mores et ingenium et circumstantia rerum negotiorumque et ad postremum finis etiam vitae spectaretur. 31 DICKIE S. 156; auch Bouché-Leclerq konstatiert, hauptsächlich habe die Astrologie sich mit Äélections³ und Äinterrogations³ beschäftigt (S. 587).
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scher Praktiken (ohne allerdings auf die Chaldäer näher einzugehen); die Divination wird vor allem mit der Überlegung verteidigt, ein einziges Beispiel für eine zutreffende Weissagung, das nicht auf Zufall zurückgeführt werden könne, sei bereits ein hinreichender Beweis; es gebe aber unzählige Beispiele für zutreffende Aussagen: Unzutreffende Voraussagen hingegen seien kein Argument gegen die Divination an sich, sondern seien durch nicht sachgerechte Anwendung der jeweiligen Divinationstechnik zu erklären, ein Argument, mit dem man übrigens, wie Quintus, auch heute noch Misserfolge der Medizin zu erklären pflegt, ohne dass man deswegen deren Wissenschaftscharakter in Frage stellte.32 Demgegenüber antwortet Marcus im zweiten, divinationskritischen Buch mit einigen grundsätzlichen Überlegungen, um dann Äim Handgemenge³ Punkt für Punkt jeweils einzelne Formen der Divination, darunter denn auch die der Chaldäer, in ihrer Gültigkeit in Frage zu stellen.33 Der Dialog endet wie bereits De Natura Deorum nicht mit einer eindeutigen und letztgültigen Stellungnahme.34 Wie Mary BEARD gezeigt hat, darf der Dialogpartner Cicero nicht umstandslos mit dem Autor des Gesamtdialogs und erst recht nicht mit der historischen Person Cicero identifiziert und auf eine prinzipiell divinationskritische Haltung dieses geschlossen werden, zumal die Frage, wie sich denn die vorgetragene Skepsis mit Ciceros Augurenamt vertrage, durchaus gestellt und für unser Verständnis unbefriedigend mit dem etwas vagen Verweis auf politische utilitas und die Autorität des mos maiorum beantwortet wird.35 Wichtig ist in diesem Zusam32 Cic. Div. 1. 23 Sic enim se profecto res habet, ut numquam perfecte veritatem casus imitetur; ibid. 1. 50 Plena exemplorum est historia, tum referta vita communis LELG Ã At non numquam ea, quae praedicta sunt, minus eveniunt.µ Quae tandem id ars non habet? Earum dico artium, quae coniectura continentur et sunt opinabiles. An medicina ars non putanda est? Quam tamen multa fallunt. Cic. Div. 109 adfert autem vetustas omnibus in rebus longinqua observatione incredibiliem scientiam. Cic. Div. 118 falsa sunt non rerum vitio sed interpretum inscientia. Bouché -/HFOHUTÄ(OOH>VFODEDWDLOOHFRQWUHO¶DVWURORJLH@ODLVVDVXbVLVWHU O¶LGpH TXH OHV HUUHXUV GHV DVWURORJXHV pWDLHQW LPSXWDEOHV DX[ LPSHUIHFWLRQV G¶XQH science perfectible³ (S. 593). Von einer ungerechtfertigten Diskreditierung der Astrologie durch Unwürdige spricht auch Vettius Valens 5. 8. 33 Cic. Div. 2. 26 Concludatur igitur ratio: si enim provideri nihil potest futurum esse eorum, quae casu finiunt, quia esse certa non possunt, divinatio nulla est; sin autem idcirco possunt provideri, quia certa sunt et fatalia, rursus divinatio nulla est; eam tu fortuitarum rerum esse dicebas. Sed haec fuerit nobis tamquam levis armaturae prima orationis excursio; nunc comminus agamus. 34 Cic. Div. 2. 150 Cum autem proprium sit Academiae iudicium suum nullum interponere, ea probare, quae simillima veri videantur, conferre causas et, quid in quamque sententiam dici possit, expromere, nulla adhibita sua auctoritate iudicium audientium relinquere integrum ac liberum, tenebimus hanc consuetudinem a Socrate traditam eaque inter nos, si tibi, Quinte frater, placebit, quam saepissime utemur. Ã0LKLYHURµ inquit ille Ãnihil potest esse iucundius.µ Quae cum essent dicta, surreximus. 35 Cic. Div. 2. 70 Non enim sumus ii nos augures, qui avium reliquorumve signorum observatione futura dicamus. Et tamen credo Romulum, qui urbem auspicato condidit, habuisse opinionem esse in providendis rebus augurandi scientiam (errabat enim multis in rebus antiquitas), quam vel usus iam vel doctrina vel vetustate inmutatam videmus. Retinetur autem et ad opinionem vulgi et ad magnas utilitates rei publicae mos, religio, disciplina, ius augurium, collegii auctoritas.
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menhang die nicht per se unproblematische Subsumption sowohl der chaldäischen Astrologie als auch der römischen Divinationspraxis unter einen gemeinsamen Begriff, obgleich die Einholung der Auspizien weniger die Zukunft vorhersehen als vielmehr das Einverständnis der Götter sicherstellen sollte;36 nur so lässt sich auch die Wiederholbarkeit von ungültig ausgefallenen Opfern erklären. Überdies waren die Chaldäer eine eigene Klasse religiöser Spezialisten mit geradezu dynastischen Gepflogenheiten, wie Diodorus Siculus sie anschaulich schildert,37 wohingegen sich die römischen Auguren und Pontifices aus dem Senatsadel rekrutierten.38 Daraus mag sich erklären, weshalb die Chaldäer überhaupt so ausführlich behandelt werden, obwohl Cicero sonst Punkt für Punkt die Argumentation seines Bruders aufgreift: Der aber hatte die Chaldäer nur transitorisch erwähnt. Einbeziehung auch wesentlich fremder, geradezu exotischer Kulturen konnte auf fast schon schockierende Weise die Einheit des zu behandelnden Phänomens und damit auch die Eigenständigkeit des Ansatzes besonders sinnfällig untermauern. Mary BEARD sieht denn auch die wesentliche Leistung des Dialogs in der tentativen Fundierung eines römischen religiösen Diskurses, der in der Adaptierung griechischer Begrifflichkeit an römische, mit den griechischen nicht in jedem Fall ohne weiteres kompatible Verhältnisse besteht; und gerade die Bruchstellen, so Mary BEARD, hätten Cicero bewogen, die Position der akademischen Philosophie zu wählen. Gerade die partielle Unverrechenbarkeit der griechischen Theorie mit römischer Praxis habe den Dialog als literarische Form und eine skeptische Position zum adäquaten Medium zur Etablierung eines spezifisch römischen Diskurses gemacht. Damit werden auch zwei von Mary BEARD angestellte Beobachtungen wichtig: erstens die, dass, ebenso wie in De Natura Deorum, die Dialogteilnehmer hochgestellte Persönlichkeiten aus der Führungsschicht des spätrepublikanischen Rom und gleichzeitig Kultfunktionäre sind: Cotta ist pontifex maximus, Marcus Tullius Cicero augur. Auch im vorliegenden Werk rechtfertigt Cicero seine philosophische Schriftstellerei mit der Bemerkung, der Zustand des Staates gestatte im 36 BARTON S. 34f.: der Zweck der römischen Divination habe gelegen im Äestablishing and maintaining of the pax deorum³ und sei also Bestandteil politischer Aktivität gewesen: Äexpiation over interpretation³. Ciceros De Divinatione sei der erste Beleg von Divination als Äprophecy³. 37 Diod. Sic. 2. 29 ȋĮȜįĮȠȚ IJȠȞȣȞ IJȞ ਕȡȤĮȚȠIJIJȦȞ ȞIJİȢ ǺĮȕȣȜȦȞȦȞ IJૌ ȝȞ įȚĮȡıİȚ IJોȢ ʌȠȜȚIJİĮȢʌĮȡĮʌȜȘıĮȞȤȠȣıȚIJȟȚȞIJȠȢțĮIJ¶ǹȖȣʌIJȠȞੂİȡİ૨ıȚȆȡઁȢȖȡIJૌșİȡĮʌİIJȞ șİȞ IJİIJĮȖȝȞȠȚ ʌȞIJĮ IJઁȞ IJȠ૨ ȗોȞ ȤȡંȞȠȞ ijȚȜȠıȠijȠ૨ıȚ ȝİȖıIJȘȞ įંȟĮȞ ȤȠȞIJİȢ ਥȞ ਕıIJȡȠȜȠȖĮ (...) ȆĮȡȝȞȖȡIJȠȢȋĮȜįĮȠȚȢਥțȖȞȠȣȢਲIJȠIJȦȞijȚȜȠıȠijĮʌĮȡĮįįȠIJĮȚ țĮʌĮȢʌĮȡʌĮIJȡઁȢįȚĮįȤİIJĮȚIJȞ ਙȜȜȦȞ ȜİȚIJȠȣȡȖȚȞ ʌĮıȞਕʌȠȜİȜȣȝȞȠȢ. Auf diesen Passus hat mich Frau Dr. FRATEANTONIO hingewiesen, wofür ihr an dieser Stelle gedankt sei. Vgl. BEARD ± NORTH ± PRICE 6 Ä$VWURORJ\ ZLWK LWV VSHFLDOL]HG IRUP RI UHOLJLRXV knowledge in the hands of a set of religious experts outside the priestly group of the city (...) constituted a separate (and perhaps rival) focus of religious power.³ 38 NORTH S. 65: Ä5RPDQSULHVWVZHUHQRWVHSDUDWHGIURPWKHUHVWRI5RPDQOLIH WKHLUDFWLYities were an integral part of the political process in Republican Rome; they themselves were not just priests, but also soldiers, politicians, administrators, lawyers; in other words, the élite shared all these activities among its members (...).³
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Moment keine sinnvolle politische Betätigung, womit er zugleich sein unpolitisches Tun rechtfertigt als auch umgekehrt die Autorität des ehemaligen Konsuls auch in diesem Sektor für sich reklamiert.39 Zweitens findet dieser fiktive Dialog privatim und unter vier Augen zwischen Brüdern statt, also nicht in der Öffentlichkeit und zwischen Gesprächsteilnehmern, zwischen denen neben der Zugehörigkeit zur Elite außerdem familiäre Bande bestehen ± die ideale Situation, in der auch brisante Thesen versuchsweise ausformuliert werden können, ohne Schaden ± für den Sprecher oder auch für das Publikum ± anrichten zu können. Die fiktive Situation ist also eine der Verständigung einzelner Mitglieder der Führungsschicht im nichtöffentlichen Raum und dient mithin der Selbstvergewisserung der Oberschicht im Medium gemeinsamen philosophischen Kommunizierens, also der intentionalen Distanzierung von dem, was ansonsten das Selbstbild der römischen Elite ausmacht, nämlich der öffentlichen Betätigung. Ganz anders nun bei Aulus Gellius. Bei ihm wohnen wir einer extemporierten sophistischen Darbietung seines Meisters Favorinus von Arles in Rom bei:40 Hier wird das Thema ± und zwar nicht die Divination überhaupt, sondern lediglich die genethlialogische, die chaldäische Astrologie ± öffentlich und monologisch abgehandelt, und Favorinus kommt zu völlig eindeutigen Schlüssen. Nicht aber Aulus Gellius. Er bekundet seine eigene Unsicherheit, ob Favorinus seine eigenen Ausführungen ernst genommen habe oder nicht:41 Exercendine aut ostentandi gratia ingenii, an quod ita serio iudicatoque existimaret, non habeo dicere. (Ob er das sagte), um seine geistigen Fähigkeiten zu trainieren oder demonstrieren, oder weil dies seiner ernsthaften und letztgültigen Ansicht entsprach, vermag ich nicht zu sagen.
Somit stellt er seinerseits wie Cicero die Kritik an der Astrologie in einen skeptischen Kontext, aber nun nicht in einer Situation der sozialen und kommunikativen Gleichrangigkeit, sondern lediglich als Zuhörer sozial niedrigeren, wenngleich nicht niederen, Ranges, der sein eigenes Sozialprestige ableitet aus der unmittelbaren Bekanntschaft mit bedeutenden Männern seiner Zeit (neben Favorinus von Arles wären etwa Fronto und Herodes Atticus zu nennen) und entsprechend das Prestige und den Anspruch seiner eigenen Schrift fundiert auf ihrer Eigenschaft als subsidiärer Literatur: abgeleitete Literatur zweiten Grades, Bildungsliteratur, 39 Cic. Div. 2. 6f. Ac mihi quidem explicandae philosophiae causam attulit casus gravis civitatis, cum in armis civilibus nec tueri meo more rem publicam nec nihil agere poteram nec, quid potius, quod quidem me dignum esset, agerem, reperiebam. (...) Quod cum accidisset nostrae rei publicae, tum pristinis orbati muneribus haec studia renovare coepimus, ut et animus molestiis hac potissimum re levaretur et prodessemus civibus nostris qua re sumque possemus. In libris enim sententiam dicebamus, contionabamur. Vgl. Barton S. 17 betont, grundsätzlich vielleicht zu stark simplifizierend, aber für die hier vorliegende Stelle instruktiv, den Äancient stress on the personal character of the speaker in view of the (...) fact that any argument is perceived and understood in some relation with the profounder.³ 40 MARACHE S. 118; BARIGAZZI S. 142. 41 Noctes Atticae 14. 1. 2.
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standesgemäße vergnügliche Ablenkung für die Stunden des otium, die dezidiert nicht an die Stelle der ÃOriginallektüreµ treten, sondern vielmehr das adäquate Lesen derselben vorführen und den Leser zum Griff zu den echten Autoren verleiten und veranlassen will; Werke, deren Wert neben dem der Unterhaltung des Lesers auch darin besteht, dass er Dinge mitzuteilen hat, die nicht jeder mitteilen kann; sei es, weil er nicht erlebt hat, was und vor allem wen Aulus Gellius zu erleben vergönnt war, sei es, weil ihm Literatur nicht zur Hand ist, die Aulus Gellius im Laufe seines Lebens zu konsultieren in der Lage war: In der Tat zitiert Aulus Gellius besonders gerne nichtkanonische Literatur, was ihn ja letztlich auch zu einer so ergiebigen Quelle für Fragmente verschollener Werke gemacht hat. Und so fügt er auch diesmal, und zwar explizit auf eigene Rechnung, noch einige Trouvaillen von Pacuvius und Accius hinzu:42 Praeter haec autem, quae dicentem Favorinum audivimus, multa enim memini poetarum veterum testimonia, quibus huiuscemodi ambages fallaciosae confutantur: Ex quibus est Pacuvianum illud: nam si quid eventura sunt provideant, aequiperent Iovi item Accianum illud nil inquit credo auguribus, qui aures verbis divitant alienas, suas ut auro locupletent domus. Außer den Äußerungen des Favorinus, wie wir sie selbst hören konnten, kamen mir noch etliche Zeugnisse der alten Dichter in den Sinn, mit denen sie solcherlei trügerische Fallsticke anprangern; dazu gehört folgendes Wort des Pacuvius: denn wenn sie vorhersehen könnten, was tatsächlich eintreffen wird, kämen sie den Göttern gleich und das des Accius: Nichts glaube ich den Auguren, die fremde Ohren mit bloßen Worten anreichern, um ihre eigenen Häuser mit Goldschätzen anzufüllen.
Es ist kaum ein Zufall, dass die beiden Zitate ausgerechnet auf zwei Aspekte abheben, die mit wissenschaftlicher Astrologiekritik nichts zu tun haben: nämlich die in einer Kenntnis der Zukunft inhärente angemaßte Gottgleichheit43 sowie die Fragwürdigkeit der Astrologie als Quelle des Gelderwerbs, die Verdächtigkeit des Professionals.44 Beides lässt sich als Warnung vor Fehlbeurteilungen des eigenen Sozialstatus, einmal nach oben, einmal nach unten, verstehen. Das zeigt, dass dieser Passus nicht nur oder sogar vielleicht weniger der Information des Lesers als vielmehr seiner oberschichtlichen Sozialisation dienen 42 Noctes Atticae 14. 1. 34. 43 Im Hintergrund schon angedeutet Cic. Div. 1. 1. Scientia futurarum magnifica quaedam res et salutaris si modo est ulla quaque proxime ad deorum vim natura mortalis possit accedere; deutlich Noctes Atticae 14. 1. 6 tolli enim quod maxime inter deos atque homines differt, si homines quoque res omnis post futuras praenoscerent. Weniger massiv, aber dafür witziger formuliert es ± nach dem Zeugnis Senecas des Älteren ± Arellius Fuscus: Tot circa unum caput tumultuantis deos! (Sen. Suas. 4) Dementsprechend kennzeichnen verschiedene Astrologen ± doch wohl, um genau diesem Vorwurf zu entgehen ± die Astrologie als Göttergeschenk (Vettius Valens 6. 1. 7, Manilius 1. 25±39). 44 So auch schon bei Cic. Div. 1. 92, wo gegen mercedes und quaestus polemisiert wird.
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soll. Dementsprechend unterstellt Aulus Gellius Favorinus die Intention, adulescentes vom Besuch der genethliaci abzuschrecken: die ad-hoc-Dissertatio als bewusst gewähltes Medium zur Sozialisation Heranwachsender, wie es in der zweiten Sophistik so typisch ist.45 Die Rolle des Aulus Gellius beschränkt sich also einerseits ± im Rahmen der erzählten Szene ± auf die des Zuhörers; andererseits ist er obendrein aber nicht nur Ergänzer, der eine eigene Lesefrucht, und zwar eine nicht ohne Subtilität ausgewählte, beisteuern kann, sondern auch die des Vermittlers, denn er übersetzt schließlich die Dissertatio des Favorinus ins Lateinische, und zwar mitnichten Ätrocken und nüchtern³, wie ein Vergleich des letzten angeführten Arguments mit seiner Ausformulierung bei Cicero lehrt.46 Doch noch mehr. Das Medium Buntschriftstellerei ist sein Ort, den Skeptizismus zu diesem Thema anzusiedeln. Der Dialog oder doch zumindest die Interaktion mit Favorinus kommt nicht in der berichteten Episode, sondern im commentarius selbst zustande. Hier, im Medium des Buches, aus der Haltung des Autors, nicht des Gesprächsteilnehmers heraus, kann sich Aulus Gellius zu seinem Meister gesellen, ihn zitieren, übersetzen, ergänzen, sogar in bescheidenem Maß problematisieren (nämlich die Ernsthaftigkeit der vertretenen Überzeugung anzweifeln). Das bedeutet: Die soziale und kommunikative Ungleichrangigkeit zu Favorinus, der sich ja immerhin zur Entourage Hadrians zählen durfte,47 wird durch Gellius¶ Abfassen von Buntschriftstellerei vielleicht nicht zur Gänze kompensiert, so doch abgemildert, und zwar durch die Eigenleistung der Übersetzung und der Hinzufügung nicht nur ornamentaler Zitate, denen neben den genannten ein weiteres Merkmal zukommt: Sie sind es nämlich, die wesentlich den Horizont von genethlialogischer Astrologie zu auch indigenen Wahrsagepraktiken ± nil credo auguribus ± weitern, also überhaupt einen Diskurs de divinatione generieren. Diese Lektüre des commentarius, die in Aulus Gellius nicht nur den kritiklosen Nachbeter gelungener Sophistenworte sieht, würde es, nebenbei bemerkt, auch nahelegen, die hier vorgestellte Dissertatio des Favorinus nicht unbesehen als zu-
45 Noctes Atticae 14. 1. 35 Idem Favorinus deterrere volens ac depellere adulescentes a genethliacis istis et quibusdam aliis id genus, qui prodigiosis artibus futura omnia dicturos pollicentur >«@ 46 Z. B. Cic. Div. 2. 98 Et, si ad rem pertinet, quo modo caelo adfesto compositisque sideribus quodque animal oriatur, valeat id necesse est non in hominibus solum, verum in bestiis etiam; quo quid potest dici absurdius? Noctes Atticae 14. 1. 31 Illud autem condonare se his dicebat, quod non id quoque requireret, si vitae mortisque hominum rerum humanarum omnium tempus et ratio et causa in caelo et apud stellas foret, quid de muscis aut vermiculis aut echinis, multis aliis minutissimis terra marique animantibus dicerent? An ista quoque isdem, quibus homines, legibus nascerentur isdemque itidem exstinguerentur? Ut aut ranunculis quoque et culicibus nascendi fata sint de caelestium siderum motibus adtributa aut, si id non putarent, nulla ratio videretur, cur ea siderum vis in hominibus valeret, deficeret in ceteris. Vgl. auch auch HOLFORD-STREVENS S. 76, diesHUÄGLVFODLPHU³ sei Äsubverted by the mode of its expression³. 47 Hist. Aug. Hadr. 16 In summa familiaritate Epictetum et Heliodorum philosophos et, ne nominatim de omnibus dicam, grammaticos, rhetores, musicos, geometras, pictores, astrologos habuit, prae ceteris, ut multi adserunt, eminente Favorino.
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fällig in der falschen Sprache auf uns gekommenes Fragment einzustufen, wie dies häufig geschieht.48 Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage nach einer eventuellen Abhängigkeit von Cicero. Die grundsätzlichen Entsprechungen sind bereits angesprochen worden: Betonung der genethlialogischen Astrologie, skeptische Grundhaltung des Textes, uneindeutige Grundhaltung des Sprechers und Einbettung der Erörterung in ein kommunikatives Szenario. Dass Aulus Gellius De Divinatione gekannt hat, ist nachweisbar: Es wird einmal direkt zitiert.49 Aber wörtliche Anklänge finden sich kaum, und sie sind meistenteils auf einzelne Vokabeln beschränkt und somit nicht sonderlich spezifisch.50 Der Umstand, dass sowohl Cicero als auch der gellianische Favorinus mit den gleichen beiden Argumenten in identischer Reihenfolge schließen, nämlich der Einzigartigkeit einzelner historischer Figuren, obwohl zahlreiche andere zum identischen Zeitpunkt geboren sein müssen, sowie der Absurdität, dass der Einfluss der Gestirne ja auch vor den Tieren nicht halt machen könnte, wird gemeinhin einer gemeinsamen Quelle zugeschrieben51 ± allerdings leitet Cicero die Überlegungen mit der Feststellung ein, die bisherigen Ausführungen verdankten sich Panaitios, nun aber ± ego autem ± stelle er seine eigenen Fragen.52 In diesem Zusammenhang ist nicht entscheidend, ob diese Selbstaussage Ciceros zutrifft ± wichtig ist nur, dass Aulus Gellius sie so hätte lesen und gegebenenfalls für bare Münze nehmen können. Doch kann Abhängigkeit ja nicht nur in Übernahmen bestehen, sondern auch in Abgrenzungen. Es sei die These gewagt, dass wir keine wörtlichen Übernahmen aus Ciceros Chaldäerpassage finden, weil Aulus Gellius sie gemieden hat. Ein Indiz dafür ist die Benennung der Planeten: Bei Cicero heißen sie errantes, bei Gellius errones oder erraticae (für den ersten Ausdruck wird der republikanische Astrologe und Freund Ciceros Nigidius Figulus als Gewährsmann gege48 Z. B. Bei LONG S. 173 und öfter; BARIGAZZI S. 142±148; er vermutet, Aulus Gellius habe die Rede in schriftlicher Form vorgelegen (es wird in der Tat öfter, und zwar vermutlich ganz zu Recht, angenommen, Aulus Gellius präsentiere Gelesenes als Gehörtes), nimmt den GelliusText dementsprechend als echtes Fragment und gibt ihm den Titel ȆȡઁȢ ȋĮȜįĮȠȣȢ. Das führt dann dazu, vor allem griechischsprachige Quellen anzunehmen (vor allem Panaitios und Karneades) und Gemeinsamkeiten mit Cicero auf gemeinsame Quellen zurückzuführen, so etwa MARACHE S. 209. 49 Noctes Atticae 4. 11. 3 Eadem item opinione in libro de divinatione primo haec verba posuit etc. Dass nur das erste, nicht aber das zweite, skeptische Buch zitiert werden, scheint mir (pace HOLFORD-STREVENS S. 213) keine zwingenden Rückschlüsse auf die Haltung des Aulus Gellius selbst nahezulegen. 50 varietas, mores & ingenium 51 BARIGAZZI S. 147, Pease S. 515, der mit dem Wechsel der Quelle die in der Tat befremdliche logische Dublette (einmal Scipio Africanus, einmal Homer als Beispiel für individuelle Einzigartigkeit) erklärt; Belege allerdings bei Hygin, Seneca und in spätantiker Literatur. 52 Cic. Div. 2. 97 Videsne me non ea dicere, quae Carneades, sed ea, quae princeps Stoicorum Panaetius dixerit? Ego autem etiam haec requiro: omnesque qui Cannensi pugna ceciderint, uno astro fuerint; exitus quidem unus et idem fuit. Quid? Qui ingenio atque animo singulares, num astro quoque unico? Quod enim tempus, quo non innumerabiles nascuntur? At certe similis nemo Homeri.
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ben).53 Hier fällt Aulus Gellius, wie mehrfach festgestellt worden ist,54 ohne dass aus dieser Beobachtung Konsequenzen gezogen worden wären, aus der Rolle des Übersetzers heraus, denn dass Favorinus von Arles in einer griechischen Dissertatio verschiedene lateinische Synonyme angefügt hat, ist eher unwahrscheinlich. Dieses Verlassen des reinen Reproduktionsmodus kann als bewusst gesetztes Signal an den Leser verstanden werden, Aulus Gellius als Autor eigenen Rechts wahrzunehmen, der an dieser Stelle erneut seine Vertrautheit mit entlegeneren Autoren und einem hochgradig reflektierten Umgang mit dem Vokabular der lateinischen Sprache unterstreicht. Da Aulus Gellius auch sonst eine gewisse Obsession für die Frage, welcher Autor sich welchen Wortes bedient hat, sozusagen eine țİȚIJȠȣțİȚIJܝĮ, nicht abzustreiten ist, darf wohl die Vermutung gewagt werden, dass er absichtlich das einzige Wort für ÄPlanet³, das an der entsprechenden Ciceropassage und auch sonst verwendet wird, gerade nicht anführt, also bewusst vermeidet, und umgekehrt für Planet nur solche Bezeichnungen verwendet, die nicht bei Cicero belegt sind:55 Auch das würde dafür sprechen, dass Ciceros Ausführungen im Hintergrund standen, aber nicht als Modell für eine Imitation, sondern als Folie für die Entfaltung gellianischer Originalität. Dies macht, wie man argumentieren kann, den gellianischen Favorinus zu einem zweiten Cicero unter veränderten historischen Bedingungen, und Aulus Gellius als seinem Interaktionspartner zu seinem kleinen Bruder ± was, nebenbei bemerkt, die bereits antike Frage, ob Favorinus eher als Philosoph (wie in der Regel bei Aulus Gellius56) oder als Sophist einzustufen sei,57 auflöst. Wie Cicero sowohl Redner als auch Philosoph war, so auch der gelliani-sche Favorinus, der Cicero junior. Doch auch wenn man nicht bereit ist, diese durchaus spekulative Schlussfolgerung zu teilen, ergibt sich aus der Abgrenzung zu Cicero gleichwohl eine Modernisierungsintention: eine Transformation der Chaldäerkritik in das Ambiente der kaiserzeitlichen Bildungskultur.
53 Noctes Atticae 14. 1 11 Praeterea mirabatur id cuiquam pro percepto liquere stellas istas, quas a Chaldaeis et Babyloniis sive Aegyptiis observatas ferunt, quas multi Ãerraticasµ, Nigidius Ãerronesµ vocat, non esse plures quam volgo dicerentur; vgl. Cic. Nat De. 2. 59 Maxime vero sunt admirabiles motus earum quinque stellarum quae falso vocantur errantes; Cic. Rep. 1. 22 hoc autem sphaerae genus in quo solis et lunae motus inessent et earum quinque stellarum quae errantes et quasi vagae nominarentur; Cic. Div. 2. 89 vim quandam esse aiunt signifero in orbe qui Graece dicitur talem ut eius orbis una quaeque pars alia alio modo moveat immutetque caelum perinde ut quaeque stellae in his finitumisque partibus sint quoque tempore eamque vim varie moveri ab iis sideribus quae vocentur errantia etc. 54 MARACHE S. 120 FN 3; BARIGAZZI S. 147. 55 Erraticus ist bei Cicero belegt, aber in gänzlich anderem Kontext: Cato Maior 52 quam serpentem multiplici lapsu et erratico ferro amputans >«@ 56 Z . B. NA 1. 3. 27, 1. 10. 1, 2. 26. 1, 20. 1. 2 und passim; so auch LAKMANN S. 242. 57 Philostrat, Vitae Sophistarum 1. 8 kombiniert ebenfalls beide Einordnungen: Favorinus gehöre zu den ijȚȜȠıȠijıĮȞIJİȢਥȞįંȟૉIJȠ૨ıȠijȚıIJİ૨ıĮȚ
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4. HISTORISCHE PROMINENZ DER ASTROLOGIE Es bleibt die Frage, wieso ausgerechnet die Chaldäer und ihre Astrologie und nicht, beispielsweise, das von Cicero gleichfalls mit ätzender Kritik bedachte Tripudium, als Aktualisierungsangebot wahrgenommen werden. Warum greift Aulus Gellius ausgerechnet die Astrologie heraus? Zum einen kommen hier historische Gründe in Frage. Seit der Zeit Ciceros hatte die Astrologie einen gewaltigen Aufschwung genommen; die Quellen fließen reichlich. Dabei war die genethlialogische Astrologie zwar in der alltäglichen Praxis nicht die bedeutendste, aber zugleich in der Kaiserzeit die politisch brisanteste ± Principes nutzen ihre Geburtshoroskope als Vehikel der Selbstlegitimation, allen voran Augustus mit seinen Münzprägungen,58 und wir verfügen über zahlreiche Nachrichten, vor allem aus Sueton und der Historia Augusta, über Geburtshoroskope, die zunächst eher unwahrscheinlichen Prätendenten den Kaiserthron voraussagten und (natürlich) Recht behielten. Wenn wir nicht annehmen wollen, diese Nachrichten entsprächen den Tatsachen, kann das nur bedeuten, dass es bewährte Praxis war, Horoskope als vaticinationes ex eventu zum Zwecke der Herrschaftslegitimation anfertigen und publizieren, zumindest aber durchsickern zu lassen.59 Andererseits stand es unter schwerer Strafe, Geburtshoroskope anfertigen zu lassen oder gar solche des Princeps selbst zum Zwecke der Ermittlung des Todeszeitpunkts erstellen zu lassen: Tacitus berichtet von verschiedenen Verschwörungsprozessen, in denen den Angeklagten Erstellung von Kaiserhoroskopen vorgeworfen wurde ± allerdings nur als eines unter mehreren Delikten.60 Das Beharren auf der exklusiven Verfügungsmacht des Princeps über sein eigenes Horoskop61 verweist gleichfalls auf seine hochgradige Funktionalität als Machtrechtfertigung und kann auch illustrieren, wie es kommen konnte, dass einerseits immer wieder Astrologenvertreibungen stattfanden, Kaiser sich aber andererseits Hofastrologen hielten:62 Tiberius etwa hatte einen Sterndeuter namens Thrasyllus
58 Vgl. zu diesem Komplex auch BAKHOUCHE S. 176±181 und LIEBESCHUETZ S. 121±123. 59 Gerade eine teleologisch-fatalistische Sichtweise ist ja besonders gut geeignet, reale Machtverhältnisse auf dem Wege der Änormativen Kraft des Faktischen³ zu zementieren. 60 Z. B. zur Verfolgung des P. Anteius Rufus und M. Ostorius Scapula durch L. Antistius Sosianus und der Rolle, die der Astrologe Pammenes dabei spielt RUDICH S. 144±147; LIEBESCHUETZ S. 123: Äastrology came to be linked with conspiracy.³ 61 FÖGEN S. 106: ÄZukunftswissen erscheint als begehrtes und gefährliches Gut [...], über dessen Verfügbarkeit der Kaiser eifersüchtig wacht.³ Vgl. auch FÖGEN S. 279, wo die Mahnung des Firmicus Maternus referiert wird, Kunden Auskünfte über den Kaiser zu geben. Bereits Bouché-Leclerq sieht als Motiv für kaiserliches Einschreiten gegen die Astrologie weniger einen Äzèle religieux³ am Wer als ÄSHXUGHSUpYLVLRQVjO¶XVDJHGHVDPELWLHX[³ (S. 567). Vgl. ferner Kaiser wie etwa Domitian oder Caracalla, die sich über die Geburtshoroskope eventueller Thronaspiranten informierten und dann prophylaktisch für deren Tod sorgten (BOUCHÉLECLERQ S. 556). Umgekehrt ließen auch Vespasian und Titus senatorische Geburtshoroskope untersuchen, ließen dann aber ostentativ Gnade walten (BARTON S. 54). 62 Zur Rolle der Astrologie im Rahmen der Ausbildung der Principes vgl. BAKHOUCHE S. 167± 171.
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bei sich, dem dank kaiserlicher Förderung eine sensationelle Karriere gelang,63 was Tiberius aber nicht daran hinderte, seinerseits eine Astrologenvertreibung ins Werk zu setzen.64 In der Beschreibung der näheren Umgebung Hadrians aus der Historia Augusta figurieren neben Favorinus auch Astrologen, ja, es hat fast den Anschein, als zähle der Verfasser Favorinus zu diesen hinzu, ein Problem, das sich z. B. in der Übersetzung von Ernst HOHL ± sicherlich aufgrund des Umstandes, dass sonstige Quellen nichts von einer Astrologentätigkeit des Favorinus wissen ± nicht niederschlägt.65 Gerade in der Zeit Marc Aurels nun feiert die Astrologie einerseits Triumphe; Vettius Valens verfasst seine Anthologie, Claudius Ptolemaios publiziert mit dem Tetrabiblos ein umfassendes astrologisches Handbuch, und der Theurg Julianos der Jüngere Ãediertµ chaldäische Orakel; er wird später mit dem berühmten ÃRegenwunder im Quadenlandµ in Verbindung gebracht.66 Andererseits ist, im Unterschied zu anderen Kaisern auch des zweiten und dritten Jahrhunderts, von einer Vorliebe Marc Aurels für Astrologen nichts bekannt außer einem Bericht zweifelhafter Glaubwürdigkeit über eine Anfrage bei Chaldäern, wie der Unfruchtbarkeit seiner Frau zu begegnen sei; die vorgeschlagene und mit Erfolg durchgeführte reichlich abstoßende Maßnahme weist auch eher auf magisch angehauchte Medizin und hat zumindest mit genethlialogischer Astrologie oder Herrschaftslegitimation nicht das Geringste zu tun.67 Auch in der Auflistung Frederic CRAMERS über kaiserzeitliche Münzprägungen mit Tierkreiszeichenmotiven68 klafft bei Marc Aurel eine Lücke, und es ist eine Astrologenvertreibung überliefert, die möglicherweise auf Marc Aurel zurückgeht.69 Andererseits gibt die verschiedentlich als Zeugnis für eine dezidiert astrologiekritische Haltung des Princeps angeführte Stelle aus den Meditationes70 bei genauerer Betrachtung nichts dergleichen her.71 Kurz: Unter historischen Umständen wie den 63 MACMULLAN S. 140, NORTH S. 70. 64 BARTON S. 37: Äthe keeping of a personal diviner³ sei ein Äsign of appropiation of power³ gewesen; auch Sulla hatte einen eigenen Wahrsager bei sich. Vgl. auch NORTH S. 70, FÖGEN S. 105f., LIEBESCHUETZ S. 121±126. 65 Hist. Aug. Hadr. 16 In summa familiaritate Epictetum et Heliodorum philosophos et, ne nominatim de omnibus dicam, grammaticos, rhetores, musicos, geometras, pictores, astrologos habuit, prae ceteris, ut multi adserunt, eminente Favorino. (Übersetzung E. HOHL, Zürich ± München 1976 S. 46: ÄGanz ungezwungen war sein vertrauter Umgang mit den Philosophen Epiktet und Heliodor und, um nicht alle namentlich aufzuzählen, mit Philologen, Redelehrern, Tonkünstlern, Mathematikern, Malern und Sternkundigen, wobei Favorinus, wie viele versichern, vor den anderen begünstigt wurde.³) 66 FOWDEN; MOTSCHMANN S. 125±144. 67 Hist. Aug. M. Ant. 19 Quod cum ad Chaldaeos Marcus rettulisset, illorum fuisse consilium, ut occiso gladiatore sanguine illius sese Faustina sublavaret atque ita cum viro concumberet. Dazu Motschmann S. 138 FN 419. Chaldäer als Wunderheiler ohne jeden Bezug zur Astrologie vgl. auch Lukian, Philopseud. 11. 68 CRAMER S. 181f. 69 MACMULLAN S. 130±133 (unter Berufung auf Dig. 48. 19. 30); MOTSCHMANN S. 144±160. 70 DIHLE S. 96; GUNDEL 1950 Sp. 821; BARTON S. 51. 71 Marc Aurel, Meditationes 2. 13 ȅįȞਕșȜȚઆIJİȡȠȞIJȠ૨ʌȞIJĮțțȜਥțʌİȡȚİȡȤȠȝȞȠȣțĮIJ ȞȡșİȞ Ȗ઼Ȣ ਥȡİȣȞȞIJȠȢ țĮ IJ ਥȞ IJĮȢ ȥȣȤĮȢ IJȞ ʌȜȘıȠȞ įȚ IJİțȝȡıİȦȢ ȗȘIJȠ૨ȞIJȠȢ ȝ
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genannten mochte einer Person wie Aulus Gellius eine Abgrenzung gegen die oder wenigstens eine neuerliche Problematisierung der Astrologie aus mehreren Gründen zweckdienlich erscheinen: einerseits möglicherweise als indirekte Loyalitätsbekundung gegenüber einem Princeps, der, so viel lässt sich wohl zumindest sagen, im Vergleich zu etlichen Vorgängern Astrologen weniger favorisierte; andererseits mit Rücksicht auf sein Zielpublikum, unter dem wir uns soziale Aufsteiger vorstellen können, die sich ihren Weg in die Bildungselite erst bahnen mussten. Dass auch die Sternenkunde, um ein neutrales Wort zu verwenden, zum Bildungskanon zählte,72 lässt sich an der Aufnahme in Varros Disciplinae zeigen,73 an der normativen Feststellung Quintilians, man könne solcher Kenntnisse für die Dichterlektüre nicht entraten74 ± und im Zerrbild von Petrons Satyrica; dort scheitert der neureiche Trimalchio verschiedentlich an fehlgeschlagener Bildungsostentation, und er führt nicht nur angeblich korinthische Gefäße vor, sondern auch einen aus Speisen gebildeten Tierkreis, den er mit allerlei abstrusen Aussagen über den Zusammenhang von Tierkreiszeichen und Charakter präsentiert.75 Zweitens ist es eine immer wieder anzutreffende Tendenz des Aulus Gellius, Bescheidenheit und Zurückhaltung, vor allem aber eine zutreffende Selbsteinordnung in der sozialen Hierarchie ± nämlich als Vermeidung von Statususurpationen ± in durchaus auch präskriptiver Intention zu inszenieren; somit wäre die hier dem Leser nahegelegte Distanzierung von genethlialogischer Astrologie wiederum als Mahnung an den Leser zu verstehen, ein Wissensmonopol zu respektieren: Deshalb kann Aulus Gellius sagen, er wisse selbst nicht, ob Favorinus seine eigenen Aussagen ernst gemeint habe ± Favorinus, dessen mehr als nur gehobene soziale Stellung schon mehrfach deutlich geworden ist, wäre es gewissermaßen gestattet, die genethlialogische Astrologie auch ernst zu nehmen. Quod licet Favorino, non licet lectori. Eine besondere Pointe wäre darin noch enthalten, wenn wir sicher sein könnten, dass die Nachricht aus der Historia Augusta tatsächlich auf Favorinus als Astrologen weist; doch ist es müßig, darüber zu spekulieren.
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ĮੁıșĮȞȠȝȞȠȣ į IJȚ ਕȡțİ ʌȡઁȢ ȝંȞ IJ ȞįȠȞ ਦĮȣIJȠ૨ įĮȝȠȞȚ İੇȞĮȚ țĮ IJȠ૨IJȠȞ ȖȞȘıȦȢ șİȡĮʌİİȚȞ >«@ CRAMER S. 84 CARDAUNS S. 77 Quint. Inst. 1. 4. 4 nec poetas legisse satis est: excutiendum omne scriptorum genus non propter historias modo, sed verbam quae frequenter ius ab auctoribus sumunt. Tum neque citra musicen grammatice potest esse perfecta, cum ei de metris rhythmisque dicendum sit, nec si rationem siderum ignoret, poetas intellegat, qui, ut alia omittan, totiens ortu occasuque signorum in declarandis temporibus utuntur etc. Petr. Sat. 39. /DXGDPXVXUEDQLWDWHPPDWKHPDWLFLÃVRSKRVµ universi clamamus etc. Für AstURORJLH DOV %LOGXQJVJXW YHUJO DXHUGHP /XNLDQ 'H DVWURORJLD Ã į ȝȠȚ ȜંȖȠȢ Ƞț ਫ਼ʌȠșȘȝȠıȞȘȞȤİȚȠįįȚįĮıțĮȜȘȞਥʌĮȖȖȜȜİIJĮȚ ਕȜȜȝȝijȠȝĮȚțંıȠȚıȠijȠਥંȞIJİȢ IJ ȝȞ ਙȜȜĮ ਥʌĮıțȠȣıȚ țĮ ʌĮȚı IJȠȢ ਦȦȣIJȞ ਕʌȘȖȠȞIJĮȚ ȝȠȞȘȞ į ਕıIJȡȠȜȠȖȘȞ ȠIJİ IJȚȝȠȣıȚȞ ȠIJİ ਕʌĮıțȠȣıȚȞ. (Ob es sich um eine pseudolukianische Abhandlung handelt oder vielmehr eine in Wahrheit astrologiekritische Parodie, ist in diesem Kontext unerheblich; wichtig ist vielmehr, dass Astrologie im Kontext der Frage ÄWas muss man wissen?³ verhandelt wird.)
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5. AUSBLICK Drittens und letztens wird, wie diskret auch immer, eine antiprofessionelle Haltung propagiert: Astrologen sind Profis, Spezialisten; sie verdienen ihr Geld mit der Astrologie76 bei privater, oft nicht eben solventer Kundschaft und müssen stets mit gesetzlichen Maßnahmen gegen ihren Berufsstand rechnen ± im schlechtesten Fall ± oder sie leben, zumindest die mit allen Wassern Babylons gewaschenen Genethlialogen, im Lichte der Öffentlichkeit in und von kaiserlicher Protektion. Etwas als Metier zum Zwecke der Erzielung eines Einkommens zu betreiben, gilt ja in der Antike überhaupt als tendenziell anstößig,77 und in den Augen Senecas ist es verdächtig, dass die studia liberalia ihren Mann gegebenenfalls auch ernähren können.78 Beides entspricht nicht dem gellianischen Idealbild des gebildeten Gentleman, des allseitig interessierten Dilettanten im freundlichsten Sinne des Wortes, des Aufwärtsmobilen, der weiß, wann und in wessen Gegenwart er sich besser auf die Rolle des verständigen Zuhörers beschränken sollte, wie es in den Noctes Atticae gezeigt und für das unaufdringliche geworben wird. Wenig später sollte Sextus Empiricus zum Generalangriff gegen sämtliche professionellen Gelehrten ± die ȝĮșȘȝĮIJȚțȠ ± blasen.79 Die genethlialogische Astrologie ± die nur noch vage dem religiösen Diskurs zugeordnet wird ± dient Aulus Gellius in ihrer Eigenschaft als Professionellendisziplin und Kaisermonopol als Hintergrund, um darauf exemplarisch die sozial adäquate Haltung des belesenen gentil¶uomo zu inszenieren, und das in nicht konkurrierender, nicht imitierender, wohl aber aktualisierender und modernisierender Auseinandersetzung mit Cicero, dem Aulus Gellius mit profundem Respekt, aber gleichzeitig mit unbefangenem und gleichsam fröhlichem Epigonalitätsbewusstsein gegenübertritt. Von kritiklosem Anbeten des Alten, von unbelehrbar rückwärtsgewandter Nostalgie, von umfassendem Mangel an Originalität und Kritikfähigkeit ± das alles ist Aulus Gellius vorgeworfen worden ± kann also nicht die Rede sein.
76 Genau das wird z. B. bei Valerius Maximus 1. 1. 3 als Motiv für die erste bezeugte Astrologenvertreibung (139 v. Chr.) namhaft gemacht (DICKIE S. 155); BEARD ± NORTH ± PRICE sehen hingegen eher eine Restauration einheimischer Praxis (S. 113). 77 Jedenfalls in unseren literarischen Quellen, die ja umgekehrt meist den oberschichtlichen Diskurs spiegeln. 78 Sen. Ep. Mor. 88. 1 De liberalibus studiis quid sentiam scire desideras: nullum suspicio, nullum in bonis numero, quod ad aes exit. Meritoria artificia sunt, hactenus utilia, si praeparant ingenium, non detinent. 79 MACMULLAN S. 109: ÄA figure like Sextus Empiricus (...) administered the intellectual coup de grâce to the world of reason.³
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RELIGION AUF REISEN: ZWISCHEN ANTIQUARISCHER LUST UND SOPHISTISCHER SELBSTINSZENIERUNG Helmut Krasser 1. EINLEITUNG Im Jahr 84, als Kallistratos für die Durchführung der Pythischen Spiele zuständig war, treffen sich, so will es Plutarchs Dialoginszenierung, am Vorabend der Spiele sieben Männer in Delphi, um in einem Gespräch die Ursachen für den Verfall der Orakel zu erörtern.1 Unter den Anwesenden befinden sich zwei weit gereiste Gäste: der Grammatiker Demetrios, der sich, von Britannien kommend, auf dem Heimweg nach Tarsos befindet, und Kleombrotos von Sparta, ein Reisender aus Passion, der mehrfach Ägypten besucht, das Land der Troglodyten bereist und zu Schiff bis über den Persischen Golf hinaus gelangt war. Diese Reisen galten aber keineswegs Geschäften, sondern sollten in erster Linie Schaulust und Wissensdurst des Reisenden befriedigen, wobei sich letzterer vor allem auf religiöse Gegenstände richtete. Erklärtes Ziel des Kleombrotos ist es nämlich, auf der Basis der von ihm im Zusammenhang mit seinen Reisen gemachten Erfahrungen und Aufzeichnungen eine Theologie, d.h. eine Darstellung der von ihm besuchten und erkundeten Kulte zu verfassen. Hier finden sich zwei für die im vorliegenden Beitrag verfolgte Fragestellung ganz wesentliche Aspekte der kaiserzeitlichen Gesellschaft: Zum einen spiegelt sich in den Figuren Demetrios und Kleombrotos die nicht unerhebliche Mobilität der kaiserzeitlichen Gesellschaft,2 in der Reisen für unterschiedliche Gruppen eine durchaus gängige Praxis darstellen. Zum anderen greifen wir sowohl in der Lebensorientierung des Kleombrotos als auch in dem von Plutarch gewählten Gesprächsthema selbst die Beschäftigung mit religiösen Gegenständen und Kulten als ein prominentes Thema der zeitgenössischen Bildungs- und Wissensgesellschaft.3 1 2
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Plut., de def. orac. (mor. 410A±B). Vgl. die Gesprächseröffnung in Plutarch, de E apud Delphos (mor. 385B) und in de Pythiae oraculis (mor. 394E±402C). Zu mirabilen Reisezielen in der Ferne Prop. 3,21 und 3,22; Plin. epist. 8,20,1±3. Zu den sophistischen Wanderrednern des 2. Jahrhunderts ± repräsentativ die Starrredner Aelius Aristides und Apuleius ± HAHN 1989, 165±171; KORENJAK 2000, SCHMITZ 1997. Vgl. auch Plin. epist. 1,10. Siehe mor. 953D (Favorinus in Delphi); Gell. 12,5 (Reise einer römischen Gesellschaft zu den pythischen Spielen) und BOUVIER 1985. Zur Präsenz der pepaideumenoi in Heiligtümern GALLI 2001, zur Konstruktion einer Äreligiösen Identität³ GALLI 2004. Zur gelehrten Diskussion von Kultaitien und Festtraditionen vor Ort Plut. quaest. conv. 5,2; 2,4 und 2,5 (im Rahmen der Pythien); 5,3 und 8,4 (Isthmien). Erinnert sei auch an die kaiserzeitlichen Biblio-
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Die kultur- und religionsgeschichtliche Forschung zur Kaiserzeit hat in jüngerer Zeit vor allem die Relevanz lokaler Sinnstiftungskonzepte und kultureller Zusammenhänge für kaiserzeitliche Eliten in den Vordergrund gestellt. Die Bedeutung der Vaterstadt und der mit ihr verbundenen Kulte und Traditionen für die an die jeweilige Polis gebundene Kommunikations- und Erinnerungsgemeinschaft ist Leitmotiv für eine ganze Reihe wichtiger Publikationen und Sammelbände der letzten Jahre.4 Ich möchte hier nun keineswegs das Rad der Forschung in eine andere Richtung drehen, aber doch der Frage nachgehen, in welcher Weise religiöses Wissen durchaus spezieller und teilweise höchst lokal gebundener Natur auch für Angehörige anderer Traditionsgemeinschaften von Interesse war, durch welche Gruppen und in welchen Zusammenhängen Wissen um Spezifika von primär lokaler Relevanz rezipiert wurden und welche Funktionen der Erwerb und Besitz solch translokaler Wissensbestände erfüllte. Oder anders gefragt: In welcher Weise sind Kenntnisse und Informationen, die zunächst auf die Sicherung kultureller Identität in lokalen Bezugszusammenhängen zielen, in einem translokalen Horizont von Relevanz, und in welcher Weise leisten sie hier einen Beitrag zur Identitätsstiftung?5 Im Zentrum meiner Überlegungen sollen im Folgenden drei ausgewählte Texte stehen, in denen in unterschiedlicher Weise religiöse Interessen mit dem Motiv Reise verbunden und funktionale Perspektiven und Interessenshorizonte sichtbar werden. Wie die periegetische Literatur lehrt, die wir noch im Werk des Pausanias greifen können,6 sind bereits lange vor christlichen Pilgerfahrten sakrale Orte, sakrale Architektur und sakrale Riten eine wichtige Motivation für Reisen. Ich ziele dabei allerdings nicht auf primär durch kultische und festliche Aktivitäten motivierte Reisen, die natürlich seit jeher fester Bestandteil der religiösen Praxis darstellten,7 sondern auf Reisen, die gleichsam aus einem abgeleiteten Interesse unternommen werden ± einem Interesse, das ich vorläufig (und ich lege Wert auf diese Feststellung) als touristisches Interesse bezeichnen möchte. Reisen, die religiöse Sachverhalte im Horizont spektakulärer, mirakulöser oder ganz allgemein interessanter Gegenstände thematisieren, sind spätestens seit dem 3. Jh. v. Chr. fester Bestandteil der kulturellen Praxis.8 Exemplarisch möchte ich hier eine
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theksgründungen im Kontext von Kultanlagen, z.B. die Tiburtinische Bibliothek des Hercules Victor (Gellius 19,5,4) sowie die Bibliotheken in Delphi (SIG³ 823 B), im Asklepieion von Pergamon (GALLI 2001, 49) und Epidauros (IG 4.1²,456): BLANCK 1992, 171. Exemplarisch SCHMITZ 1997, 181±196; VAN NIJV 2001; STEPHAN 2002, 22±24 und 208±222; BORG 2004. Die Überlegenheit des universal Gebildeten gegenüber dem Wissen der lokalen Reiseführer und Exegeten inszeniert vielfach Pausanias, etwa 7,23,8 (Diskussion mit einem Phöniker im Asklepiosheiligtum von Aigion); 8,42,11±13 (Kommentar zum Demeterbild in Phigalia); 10,32,18 (kultgeschichtlicher Exkurs im Iseum von Tithorea). Zu neueren Ansätzen der Pausaniasforschung exemplarisch ELSNER 1992; ALCOCK 1996 und 2002; BOWIE 1996; ARAFAT 1996; ALCOCK/CHERRY/ELSNER 2001; FRATEANTONIO 2007. KRUG 1985, 120±187; DILLON 1997, GIEBEL 2000, 113±128. Zusammenfassend CASSON 1978, 128±149; GIEBEL 2000, 93±112. Erinnert sei an den Reiseführer zu den sieben Weltwundern von Philon von Byzanz (um 200 v. Chr.) und den Welt-
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höchst instruktive Passage aus dem pseudovergilischen Lehrgedicht Aetna zitieren, in dem der Autor potentielle Motivationen für touristisch orientierte Fernreisen nennt, um sie dann gemäß des stoischen Programms seines Gedichtes, 9 in dessen Mittelpunkt die Naturgewalt des sizilischen Vulkans steht, mit der eigentlichen und im Sinne des Autors legitimen, auf die Wunder der Natur gerichteten belehrenden Schaulust zu kontrastieren (569±603): magnificas laudes operosaque uisere templa diuitiis hominum aut sacras memorare uetustas, traducti maria et terras per proxima fatis currimus atque auidi ueteris mendacia famae eruimus cunctasque libet percurrere gentes. nunc iuuat Ogygiis circumdata moenia Thebis cernere, quae fratres, ille impiger, ille canorus, inuitata piis nunc carmine saxa lyraque condere, felicesque alieno intersumus aeuo. nunc gemina ex uno fumantia sacra uapore miramur septemque duces raptumque profundi. detinet Eurotas illic et Sparta Lycurgi et sacer in bellum numerus, sua turba regenti. nunc hic Cecropiae uariis spectantur Athenae carminibus gaudensque solum uictrice Minerua. excidit huc reduci quondam tibi, perfide Theseu, candida sollicito praemittere uela parenti; tu quoque Athenarum carmen, iam nobile sidus, Erigone; sedes uestra est Philomela canoris euocat in siluis, at tu, soror, hospita tectis acciperis; solis Tereus ferus exulat agris. miramur Troiae cineres et flebile uictis Pergamon extinctosque suo Phrygas Hectore; paruum conspicimus magni tumulum ducis; hic et Achilles impiger et uictus magni iacet Hectoris ultor. quin etiam Graiae fixos tenuere tabellae signaue: nunc Paphiae rorantes matre capilli, sub truce nunc parui ludentes Colchide nati, nunc tristes circa subiectae altaria ceruae uelatusque pater, nunc gloria uiua Myronis et iam mille manus operum turbaeque morantur. haec uisenda putas terrae dubiusque marisque? artificis naturae ingens opus aspice, nulla cum tanta humanis phoebus spectacula cernes praecipueque uigil feruens ubi Sirius ardet. Großartige Ruhmeswerke zu schauen und Tempel, kunstvolle Schaustücke menschlichen Reichtums oder wegen alten Cultes nennenswert, ziehen wir über Land und Meer und eilen am Rand des Verderbens einher; gierig durchstöbern wir die Lügen alter Sage, und es behagt uns alle Lande zu durchstreifen. Jetzt haben wir unsere Freude an der Besichtigung der Mauer, die das Ogygische Theben umgiebt, sie, welche die Brüder, jener rastlose, jener liederrei-
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wunderkatalog im Epigramm des Antipatros Anth. Pal. 9,58 (2. Jh. v. Chr.): hierzu BRODERSEN 1996, 9±20. Zum Motiv des Reisens in der frühen Stoa MONTIGLIO 2005, 204±220.
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che gründeten, im Geiste mitzugründen, und selig wohnen wir in einem fremden Zeitalter. Jetzt bewundern wir die Felsen, die die frommen Brüder mit Lied und Leier lockten, jetzt die beiden Opfer, die sich aus einer Dampfsäule spaltend aufsteigen, und die sieben Führer und den in die Tiefe gerissenen. Dort fesselt uns der Eurotas und das Sparta Lycurgs und die für den Krieg geweihte Zahl, deine Heldenschar, ± die Dreihundert. Bald besichtigt man hier wegen mannigfaltiger Lieder das Cecropische Athen, das sich der im Kampfe um den Boden siegreichen Herrin, Minervas, erfreut. Hier also entfiel es dir einst bei der Rückkehr, treuloser Theseus, dem besorgten Vater mit weissen Segeln den Gruss vorauszusenden. Auch du bist ein Sang von Athen geworden, Erigone, nunmehr ein berühmtes Sternbild. Auch eure Heimstätte ist es: Philomele lockt in den wiederhallenden Wäldern, und du Schwester, die du zu Gaste kommst, findest Aufnahme unter dem Dache, indes der wilde Tereus verbannt auf den einsamen Gefilden streift. Wir bewundern Trojas Asche, Pergamon, beweinenswert in den Augen der Besiegten, und die mit ihrem Hector zugleich vernichteten Phryger. Wir schauen den Meinen Grabhügel des großen Führers: hier liegt der rastlose Achill und der Rächer des großen Hector besiegt. ± Sogar griechische Bilder und Statuen haben die Besucher wie gebannt festgehalten: jetzt fesselt uns das Haar der Göttin von Paphos, das durch die Kunst des Malers trieft, jetzt die kleinen Kinder, die unter den Augen der wilden Colcherin spielen, jetzt die um den Altar, über dem die Hirschkuh schwebt, versammelte Schar trauriger Männer und der verhüllte Vater, jetzt Myrons Ruhmesstück, das belebte, und nun tausend Künstlerhände und Massen von Kunstwerken. Dies hältst du für sehenswert und setzt dich darum Gefahren zu Wasser und zu Lande aus: schau doch auf das gewaltige Werk der Künstlerin Natur, da du unter den menschlichen Dingen keine so gewaltigen Schauspiele erblicken kannst, und zwar besonders achtsam, wenn der heiße Hundsstern glüht.10
In diesem Text wird das Interesse an sakraler Architektur und an Besonderheiten von Kulten in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Interesse für historische und mythologische Erinnerungsorte sowie einem explizit ästhetischen Interesse an Kunstwerken und deren Gestaltungsqualität gebracht. Religion wird hier als nur ein Feld und Teilbereich jener Attraktionen verstanden, die der besonderen Aufmerksamkeit des kultivierten Reisenden würdig sind. Die hier gleichsam exemplarisch vorgenommene Positionierung religiöser Sehenswürdigkeiten innerhalb des Gesamtbestandes der kulturellen Tradition wird uns im Zusammenhang mit einem der von mir im Folgenden behandelten Fallbeispiele noch in extenso beschäftigen. Anhand dreier ganz unterschiedlicher Fallbeispiele möchte ich im Folgenden ausleuchten, in welcher Weise religiöses Wissen dieser Art auf das für die Selbstwahrnehmung kaiserzeitlicher Gesellschaft prioritär relevante Feld paideia bezogen ist, zugleich aber auch herausarbeiten in welch unterschiedlichen Funktionszusammenhängen religiöses Wissen innerhalb dieses Feldes aufgerufen und instrumentalisiert werden kann. Vier Aspekte sind hier von besonderer Relevanz. 1. Religion stellt einen festen Bestandteil der gängigen kulturellen Praxis dar. 2. Religion und religiöse kultische Praxis weisen durch ihre Traditionsgebundenheit einen spezifischen Vergangenheitsbezug auf. Die Bandbreite reicht hier über aitiologische Mythen, Bauten und Skulpturen bis hin zu sprachlichen Besonderheiten kultischer Terminologie.
10 Übersetzung: SUDHAUS 1898.
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3. Religion und kultische Praxis sind wesentliche Bestandteile lokaler Identitätsbildung. Auch hier ist der Bezug zur Vergangenheit einer bestimmten Polis und ihren kulturellen Traditionen von zentraler Bedeutung. 4. Religion stellt in der römischen Kaiserzeit gerade auch in einem translokalen auf die kulturellen Traditionen des Imperiums insgesamt gerichteten Zusammenhang einen wichtigen Bestandteil des Wissens des Pepaideumenos dar. Es ist gerade Kennzeichen eines Gebildeten unterschiedliche und lokal divergierende religiöse Traditionen zu kennen, sie aufzurufen und zu bewerten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Religion Schnittpunkt und Projektionsfläche unterschiedlicher kultureller Felder darstellt, in denen Wissen um kultische Praktiken und Phänomene ebenso relevant ist wie die Kenntnis mythologischer Traditionen, ästhetische Expertise und antiquarische Kennerschaft. Entsprechend nimmt das Diskursfeld Religion innerhalb der kommunikativen Räume kaiserzeitlichen Bildungskultur einen prominenten Platz ein. Das heißt Religion und religiöse Kenntnisse sind für die zeitgenössische Salon- und Gesprächskultur, für alle Formen performativer Bildungsinszenierung wie etwa die epideiktische Rede ebenso relevant wie für den Bereich der Administration, in dem gerade angesichts der kulturellen, gesellschaftlichen und organisatorischen Vielschichtigkeit des Imperiums, das Wissen um lokale Besonderheiten und Traditionen von Bedeutung waren. Die im Folgenden behandelten Fallbeispiele greifen mit dem Motiv der Reise einen Aspekt des kulturellen Lebens heraus, in dem translokale Bezüge von gesteigerter Wichtigkeit sind. Darüber hinaus sollen die unterschiedlichen Anlässe und Zielsetzungen der hier besprochenen Reiseunternehmungen, die von der Dienstreise eines Verwaltungsbeamten nach Ägypten, über die nostalgische Reise der kaiserlichen Familie bis hin zur Tournee eines professionellen Redners reichen und ihrer literarischen Präsentation in panegyrischem Gedicht, Brief und Rede, die Spannbreite der Thematisierung religiösen Wissens und antiquarischer Kompetenz in der kaiserzeitlichen Gesellschaft thematisieren. 2. ZWISCHEN SCHWERT UND SISTRUM: EIN RÖMISCHER LEGAT REIST NACH SYRIEN Anfang der 90er Jahre erhält ein gewisser Maecius Celer, über dessen Karriere wir nicht näher unterrichtet sind, der sich aber offenkundig bereits in seiner Jugend als tribunus laticlavus in Syrien als wackerer Kämpe ausgezeichnet hatte, von Domitian den kaiserlichen Auftrag, ein Truppenkommando ebendort zu übernehmen. Dieses Ereignis wäre vermutlich weitgehend unvermerkt geblieben, hätte Celer nicht Statius beauftragt, dieses Ereignis im Dienste von Repräsentation und Kommemoration literarisch zu verarbeiten (silv. 3,2). Statius wählt hierfür die Form des Propemptikons, eines Geleitgedichtes, in dem Abreisenden nach allen
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Regeln des Rhetorischen Handbuchs11 Glück, gute Reise und erfolgreiche Heimkunft gewünscht werden. Statius¶ Treue gegenüber dem rhetorischen Formular und die Erkenntnisse, die man für die Gattung Propemptikon zu gewinnen meinte,12 waren denn auch bislang die Hauptinteressen der Statius-Forschung, wenn man denn überhaupt angesichts der spärlichen Behandlung des Textes von einem solchen sprechen kann.13 Hier interessieren nun keineswegs die rhetorische Angemessenheit, sondern die Wahl der Sujets, die akzentuierende Gestaltung des Adressaten und seiner von Statius vermuteten Interessen und deren raffinierte und hoch artifizielle poetische Inszenierung. Was hat sie nun mit der übergeordneten Fragestellung des Beitrags zu tun? Eine kurze Übersicht über den Gang des Gedichtes soll für Aufklärung sorgen: Die Silve, die sich als affirmative Freundschaftsbekundung gibt, beginnt mit einem Gebet an die Meeresgötter um eine ruhige See und Geleitschutz für den reisenden Celer (1±49). Dabei imaginiert der Dichter die Reise und inszeniert diese in Form des mimetischen Gedichtes, das im Fortschreiten des Sprechens gleichsam den Fortgang der Handlung, in diesem Fall der Reise, konstituiert und kommentiert: So ist bereits im gewählten Ausgangspunkt ± dem Hafen von Puteoli, der bis zum Ausbau des Hafens von Ostia als wichtigster Umschlagsplatz der alexandrinischen Getreidelieferungen diente14 ± Ägypten als erstes Reiseziel präfiguriert (22: Pharium annum). Nach einer eingeschobenen Klage über die Leiden der Trennung und Selbstvorwürfen an den die Gefahren des Meeres scheuenden Sprecher (50±100) gelangt der Leser im Vollzug des Textes nach Ägypten. Erneut erhebt Statius die Stimme zum Gebet und bittet nun Isis-Io15 als Schützerin der Schifffahrt16, Celer im Hafen von Alexandria zu empfangen und ihm die Sehenswürdigkeiten Ägyptens zu erschließen (101±126). Den Schluss des Gedichtes bildet die Imagination der weiteren erfolgreichen Karriere Celers und seiner Heimkehr, um im Bild wechselseitiger Freundschaftsbekundung zwischen Statius und Celer am Tag seiner Landung in Italien zu gipfeln (127±143).
11 Men. Rhetor 395±399,10; zur Definition 395,1: ਲ ʌȡȠʌİȝʌIJȚț ȜĮȜȚ ȜંȖȠȢ ਥıIJ ȝİIJ¶ İijȘȝĮȢIJȚȞઁȢʌȡȠʌȝʌȦȞIJઁȞਕʌĮȡȠȞIJĮ 12 NEWMYER 1979, 87±90; HARDIE 1983, 156±164 zur Imitation augusteischer Vorbilder, v.a. Hor. c. 1,3 und Ov. am. 2,11. 㸬㸬 㸬 13 Abgesehen von den Kommentaren (VOLLMER 1898, 393±405; LAGUNA 1992, 191±239) namentlich NEWMYER 1979, 87±90; HARDIE 1983, 156±164; RÜHL 2006, 264±271. 14 Vgl. die Beschreibung des glücklichen Einlaufens der alexandrinischen Handelsschiffe in Sen. epist. 57,1±2. 15 Zur Gleichsetzung der griechischen Heroin und ägyptischen Göttin MALAISE 1997, 93. In der pompejanischen Wandmalerei war Ios Ankunft in Ägypten und ihre Wandlung zur Göttin Isis ein wohlbekanntes Motiv, das u.a. im Iseum und in der Casa del duca di Aumale (VI 9,1) verwendet wurde: Nationalmuseum Neapel Inv. 9558, abgebildet in MERKELBACH 1995, 502, Abb. 21. 16 Isis¶ spezifischer Domäne der Schiffahrt (als Isis Pelagia und Isis Euploia) wurde insbesondere am Frühjahrsfest des Isidis navigium (Anfang März) gedacht (ausführlichste Beschreibung bei Apul. met. 11,7,2±11,17,4): MALAISE 1972, 217±221; DUNAND 1973, 223±230.
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Für die hier gewählte Fragestellung ist natürlich der Passus über Ägypten von besonderem Interesse, der bereits durch die einleitende Gebetsformel und die Bitte an Isis ein religiöses Gepräge trägt: Isi, Phoroneis olim stabulata sub antris, nunc regina Phari numenque Orientis anheli, excipe multisono puppem Mareotida sistro; ac iuvenem egregium, Latius cui ductor Eoa signa Palaestinasque dedit frenare cohortes, ipsa manu placida per limina festa sacrosque duc portus urbesque tuas. te praeside noscat unde paludosi fecunda licentia Nili, cur vada desidant et ripa coerceat undas Cecropio stagnata luto, cur invida Memphis, curve Therapnaei lasciviat ora Canopi, cur servet Pharias Lethaeus ianitor aras, vilia cur magnos aequent animalia divos; quae sibi praesternat vivax altaria Phoenix, quos dignetur agros aut quo se gurgite Nili mergat adoratus trepidis pastoribus Apis. duc et ad Emathios manes ubi belliger urbis conditor Hyblaeo perfusus nectare durat, anguiferamque domum blando qua mersa veneno Actias Ausonias fugit Cleopatra catenas. usque et in Assyrias sedes mandataque castra prosequere et Marti iuvenem, dea, trade Latino. nec novus hospes erit: puer his sudavit in arvis notus adhuc tantum maioris lumine clavi, iam tamen et turmas facili praevertere gyro fortis et Eoas iaculo damnare sagittas. O Isis, die du einst in den phoronischen Höhlen deinen Stall hattest, die du jetzt Königin von Pharos (Ägypten) und Gottheit des heißen Orient bist, empfange das mareotische Schiff mit deinem vieltönenden Sistrum und den ausgezeichneten Jüngling, dem der latinische Führer den Oberbefehl gab über den Osten und die palästinensischen Truppen! Führe ihn selbst mit sanfter Hand durch die festlichen Tempel und zu den heiligen Häfen und zu deinen Städten! Unter deinem Schutz soll er kennenlernen, woher die fruchtbare Ausgelassenheit des schlammführenden Nil kommt, warum der Wasserspiegel fällt und das Ufer wieder die Wellen faßt, befestigt durch den kekropischen (athenischen) Schlamm, warum Memphis neidisch ist und die geschweifte Küste des therapnäischen Canopus so ausgelassen, warum der Türhüter der Unterwelt die pharischen Tempel bewacht, warum man große Götter mit niedrigen Tieren gleichsetzt, was für einen Altar der langlebige Phoenix vorbereitet, welche Wiesen der Apis für würdig hält, (um auf ihnen zu weiden), in welchem Strudel des Nil er untertaucht, angebetet von den ängstlichen Hirten. Führe ihn zum Grab des Mannes aus Emathia (Alex.d.Gr.), wo der Kriegsheld, Gründer der Stadt (Alexandria), einbalsamiert mit hybläischem Nektar (Honig) liegt, dessen Körper bis heute erhalten ist, und zum Schlangenpalast, wo im sanften Gift versenkt Kleopatra bei Actium den Ketten Ausoniens entkam. Geleite ihn bis zum assyrischen Land und zum Oberbefehl über die Truppen und übergib den Jüngling, Göttin, dem latinischen Mars! Er wird dort kein Unbekannter sein: Schweiß vergoß er auf diesen Fluren bereits als Knabe, damals noch nur bekannt durch den Schmuck seines breiteren Purpurstreifens, aber trotzdem vermochte er schon in leichter Schwenkung der Reiterschwadron zuvorzukommen und mit dem Wurfspeer die östlichen Pfeile unschädlich zu machen.
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Zwei Perspektiven sind es vor allem, unter denen diese Passage für unsere Diskussion fruchtbar gemacht werden kann. Zum einen gibt sie Aufschluss über allgemeine Wahrnehmungshorizonte und kulturelle Felder, innerhalb derer religiöse Informationen thematisiert werden; zum anderen wird man bei näherer Untersuchung der Kommunikationssituation insbesondere mit Blick auf die hier intendierte Charakterisierung Celers Aufschluss über ihr funktionales Potential erhalten. Unverkennbar wird nicht ausschließlich religiöses Wissen wie etwa die interpretatio Graeca der Göttin Isis und des Anubis,17 Besonderheiten der ägyptischer Kulte und Sakraltopographie unter Einschluss der zoomorphen Götter18 und der Frage nach dem Aufenthalt des Apisstiers dargeboten,19 sondern eine Melange des Spektakulären, die auch mit Fabelhaft-Mirakulösem wie der Geschichte des Vogels Phoenix,20 naturgeschichtlichen Informationen wie dem viel verhandelten Problem der Nilschwemme,21 etymologischer Spekulation (Memphis22) und historischen Begebenheiten (Alexander und Kleopatra23) aufwartet. Ägypten erscheint als Wunderkammer24 und als Fokus unterschiedlichster Spezialinteressen und Spezialkompetenzen, unter denen die religiösen Mirabilia und religiöses Wissen nur einen Teilbereich darstellen. Anders formuliert: Die ägyptischen Kulte und ihre Besonderheiten sind nur ein Baustein innerhalb des kulturellen Kosmos Ägypten, und ihre genaue Kenntnis ist weniger Ausweis religiöser Faszination als intellektueller Kennerschaft und subtiler Expertise. Von hier aus lässt sich auch das zweite von mir markierte Beobachtungsfeld in den Blick nehmen: die Charakterisierung des Adressaten Celer und damit auch der Stellenwert der bezeichneten Wissensbestände im gesellschaftlichen Diskurs. Drei Bereiche oder besser drei Formen der Stilisierung gilt es hier vor allem zu berücksichtigen: 1. Die Funktion Celers als Repräsentant Roms in der Provinz: Mit dem Ägyptenexkurs und der damit suggerierten Erwartung, die Wunder des Nillandes fänden die besondere Berücksichtigung und Aufmerksamkeit des sich auf Reisen 17 Zur Interpretatio Graeca ägyptischer Kulte ASSMANN 2000, 31±33; 38±42. Zur Diffusion des Isiskultes in hellenistischer Zeit MALAISE 1984 und 1997. 18 Zur Tiergestalt der ägyptischen Götter Verg. Aen. 8,698±700; Prop. 3,11,39±43; Lucan. 8,831±834; SMELIK/HEMELRIJK 1984, 1853±1856. 19 Zum Apisstier Her. 3,27±29; Plin. nat. 8,184±185. 20 Vgl. Her. 2,73; Ov. met. 15,391±407. 21 Zur Diskussion der Nilquellen und Nilschwemme in der griechischen Literatur BICHLER 2000, 147±149; ASSMANN 2000, 56±60. Vgl. Lucan. 10,189±192; Sen Nat. quaest. 4A. 22 Der Neid der alten Herrscherstadt Memphis ist durch die Ableitung von griechisch ȝȝijȠȝĮȚ zu erklären. 23 Zu Kleopatras Niederlage und Selbstmord Prop. 3,11,53; Verg. Aen. 8,671±713; Hor. c. 1,37,27±28. 24 Die Tradition von Ägypten als idealem Reiseziel und erstrangigem Ort des Wunders begründet Herodot 2,35,1: ÄJetzt gehe ich dazu über, ausführlicher über Ägypten zu berichten, weil es sehr viel Wunderliches und Werke aufweist, die man in ihrer Größe kaum schildern kann im Vergleich zu jedem anderen Land. Darum will ich das Land etwas genauer beschreiben.³ Allgemein zu Ägypten als Schatzkammer des Wunders FRIEDLÄNDER 1922, 423±446; HUNT 1984, 403±408.
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befindlichen Militärs, wird Celer eine Fähigkeit zugeschrieben, die auch noch im zeitgenössischen Diskurs ganz offenkundig von zentraler Bedeutung für eine angemessene Amtsführung war und gleichsam eine administrative Schlüsselfunktion darstellte: die Fähigkeit, kulturellen Besonderheiten und Traditionen, lokalen Identitäten und Wahrnehmungsgewohnheiten mit der gebührenden Aufmerksamkeit und Toleranz zu begegnen.25 Ein Musterbeispiel für eine in diese Richtung weisende Instruktion stellt die Plinius-Epistel 8,24 dar, in der Plinius seinen Freund Maximus, der im Begriff steht, die Verwaltung der Provinz Achaia zu übernehmen, in extenso auf die spezifischen Formen griechischen Selbstverständnisses und Identitätskonstruktion aufmerksam macht.26 2. Die Tradition der Ägyptenreise: Zum zweiten wird Celer nicht zuletzt durch den Verweis auf Kleopatra und das Grab Alexanders in die Tradition renommierter Ägyptenreisender von Caesar27 über Augustus28 bis Germanicus gestellt, von dem wir nach dem Zeugnis des Tacitus wissen, dass er Alexandria in griechischer Gewandung betreten hatte und Ägypten mit dem Wunsch, die Altertümer gründlich kennen zu lernen (2,59,1: Aegyptum proficiscitur cognoscendae antiquitatis),29 unter Einschluss der weit im Süden liegenden Stätten Philae und Syene bereist hatte.30 Mit der auf den Wissensdurst des Reisenden abzielenden Formulierung te praeside noscat (107) wird nachgerade ein Leitmotiv entsprechender Reisedarstellungen aufgerufen, das sich letztlich bis zu Herodots Ägyptenforschungen zurückverfolgen lässt.31 Es erübrigt sich, an dieser Stelle auf das Fortwirken dieser Tradition in den Reisen Hadrians und des Septimius Severus als Bestandteil herrscherlicher Inszenierung hinzuweisen.32 25 Ein ausgezeichneter Beleg für die kulturelle Aufgeschlossenheit der frühkaiserzeitlichen Elite ist der hochrangige Politiker und Militär C. Licinius Mucianus, im Jahr 68 Gouverneur von Syrien, der auf seinen weiten Reisen zahlreiche Denkwürdigkeiten notiert und eine wichtige Quelle für Plinius¶ Naturalis historia darstellt: siehe KAPPELMACHER 1926, 441f. 26 Vgl. Ciceros Empfehlungen an seinen Bruder zur Verwaltung der Provinz Asia (ad Quint. fratr. 1,1,25±28). 27 Zu Caesars Besuch am Alexandergrab Lucan. 10,9±24. 28 Cass. Dio 51,16,5; Suet. Aug. 18,1. 29 Vgl. Tac. ann. 2,54,1: mox Propontidis angustias et os Ponticum intrat, cupidine veteres locos et fama celebratos noscendi. 30 Tac. ann. 2,59±61. Dazu WEINGÄRTNER 1969. Vgl. die Erwähnung von ägyptischen Sehenswürdigkeiten in Paus. 9,36,5 (Pyramiden); 1,42,3 (Kolossalstatue des Memnon in Theben); 9,16,1 (Oase des Ammonorakels). Als ein frühes Zeugnis sei der Brief des ägyptischen Beamten Hermias an Horus genannt (112 v. Chr.), der die Nilreise des angesehenen Senators Lucius Memmius von Alexandria bis Arsinoe ankündigt und die adäquate Möblierung von Quartieren, die Wartung der Landeplätze und die Bereitstellung von Futter für die heiligen Krokodile in Auftrag gibt (HUNT/EDGAR II 1934, Nr. 416). 31 Her. 2,99,1: ÄAlles, was ich bisher mitgeteilt habe, beruht auf eigener Anschauung, eigenem Urteil oder eigener Forschung. Von jetzt an will ich die ägyptische Geschichte erzählen, wie ich sie hörte.³ Zur Inszenierung der historíe im Ägyptenbuch des Herodot LLOYD 1975, 81± 100. 32 Hist. Aug V. Hadr. 13±14,7; V. Sev. 3,7: post hoc Athenas petit studiorum sacrorumque causa et operum ac vetustatum und 17,4: iucundam sibi peregrinationem hanc propter religionem dei Sarapidis et propter rerum antiquarum cognitionem et propter novitatem
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3. Der homme de lettres: Zentral für Argumentationsgang und Wirkungsabsicht des Ägyptenpassus im Kontext der Silve und der mit ihr verbundenen Kommunikationssituation ist aber die Stilisierung des Celer als homme de lettres, als pepaideumenos, der an Diskurse der zeitgenössischen Bildungslandschaft, wie wir sie etwa Senecas Naturales quaestiones oder Plinius¶ Naturalis historia insbesondere greifen können,33 ohne Schwierigkeiten anzuknüpfen und die kulturellen Standards der Elite umzusetzen versteht. Eine erhebliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die literarische Präsentation, die in hohem Maße auf Artifizialität und Gelehrsamkeit abzielt. Die Informationen über ägyptische Sehenswürdigkeiten erschließen sich in vollem Umfang nur einem ausgesprochen kenntnisreichen Leser, einem Kenner von Mythos und Literatur, und zwar unter Einschluss naturwissenschaftlicher Fachliteratur. Auch dort, wo Statius scheinbare Allgemeinplätze zitiert, geschieht dies in artifizieller Abbreviatur, die einer von Kenntnissen gesättigten Dekodierungsinstanz bedarf. Besonders sinnenfällig wird dies in der Formulierung Cecropio stagnata luto, wo wörtlich kekropischer, also attischer Schlamm als Uferbefestigung genannt wird (110). Der Schritt von Kekrops zu Athen ist zwar klein, doch hilft diese Transferleistung dem Leser nicht wirklich weiter, bleibt doch die Frage, was attischer Lehm im Nil zu suchen hat. Zwei weitere Schritte sind erforderlich, die nun weiterreichende naturgeschichtliche und mythologische Kenntnisse erfordern. Hinter Kekrops muss die Geschichte von Philomela und Prokne und deren Verwandlung in eine Schwalbe aufscheinen,34 um schließlich in Verbindung mit der naturkundlichen Nachricht über Schwalbennester am Nil, die nach antiker Auffassung offenkundig als natürliche Uferbefestigung dienten,35 die Entschlüsselung des statianischen Rätsels zu ermöglichen. Vergleichbares ließe sich auch über die sonstigen gelehrt verrätselten Anspielungen sagen, die in der Regel das Offenkundige meiden, wie im Falle der Formulierung Phoroneis stabulata sub antris (101), die auf die hellenisierende Gleichsetzung von Isis mit Io verweist36 oder der Nachfrage nach der Funktion des Lethaeus ianitor in Pharos, die die Kenntnis der Parallelisierung von Kerberos und Anubis erwartet (112).37 Ganz offenkundig setzt die Strategie des statianischen Textes darauf, den Leser als kenntnisreichen, in vielen Wissensgebieten bewanderten Intellektuellen zu präsentieren, der eigentlich der Information über Ägypten und seine Wunder gar nicht mehr bedarf. Celer, dem Adressaten des Textes, der sicher als idealtypischer
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animalium vel locorum fuisse Severus ipse postea semper ostendit. nam et Memfim et Memnonem et piramides et labyrinthum diligenter inspexit. Zu den Kaiserreisen Hadrians und der Antoninen HALFMANN 1986, 40±50. Zu Senecas Naturales quaestiones GAULY 2004; zu Plinius d.Ä. exemplarisch BEAGON 1992; CAREY 2003; MURPHY 2004. Prominent Ovid met. 6,401±674. Plin. nat. 10,94. Seit Her. 2,41,1; vgl. Prop. 2,28,17±18; Ov. met. 1,738±747. Basierend auf der ikonographischen Ähnlichkeit. Zur Prominenz des hundsköpfigen Anubis in hellenistisch-römischem Kultambiente MERKELBACH 1995, Abb. 10, 78, 130, 144, 146, 148, 150, 154.
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Leser verstanden werden kann, wird damit nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Form der literarischen Inszenierung jene kulturelle Kompetenz zugeschrieben, die er im mimetischen Vollzug des Textes scheinbar erst erwirbt. Fragen wir nun nach der Funktion dieses Verfahrens im Kontext gesellschaftlicher Rezeption und Funktionalisierung, so wird Celer nicht nur, wie oben formuliert, als pepaideumenos und als Teil der kulturellen Elite präsentiert, sondern ± und darin liegt wohl die eigentliche Pointe des Textes ± als ein Mann, der durchaus über alle Kompetenzen für eine zivile Karriere und höhere Aufgaben im Dienste des Kaisers verfügt.38 Vor diesem Hintergrund ist sicher auch die Mutation des Militärs zum Forschungsreisenden zu sehen, die im Zusammenhang mit der Imagination der Rückkehr des Celer nach Rom forciert wird. Dort ± so will es die Fiktion des Statius ± berichtet er dem Dichter als weit gereister pleiona eidos keineswegs von seinen militärischen Leistungen, sondern von den offenkundig von ihm in Autopsie erfahrenen Wundern Babylons. Die Aussicht auf weitere Ämter, die ja im Gedicht ausgesprochen wird, ist hier nicht nur als Hoffnung vorgestellt, sondern wird aus den im Gedicht gleichsam unter Beweis gestellten Fähigkeiten Celers argumentativ hergeleitet. Der Text des Statius bietet uns damit ein wunderbares Zeugnis einerseits für die Einordnung religiösen Wissens in das allgemeine Stratum kultureller Kenntnisse, zugleich aber auch ein Zeugnis für die gezielte politisch-soziale Instrumentalisierung dieses Wissens im Kontext kaiserlicher Administration und römischer Selbstinszenierung in der Provinz. 3. TEMPEL, TEMPEL, NICHTS ALS TEMPEL: EIN PRINZ REIST INS LAND DES MOS MAIORUM Mit der zweiten Fallstudie bewegen wir uns im unmittelbaren Umfeld des römischen Kaiserhofes. Der Reisende, mit dem wir uns hier beschäftigen werden, ist der junge Mark Aurel, der uns in seiner Korrespondenz mit seinem Lehrer Fronto Einblick in die Bildungsinteressen und Selbstdarstellungsgewohnheiten nicht nur der Angehörigen des Kaiserhofes, sondern jenes Stratums von Intellektuellen gibt, nach deren Modell kaiserliche Repräsentation in der Antoninenzeit gestaltet wird. Der Brief, aus dem der im Folgenden zu behandelnde Text stammt (4,4), berichtet von einer Reise zu den kaiserlichen Weingütern an der Grenze zwischen Latium und Kampanien. Allerdings begibt sich die kaiserliche Reisegesellschaft nicht direkt an jenen ländlichen Lustort, an dem sie sich nach alter Väter Sitte darin gefällt, persönlich und mit eigenen Händen die Trauben zu lesen und zur Kel38 Zum Verhältnis von Bildungswissen und gesellschaftlichem Erfolg PAUSCH 2004, 9±21. Instruktiv sind für das Kriterium der literarischen Bildung im Rahmen der politischmilitärischen Karriere verschiedene Empfehlungsschreiben im Briefcorpus des jüngeren Plinius, etwa epist. 2,13,7; 4,4,1; 4,15,7; 6,6,3; 7,31,5. Zu wachsenden Stellenwert der Bildung und den kaiserzeitlichen Gebildeten als sozialen Aufsteigern CHRISTES 1975, 235±245; MRATSCHEK-HALFMANN 1993, 14±40.
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ter zu befördern.39 Am Weg lockt eine Attraktion, die in der touristischen Landschaft des antiken Italiens an sich keinen überaus prominenten Platz einnimmt. Es ist Anagnia, eine Gründung der Herniker im Süden Latiums, an der Vereinigung von Via Latina und Via Labicana gelegen. Eine an sich durch und durch unspektakuläre und karge Stadt, die auch in altertumswissenschaftlichen Lexika der Gegenwart kaum eines Wortes gewürdigt wird, so dass sich die Frage erhebt, mit welch wundersamen Attraktionen sie die Hofgesellschaft zum längeren Verweilen bewegen konnte. Mark Aurel bleibt uns diese Antwort selbstredend nicht schuldig (4,4,1): Postquam vehiculum inscendi, postquam te salutavi, iter non adeo incommodum fecimus, sed paululum pluviae aspersi sumus. Sed priusquam ad villam venimus, Anagniam devertimus mille fere passus a via. Deinde id Ãoppidum anticumµ vidimus, minutulum quidem, sed multas res in se antiquas habet, aedes sanctasque caerimonia supra modum. Nullus angulus fuit, ubi delubrum aut fanum aut templum non sit. Praeterea multi libri lintei, quod ad sacra adtinet. Deinde in porta, cum eximus, ibi scriptum erat bifariam sic: ÄFlamen sume samentum.³ Rogavi aliquem ex popularibus quid illud verbum esset. Ait lingua Hernica pelliculam de hostia, quam in apicem suum flamen cum in urbem introeat inponit. Multa adeo alia didicimus quae vellemus scire; verum id solum est quod nolimus, cum tu a nobis abes: ea nobis maxima sollicitudo est. Nachdem ich von dir in den Reisewagen gestiegen war und mich von dir verabschiedet hatte, reisten wir einigermaßen bequem, wurden allerdings ein weniges vom Regen benetzt. Aber bevor wir das Landhaus erreichten, machten wir einen Umweg von etwa einer Meile nach Anagni. Dann besichtigten wir diese altehrwürdige Stadt, die zwar ziemlich klein ist, aber zahlreiche Altertümer in sich birgt: Tempel und heilige Rituale in Hülle und Fülle. Kein Winkel war da, an dem sich nicht eine Kultstätte, ein Heiligtum oder ein Tempel befunden hätte. Außerdem gab es eine Menge Leinenbücher, was ja ebenfalls mit Kulthandlungen zu tun hat. Dann als wir die Stadt verließen, gab es noch am Tor eine beidseitige Inschrift, die wie folgt lautete. flamen sume samentum. Ich fragte einen Einheimischen nach der Bedeutung des letzten Wortes. Er sagte, es bedeute im Hernikischen Dialekt jenes Hautstück vom Opfertier, das der flamen beim Betreten der Stadt auf den Apex steckt. Eine Menge andere Dinge, die wir gerne wissen wollten, haben wir erfahren.
Heiligtümer, Kultbücher,40 Ritualsprache sind also die Gegenstände, die den Umweg als lohnende erscheinen. Doch ist das Interesse der Reisenden an Religion auch hier ein durchaus sekundäres und abgeleitetes. Der Besuch in Anagnia wird ihnen nämlich zur Reise in die Vergangenheit, der Ort selbst zu einem Museum des Altehrwürdigen, hinter dem sogar die Besonderheit des Einzelnen verschwinden kann, jedenfalls insofern die Sakralbauten und Heiligtümer involviert sind.
39 STÄRK 1990. 40 Die engste Parallele bietet Livius 4,7,12, der im stadtrömischen Tempel der Iuno Moneta verwahrte Kultbücher aus Leinen erwähnt. Es handelt sich vermutlich um Ritualbücher etruskischer Tradition in denen laut Festus 284 M. nachzulesen war, Änach welchem Ritus Städte gegründet, Altäre und Tempel geweiht werden, mit welcher Satzung Mauern, nach welchem Recht die Tore, wie die Tribus, Curien und Centurien eingeteilt, die Heere aufgestellt und geordnet werden, und das übrige derartige, was zum Krieg und Frieden gehört.³
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Gesucht wird vor allem Aura und Flair altväterlicher Verhältnisse.41 Man befände sich nicht im Zeitalter von Studierlampe und Salonkultur, wenn dann die Atmosphäre des Altertümlichen nicht auch den antiquarischen Wissensdurst des jugendlichen pepaideumenos stimulieren würde. Am Ortsausgang bietet sich daher dem archaisierenden Wortjäger, wie er uns auch in den Noctes Atticae des Gellius begegnet,42 noch ein Leckerbissen dar: Dort gilt es, die Bedeutung des in einer Sakralinschrift aufbewahrten Wortes samentum zu klären.43 Doch erneut dominiert das Interesse an der sprachlichen Antiquität und dialektalen Besonderheit: Sakrale Gegenstände und sakrale Sprache werden hier primär als Aufbewahrungsort und Träger alter Traditionen verstanden und sind vor allem von antiquarischem Interesse. Der gesuchte Rekurs auf die Sprachgelehrsamkeit lässt sich nicht zuletzt am Spektrum synonymer Ortsbezeichnungen ± aedes, delubrum, fanum, templum ± ablesen, mit dem Fronto die Sakrallandschaft von Anagnia umschreibt,44 und deren Bedeutungsnuancen in den antiquarisch-glossographischen Schriften des Varro und Verrius, Festus und Gellius ausführlich diskutiert wurden.45 Allerdings wird auch noch ein moralisch normatives Potential transportiert. Der Abstecher nach Anagni wird auch als Reise ins Land des mos maiorum verstanden:46 präludiert die Episode doch in recht eindrücklicher Weise der nostalgischen Inszenierung Catonischer Ländlichkeit auf den Weingütern der Familie, von der im zweiten Teil des Briefs die Rede ist. Altertümlichkeit, die Lust an Antiquitäten und der Gestus ländlich altväterlicher Moralität, die sich im Aufbewahren des Alten spiegelt, geben hier den Motivationshintergrund ab. 4. ES IST BATHYLLUS, NICHT PYTHAGORAS: SOPHISTEN WISSEN ALLES BESSER Mit Apuleius wenden wir uns nun einem nachgerade professionellen Reisenden zu, dessen aktive Partizipation an den performativen Zurschaustellungen der Gelehrsamkeit im 2. Jh. ihn ebenso wie die anderen Sophisten zwar nicht quer durchs Imperium führt, aber doch zu ausgedehnten Reisen motivierte.47 Leider ist 41 Ganz ähnlich Plin. epist. 8,8,5 zum altehrwürdigen Tempel (templum priscum) und altitalischen Losorakel des Clitumnus fons, auch hier in Verbindung mit den literarischen studia, die durch Lektüre der religiösen Wandgraffiti ermöglicht werden (8,8,7). 42 Z.B. Gell. 2,10 mit etymologischen Spekulationen über den altrömischen Terminus favissae. Zu den gellianischen Etymologien CAVAZZA 2004. 43 Ein hapax legomenon der lateinischen Literatur. Zur Etymologie des zum Ornat des flamen gehörigen apex siehe Fest. 18 M. 44 Deinde id oppidum anticum vidimus, minutulum quidem, sed multas res in se antiquas habet, aedes sanctasque caerimonias supra modum. nullus angulus fuit, ubi delubrum aut fanum aut templum non sit. 45 JORDAN 1879; FRIDH 1990. 46 Vgl. Plinius¶ Verweis auf die Großväter und Urgroßväter von Männern fortgeschrittenen Alters, die das Umland von Plinius¶ tuscischer Villa bevölkern (epist. 5,6,6) . 47 Zur Vita und den Reisen des Apuleius apol. 23; 27; 55; flor. 17; 18; 20; HARRISON 2000, 1± 10.
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von seinen Reden (die Metamorphosen und philosophischen Schriften übergehe ich hier) außer dem Meisterstück der Apologie nur eine dürftige Sammlung von Ausschnitten unter dem Titel Florida erhalten.48 Dennoch finden sich dort Texte, die wir für die hier diskutierten Fragen nutzbar machen können. Ein erstes Beispiel ist der erste Text der Sammlung, der im Rahmen eines Vergleichs einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Bereichen Religion und sophistischer Beredsamkeit konstruiert. Im Exordium einer Rede, die Apuleius in einer von ihm bereisten Stadt hält,49 vergleicht er seinen eigenen Aufenthalt und die damit verbundene Rede mit Akten religiöser Verehrung wie sie von Reisenden, deren Interesse auf religiöse Traditionen und Kulte gerichtet ist vollzogen werden.50 Vt ferme religiosis uiantium moris est, cum aliqui lucus aut aliqui locus sanctus in uia oblatus est, uotum postulare, pomum adponere, paulisper adsidere: ita mihi ingresso sanctissimam istam ciuitatem, quanquam oppido festine, praefanda uenia et habenda oratio et inhibenda properatio est. neque enim iustius religiosam moram uiatori obiecerit aut ara floribus redimita aut spelunca frondibus inumbrata aut quercus cornibus onerata aut fagus pellibus coronata, uel enim colliculus sepimine consecratus uel truncus dolamine effigiatus uel cespes libamine umigatus uel lapis unguine delibutus. parua haec quippe et quanquam paucis percontantibus adorata, tamen ignorantibus transcursa. Wie es Art frommer Wanderer ist, ein Gebet zu sprechen, einen Apfel niederzulegen und ein wenig sitzend zu verweilen, wenn sie unterwegs auf einen Hain oder einen heiligen Ort treffen, so ist es mir, der ich in diese altehrwürdige Stadt eingetreten bin, eine Verpflichtung mich mit einer respektvollen Adresse an euch zu wenden, eine Rede zu halten und auf meiner eiligen Reise innezuhalten. In der Tat: weder ein mit Blütengewinden geschmückter Altar noch eine von Laub beschattete Grotte, noch eine mit Hörnern beschwerte Eiche noch eine mit Opfertierhäuten behängte Buche oder gar ein durch Umschränkung geheiligtes Hügelchen oder ein Baumstamm mit eingeschnitzter Figur oder eine von Trankopfern benetzte Rasensode oder ein mit Salböl beträufelter Stein bieten dem Wanderer einen berechtigteren Anlass zum andächtigen Verweilen. Gewiss, diese Dinge mögen unbedeutend sein und doch werden sie von den wenigen, die nach derlei Dingen eifrig auf der Suche sind, mit Verehrung bedacht; die Unwissenden aber schreiten bloß eilig daran vorüber.
Dieser wenig bekannte Text, der der Exzerptsammlung der Reden des Apuleius entstammt, ist ein Musterbeispiel für die glanzvolle Beredsamkeit der so genannten zweiten Sophistik. In der Fülle der Vergleiche lässt Apuleius eine dichte religiöse Atmosphäre, eine der Sakralidylle nachempfundene Landschaft beschaulich-andächtiger Verehrung entstehen. Sie wird zum Sinnbild der eigenen Zu- und Hinwendung, des eigenen Respekts vor und seiner Aufmerksamkeit für das ins Auge gefasste Publikum. Zugleich ergeht er sich dabei in einem preziösen wortkünstlerischen Spiel ± der Text bietet gleich mehrere Hapax Legomena, so dass die hier vorgestellte Kultszenerie zugleich auch als raffiniertes Produkt virtuoser 48 Zum Titel HARRISON 2000, 90±94; HUNINK 2001, 12±16; LEE 2005, 1±3. 49 Wohl nicht Karthago. Zur Problematik HARRISON 2000, 94. 50 HARRISON 2000, 94f.; HUNINK 2001, 57±61; LEE 2005, 61±66. Letzterer bietet die ausführlichste Interpretation, ordnet den Text aber m. E. allzu einseitig als Beispiel der mittelplatonischen Lebenswegmetaphorik ein, so dass der gelehrt antiquarische und rhetorische Gestus des Textes und sein Bezug zur Welt der paideia zu kurz kommt.
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Imaginationskraft erscheint. Ein Gestus, der durch den Verweis auf Kennerschaft, auf die Freude am Besonderen, an der glanzvollen Bescheidenheit, der Leidenschaft für die kleinen Kostbarkeiten, die ihren Wert nur dem andächtigen Wissenden erschließen, nachdrücklich unterstrichen wird. Hier wird zugleich auch jenes Interesse am Althergebrachten, an der antiquarischen Petitesse und ihrer sprachlichen Inszenierung deutlich, dem wir auch bei den Zeitgenossen wie etwa Gellius und Fronto begegnen. Religion und Interesse an Kulten und religiösen Traditionen werden dabei in doppelter Weise symbolisch aufgeladen. Dabei wird einerseits die andächtige Innigkeit religiöser Verehrung, andererseits die Traditionshaltigkeit von Religion instrumentalisiert. Sakrale Atmosphäre und religiöses Wissen werden zum Symbol für den Habitus des gebildeten Redners und sophistischer Tätigkeit, sie sind Sinnbild der sprachlich gekonnten Vermittlung der Tradition, der andächtigen Liebe zur Vergangenheit und Kultur, der Freude an der Entdeckung und Erschließung des Besonderen und Verschatteten. Dabei kommt der Figur des Reisenden, als die sich der Redner hier präsentiert, besondere Bedeutung zu, indem sie auf die translokale Kompetenz des Sprechers und die translokale Relevanz kultureller Bildung verweist.51 Als ein weiteres Beispiel der Verbindung der Elemente Religion, Bildung und Reise oder besser des Interesses an translokalem religiösen Wissen lässt sich Florida 15 lesen.52 Der erhaltene Passus der Rede bietet zunächst ein kurze Beschreibung von Samos, dem seit alter Zeit hochberühmten Heiligtum der Hera (15,4: fanum Iunonis antiquitus famigeratum) mit einem deutlichen Akzent auf den dort ausgestellten, archaischen Kostbarkeiten (15,6: veterrimo et spectabili opere), um dann in einer elaborierten Ekphrasis die Statue des Bathyllos, eines Lieblings des Polykrates, zu beschreiben (15,6±10). Wir haben es hier natürlich nicht im eigentlichen Sinn mit einem Sakralgegenstand zu tun, aber doch mit einer Statue, die sich im Heiligtum befindet, so dass hier abermals die Mischung des Interessanten aus unterschiedlichen Bereichen greifbar wird. Dies verstärkt sich noch, da Apuleius im Folgenden eine Debatte referiert, die sich an der Frage entzündet, ob der Dargestellte nicht in Wirklichkeit Pythagoras sei. Mit Verweis auf Einzelheiten der Darstellung und biographisch-historische Reflexion, die sich zu einer umfangreichen Darstellung pythagoreischer Lehre weiten, weist Apuleius diese Zuschreibung zurück (15,11±25). Eine besondere Pointe des Abrisses ist es, dass Pythagoras nachgerade als Modell sophistischer Existenz und Reisetätigkeit erscheint, wird er doch als tot ille doctoribus eruditus, tot tamque multiiugis calicibus disciplinarum toto orbe haustis charakterisiert (15,22). Abschließend stellt sich Apuleius auch mit dem Verweis auf seine platonische Ausbildung und einer Bemerkung zum Verhältnis von Pythagoras und Platon ganz in die von ihm präfigurierte Tradition (15,26± 27). 51 Besonders gesteigert und mit dem Reiz des Exotischen verbunden wird dieses Element in Florida 6, die den Wundern Indiens und insbesondere den Gymnosophisten gilt. 52 Hierzu SANDY 1997, 154±156; HARRISON 2000, 114±116; HUNINK 2001, 139±152; LEE 2005, 134±144.
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Diese Rede bietet nicht nur die Präsentation unterschiedlichster Wissensbereiche, sondern stellt auch ein höchst bemerkenswertes Zeugnis für translokale Kompetenz und Wissenspräsentation dar. Allem Anschein nach wurde die Rede nämlich in Karthago vor dem römischen Prokonsul gehalten,53 so dass wir es mit der interessanten Konstellation zu tun haben, dass ein Redner aus Nordafrika bei einem nicht näher spezifizierbaren offiziellen Anlass vor karthagischem Publikum eine Rede hält, die nicht nur philosophische Lehre thematisiert, sondern die Ausstattung des Heraion von Samos behandelt und offenkundig die Erwartung hegt, dass die Rede auf Verständnis, Interesse, Zustimmung und Bewunderung stößt. Doch bevor wir uns auf dieser Basis abschließenden Bemerkungen zuwenden, fragen wir auch in diesem Fall nach der spezifischen Qualität der Instrumentalisierung der hier vorgeführten Wissensbestände, die sich meiner Meinung nach noch einmal grundsätzlich von den beiden anderen bislang vorgeführten Formen der Inanspruchnahme unterscheidet. Auch hier geht es um ein abgeleitetes Interesse an einem Kultbezirk. Das Heraion von Samos und die Statue des Bathyllus werden nicht nur Gegenstand intellektueller Expertise, mit der Apuleius die Traditionen scheidet, sondern zugleich Ausgangspunkt und Projektionsfläche für eine Wissensentfaltung, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Ausgangsbeobachtung steht. Die Bathyllusstatue ist hier prominent Medium der Selbstinszenierung sophistischen Wissens, sophistischer Kombinatorik und sophistischer Performanz. 5. FAZIT Überblicken wir die drei vorgestellten Beispiele, so sind sie zum einen allesamt Zeugnisse für die ganz konkrete Mobilität der kaiserzeitlichen Gesellschaft, deren Reisetätigkeit und damit verbundene translokale Kommunikation eine Voraussetzung für kulturellen Wissenstransfer, zum anderen verdanken sie sich in gewisser Weise allesamt einem ähnlichen Interesse, einem Bildungsinteresse, das religiöse Kenntnisse unterschiedlicher lokaler Provenienz im Dienste der Bildungsinszenierung instrumentalisiert. Die Art der Funktionalisierung unterscheidet sich aber erheblich und reicht von oberschichtlicher Identitätskonstruktion und Kompetenzzuschreibung im Kontext einer administrativen Karriere über die Inszenierung antiquarischer Interessen bis hin zur sophistischen Demonstration Kennerschaft und Traditionsbeherrschung. Damit dürfte zugleich deutlich geworden sein, dass die Reduktion auf eine bloß touristische Perspektive für diese Texte zu kurz greift, sondern dass es vielmehr gilt, diese Wahrnehmungen in ihre je spezifischen Kontexte einzuordnen und auf ihre kommunikative Leistung zu befragen. Was heißt dies nun für das Verhältnis von Religion zur paideia? Erstens: Religiöses Wissen ist ein wesentlicher Teilbereich, aber eben nur ein Teilbereich jener Wissensbestände, die im Rahmen der Paideia relevant werden. Zweitens: Pai53 Darauf verweist die Anrede im letzten Satz, flor. 15,27: ab omnibus antecessoribus tuis in Verbindung mit flor. 9 und 17 (so bereits HARRISON 2000, 114).
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deia stellt ein Stratum dar, in das vielfältige Traditionen unterschiedlicher Herkunft implementiert und im Rahmen des Bildungsdiskurses neu funktionalisiert werden können. Innerhalb des Feldes paideia werden diese Wissensbestände häufig nicht mit einem ausgeprägten Interesse an ihrer spezifisch religiösen und kultischen Dimension wahrgenommen, sondern als Instrumente der Bildungsinszenierung. Die Wissensbestände werden in diesem Horizont bis zu einem gewissen Grad dekontextualisiert. Dies erklärt auch, warum die translokale Komponente eine so zentrale Rolle spielt. LITERATUR S. E. ALCOCK 1996. ÄLandscapes of memory and authority of Pausanias³, in: J. BINGEN (Hrsg.). Pausanias historien. Fondation Hardt, entretiens sur O¶DQWLTXLWpFODVVLTXH*HQI 241±267. DIES. 2002. Archaeologies of the Greek Past. Landscapes, Monuments, and Memories. Cambridge. DIES./J. F. CHERRY/J. ELSNER (Hrsg.) 2001. Pausanias. Travel and Memory in Roman Greece. Oxford. K. W. ARAFAT 1996. 3DXVDQLDVµ*UHHFHAncients artists and Roman rulers. Cambridge. E. ARSLAN u.a. (Hrsg.) 1997. Iside. Il mito il misterio la magia. Mailand. J. ASSMANN 2000. Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten, München. M. BEAGON 1992. Roman Nature. The Thought of Pliny the Elder, Oxford. R. BICHLER 2000. Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin. H. BLANCK 1992. Das Buch in der Antike. München. B. BORG (Hrsg.) 2004. Paideia. The World of the Second Sophistic, Millennium-Studien 2, Berlin ± New York. H. BOUVIER 1985. ÄHommes de lettres dans les inscriptions delphiques³, ZPE 58, 119±135. E. L. BOWIE 1974. Ä7KH*UHHNVDQGWKHLUSDVWLQWKH6HFRQG6RSKLVWLF³LQ0,FINLEY (Hrsg.). Studies in Ancient Society. London, 166±209. DERS. 1996. ÄPast and present in Pausanias³, in: J. BINGEN (Hrsg.). Pausanias historien. Fondation Hardt, Entretiens sur O¶DQWLTXLWpFODVVLTXH*HQI 207±239. K. BRODERSEN 1996. Die sieben Weltwunder. Legendäre Kunst- und Bauwerke der Antike, Beck Wissen 2029, München. S. CAREY 2003. 3OLQ\¶V&DWDORJXHRI&XOWXUHArt and Empire in the Natural History, Oxford. L. CASSON 1976. Reisen in der Alten Welt, München. F. CAVAZZA 2004. ÄGellius the Etymologist. Gellius¶ Etymologies and Modern Etymology³, in: L. HOLFORD-STREVENS/A. VARDI (Hrsg.), The Worlds of Aulus Gellius, Oxford, 65±104. J. CHRISTES 1975. Bildung und Gesellschaft. Die Einschätzung der Bildung und ihrer Vermittler in der griechisch-römischen Antike, Darmstadt. M. P. J. DILLON 1997. Pilgrim and Pilgrimage in Ancient Greece, London ± New York. F. DUNAND 1973. /HFXOWHG¶,VLVGDQVOHEDVVLQoriental de la MéditerUDQpH%G/HFXOWHG¶,VLV HW OHV 3WROpPpHV %G /H FXOWH G¶,VLV HQ *UqFH %G /H FXOWH G¶,VLV HQ $VLH 0LQHXUH. Clerge et rituel des sanctuaires Isiaques, EPRO 26, Leiden. J. R. ELSNER 1992. ÄPausanias. A Greek pilgrim in the Roman world³, Past and Present 135, 3± 29. DERS. 1996. ÄPast and present in Pausanias³, in: J. BINGEN (Hrsg.). Pausanias historien. Fondation Hardt, Entretiens sur O¶DQWLTXLWpFODVVLTXH*HQI 207±239. DERS. 2001. ÄStructuring µGreece¶3DXVDQLDV¶VPeriegesis as a Literary Construct³, in: S. E. ALCOCK, J. F. CHERRY, J. ELSNER (Hrsg.). Pausanias. Travel and Memory in Roman Greece. Oxford, 3±20.
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DIE EXEGETEN KOMMEN: GRIECHISCHE RELIGION IM FOKUS GELEHRTER AMBITIONEN. ANMERKUNGEN ZU PAUSANIAS ތPERIEGESE Christa Frateantonio 1. EINLEITUNG Das Kommen von Exegeten impliziert hier zweierlei, nämlich zum einen das signifikante ÃAufkommenµ von Exegeten unterschiedlicher Couleur in der Kaiserzeit, die vor allem Bilder, Texte und Monumente, aber unter anderem auch religiöse Bräuche deuten. Zum anderen ist das Kommen von Exegeten wörtlich zu verstehen und bezeichnet den Typus des gelehrten Reisenden. Der Autor Pausanias und sein Werk Periegese sind hier für beide Aspekte als exemplarisch anzusehen. Die vom Autor angelegten Wege durch Griechenland leiten den Leser auf einer ÃReise im Buchµ. Auswahlprinzipien seiner Beschreibung nennt der Autor Pausanias auf einer sehr unspezifischen Ebene. Er sagt nämlich lediglich, dass er eine Auswahl des wichtigsten getroffen habe,1 ohne exakt zu erläutern, welche seine Kriterien für die Selektion waren. Weil zX3DXVDQLDV¶Periegese weder ein Proöm noch ein erläuternder Schluss existieren, also keine explizite Selbstpositionierung des Autors gegenüber seinem Text, kann man annehmen, dass es sich um einen bewusst allusiv und geradezu verrätselt geschriebenen Text handelt. Bildung und damit die Fähigkeit zur Entzifferung der in der Periegese hergestellten Bezüge ist dabei eine Voraussetzung zur Perzeption des Textes, nicht ihr eigentliches Ziel. Ich halte es deshalb für problematisch, aller kaiserzeitlichen griechischen Literatur, in der Religion Thema ist, eine einzige funktionale Bestimmung zuzuschreiben, wie die augenblicklich prominente Auffassung, Religion sie für die Griechen in der Kaiserzeit, so wie Bildung, primär Identitätsstifter gewesen. GOLDHILL etwa sieht LQ GHP %HJULII GHU 3DLGHLD HLQ ÄEX]] ZRUG³ der Zweiten Sophistik; Bildung sei ein Vereinigungsmittel aller Gebildeten, besonders der Griechen untereinander, im Römischen Reich gewesen.2 BENDLIN weist differenzierend darauf hin, wie unterschiedliche Konzepte und Bedeutungen von paideía Äjenseits einfacher Zuschreibungen konstruiert, miteinander abgeglichen oder gar gegeneinander ausgespielt werden, und wie das Diskurselement Bildung 1 2
1,23,4; 1,35,5; 1,39,3; 3,11,1 u.ö. GOLDHILL, 2001, 15 hat zum Konzept der kulturellen Identität eine durchaus kritische Haltung eingenommen, da es ein Äterminus more familiar in fields outside classics³ sei. Seine Bemerkung (2001, 17), dass die griechischen Autoren der Kaiserzeit in der aktuellen Diskussion als Zeugnisse angesehen werden, die ermöglichen sollen zu verstehen, wie eine Gesellschaft im Wandel auf Druck und Spannung reagiert, impliziert eine kollektive Frustration der Griechen unter römischer Herrschaft.
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in den verschiedenen diskursiven und performativen Kontexten eine immer andere Bedeutung gewinnt³. Der Faktor Bildung sei eine privilegierte Form des symbolischen Kapitals, dessen sich die Mitglieder der kaiserzeitlichen Oberschichten in der Auseinandersetzung um Macht und Herrschaftslegitimation bedienen.3 Dies gilt m. E. auch für die Periegese, zum einen weil hier zwei verschiedene Wissensund Bildungskonzepte (theoretisch versus realienkundlich) gegeneinander ausgespielt werden bzw. das eine durch das andere mittels Inklusion überboten ist, zum anderen, weil Pausanias in der Figur des Exegeten dezidiert die Rolle eines besonders in Fragen der Religion gebildeten einnimmt und den ± ebenfalls gebildeten ± Leser führt und leitet. Etwa seit augusteischer Zeit (1. Jh. v./n. Chr.) ist die Bedeutung des Begriffes Exeget besonders mit religiösem Spezialistentum konnotiert (Strabo, Dionysius von Halikarnass, Plutarch, Philo von Alexandrien, Diodorus Siculus).4 Den mit Abstand häufigsten und konsequentesten Gebrauch von dem Begriff im Vergleich mit den erhaltenen Schriften anderer Autoren macht Pausanias. Pausanias verwendet den Begriff Exeget dezidiert, der Ausdruck Perieget erscheint kein einziges Mal im gesamten Werk. Auffallend ist zudem, dass Pausanias bei den Exegeten nie, wie sonst bei zahlreichen anderen Bezeichnungen fast immer, den Begriff variiert.5 Die Begriffsselektion Exeget einerseits und Begriffsvermeidung Perieget andererseits haben somit offenbar eine für das Selbstverständnis des Pausanias signifikante Bedeutung. Was er offensichtlich nicht sein wollte, war nur ein Perieget, schon gar nicht im kaiserzeitlichen Verständnis der gebildeten Elite. Angehörige der Elite sahen auf solche Führer herab, folgt man den Schilderungen Plutarchs.6 Den ahnungslosen Periegeten ist bei Plutarch die Gestalt des theologisch Gebildeten gegenübergestellt, der sich besser auskennt.7 BENDLIN meinte 3 4
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BENDLIN 2006, 179 f., am Beispiel der Pythischen Dialoge Plutarchs. Was genau der Inhalt der bei Athenaios von Naukratis, Deipnosophisten 11,473 (s.v. kadiskos) genannten Schrift Exegetikós des Autokleides (Frg. 13 MÜLLER) war, lässt sich nicht ermitteln. Dem bei Athenaios überlieferten Fragment ist lediglich zu entnehmen, dass Autokleides u.a. auch erklärte, wie eine Weihung an Zeus vollzogen werden soll. Seine Erörterung bezog sich nicht nur auf die Weihehandlung, sondern auch erforderliches Gerät und die Zusammensetzung der Opfergaben, in diesem Fall Ambrosia. Bei Dionysius von Halikarnass, de Lysia 7 wird Exeget im Sinne eines Erklärers rätselhafter oder obskurer Wendungen bei Thukydides und Demosthenes verwendet. Diodorus Siculus (2,29,3) sagt in seiner Beschreibung der Chaldäer u.a., dass diese schriftliche Exegesen von Vorzeichen und Träumen herausgegeben hätten. Vgl. STRID, 1976, 99; ENGELI, 1907, 8 f. Plutarch kontrastiert in seiner delphischen Schrift Weshalb die Pythia nicht mehr in Hexametern spricht die Periegeten genannten örtlichen Führer und deren Wissen mit dem Typus gebildeter und weitgereister Intellektueller (395B): ÄDie Führer (periegetai) gingen ihr vorgefertigtes Programm durch, ohne unserer Bitte Beachtung zu schenken, ihre Erläuterungen und Erklärungen zu den Inschriften kurz zu fassen. Die äußere Erscheinung und die künstlerischen Techniken der Statuen waren für den Fremden von geringerem Interesse; er war offensichtlich ein Kenner von Sehenswürdigkeiten.³ Vgl. die gleichen kritischen Hinweise auch in 396C und 397D. In derselben Schrift (394F) hatte er den auswärtigen Besucher folgendermaßen charakterisiert: ÄUnser Besucher (xenos) ist selbstverständlich sehr daran interessiert, die Sehenswür-
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sogar, dass der von Plutarch eigens konstruierte Kontrast zwischen den im Heiligtum anwesenden Pepaideumenoi und den vor Ort tätigen Periegeten dazu diente, zu zeigen, dass die Pepaideumenoi Fragen stellen, die von den Periegeten gar nicht beantwortet werden können.8 Man muss dann aus der Begriffsverwendung bei Pausanias schließen, dass er sich in der Periegese erst gar nicht mit solchen gewöhnlichen Periegeten unterhielt und abgab, sondern mit den Exegeten, mit denen er sprach, wahrscheinlich in der eigenen lokalen Geschichte besonders gebildete Einheimische meint ± denen er in jeder Hinsicht überlegen ist. 2. EXEGESE UND KULTURELLER KONTEXT DER PERIEGESE Pausanias bezieht sich auf die im 2. Jh. n. Chr. greifbaren Konzepte von Exeget und Exegese, sie sind Teil des kulturellen Kontextes, in dem seine eigene Selbstinszenierung als Exeget steht und durch die er sich durch seine Bezugnahmen als Exeget ausweist und seine Periegese als Exegese. Er steht damit anderen gebildeten Vertretern der griechischen Elite (ÃZweite Sophistikµ) sehr nahe, ja, ist m. E. sogar außerordentlich repräsentativ für sie. Formal eindeutig nimmt Pausanias an verschiedenen Stellen so wie andere Vertreter der Zweiten Sophistik, die sich selber Exegeten nennen oder ihre Beschreibungen Exegesen, deutende Beschreibungen einzelner Werke vor (z.B. Milonstatue, Nemesisstatue, Kypseloslade, Lesche der Knidier). Pausanias beschreibt darüber hinaus nicht nur diese oder andere einzelne Werke, wie es etwa Philostrat, Kallistrat oder auch Lukian getan haben, sondern ganz Griechenland. Anhand des Exegesebegriffes lässt sich ein Anspruch auf Weltdeutung greifen. Die auffallend häufige Verwendung des Begriffes Exeget in der Literatur des 2. Jh. n. Chr. kann man daher m. E. treffend mit LUHMANNs These zur internen Ausdifferenzierung religiöser Systeme korrelieren. Nach LUHMANN verlagert sich der Schwerpunkt der Religiosität im Religionssystem aus rituellen Praxen stets in übergreifende Glaubensfragen, die dogmatisiert, interpretiert und exegetisch respezifiziert werden müssen. Die Schwankungsbreite der Mythen und Deutungen, die in älteren, auf der Basis von Ritual und Kult identifizierten Religionen üblich und unschädlich waren, seien nicht länger tragbar, wenn die Religion durch höher generalisierte Symbole identifiziert werde. Das richtige Glaubensverständnis müsse zum Streitpunkt werden, dessen Entscheidung die weitere Dogmenentwicklung vorantreibe.9 Hierbei bedient sich Pausanias einer speziellen Kulturtechnik, dem Rätsel. Bei der deutenden Beschreibung spielt das Element der Verrätselung eine tragende Rolle, die sich an die Rezipienten richtet. Zur Beantwortung (= Lösung) des Verrätselten werden bei ihm Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten und die Fä-
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digkeiten zu betrachten, außerdem ein ungewöhnlich eifriger Zuhörer. Noch viel mehr ist er aber ein Lernender (philomates).³ In Abschnitt 395 betont Plutarch mehrfach die Diskussionsfreude und das Interesse an theologischen Fragen des ortsfremden Besuchers. Zur Kritik Plutarchs an den delphischen Periegeten siehe auch JONES, 2001, 37. BENDLIN, 2006, 173 f. LUHMANN, 1977, 108 f.
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higkeit zur Imagination vorausgesetzt. Wer das Rätsel stellt, ist im Wissen überlegen und der Ratende muss durch Lösung seine Ebenbürtigkeit erst beweisen.10 Die vom Leser erwartete Enträtselung in der Periegese besteht zum einen darin, dass er erkennt, dass es sich um eine deutende Beschreibung (Ekphrasis, Exegese) handelt, zum anderen, dass er errät, wofür das Beschriebene in bezeichnender Weise stehen soll. Der Leser soll den semiotischen Gehalt des Beschriebenen (theoremata) erkennen, der seinerseits eine Aussage über die beschriebenen Griechen vermittelt, die Pausanias durch entsprechende Ausführungen (logoi) expliziert oder auch nur andeutet. Dass Pausanias hier vor allem mit und auf einer religiösen und mythologischen Ebene argumentiert, zeigt, wie eng Religion und griechische Identität in der Kaiserzeit verbunden und Teil der ÃKulturµ waren. Im Anschluss an KAIVOLA-BREGENHØJ beziehe ich mich hier besonders auf ihr Konzept des kognitiven Kontextes, den sie als Sub-Kontext des kulturellen Kontextes definiert hat:11 Angewendet auf das Verständnis der Periegese des Pausanias, soll der Leser nicht nur die Haupt- oder Leitfragen der Periegese beantworten, sondern auch die argumentativen Muster, verwendeten Texte und visuellen Strategien erkennen bzw. erraten, mit denen er als Autor arbeitet. Geht man von JOLLES aus, der die Tätigkeit des Ratenden mit dem Wort Äenträtseln³ bezeichnet hat, ist das Augenmerk hierbei auch auf den Aspekt der Verrätselung zu richten. Mit Äverrätseln³ bezeichnet er die Tätigkeit desjenigen, der das Rätsel aufgibt. Als Absicht und Zweck der Verrätselung hat JOLLES eine Prüfung des Ratenden, d.h. eine ÄUntersuchung seiner Ebenbürtigkeit³ bestimmt.12 Die Aufgaben, die in diesem Sinn dem Leser gestellt werden, beziehen sich darauf, was und wie verrätselt und damit zu erraten ist.13 Übertragen auf die Periegese handelt es sich primär um die Wiedererkennung eines gewählten Vorbildes (Polemon von Ilion), die Wahl der wissenschaftlichen Methode (ÃRealienkundeµ und Ãdokumentarischeµ Ekphrasis) und die gewählte Sprecherrolle des Exegeten, sekundär um das Entschlüsseln des semiotischen Gehaltes des Beschriebenen (ÃEmblematikµ)14 und schließlich die Wiedererkennung bzw. Kenntnis der von Pausanias verwendeten Texte (ÃKompilationµ und Kommunikation zwischen poeta doctus und lector doctus). Nach GRZYBEK müssen in die Beschreibung und Definition von Rätseln, d.h. hier der Verrätselung auch funktionale Aspekte ein10 11 12 13 14
H.A. GÄRTNER, s.v. Rätsel, DNP 10, 754. KAIVOLA-BREGENHØJ, 2001, 93. JOLLES, 19582, 134. JOLLES, 19582, 137: Gegenstände der Verrätselung. 140: Formen der Verrätselung. Ich verwende den Begriff hier in keinem systematisch-theoretischen Sinn. Er scheint mir jedoch am ehesten auf die in der Periegese verwendete Strategie des Gegenstand- und Bilderrätsels zu passen. Im Lexikon der Kunst, Leipzig 1968, Bd. 1, 615±616, 615 (ohne Autorangabe) wird als Definition von Emblematik angegeben: allegorisierende intellektualistische Kunstübung, die durch eine sinnverhüllende und zugleich ausdeutende Kombination von Bild und Wort charakterisiert ist. In ihrer strengen Form enthalten die Embleme drei Elemente: Lemma (Motto) und Icon (allegorisierenden Bildbestandteil), die beide zu einem Rätsel vereinigt werden, dessen Auflösung durch das dritte Element, das Epigramm ermöglicht wird, dessen allgemeingültige Moral wiederum kunstvoll verschleiert wird.
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gehen.15 Es kommt dabei darauf an, die Fragen nach dem Kontext der Rätselverwendung und nach der historischen Funktion des Rätsels in seiner kulturellen Tradition explizit zu verfolgen. Aus dieser Perspektive ist bedeutsam, wer unter welchen Umständen Fragen bzw. Rätsel stellen und damit das Recht beanspruchen darf, eine Antwort zu erhalten.16 Letzteres durfte zu allen Zeiten nur ein ÃWissenderµ, bezogen auf die griechische Kultur also ein Weiser, Gelehrter, Philosoph. Unter diesem theoretischen Gesichtspunkt liegt eine Verbindung zur Zweiten Sophistik und hier besonders zur Figur des Exegeten nahe. In welcher Tradition steht Pausanias damit? DAWSON hat die Entstehung beschreibender und damit zugleich exegetischer Diskurse im Hellenismus angesetzt und als den Beginn der ÄGeschichte der Interpretation³ (history of interpretation) klassifiziert.17 Mit GOLDHILL sehe ich ihre Voraussetzung in der von ihm so bezeichneten ÄKultur des Sehens³, die besonders in der Kaiserzeit bei den Ekphrasen und Exegeten eine sehr wichtige Rolle spielt und Teil des kulturellen Kontextes ist, in dem sie steht. Es handelt sich seit dem Hellenismus hier um die Beschreibung von Objekten profaner, vor allem aber religiöser Art einerseits und andererseits um ihre Deutung und Interpretation. Die so entstandenen Kommentare zu Kunstwerken lassen sich nach GOLDHILL nicht hinreichend als Ekphrasis oder Beschreibung definieren, denn sie zeigten den Blick des Gelehrten auf ein Kunstwerk, d.h. ihn als sehendes Subjekt. Die selbstbewusste und selbstreflexive Dramatisierung des Sehens ± Äseeing oneself seeing³ ± sei ein fundamentales Element hellenistischer Ekphrasis, das durch die übliche Charakterisierung als Beschreibung ignoriert werde. Es handele sich um den Zeitpunkt, wo das Museum und die Kunstsammlung privilegierte Räume des Sehens wurden und sich professionelle Betrachter und Exegeten als eigene Gruppe von Spezialisten (caste) entwickelt hätten.18 Als häufiges Sujet von antiken Ekphrasen, schon bevor die Gattung als solche ausgebildet ist, hat auch GRAF die Kunstwerke benannt. GRAF verweist dabei auf einen weiteren Aspekt, nämlich die im Hellenismus entstehende Tradition der allegorischen Bild- und Mythendeutung. Antike Bilder waren in den meisten Fällen Darstellungen von Mythen und wurden als Träger versteckter, unter einer ersten Oberfläche liegender Inhalte verstanden. Man habe sich nach und nach daran gewöhnt, in den Bildern eine tiefere Bedeutungsschicht zu suchen (vor allem durch allegorische Deutung). Der gleiche Prozess zeichnet sich für Götterstatuen ab, da besonders in der Kaiserzeit intensiv darüber diskutiert wurde, inwieweit Kultbilder Aussagen über die Natur des Göttlichen machen könnten.19 Die Relevanz der hellenistischen Schriften für die Periegese besteht einerseits in der Entfaltung exegetischer Diskursformen (Beschreibung von religiösen Objekten und ihrer Deutung) derer Pausanias sich bedient, andererseits in der Etab15 16 17 18 19
GRZYBEK, 1987, 11. GRZYBEK, 1987, 32 f. DAWSON, 1997, 17 als Teil der Etablierung der hermeneutischen Tradition des Westens. GOLDHILL, 1994, 205. GRAF, 1995, 148.
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lierung neuer Mythenversionen; letztere werden bei Pausanias vielfach Anlass für eine kritische Diskussion des Wahrheitsgehaltes in der Gegenüberstellung von alten (Ãrichtigenµ) Überlieferungen zu neueren (Ãverkehrtenµ) Versionen. 3. 3$86$1,$6¶6(/%67,16ZENIERUNG ALS HYPER-EXEGET Dass Begriff und Person des Exegeten für Pausanias eine besondere Bedeutung besaßen, war bereits von KALKMANN und GURLITT vermerkt worden und wurde kürzlich auch von JONES wieder diskutiert.20 GURLITT sah den Begriff der Exegese als für das Verständnis der Periegese wesentliches Element: Man habe es nicht mit einem periegetischen Werk in der Bedeutung des Wortes zu tun, wie es GURLITTs Ansicht nach aus Polemons Schriftstellerei abstrahiert werden könne, sondern, in Pausanias eigener Terminologie, der selbst seine Darstellung exegesis, seine Führer stets exegetai, nie periegetai nennt, mit einem exegetischen Werk, welches für die erwähnten Sehenswürdigkeiten gleich wie die Periegesen, theorémata, Anschauung voraussetze, zu denen lógoi hinzugefügt seien, die für den Schriftsteller das wichtigere gewesen seien.21 Pausanias setzt sich differenziert zu den Exegeten, die er in seinem Werk nennt, in Beziehung, zumeist in herablassender Weise. Unter dem werkimmanenten Gesichtspunkt bezeichne ich die von ihm gewählte Sprecherrolle im Folgenden daher als ÃHyper-Exegetµ. Mit ihr markiert er seinen Deutungsanspruch nicht nur, sondern macht seine deutenden Beschreibungen zugleich authentisch und plausibel. Für die Authentizität und Plausibilität lege ich das von HATTENDORF verwendete kommunikationstheoretische Modell des Dokumentarfilms zugrunde, wonach nicht eine objektiv bestimmbare Wahrheit, sondern die Kategorie der Glaubwürdigkeit eine herausragende Bedeutung für die Entscheidung hat, ob einem Film (hier: einer Beschreibung) Authentizität zugesprochen wird oder nicht.22
20 KALKMANN, 1886, 48: ÄWährend der spätere Sprachgebrauch zwischen exegetes und periegetes schwankt, Lukian aber (ver. hist. 2,31) und Plutarch in seiner Schrift über das Delphische Orakel die einfältigen und redseligen Herumführer Periegeten nannte, gibt doch Pausanias der Perieget stets dem Wort exegetes den Vorzug, dessen dunkele Reminiszenz an die Wundermänner enypnion exegetai (5,23,6), für ihn einen geheimnisvollen Zauber hat.³ KALKMANN vermutet auktoriale Selbstaufwertung und Hang zum Archaismus als Gründe für Pausanias. JONES, 2001, 33 fiel ebenfalls auf, dass Pausanias den Begriff Exeget immer benutzt und Perieget nie. Er sieht in dem Gebrauch des Begriffs Exeget statt Perieget durch Pausanias ein weiteres Zeugnis für den Archaismus, dem Pausanias huldige (Äold-fashioned³: JONES, 2001, 39). 21 GURLITT, 1890, 8 f. 22 In einer kommunikativen Handlung ist die Frage der Authentizität grundsätzlich an mindestens fünf Bedingungen geknüpft: 1. Die Echtheit des Ereignisses oder der Sache, auf die sich die Kommunikation bezieht, 2. die Glaubwürdigkeit des Autors, 3. die Glaubwürdigkeit der Vermittlung (Gestaltung der Kommunikation), 4. die Akzeptanz beim Rezipienten (Wirkung) und 5. die Rezeptionsbedingungen (HATTENDORF, 19992, 19).
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Wenn Pausanias sich als ÃHyper-Exegetµ in Szene setzt, belehrt er vielfach lokale Exegeten und weiß fast immer mehr als sie.23 Wenn sie seiner Ansicht nach nichts, wenig oder das Verkehrte wissen, präsentiert er eigenes Wissen oder Überlegungen. Es ist weder zu ersehen noch wahrscheinlich, dass die von Pausanias ÃExegetenµ genannten Personen ein Amt mit einem entsprechenden Titel führten, wie dies anhand von Inschriften nur nachweisbar für Delphi, Olympia und Alexandria (Ägypten) ist.24 Neben Delphi und Olympia hat es aber auch andernorts Exegeten genannte Personen in Griechenland und Kleinasien gegeben, und zwar solche, die ihre lokale Geschichte und Kultgeschichte mehr, vor allem aber minder gut kannten, folgt man dem Sprachgebrauch bei Pausanias. In seiner Bewertung der von ihm geschilderten Exegeten lässt sich eine ÃWellenbewegungµ und Hierarchisierung der Griechen beobachten, die z.B. auch in seinen Mysterienbeschreibungen greifbar ist: Keine Kritik an Athen, dafür bis auf die Ausnahme Messenien, an fast allen anderen, besonders im 2. Buch (Argolis).25 Dies zeigt der Blick auf die Verwendung des Begriffs in der Reihenfolge der einzelnen Bücher. Im 1. Buch (Attika) in Athen begegnet Pausanias keinen Exegeten genannten Personen ± und es findet sich dort auch keine als falsch diskreditierte Überlieferung. Er bezieht sich dort vorzugsweise auf Priester.26 Wo Pausanias lokalen Überlieferungen in Athen nicht zustimmt, hat er es gar nicht kenntlich gemacht, sondern diese Varianten einfach unterschlagen. Pausanias äußert sich im 1. Buch (Attika) in Athen kritisch nur zu einer von einer athenischen Variante abweichenden argivischen Überlieferung (Todesumstände des Pyrrhos). Die zweifelhafte Rolle hat dabei dementsprechend ein von Pausanias erwähnter argivischer Exeget (Lykeas): Entweder schrieb er ein Gedicht, um eine falsche argivische Version postum zu legitimieren, oder aber er schrieb ein Gedicht, das erst der Anlass wurde für eine von der athenischen Version abweichende, verkehrte Fassung zum Tod des Pyrrhos.27 Bei der nächsten Gelegenheit, bei der Pausanias von Exegeten spricht, handelt es sich um die Exegeten des Demos Athmonia, die über ihre eigenen Götter nicht oder nicht hinreichend informiert zu sein scheinen. Hier weiß Pausanias mehr bzw. tut seine eigenen Überlegungen kund (1,31,4±5): Athmonia verehrt die Artemis Amarysia. Bei meinen Nachforschungen entdeckte ich, dass die Exegeten nichts über diese Götter [sc. Demeter Anesidora, Zeus Ktesios, TithroneAthena, Anm. der Verfasserin] wussten; ich gebe also meine eigenen Erklärungen.
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So auch JONES, 2001, 36. Dazu ausführlich JONES, 2001, 37. Vgl. FRATEANTONIO, 2007, 80 ff. 1,22,3 (Athen): ÄDort ist auch ein Heiligtum der Ge Kourotrophos und der Demeter Chloë. Was es mit ihren Beinamen für eine Bewandtnis hat, kann man bei den Priestern im Gespräch erfahren.³ 27 1,13,8 (Athen): ÄEs wird erzählt, sein Tod [sc. des Pyrrhos, Anm. der Verfasserin] sei durch den Steinwurf von einer Frau verursacht worden. Die Argiver erklären, dass es nicht eine Frau, sondern Demeter in der Gestalt einer Frau war, die ihn tötete. Das ist also, was die Argiver über sein Ende erzählen und Lykeas, der Exeget für die Umgebung hat ein Gedicht geschrieben, das diese Version bestätigt.³
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Bei der dritten Erwähnung eines Exegeten, ebenfalls im 1. Buch (Attika), kommt abermals ein nichtattischer Exeget ins Spiel, der von Pausanias mehr oder minder offen einer Fälschung bezichtigt wird. Wieder handelt es sich um Dichtung bzw. ein Gedicht; dieses gefällt, und daher scheint die Authentizität der Überlieferung keine Rolle zu spielen.28 Das Motiv der unwissenden oder genauer die Wahrheit beugenden Exegeten wird wenig später erneut im 1. Buch (Attika) aufgegriffen. Diesmal sind es lydische Exegeten, deren Halbwissen von Pausanias in einer Einblendung enttarnt wird (1,35,8):29 [Salamis mit sogenanntem Exkurs zu Lydien bzw. den Türen des Temenos: Nach einem Unwetter wurden übergroße Knochen eines Körpers sichtbar, woraufhin sich die Geschichte verbreitet, dass es sich um die Gebeine des Geryon, Sohn des Chrysaor handele; es setzt ein regelrechter Tourismus ein. Auch Pausanias ist vor Ort gewesen, Anm. der Verfasserin]: Als ich diese Darstellung kritisierte, und klarstellte, dass Geryon in Gadeira sei, wo sich nicht sein Grab, sondern ein Baum befinde, der verschiedene Schattenformen wirft, erzählten die Exegeten die wirkliche Geschichte: dass nämlich der Körper derjenige des Hyllos sei, ein Sohn der Gaia, von dem der Name des Flusses herrührt. Sie sagten aber auch, dass Herakles seinen Sohn aus der Verbindung mit Omphale Hyllos nach dem Fluss benannte.
Die beiden nächsten Erwähnungen von Exegeten befinden sich ebenfalls im 1. Buch (Attika) und beziehen sich beide auf Megara. Im ersten Fall ist über den Exegeten nur gesagt, dass er Pausanias führt,30 im zweiten Fall sind Megaras Exe28 1,34,4 (Heiligtum und Orakel des Amphiaraos in Oropos): ÄWenn jemand aufgrund des Orakels von einer Krankheit geheilt wurde, wirft er ein silbernes oder goldenes Geldstück in die Quelle, weil es auf diese Weise, wie sie sagen, Amphiaraos ebenfalls tat, nachdem er zum Gott wurde. Iophon aus Knossos, einer der Exegeten, hat Orakel in Hexametern herausgegeben, von denen er behauptet, Amphiaraos habe sie den gegen Theben ziehenden Argivern erteilt. Diese Gedichte vermögen die Menge im höchsten Masse anzuziehen.³ 29 KALKMANN, 1886, 24 hat diese Passage m. E. einseitig als Paradoxographie interpretiert, in der ÄBeispiele von Funden unmenschlich großer Gerippe aufgezählt werden³. Pausanias versteige sich hier auch zu förmlichen Verhandlungen mit Einheimischen: Mit einem Myser über die Gebeine des Aias, dessen Grab in Folge der Bespülung des Meeres von der Seeseite leicht zugänglich gewesen sei (...), später mit Lydern über den Fund eines riesengroßen Gerippes. Interessant scheint mir KALKMANNs Hinweis auf die Parallele zu Philostrat (1886, 25): ÄDas Beispiel von Aias findet sich auch bei Philostratos (Heroikos 2,3), und zwar als erstes; hier geschieht ebenfalls der Bespülung des Grabes durch das Meer, was den Anlass zur Auffindung der Gebeine gab, Erwähnung. Die Gebeine, heißt es, habe Hadrian wieder beerdigen und das jetzige Grab aufführen lassen. Der Winzer lässt hierfür seinen Großvater eintreten, Pausanias für die Größe des Skelettes den mysischen Mann, der also ein recht ansehnliches Alter erreicht haben müsste. Auch dem zweiten von Pausanias angeführten Fund begegnen wir bei Philostratos; ihn spielt der Winzer als starken Trumpf dem Phönizier gegenüber aus (2,7). (...) Es ist klar, dass die Kompilation beider, des Philostratos und des Pausanias, auf verwandte Vorlagen zurückgeht; der Sophist ist von dem Periegeten unabhängig, weil dieser Lydien, jener dagegen Phrygien als Fundort angibt.³ KALKMANN hatte bereits erkannt, dass Pausanias in die Rolle eines ÃHyper-Exegetenµ schlüpft, jedoch nicht nach Sinn und Zweck einer solchen Selbstinszenierung gefragt, sondern stattdessen Kompilation vermutet. 30 1,41,1±2 (Megara): ÄVon hier aus führte mich der Exeget zu einem Platz, der, wie er sagt, Rhys (Strom) heißt, weil einst hier das Wasser aus den Bergen über der Stadt zusammengeflossen sei.³
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geten eine nicht spezifizierte Gruppe, die über das Heiligtum der Athena-Aiantis entweder nichts wissen oder darüber nichts geschrieben ist oder beides. Wie dem auch sei, Pausanias füllt nun diese Lücke.31 Die erste Erwähnung von Exegeten im 2. Buch (Argolis) rückt die sikyonischen Exegeten in ein eigenartiges Licht. Das Heiligtum bezeichnet Pausanias als ohnehin nicht sehenswert, die Exegeten kennen zwar das Kultaition, aber, obwohl sie den Baum, dessen Rinde in diesem Aition eine wesentliche Rolle spielt, unmittelbar vor Augen haben, wissen sie nicht zu sagen, um was für eine Sorte es sich handelt.32 Pausanias kommentiert diese Unwissenheit nicht, hebt sie aber eigens hervor. ± Soll der Leser daraus schließen, dass die sikyonischen Exegeten entweder einfältig oder nur botanisch nicht ausreichend gebildet sind? Jedenfalls scheint mir der letzte Satz (ÄJenes Holz lag im Heiligtum des Lykios. Um was für einen Baum es sich handelte, wussten selbst die Exegeten der Sikyonier nicht³) angehängt, weil weniger etwas über das Aition, sondern eher etwas über die sikyonischen Exegeten gesagt werden soll. Das zeigt sich m. E. daran, dass Pausanias eine zweite solche Ãbotanische Leerstelleµ im Wissen der Exegeten der Sikyonier eingefügt hat, wo er seine eigene botanische Kompetenz der Inkompetenz der Sikyonier gegenüberstellt. In 2,10,6 berichtet er nämlich von den Steineichen im Bezirk des Artemisheiligtums mit einer exakten Erörterung, wie die Steineiche aussieht. Vorangegangen war in seiner Beschreibung der Bericht der einheimischen Überlieferung, die ÄSteineiche wachse nur hier, in keinem anderen Land, auch nicht im Gebiet von Sikyon³. Konterkariert ist diese Überlieferung nur wenig weiter unten im Text (2,11,4) auf dem Weg Richtung Titane und noch auf dem Gebiet Sikyons. Dort befindet sich, wie Pausanias bemerkt, und zwar inmitten eines Steineichenhains (!), ein den Sikyoniern gehöriges Eumenidenheiligtum. Auch die beiden folgenden Erwähnungen von Exegeten befinden sich im 2. Buch (Argolis) und stellen die Kenntnisse dieser ortsansässigen Experten in Frage bzw. fest, dass sie nichts wissen; zunächst in Argos, in der Argumentation ÃWer hat das Palladion?µ und dann in Troizen. Pausanias schreibt wiederum so, als könne und müsse er diese Defizite beheben.33
31 1,42,4 (Megara): ÄEs gibt noch eine anderes Heiligtum hier, und zwar das der Athena Nike sowie ein drittes der Athena Aiantis. Über das letztgenannte haben die megarischen Exegeten gar nichts berichtet, aber ich will schreiben, was ich für das darüber Richtige halte.³ 32 2,9,7 (Sikyon): ÄIn der Nähe ist ein Heiligtum des Apollon Lykios, schon eingestürzt und in keiner Weise sehenswert. Als nämlich Wölfe ihnen in die Herden eingefallen waren, so dass sie keinerlei Ertrag von ihnen hatten, da zeigte ihnen der Gott einen Ort, an dem ein Stück trockenes Holz lag. Die Rinde dieses Holzes befahl er ihnen zusammen mit dem Fleisch den Tieren vorzuwerfen. Und sobald diese davon gefressen hatten, brachte sie die Rinde umgehend um. Jenes Holz lag im Heiligtum des Lykios. Um was für einen Baum es sich handelte, wussten selbst die Exegeten der Sikyonier nicht.³ 33 2,31,4 (Troizen): ÄIn der Nähe des Theaters ist ein Tempel der Artemis Lykeia, der von Hippolytos gebaut wurde. Über die Epiklese konnte ich von den Exegeten nichts erfahren. Ich gelangte zu der Ansicht, dass die Gründe für den Beinamen entweder die Tatsache ist, dass Hippolytos die Wölfe vernichtete, die das Land von Troizen verwüsteten oder weil Lykeia der Beiname der Artemis bei den Amazonen ist, von denen Hippolytos durch seine Mutter
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Anders nimmt sich die einzige Erwähnung von Exegeten im 4. Buch (Messenien) aus,34 wo sich Pausanias nicht kritisch gegenüber den Kenntnissen der Exegeten äußert; hier stellt er sich auf die gleiche Höhe mit den einheimischen Experten.35 Kaum überraschend dürfte sein, dass im 5. Buch (Elis I) mit den elischen Exegeten und vor allem den Exegeten in Olympia am häufigsten von allen Büchern der Periegese genannt werden. Das Amt Exeget ist hier nämlich ausnahmsweise auch außerhalb der Periegese inschriftlich bezeugt.36 Zum Amt selber sagt Pausanias dort, wo er es nennt, nichts in der Art, was sonst mit Exegeten assoziiert wird; er beschränkt sich auf die Angabe einer speziellen Tätigkeit im Rahmen der Opfer, die regelmäßig in Olympia dargebracht werden.37 Erst bei seiner ausführlichen Schilderung der Kypseloslade tritt er hervor und setzt sich in Beziehung zu den vor Ort befindlichen Exegeten, die Bilder in einer speziellen Weise deuten. Hier liegt also ein Ãklassischesµ Exegesemotiv vor. Pausanias gibt zunächst scheinbar nur ihre Erklärungen wieder, doch stellt sich bald heraus, dass er es auch hier besser weiß und die elische Geschichte gar für unberühmt hält, deren Darstellung die Exegeten in die Abbildungen des bekannten Kunstwerkes seiner Ansicht nach lediglich hineinprojiziert haben.38 Das nächste Mal, wenn Pausanias die Exegeten von Olympia nennt und sich zugleich zu ihren Kenntnissen in Beziehung setzt, stellt er sich eingangs wiederum mit ihnen auf eine (Experten-)Ebene, geht aber anschließend über das von ihnen berichtete hinaus, wenn er ihnen einen Irrtum in der Chronologie der Sieger
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abstammte. Vielleicht gibt es aber auch eine andere Erklärung, die mir nicht bekannt ist.³ Dazu ausführlich Frateantonio, 2007, 60 ff. Im 3. Buch (Lakonien) werden keine Exegeten erwähnt. 4,33,6 (Karnasischer Hain): ÄAm Hain fließt ein Fluss vorbei; etwa acht Stadien entlang der Straße nach links sind die Ruinen von Andania. Die Exegeten sagen übereinstimmend, dass die Stadt ihren Namen von einer Frau mit Namen Andania hat. Über ihre Eltern oder ihren Ehemann kann ich aber nichts berichten.³ JONES, 2001, 37. Für meine Analyse nicht relevant ist 5,6,6 (Skillous), da Pausanias sich hier nicht in Beziehung zu den Exegeten setzt, sondern sie als Quelle einer Überlieferung zu Xenophon genannt sind, die durch die Anwohner Bestätigung findet. 5,15,10 (Olympia): ÄDie Opfer liegen in der Obhut eines Priesters, der sein Amt für einen Monat inne hat, bei Zeichendeutern, Weihegießern, Exegeten, einem Flötenspieler (Aulet) und Holzholer.³ 5,18,6 (Olympia, Kypseloslade): ÄDer Großteil der Soldaten geht zu Fuß; er gibt auch einige Ritter auf Zweispännern. Bei den Soldaten kann man vermuten, dass sie zur Schlacht ziehen, sich jedoch erkennen und gegenseitig grüßen. Dazu werden zwei verschiedene Erklärungen von den Exegeten gegeben. Die einen sagen, es seien die Aitoler mit Oxylos und die alten Eleer, und sie begegneten sich in Erinnerung ihrer ursprünglichen Stammesverwandtschaft und ihr Wohlwollen gegeneinander zeigend. Die anderen sagen, die Heere zögen in den Kampf und es seien die Pylier und Arkader, die bei der Stadt Pheia und am Fluss Iardanos kämpften. (7) Das wird man aber wohl durchaus nicht glauben, dass der Vorfahr des Kypselos, der Korinther war und die Lade als Besitz für sich machen ließ, von sich aus die einheimischen Überlieferungen der Korinther überging und dafür auf der Lade fremde und auch sonst unberühmte Ereignisse darstellte. Mir ist selber folgende Vermutung gekommen: [...]³
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nachweist.39 Von den übrigen Stellen in der Periegese,40 in denen Pausanias nicht nur Exegeten erwähnt,41 sondern sich zu ihnen in Beziehung setzt, ist noch der Exeget von Plataiai im 9. Buch (Boiotien) zu nennen, dem Pausanias, wie schon den Exegeten in Olympia, Probleme mit der Kenntnis der eigenen, d.h. einheimischen Chronologie, hier im Hinblick auf das Fest der Daidala nachweist.42 Die letzte Erwähnung von Exegeten vor Ort findet sich im 10. Buch (Phokis). Hier ist die Kritik an ihren Ausführungen gegen ihre Glaubwürdigkeit gerichtet, denn Pausanias verweist auf die wesentlich weniger spektakuläre Version in den alten Epen.43 4. DIE PERIEGESE IM KONTEXT KAISERZEITLICHER EXEGESEN UND EKPHRASEN Durch die in allen Büchern hindurch realisierte Selbstinszenierung als HyperExeget gibt Pausanias dem Leser auf einer unmittelbaren Ebene zu verstehen, dass er umfassende Kenntnisse hat, die in der Mehrzahl der Fälle deutlich über die Kenntnisse lokaler Exegeten hinausgehen.44 Die Einnahme der Rolle des Exegeten hat aber noch weitere Implikationen für das Verständnis seine Beschreibung Griechenlands, und zwar dass sie insgesamt als Exegese aufzufassen ist. Dies legt 39 5,21,8 (Olympia): ÄDie beiden Bildnisse, die neben denen stehen, die ich bisher beschrieben habe, wurden mit den Mitteln aus einer Strafe geweiht, die die Ringer bezahlen mussten. Was die Namen betrifft, so wusste weder ich noch die Exegeten sie. (...) (9) Im Übrigen geben die Exegeten der Eleer in Bezug auf diese Ringkämpfer an, es sei die 178. Olympiade und Eudelos habe von Philostratos Geld bekommen und dieser Philostratos sei Rhodier. Ich fand aber, dass die Aufzeichnungen der Eleer über die Olympiasieger von dieser Angabe abweichen. Denn in diesen Listen steht, dass Straton von Alexandreia an der 178. Olympiade am selben Tage den Sieg im Pankration und Ringkampf errungen habe.³ 40 Die nächste und letzte Erwähnung von Exegeten kann wiederum außerhalb der Betrachtung bleiben, da sie sich nicht auf die Exegeten von Olympia bezieht, sondern (in einer Einblendung) Äbarbarische³ Exegeten von Wunderzeichen und Träumen aus Sizilien (5,23,6). 41 Außer Betracht bleiben hier 7,6,5 (Patrai): ÄDer Exeget von Patrai sagte, dass der Ringer Chilon der einzige Achaier gewesen sei, der an der Schlacht von Lamia teilgenommen habe³ und 10,10,7 (Delphi ± Spartiate Phalanthos in Tarent): ÄZunächst analysierte er das Orakel weder selbst, noch informierte er einen seiner Exegeten, sondern fuhr einfach mit seinen Schiffen nach Sizilien.³ 42 9,3,3 (Plataia): ÄDie Plataier feiern das Fest der Daidala alle sechs Jahre nach Aussage des Exegeten für das Umland; in Wirklichkeit jedoch findet das ganze in kürzeren Intervallen statt. Ich habe mich sehr bemüht, das Intervall zwischen einem Daidalon und dem nächsten exakt zu berechnen, aber es gelang mir nicht.³ 43 10,28,7 (Delphi): ÄOberhalb der Figuren, die ich bereits aufgezählt habe, kommt Euronymos, der nach den Exegeten in Delphi einer der Dämonen des Hades sein soll, und zwar der, der das ganze Fleisch von den Körpern frisst und nur die Knochen übrig lässt. Aber Homers Odyssee, das Gedicht des Minyas und die Nostoi, obwohl sie vom Hades und seinen Schrecken erzählen, kennen keinen Dämon namens Euronymos. Wie auch immer, ich werde beschreiben, wie er aussieht und wie seine Haltung auf dem Bild ist.³ 44 Die Ausnahmen sind Athen, für das keine Exegeten genannt werden und Messenien, an dessen Exegeten Pausanias keine Kritik übt.
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vor allem der Vergleich mit zeitnahen Autoren von Beschreibungen (Ãexegetische Ekphrasenµ) nahe. Formal eindeutig nimmt Pausanias an verschiedenen Stellen, ganz so wie Vertreter der Zweiten Sophistik, die sich selber Exegeten nennen oder ihre Beschreibungen Exegesen, deutende Beschreibungen einzelner Werke vor. Pausanias sagt an keiner Stelle explizit, dass und inwiefern er sich selber als Exeget versteht und seine Periegese als Ekphrasis im Sinne einer deutenden Beschreibung. Doch lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachweisen, die die Nähe zu zeitgleichen Auffassungen von Exeget/Exegese und Ekphrasis bei Pausanias und anderen griechischen Autoren zeigen. Pausanias beschreibt und deutet aber nicht nur einzelne Bildwerke (Monumente), seien diese nun religiöser oder profaner Art, sondern auch Landschaften und handelnde Personen (ÃGeschichteµ). Man sieht sich daher in der Periegese mit einer weitaus größeren Vielzahl und Unterschiedlichkeit von beschriebenen Objekten konfrontiert als bei anderen Autoren (ÃExegetenµ) der Kaiserzeit, die sich jeweils mit nur einem Gegenstand befassen. Pausanias hat seiner Darstellung ein breiteres Spektrum von deutender Beschreibung zugrunde gelegt, was einem universalen Deutungsanspruch auf das Beschriebene gleichkommen muss. Das Werk umfasst neben Monumenten auch Landschaften, Personen, Handlungen (militärische = Kriege, politische = historische Ereignisse, religiöse = Kulthandlungen, Prozessionen etc.). Pausanias betreibt Exegese an verschiedenen Stellen der Periegese in der gleichen Manier, wie sich im Vergleich mit diversen Autoren zeigt, die man der Zweiten Sophistik zurechnet.45 Ich bezeichne diese deutende Beschreibung im Vergleich zu den Intentionen zeitgleicher Beschreibungen dem Anspruch und der Form nach als Exegese. Wie an der Sprecherrolle des Hyper-Exegeten bereits greifbar wurde, inszeniert Pausanias überlegenes Wissen und Führung. CHANIOTIS hat beides als Teil der ÄVerantwortlichkeit der Angehörigen der griechischen Elite³ bezeichnet.46 Diese Begriffe setzten ein Publikum, Adressaten voraus: Leute, die geführt werden, Zuschauer bei Vorführungen und diejenigen, die am kulturellen Gedächtnis teilhaben. Aber nicht nur die Durchführung und Regelung religiöser Angelegenheiten ist mit CHANIOTIS ein vielschichtiger Prozess gewesen, in dem Religiosität nur einer von vielen Faktoren war, sondern darüber hinaus auch ihre deutende Beschreibung. Obschon die ÃFrömmigkeitµ des Pepaideumenos immer explizit beschworen wird, war sie nur ein, allerdings wichtiger Teil eines sozialen Spiels. Man muss unter diesem Aspekt Religion und die Einnahme religiös konnotierter Rollen als Teil einer kulturellen griechischen Tradition sehen. Die Pose des Rätsellösers und Deuters von Bildern wird in der Literatur besonders häufig seit dem 2. Jh. n. Chr. eingenommen, so von Philostrat im Proöm zu den Eikones. Dass es sich bei seinen Bildbeschreibungen um eine didaktische Unterweisung handelt, macht er durch das Auftreten des zehnjährigen Knaben, Sohn des Gastfreundes von Philostrat, deutlich, welcher mit der Bitte an ihn herantritt, ihm die Bilder zu erklären. In den nachfolgenden Erörterungen des Philostrat wird sodann verschie45 Schon GURLITT, 1890, 36 f. hatte diese und andere Ähnlichkeiten im Gestus dargestellt. 46 CHANIOTIS, 2003, 190; er zählt dazu auch die Performanz.
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dentlich auf ein in den Bildern enthaltenes Rätsel (ainigma) hingewiesen, das der Autor versteht und erklärt.47 Teil der Kunst, Bilder erklärend zu beschreiben, ist auch das richtige Verständnis des Künstlers, der als göttlich inspiriert gilt und dessen Schaffen daher ebenso verstanden und erklärt werden muss, wie das Werk selbst. Am stärksten von den Prosaschriftstellern hat Kallistrat diesen Aspekt seiner Bildbeschreibungen betont.48 Der im 3. Jh. n. Chr. schreibende Kallistrat beschrieb und deutete in seiner Abhandlung Eikones (Bilder) verschiedene Kunstwerke (Götterbilder und statuen); er geht hierbei stets davon aus, dass der Betrachter ohne eine fachkundige Erklärung die Bedeutung eines Bildnisses nicht verstehen kann und er die Aufgabe des Erklärers und Deuters übernehmen muss (3,1 Eroten). Vorausgesetzt ist, dass die Künstler bestimmte Aussagen machen wollen und der Betrachter diese nur mit entsprechender Anleitung eines Exegeten erkennen können. Wesentlicher Bestandteil einer solchen Bildexegese ist die Bildbeschreibung, die den Fokus auf für das Verständnis des Bildnisses wichtige Details lenkt. So lässt Kallistrat in 6,3 (Kairos in Sikyon) als erstes die Betrachter sprachlos vor Ergriffenheit und Staunen im Angesicht der Kairosstatue des Lysipp in Sikyon stehen und beschreibt dann die Ursachen für dieses sprachlose Staunen: Bronze, ein künstlich hergestelltes Material vollendet das Wesen der Natur, an sich ein Paradox, unmöglich ± mit anderen Worten ein Wunder.49 47 Eikones 1,6,3 (Erotes/Liebesgötter): ÄDenn schau nur, die vier schönsten Liebesgötter haben sich leise von den anderen fortgemacht, und zwei werfen einander einen Apfel zu; vom zweiten Paar aber schießt der eine mit dem Bogen nach dem anderen, der aber schießt zurück, und doch liegt in ihren Mienen keine Drohung, vielmehr bieten sie einander sogar die Brust, damit hier die Pfeile irgendwo eindringen. Ein hübsches Rätsel (ainigma)! Sieh nur, ob ich den Maler wohl recht verstehe! Das bedeutet Liebe, mein Junge, und Verlangen nacheinander. Die einen nämlich, die mit dem Apfel spielen, beginnen sich zu verlieben, weshalb der eine einen Apfel küsst, bevor er wirft, und der andere ihn mit offenen Händen auffängt, natürlich um ihn selbst zu küssen, falls er ihn hascht, und dann zurückzuwerfen. Die zwei Bogenschützen aber festigen die schon erwachte Liebe. Und so, meine ich, spielen die einen, um die Liebe zu wecken, die anderen aber schießen, um nicht vom Lieben abzulassen.³ 48 Seiner Beschreibung einer Bacchantin schickt er folgende Ausführungen voraus (2,1): ÄEs ist nicht allein die Kunst von Dichtern und Prosaschriftstellern, die durch die Götter inspiriert ist, deren Zungen durch göttliche Kräfte zum Sprechen gebracht werden (enthousiasmos), nein, auch die Hände von bildenden Künstlern, wenn sie von dem Geschenk einer göttlichen Inspiration geleitet werden, können Wesen hervorbringen, die besessen und voll göttlichem Wahn (mania) sind.³ 49 Kallistrat, Eikones 6,3: ÄObwohl es aus Bronze war, schien es erröten zu können; und obwohl es vom Material her hart war, strahlte es Weichheit aus; und obwohl es frei von Empfindungen war, erweckte es den Eindruck, dass ihm Empfindungen innewohnten; und obwohl es festgemacht war, mit seinen Füßen fest auf dem Boden stehend, erweckte es doch den Eindruck, als könne es sich sehr schnell bewegen. Und es täuschte die Augen nicht im Hinblick darauf, dass es sich bewegen könne, sondern dass es vom Künstler sogar die Fähigkeit erhalten habe, dass es sich in die Lüfte erheben könnte, wenn es das nur wollte. (4) So erschien es uns also als ein Wunder; aber ein Mann, der sich in der Kunst auskannte und auch ein tieferes Verständnis der Künste hatte und deshalb wusste, wie die Wunder der Künstler aufzuspüren sind, schrieb dem Werk des Künstlers einen besonderen Sinn zu; er erklärte die Bedeutung der Gelegenheit, die in der Statue genauestens porträtiert seien. Die Flügel an den Füßen, er-
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Dem Schema vom Betrachten eines wunderbaren und zugleich rätselhaften Gegenstandes und dem Hinzutreten eines Gelehrten bzw. Deuters (Exegeten) begegnet man in der Kaiserzeit auch bei anderen Prosaschriftstellern und in der Dichtung. In großer Ausführlichkeit bei Dio Chrysostomos zu dem Zeusbild des Pheidias in der Olympischen Rede oder Über die erste Erkenntnis Gottes (= Oratio 12). Dio schlüpft dazu in die Rolle des Pheidias, um dessen vermeintliche Zeustheologie den Zuhörern darzulegen, da besonders ein so berühmtes Götterbildnis eines Exegeten und einer Exegese bedürfe (12,33).50 Unter Exegese von Bildern (Eikones) fallen die auch so betitelten Abhandlungen von Philostrat, die bereits genannten von Kallistrat und von Lukian sowie einzelne, unter exegetischen Gesichtspunkten nicht hinreichend als Bildbeschreibung oder Ekphrasis titulierte Schriften bzw. Epigramme.51 Der theologische Anspruch (Erklärung und erklärende Beschreibung von Göttern bzw. Götterbildern) der Eikones betitelten Schriften besteht zuvörderst darin, dass die genannten Autoren die Kunst ihrer deutenden Bildbeschreibung als Vermittlungs- oder Übersetzungsliteratur verstehen, und zwar von in Statuen und Bildern enkodierten, vielfach affektgeladenen Informationen, die der sie betrachtende Laie zwar sehen, ohne Hilfe aber nicht verstehen kann. Eine solche Situation wird beispielsweise von Lukian in den Prolalia zu Herakles geschildert, wobei Lukian einem Kelten die Rolle gibt, die gewöhnlich der Bildbeschreiber und -deuter innehat.52 Eine eigene Tradition von Exegese, die mit einer Verrätselung in Verbindung stand, bildeten die Pythagoreer aus. Der im 3. Jh. n. Chr. schreibende Iamblich
klärte er uns, deuten seine Schnelligkeit an und, geboren aus den vier Jahreszeiten, bewegt er sich in Ewigkeit fort. Seine jugendliche Schönheit bedeute, dass Schönheit immer gelegen kommt und Gelegenheit die einzige Ursache von Schönheit sei. Er erklärte uns auch, dass die Locke auf seiner Stirn versinnbildlicht, dass er leicht zu fangen ist, wenn er sich nähert, aber wenn er einmal vorbeigegangen ist, der Augenblick zum Handeln ebenfalls vorbei ist und dass, wenn die Gelegenheit versäumt wird, man sie nicht wiedererlangen kann.³ 50 Aus der Dichtung vgl. Anthologia Graeca 16,275 (Poseidippos) zum selben Kairos aus Sikyon wie Kallistrat. Dieses offenbar sehr berühmte Kunstwerk des Lysipp in Sikyon wird von Pausanias nicht erwähnt. 51 ELSNER, 2001, 20. 52 ÄDie Kelten nennen Herakles Ogmios in ihrer eigenen Sprache und sie porträtieren den Gott in einer sehr eigenartigen Weise. Nach ihrer Auffassung ist er sehr alt, glatzköpfig bis auf ein paar graue Strähnen, seine Haut ist faltig und er ist so dunkelhäutig wie ein alter Seehund. Du würdest ihn für Charon oder Iapetus aus dem Tartarus halten ± alles andere als Herakles jedenfalls! Dennoch, trotz seines Äußeren trägt er die Zeichen des Herakles: Er ist mit einem Löwenfell bekleidet, hat eine Keule in der rechten Hand, einen Bogen in der linken und ist so gesehen Herakles vom Kopf bis zu den Füßen. Ich dachte, dass die Kelten mit diesem Bild die griechischen Götter verspotten und gleichzeitig Herakles selbst mit dem Bild bestrafen wollten, wegen seines Besuches der westlichen Gebiete auf der Suche nach den Herden des Geryon. Ich stand eine sehr lange Zeit vor dem Bild, sah es an, wunderte mich, verwirrt und erregt, als ein Kelte mich am Ellbogen fasste; er war nicht ungebildet, wie mir sein gutes Griechisch zeigte und war gleichzeitig auch in lokalen Traditionen gebildet. Er sagte zu mir: Ich werde dir das Rätsel des Bildes enthüllen, Fremder, weil du sehr verwirrt und aufgebracht zu sein scheinst.³
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beschrieb sie im Leben des Pythagoras (23,104) in einer für diese Zeit ganz charakteristischen Weise: Vielmehr wählten sie [sc. die frühesten Anhänger des Pythagoras, Anm. der Verfasserin], treu dem Gebot des Pythagoras, über die göttlichen Mysterien zu schweigen, Redewendungen, deren Sinn den Uneingeweihten verborgen bleiben musste, und schützten ihre wechselseitigen Gespräche oder ihre Schriften durch den Gebrauch verabredeter Zeichen (symbola). (105) 8QGZHQQPDQQLFKWGLHHLJHQWOLFKHQ6\PERODDXVVRQGHUWVLH¾DXV-OHJW½exegesei) und durch ernsthafte Deutung zu begreifen sucht, so können Worte denen, die unvorbereitet auf sie stoßen, lachhaft und gleich Ammenmärchen erscheinen, voller Trug und Geschwätz. Werden sie aber in der diesen Symbola gemäßen Weise ausgelegt, und bleiben sie somit den Vielen nicht mehr dunkel, sondern werden hell und klar, so ähneln sie manchen Prophezeiungen und Orakelsprüchen des Apollon Pythios.53
Pausanias gibt dem Leser neben der unmittelbaren Selbstinszenierung als HyperExeget auch auf andere Weise zu verstehen, dass seine Beschreibung als Exegese gedacht ist. Dies zeigt besonders der Vergleich mit zeitnah schreibenden Autoren von exegetischen Ekphrasen: Philostrat schreibt in der Vita des Apollonios von Tyana zum Rätsel des Milon.54 Dieses Sujet deutet Pausanias auch, unterlegt dabei aber eine differente Wertung der Person, weil er etwas anderes als Apollonios (bei Philostrat) veranschaulichen will. Während bei Philostrat die Statue des Milo YRQ$SROORQLXV¾WKHRORJLVFK½JHGHXWHWXQGGDPLWHQWVSUHFKHQGLQGHU%HGHXWXQJ aufgewertet wird, zeigt Pausanias an Milo den Übermut bzw. die Hybris eines Sportlers. Dazu werden jeweils Elemente der Person und Statue Milons respektive VHLQHU +DOWXQJ XQWHUVFKLHGOLFK KHUYRUJHKREHQ XQG JHGHXWHW 3DXVDQLDV¶ $XVIhrungen setzen überdies weitgehend die Anschauung der Statue beim Leser voraus, d.h. er kommentiert sie, ohne sie, wie Philostrat, genau zu beschreiben.55 53 Für die ältere Tradition vgl. Jacoby, F GR HIST, Nr. 273: Alexander Polyhistor. 54 4,28: ÄEr gab auch eine Erklärung (logos) zum ehernen Milon und legte aus (exgesato), was man über dessen Haltung sagte. Dieser schien nämlich mit geschlossenen Füßen auf einer Scheibe zu stehen, hält in der linken Hand einen Granatapfel und streckt die aneinandergepressten Finger der Hand gerade aus, wie wenn er sie in etwas eintauchen wollte. Die olympischen und arkadischen Sagen berichten nun, diese Statue sei unbeweglich dagestanden und habe sich nicht von ihrem Platz fortbewegen lassen. Die starre Haltung der Finger führen sie auf das Festhalten des Granatapfels zurück. Sie erklären, die Finger hätten sich auch nicht trennen lassen, wenn man jeden einzelnen von ihnen zu bewegen versucht hätte, so klein sei der Abstand zwischen den Gelenken bei den geradeaus gestreckten Fingern gewesen. Die Binde, die er um seinen Kopf trug, wies ihrer Meinung nach auf die sittliche Würde hin. Apollonios aber ließ verlauten, es sei dies alles ganz klug ersonnen, die Wahrheit jedoch gehe über das Wahrscheinliche hinaus. ÄDamit ihr die Bedeutung dieser Statue des Milon richtig erkennt³, erklärte er, Ämüsst ihr zur Kenntnis nehmen, dass die Krotoniaten den Milon zum Priester der Hera geweiht haben. Welche Bewandtnis es mit der Mitra hat, erklärt sich dann von selbst, wenn wir festhalten, dass der Mann ein Priester war. Der Granatapfel ist die einzige Frucht, die der Hera geweiht ist. Die Scheibe unter seinen Füßen entspricht dem Schild, auf welchen der Priester tritt, wenn er zur Göttin betet. Dasselbe deutet auch die rechte Hand an. Die Stellung der Finger aber und ihr Aneinanderliegen entspricht dem alten (archaia) Stil der Skulptur.³ 55 6,14,5 (Olympia): ÄMilon, den Sohn des Diotimos, hat Dameas geschaffen, auch er aus Kroton. Milon wurden sechs Siege im Ringkampf in Olympia zuteil, davon einer noch unter den
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Die Haltung eines beschreibenden Bilderdeuters nimmt Pausanias auch an verschieden weiteren Stellen ein. Er spricht in den Sequenzen den Begriff Exeget jedoch weder aus, noch bezeichnet er seine Deutung expressis verbis als Exegese; es handelt sich allerdings ganz offenkundig genau darum, wie u.a. an seiner Beschreibung der Milonstatue in Olympia greifbar ist. Ich möchte die Nemesis von Rhamnous als weiteres Beispiel anführen (1,33,3±8). Die Deutung des Bildnisses bzw. an ihm abgebildeter Details gliedert sich in vier Teile: 1. Pausanias fokussiert die Nemesis-Statue, indem er eine einleitende Erzählung über den Anlass der Fertigung des Bildes durch Pheidias voranstellt, die die Hybris der Perser und die Sieghaftigkeit der Athener zum Thema hat; es ist anzunehmen, dass letzteres auch der Grund für ihre ausführliche Beschreibung ist.56 2. In der Beschreibung des Bildnisses der Nemesis wird dann eine weitere Fokussierung vorgenommen, denn Pausanias interessiert hier besonders die Schale, auf der Aithiopen dargestellt sind. Die Abhandlung zu den Aithiopen entzündet sich DQGHU3DXVDQLDV¶$QVLFKWQDFKIDOVFKHQ$QQDKPHGLH$LWKLRSHQVHLHQGRUWZeKnaben, und in Delphi bei den Männern sechs und einer dort bei den Knaben. Er kam auch noch ein siebtes Mal nach Olympia zum Ringkampf, doch war er nicht mehr imstande, den Timasitheos niederzuringen, der sein Mitbürger und noch jung war und noch dazu nicht nahe herankommen wollte. (6) Es wird auch erzählt, dass Milon seine Statue selbst in die Altis getragen habe. Auf ihn wird auch die Geschichte mit dem Granatapfel und dem Diskos erzählt. Einen Granatapfel hielt er so, dass er ihn weder einem anderen trotz aller Anstrengung überließ noch selbst ihn dabei durch Druck beschädigte; und auf einem eingefetteten Diskos stehend machte er alle zum Gespött, die ihn angriffen und von dem Diskos stoßen wollten. Er leistete sich auch noch folgende Schaustücke: (7) Er band sich eine Darmsaite wie eine Binde oder einen Kranz um die Stirn. Dann hielt er den Atem zwischen den Lippen an und füllte die Adern am Kopf mit Blut und zerriss mit der Kraft der Adern die Saite. Erzählt wird auch, wie er von seinem rechten Arm den Teil bis zum Ellbogen von der Schulter an seiner Seite hielt, den Teil vom Ellbogen an gerade ausstreckte und von den Fingern den Daumen nach oben streckte und die übrigen der Reihe nach aufeinanderliegend ausstreckte; den kleinsten Finger, der unten war, konnte niemand bewegen. (8) Er soll durch Tiere umgekommen sein; im Gebiet von Kroton soll er nämlich einmal trocknendes Holz gefunden haben; darin steckende Keile hielten das Holz auseinander. Milon hielt nun aus Übermut seine Hände zwischen das Holz, die Keile fielen heraus, und Milon, von dem Holz festgeklemmt, wurde Wölfen zur Beute. Dieses Tier lebt nämlich besonders im Gebiet von Kroton viel und reichlich. Milon ereilte also ein solches Ende.³ 56 1,33,2: ÄGegen sechzig Stadien von Marathon entfernt auf der Küstenstraße nach Oropos liegt Rhamnous. Die Häuser am Meer gehören den Menschen, etwas vom Meer entfernt oberhalb liegt das Heiligtum der Nemesis, die von allen Göttern am unerbittlichsten gegen Frevler ist. Auch gegen die bei Marathon gelandeten Barbaren scheint sich der Zorn dieser Göttin gerichtet zu haben; sie wähnten nämlich, es sei eine Kleinigkeit für sie, Athen zu erobern, und brachten daher bereits parischen Marmor mit zur Herstellung des Siegesmals, als ob der Sieg bereits errungen sei.³ Vgl. denselben Topos in einem Gedicht des Theaitetos Scholastikos aus der Anthologia Graeca 16,221: ÄMich, den schneeigen Marmor, brach einst ein medischer Steinmetz mit der Schärfe des Stahls aus einem wachsenden Fels. Dann durchfuhr ich die See, um ein Menschengebilde zu werden, das den endlichen Sieg über die Athener bezeugt. Doch als Marathons Blitz in die flüchtigen Perser hineinschlug, kehrten auf blutigem Meer ihre Geschwader zurück. Und nun schuf mich Athen, die Mutter der Helden, zur Göttin Adrasteia, die feind menschlichem Übermut ist und der Hoffnung gebührend die Waage hält. Nemesis bin ich für die Assyrer, jedoch Siegessymbol für Athen.³
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gen des Okeanosstromes abgebildet: Die Aithiopen wohnten dort und Nemesis habe den Okeanos zum Vater. Er argumentiert bzw. widerlegt folgendermaßen: a) der Okeanos ist ein Meer, kein Fluss (Iberer, Kelten, Insel Britannien), b) die Ichthyophagen wohnen neben den Aithiopen aus Syene (Sonnentisch), die am Nil wohnen, c) weitere Aithiopen: Nachbarn der Mauren bis zu den Nasamonen (letztere bilden die inhaltliche Brücke zu ihrer herodoteischen Bezeichnung Atlanten); auch von diesen Völkern wohnt keiner an einem Fluss, da alle dortigen Flüsse sofort nach der Quelle im Sand versickern. Fazit: Keine der bekannten Aithiopen wohnen an einem Fluss oder Ozean und daher kann die Annahme, dass die Aithiopen wegen des Okeanosstromes abgebildet sind, nicht stimmen.57 3. Im kürzesten Teil der Bilddeutung gibt er eine nur indirekte Beschreibung, denn er kommentiert lediglich die Tatsache, dass das Bildnis keine Flügel besitzt. Gleichfalls wird damit das Alter des Bildnisses indirekt angesprochen bzw. das Alter des der Darstellung zugrunde liegenden Ãtheologischenµ Konzeptes der Nemesis: (7) Mit Flügeln ist aber weder dieses Bild der Nemesis noch sonst eines von den alten dargestellt, da auch in Smyrna die heiligsten Holzbilder keine Flügel haben; erst die späteren geben der Nemesis Flügel wie dem Eros, um damit auszudrücken, dass die Göttin besonders im Gefolge der Liebe erscheine.
57 1,33,3: ÄDiesen Block verarbeitete Pheidias zu der Statue der Nemesis, und auf dem Kopf der Göttin befindet sich eine Krone mit Hirschen und kleinen Nikefiguren; in den Händen hält sie in der einen einen Apfelbaumzweig, in der rechten eine Schale, auf der Aithiopen dargestellt sind. Was die Aithiopen angeht, wusste weder ich selbst noch konnte ich das übernehmen, was die anführten, die vorgaben, es zu wissen, dass sie nämlich auf der Schale angebracht seien wegen des Okeanosstromes. Die Aithiopen wohnen nämlich an ihm; die Nemesis habe den Okeanos zum Vater. (4) Am Okeanos, keinem Strom, sondern dem äußersten Meer, soweit es von Menschen noch beschifft wird, wohnen Iberer und Kelten, und dort ist auch die Insel der Bretannoi. Nach den Aithiopen oberhalb von Syene wohnen als die äußersten am Roten Meer die Ichthyophagen, und der Meeresbusen, um den sie wohnen, wird der ichthyophagische genannt. Die gerechtesten bewohnen die Stadt Meroe und die sogenannte aithiopische Ebene. Diese sind es auch, die den Sonnentisch zeigen; aber weder ein Meer noch einen anderen Fluss als den Nil haben sie. (5) Es gibt auch noch andere Aithiopen, Nachbarn der Mauren, die sich bis zu den Nasamonen hin ausdehnen. Denn die Nasamonen, die Herodot als die Atlanten bezeichnet, die aber von denen, die die Masse der Erde zu kennen vorgeben, Lixiten genannt werden, diese wohnen als die äußersten der Libyer gegen den Atlas zu. Diese säen nichts und leben nur vom wilden Wein. Aber weder die Aithiopen noch die Nasamonen besitzen einen Fluss. Denn das Wasser am Atlasgebirge, das immerhin die Quellen von drei Flüssen speist, bildet keinen Fluss, sondern alles versickert sofort im Sande. (6) So wohnen also die Aithiopen an keinem Fluss oder Ozean. Das am Atlas entspringende Wasser ist trübe, und an der Quelle waren die Krokodile nicht kleiner als zwei Ellen. Bei Annäherung von Menschen tauchen sie in der Quelle unter. Nicht wenige vermuten, dieses Wasser trete wieder aus dem Sand hervor und bilde den Ägyptern den Nil. Der Atlas ist derart hoch, dass man von ihm sagt, er berühre mit den Gipfeln den Himmel und er sei vor lauter Wasser und Bäumen unersteigbar, die überall wachsen. Die den Nasamonen zugewandte Seite ist bekannt, an der dem Meere zugewandten Seite ist noch niemand entlang gesegelt. So viel mag darüber gesagt sein.³
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4. Den Abschluss bildet die Beschreibung der Basis der Statue, wobei es Pausanias hier darauf ankommt, die Intentionen des Künstlers zu erklären, d.h. wie die weiter oben genannten Autoren von deutenden Bildbeschreibungen unterstellt er dem Künstler eine Absicht, hier: eine bestimmte altertümliche theologische Konzeption (Aussparung der Tragödie: Orest) verbildlichen zu wollen, wie er es bereits durch die Erwähnung des Fehlens der Flügel angedeutet hatte: Jetzt will ich aber erzählen, was in der Basis der Statue dargestellt ist, wobei ich der Deutlichkeit wegen folgendes vorausbemerke. Nemesis soll die Mutter der Helena sein, und Leda habe sie gesäugt und aufgezogen; für ihren Vater halten diese und alle Griechen ebenso Zeus und nicht Tyndareos. (8) Da Pheidias das gehört hatte, stellte er dar, wie Helena von Leda zu Nemesis geführt wird, und stellte auch Tyndareos dar und seine Söhne und neben ihm einen Mann mit Pferd namens Hippeus; und es ist da auch Agamemnon und Menelaos und Pyrrhos, der Sohn des Achilleus, der zuerst Hermione, die Tochter der Helena, zur Frau nahm. Orestes aber ist wegen des Muttermordes fortgelassen, obwohl Hermione ganz bei ihm blieb und ihm einen Sohn gebar. Weiter ist noch an der Basis einer mit Namen Epochos und ein anderer Jüngling. Darüber habe ich nichts weiter gehört, als dass es Brüder der Oinoë seien, nach der der Demos heißt.
Wie schon bei der Statue des Milon begegnet in dieser deutenden Beschreibung die Eigentümlichkeit, dass Pausanias Anschauung beim Leser vorauszusetzen scheint. ÃVollständigeµ gegenständliche Beschreibungen, d.h. so, dass sich der Leser das Objekt bis ins Detail vorstellen kann, gibt es auch genau genommen nur an zwei Stellen, im 5. Buch (Elis I) die sogenannte Kypseloslade (5,17,5±19,10) und im 10. Buch (Phokis) die Lesche der Knidier (10,25,1±31,12).58 In diesen beiden Fällen liegt der Schwerpunkt mehr auf der Beschreibung als auf der Deutung, wenngleich Exegese auch hier fassbar ist (5,19,2±4).59 Auf der Lade sind auch die Dioskouroi, der eine noch ohne Bart, und zwischen ihnen Helena. (3) Aithra, die Tochter des Pittheus, ist von Helena an den Füßen zu Boden geworfen worden, schwarz gekleidet. Die Inschrift bei ihnen ist ein Hexameter mit dem Zusatz eines Namens zu dem Hexameter: ÃDie Tyndariden brachten Helena, schleppten Aithra von Athen.µ (4) Dieser Vers ist also so gebildet; (...).
Während Dion von Prusa genau diese Inschrift als einen Beleg anführte, dass Troja nicht erobert worden sei, d.h. die Inschrift nicht nur für alt, sondern auch echt
58 GURLITT, 1890, 445, ging davon aus, dass Pausanias für beide extensiven Beschreibungen sowie für alles andere in der Periegese Vorlagen benutzt bzw. diese ausgeschrieben und überarbeitet habe. GURLITTs Beobachtung, dass sich beide Beschreibungen in ihrer Ausführlichkeit von der jeweiligen Umgebung abheben ist jedoch einwandfrei. 59 So beschreibt und deutet er etwa auch in 5,19,7: ÄDer oberste Streifen, es sind nämlich fünf, hat keine Inschriften, und man muss über die Darstellungen Vermutungen anstellen. Es sind da also in einer Höhle eine Frau, die mit einem Mann auf einem Bett schläft, und dass es Odysseus und Kirke sind, vermuteten wir nach der Zahl der Dienerinnen, die vor der Höhle sind, und nach ihren Verrichtungen. Es sind nämlich vier Frauen, und sie verrichten die Arbeiten, die Homer in seinem Epos nennt.³ =X 3DXVDQLDV¶ KRPHULVFKHU ([HJHVH GHU Kypseloslade siehe auch LACROIX, 1988, 243 ff.
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hielt,60 bezweifelt Pausanias die Authentizität der Inschrift schon hier, indem er Ävon Athen³ als Zusatz klassifiziert und damit die homerische Variante bestätigt, nach der nicht nur Helena nach Troja entführt wurde und folglich auch den Trojanischen Krieg auslösen konnte, sondern ihr auch Aithra als Dienerin nach Troja folgte (Il. 3,144). In der Loebausgabe wird auf Versuche verwiesen, diese Inschrift zu emendieren, die nach Meinung der Philologen korrupt ist; bisherige Versuche der Emendation werden als unbefriedigend und unzureichend erklärt.61 Zu den philologischen Kritikern gehörte aber auch schon Pausanias im Altertum, wie ergänzt werden muss. Etwas später, am Schluss der gesamten Beschreibung der Kypseloslade, vertritt er nämlich die Ansicht, dass die Aufschriften nachträglich angebracht und also auch nicht von dem Künstler der Lade verfasst bzw. angebracht wurden.62 Neben den Ähnlichkeiten in der Beschreibungsabsicht und -technik zu zeitnahen Autoren (Exegese) erscheint als Besonderheit der Periegese die Umfänglichkeit der Beschreibung (Griechenland mit Fokussierungen von Details). Die Umfänglichkeit geht einher mit einer imaginativen, virtuellen Reise, die der Leser unter Anleitung von Pausanias macht. Wie ELSNER bereits vermutete, nehme auch ich an, dass man die Periegese in den Kontext der Ekphrasistheorie stellen muss, und zwar in der Form, wie sie bei Theon, Hermogenes und Aphthonius entfaltet ist, denn die deutende Beschreibung ist Teil der interpretatorischen Ansprüche von Vertretern der Zweiten Sophistik.63 WANDHOFF hat diesen Aspekt von Beschreibung herausgearbeitet, unter dem m. E. auch die Periegese zu sehen ist, besonders hinsichtlich der vom Leser erwarteten nicht nur imaginativen, sondern damit verbunden auch kognitiven Leistung: WANDHOFF stellt zunächst fest, dass die Kunstbeschreibungen des Mittelalters und zum Teil schon der Spätantike sich von den Äflachen³ Ekphrasen des antiken Epos durch vielfach architektonisch realisierte Räumlichkeit unterschieden. Das Betrachten dieser Bild- und Bauwerke sei als ein imaginativ zu vollziehendes Durchwandern dreidimensionaler Schauräume konzipiert, bei dem die Bewegungen des Geistes in Analogie zu den moto60 Dion von Prusa, Oratio 11,45 (= Troja ist nicht erobert worden/Rede an die Ilier), zu Thema der Entführung der Helena durch Theseus nach Athen und ihrer anschließenden Befreiung durch ihre Brüder, die Dioskuren. Demnach hätte es also keine Entführung nach Troja sondern nach Athen gegeben: ÄIch sagte ihm [sc. dem ägyptischen Priester, Anm. der Verfasserin], dass man dasselbe auch bei uns erzähle und ich auch selbst in Olympia im Hinterraum des Heratempels eine Darstellung der Entführung gesehen hätte auf der von Kypselos gestifteten hölzernen Truhe: Die Dioskuren halten Helena, die auf dem Kopf der Aithra steht und sie an den Haaren zerrt; dabei steht eine Inschrift in alten Lettern.³ 61 JONES/ORMEROD (Bd. 2: Books III±V), 19935, 491, Anm. 2. 62 5,19,10: ÄWer die Lade gemacht hat, war mir auf keine Weise möglich herauszufinden. Die Aufschriften darauf kann leicht auch jemand anderes gedichtet haben; unsere Vermutung ging zur Hauptsache auf den Korinther Eumelos aus anderen Gründen und besonders wegen des Einzugsliedes, das er auf Delos dichtete.³ Impliziert ist hier die intime Kenntnis des Sprachstils des Eumelos. Sein nicht überliefertes genealogische Werk zu den Korinthern (8./7. Jh. v. Chr.), kritisiert Pausanias im 2. Buch (Argolis: 2,1,1; 2,9,3) wegen falscher Überlieferungen (Homerentstellung). 63 ELSNER, 2001, 20.
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risch vertrauten Bewegungen des Körpers konzipiert wurden. Damit sind nicht mehr die Bilder in Bewegung, sondern der Leser wurde aufgefordert, mittels Äeiner leib- und bewegungsorientierten Perzeption in die ekphrastischen Bild-Räume einzutreten und die dort zu findenden Bilder und Zeichen sinnerzeugend zusammenzulesen.³64 So wie WANDHOFF (ausgehend von Vergils Kunstbeschreibungen), visualisierender Literatur im Allgemeinen eine Zwischenstellung zwischen Wandbild und Kinoleinwand zugewiesen hat, sollte man das m. E. auch im Fall der Periegese tun. WANDHOFF wies darauf hin, dass einige Ekphrasen eine bewegungsorientierte Perzeption verlangten. Doch sei die körperliche Bewegung, die der Betrachter zum Abschreiten eines Wandbildes aufwenden müsse, im literarischen Medium aufgehoben und in gewisser Weise virtualisiert. Wie die Bewegung kinematographisch animierter Bilder im Apparat des Kinematographen stecke, ähnlich wie bei computeranimierten Bildern, so stecke die ÄBewegung der ekphrastischen Bilder in der materiellen Spur des Textes³. Sie werde durch den sich in der Zeit vollziehenden Prozess der Lektüre aktiviert und als eine Art ÃKino im Kopfµ in der Imagination des Textbenutzers realisiert. Insofern der hörende oder lesende Betrachter der Beschreibung in eine Situation versetzt werde, in der er von einem unbewegten Ãcrucial vantage pointµ aus eine stark bewegte Szene nach der anderen vor seinem inneren Auge vorbeilaufen sehe, ähnele er dem Kinobesucher eher als dem sich bewegenden Betrachter eines Wandbildes.65 (WZDV:HLWHUHVNRPPWEHL3DXVDQLDV¶%HVFKUHLEXQJVLQWention in der Periegese hinzu. Ich möchte es mit Bilderrätseln und dem (nachantiken) Konzept der Emblematik in Verbindung bringen. Denn der Betrachter bzw. Leser von PausaQLDV¶*ULHFKHQODQGEHVFKUHLEXQJPXVVVLFKMDQLFKWQXUGXUFKGHQYLUWXHOOHQ5DXP bewegen und sehen, sondern das Beschriebene gleichzeitig auch noch entschlüsseln. Von daher ist seine Beschreibung dem antiken Bilderrätsel durchaus nicht unähnlich, bei dem ein Gegenstand nicht aus Buchstaben oder Worten, sondern aus Zeichen und Bildern erraten werden muss. Die Bilder hatten eine tiefere Bedeutung und waren Gleichnisse oder Sinnbilder, bei denen es darauf ankam, ihren Sinn zu erraten.66 OHLERT hat die Auffassung vertreten, dass solche Bilder einer Bitte, Antwort oder Mahnung größere Kraft gegeben hätten, indem sie den Hörer infolge des Rätselhaften zum Nachdenken und zur plastischen Vorstellung zwangen.67 Nun hat es keine gesonderte Theorie eines antiken griechischen Bilderrätsels gegeben, sondern Rätsel waren ein grundlegender Aspekt der Wissensvermittlung als auch -prüfung. Dies zeigt nach OHLERT besonders die synonyme Verwendung von ainos (ÃRätselµ) und logos beispielsweise bei Herodot, Plutarch (Gastmahl der Sieben Weisen 14; Quaestiones Convivales 7,7) und besonders den Pythagoräern.68 64 65 66 67 68
WANDHOFF, 2003, 325. Kursivierung durch die Verfasserin. WANDHOFF, 2003, 56 f. OHLERT, 1912, 116. OHLERT, 1912, 121. OHLERT, 1912, 125 ff.
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Kommt man auf die Absichten der Beschreibung in der Periegese, so scheint sich zu ihrem Verständnis der Begriff des Emblems in seiner modernen Bedeutung anzubieten. Die drei Elemente des Emblems (Lemma, Icon und Epigramm) haben nämlich eine Doppelfunktion des Abbildens und Auslegens respektive des Darstellens und Deutens.69 Mit NEUBER sehe ich in der Emblematik einen Musterfall sinn-bildlichen Argumentierens,70 den ich daher auch dafür geeignet halte, um das Verständnis der Beschreibungsintentionen der Periegese zu erhellen. Zumal die von NEUBER diskutierte Frage, in welchem Verhältnis die bildliche Repräsentation eines Gegenstandes zum Text steht,71 ist nicht nur ein geeigneter Zugriff auf die Verhältnisbestimmung von theoremata und logoi in der Periegese, sondern auch für die Relation von beschriebener Wirklichkeit und literarischen Quellen. Ich schließe damit wieder zur Ekphrasistheorie von WANDHOFF auf, hier zu seiner These, dass mittelalterliche Ekphrasis als Änach Maß und Zahl geordnetes Welt-Bild³ aufzufassen sei, ein im Text nicht nur gespiegelter, sondern auch konstruierter Kosmos.72 Die Periegese ist unter diesem Gesichtpunkt ein von Pausanias gleichermaßen gezeichneter wie gedeuteter Zustand ganz Griechenlands. Man kann daher im Sinne einer ideologischen Konstruktion und interessegeleiteten Darstellung von dem Entwurf eines ÃWeltbildesµ sprechen, hinter der eine ÃWeltanschauungµ steht, die ganz wesentlich im Medium der Religion präsentiert wird. 5. AUSBLICK Anders als Kirchenhistoriker und Philologen haben Religionshistoriker (hier: der Antike) keine eigene Hermeneutik zur Analyse von Literatur über Religion entwickelt. Dies mag vor allem darin begründet liegen, dass es nach allgemeiner Auffassung in den griechischen und römischen religiösen Systemen des vorwiegend städtisch institutionalisierten Polytheismus keine verbindliche Heilige Schrift, noch diese systematisch ausdeutende und kommentierende Schriften von religiösen Spezialisten (Priestern) gab. Institutionalisierung und Praxis der antiken Kulte bedurften auf den ersten Blick zumindest keiner erkennbaren und quasi vom System geforderten theologisch-exegetisch reflektierenden Arbeit am Ritus oder Mythos. Gleichwohl geschieht genau dies seit dem Hellenismus; es ist ein Anwachsen von Literatur mit dem Thema Religion besonders in der Kaiserzeit zu konstatieren. Wenn sich ein kaiserzeitlicher Autor als besonders kompetent und gelehrt in Fragen der Religion und Theologie gibt und dies literarisch dokumentiert oder inszeniert, so wird das neben anderem besagen, dass er wünscht, Einfluss, oder vielleicht besser und genauer: Diskurshoheit zu erlangen. Diese wird innerhalb des religiösen Systems einer definierbaren Gruppe in einer bestimmten Zeit, an 69 70 71 72
S.v. Emblem (ohne Autorangabe), Lexikon der Kunst, Erlangen 1994, Bd. 4, 151. NEUBER, 1990, 245. NEUBER, 1990, 246. WANDHOFF, 2003, 117 ff. am Beispiel des frühen Artusromans.
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einem bestimmten Ort über bestimmbare Fragen angestrebt werden. Hinsichtlich der ÃWahl der Waffenµ des Autors zum Erreichen dieser Absichten möchte ich vorschlagen, die jeweils gewählte Gattung, und hier besonders die Sprecherrolle(n) vermehrt den Blick zu nehmen. Für die Kaiserzeit scheinen namentlich der Begriff und das Konzept des Exegeten wesentlich für das Verständnis der gebildeten theologischen Ambitionen der griechischen Elite zu sein. Hier operiert Pausanias mit einer stoisierenden Sicht auf Homer. Die theologischen Ambitionen richten sich auf Bilder, aber auch Texte. Die prominente Rolle der Homerischen Epen in der Periegese und die Tatsache, dass Pausanias hier, anders als bei anderen Autoren, in den meisten Fällen Zitate kenntlich macht, ist schon früher beobachtet worden. KALKMANN hatte erkannt, dass Pausanias ein über bloßen Archaismus hinausgehendes Interesse an Homer hatte und selbst Homerexegese betrieb: KALKMANN fand besonders erstaunlich, dass er in vielen Fällen keine anderen Quellen bzw. ÄVorlagen³ ausmachen konnte, und kam so zu dem für ihn selbst überraschenden Schluss, dass Pausanias hier eigene und Äneue abenteuerliche Wege wandelt.³73 Man kommt mit dieser Beobachtung KALKMANNs zu der Frage, wer sich in der Kaiserzeit in welcher Weise mit Homer beschäftigte. KALKMANN hatte schon das Problem ÃProtomythos versus nach-homerische Aus- und Umgestaltungenµ gesehen, d.h. wie Pausanias mit Homer argumentiert, wenn es um solche Fragen geht, die auch in Tragödien behandelt werden (z.B. mythische Figuren wie die des Ödipus).74 Hierher gehört auch eine Beobachtung KALKMANNs im Rahmen der Rekonstruktion des vermeintlichen mythologischen Handbuches, das Pausanias benutzt haben soll: KALKMANN fiel auf, dass es kein einziges Euripideszitat in der Periegese gibt und stellte so die Überlegung an, dass Pausanias aus Äpersönlicher Abneigung den Tragiker ausgemerzt³ habe.75 $EHU QDWUOLFK SDVVW 3DXVDQLDV¶ NULWLVFKH +DOWXQJ gegenüber Ãmythischen Erfindungenµ der Tragiker auch sehr gut zu seinem wahrscheinlich stoisierenden Verständnis von der ältesten schriftlichen Überlieferung als Protomythos. Eine Sonderstellung nahmen bei den Exegesen der Philosophenschulen die Stoiker ein. BARNES vermerkt, dass es kaum Evidenz für schriftliche Kommentare und Exegesen gab, obschon Epiktet und später Seneca ausdrücklich darauf verwiesen haben, dass stoisches Philosophieren Äwas thoroughly exegetical in spirit³.76 Diese Diskrepanz hat er dadurch versucht zu erklären, dass von der vor-kaiserzeitlichen stoischen Literatur kaum etwas erhalten ist oder aber die Sto73 KALKMANN, 1886, 211. 74 KALKMANN, 1886, 251: ÄAristarch schloss gerade wie Pausanias aus der Homer-Stelle, dass Ödipus in Theben gestorben sei. Den Gedanken, dass Pausanias seine Weisheit direkt aus Homer-Kommentaren habe, brauche ich nicht von neuem zurückzuweisen; es ist reiner Zufall, dass sich jene Belege gerade nur in Homer-Scholien erhalten haben. Übrigens gibt Pausanias mehr als die Scholiasten: ta sta ek Thebon komisthenta.³ Diesen Zusatz traut KALKMANN m. E. ohne stichhaltige Argumente Pausanias nicht allein zu. Er meint, Pausanias habe lediglich eine Parallelversion entworfen, deren Muster in einer Sophoklesscholie als Ideenvorlage bereits existiert habe. 75 KALKMANN, 1886, 262. 76 BARNES, 1997, 50.
Die Exegeten kommen
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iker eben keine Kommentare und Exegesen in der Art der übrigen Philosophenschulen formuliert hätten.77 Soweit erhaltene kaiserzeitliche stoische Schriften der Auslegung von Texten dienten, habe diese Auslegung in Versuchen bestanden, die Werke von Hesiod, besonders aber Homer einem angemessenen Verständnis zu erschließen. DAWSON hat in diesem Kontext auf formale Konvergenzen von christlichen und stoischen Exegesemethoden und -interessen hingewiesen. Die von ihm untersuchten Auseinandersetzungen stehen in Zusammenhang mit der Praxis der paganen nicht-literarischen Exegese der griechischen Mythologie und Dichtung und dem Widerstand gegen diese Vorgehensweise. Lucius Aennaeus Cornutus, ein stoischer Philosoph aus dem 1. Jh. n. Chr. war der Ansicht, dass die philosophische und wissenschaftliche Weisheit der alten Mythen von den frühen 'LFKWHUQEHUOLHIHUWXQGEHZDKUWZXUGH:lKUHQG&RUQXWXV¶/HNWUHGLHVHU3Reten hauptsächlich eine Übung in etymologischer Analyse zum Zwecke wissenschaftlicher und philosophischer Forschung darstellte, wandte sein Zeitgenosse Heraklit die allegorische Lesart der Ilias und Odyssee an, um Homer gegen die rationalistische Kritik von Platonikern, Epikureern und anderen philosophischen Kritikern zu verteidigen. Sowohl Cornutus als auch Heraklit befürworteten ein nicht wörtliches Verständnis, weil sie in der alten Dichtung ursprüngliche und daher autoritative Weisheit sahen. Es scheint im Lichte der paganen Ansichten zu Etymologie und Allegorie evident, dass der jüdische und christliche Gebrauch dieser Techniken gleicherweise eine übliche hermeneutische Strategie als auch kulturell geradezu unvermeidbar war.78 Aber das ist ein anderes Thema. LITERATUR J. BARNES 1997. Logic and the Imperial Stoa, Leiden. A. BENDLIN 2006. ÄVom Nutzen und Nachteil der Mantik: Orakel im Medium von Handlung und Literatur in der Zweiten Sophistik³, in: ELM VON DER OSTEN, Dorothee, RÜPKE Jörg, WALDNER, Katharina (Hrsg.). Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, Stuttgart, 159±207. A. CHANIOTIS 2003. ÄNegotiating Religion in the Cities of the Eastern Roman Empire³, in: KERNOS 16, 177±190. D. DAWSON 1997. Allegorical readers and Cultural revision in Ancient Alexandria, Berkeley/Los Angeles. J. ELSNER 2001. ÄStructuring µGreece¶. 3DXVDQLDV¶V 3HULHJHVLV DV D /LWHUDU\ &RQVWUXFW³, in: S. ALCOCK, J.F. CHERRY, J. ELSNER, (Hrsg.): Pausanias. Travel and Memory in Roman Greece, Oxford, 3±20. A. ENGELI 1907. Die Oratio variata bei Pausanias, Berlin. C. FRATEANTONIO 2007. Religion und Städtekonkurrenz. Zum politischen und kulturellen Kontext YRQ3DXVDQLDV¶ Periegese (Habilitationsschrift). S. GOLDHILL 1994. ÄThe naive and knowing eye: ecphrasis and the culture of viewing in the Hellenistic world³, in: DERS., R. OSBORNE (Hrsg.): Art and text in ancient Greek culture, Cambridge, 197±223. 77 BARNES, 1997, 50. PORTER, 1992, 80 nimmt an, dass ein großer Teil der verlorenen stoischen Schriften der Homerexegese gewidmet war. 78 DAWSON, 1997, 17 f.
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BLÜTENLESE FÜRS BANKETT: DIE ORGANISATION UND PRÄSENTATION RELIGIÖSEN WISSENS IN DEN DEIPNOSOPHISTEN DES ATHENAIOS Ulrike Egelhaaf-Gaiser 1. VON PROMETHEUS BIS IANUS: (NICHT NUR) EINE ANTHOLOGIE DER BLÜTENKRÄNZE1 Prometheus oder Ianus ± wer stiftete den ersten Kranz?2 Mit einer solch Ãklassischenµ Fragestellung des griechisch-römischen Kulturvergleichs flicht der Florist Athenaios seine literarische Blütenlese Äüber Kränze und Salböle³ im 15. Buch seiner Deipnosophisten zu einem bunten Blumengewinde zusammen. Das Bankett der ca. 30 Schmausgelehrten3 geht zu diesem Zeitpunkt bereits in die letzte Runde, in der die Sophisten nochmals Höchstleistungen zeigen: In dem gut 50 Seiten umfassenden Themenkapitel (Athen. 15,669c±692f) sind alle charakteristischen Leitmotive des wohl um 200 n. Chr. entstandenen Werks4 auf engem Raum zusammengefasst. Damit sind ideale Voraussetzungen geschaffen, um ausgehend YRQ GLHVHP 7H[W QDFK $WKHQDLRV¶ .RQ]HSW GHU %LOGXQJ XQG GHV ÄBildungsgutes Religion³ zu fragen. Zum einen ist hierbei der Stellenwert von Religion in der imperialen Bankettgesellschaft zu definieren: Formal scheinen in den Tischgesprächen der Deipnosophisten Kulthandlungen und aitiologische Mythen nur ein Thema unter vielen zu sein. Denn trotz der szenischen Rahmenhandlung ist das Symposion eine Enzyklopädie der Freizeitkultur,5 welche die bekannte Oikoumene von Indien bis Spanien und einen Zeitraum von den mythischen Uranfängen ± etwa Prometheus und Ianus ± bis zur jüngsten Vergangenheit ± z.B. im Antinooskranz ± umspannt. Dass dennoch das Thema ÄReligion³ in der imperialen Tischgesellschaft des Larensios eine herausragende Rolle spielt, ist an der Festokkasion zu erken1
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Gedankt sei an dieser Stelle allen TagungsteilnehmerInnen, die mit ihren kritischen Diskussionsbeiträgen und vielfältigen Anregungen den vorliegenden Beitrag maßgeblich verbessert haben. Zur Bedeutung des Kranzes in der griechischen Kultur BLECH 1982. Zur kontrovers geführten Diskussion um die Historizität der genannten Persönlichkeiten zusammenfassend FRIEDRICH/NOTHERS I 1998, IX mit älterer Literatur. Zur Datierung DITTENBERGER 1903; BALDWIN 1976 und 1977. Die Epitome der Werkeinleitung kündigt neben erlesenen Speisen ± eigens genannt sind die Fischdelikatessen als Höhepunkt des Banketts ± Äallerhand Tierarten, Männer, die Geschichtswerke verfasst haben, Dichter und Gelehrte, Musikinstrumente und unzählige heitere Geschichten³, zudem Äunterschiedliche Formen von Trinkgefäßen, Schätze von Königen, enorme Ausmaße von Schiffen sowie ... anderes in HOOHXQG)OOH³DQ$WKHQD±b).
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nen, die die Deipnosophisten aus aller Welt an der gastlichen Tafel des stadtrömischen Kulturpatrons zusammengeführt hat. Denn die griechische Tischgemeinschaft ist durch das römische ÃNationalfestµ der Parilien motiviert, das in der Werkmitte kurzzeitig eingeblendet wird6 und die Schnittmenge beider Kommunikationsräume bildet: Durch den alljährlichen Gedenktag erhält das okkasionelle Gelehrtenbankett Anteil an der Kontinuität des römischen Imperium. In dieser tradierten Stadtgründungsfeier, die jüngst unter Hadrian zum reichsweiten Kaiserfest avancierte, werden alle vormaligen Kulttraditionen des Mittelmeerraums subsumiert: seien es die altertümlichen, auf vorgriechische Wurzeln zurückzuführenden Tonaia auf Samos, die ± so das gelehrte Konstrukt des Demokritos ± die Erfindung des Lygoskranzes kommemorieren, oder die spektakulären Feststiftungen der hellenistischen Regenten,7 die im Medium der Religion ihre Herrschaft vor einem internationalen Publikum zu legitimieren suchten.8 Vor dem Hintergrund des Festgeschehens ist nach der imperialen Qualität der im Gelehrtenbankett präsentierten Aitien und Wundergeschichten zu fragen. Denn in dem konvivialen Diskursfeld wird das Verhältnis zwischen Griechenland und Rom neu ausgehandelt: Die Visualisierung des Imperium im Medium exotischer Speisen und Getränke auf der Tafel des Gourmets hat eine lange literarische Tradition, die sich bis zu dem Kochbuch des Archestratos und dessen Übersetzung in (QQLXV¶Hedyphagetica9 zurückverfolgen lässt.10 Während Horaz die importierten Luxusgüter als Chiffre für die in fernen Grenzkriegen gesicherte pax Augusta nutzt, dank derer der urbane Genuss des otium ermöglicht wird,11 sind insbesondere Seneca und Plinius als prominente Kritiker der Exzesse und Perversionen in der Kochkunst zu nennen, deren Anhänger keine Mühen und Wege scheuten, um den verwöhnten Gaumen mit sündhaft teuren Importwaren aus aller Herren Länder zu befriedigen.12
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Athen. 8,361f. Dazu EGELHAAF-GAISER 2005 und 2005a, Kapitel 5.2.2. So insbesondere die Sequenz der Festinszenierungen der Diadochen Athen. 5,193c±210f sowie Athen. 4,128c±130d (Gastmahl des Karanos); 4,147f±148c (Gastmahl der Kleopatra und des Marc Anton); 12,538c±539a (Hochzeitsbankett von Susa). 8 Zum Prunkbankett der makedonischen und hellenistischen Könige VÖSSING 2004, 66±186; zum Schauwert der hellenistischen Festkultur KUTTNER 1999; BELL 2004, 114±198. Zu den temporären Kunstwerken und theatralischen Schaubildern der hellenistischen Feste und Prozessionen als Ausweis der ostentativen Verschwendung HESBERG 1989 und 1999. Zur enargeia der hellenistischen Ekphraseis und deren Wiederbelebung im Kontext der zweiten Sophistik WEBB 2000; zu der Siegesfeier des Aemilius Paullus in Amphipolis, dem Triumph des L. Anicius Gallus in Rom und den Siegesfeiern des Antiochos IV in Daphne EDMONSON 1999. 9 Enn. frg. 218,34±220,44 Vahlen. 10 Zur Inszenierung der WU\SKƝ als Symbol für die freie Verfügbarkeit über alle Güter und Kennzeichen der Könige und Tyrannen und dessen Verbindung mit dem persischen Tributsystem VÖSSING 2004, 40±51. 11 Z.B. Hor. sat. 2,4 und 2,8; zur imperialen Bankettkultur in der Konviviallyrik des Horaz LEACH 1997. 12 Sen. dial. 12,10,2f.; Plin. nat. 15,105; nat. 9,168f.; siehe auch Suet. Vitellius 13.
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Wenn nun die älteren Autoren aus stadtrömischer Sicht die Ausdehnung des Imperium mittels der konvivialen Importwaren zu beglaubigen suchten, so proklamiert Athenaios sein Reichsverständnis in der Multiperspektivität und Vielfalt der zitierten Quellen: Nachdem die Forschung lange Jahre die Position vertrat, dass Rom in der Wahrnehmung der griechischsprachigen Deipnosophisten nur eine marginale Rolle spiele,13 wurde in neueren Untersuchungen das kaiserzeitliche Imperium als eine zentrale Denkfigur des Athenaios erwiesen.14 Die romzentrierten Textpassagen fallen zwar quantitativ kaum ins Gewicht, sind aber prominent platziert15 und fungieren somit als lenkende Lesezeichen in der überreichen und oftmals unübersichtlichen, da nur lose strukturierten Materialfülle des enzyklopädischen Werks. Dies gilt auch für die religiös gefärbten Aitien und Wundergeschichten: In das Florilegium der Blütenkränze, das an und für sich nur Orte der östlichen Reichshälfte berücksichtigt, bindet zunächst Ulpianos mit dem Aition des Antinooskranzes aus Alexandria eine provinziale ÃHadriansblüteµ ein, wogegen dann Massurios mit dem archaischen Kranzerfinder Ianus einen stadtrömischen Schlussakzent setzt. Weiterhin ist zu untersuchen, wie Religion im Kommunikationsraum des Banketts zur Bildungsostentation funktionalisiert wird. Denn erst im gelehrten Tischgespräch werden die praktizierten Kulte und Riten sowie die musealen Schaustücke der Heiligtümer zum allgemein verfügbaren Wissensbestand und Bildungsgut erhoben: Die triumphale Beglaubigung der Reichsausdehnung mittels importierter Kunstwerke und exotischer Tiere in den hauptstädtischen Tempelarchiven war bereits ein Topos der plinianischen Naturalis historia.16 Doch ergänzt erst Athenaios die Präsentation der wundersamen Exponate konsequent durch die atiologische Diskussion und gelehrte Sachkommentierung der Deipnosophisten, die sich in ihrer enzyklopädischen Belesenheit das römische Imperium materiell und vor allem ideell angeeignet haben. Zumal renommierte und ehrwürdige Kultorte wie das Heraion von Samos oder das Apoll-Orakel von Delphi fungieren mit ihren prunkvollen Weihgaben und reichen Festtraditionen als nahezu unerschöpfliche Schatzkammern des Wunders, auf die sich die Schmausgelehrten immer wieder beziehen.17 Indem sie zu den in den Heiligtümern bewahrten Kultur13 Repräsentativ ANDERSON 1997, 2179f. 14 BRAUND 2000; EGELHAAF-GAISER 2005 und 2005a, Kapitel 5.2. 15 Zu nennen sind namentlich Athen. 1,3a±b (Bibliothek des Gastgebers Larensis); 1,3c (Rom als Wahlheimat der Deipnosophisten); 1,20b±c (Rom als caput mundi); 5,221a±f (ein Gorgonenfell als Votiv im stadtrömischen Herculestempel); 6,272d±275b (komparatistische Studie zum Sitten- und Werteverfall); 8,361f. (Parilien); 9,398±399a (Präsentation des exotischen Vogels tetrax in der stadtrömischen Tischgesellschaft); 14,639b±640a (Saturnalien); 15,692d±f (Liebeslied auf Ianus). 16 Plin. nat. 8,37 bezeugt Haut und Gebiss einer vom Feldherrn Regulus erlegten Riesenschlange in einem stadtrömischen Tempel; nat. 9,116 einen mit britannischen Perlen besetzten Brustharnisch Caesars im Tempel der Venus Genetrix; auch andernorts wurden als Beweis der Glaubwürdigkeit Objekte in Tempeln hinterlegt, so zwei Gorgadenhäupter im karthagischen Iunotempel (nat. 6,200) und ein Krokodil im Iseion von Caesarea (nat. 5,51). 17 Athen. 2,38c±d (vgl. 11,465a): Altar- XQG.XOWVWLIWXQJHQGHV$PSKLNW\RQIU'LRQ\VRV¶8nterweisung in der Kunst der richtigen Weinmischung; 5,221f (ein Gorgonenfell im römischen
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gütern ein passendes Aition (er)finden, das sich als entlegenes Textzitat oder als erzählerisch ausgearbeitete Mirabilie in das Tischgespräch integrieren lässt, können sie zugleich ihre Belesenheit und Gesprächskompetenz beweisen. Bevorzugt werden hierfür faszinierende, singuläre und ortstypische Kultrealia, die mit dem symposialen Raum plausibel zu verbinden sind: So wird das Heiligtum von Samos als Herkunftsort der Pfauen gewürdigt, die lange Zeit als nahezu unerschwingliche Delikatesse und Inbegriff der Schwelgerei gehandelt wurden.18 Beglaubigt wird die These im Medium der samischen Münzen, die den heiligen Vogel der Hera aufweisen. Das Heraion präsentiert sein Tierreservat als eine zoologische Wunderkammer,19 die einerseits den Besucher vor Ort entzückt und andererseits den ganzen Mittelmeerraum mit ihren Tieren beliefert, so dass die dereinst so seltenen Pfauen in Rom mittlerweile geradezu eine ubiquitäre Massenware sind.20 Nicht zuletzt muss in einem kaiserzeitlichen Sophistenbankett der artifiziellen Präsentation des erlesenen Wissens besondere Aufmerksamkeit gelten. Denn ungeachtet des unstrittigen Primats der belehrenden Unterhaltung ist das Tischgespräch aufgrund seiner intendierten Beteiligung aller Gäste für jede erdenkliche Art der Wissensvermittlung offen: Ob Anekdote oder Mirabilie, Begriffsgeschichte oder Rätsel, Gedichtvortrag oder religionsphilosophische Diskussion ± im Prinzip kann jeder Gast seinen Festbeitrag leisten, wie und worüber er mag, solange er nur die Regeln der konvivialen Konversation ± namentlich Kürze, Neuheit und Würze ± befolgt.21 Die Pluralität der Präsentationsformen gilt demnach auch für das symposiale ÄBildungsgut Religion³: Den farbenprächtigen Ekphraseis der hellenistischen Festinszenierungen oder dem wortreichen Erospreis durch Demokritos22 als den rhetorischen Prunkstücken stehen die auf ein nüchternes Informationsgerippe reduzierten Katalogeinträge gegenüber. So werden renommierte Stät-
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Herculestempel); 6,231d±233a, 11,505d±e und 13,591b±c; 13,605a (Weihgeschenke in Delphi); 13,606f±b (Kunstwerke in Delphi und Samos). Zum euergetischen Engagement der pepaideumenoi an den renommierten griechischen Kultstätten GALLI 2001. Zum enormen Profit aus der Pfauenzucht Varro rust. 3,6; zum Pfau als teure Delikatesse Cic. fam. 9,18,3; 9,20,2; Hor. sat. 1,2,116. Wie der anschließend erwähnte Tempel von Leros mit seinen heiligen Perlhühnern (655c). Bereits in einem auf das Jahr 112 v. Chr. datierenden Brief (Pap. Tebt. 33 = HUNT/ EDGAR 1958, 416) wurde für einen nilaufwärts nach Arsinoe-Krokodilopolis reisenden hochrangigen Senator bereits im Vorfeld eigens Futter für die heiligen Krokodile angefordert, die offenbar eine ähnliche Publikumsattraktion wie die heiligen Pfauen von Samos darstellten. Diese Behauptung wird in Athen. 14,654d±655a gleich durch mehrere Literaturzitate gedeckt. Gerade der Aspekt der Neuheit spielt in der Runde der umfassend belesenen Deipnosophisten eine zentrale Rolle. Dies wird an der Forderung an Ulpianos ersichtlich, etwas Abgelegenes zu präsentieren, sowie an dessen Empörung, dass man ihm die Präsentation einer altbekannten Materie überhaupt zutraut (Athen. 15,676f±577a). Demgegenüber scheint die Vorschrift der Kürze ständig durchbrochen zu sein. Doch ist dabei nicht zu vergessen, dass sich die ausufernden Kataloge und Prunkvorträge stets aus Beispielsreihen zusammensetzen und demzufolge mühelos in kleine Redebeiträge zerlegen lassen. Athen. 5,193c±221a; 15,670a±f.
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ten des Eroskultes und verschiedene Formen der Saturnalien aufgelistet23 oder die lange Sequenz ortstypischer Backwaren mit diversen Sorten von Opferkuchen angereichert.24 Einen hohen Stellenwert hat im Gelehrtenbankett zumal die kleinformatige Wunder- und Orakelgeschichte,25 da sie dem Referenten Gelegenheit gibt, sich nicht nur als versierter Kultkenner und kritischer Quellenforscher, sondern auch als sprachgewandter Erzähler und origineller Mythendeuter zu profilieren: Der ideale Sophist beherrscht die Klaviatur der Selbstinszenierung perfekt und kann deshalb wahlweise in der Rolle des sorgsam recherchierenden Religionsforschers, des machtvollen Zauberers und Wortkünstlers oder des ingeniösen Exegeten und Mythenerfinders brillieren. Ich möchte im Folgenden die skizzierte Fragestellung auf exemplarische Texte anwenden. Zu diesem Zweck wurden aus dem Kranzkatalog mit dem altsamischen Lygoskranz, dem Ämodernen³ Lotoskranz des Antinoos und dem altrömischen Kranzerfinder Ianus drei Beispiele gewählt, die verschiedene Aspekte der religiösen Wissenspräsentation, der imperialen Geschichtskonstruktion und der sophistischen Selbstinszenierung erkennen lassen. Die getroffene Selektion trägt zugleich der Dialogstruktur des Tischgesprächs Rechnung. Denn die Anthologie der Kränze und Duftessenzen gliedert sich in drei klar markierte Runden,26 in denen nacheinander der Philosoph Demokritos, der Sprachwissenschaftler Ulpianos und der Universalgelehrte Massurios das Wort ergreifen. Jedem der drei Deipnosophisten ist eines der gewählten Kranzbeispiele zuzuordnen, so dass in der dreiteiligen Textinterpretation auch die Charakteristika der jeweiligen Referenten berücksichtigt werden.
23 Athen. 13,561c±562a (berühmte Orte des Eroskultes); 14,639b±640a (ortstypische Saturnalienfeste im Imperium). 24 Athen. 14,643e±649a, darin: Ampiphon (645a±b: Opferkuchen für die Wegkreuzungen und die heiligen Stätten der Artemis), Basynias (645b: Opferkuchen der Delier für Iris); Mylloi (647a: geopfert nach den Thesmophoriazusen). 25 Athen. 5,221b±f (Weihung des Gorgonenfells in den stadtrömischen Herculestempel); 8,360d±361e (Orakelgeschichten aus Rhodos und Ephesos); 15,672a±676e (religiöses Kranzaition zum samischen Lygoskranz, Weinwunder des Dionysos, Wundertaten der Aphrodite beim Kulttransfer nach Naukratis). Zum Bankett als bevorzugtem Ort für die Präsentation von Wundergeschichten sowie zur Affinität von Anekdote, mirabile und Symposialliteratur HOSE 1999, 189±192; LUEHR 1976, 9±13; als repräsentative Beispieltexte siehe Plin. epist. 9,33 (Delphingeschichte beim geselligen Tischgespräch); Petron 61,6±62,14 (Werwolfgeschichte in der Cena Trimalchionis); Plut. mor. 160F±163D (Arion und andere Delphingeschichten im Gelage der sieben Weisen); Apul. met. 2,19,1±2,31,4 (Gastmahl in Hypata mit ausführlicher Hexengeschichte). 26 Athen. 15,669c: ȡȖȡțĮIJȠઃȢʌĮįĮȢਵįȘijȡȠȞIJİȢਲȝȞıIJİijȞȠȣȢțĮȝȡĮ; 15,676e: IJȚ IJȠIJȦȞ ȜİȖȠȝȞȦȞ ਥʌİȚıોȜșȠȞ ʌĮįİȢ ıIJİijȞȠȣȢ ijȡȠȞIJİȢ IJȞ ਕțȝĮȗંȞIJȦȞ țĮIJ IJȠઃȢ țĮȚȡȠȢțĮȂȣȡIJȜȠȢµȜȖİțĮȜİੇʌİȞȅȜʌȚĮȞıIJİijȞȦȞੑȞંȝĮIJĮ; 15,686b±c: țਕȖઅ į¶ਥʌIJȠIJȠȚȢIJȠ૨ȜȖİȚȞਵįȘʌĮıȠȝĮȚIJઁIJȝİȡȠȞʌĮȡĮȟȦȡȞIJİIJઁȞʌİȡIJȞȝȡȦȞȜંȖȠȞ IJȠȢ ȕȠȣȜȠȝȞȠȚȢ įȚİȟȡȤİıșĮȚ ȠIJȦ Ȗȡ IJȞ IJȞ ȜંȖȦȞ ȟȠįȠȞ ੮ıʌİȡ įȡȝĮIJȠȢ ʌȠȚıȠȝĮȚ; 15,692f: IJȠıĮ૨IJĮțĮʌİȡȝȡȦȞਥȜȤșȘ
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2. DER LYGOS- UND DER LORBEERKRANZ: DIE ORGANISATION DES AITIOLOGISCHEN TISCHBEITRAGS Motiviert wird der Kranzkatalog nach dem in den Deipnosophisten üblichen Verfahren27 durch den Auftritt von Sklaven, die die entsprechenden Requisiten hereintragen. Der äußere Impuls wird durch eine inhaltliche Charakteristik des neuen Gesprächsthemas ergänzt. Denn beim Anblick der Blüten formuliert der Kyniker Kynulkos ein Problem, das ihn vorgeblich Äschon seit tausend Jahren³ lebhaft beschäftigt, nämlich: Warum sich die Kränze der Verliebten in ihre Einzelteile auflösen? Aufgebürdet wird die Beantwortung dieser Frage dem Philosophen Demokritos, der als ein wahrer Musenfreund (669b: ȝȠȣıȚțઆIJĮIJȠȢ) für die Lösung des Rätsels prädestiniert sei.28 Der Angesprochene leitet seine Ausführungen mit einem lyrischen Trinkspruch an Kynulkos ein, von dem er als Gegenleistung Lieder zum Schmuck des Banketts einfordert.29 In ostentativer Referenz auf das zentrale Gesprächsthema des platonischen Symposion30 zeigt er dann die Verbindung zwischen der flüchtigen Schönheit des Kranzes und der ewigen Wirkungsmacht des Eros auf.31 Bereits in der Exposition des Gesprächs werden also die ausgeprägte Okkasionalität und literarische Tradition des symposialen Raums reflektiert: Der vergängliche Blumenschmuck steigert einerseits die Festlichkeit und verweist zugleich auf die zeitliche Begrenztheit des Banketts, das wiederum durch das Instrument des Tafellieds, der kultivierten Tischkonversation und insbesondere 27 Vgl. Athenaios 2,58b±c (Vortrunk und Kommentar zum genauen Wortgebrauch); 3,85c (Hereintragen von Austern und Schalentieren eröffnet Gespräch über Meeresfrüchte); 3,104c±d (aufgetragene Langusten werden kommentiert); 3,106e±f (Auftragen der ÄLeber im Schlafrock³ verknüpft mit literarischen Belegen); 3,116a (Auftragen von Salzfisch eröffnet Behandlung der Fischarten); 3,125f±126a/127a (aufgetragene Kuchen veranlassen Behandlung der Süßspeisen); 9,368f±369a (von aufgetragenen Gerichten sollen die erwähnenswerten behandelt werden); 9,373a (Kommentar auf serviertes Geflügelfleisch); 9,406b±c (Auftragen von Geflügel mit Linsen- und Erbsenbrei führt zur Abhandlung über Linsenbrei und andere Gemüseeintöpfe); Athenaios 9,408b (Wasser zum Händewaschen veranlasst zur Nachfrage nach dem Beleg für das Wort ÄWasserbecken³); 10,426b±c (Forderung nach stärkerer Weinmischung führt zum Gesprächsthema ÄMischverhältnisse bei den Alten³), 14,613d±616e (Darbietungen des Larensios motivieren Kommentierung derselben); 14,639b±643e (anlässlich des Auftragens des Nachtisches Katalog der Kuchenarten). 28 Athen. 15,669c±d. 29 Athen. 15,669e. 30 Ausdrücklich wird der Ähöchstverehrte Platon³ (15,670f: ੂİȡઆIJĮIJȠȢȆȜIJȦȞ) in dem Kranzrätsel zitiert, das Demokritos unmittelbar an seine Erosrede anfügt. Zum Rekurs des Gesamtwerks auf das platonische Vorbild Athen. 1,1f: įȡĮȝĮIJȠȣȡȖİ į IJઁȞ įȚȜȠȖȠȞ ਝșȞĮȚȠȢ ȗȜ ȆȜĮIJȦȞȚț; vgl. Athen. 15,702 c: IJĮ૨IJĮ ijȜIJĮIJİ ȉȚȝંțȡĮIJİȢ țĮIJ IJઁȞ ȆȜIJȦȞĮ Ƞ ȈȦțȡIJȠȣȢ ȞȠȣ țĮ țĮȜȠ૨ ʌĮȖȞȚĮ ਕȜȜ IJȞ įİȚʌȞȠıȠijȚıIJȞ ıʌȠȣįıȝĮIJĮ. LUKINOVICH 1982; ROMERI 2002, 306±316. Ǽvident ist die Angleichung des Ulpianos an das Original des Sokrates in der einführenden Personencharakteristik (Athen. 1,2d±e) und dem theatralischen Abgang des Symposiarchen, der wenige Tage nach dem Gelehrtenbankett gestorben sei (Athen.15,686b±c). Weniger deutlich markiert ist die Motivparallele und symposiale Funktionalisierung der Gorgo (Athen. 5,221a±f im Vergleich zu Plat. Symp. 198b±199b), dazu EGELHAAF-GAISER 2005a, Kapitel 5.1. 31 Athen. 15,670a.
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durch die Hommage für den Ãgroßen Klassikerµ des literarischen Symposions überhöht und perpetuiert wird. Vor dieser sorgfältig aufgebauten Kulisse ist die anschließende Gesprächssequenz um den Lygoskranz zu lesen.32 Erneut ist es der streitsüchtige Kynulkos, der nun von seinem stetigen Kontrahenten Ulpianos33 wissen will, was es mit dem bei Anakreon erwähnten Kranz von Naukratis34 auf sich hat, und weshalb sich nach Aussage desselben Dichters manche Menschen mit der Lygosrute bekränzen. Da Ulpianos um eine Antwort verlegen ist, nimmt sich wiederum Demokritos der Aufgabe an und präsentiert zunächst ein entlegenes Kultaition des Lygoskranzes:35 Wie dem samischen Lokalhistoriker Menodot zu entnehmen sei, habe sich Admete, die Tochter des Eurystheus, nach ihrer Flucht aus der Heimat und aus Dankbarkeit ob ihrer gnädigen Rettung intensiv um die Erhaltung des Heraion auf Samos bemüht und damit den Zorn der Argiver erregt, die ihrerseits die räuberischen Etrusker anstifteten, das samische Kultbild zu entführen. Als diese freilich mit der geraubten Statue die Küste verlassen wollten, habe die Göttin selbst die Abfahrt der Schiffe verhindert. Die ortsansässigen Karer, die das am Strand ausgesetzte Kultbild morgens wiederfanden, suchten in ihrer Naivität die Göttin durch Fesseln aus Lygosgeflecht für künftige Zeiten am Fortlaufen zu hindern; schließlich habe Admete das Kultbild befreit und erneut an seinem Platz aufgestellt. Des Wunders gedenke man seitdem in einem Jahresfest, an dem die Göttin am Meer gebadet und mit Opferkuchen bewirtet werde.36 Den an die Fesselung erinnernden Lygoskranz zu diesem Anlass zu tragen, habe aber Apoll den Karern befohlen, als die ihn ob einer angemessenen Sühnung befragten. Als einzige Alternative habe der Orakelgott für die Verehrer der samischen Hera den eigenen Lorbeerkranz zugelassen, der bis heute noch in Ehren gehalten werde. Was leistet diese Wundererzählung im Kontext des Symposion? Zunächst einmal ist es eine kunstreich erlesene Geschichte, die sich aufgrund ihres Unterhaltungswertes zum Tischbeitrag qualifiziert. Dabei erscheint zunächst, wie bereits die Reaktion der aufgeklärten Griechin Admete und der leise Spott über die Leichtgläubigkeit der ungebildeten Karer zeigt,37 keines der genannten Kultelemente wirklich ungewöhnlich: Mobile Kultbilder und gefesselte Götter sind ebenso wie deren rituelle Waschungen und Speisungen breit bezeugt.38 Es bleibt also 32 Athen. 15,672a±674a. 33 Zur Exposition des Äkonvivialen Kampfpaars³ Athen. 1,1d±e. Zur Inszenierung der beiden Gegenspieler im Dialog EGELHAAF-GAISER 2005a, Kapitel 5.3.3. 34 Dazu Athen. 15,675f±676e. 35 Athen. 15,672a±673e. 36 Zur Problematik einer Auswertung des bei Menodot präsentierten Aition für den praktizierten Kult der Tonaia KIPP 1974, bes. 158±160; 171f. und 183; vgl. die kritischen Anmerkungen zu KIPPs Theorie bei KRON 1988, 139f. 37 Athen. 672d: ੪ȢįįȕĮȡȕȡȠȣȢȀ઼ȡĮȢਫ਼ʌȠȞȠıĮȞIJĮȢĮIJંȝĮIJȠȞਕʌȠįİįȡĮțȞĮȚ (scilIJઁ ȕȡIJĮȢ). 38 Zur Mobilität von Kultbildern GLADIGOW 1998, 11f., zum Widerstand gegen eine Kultübertragung SCHMIDT 1909, 111; 114; zu gefesselten Göttern MEULI 1975; MERKELBACH 1971; zu Speisungen, Reinigungs- und Bekleidungsriten GINOUVÈS 1962, 283±298; GLADIGOW
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allein der Lygos als ortsspezifische Kultsingularität: Laut Pausanias soll die samische Hera unter dem Lygosbaum geboren sein, der ihr deshalb heilig war und als der älteste Baum Griechenlands bezeichnet wurde;39 und noch im 3. Jahrhundert n. Chr. (Gordianus III) zeigen Münzbilder den aus einem Altar sprießenden Lygosbusch vor dem Kultbild im samischen Heratempel.40 Auch in der Erzählung zur Genese des Kranzes wird deshalb, wie es sich für ein gut konstruiertes Aition gehört, bei jeder sich bietenden Gelegenheit das ehrwürdige Alter und die ununterbrochene Kontinuität der Kulttraditionen hervorgehoben,41 die der interessierte Besucher an konkreten ÃBeweisenµ vor Ort ± rutenumwundenes Kultbild, heiliger Strauch, Jahresfeier ± verifizieren kann. Nun wird aber über diese dezidierte Lokalbindung hinaus das eigentliche Kranzaition von dem literaturkundigen Deipnosophist ausdrücklich zu Prometheus in Bezug gesetzt:42 Lange vor den vorgriechischen Karern habe bereits dieser exemplarische Wohltäter der Menschen in dankbarer Erinnerung an seine Entfesselung freiwillig für Zeus einen solchen Kranz entrichtet, der deshalb binnen kurzer Zeit auch bei den Menschen eine herausragende Bedeutung gewann. Durch diese Rückprojektion in die mythische Vergangenheit wird auch der Lygoskranz geadelt und zum ÃHyparchetyposµ erhoben, von dem alle anderen Festkränze abzuleiten sind. Daher kann denn auch die samische Wundergeschichte ortsunabhängig in jedem Symposion präsent werden und findet durch den allgemeinen Gebrauch der Blütenkränze immer wieder Beglaubigung.43 Die Qualität des Lygos erschöpft sich laut Demokritos aber nicht in seinem herausragenden Alter und seiner Sakralität, sondern zeigt sich auch ganz handfest
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1990, 104f.; DERS. 1998, 9f. Zu den archäologischen Realien des samischen Herakultes KRON 1988, KYRIELEIS 1981. Paus. 8,23,5: İੁ į ਬȜȜȞȦȞ IJȠȢ ȜંȖȠȚȢ ਦʌંȝİȞȠȞ țĮIJĮȡȚșȝıĮıșĮȚ įİ ȝİ ʌંıĮ įȞįȡĮ ıĮ IJȚ țĮ IJİșȘȜંIJĮ ȜİʌİIJĮȚ ʌȡİıȕIJĮIJȠȞ ȝȞ ਲ ȜȖȠȢ ਥıIJȞ ĮIJȞ ਲ ਥȞ IJ ȈĮȝȦȞ ʌİijȣțȣĮੂİȡਾȡĮȢȝİIJįĮIJȞਲਥȞǻȦįઆȞૉįȡ૨ȢțĮਥȜĮĮIJİਲਥȞਕțȡȠʌંȜİȚțĮਲ ʌĮȡǻȘȜȠȚȢ KYRIELEIS 1982, 87f. mit Abb. 64; KRON 1988, 140 Abb. 2. Athen. 15,672b: IJȠ૨ ੂİȡȠ૨ IJȠ૨ țĮ Ȟ૨Ȟ ਫ਼ʌȡȤȠȞIJȠȢ; 672d: IJȞ į ਝįȝIJȘȞ ȜıĮıĮȞ ĮIJઁ ਖȖȞıĮȚțĮıIJોıĮȚʌȜȚȞਥʌIJȠ૨ȕșȡȠȣțĮșʌİȡʌȡંIJİȡȠȞįȡȣIJȠįȚંʌİȡਥȟਥțİȞȠȣțĮș¶ ਪțĮıIJȠȞ IJȠȢ ਕʌȠțȠȝȗİıșĮȚ IJઁ ȕȡIJĮȢ İੁȢ IJઁȞ ગંȞĮ țĮ ਕijĮȖȞȗİıșĮȚ ijĮȚıIJ IJİ ĮIJ ʌĮȡĮIJȚșıșĮȚ; 673b: IJઁȞ țĮ Ȟ૨Ȟ IJȚ įȚĮȝȞȠȞIJĮ IJોȢ įijȞȘȢ ıIJijĮȞȠȞ; 673c: țĮ ȜȖȠȢ ਕȡȤĮȠȞ ȀĮȡȞ ıIJijȠȢ; 673d: ıȣȞȕȘ į IJȞ IJોȢ ȜȖȠȣ ıIJİijȞȦıȚȞ țĮ ȝȤȡȚ IJȞ țĮIJ ȆȠȜȣțȡIJȘȞȤȡંȞȦȞ੪ȢਙȞIJȚȢİੁțıİȚİIJૌȞııȣȞȘșİıIJȡĮȞਫ਼ʌȡȤİȚȞ Athen. 15,672e±f: șİıʌıĮȚ IJઁȞ ૅǹʌંȜȜȦȞĮ ʌȠȚȞȞ ĮIJȠઃȢ ਕʌȠįȠ૨ȞĮȚ IJૌ șİ įȚ¶ ਦĮȣIJȞ ਦțȠıȚȠȞțĮȤȦȡȢįȣıȤİȡȠ૨ȢıȣȝijȠȡ઼ȢȞਥȞIJȠȢȝʌȡȠıșİȞȤȡંȞȠȚȢਕijઆȡȚıİȞǽİઃȢIJ ȆȡȠȝȘșİȤȡȚȞIJોȢțȜȠʌોȢIJȠ૨ʌȣȡંȢȜıĮȢĮIJઁȞਥțIJȞȤĮȜİʌȦIJIJȦȞįİıȝȞāțĮIJıȚȞ ਦțȠıȚȠȞਥȞਕȜȣʌțİȚȝȞȘȞįȠ૨ȞĮȚșİȜıĮȞIJȠȢIJĮIJȘȞਥțİȞਥʌȚIJȟĮȚIJઁȞțĮșȘȖȠȝİȞȠȞ IJȞ șİȞ șİȞ ĮIJțĮ IJઁȞ įİįȘȜȦȝȞȠȞ ıIJijĮȞȠȞ IJ ȆȡȠȝȘșİ ʌİȡȚȖİȞıșĮȚ țĮ ȝİIJ¶ Ƞ ʌȠȜઃIJȠȢİİȡȖİIJȘșİıȚȞਕȞșȡઆʌȠȚȢਫ਼ʌ¶ ĮIJȠ૨țĮIJIJȞIJȠ૨ʌȣȡઁȢįȦȡİȞįȚંʌİȡțĮIJȠȢ ȀĮȡı țĮIJ IJઁ ʌĮȡĮʌȜıȚȠȞ șİઁȢ ʌĮȡİțİȜİıĮIJȠ ıIJİijĮȞઆȝĮIJȚ ȤȡȦȝȞȠȚȢ IJૌ ȜȖ țĮIJĮįİȞIJȞਦĮȣIJȞțİijĮȜȞIJȠȢțȜįȠȚȢȠੈȢĮIJȠțĮIJȜĮȕȠȞIJȞșİંȞțĮIJĮȜ૨ıĮȚįțĮ IJਙȜȜĮ ȖȞȘ IJȞ ıIJİijȞȦȞ ਥʌIJĮȟİ ȤȦȡȢ IJોȢ įijȞȘȢā IJȞ į¶ ĮIJઁȢ ijȘ IJȠȢ IJȞ șİઁȞ șİȡĮʌİȠȣıȚȝંȞȠȚȢਕʌȠȞȝİȚȞįȡȠȞ. Zur prominenten Bedeutung der Blumenkränze als symposiales Requisit BLECH 1982, 64f.
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und praktisch in seiner vielseitigen Nutzbarkeit. So sind die biegsamen Zweige neben der Fesselung von Kultbildern und der Herstellung eines Kranzes für jede Art des Flechtwerks vorzüglich geeignet, was der Deipnosophist mit einem Zitat des samischen Epikers Nikainetos dokumentiert: Die angeführten Verse evozieren das Jahresfest im Heraion, bei dem man sich in ländlich-altertümlicher Tradition unter freiem Himmel auf geflochtenen Matten lagert44 und die Göttin Hera mit Preisliedern zur Lyrabegleitung ehrt.45 Die Festlichkeit des archaisierend-schlichten Freiluftgelages mit mündlichem Gedichtvortrag wird also mittels des anschaulichen Eposzitats im luxuriösen Bankett der Schmausgelehrten erneut gegenwärtig. Durch den betonten Kultkonservatismus lässt sich die Ãursprünglicheµ Okkasion des rustikalen Symposion auf Samos plausibel perpetuieren und zugleich zu einem orts- und zeitübergreifenden Kulturvergleich nutzen: Durch die Autorität und Ehrwürdigkeit der myth-historischen Vergangenheit wird einerseits die kaiserzeitliche Tafelrunde der Deipnosophisten nobilitiert. Andererseits werden in der konkurrierenden Gegenüberstellung der beiden Bankettgesellschaften die Kulturleistungen des römischen Imperium evident, die sich im hohen Komfort und Raffinement des urbanisierten Symposion dokumentieren. Ermöglicht wird nun aber ± darauf weist Demokritos nachdrücklich hin ± diese artifizielle Konstruktion einer religionsgeschichtlichen Kontinuität im aitiologischen Tischgespräch nicht durch eine mündliche Festüberlieferung, sondern durch die kaiserzeitliche Bildungs- und Buchkultur:46 Für die einschlägigen Schriftquellen zum Lygos erstellt der Deipnosophist ein eindrucksvolles Stemma, das vom archaischen Lyriker Anakreon über den hellenistischen Lokalhistoriker Menodot und den ÃHeimatdichterµ Nikainetos bis zum zeitgenössischen Kopisten Hephaistion führt. Damit wird der altsamische Weidenkranz in der reichsweiten Anthologie der Blütenkränze verortet. Denn in der Selektion seiner Quellen bestätigt Demokritos zwar den Primat der Lokalgeschichten, deren Spezialwissen alle an-
44 Zur Tradition des rustikalen Bodenlagers auf stibades BLECH 1982, 398f.; KRON 1988, 138. 45 Athen. 15,673b±d: ȝȞȘȝȠȞİİȚȞį¶ ȠȚțİȞਥʌʌȠıંȞ IJȚIJોȢțĮIJIJȞȜȖȠȞıIJİijĮȞઆıİȦȢțĮ ȃȚțĮȞİIJȠȢਥʌȠʌȠȚઁȢਥȞIJȠȢૅǼʌȚȖȡȝȝĮıȚȞʌȠȚȘIJȢਫ਼ʌȡȤȦȞਥʌȚȤઆȡȚȠȢțĮIJȞਥʌȚȤઆȡȚȠȞ ੂıIJȠȡĮȞȖĮʌȘțઅȢਥȞʌȜİȠıȚȞȜȖİȚį¶ ȠIJȦȢā ȠțਥșȜȦĭȚȜંșȘȡİțĮIJʌIJંȜȚȞਕȜȜʌĮȡ¶ ૠǾȡૉ įĮȞȣıșĮȚȗİijȡȠȣʌȞİȝĮıȚIJİȡʌંȝİȞȠȢ ਕȡțİȝȠȚȜȚIJȝȞਫ਼ʌઁʌȜİȣȡȠıȚȤĮȝİȣȞȢ ਥȖȖșȚʌȡʌȡȠȝȜȠȣįȝȞȚȠȞਥȞįĮʌȘȢ țĮȜȖȠȢਕȡȤĮȠȞȀĮȡȞıIJijȠȢਕȜȜijİȡıșȦ ȠੇȞȠȢțĮȂȠȣıȞਲȤĮȡİııĮȜȡȘ șȣȝોȡİȢʌȞȠȞIJİȢʌȦȢǻȚઁȢİțȜĮȞȝijȘȞ ȝȜʌȦȝİȞȞıȠȣ įİıʌંIJȚȞਲȝİIJȡȘȢ ਥȞIJȠIJȠȚȢȖȡਕȝijȚȕંȜȦȢİੁȡȘțઅȢȃȚțĮȞİIJȠȢʌંIJİȡȠȞıIJȡȦȝȞોȢਪȞİțİȞਲ਼ıIJİijĮȞઆıİȦȢ ਕȡțİIJĮȚIJૌȜȖIJ>į@ȜȖİȚȞĮIJȞIJȞȀĮȡȞਕȡȤĮȠȞıIJijȠȢʌȡંįȘȜȠȞțĮșıIJȘıȚIJઁ ȗȘIJȠȝİȞȠȞ 46 Zur prominenten Bedeutung der zeitgenössischen Buchkultur für Athenaios JACOB 2000; LEE TOO 2000; BRAUND 2000, 18f.
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deren Quellen an Verlässlichkeit übertrifft.47 Doch wird das erklärte Städtelob von den Universalisierungstendenzen der imperialen Bildungskultur überlagert: Die komplexe Aitiologie des Lygoskranzes wird gerade nicht vor Ort im samischen Heraion ± etwa in einem zur Kultfeier vorgetragenen Festlied48 ± generiert, sondern ist das Resultat einer reichsweiten Bibliotheksrecherche. So findet der in Nikomedia geborene Demokritos seine kostbare Lesefrucht aus Menodots Lokalgeschichte nach langen Jahren und in denkbar weiter Ferne vom originären Festort, nämlich in der Kulturmetropole Alexandria; und die von dem Alexandriner Hephaistion gefertigte Abschrift des Werks liegt ihrerseits in einer Privatbibliothek in Rom.49 Es ist demnach vor allem der Buchkultur zu verdanken, dass die lokale Kulttradition reichsweit bekannt und der geschlossene Kommunikationsraum der archaischen Festgemeinschaft unter der offenen, imperial-pluralistischen Bankettgesellschaft subsumiert werden kann.
47 Athen. 15,672a: IJȠ૨ʌȡȠțİȚȝȞȠȣਥȖઅį¶ ਥȞIJȣȤઅȞIJȂȘȞȠįંIJȠȣIJȠ૨ȈĮȝȠȣıȣȖȖȡȝȝĮIJȚ ʌİȡ ਥʌȚȖȡijİIJĮȚ ȉȞ țĮIJ IJȞ ȈȝȠȞ ਥȞįંȟȦȞ ਕȞĮȖȡĮij İȡȠȞ IJઁ ȗȘIJȠȝİȞȠȞ E ȝȞȘȝȠȞİİȚȞ į¶ ȠȚțİȞ ਥʌ ʌȠıંȞ IJȚ IJોȢ țĮIJ IJȞ ȜȖȠȞ ıIJİijĮȞઆıİȦȢ țĮ ȃȚțĮȞİIJȠȢ ਥʌȠʌȠȚઁȢ ਥȞ IJȠȢ ૅǼʌȚȖȡȝȝĮıȚȞ ʌȠȚȘIJȢ ਫ਼ʌȡȤȦȞ ਥʌȚȤઆȡȚȠȢ țĮ IJȞ ਥʌȚȤઆȡȚȠȞ ੂıIJȠȡĮȞ ȖĮʌȘțઅȢਥȞʌȜİȠıȚȞ; vgl. 673d. 48 Ein solches Festlied inszeniert z.B. Theokr. Id. 15,96±149 als Höhepunkt der geschilderten Festhandlung bei der syrakusanischen Adonisfeier. Vgl. Kall. hym. 2 (Apoll) und 6 (Demeter), wo innerhalb der Hymnen mittels szenischer Elemente eine festliche Atmosphäre erzeugt wird ± was freilich eher gegen als für eine Aufführung des Gedichts im Festkontext spricht: dazu KRASSER 1995, 111±119. Gelehrte Aitien zur Genese der panhellenischen Feste werden laut Plutarchs Tischgesprächen (Quaest. conv. 2,4 und 2,5 sowie 5,2 zu den pythischen Spielen; 5,3 und 8,4 zu den isthmischen Spielen) nicht während der Kulthandlungen und Spiele, sondern in den abendlichen Festgesellschaften durch renommierte Vertreter der Lokaleliten präsentiert: dazu EGELHAAF-GAISER 2005. 49 Athen. 15,673d±674a: IJĮ૨IJĮıĮıȚȞȠੂșİȠ੪ȢʌȡIJȠȢĮIJઁȢਥȞIJૌțĮȜૌૅǹȜİȟĮȞįȡİİȡȠȞ țIJȘıȝİȞȠȢ IJઁ IJȠ૨ ȂȘȞȠįંIJȠȣ ıȣȖȖȡĮȝȝIJȚȠȞ țĮ ਥʌȚįİȟĮȢ ʌȠȜȜȠȢ ਥȟ ĮIJȠ૨ IJઁ ʌĮȡ IJ ૅǹȞĮțȡȠȞIJȚ ȗȘIJȠȝİȞȠȞ ȜĮȕઅȞ į ʌĮȡ¶ ਥȝȠ૨ ʌ઼ıȚȞ țȜȠʌȞ ੑȞİȚįȗȦȞ ૽ǾijĮȚıIJȦȞ ਥȟȚįȚȠʌȠȚıĮIJȠ IJȞ ȜıȚȞ țĮ ıȖȖȡĮȝȝĮ ਥȟįȦțİȞ ਥʌȚȖȡȥĮȢ Ȇİȡ IJȠ૨ ʌĮȡ¶ ૅǹȞĮțȡȠȞIJȚ ȜȣȖȞȠȣıIJİijȞȠȣāʌİȡȞ૨ȞਥȞIJૌ૽ȇઆȝૉİȡȠȝİȞʌĮȡIJૌਕȞIJȚțȠIJIJȣȡĮȚǻȘȝȘIJȡIJȠȚȠ૨IJȠȢ įIJȚȢțĮ>૽ǾijĮȚıIJȦȞıȣȖȖȡĮijİઃȢțĮ@ʌİȡIJઁȞțĮȜઁȞਲȝȞǹįȡĮıIJȠȞਥȖȞİIJȠਥțįંȞIJȠȢ Ȗȡ IJȠIJȠȣʌȞIJİ ȝȞȕȚȕȜĮ Ȇİȡ IJȞʌĮȡ ĬİȠijȡıIJਥȞIJȠȢ ʌİȡૅǾșȞțĮș¶ ੂıIJȠȡĮȞ țĮ ȜȟȚȞ ȗȘIJȠȣȝȞȦȞ ਪțIJȠȞ į ʌİȡ IJȞ ਥȞ IJȠȢ ૅǾșȚțȠȢ ȃȚțȠȝĮȤİȠȚȢ ૅǹȡȚıIJȠIJȜȠȣȢ ਥȞȞȠĮȢਕȝijȚȜĮijİȢʌĮȡĮșİȝȞȠȣʌİȡIJȠ૨ʌĮȡૅǹȞIJȚijȞIJȚIJIJȡĮȖįȚȠʌȠȚȆȜȘȟʌʌȠȣțĮ ʌȜİıIJĮıĮțĮʌİȡĮIJȠ૨IJȠ૨ૅǹȞIJȚijȞIJȠȢİੁʌંȞIJȠȢ ıijİIJİȡȚıȝİȞȠȢțĮIJĮ૨IJĮਥʌȖȡĮȥȞ IJȚȕȚȕȜȠȞȆİȡ IJȠ૨ʌĮȡȄİȞȠijȞIJȚ ਥȞIJȠȢ ૅǹʌȠȝȞȘȝȠȞİȝĮıȚȞૅǹȞIJȚijȞIJȠȢȠįȞ įȚȠȞ ʌȡȠıİȟİȣȡઆȞ੮ıʌİȡțਕȞIJıijİIJİȡȚıȝİȞȠȢțĮIJĮ૨IJĮਥʌȖȡĮȥȞIJȚȕȚȕȜȠȞȆİȡIJȠ૨ʌĮȡ ȄİȞȠijȞIJȚਥȞIJȠȢૅǹʌȠȝȞȘȝȠȞİȝĮıȚȞૅǹȞIJȚijȞIJȠȢȠįȞįȚȠȞʌȡȠıİȟİȣȡઆȞ੮ıʌİȡțਕȞ IJȆİȡ IJȠ૨ ȜȣȖȞȠȣıIJİijȞȠȣ ȝંȞȠȞȖȡIJȠ૨IJ¶ įȚȠȞİȡȘțİȞIJȚĭȜĮȡȤȠȢਥȞIJૌਦȕįંȝૉ IJȞ૽ǿıIJȠȡȚȞȠੇįİȞIJȞțĮIJIJȞ!ȜȖȠȞੂıIJȠȡĮȞțĮIJȚȠIJİIJȃȚțĮȚȞIJȠȣȠੇįİȞȠIJİIJ ૅǹȞĮțȡȠȞIJȠȢ ıȣȖȖȡĮijİȢā ਕʌįİȚȟİ į țĮ įȚĮijȦȞȠ૨ȞIJĮ ĮIJઁȞ țĮIJ¶ ȞȚĮ IJȞ ੂıIJȠȡȘșȞIJȦȞʌĮȡIJȂȘȞȠįંIJ.
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3. RELIGIÖSES WISSEN IN SYMPOSIALER PRÄSENTATION: DER DEIPNOSOPHIST ALS RELIGIONSFORSCHER, KULT(UR)STIFTER UND WUNDERERZÄHLER Wie das exemplum des Demokritos beweist, sind die migrierenden Deipnosophisten am Aufbau eines derart weitgespannten literarischen Referenzsystems maßgeblich beteiligt. Wenn sie nun im symposialen Kontext ihr erlesenes religiöses Wissen als unterhaltsames Bildungsgut vorführen, so entspricht dies den Regeln der Etikette und Tischkonversation. Die Formen der konvivialen Präsentation sind dagegen ebenso vielfältig wie die Charaktere und Interessensgebiete der Schmausgelehrten. Einen verbindlichen Idealtypus gibt es nicht; vielmehr erhält der Leser in der bunten Bankettgesellschaft der Deipnosophisten ein ganzes Sortiment an gelehrten exempla. Das facettenreiche Bildungsangebot des römischen Reichs personifiziert sich in den belesenen Gästen, die als wandelnde Lexika neben ihren anerkannten Forschungsschwerpunkten stets auch über ein breit gefächertes Allgemeinwissen und eine hohe Konversationskompetenz verfügen: So beherrscht der Philosoph und Musenfreund Demokritos50 den sophistischen Lehrvortrag und die kleine Form des Rätsels souverän, wobei die Sequenz von drei Mirabilien51 eine Präferenz für die unterhaltsame Erzählung erkennen lässt. Dass seine staunenswerten Geschichten nichtsdestotrotz auf einer sorgfältigen Quellenrecherche fußen, stellt der Sophist nachträglich klar: Zu diesem Zweck ruft er sogar die Götter in den Zeugenstand, dass er als erster die einschlägige Schrift des Menodot aufgefunden habe. Leichtsinnigerweise habe er seinem alexandrinischen Bekannten Hephaistion Einblick in diesen Fund gewährt ± und sei vorsätzlich getäuscht worden; denn der betrügerische ÃFreundµ habe unter eigenem Namen ein Plagiat in Umlauf gebracht, das sich de facto nur in einer punktuellen Erweiterung von dem Original unterscheide und nun unter dem Titel ÄÜber den Weidenrutenkranz bei Anakreon³ in Rom zirkuliere. Wenn andererseits Demokritos als unermüdlicher ÃJäger und Sammlerµ, verierter Religionskundler und kompetenter Quellenkritiker auftritt, der mit seiner Lesefrucht die ganze Menschheit beglückt, so stilisiert er sich damit analog zum archaischen Kulturstifter Prometheus als ein SUǀWRVKHXUHWƝVder zeitgenössischen Gelehrtenwelt.52 Werfen wir nun ausgehend von diesem deipnosophistischen Selbstbildnis des Demokritos einen vergleichenden Blick auf Ulpianosµ gelehrte Darlegung zur Kultinnovation des Antinooskranzes: Als Hadrian in der libyschen Wüste einen Löwen erjagte und dabei das Leben seines Lieblings rettete, der von dem Untier angegriffen worden war, erkannte der Lokaldichter Pankrates die Gunst der Stunde und präsentierte dem Kaiser bei dessen zweitem Ägyptenaufenthalt eine rosafarbene Lotosblüte, deren Entstehung er in einem elaborierten Preisgedicht auf
50 Athen. 1,1d, 15, 669d. 51 Athen. 15,672a±676e (Lygoskranz von Samos, Efeukranz des Dionysos, Myrtenkranz von Naukratis). 52 Athen. 15,673d±e.
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das vergossene Blut des glorreich erlegten Löwen zurückführte. 53 Hocherfreut über die Originalität der Ursprungserklärung, wies Hadrian daraufhin die dauernde Speisung des Dichters im Museion an.54 Das neukonstruierte Aition zu einer (vorgeblich) erst jüngst entsprossenen Blüte bildet im Katalog der Blumenkränze das Ämoderne³ Pendant zu den nur wenige Einträge später platzierten immer blühenden Kränzen im Heiligtum von Tindion, in dem nach Aussage des Hellanikos die ägyptischen Götter höchstselbst zur Regierungszeit des Babys (= Typhon) Kränze niedergelegt hätten.55 In der einschlägigen Forschungsliteratur zum Antinooskult wurde bereits mehrfach auf die Semantik der kaiserlichen Jagd und die Heroisierung Hadrians als zweiter Herakles und segensreicher Heilsbringer verwiesen, der ± so die panegyrische Version ± nicht nur seinen Schützling gerettet, sondern auch die Provinzeinwohner von einer verheerenden Landplage befreit habe.56 Im Gegenzug ist nun aber auch nach der Inszenierung des Preisdichters zu fragen: So hat Sylvia FEIN den ägyptischen Epiker hypothetisch mit einem Magier und Propheten Pachrates in Verbindung gebracht, der dem Kaiser bereits in Heliopolis mit einem spektakulären Rauchopfer imponiert hatte.57 Die Korrektheit dieser Identifikation voraus53 Zur Textstelle und zu den erhaltenen Fragmenten des panegyrischen Epyllions KASULKE 2000, 108±111; GUTSFELD 2000, 82±84; die Pankratesfragmente sind wiederabgedruckt in KUHLMANN 2002, 254±256. Zum Topos des in Blumen wiedergeborenen schönen Jünglings in der griechischen Mythologie KUHLMANN 2002, 206f. 54 Athen. 15,677d±f: ਥʌİ į ૅǹȜİȟĮȞįȡİĮȢ ਥȝȞȘȝંȞİȣıĮ Ƞੇį IJȚȞĮ ਥȞ IJૌ țĮȜૌ IJĮIJૉ ʌંȜİȚ țĮȜȠȝİȞȠȞıIJijĮȞȠȞǹȃȉǿȃȅǼǿȅȃȖȚȞંȝİȞȠȞਥțIJȠ૨ĮIJંșȚțĮȜȠȣȝȞȠȣȜȦIJȠ૨ijİIJĮȚį¶ ȠIJȠȢਥȞȜȝȞĮȚȢșȡȠȣȢ੮ȡțĮİੁıȞĮIJȠ૨ȤȡȠȚĮįȠȝȞIJ૧ંįਥȠȚțȣĮāਥțIJȠIJȠȣ į ʌȜİțંȝİȞȠȢ ıIJijĮȞȠȢ țȣȡȦȢ ૅǹȞIJȚȞંİȚȠȢ țĮȜİIJĮȚā į ਪIJİȡȠȢ ȜઆIJȚȞȠȢ ੑȞȠȝȗİIJĮȚ țȣĮȞĮȞȤȦȞIJȞȤȡȠȚȞțĮȆĮȖțȡIJȘȢIJȚȢIJȞਥʌȚȤȦȡȦȞʌȠȚȘIJȢȞțĮਲȝİȢȖȞȦȝİȞ ૅǹįȡȚĮȞ IJ ĮIJȠțȡIJȠȡȚ ਥʌȚįȘȝıĮȞIJȚ IJૌ ૅǹȜİȟĮȞįȡİ ȝİIJ ʌȠȜȜોȢ IJİȡĮIJİĮȢ ਥʌįİȚȟİȞ IJઁȞ૧ȠįȗȠȞIJĮȜȦIJંȞijıțȦȞĮIJઁȞįİȞțĮȜİȞૅǹȞIJȚȞંİȚȠȞਕȞĮʌİȝijșȞIJĮਫ਼ʌઁIJોȢȖોȢIJİ IJઁĮੈȝĮਥįȟĮIJȠIJȠ૨ȂĮȣȡȠȣıȠȣȜȠȞIJȠȢȞțĮIJIJȞʌȜȘıȠȞIJૌૅǹȜİȟĮȞįȡİȁȚȕȘȞਥȞ țȣȞȘȖ țĮIJĮȕİȕȜțİȚ ૅǹįȡȚĮȞંȢ ȝȖĮ ȤȡોȝĮ ȞIJĮ țĮ ʌȠȜȜ ȤȡંȞ țĮIJĮȞİȝȘșȞIJĮ ʌ઼ıĮȞ IJȞ ȁȚȕȘȞ ਸȢ țĮ ʌȠȜȜ ਕȠțȘIJĮ ਥʌİʌȠȚțİȚ ȠIJȠȢ ȜȦȞ ਲıșİȢ ȠȞ ਥʌ IJૌ IJોȢ ਥȞȞȠĮȢİਫ਼ȡıİȚțĮțĮȚȞંIJȘIJȚIJȞਥȞȂȠȣıȞĮIJıIJȘıȚȞȤİȚȞਥȤĮȡıĮIJȠțĮȀȡĮIJȞȠȢį¶ țȦȝįȚȠʌȠȚઁȢ ਥȞૅȅįȣııİ૨ıȚțțȜȘțİȞIJઁȞ ȜȦIJઁȞıIJİijȞȦȝĮįȚIJઁʌȞIJĮIJijȣȜȜઆįȘ ਫ਼ʌઁIJȞૅǹșȘȞĮȦȞıIJİijĮȞઆȝĮIJĮȜȖİıșĮȚįȆĮȖțȡIJȘȢਥȞIJʌȠȚȝĮIJȚȠțਕȖȜĮijȡȦȢ İȡȘțİȞā ȠȜȘȞਪȡʌȣȜȜȠȞȜİȣțઁȞțȡȞȠȞį¶ ਫ਼țȚȞșȠȞ ʌȠȡijȣȡȘȞȖȜĮȣțȠ૨IJİȤİȜȚįȠȞȠȚȠʌIJȘȜĮ țĮ૧ંįȠȞİੁĮȡȚȞȠıȚȞਕȞȠȚȖંȝİȞȠȞȗİijȡȠȚıȚȞā ȠʌȦȖȡijİȞਙȞșȠȢਥʌઆȞȣȝȠȞૅǹȞIJȚȞંȠȚȠ 55 Athen. 15,679f±680a. 56 KASULKE 2000, 110; MARTINI/ SCHERNIG 2000, 145±150. Zum Kontrast der panegyrischen Überhöhung und Hadrians Selbstinszenierung GUTSFELD 2000, 85±95; zur Parallelisierung des Antinoos mit dem Landeswohltäter und Zivilisator Dionysos KUHLMANN 2002, 224f. 57 FEIN 1994, 110; vgl. PREISENDANZ PGM I, 148, 2446±2455: ਥʌșȣȝĮÂਥʌİįİȟĮIJȠɇȆĮȤȡIJȘȢ ʌȡȠijIJȘȢȜȚȠȣʌંȜİȦȢɇਞįȡȚĮȞȕĮıȚȜİਥʌȚįİȚțȞȝİȞȠȢIJȞ ɇįȞĮȝȚȞIJોȢșİĮȢĮਫ਼IJȠ૨ ȝĮȖİĮȢ ȟİȞ ɒȖȡ ȝȠȞંȦȡȠȞ țĮIJțȜȚȞİȞ ਥȞ ੮ȡĮȚȢ ȕ¶ ਕȞİɇȜİȞ ਥȞ ੮ȡĮȚȢ ȗ¶ ੑȞİȚȡȠʌંȝʌȘıİȞįĮIJઁȞɇȕĮıȚȜĮਥțįȠț!Țȝ!ȗȠȞIJȠȢĮIJȠ૨IJȞȜȘȞɇਕȜșİȚĮȞIJોȢʌİȡ ĮIJઁȞȝĮȖİĮȢÂțĮșĮȣɇȝıĮȢIJઁȞʌȡȠijIJȘȞįȚʌȜ઼ੑȥઆȞȚĮĮIJɒ ਥțȜİȣıİȞįįȠıșĮȚ
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gesetzt, hat sich Pankrates vor Hadrian nicht nur als Panegyriker, sondern auch als WKHƯRVDQƝUprofiliert, der das Publikum durch den religiösen Zauber und die Imaginationskraft seiner Preisdichtung faszinieren kann. Die erfolgreiche Darbietung des Pankrates ist um so bemerkenswerter, weil sie als Streufund in einen hochgelehrten, aber in trockener Listenform präsentierten Kranzkatalog eingelagert wird ± und zwar ausgerechnet von dem pedantischen Wortklauber Ulpianos, der ein absolutes Kontrastprogramm zu dem poetischen Sprachkünstler bietet. Wie sein großes Vorbild Sokrates verweigert sich auch Ulpianos dem sophistischen Prunkvortrag und enerviert statt dessen die Tischgesellschaft durch sein notorisches Fragen58 ± nur dass er im Vergleich zu seinem Vorgänger auch noch denkbar humorlos ist59 und in seinen Gesprächsbeiträgen oft nur eristische Haarspaltereien betreibt: Der hochgeehrte Symposiarch der Deipnosophisten und Socrates alter ist somit zugleich der klassische Fall eines konvivialen Stimmungstöters.60 Athenaios hat mit Ulpianos und Pankrates zwei komplementäre Kontrastfiguren gezeichnet: Anhand der hadrianischen Dichterehrung und der Karriere des phönikischen Sprachgelehrten führt er zwei Optionen vor, wie ein Mitglied der provinzialen Elite im römischen Reich Karriere machen kann. Unter den einflussreichen Kulturpatronen des 2. Jahrhunderts findet erwartungsgemäß der erklärte ÄMusenfreund³ Hadrian die besondere Zustimmung der Deipnosophisten:61 Beschränkte er sich doch in seinem Reichsförderungsprogramm nicht auf die Restauration alter Lokalkulte, sondern wusste auch das panegyrische Engagement der kaiserzeitlichen Bildungsspezialisten zu schätzen und in klingender Münze zu honorieren. Im Gegensatz zum vorgeblich myth-historischen Ursprung des Lygoskranzes in archaisch-ferner Frühzeit wird deshalb das Aition des Antinooskranzes dezidiert in der selbst erlebten Vergangenheit der Deipnosophisten loziert. Als aktuelles Erfolgsbeispiel lädt es den Leser implizit ein, nach dem Vorbild des Pankrates sein Allgemeinwissen und seine Kompetenzen in den Dienst der römischen Kaiser zu stellen und damit hohes Prestige (und gutes Geld!) zu gewinnen. 4. VON DER KRANZMIRABILIE ZUM MÜNZFUND: DAS IMPERIALE IDENTIFIKATIONSANGEBOT DES IANUS Die symposiale Blütenlese wird in der dritten Gesprächsrunde von Massurios beschlossen. Wenn wir Athenaios überhaupt eine Präferenz für einen bestimmten Gelehrtentypus unterstellen wollen, so dürfte ± abgesehen von dem Gastgeber Larensios ± am ehesten Massurios das Ideal des Autors abbilden: Schon im Werk58 Athen. 1,1d±e; 9,385a; 9,401d±e; 15,671c. 59 Athen. 8,362b; 9,385a; 14,649a±c; 15,671d. 60 Vgl. MARTIN 1931, 64±79; 101±106; zur penetranten (Schein)gelehrsamkeit im satirischen Bankett PABST 1986, 136±141 (bes. Horaz, cena Nasidieni; Petron, cena Trimalchionis; Lukian, Symposion) . 61 Athen. 3,115b: IJȠ૨ ȝȠȣıȚțȦIJIJȠȣ ȕĮıȚȜȦȢ ਝįȡȚĮȞȠ૨; 8,361f: IJȠ૨ ʌȞIJĮ ਕȡıIJȠȣ țĮ ȝȠȣıȚțȦIJIJȠȣȕĮıȚȜȦȢਝįȡȚĮȞȠ૨; siehe BRAUND 2000, 15f.
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prolog wird die Vorstellungsrunde der Deipnosophisten mit dieser vielseitigen Identifikationsfigur eröffnet. Denn Massurios ist ein Mann des allseitigen Interessensausgleichs: ein Rechtsgelehrter, der zugleich vorzügliche Iamben dichtet; ein Gast, der in flexibler Anpassung an jede Gesprächssituation seine Beiträge wahlweise wie Ulpianos in einem gelehrten Katalog oder wie Demokritos in Form einer unterhaltsamen Erzählung leisten kann;62 ein passionierter Leser, der über ein wahrhaft enzyklopädisches Wissen verfügt und dabei jedes Fach so kompetent und eifrig betreibt, als ob er seit seiner Jugendzeit einzig und allein dieses Wissensgebiet studiert hätte.63 In dieseP ZDQGHOQGHQ /H[LNRQ JHZLQQW $WKHQDLRV¶ Bildungskonzept leibhaftig Gestalt; deshalb sind von Massurios wegweisende Grundsatzaussagen zum Thema zu erwarten. In der Tat sucht der Universalgelehrte64 in seinem ausführlichen Tischbeitrag die besonderen Qualitäten des römischen Imperium vorzuführen, das sich den ruhmreichen Großreichen der Vergangenheit als weit überlegen erweist. Die Gesprächsvorlage hat wiederum Kynulkos geleistet, der sich, wie es einem kynischen Gesellschaftskritiker ansteht, anlässlich der offerierten Duftöle über den zeitgenössischen Luxus und die allgemeine Verweichlichung echauffiert.65 Die moralistische Anklage wird nun von Massurios durch den Hinweis entkräftet, dass die Duftessenzen nicht nur Symptom des Überflusses, sondern auch heilsam und nützlich seien, was mit einem reichen Belegmaterial aus medizinischen Schriften erhärtet wird.66 Wenn der Redner anschließend den aktuellen Bestand an vorzüglichen Salbölen in einem Orts- und Begriffsinventar präsentiert,67 so demonstriert er damit zunächst einmal eindrucksvoll die prinzipielle Verfügbarkeit der Duftstoffe aus aller Welt.68 Darüber hinaus wird aber auch der moralische Anspruch formuliert, dass die Repräsentanten der zeitgenössischen Bildungselite, über den Umfang und die spezifischen Qualitäten der imperialen Kulturgüter bestens informiert, diese auch zielorientiert und verantwortungsvoll nutzen werden. Demgegenüber waren in der bisherigen Konversation der Deipnosophisten die amüsanten, skurrilen und abschreckenden Dekadenzformen des maßlosen Luxus69
62 Katalog: Athen. 15,688e±689e; 690a±691c; Erzählung: 15,692c; HULQQHUW VHL DQ 0DVVXULRV¶ imposanten Prunkvortrag in Buch 5 (196a±221a), in den u.a. die berühmten Ekphraseis des Kallixeinos eingebettet sind. 63 Zur Personencharakteristik Athen. 1,1c. 64 Athen. 15,687d±692f. 65 Athen. 15,686d±687c. 66 Athen. 15,687d. Zu medizinischen Fachschriften im Symposialwerk des Athenaios FLEMMING 2000. 67 Athen. 15,688e±689b (Ortskatalog wertvoller Parfüme); 15,690a±691c (Auflistung von Parfümnamen). 68 Athen. 15,691d±e. 69 Als ein frühes exemplum der unkontrollierten Schwelgerei exponiert sich der Samier Polykrates: Dieser habe in konkurrierender Imitation des reichen Sardes eine Basarstraße eingerichtet, die ganz Griechenland mit exquisiten Gaumengenüssen beliefert habe. Ergänzend zu diesen Delikatessen stellte der Tyrann einen samischen ÄBlumenstrauß³ renommierter Hetären zusammen (12,540e±541a).
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und des sinnlosen Geizes,70 die sich zumal in den archaischen Tyranneis und an den hellenistischen Königshöfen entwickelt haben, ein prominentes Gesprächsthema. Indem nun Massurios stattdessen die utilitas im Verbund mit einer fundierten Sachkenntnis als oberstes Leitprinzip propagiert,71 kann er das römische Imperium im zeitübergreifenden Herrschaftsvergleich vorteilhaft positionieren und den aktuellen Luxus als ein Indiz der Urbanität und des verfeinerten Geschmacks legitimieren. Denn es ist ein Naturgesetz ± dies das Fazit der von Massurios formulierten Kulturentstehungslehre ±, dass das Lebensnotwendige durch ein Zusatzelement des Genusses und Luxus aufgewertet wird.72 Seine praxisbezogene Blütenlese krönt der Deipnosophist mit einer religiösen Zugabe, nämlich einem prosaischen ÄLiebeslied³ (ȝȜȠȢİੁȢȡȦIJĮ), das durch den dezidierten Erosverweis auf die platonisierende Gesprächseinleitung des Philosophen Demokritos respondiert und nun statt der Wirkungsmacht des ewig jugendlichen Liebesgottes den altväterlichen Ianus als universalen Kulturstifter besingt: Nach den zitierten Ausführungen des Drakon aus Kerkyra gilt Ianus als Schiffsund Kranzerfinder und hat auch die erste Münze geprägt, weshalb sich sein Kopf in Kombination mit einem der beiden Bildsymbole (Schiff oder Kranz) vielerorts in Griechenland, Italien und Sizilien auf den städtischen Münzbildern wiederfinde. Von seinem ambitionierten Streben nach höheren Zielen geleitet, habe der ursprünglich griechische Gott die junge Familie in der Heimat zurückgelassen, um nach Italien zu segeln und seine Landnahme in Rom auf alle Zeiten durch die Namensgebung des Ianiculum festzuschreiben.73 Der auf den ersten Blick denkbar prosaische und unscheinbare Sachtext, der sprachlich weder mit den Erosreden des platonischen Symposion noch mit dem elaborierten Liebeshymnus des Demokritos Schritt halten kann, begründet seine Qualität ausschließlich aus den Inhalten, da er mit dem ehrwürdigen Gott die römische Weltherrschaft als das Resultat dessen segensreichen Wirkens anpreist. 70 Z.B. hütete Ptolemaios die unter großem Aufwand gezüchteten Fasane in seinem Königspalast wie einen wertvollen Schatz (Athen. 14,654c±d). Auf diese Weise besaß er die teuren Vögel, ohne sie jemals genossen zu haben: auch dies eine absurde und unverantwortliche Form der Ressourcenverschwendung. 71 Athen. 15,687d; 689e; 692a. 72 Athen. 15,692b: ʌȡȠıIJȚșİȢ į¶ ȕȠȢ ਕİ IJȠȢ ȤȡİȚઆįİıȚȞ țĮ IJȞ İੁȢ ਕʌંȜĮȣıȚȞ țĮ IJȡȣijȞ ਕȖંȞIJȦȞ ਥʌ IJȞ IJȞ ȝȡȦȞ ȤȡોıȚȞ ੮ȡȝȘıİȞ. 73 Athen. 15,692d±f: ਥʌİ į¶ ਥȞIJĮ૨șĮ IJȠ૨ ȜંȖȠȣ ਥıȝȞ, µıȣȝȕĮȜȠ૨ȝĮ IJȚ ȝȜȠȢ ਫ਼ȝȞ İੁȢ ȡȦIJĮµ țĮIJ IJઁȞ ȀȣșȡȚȠȞ ʌȠȚȘIJȞ, IJȚ ૅǿĮȞઁȢ ʌĮȡ¶ ਲȝȞ șİંȢ, Ȟ țĮ ʌĮIJȡĮ ʌȡȠıĮȖȠȡİȠȝİȞ, ʌȡIJȠȢ İȡİȞ ıIJijĮȞȠȞ. ੂıIJȠȡİ į IJȠ૨IJȠ ǻȡțȦȞ ȀİȡțȣȡĮȠȢ ਥȞ IJ ʌİȡ ȁșȦȞ ȖȡijȦȞ ȠIJȦȢ· ૅǿĮȞઁȞ į ȜંȖȠȢ ȤİȚ įȚʌȡંıȦʌȠȞ ȖİȖȠȞȞĮȚ, IJઁ ȝȞ ੑʌıȦ IJઁ į¶ ȝʌȡȠıșİȞ ȤȠȞIJĮ ʌȡંıȦʌȠȞ. ਕʌઁ IJȠIJȠȣ țĮ IJઁȞ ૅǿĮȞઁȞ ʌȠIJĮȝઁȞ țĮ IJઁ ȡȠȢ ૅǿĮȞઁȞ ੑȞȠȝȗİıșĮȚ, țĮIJȠȚțıĮȞIJȠȢ ĮIJȠ૨ ਥʌ IJȠ૨ ȡȠȣȢ. IJȠ૨IJȠȞ į țĮ ıIJijĮȞȠȞ ʌȡIJȠȞ İਫ਼ȡİȞ țĮ ıȤİįĮȢ țĮ ʌȜȠĮ țĮ ȞંȝȚıȝĮ ȤĮȜțȠ૨Ȟ ʌȡIJȠȞ ȤĮȡȟĮȚ. įȚઁ țĮ IJȞ țĮIJ IJȞ ૽ǼȜȜįĮ ʌȠȜȜȢ ʌંȜİȚȢ țĮ IJȞ țĮIJ IJȞ ૅǿIJĮȜĮȞ țĮ ȈȚțİȜĮȞ ਥʌ IJȠ૨ ȞȠȝıȝĮIJȠȢ ਥȖȤĮȡIJIJİȚȞ ʌȡંıȦʌȠȞ įȚțijĮȜȠȞ țĮ ਥț șĮIJȡȠȣ ȝȡȠȣȢ ਲ਼ ıȤİįĮȞ ਲ਼ ıIJijĮȞȠȞ ਲ਼ ʌȜȠȠȞ. IJȠ૨IJȠȞ į IJȞ ਕįİȜijȞ ȖȝĮȞIJĮ ȀĮȝıȘȞ ȣੂઁȞ ȝȞ ǹșȘțĮ, șȣȖĮIJȡĮ į ૅȅȜȚıIJȞȘȞ ȖİȞȞોıĮȚ. țĮ ĮIJઁȞ ੪Ȣ ȝİȚȗંȞȦȞ ੑȡİȖંȝİȞȠȞ ʌȡĮȖȝIJȦȞ İੁȢ IJȞ ૅǿIJĮȜĮȞ įȚĮʌȜİ૨ıĮȚ țĮ ȠੁțોıĮȚ IJઁ ʌȜȘıȠȞ ૽ȇઆȝȘȢ ȡȠȢ țİȝİȞȠȞ IJઁ ਕʌ¶ ĮIJȠ૨ ૅǿĮȞȠ૨țȜȠȞ ੑȞȠȝĮȗંȝİȞȠȞ.
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Die Innovativität des entlegenen Zitats, das durch seine Integration in die imperiale Tafelrunde der Deipnosophisten eine neue Dynamik erhält, wird beim direkten Vergleich mit einem älteren Paralleltext bei Plutarch deutlich. Denn dieser hatte bei seiner Abhandlung der numismatischen Ianusmotive in den Quaestiones Romanae ausschließlich auf den traditionellen Topos des das Meer überquerenden Kulturstifters referiert74 und deshalb Ianus mit Euander und Aeneas zu einer aitiologischen Dreierreihe der myth-historischen Zivilisatoren aus dem griechischen Osten zusammengestellt.75 Die stadtrömische Religion wurde in Plutarchs Quaestiones Romaenae et Graecae konsequent aus der Perspektive der griechischen Bildungselite diskutiert; in der Außenwahrnehmung einer Fremdreligion war sie anhand exemplarischer Einzelvergleiche dem Pluralismus griechischvertrauter Kultformen gegenübergestellt.76 Dagegen spiegelt das kurze Zitat bei Athenaios auf engstem Raum die neue, vor allem mit Hadrians Namen verbundene Form der Reichsintegration, da es für jeden potentiellen Leser ein Identifikationsangebot bereithält: Wenn sich das grieFKLVFKH3XEOLNXPGXUFK,DQXV¶+HUNXQIWXQG*HQHDORJLHEHVWlWLJWVLHKWNDQQGHU römische Leser mit dem Zielpunkt der Reise und dem Namensaition des Stadthügels gegenhalten. Im konkurrierenden Ortsvergleich bestätigt sich das imperiale Sendungsbewusstsein der Hauptstadt Rom, die der Zivilisationsstifter Ianus zu seiner zweiten Heimat erwählte.77 Die bunte Vielfalt der provinzialen wie italischen Landschaften und Kulturmetropolen wird im Medium der Münze verbildlicht, die bereits aufgrund ihres kleinen Formats und ihrer intendierten Verbreitung auf das Phänomen des Kult- und Kulturtransfers und der Dependancegründungen verweist, wobei die charakteristischen Ianusembleme die religiöse und politische Autonomie der Städte bestätigen und zugleich durch die reichsweite Verbreitung einheits- und identitätsstiftend wirken. Im direkten Bild-TextVergleich präsentiert sich damit die Münze als Pendant zur bildlich einprägsamen, variablen und nahezu beliebig kontextualisierbaren Kleinform der Mirabilie. Mit dem Ianushymnus schließt sich das Gewinde der Wundergeschichten, das mit dem samischen Lygos und der Kranzstiftung des Prometheus begonnen wur74 Dem Aitientypus des zu Schiff aus der Fremde kommenden Gottes und Zivilisationsstifters entsprechen auch Dionysos und Saturnus; siehe GRAF 1992, 18f. 75 Plut. mor. 274E±F (quaest. Rom. 41): įȚ IJ IJઁ ʌĮȜĮȚઁȞ ȞંȝȚıȝĮ IJૌ ȝȞ İੇȤİȞ ĮȞȠ૨ įȚʌȡંıȦʌȠȞ İੁțંȞĮ, ʌૌ į ʌȜȠȠȣ ʌȡȝȞĮȞ ਲ਼ ʌȡȡĮȞ ਥȖțİȤĮȡĮȖȝȞȘȞ; ʌંIJİȡȠȞ ੪Ȣ Ƞੂ ʌȠȜȜȠ ȜȖȠȣıȚȞ ਥʌ IJȚȝૌ Ƞ૨ ȀȡંȞȠȣ ʌȜȠ įȚĮʌİȡıĮȞIJȠȢ İੁȢ IJĮȜĮȞ; ਲ਼ IJȠ૨IJȠ ȝȞ ıIJȚȞ ਥʌ ʌȠȜȜȞ ȜȖİȚȞ, țĮ Ȗȡ ĮȞઁȢ țĮ ǼĮȞįȡȠȢ țĮ ǹੁȞİĮȢ ਥț șĮȜIJIJȘȢ ʌȡȠıİțȠȝıșȘıĮȞ, ਥțİȞȠ į¶ ਙȞ IJȚȢ ȝ઼ȜȜȠȞ İੁțıİȚİȞ IJȚ IJ ȝȞ țĮȜ IJĮȢ ʌંȜİıȞ ਥıIJȚ IJ į¶ ਕȞĮȖțĮĮ· țĮ ȝȖȚıIJȠȞ IJȞ ȝȞ țĮȜȞ ਲ İȞȠȝĮ, IJȞ į¶ਕȞĮȖțĮȦȞ ਲ İʌȠȡĮ· ਥʌİ IJȠȞȣȞ İțȠıȝĮȞ ȝȞ ĮȞઁȢ țĮIJıIJȘıİȞ ĮIJȠȢ ਥȟȘȝİȡઆıĮȢ IJઁȞ ȕȠȞ, ਕijșȠȞĮȞ į ʌĮȡȤİȚ IJȞ ਕȞĮȖțĮȦȞ ʌȠIJĮȝઁȢ ʌȜંȚȝȠȢ ੫Ȟ țĮ IJ ȝȞ ਥț șĮȜIJIJȘȢ IJ į¶ ਕʌઁ IJોȢ ȤઆȡĮȢ țĮIJĮțȠȝȗȦȞ, ıȝȕȠȜȠȞ ıȤİ IJઁ ȞંȝȚıȝĮ IJȠ૨ ȝȞ ȞȠȝȠșIJȠȣ IJઁ įȝȠȡijȠȞ ੪Ȣ İȡȘIJĮȚ įȚ IJȞ ȝİIJĮȕȠȜȞ, IJȠ૨ į ʌȠIJĮȝȠ૨ IJઁ ʌȠȡșȝİȠȞ. 76 Zum griechisch-römischen Kulturvergleich in Plutarchs Quaestiones Romanae et Graecae PRESTON 2001. 77 Zum festen Bezug der römischen Aitiologie auf die Stadt Rom und die Stadtgründung als Beginn und Zentrum der römischen Weltordnung GRAF 1992, 24f.
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de. Im Titelkampf um die Ehrung als SUǀWRVKHXUHWƝV des Kranzes wird zwar nicht explizit zwischen den beiden Anwärtern entschieden; dennoch platziert sich der griechische Gott aus der Fremde und römische ÃVaterµ Ianus besser als der berühmte Menschenfreund und Kulturstifter Prometheus, weil er für den Leser eine universale und variable Identifikationsfigur darstellt. Obwohl die orts- und okkasionsbedingten Besonderheiten der Aitien und der herausragende Quellenwert der Lokalgeschichten vielfach gewürdigt wurden, münden somit alle Mirabilien in eine umfassende Rompanegyrik ein. Die Genese dieses Reichs, das aus bescheidenen Uranfängen zu imperialer Größe aufgestiegen ist und nun die vielfältigen Lokalmythen und Kulterzählungen in einem konvivialen Blumengesteck zusammenbindet, erscheint letztlich als das größte aller zu bestaunenden Wunder. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass das Preislied auf den ÃVölkervermittlerµ Ianus kein kaiserliches Auftragswerk, sondern ein originelles Geschichtskonstrukt des Drakon aus Kerkyra respektive des Autors Athenaios ist. Als migrierender Gott, der schließlich in Rom ansässig geworden ist und mit seinen Kulturstiftungen das Fundament für die kaiserzeitliche Bildungsmetropole gelegt hat, kann nämlich Ianus für die Deipnosophisten aus aller Welt, die ebenfalls in der Reichshauptstadt, und zwar am gastlichen Tisch des Larensios, ihre geistige Heimat gefunden haben,78 ein besonders hohes Identifikationspotential bieten. Da nun Massurios die konkurrierenden und komplementären Interessen der imperialen Bildungselite unter dem reichsintegrativen Konzept des stadtrömischen Ianus subsumiert, bildet er das Pendant zum Epylliendichter Pankrates, der die provinziale Fürsorge des Kaisers Hadrian gefeiert hat. Wie der ägyptische Poet hat auch Massurios ± stellvertretend für alle Schmausgelehrten ± sein Engagement für die Kulturmacht Rom zugesagt und präsentiert nun das Resultat seiner Bemühungen als exquisiten Tischbeitrag. Während freilich die Leistung des Pankrates vom Kaiser in barer Münze vergolten wurde, ist der Finderlohn des Massurios bereits in der Lesefrucht enthalten: Immerhin kann der Sophist nun in der exklusiven Tafelrunde mit seiner universalen Belesenheit glänzen und erntet für das unerwartete Textzeugnis seiner imperialen Idee, das er ausgerechnet in einer Fachschrift ÄÜber Steine³ gefunden hat, Anerkennung aus berufenem Munde. Im krönenden Finale werden also alle staunenswerten Kranzmirabilien durch einen wundersamen Buchfund überboten: In den imperialen Bibliotheken hat der passionierte Forscher schließlich seinen Schatz gehoben. Der entlegene Fundort des Ianuszitats steht im größtmöglichen Kontrast zum omnipräsenten Topos des exemplarischen Kulturstifters Prometheus79 und ist daher als ein sicheres Indiz für das universale Wissen des Massurios zu werten. Zudem bestätigt Athenaios mit allen Mitteln der auktorialen Kompositions- und Erzählkunst ± der prominenten Schlussstellung, der integrativen Multiperspektivität und der imperialen Qualität
78 Athen. 1,3c: țĮ ਥʌ IJȢ ਦıIJȚıİȚȢ į ʌĮȡĮțĮȜȞ VFLO ȁĮȡȞıȚȠȢ ʌĮIJȡįĮ ijȘı IJȞ ૮આȝȘȞʌ઼ıȚਕʌȠijĮȞİȚIJȢȖȡIJȠțȠȚʌȠșİIJȠઃIJȟȣȞઅȞਕȞĮʌİʌIJĮȝȞȘȞȤȠȞIJȚIJȠȢijȜȠȚȢ IJȞȠੁțĮȞ; 79 Aischyl. Prom. 442±506; Plat. Prot. 320d±323d und öfter.
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des Ianushymnus ±, dass sich Massurios mit sicherem Kennerblick den weitaus wertvollsten Edelkristall der Steinsammlung erlesen hat. 5. FAZIT Die Frage nach der religiösen und literarischen Konzeption imperialer Größe ist mit den Prozessen der Universalisierung/ Globalisierung und der Kodifikation von Wissensbeständen zu verbinden: Nach der jahrhundertelangen Expansion ist nun im 2. Jahrhundert das gewaltige Imperium durch ein umfassendes Programm zur Integration der Provinzen zusammenzuhalten. Parallel zu den Wirtschaftsmaßnahmen des Kaisers sucht daher die Elite ein Geschichtsmodell zu entwickeln, das den konkurrierenden Interessen des gebildeten Lesers Rechnung trägt und variabel die Akzentuierung der lokalen, sozialen und imperialen Identität erlaubt.80 Ein bewährtes Instrument ist die Konstruktion der Vergangenheit, die in sophistischen Prunkreden sowie in gelehrten Ursprungs- und Lokalgeschichten breiten Raum einnimmt.81 Dabei werden neue Aitien generiert und (wie im Fall des Pankrates) als panegyrische Preisdichtung vor dem Kaiser oder als elaborierte Festrede vor großem Publikum inszeniert.82 Gegenüber solch renommierten Texten fand die Ãkleine Formµ der Wundergeschichte, die sich bevorzugt als symposiales ÃBildungsgutµ einem exklusiven Publikum präsentiert, in der Forschung bisher kaum Beachtung.83 An Einzelbeispielen des Kranzkatalogs sollte daher verdeutlicht werden, wie sich auch die scheinbar auf Ãspielerische Unterhaltungµ fixierte Mirabilienliteratur die zeitgenössische Konstruktion des Imperium zu eigen macht. Als ein Ätypischer³ Vertreter der kaiserzeitlichen Bildungsgesellschaft loziert nämlich Athenaios seine symposiale Blütenlese im Rahmen eines orts- und zeitübergreifenden Kulturvergleichs, der gleichermaßen die Vorzüge der römischen Weltherrschaft, der blühenden Provinzlandschaften und städtischen Kulturmetropolen würdigt: Wie in der Gelehrtendiskussion um das Herafest von Samos exemplifiziert, wurden dank der großzügigen Patronage der Adoptivkaiser und namentlich des vorbildhaften Musenfreunds Hadrian im ganzen Reich archaische Heiligtümer mit ehrwürdigen Kult80 Das komplexe Problem griechischer Identität in der Kaiserzeit hat gerade in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden: siehe etwa SCHMITZ 1997, 175±181; WHITMARSH 2001; GOLDHILL 2001; MALKIN 2001; STEPHAN 2002. 81 TOULOUMAKOS 1971, 55±79; BOWIE 1974; SWAIN 1996, 65±100; SCHMITZ 1997, 181±196; STEPHAN 2002, 22±24 und 208±222. 82 Zum öffentlichen Auftreten der Sophisten sowie zur Selbstinszenierung der städtischen Eliten SWAIN 1996 und SCHMITZ 1997 (mit älterer Literatur); KORENJAK 2000; WHITMARSH 2001; STEPHAN 2002. 83 SCHMITZ 1997, 127±133 behandelt das Symposion unter der programmatischen Überschrift der Äspielerischen Konkurrenz³, ANDERSON 1993, 176±182 stellt die sophistischen Symposia in den Kontext des Äpepaideumenos at play³. Zur Paradoxographie und Mirabilienliteratur allgemein LUEHR 1976; ISAGER 1987 (zu Plinius dem Älteren); SASSI 1992; SCHEPENS; DELCROIX 1996.
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traditionen wiederbelebt. Parallel wurden jedoch auch neue Kulte gegründet, wofür Athenaios das aktuelle Beispiel des Antinooskranzes in Alexandria anführt. Die alten und neuen Heiligtümer fungieren als museale Wissensarchive, die die Expansion des römischen Reichs in den ausgestellten Weihegaben und Beutestiftungen veranschaulichen und glaubhaft machen. Die Exegese der faszinierenden Schaustücke und Bilder wird beim stadtrömischen Symposion in der kleinformatigen Wundergeschichte geleistet, die dadurch an literarischem Wert gewinnt, dass sie das paradoxographische Material mit dem pluralistischen Städtelob und der aitiologischen Bildungsostentation im Medium der Religion verflicht und damit die literarische Doppelforderung der Unterhaltung und Belehrung84 perfekt erfüllt. Dabei zielt der für die Mirabilie charakteristische Orts- und Geschichtsvergleich letztlich stets auf die Inszenierung der Weltmacht Rom als des größten aller zu bestaunenden Wunder: Mit dem finalen ÄLiebeshymnus³ an den immigrierten Zivilisator Ianus wird ein stadtrömisches, der fernen Frühzeit zugeordnetes Gründungsaition im reichsweiten Bezugssystem des 2. Jahrhunderts neu verortet. Im konkurrierenden Vergleich der beiden Kulturstifter wird letztlich Ianus zum Sieger gekürt und der traditionell erstrangige Prometheus auf den zweiten Platz verwiesen. LITERATUR G. ANDERSON 1993. The Second Sophistic. A Cultural Phenomenon in the Roman Empire, London; New York. DERS. 1997. ÄAthenaeus. The Sophistic Environment³, in: W. HAASE (Hrsg.), ANRW II 34.2, Berlin; New York, 2173±2185. B. BALDWIN 1976. ÄAthenaeus and his Work³, Acta Classica 19, 21±42. DERS. 1977. ÄThe Minor Characters in Athenaeus³, Acta Classica 20, 37±48. A. BELL 2004. Spectacular Power in the Greek and Roman City, Oxford. M. BLECH 1982. Studien zum Kranz bei den Griechen, Diss. Tübingen 1970, RGVV 38, Berlin; New York. E. L. BOWIE 1974. ÄThe Greeks and Their Past in the Second Sophistic³, in: M. I. FINLEY (Hrsg.), Studies in Ancient Society, London, 166±209. D. BRAUND 2000. ÄLearning, Luxury aQG(PSLUH$WKHQDHXV¶5RPDQ3DWURQ³, in: BRAUND/WILKINS 2000, 3±22. D. BRAUND/J. WILKINS (Hrsg.) 2000. Athenaeus and his World. Reading Greek Culture in the Roman Empire, Exeter. W. DITTENBERGER 1903. ÄAthenäus und sein Werk³, in: Apophoreton, Berlin, 1±28. J. C. EDMONSON 1999. ÄThe Cultural Politics of Public Spectacle in Rome and the Greek East, 167±166 B. C.³ LQ %. BERGMANN/C. KONDOLEON (Hrsg.), The Art of Ancient Spectacle. New Haven; London, 77±95. U. EGELHAAF-GAISER 2005. ÄGelehrte Tischgespräche beim Fest. Die Konstruktion der Vergangenheit von Pythien, Isthmien und Parilien in der Gelageliteratur des Plutarch und des Athenaios³, in: A. HUPFLOHER (Hrsg.), Heiligtum und Kult im kaiserzeitlichen Griechenland.
84 So bereits Hor. ars 333f.: aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.
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Internationales Kolloquium am 16. und 17. September 2002 am Deutschen Archäologischen Institut in Athen, Stuttgart (21 Ms.-S., im Druck). DIES. 2005a. Das römische Bankett als Ort literarischer Kommunikation, unpubl. Habilitationsschrift, Gießen. S. FEIN 1994. Die Beziehungen der Kaiser Trajan und Hadrian zu den litterati, Beiträge zur Altertumskunde 26, Stuttgart. R. FLEMMING 2000. Ä7KH3K\VLFLDQVDWWKH)HDVW7KH3ODFHRI0HGLFDO.QRZOHGJHDW$WKHQDHXV¶ Dinner-Table³, in: BRAUND/WILKINS 2000, 476±482. C. FRIEDRICH/T. NOTHERS 1998/1999/2000/2001. Athenaios. Das Gelehrtenmahl Buch I±XV, Übers. mit Einl. und Anm., Bibliothek der griechischen Literatur Bd. 47±48, 51, 53±54, Stuttgart. M. GALLI 2001. ÄPepaideumenoi am ÃOrt des Heiligenµ. Euergetische Initiativen und Kommunikationsformen in griechischen Heiligtümern zur Zeit der zweiten Sophistik³, in: C. REUSSER (Hrsg.). Griechenland in der Kaiserzeit. Neue Funde und Forschungen zu Skulptur, Architektur und Topographie. Kolloquium zum sechzigsten Geburtstag von Prof. Dietrich Willers. Bern, 12.±13. Juni 1998, Bern, 43±70. R. GINOUVÈS 1962. Balaneutikè. Recherches sur le bain dans l¶antiquité grecque, Bibliothèque GHVeFROHVIUDQFDLVHVG¶$WKqQHVHWGH5RPH3DULV B. GLADIGOW 1990. ÄEpiphanie, Statuette, Kultbild. Griechische Gottesvorstellungen im Wechsel von Kontext und Medium³, Visible Religion 7, 98±121. DERS. 1998. ÄKultbild³, in: Hubert CANCIK/B. GLADIGOW/M. LAUBSCHER (Hrsg.), HrwG IV, Stuttgart, 9±14. S. GOLDHILL (Hrsg.) 2001. Being Greek Under Rome. The Second Sophistic, Cultural Conflict and the Development of the Roman Empire, Cambridge. F. GRAF 1992. ÄRömische Aitia und ihre Riten. Das Beispiel von Saturnalia und Parilia³, Museum Helveticum 49, 13±25. A. GUTSFELD 2000. ÄHadrian als Jäger. Jagd als Mittel kaiserlicher Selbstdarstellung³, in: W. MARTINI (Hrsg.), Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Formen der Erinnerung 3, Göttingen, 79±99. H. VON HESBERG 1989. ÄTemporäre Bilder oder die Grenzen der Kunst: Zur Legitimation frühhellenistischer Königsherrschaft im Fest³, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 104, 61±82. DERS. 1999. ÄThe King on Stage³, in: B. BERGMANN/C. KONDOLEON (Hrsg.), The Art of Ancient Spectacle, New Haven; London, 65±75. M. HOSE 1999. Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike, München. A. S. HUNT/C. C. EDGAR (Hrsg.) 1958. Select Papyri, Bd. 2: Non-literary Papyri. Public Documents, London. J. ISAGER 1986. ÄPlinio il Vecchio e le meraviglie di Roma. Mirabilia in terris et Romae miracula nel XXXVI libro della Naturalis Historia³, Analecta Romana Instituti Danici 15, 37±50. C. JACOB 2000. ÄAthenaeus the Librarian³, in: BRAUND/WILKINS 2000, 85±110. T. KASULKE 2000. ÄHadrian und die Jagd im Spiegel der zeitgenössischen Literatur³, in: W. MARTINI (Hrsg.), Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Formen der Erinnerung 3, Göttingen, 101±127. G. KIPP 1974. ÄZum Herakult auf Samos³, in: F. HAMPL/I. WEILER (Hrsg.), Kritische und vergleichende Studien zur Alten Geschichte und Universalgeschichte, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 18, Innsbruck, 157±209. M. KORENJAK 2000. Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München. H. KRASSER 1995. Horazische Denkfiguren. Theophilie und Theophanie als Medium der poetischen Selbstdarstellung des Odendichters, Diss. Tübingen 1989, Hypomnemata 106, Göttingen.
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ÄAUCH WENN EINER ZEHN ZUNGEN UND ZEHN MÜNDER HÄTTE ...³ (HIEROI LOGOI 1,1): AELIUS ARISTIDES UND DIE INKOMMENSURABILITÄT DES GÖTTLICHEN Katharina Luchner Ä6WDXQHQVZHUWHV VR YLHOHV VR JHZDOWLJHV«³ (HL 5,22),1 was nicht leicht einer schildern könnte, Äauch wenn³ er Äzehn Zungen und zehn Münder (Ilias 2,489) hätte³ (HL 1,1), ja selbst wenn seine ÄKraft und Stimme und Einsicht alles menschliche Maß überstiegen³ (HL 1,1). ÄDas ganze Meer unter Wasser durchqueren³ (HL 1,2), und dann Ägezwungen werden, Rechenschaft darüber abzulegen, wie vielen Strömungen³ man Äauf diesem Weg insgesamt begegnet sei³ (HL 1,2). So schildert Aelius Aristides, der Rhetor und berühmte Kranke des 2. Jh.s n. Chr., zu Beginn seiner Hieroi logoi die Schwierigkeiten, seine Geschichte mit dem Heilgott Asklepios aufzuzeichnen, diese ÄKrafterweise des Retters³ (IJ IJȠ૨ ıȦIJોȡȠȢ ਕȖȦȞıȝĮIJĮ HL 1,1) an ihm und die ÄFürsorge³ (ʌȡંȞȠȚĮ, HL 1,3. 2,2 u.ö.) für ihn. ÃInkommensurabelµ ist also für Aristides dieses Geschehen im wörtlichsten Sinn: jede sonstige menschliche Erfahrung übersteigend, insofern Ãunermesslichµ wie die Strömungen am Meeresgrund, damit eigentlich nicht darstellbar bis an die Grenze eines Adynaton.2 Reduziert man jedoch die HL zunächst auf ihren bloßen Inhalt, so scheinen die äußeren Geschehensabläufe nicht per se ein undurchführbares literarisches Projekt zu bedingen. Aristides3 schildert in den fünf bzw. sechs4 Büchern der HL,
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Der vorliegende Beitrag sollte ursprünglich lange vor meiner Dissertation erscheinen. Sie liegt nun als Philiatroi. Studien zum Thema der Krankheit in der griechischen Literatur der Kaiserzeit, Göttingen 2004 (Hypomnemata. 156) vor. Gewisse Überschneidungen mit dem dort einschlägigen Kapitel (S. 264±307) ließen sich nicht mehr beseitigen. Ebenso konnte seitdem erschienene Literatur nur in Einzelfällen und punktuell berücksichtigt werden. HL bezeichnet die Hieroi logoi (=orr. 47±52 Keil) des Aelius Aristides, die ich in gesonderter Zählung von 1 bis 6 zitiere. Als griechischer Text liegt die Edition von B. KEIL (Berlin 1898) zugrunde. Die Übersetzungen orientieren sich vor allem an der deutschen Übersetzung von H.O. SCHRÖDER (Heidelberg 1986). Die Anmerkungen zu den Übersetzungen von C.A. BEHR (Leiden 1986. 1981), A.J. FESTUGIÈRE (Anm. von H.-D. SAFFREY, Paris 1986) und S. NICOSIA (Mailand 1984) habe ich durchgängig zu Rate gezogen, ohne dies jedes Mal im Einzelnen zu vermerken. ÃUnmöglichesµ, der Begriff fällt wörtlich im Anschluss an die eingangs zitierten Passagen, ebenfalls in HL 1,1. Hier wie im Folgenden verwende ich der sprachlichen Einfachheit halber den Autornamen auch dort, wo man präziser von literarischem Ich, Erzähler, Sprecher etc. reden müsste. Vom sechsten Buch der HL sind nur die ersten drei Kapitel erhalten.
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verfasst um 170, publiziert vermutlich 170/1 n. Chr.,5 seine spätestens seit einer Romreise (143/4 n. Chr.) für Jahrzehnte angeschlagene Gesundheit. 6 Man liest von einer Serie verschiedenster Krankheiten,7 $ULVWLGHV¶NUDQNHP.|USHUGHQGaraus resultierenden Inkubationen, hauptsächlich im Heiligtum des Asklepios von Pergamon, und vor allem den dort und an anderen Orten empfangenen Träumen.8 Dass Aristides zumindest für wichtige Aspekte dieser literarischen Grundkonstellation auf vorgängige Formen religiösen Schreibens zurückgreifen konnte, annonciert gleichsam schon deUíHEHQIDOOVYRP*RWWDQJHRUGQHWHYJOHL í7LWHO des Werkes, Hieroi logoi (İȡȠ ȜંȖȠȚ). Bekanntlich findet sich diese Bezeichnung nicht nur in orphischen sondern auch in anderen religiös geprägten literarischen Traditionen.9 In eine ähnliche Richtung weist die Forschung zu den HL: Sie wurden nicht nur mit hellenistischen Wundererzählungen, Aretalogien oder Konversionsliteratur, sondern auch mit inschriftlichem Material, zeitgenössischen DoNXPHQWHQ GHU 6DUDSLVIU|PPLJNHLW RGHU HWZD $SXOHLXV¶ Metamorphosen verglichen.10 All diese Möglichkeiten erweisen unseren Rhetor als einen, der über eine 5
So C.A. BEHR: Aelius Aristides and the Sacred Tales, Amsterdam 1968 und wieder DERS.: ÄStudies on the Biography of Aelius Aristides³, in: ANRW II, 34.2, Berlin; New York 1994, 1140±1233, anders (erst 175/6 n. Chr.) C.G. WEISS: Literary turns: The Representation of Conversion in Aelius Aristides¶ Hieroi logoi and Apuleius¶ Metamorphoses, Diss. Yale 1998, 37±46. Der späteren Datierung zustimmend zuletzt S.J. HARRISON: ÄApuleius, Aelius Aristides and Religious Autobiography³, Ancient Narrative 1 (2000/1) 245±259 (hier: 247) und M. KORENJAK, ÃUnbelievable confusionµ. Weshalb sind die ÃHieroi Logoiµ des Aelius Aristides so wirr?, Hermes 133 (2005) 215±234. 6 Vgl. HL 2,62ff. ± BEHR 1968 (oben Anm. 5), 25 erwägt, dass erst eine durch diese erste schwerere Erkrankung bewirkte existentielle Krise, bei Aristides das in den HL dargestellte Nahverhältnis zu Asklepios ausgelöst habe, bemerkt aber selbst (a.a.O. 18f.), dass Aristides bereits 142 n.Chr. in Ägypten krank war. 7 Vgl. die Liste der Krankheiten des Aristides bei BEHR 1968 (oben Anm. 5), 165±168. 8 Aristides unterscheidet meist präzise zwischen Traum (schlafender Zustand) und göttlicher Offenbarung in Wacherfahrung (Vision), vgl. z.B. HL 2,18. Eine weitere Differenzierung der Schilderung von Träumen, wie sie sich etwa bei CHR. WALDE (Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, München, Leipzig 2001, 15: Traumerzählung im Unterschied zu Traumbericht) findet, nehme ich nicht vor, da sich daraus terminologische DoppeOXQJHQ PLW $ULVWLGHV¶ HLJHQHU 8QWHUVFKHLGXQJ ]ZLVFKHQ ÃProtokollµ und ÃErzählungµ (hierzu unten 2.) ergeben. Zu einer eher psychologisch ausgerichteten Analyse der Träume der HL vgl. G. MICHENAUD, J. DIERKENS: Les rêves dans les Ãdiscours sacrésµ G¶$HOLXV$ULVWLGH IIe siècle ap. J.-C., Mons 1972 sowie allgemeiner zur Persönlichkeit des Aristides P. ANDERSSON, B.A. ROOS, ÄOn the psychology of Aelius Aristides³, RhM 130 (1987) 350±356. 9 Vgl. hierzu die bei FESTUGIÈRE/SAFFREY 1986 (oben Anm. 1), 25 Anm. 4 versammelten literarischen Parallelen sowie für eine breitere religionsgeschichtliche Einordnung R. BAUMGARTEN, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen. Hieroi logoi und verwandte Erscheinungen, Diss. Freiburg i.B., Tübingen 1998 (Scriptoralia 110. A. Altertumswiss. Reihe. 26). 10 Die Forschungsliteratur zu den HL ist mittlerweile Legion, einen guten Überblick gibt zuletzt KORENJAK 2005 (wie Anm. 5). In Ergänzung der immer noch grundlegenden Arbeiten von BEHR (oben Anm. 1. 5) und FESTUGIÈRE (vgl. neben oben Anm. 1 auch DERS., ÄSur les ÃDiscours sacrésµ G¶$HOLXV$ULVWLGH³, REG 82, 1969, 117±153) sei deshalb hier nur verwiesen auf L.T. PEARCY: ÄTheme, dream, and narrative: reading the Sacred Tales of Aelius Aristides³, TAPhA 118 (1988) 377±391 sowie DERS., ÄDiagnosis as narrative in ancient literature³,
Aelius Aristides und die Inkommensurabilität des Göttlichen
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breite religiöse ÃAllgemeinbildungµ verfügt und, ganz Kind seiner Zeit, aus einem reichen Angebot religiöser Identifikations- und Artikulationsmöglichkeiten schöpft. Das alles soll hier aber nur am Rande interessieren. Vor diesem Hintergrund ist nämlich die eingangs zitierte und die gesamten HL hindurch von Aristides immer wieder annoncierte ÃInkommensurabilitätµ umso auffälliger. In diesem Sinn wird im Folgenden der Frage nachgegangen, was nach Maßgabe unseres Autors Ãunermesslichµ und deshalb nicht darstellbar ist (1., 2.) und wie Aristides es dennoch darstellt. Dabei wird zu zeigen sein, dass eine wesentliche Lösungsstrategie des Autors im Rekurrieren auf seine Bildung (ʌĮȚįİĮ, paideia) besteht. Diese Bildung lässt das erzählende Ich mit seinem religiösen Erleben interagieren, teilweise nahezu konkurrieren, wodurch die Darstellung der HL an innerer Dynamik gewinnt (3.). Abschließend ist zu fragen, welchem Ziel diese Art der Niederschrift einer subjektiv-religiösen Erfahrung dienen konnte (4.). 1. GOTT, GÖTTER, GÖTTLICHES: WER SIND SIE UND WIE KANN MAN SIE (NICHT) DARSTELLEN? Wirft man für die Beantwortung dieser ersten Frage zunächst einen Blick in Aristides¶ Schriftenverzeichnis, so zeigt sich, dass er das Göttliche bzw. Götter11 in vielerlei Gestalt kennt. Fast hat man den Eindruck, dass er von nahezu allen Stationen seines Lebens, über die Geburt in Mysien bis hin zu den zahlreichen Reisen u.a. nach Rom und Ägypten,12 einen Gott mitgebracht habe. So verfasst Aristides beispielsweise Hymnen bzw. Reden auf Athena (or. 37), Asklepios (or. 42), die Asklepiaden (or. 38), Dionysos (or. 41), Poseidon (or. 46) oder Zeus (or. 43), aber auch auf ägyptische Gottheiten wie etwa den berühmten SarapisHymnus (or. 45).13 Eine vergleichbare Vielfalt an Göttern bzw. Erscheinungsformen des Göttlichen führt er auch in den HL auf: Neben Athene (HL 2,42), Apollon (HL 5,7), Dionysos (HL 3,33; 4, 25.39.40) oder den Dioskuren (HL 4,36) spielen dort die ägyptischen Gottheiten Isis (HL 3,44) und Sarapis (HL 3,47) eine wichtige Rolle, sei es einzeln oder zusammen (HL 4,97). Einmal erfahren wir auch, dass Aristides Ägewohnt ist, zu mehreren Göttern zu beten³, Äinsbesondere AJPh 13 (1992) 595±616, denen dieser Aufsatz am meisten verdankt. Für inschriftliche Parallelen vgl. u.a. H. MÜLLER: ÄEin Heilungsbericht aus dem Asklepieion von Pergamon³, Chiron 17 (1987) 193±222 (Inschrift des Aelius Theon) sowie M. GIRONE: Iamata. Guarigioni miracolose di Asclepio in testi epigrafici. Con un contriibuto di M. TOTTI-GEMÜND, Bari 1998 (pinakes. 3). Der Vergleich mit den Inschriften nimmt den Inhalten der HL viel von ihrer für den modernen Leser bisweilen zu konstatierenden Befremdlichkeit. 11 Zum Wortfeld Ã*RWWí*|WWHUí*|WWOLFKHVµ vgl. J. PUIGGALI, ÄDaimon et les mots de la même famille chez Aelius Aristide³, C&M 36 (1984) 123±126 sowie J. BOMPAIRE, ÄLe Sacré dans OHVGLVFRXUVG¶$HOLXV$ULVWLGH;/9,,±LII Keil)³, REG 102 (1989) 28±39. Auf diesen Aspekt werde ich hier nicht eingehen. 12 Zu allen biographischen Angaben vgl. BEHR (1994) (oben Anm. 5). 13 Die Zählung der Reden folgt KEIL 1898 (oben Anm. 1).
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zu Zeus, Ares und den Schutzgottheiten Syriens³ (HL 1,33), um hiermit nur die wichtigsten Götter und Heroen der HL zu nennen. Prominentester Gott bleibt freilich der Heilgott Asklepios. In den HL begegnet er auch als universaler Zeus Asklepios (HL 1,45), jener ÄSchöpfung aus dem Geist der Zweiten Sophistik³14 und vor allem als der Asklepios pergamenischer Prägung, dieser Ämenschenfreundlichste aller Götter³ (ijȚȜĮȞșȡȦʌંIJĮIJȠȢ șİȞ).15 Dieser Asklepios teilt sich in den HL meist alleine mit, kann aber auch zusammen mit Sarapis (HL 3,46) erscheinen, eine Gestalt, die Äzugleich Asklepios und Apollo³ (HL 2,18) ist, annehmen oder in einem Atemzug mit Athene genannt werden (HL 4,9). Asklepios ist eigentliches Ziel und Zentrum der religiösen Gefühle des Aristides der HL, er ist, wie bereits erwähnt, der ÄRetter³ (ıȦIJȡ, HL 1,1. 66 etc.), er ist Äder Gott³ ( șİંȢ, HL 1, 3±6. 17. 23. 42f. 55. 57 etc.). Zu Asklepios steht Aristides im Verhältnis einer Äpersonal religion³ in FESTUGIÈRES Sinn:16 In Träumen und Visionen kann Aristides den Gott sehen, hören, ja sogar berühren bzw. er wird von ihm berührt. Mit ihm kann sich er unterhalten bzw. ihn um Rat fragen. Gegenüber diesem intensiven Kontakt fallen eher konventionelle Äußerungen eines Erschreckens vor dem Göttlichen, zumindest in den frühen Büchern der HL, kaum ins Gewicht. So ist es bezeichnend, dass etwa auch eine Äußerung wie (HL 1,38): Wäre ich nicht geübt im Anschauen göttlicher Erscheinungen, so hätte ich schwerlich auch nur den Anblick aushalten können. So wunderbar (șĮȣȝĮıIJ) scheint er [sc. ਲ ʌȡંıȠȥȚȢ, der Anblick] mir zu sein und überwältigend für einen menschlichen Betrachter (țȡİIJIJȦȞ ਲ਼ țĮIJ¶ ਙȞșȡȦʌȠȞ)
eben nicht den Heilgott meint. Die zitierte Passage findet sich am Anfang einer imaginierten Rede auf die Kaiser und deren Anblick ist es, der hier als nahezu Ãunerträglichµ, weil überwältigend, vorgestellt wird. Immerhin versucht Aristides im Anschluss an die zitierte Passage selbst, seiner Äußerung durch den Verweis auf Asklepios und Sarapis zusätzliche Tiefe zu verleihen.17 Gemessen an dem Umgang mit dem Göttlichen bzw. mit Asklepios, wie er in den HL tatsächlich permanent stattfindet, wirkt freilich auch dies eher den Gepflogenheiten enkomiastischer Rede auf den (hier: die) Kaiser geschuldet.
14 So CHR. HABICHT (Hg.), Die Inschriften des Asklepieions. Mit einem Beitrag von M. WÖRRLE, Berlin 1969 (DAI. Die Altertümer von Pergamon. Band VIII.3), 14. 15 Vgl. z.B. Aristides, or. 42,12, dazu BEHR 1968, 159 Anm. 70f. und EDELSTEIN (Asclepius. Collection and Interpretation of the Testimonies, by E.J.E. and L. E., Baltimore 1945, um ein Vorwort von G.B. FERNGREN erweiterter Nachdruck Baltimore, London 1998) II 65 Anm. 117 für weitere Belege. 16 Vgl. A.J. FESTUGIÈRE: Personal Religion amongst the Greeks, Berkeley, Los Angeles 1954 (Sather Classical Lectures. 26), hier: 85±104. Im Hinblick auf Aristides bleibt allenfalls zu fragen, on man dessen Religiosität mit FESTUGIÈRE als Ãpopulärµ (a.a.O. 85: Äpopular³) bezeichnen möchte. 17 HL 2,38: ÄIch sprach von göttlichen Erscheinungen und wollte damit hauptsächlich auf Asklepios und Sarapis hinweisen.³
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Ähnlich konventionell erscheinen bisweilen Gedanken, die sich Aristides in anderen Werken über die Darstellbarkeit des Göttlichen macht.18 Stellvertretend für anderes sei an die bekannte Stelle aus dem Sarapis-Hymnus (or. 45)19 erinnert. Dort schwingt sich Aristides zu einer stark emotional gefärbten, poetologischen Begründung der Prosa als Darstellungsform für das Göttliche auf, versucht also diejenige seiner Artikulationsformen, auf die er besonders stolz war, den Prosahymnus,20 zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung gründet hier unter anderem auf das physis-Argument (Ãwas natürlicher istµ) sowie den Alterserweis (Ãwas älter istµ) und orientiert sich hauptsächlich an üblichen Argumentationsmustern der Rhetorik.21 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass Aristides, wie er selbst in den HL darlegt, zum Lob des Asklepios auch lyrischen Formen benutzt hat, ja zu deren Aufführung sogar zwei Chöre, einen Knaben- und einen Männerchor, unterhalten haben will.22 In gewisser Weise gehört er also selbst zu den ÄDichtern³, die er im Sarapis-Hymnus zwar Änicht beleidigen³ will, die er aber letztlich doch als Änicht die einzigen wahren Propheten der Götter³ qualifiziert.23 Zwar deutet diese Qualifikation immerhin die Kategorie religiöser Angemessenheit an. Vor dem Hintergrund des (auch) dichtenden Autors der HL geraten die Äußerungen des Hymnus aber trotzdem in gefährliche Nähe zu einer adhoc gesprochenen, vor allem für den aktuellen Redeanlass gültigen Gelegenheits-Ästhetik. An die Schwierigkeiten eines, der am Meeresgrund die Strömungen zu zählen hat und das damit annoncierte Reflexionsniveau hinsichtlich der Darstellbarkeit des Göttlichen, reichen sie kaum heran. Es bleibt also weiter zu fragen, warum der im literarischen Umgang mit religiösen Themen durchaus routinierte Autor Aristides in den HL so vehement um die Form seiner Schrift ringt, warum er gleich zu Beginn des Werkes, also noch 18 Nicht eingehen kann ich hier auf diejenigen Stellen der Prosa-Hymnen, wo Aristides über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit bzw. über deren Darstellbarkeit nachdenkt (z.B. orr. 37, 8. 38, 1 etc.), dies bedürfte einer eigenen Untersuchung. 19 Vgl. hierzu die kommentierte Übersetzung von A. HÖFLER: Der Sarapishymnos des Ailios Aristeides, Stuttgart, Berlin 1935 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft. 27). 20 Zu den Prosahymnen allgemein vgl. D.A. RUSSELL: ÄAristides and the Prose Hymn³, in: DERS. (Hg.): Antonine Literature, Oxford 1990, 199±219. 21 Nach einer vergleichsweise ausführlichen Aufzählung der allgemeinen Anwendungsgebiete und Vorzüge der Prosa fährt Aristides fort (or. 45,8): ÄIn der Tat entspricht es, denke ich, mehr dem menschlichen Naturell (țĮIJ ijıȚȞ ... ȝ઼ȜȜȠȞ), sich der Prosa (ʌİȗ ȜંȖ ȤȡોıșĮȚ) zu bedienen, genauso wie es ihm mehr entspricht zu Fuß zu gehen (ȕĮįȗİȚȞ) als sich in einem Wagen fahren zu lassen. Denn metrisches Sprechen ist nicht als erstes entstanden, es sei denn, dass Prosarede und Unterhaltung so erfunden wurden, und nicht die Dichter legten, nachdem sie einmal in Erscheinung getreten waren, die Bezeichnungen für die Dinge fest, sondern als diese Bezeichnungen und die Prosa-Rede bereits existierten, stellte sich später um des ästhetischen Reizes und des Einflusses auf die Seele willen (ȤȡȚIJȠȢ IJȚȞȠȢ ਪȞİțĮ țĮ ȥȣȤĮȖȦȖĮȢ) auch das ein, was eben diese beiden erzeugt: die Poesie (ʌȠȚȘIJȚț). Deshalb: Wenn wir die Natur ehren, erweisen wir unsere Ehrerbietung wohl den Göttern, ihrer Einrichtung der Dinge, ihrem Willen und dem gemäß ihnen selbst Früheren und [damit] Ehrwürdigeren ...³ 22 Vgl. zu Gedichten und Chören HL 3, 4 (Zitat eines ÃLiedes für den Gottµ) und HL 4,39±46. 23 Beide Zitate stammen aus or. 45,9 in unmittelbarem Anschluss an das Zitat oben, Anm. 21.
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bevor irgendetwas Ãgesagtµ wurde (und dann das gesamte Werk hindurch) immer wieder auf ein ÃNicht-Sagen-Könnenµ verweist. 2. INKOMMENSURABILITÄT? Hierfür bedarf zunächst der Gegenstandsbereich dessen, was als Ãinkommensurabelµ annonciert wird, genauerer Klärung. Nur auf den ersten Blick handelt es sich hierbei nämlich stets ausschließlich um eine der zahlreichen oben genannten Facetten des ÃGöttlichenµ. So liest man etwa in Fortsetzung des oben zitierten Bildes vom Meeresgrund (HL 1,3): Denn jeder meiner Tage hat seine Geschichte und ebenso jede meiner Nächte, falls jemand (IJȚȢ) im einzelnen, entweder die Begebenheiten protokollieren (ਕʌȠȖȡijİȚȞ) oder die Fürsorge des Gottes erzählen (įȚȘȖİıșĮȚ ZROOWHGLHGLHVHUíWHLOVLQSHUV|QOLFKHU(UVFKHLQXQJWHLOV GXUFK6HQGXQJYRQ7UDXPELOGHUQíEH]HLJWHVRZHLWHVPLUZHQLJVWHQVYergönnt war, Schlaf zu finden. Doch das kam nur selten vor in den Dreifach-Brandungen meines körperlichen Befindens.
Nur noch einen weiteren Satz benötigt der Sprecher, um mitzuteilen, dass er sich dem Gott Äals dem wahren Arzt³ anvertraut, dann bemerkt er lapidar (HL 1,4): Jetzt also will ich euch darlegen, wie es mit meinem Unterleib stand. Ich will über alle Einzelheiten Rechenschaft ablegen, Tag für Tag.
Diese Ankündigung wird anschließend eingelöst durch eine detaillierte, fast die gesamte erste Hälfte von Buch 1 einnehmende Schilderung der körperlichen Beschwerden, bzw. genauer: vor allem der damit befassten Träume. ÄSoviel über den Zustand meines Unterleibs.³ (HL 1,61) schließt der Autor diesen ersten Teil, um dann ohne weitere Überleitung fortzufahren: ÄÄhnlich wie mit dem Unterleib war es mir mit der Geschwulst viele Jahre früher ergangen³ (ebd.). Auch in der hierauf folgenden Passage werden Anweisungen und Verordnungen des Gottes detailgenau geschildert. Derartige Körper-Traum-Schilderungen prägen über weite Strecken noch den Charakter der späteren Bücher der HL, vor allem HL 2 und 3.24 Gerade diesen
24 Sie haben Aristides den Ruf eines körperfixierten Hypochonders und Neurotikers mit tiefer narzisstischer Störung eingebracht, genauso wie die ähnlich detailgetreuen Referate bestimmter, oftmals auch paradoxer Heilanweisungen des Gottes, hierzu z.B. G. VILLA: ÄElio Aristide HO¶LSRcondria. Una recente traduzione italiana dei Discorsi sacri³, QUCC n.s. 32 (1989) 133± 144, P. ANDERSSON, B.A. ROOS 1987 (oben Anm. 8). In der Art ihrer Schilderung verlieren vor allem die Heilanweisungen viel von ihrer Merkwürdigkeit, wenn man sie in ihrem sozialen und historischen Umfeld betrachtet, was hier nicht geschehen kann. Verwiesen sei hier nur auf die zeitgenössische Inschrift des Publius Aelius Theon (bei MÜLLER (1987), oben $QP VRZLH GLH 7DWVDFKH GDVV $ULVWLGHV¶ +DOWXQJ EHL VHLQHQ =HLWJHQRssen und die gesamte Antike hindurch niemals Anstoß erregte, vgl. zum Publikum innerhalb der HL L. PERNOT, ÄLes ÃDiscours Sacrésµ d¶Aelius Aristide entre medecine, religion et rhétorique³, AAP 51 (2002) 369±383, v.a. 375ff., zu den vielfältigen sozialen Kontakten in Pergamon allgemein H. REMUS: ÄVoluntary association and networks. Aelius Aristides at the Asclepieion
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oftmals punktgenauen Körper- und Heilmittelerzählungen,25 die der Aristides der HL offenbar schildern kann, geht nun aber wiederholt ein Gestus des Sich-nichterinnern-Könnens26 voraus. Alternativ folgt ihnen häufig ein Ausdruck des Garnicht-alles-erzählen-Könnens.27 Dies entspricht der grundsätzlichen inhaltlichen Spannung, die sich eigentlich bereits in der Einleitung zu HL 1 beobachten lässt: Das Adynaton der Darstellung wird erst annonciert, dann folgt eine taggenaue Erzählung. Wie also sind diese methodischen Bemerkungen zu Beginn und innerhalb der HL zu verstehen? Ist die ÃUnermesslichkeitµ, mit der der Autor ringt, am Ende nur eine Frage der Quantität? Geht es in diesem Sinn weniger um die Schwierigkeiten bei der Darstellung des Göttlichen, sondern um die schiere Menge dessen, was das erzählende Ich an seinem Körper beobachtet, und mit diesem seinem Körper erlebt? Bezeichnet das Adynaton folglich keine durch das göttliche, sondern durch einfache mnemo- bzw. erzähltechnische Gegebenheiten gesetzten Grenzen? Manche Bemerkungen der HL scheinen in diese Richtung zu weisen, besonders deutlich wohl eine Stelle im zweiten Buch, wo Aristides ± wieder nach unendlichen körperlicKHQ /HLGHQ DXFK QDKHU 7RGHVHUZDUWXQJ í HUQHXW LQ KRPHUischem Gestus ausruft (HL 2, 58): Wer wagte alles davon zu erzählen, wer von den sterblichen Menschen? Denn das bekannte Fünf, sechs Jahre hindurch (vgl. Odyssee 3,113f.) reicht ja nicht aus, vielmehr erfordert die Erzählung (įȚȖȘıȚȢ) vielleicht nicht weniger Zeit als die, in welcher die Vorgänge sich abspielten.
Eindeutig artikuliert Aristides hier Bedenken, dass er sich genötigt sehe, Erzählzeit und erzählte Zeit in eins fallen zu lassen: Vom Beginn der geschilderten Ereignisse im Jahr 143/4 bis zum Datum der Abfassung im Jahr 170/1 n. Chr. ergäbe sich ein Zeitraum von 27 bzw. 28 Jahren, also zweifelsfrei ein quantitatives Übermaß. Doch begnügt sich Aristides nicht mit solchem, durch die Erzählung dann doch wieder partiell überwundenen Konstatieren eines quantitativen ÃZuvielsµ. Zu Beginn des zweiten Buches, also nach Abschluss des kataloghaft reihenden ÃTraumbuchsµ (HL 1), reflektiert Aristides nämlich in einer Art erneutem Einsetzen explizit über die Disposition seines Stoffes, indem er eine komplizierte Genese für sein Werk entwirft (v.a. HL 2,1±3). Ausdrücklich wird hier ein weiteres Ausgreifen in die Vergangenheit angekündigt und sogleich wieder ein Adynaton: Aristides könne sich nach so langer Zeit eben nicht mehr an Äjedes einzelne Vorkommnis³ (ਪțĮıIJĮ) erinnern. Dies knüpft an den Gestus des quantitativen ÃZuin Pergamum³, in: Voluntary Associations in the Graeco-Roman World. Ed. by J.S. KLOPSt.G. WILSON, London, New York 1996, 146±175. 25 Hier und im Folgenden verwende ich ÃErzählungµ weniger im Sinne moderner Terminologie, sondern als Entsprechung des griechischen įȚȖȘıȚȢ (dihegesis), mit dem Aristides selbst seine HL bezeichnet (zur Bedeutung vgl. das Folgende). 26 Für diese Versicherungen des eigenen Unvermögens sowie Unsicherheiten in geschilderten Vorgängen vgl. z.B. HL íí 27 Vgl. HL ííHWF PENBORG and
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vielsµ von HL 1 an, diesmal nur in der Spielart des ÃIch kann mich nicht an alles einzelne erinnernµ.28 Auch diese Begründung für zusammenfassendes Erzählen kennen wir bereits, auch sie wird im weiteren Verlauf der HL immer wieder anzitiert. Dem quantitativen und mnemotechnischen ÃZuvielµ fügt Aristides aber zu Beginn des zweiten Buches auch etwas Neues hinzu. Es heißt dort (HL 2,2±3): Jetzt aber, so viele Jahre und Zeitläufe später, zwingen uns Traumgesichte, diese Dinge irgendwie an die Öffentlichkeit zu bringen. Ich darf jedoch sagen, dass gleich von Anfang an der Gott mir Weisung gab, die Träume aufzuschreiben (ਕʌȠȖȡijİȚȞ IJ ੑȞİȡĮIJĮ). ... Ich habe aber das Protokoll (ਕʌȠȖȡĮij) der Träume, wenn ich es eigenhändig nicht vermochte, durch Diktieren zustande gebracht. Doch habe ich weder die Umstände beigefügt, unter denen ich die einzelnen Träume empfing, noch Angaben über ihre Erfüllung gemacht.29 Denn ich darf ja glauben, dass das Protokoll (ਕʌȠȖȡĮij) einen Umfang von nicht weniger als 300 000 Zeilen hat, die aber durchzugehen nicht leicht wäre, und auch nicht, sie in die richtige zeitliche Ordnung zu bringen (ਥijĮȡȝંIJIJİȚȞ ਦțıIJȠȚȢ ʌȦȢ İੇȤİ IJ IJȞ ȤȡંȞȦȞ). Außerdem ist ja auch manches durcheinander geraten durch vielerlei Zerstörung und das Durcheinander (ਥȞ IJૌ ʌĮȞIJȠįĮʌૌ ijșȠȡઽ țĮ ਕțȡĮı), das in jenen Zeiten in meinem Haus herrschte. So bleibt mir nun nur übrig, die wichtigsten Begebenheiten zu berichten (țİijȜĮȚĮ ȜȖİȚȞ), indem ich bald hierher, bald dorther mich zu erinnern versuche (ਙȜȜĮ ਙȜȜȠșİȞ ਕȞĮȝȚȝȞȘıțંȝİȞȠȞ), so wie der Gott mich führt und treibt.
Was hier entworfen wird, ist also nicht weniger als eine Art verhinderte Redaktionsgeschichte der HL. Es soll einen protokollierenden ÃUrtextµ (ਕʌȠȖȡĮij, apographe) gegeben haben, der, das wird mehrfach betont, quasi lückenlos war. Denn erstens befahl der Gott Ägleich von Anfang an³, dass Aristides protokolliere und zweitens wird eigens berichtet, dass auch körperliche Ausnahmezustände, wie sie unser Rhetor ja beinahe ohne Unterlass erlebt, das Protokoll nicht unterbrechen konnten (vgl. Ãwenn ich es eigenhändig nicht vermochte, diktierte ichµ). Vor dem Auge des Lesers baut sich also für einen Moment ein nahezu perfektes, lückenloses ÃTraumbuchµ auf. Nur die Träume nämlich hat Aristides nach eigenen Angaben protokolliert und schon dadurch soll ein Text von ungeheueren Ausmaßen, nämlich 300 000 Zeilen,30 entstanden sein. Doch dieser beeindruckende Text, die ਕʌȠȖȡĮij (apographe), wird sogleich wieder zurückgenommen: Nicht nur begegnet auch hier durch den bloßen Umfang wieder die gleiche schier erschlagende Fülle, wie wir sie schon aus HL 1 kennen. Auch Ãin Unordnungµ sind diese Papiere, ja zu allem Übel auch noch durch ± die recht nebulöse ± ÃZerstörungµ nun doch Ãlückenhaftµ und damit letztlich unverwertbar. 28 Vgl. HL 2,1: ÄAls dann wiederum längere Zeit verstrichen war, schien es eine unlösbare Aufgabe (IJȚ IJȞ ਕįȣȞIJȦȞ) zu sein, die einzelnen Vorkommnisse ins Gedächtnis zurückzurufen (ȝȞȘȝȠȞİ૨ıĮȚ ਪțĮıIJĮ) und genau zu schildern (įȚ¶ ਕțȡȚȕİĮȢ İੁʌİȞ).³ 29 Hier nimmt KEIL 1898 (oben Anm. 1), 395, Z. 19 aus inhaltlichen Gründen eine Lücke im Text an. 30 SCHRÖDER 1986 (oben Anm. 1), 42 Anm. 5 errechnet, dass dies dem neunzehnfachen Umfang der Ilias entspräche und dass die nun vorliegenden HL, selbst wenn man sie um das verlorene sechste Buch ergänzte, nur ein Achtundachtzigstel dieser ursprünglichen ਕʌȠȖȡĮij (apographe) darstellten; das über die Jahre zu bewältigende tägliche Schreibpensum, das SCHRÖDER (ebd.) mit 32 Zeilen angibt, liegt freilich keineswegs jenseits aller realen Möglichkeiten.
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Und trotzdem lesen wir nur fünf Kapitel später, nach einer kürzeren Einlassung über die Unfähigkeit der menschlichHQbU]WHLQ6P\UQDXQG$ULVWLGHV¶YRQ Asklepios bewirkter Ankunft in Pergamon (HL 2,8): Das Weitere zu erzählen (įȚȘȖıĮıșĮȚ), entspricht nicht menschlichem Vermögen (Ƞ țĮIJ¶ ਙȞșȡȦʌȠȞ), doch muss ich versuchen, so wie ich es mir vorgenommen habe, einiges davon kurz zusammengefasst durchzugehen (ਥȟ ਥʌȚįȡȠȝોȢ ȞȚĮ ... įȚİȜșİȞ). Will aber jemand wirklich genau die von dem Gott an mir vollbrachten Taten (IJ ਕțȡȚȕıIJĮIJĮ ... IJȞ ȖİȖİȞȘȝȞȦȞ) kennen lernen, dann ist die Stunde gekommen, dass er die Pergamente (IJȢ įȚijșȡĮȢ) sucht und die Träume selbst (IJ ੑȞİȡĮIJĮ ĮIJ, auch: ÃTraumberichteµ). ... Jetzt aber wollen wir irgendwo beginnen (ਥȞșȞįİ ʌȠșȞ ਕȡȟઆȝİșĮ), wie nach unserer Ankunft im Heiligtum in der ersten der Nächte der Gott ...
Dass Aristides hier mit den ÃPergamentenµ (įȚijșȡĮȚ, diphtherai) die vorher ਕʌȠȖȡĮij (apographe) genannten ÃProtokolleµ meint, ist wohl klar.31 Problematischer ist der Rat, dass man für eine Äim engeren Sinn präzise³ Bestimmung (IJ ਕțȡȚȕıIJĮIJĮ) der Vorgänge eben diese ਕʌȠȖȡĮij (apographe) aufsuchen müsse. Zwar versteht man, dass dadurch einerseits einmal mehr der Bereich des göttlichen Geschehens näher bestimmt wird:32 Dieses göttliche Geschehen vollzieht sich rein auf der Ebene der Träume, so dass der Fokus der HL im Sinne von ArisWLGHV¶*HVFKLFKWHPLWGHP*RWWLPPHUQXUGDV:RUWGHV*RWWHVE]ZVHLQH2IIHnbarung in Traum und Vision ist. Das so ausführlich geschilderte Körpergeschehen wird dem gegenüber in seiner Bedeutsamkeit sekundär. Weniger eindeutig ist nun aber, wie eine Realisierung dieses Rates aussehen solle, die den Suchenden ja gerade von der įȚȖȘıȚȢ (dihegesis), also den ihm vorliegenden HL wegverweist und damit rät, etwas zu tun, was Aristides offenbar nicht getan hat.33 PEARCY (1988 und 1992)34 versteht dies im Sinn einer vom Autor bewusst unentschieden gelas-
31 Die Ausdrucksweise ist gesucht, įȚijșȡĮ (diphthera) begegnet im gesamten Corpus des Aristides nur hier. Dass er damit die ਕʌȠȖȡĮij (apographe) meint, nehmen BEHR 1968 (oben Anm. 5), 116, SCHRÖDER 1986 (oben Anm. 1), 43 und PEARCY (1988) (Anm. 9) 381 übereinstimmend an. 32 Eigentlich geschah Vergleichbares bereits im vorherigen Textausschnitt HL 2,2, wo der Befehl des Gottes sich ausschließlich auf die Träume richtete 33 PEARCY (1988) (Anm. 9) erwägt zuerst die Möglichkeit, dass es sich um einen bloßen Widerspruch oder, wie er es nennt, Ätwo sets of records³ (380) handeln könne, verwirft diese Möglichkeit aber, wie ich meine zurecht, gleich wieder. 34 Narratologisch ausgerichtete Analysen liegen auch von M.-H. QUET, ÄParler de soi pour louer VRQ GLHX OH FDV G¶$HOLXV $ULVWLGH GX MRXUQDO LQWLPH GH VHV QXLWV DX[ Discours sacrés en O¶KRQQHXU GX GLHX $VFOHSLRV ³, in: M.-FR. BASLEZ u.a. (Hgg.): /¶LQYHQWLRQ GH l¶DXWRELRJUDSKLHG¶+HVLRGHj6DLQW$XJXVWLQH, Paris 1993, 211±251 und C. CASTELLI, ÄIntenzionalità espressiva e ordine della narrazione nei ÃDiscorsi sacriµ di Elio Aristide³, Acme 52.1 (1999) 197±212 vor, SCHRÖDER 1987 (unten Anm. 42) und M. GIGANTE, ÄSocrate nei Discorsi sacri di Elio Aristide³, Elenchos 11 (1990) 77±78 behandeln ebenfalls vor allem literarische Motive. PEARCYs (oben Anm. 10) Analysen haben mein Verständnis des Textes am meisten befördert, so dass ich sie hier als Ausgangspunkt verwendet habe. Ähnlich verfährt auch KORENJAK 2005 (oben Anm. 5) 226 mit Anm. 36, doch richtet sich seine Aufmerksamkeit dann vor allem auf die die in der Tat zahlreichen Bezüge auf ein Publikum innerhalb der HL, so dass für ihn die HL vor allem Äeine Strategie der Selbstglorifizierung, der Publikums-
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senen Alternative: Während Aristides die ਕʌȠȖȡĮij (apographe) als für sich selbst nicht nützlich begreife, schlösse er doch nicht aus, dass sie anderen von Nutzen sein könne.35 Die damit eingeschlagene Interpretationsrichtung sollte man meines Erachtens noch einen Schritt weiter verfolgen: Zwar werden die diphtherai / apographe als unbrauchbare Quelle (zu lang, zu ungeordnet) klassifiziert, was für PEARCYs Deutung spricht. Doch sind sie darüber hinaus auch noch teilweise von ÃVernichtungµ (ijșȠȡ) betroffen, so dass hier offensichtlich Unmögliches geraten wird. In direkter Anrede an einen impliziten Rezipienten könnte man nach diesem Verständnis den Rat des Sprechers ungefähr folgendermaßen reformulieren: ÃWer auch immer einen protokollhaften Bericht wünscht, muss anfangen, etwas zu suchen, was es so, zumindest in Teilen, gar nicht mehr gibt. Er will etwas Unmögliches, weil die Mitteilung meiner Geschichte mit dem Gott eigentlich in den Träumen selbst liegt und somit als ਕțȡȚȕıIJĮIJȠȞ (akribestaton) gar nicht mitteilbar ist.µ Was uns also bisher vor allem als rein quantitatives und deshalb vor allem auch mnemotechnisches Problem an Unermesslichkeit präsentiert wurde, wird hier, wie ich meine eindeutig, zu einem qualitativen Problem: So sehr unser Rhetor uns durch die Art der Schilderung seiner Begegnung mit dem Gott (er redet mit ihm etc.) einen völlig nachvollziehbaren Eindruck vom Göttlichen vermittelt, so klar wird hier doch, dass es eine letzte, nicht mehr darstellbare Differenz oder Alterität der Begegnung mit dem Göttlichen gibt. Ein weiterer Beleg für dieses Verständnis ist, dass Aristides neben einer nur allmählich schwächer werdenden Fortführung der bisher angeklungenen Motive des mnemotechnischen Versagens und der Unerschöpflichkeit des Stoffes ab dem zweiten Buch der HL verstärkt auf Mysteriensprache und -bilder zurückgreift. Besonders deutlich geschieht dies etwa in HL 2, 34, wo Aristides in einem ÄZwischenzustand zwischen Traum und Wachen³ (IJ ȝȞ ੪Ȣ ȞĮȡ IJ į ੪Ȣ ʌĮȡ) meint, den Gott berühren zu können, sich davon ungeheuer beglückt fühlt und die Beschreibung seiner psychosomatischen Reaktionen münden lässt in den Satz und welcher Mensch vermöchte diesen Zustand mit Worten darstellen (ਥȞįİȟĮıșĮȚ ȜંȖ)? Wenn aber einer zu den Eingeweihten gehört (IJȚȢIJȞIJİIJİȜİıȝȞȦȞ), dann weiß er, was ich meine und versteht es.
Derartige Verweise kennt man nicht nur aus religiösem Schrifttum, sondern auch von Anleihen aus der Mysteriensprache seit Platon.36 Gemessen an der passgenauen Konstruktion der Unsagbarkeit oder eben ÃInkommensurabilitätµ, die Arisverachtung und des Sich-Hinwegsetzens über die Regeln der Schulrhetorik³ (a.a.O. 233) erkennen ließen. 35 So PEARCY (1988) (oben Anm. 10), 381: Äthat while the notebooks might be of some use to someone, they were of no use to him [sc. $ULVWLGHV@³ 36 Vor allem in diesem Punkt hat man die HL mit den Schilderungen emotionaler Gestimmtheit gegenüber dem Göttlichen in Apuleius Metamorphosen verglichen, hierzu WEISS 1998, Harrison (2001/2) (beide oben Anm. 5) sowie für weitere Belege initiandenhafter Begeisterung innerhalb der HL M.-G. LONNOY, Ä/¶([SHULHQFH LQLWLDWLTXH G¶$HOLXV $ULVWLGH³, BullBudé (1986) 398±416.
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tides mit seiner Unterscheidung zwischen ਕʌȠȖȡĮij (apographe) und įȚȖȘıȚȢ (dihegesis) gelingt, wirkt sein Rückgriff an der zitierten Stelle eher wie eine Ergänzung des bisher Gesagten. Dem entsprechend wir dieser Sprechgestus dann später, im 4. Buch der HL, durch die explizite Überbietung eines Einweihungserlebnisses relativiert und zu einem gewissen Abschluss gebracht.37 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Aristides der HL die Grenze zwischen dem über das Göttliche Mitteilbaren bzw. nicht Mitteilbaren klar definiert: Seine Erzählung (įȚȖȘıȚȢ, dihegesis) kann zwar die Inhalte einzelner Träume, bestimmte Heilerfolge und die damit verbundenen Emotionen immerhin ansatzweise wiedergeben. Die Aktualität der Gotteserfahrung aber, die unmittelbare Kommunikation des Gottes mit dem Einzelnen in Traum oder Vision außerhalb alltäglicher Wacherfahrung, kann sie nicht vermitteln. Damit ist das, worauf es dem Aristides der HL eigentlich ankommt, seine in eben dieser Aktualität der Gotteserfahrung bestehende Geschichte und damit Auszeichnung letztlich nicht kommunizierbar. Trotzdem versucht Aristides eine Art asymptotischer Annäherung an die ÃHauptpunkteµ (țİijȜĮȚĮ, kephalaia) dieses Geschehens, indem er traditionelle Strategien literarischen Erzählens seinen eigenen Zwecken anpasst. 3. PAIDEIA: HOMERISCHES ERZÄHLEN Eine wichtige Strategie des Aristides zur Lösung des von ihm so sorgfältig annoncierten Problems ließ sich schon in den wenigen, bisher zitierten Passagen beobachten: Aristides macht sich in Zitaten und Anspielungen seine Bildung zunutze und Bildung, ʌĮȚįİĮ (paideia), sind für ihn vor allem Reden, also literarische Bildung. Gegenüber dieser ʌĮȚįİĮ (paideia), das wird dem Rezipienten gleich zu Anfang der HL recht drastisch mitgeteilt, sind alle anderen menschlichen Vergnügen die ÄVergnügungen von Schweinen³ (HL 1,19), während literarische Bildung als einzige Äwahrhaft menschlich³ sei. Und so wird in den HL, sei es im Traum, sei es im Wachen, viel gelesen, geredet, werden Redeübungen veranstaltet.38 $XFKGLH2IIHQEDUXQJHQGHU7UlXPHEHJHJQHQLQíWHLOZHLVHUHFKWHLQGHXWLJHUí literarischer Verschlüsselung: So liest unser Rhetor beispielsweise einmal im Traum die Wolken des Aristophanes, was ihm bedeutet, dass es am nächsten Tag regnen wird (HL 5,18). Derart en passant eingestreutes Bildungsgut findet sich in den gesamten HL durchgängig. So spricht Aristides beispielsweise bei einer seiner Redeübungen als Demosthenes (HL 1,16), er träumt Verse aus Euripides¶Phoenizierinnen (HL 1,22), empfängt, ebenfalls im Traum, eine Schriftrolle mit einer 37 Vgl. mit den Bemerkungen von SCHRÖDER (1986) (oben Anm.1) 82, Anm. 12 ad loc., der die sprachlichen Anklänge an Schilderungen der eleusinischen Mysterien nachweist, HL 4,7: ÄDies [nach einer Serie von Traumgesichten eine Stimme im Traum] war nun nicht bloß gewissermaßen einer Einweihung ähnlich (IJİȜİIJૌIJȚȞȚਥȠȚțંȢ), insofern die heiligen Handlungen so göttlich und unbegreiflich waren (ʌĮȡĮįંȟȦȞIJȞįȡȦȝȞȦȞȞIJȦȞ), sondern es fiel dabei auch etwas ungewöhnlich Wunderbares (șĮȣȝĮıIJંȞ) vor.³ 38 Vgl. z.B. HL 1, 34±37 (Rede im Traum), 2,81 (gottinspirierte Rede) sowie die zunehmende Redetätigkeit ab HL 4,14.
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Komödie des Menander (HL 1,51), erreicht in seiner körperlichen Ausdauer Sokrates (HL 1,60), liest Antisthenes¶6FKULIWÜber den Weingenuss (HL 3,33), fühlt an sich die Gnade des Asklepios verwirklicht in Analogie zum Dank der Dioskuren an den Lyriker Simonides (HL 4,36) oder muss in einem Traum dem durch einen Zeitgenossen des Aristides in seiner Kompetenz als Briefeschreiber arg verunsicherten Platon Mut zusprechen (HL 4,57). Die hier begonnene Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Doch mögen schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass ArisWLGHV¶ OLWHUDULVFKH Paideia das gesamte Feld der in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten so geschätzten Autoren der Ãgroßen Zeit Griechenlandsµ umfasst, unabhängig von deren gattungsmäßiger Einordnung. Elaborierter verfährt Aristides, wenn er sich traditionelle literarische Motive zunutze macht, um seine Probleme als Erzähler einer Lösung zuzuführen. Vereinfacht gesagt bildet er sich dann als einen der großen ÃErzählendenµ der literarischen, hier natürlich vor allem erzählenden, also epischen Tradition ab.39 So agiert Aristides zum Beispiel gleich zu Beginn der HL als ein Erzähler Ãnach dem Muster der Helena bei Homerµ (HL 1,1). Im weiteren Verlauf übernimmt er nicht nur epische Motive wie Seesturm und Schiffbruch,40 sondern auch typisch epische Organisationsformen des zu erzählenden Stoffes wie beispielsweise die kataloghafte Reihung.41 Vor diesem Hintergrund kann man die gesamte, zuvor beschriebene Linie des angeblichen mnemotechnischen Versagens des Autors auch als Gestus des epischen Erzählers vor inhaltlich detailreichen Passagen verstehen. Die Hoffnung auf die ÃMuseµ, die zur Hilfe kommen muss (und nach aller literarischen Erfahrung ja auch kommen wird), wäre dann in der Klage über die eigene Überforderung immer schon mitgedacht. Auch das Ãirgendwo beginnen, wohin der Gott mich führt und treibtµ des letzten Zitates (HL 2,4) wird bei dieser Lesart zu einer Anspielung auf das Ädavon sage auch uns, Tochter des Zeus, indem du irgendwo anfängst³ der homerischen Odyssee (Od. 1,10 ÄIJȞ ਖȝંșİȞ Ȗİ șİ ...³). Dass dabei für den Aristides der HL literarische Bildung nicht nur Ornament oder äußerliche Organisationshilfe ist, zeigt sich spätestens dann, wenn sie untrennbar verbunden wird mit religiöser Botschaft bzw. religiösem Heilsversprechen. So ist der ÃErzähler am Meeresgrundµ nicht nur ein homerischer Erzähler, sondern gewinnt aus dem Bildungsgut ÃHomerische Epenµ, vor allem der Odyssee, auch religiöse Gewissheit, indem er sich mit dem Helden des Epos identifiziert:42 39 KORENJAK 2005 (oben Anm. 5), 226f. sieht Aristides für das Folgende v.a. auf Hesiods Berufung durch die Musen (Theogonie 31±34) rekurrieren; dies ist nicht auszuschließen, doch scheint mir die auf Homer und vor allem die Odyssee verweisende Motivlinie noch stärker. Neben den im Folgenden ausgeführten epischen Bezügen stellt sich der Aristides der HL auch in eine Tradition autobiographischen Schreibens, hierzu QUET 1993 (wie Anm. 34), Harrison (2001/2) (oben Anm. 5). 40 Das Seesturmmotiv wird v.a. ab Buch 2 entwickelt, vgl. HL 2,12±14. 17. 64ff., gleichsam ritualisiert in 2,13. 41 Vgl. neben der auflistenden Anlage von HL 1 .beispielsweise den ÃBäderkatalogµ ab HL 2,45. 42 Zur Darstellung des Odysseus, auch im übrigen Werk des Aristides vgl. H.O. SCHRÖDER: ÄDas Odysseusbild des Aelius Aristides³, RhM 130 (1987) 350±356; SCHRÖDER beobachtet PLW %OLFN DXI $ULVWLGHV¶ or. 16 (Gesandtschaft zu Achill), die Inanspruchnahme des Epenhelden (a.a.O. 353): ÄAristides erschien sich selbst als der neue Redner Odysseus.³
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Nicht nur erscheint Aristides Athene,43 ja verdankt er Athene zusammen mit Asklepios seine Rettung, nein, diese Athene hat Aristides auch mitzuteilen, Ädass die Odyssee keineswegs bloße Märchen (Ƞ ȝșȠȣȢ ... IJĮ૨IJĮ) seien³, ja er Äsicherlich sowohl Odysseus als auch Telemach sei und sie ihm deshalb helfen müsse³ (HL 2,42). Eine solche Art des Umganges mit der Odyssee, geht über eine bloße gelehrte Anspielung oder die Funktionalisierung mythischer Helden als persona hinaus. Der gebildete Bücher- und Redemensch Aristides kommt hier mit seinem ÃGlaubensbuchµ Odyssee mit dem von der Göttin auserwählten Helden, dessen Auserwähltsein Aristides durch Identifikation, ja Überbietung (ÄOdysseus und Telemach³), Rettung verheißt, dem Umgang mit genuin religiösen Texten in Buchreligionen nahe. Neben dem natürlich auch intendierten Ausweis der eigenen paideia (ʌĮȚįİĮ) gewinnt Aristides für sein zentrales Problem, die ÃNichtdarstellbarkeitµ des inkommensurablen Göttlichen wesentliche Entlastung: Die Verantwortung für das nicht zu bewältigende, von Asklepios in Auftrag gegebene Werk, wird, soweit irgend möglich, an diesen zurückgegeben. Aristides führt diese Linie präzise aus: Der Gott ist nicht nur in jeder Situation44 anrufbarer ÃMuserµ, sondern greift als eine Art Ãgöttlicher Herausgeberµ unmittelbar in den Prozess der Textgenese ein. Die oben zitierten Passagen (HL 2,2. 8) mit ihrer Unterscheidung von ਕʌȠȖȡĮij (apographe) und įȚȖȘıȚȢ (dihegesis) annoncieren dieses Verfahren programmatisch. Die vermeintliche Schwäche des ÃSängersµ Aristides wird damit zu einer Stärke seines ÃLiedesµ: Die Unmittelbarkeit und Authentizität des Textes wird durch die beschriebene Perspektivierung des narrativen Vorganges so weit als irgend möglich gesteigert. Einen ähnlichen Effekt hat nun auch das zweite von Aristides annoncierte Verfahren, das ÃDurcheinandergeratenseinµ der Protokolle, das einen Nachhall findet im Ãsich bald hierher bald dorther erinnernµ der įȚȖȘıȚȢ (dihegesis). Nimmt man die homerische Herkunft dieser Angabe ernst, so hätte sich schon aus der offenbar intendierten Parallele zu der nur scheinbar Ãvon irgendwo herµ beginnenden Disposition der Odyssee der Anspruch ergeben, dass auch die HL mehr sein könnten als ein beliebig Äausufernd-ungeordnete[s] Selbstzeugnis³, wie es in der modernen Forschung immer wieder angenommen wird.45 Selbst der akribisch nachrechnende Leser kann sich freilich zunächst kaum des Eindruck erwehren, dass er es, was die zeitliche Struktur betrifft, auch bei der įȚȖȘıȚȢ (dihegesis) der HL mit einem Abbild der von Aristides für die ਕʌȠȖȡĮij 43 HL 2,41 in Gestalt der Athene des Pheidias. Auch im Bereich der außerliterarischen Kunst beweist Aristides somit seine paideia, worauf ich hier nicht weiter eingehe. 44 'DVV$VNOHSLRV¶=XVWlQGLgkeitsbereich aufgrund seiner alten Orakelfunktion schon in der kultischen Tradition über den Bereich der Heilung hinausging, lässt sich inschriftlich nachweisen, vgl. hierzu beispielsweise die Wunderberichte aus Epidauros bei L.R. LI DONNICI, The Epidaurian Miracle Inscriptions, Atlanta, Georgia 1995 (SBL 36.11), Nrr. A10, B4, C3. Die Ausweitung der Zuständigkeit des Gottes auf den literarischen Bereich, die Aristides vornimmt, führt diese Tradition konsequent fort, begegnet aber, soweit ich sehe, in dieser Form bei ihm zum ersten Mal. 45 So MÜLLER (1987) (oben Anm. 10), 223.
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(apographe) konstatierten ÃUnordnungµ zu tun habe (vgl. die schematische Übersicht im Anhang).46 Was, wie wir sahen, erst zu Beginn von HL 2 explizit eingeführt wird, findet nicht nur in HL 3 und 4 seine Fortsetzung, sondern hat de facto in gewissem Umfang bereits in HL 1 stattgefunden: Der Autor hat das narrative Kontinuum aufgebrochen und es durch eine stellenweise thematisch gelenkte47 Montagetechnik ersetzt. Die schon durch den oft gleitenden Wechsel zwischen Traum und Wachzustand48 sich ergebende Wirkung von Fülle und ÃUnbeherrschbarkeitµ des Stoffes wird dadurch wesentlich verstärkt. Ein Auseinanderfallen des so entstandenen Textes verhindern neben einem Netz von impliziten und expliziten Vor- und Rückbezügen49 vor allem die in jedem Buch wiederkehrenden Sprünge in die ÃJetzt-Zeitµ des Sprechenden. Durch sie entstehen nicht nur chronologisch relativ geschlossene Erzählblöcke im Sinn einer zeitlichen Nähe der jeweils behandelten Ereignisse,50 sondern auch ein stets wiederkehrender Bezugspunkt für die HL insgesamt. Versucht man diesen chronologischen Sprüngen neben ihrer Notwendigkeit für die narrative Organisation des Textes auch eine inhaltliche Funktion zuzuweisen, so lässt sich, wie zu erwarten, keine starre ÃRegelhaftigkeitµ im strengen Sinn gewinnen. Eine plausible Hypothese hinsichtlich ihrer Funktion aber ergibt sich, wenn man die inhaltliche Gesamtentwicklung der HL in die Überlegungen mit einbezieht. Was nämlich zunächst auch inhaltlich eher wirken mag, wie eine sich über fünf Bücher beliebig hinziehende Suada von allenfalls assoziativ miteinander verbundenen Körperbildern, Träumen und Visionen, folgt bei genauerem Hinsehen einer inneren Dynamik: So dominieren in dem in zwei zeitliche Blöcke gegliederten ersten Buch die Träume, die in relativ ununterbrochener Reihung, grob thematisch geordnet mitgeteilt werden (HL 1, 1±60: ÃDer Unterleibµ, 61±78: ÃDie Geschwulstµ). Kann man somit HL 1 ÃDas Traumbuchµ nennen, so ist HL 2, wie bereits angeklungen, geprägt vom Motiv des vom Gott ergriffenen Initianden, HL 3 exemplifiziert den Kranken als Gottbegeisterten. Ab HL 3 erfolgt eine allmähliche Zurückdrängung der nahezu ausschließlich mit Blick auf den kranken Körper per se referierten Wahrnehmungen: So liest man etwa gegen Ende von HL 3 als Folge einer göttlichen Offenbarung, die nichts mit dem Gesundheitszustand des 46 Der Übersicht sowie den folgenden Überlegungen liegen die chronologischen Daten bei BEHR 1968, 1994 und v.a. 1981/6 zugrunde. 47 Vgl. z.B. die Serien thematisch verwandter Träum in HL 4, 39±42. 50±54. 56f. ± Aristides selbst nennt dieses Verfahren HL 2,24 Äanderes von derselben Art der Reihe nach anschließen lassen³ (ਥijİȟોȢ IJોȢ ੁįĮȢ) im Unterschied zum Verfahren eines ÄNachtragens³ chronologisch Ädazwischen liegender Ereignisse³ (ebd. IJȚȞĮ IJȞ ਥȞ ȝı įȚȘȖıȦȝĮȚ). 48 So ist die gesamte ÃErzählungµ der Träume auf deren Nacherleben abgestellt, Verschiebungen von Örtlichkeiten, Gebäuden. Personen etc. werden nicht kommentiert (vgl. z.B. HL 1,17. 24f. 42f. 45), ebenso wenig ÃVerschachtelungenµ wie etwa HL 1,12 (ÃTraum im Traumµ) oder HL 4,21 (Traum der einen anderen Traum deutet). 49 9JO]%LQ+/ļļļIļ 50 Nur Buch 4 bildet hier in den ersten 67 Kapiteln, wo sich innerhalb der Erzählblöcke mehrere größere Zeitsprünge finden, eine gewisse Ausnahme (vgl. Übersicht im Anhang); dies lässt sich aus der im Folgenden noch näher zu beschreibenden Sonderstellung (Umbruch hin zur fest etablierten Gottesbeziehung) von HL 4 nachvollziehen.
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Aristides zu tun hat: ÄIch erhob mich als einer, der nicht leicht wiederzuerkennen war.³ (HL 3,48).51 In HL 4 fühlt sich Aristides Äkörperlich und seelisch wohl³ (ਥȞ İțંȜȠȚȢ...țĮ IJોȢ ȥȣȤોȢ țĮ IJȠ૨ ıઆȝĮIJȠȢ) und äußert sich ausführlich zu ÄLust und Pein³ (ਲįȠȞ ਚȝĮ țĮ ਕȖȦȞĮ) seiner seelischen Gestimmtheit (beides HL 4,7). Die Redetätigkeit des Aristides wird zunehmend in den Heilungsprozess mit einbezogen, wovon er sich in seiner ÄHochgestimmtheit³ (İșȣȝĮ, HL 4,38) aufs äußerste bestätigt fühlt. Nach einer erneuten Offenbarung, durch die Asklepios in Umkehrung einer Kultformel seinerseits dem Aristides ÄEinzigartigkeit³ zuspricht,52 ruft dieser gar aus (HL 4,51): Dieses Wort, o Herr Asklepios, ist mir wertvoller als das ganze menschliche Leben. Neben diesem ist jede Krankheit gering (IJȠIJȠȣ ʌ઼ıĮ ਥȜIJIJȦȞ ȞંıȠȢ), neben diesem jede sonstige Gunst gering (IJȠIJȠȣ ʌ઼ıĮ ਥȜIJIJȦȞ ȤȡȚȢ).
Die Intensität des hier geschilderten emotionalen Erlebens wird im Folgenden durch ÃSprücheµ des Gottes (ȜંȖȠȚ, logoi), die teilweise beinahe auf eine Art Unio mystica abzuzielen scheinen, noch unterstrichen. Damit verstärkt sich der Eindruck, der sich in HL 4 insgesamt ergibt: Die Beziehung des Rhetors zu seinem Gott hat sich weitgehend vom Krankheitsgeschehen emanzipiert und kann nun prägender Bestandteil des Lebens des immer seltener erkrankten Redners Aristides sein. Diese neue Konstellation äußert sich unter anderem auch darin, dass Aristidesµ Gedächtnis nun so gut funktioniert, dass er im Traum geoffenbarte Gedichte auf Asklepios und Apollon53 Äeinfach so aus der Erinnerung³ niederschreiben kann (HL 4,41),54 dass den in HL 4 erwähnten Personen deutlicher als bisher ein bestimmter sozialer oder bildungsmäßiger Rang zugeschrieben wird und der Autor noch stärker als bisher große Sorgfalt auf die Nachvollziehbarkeit der äußeren Situation bei der Abfassung der HL verwendet.55 Einen emotionalen Höhepunkt von ähnlicher Intensität wie den eben zitierten (HL 4,51) findet man freilich erst wieder in der zweiten Hälfte von HL 5, dort ausgelöst, in konsequenter Fortführung von HL 4, durch einen besonders erfolgreichen Vortrag des Aristides.56 Dem entspricht, dass HL 5 mit einem außerge51 Die ÄEinweihung³ (IJİȜİIJ), die Aristides hier in solche Hochstimmung versetzt, offenbart Aspekte des Wesens von Sarapis-Asklepios und endet mit den Worten (HL 4,48): ÄDie Hauptsache hinsichtlich der Macht des Gottes war, dass Sarapis imstande sei, auch ohne Wagen und ohne Körper Menschen dorthin zu bringen, wohin er wolle.³ Vgl. zum Inhalt die Bemerkungen ad loc. bei SCHRÖDER 1986, 79 Anm. 91. 52 Vgl. HL 4,50f.: Ä[Asklepios gab Aristides ein Zeichen.] Überglücklich über die Ehre und Auszeichnung, die ich vor den anderen erhielt, rief ich aus: Ã>'XELVWGHU@(LQ]LJ-Eine (İੈȢ)µ und er sagte: Ã[Das] bist du (ıઃ İੇ µ³ 53 Freilich wird auch damit die in den HL gezogene Grenze des Darstellbaren nicht überschritten, sondern indirekt bestätigt: Zwar findet sich nun ein Teil des wunderbaren Geschehens in einem Text, aber eben nicht dem der HLVRQGHUQLQGHQíEH]HLFKQHQGHUZHLVHDQGLHVHU6WHlle nicht in den HL ]LWLHUWHQí*HGLFKWHQ 54 Vgl. ähnlich HL 4,57, wo Aristides hinsichtlich seiner Träume über Platon lapidar bemerkt: ÄNoch andere derartige Träume habe ich in Erinnerung.³ 55 Vgl. v.a. HL 4,68ff., wo die Institutionen der Reichsverwaltung sowie deren Vertreter eine prominente Rolle spielen. 56 HL 5,39: ÄUnd ich hielt diesen Tag für den erfreulichsten, vor allem wegen meinen Reden.³
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wöhnlich langen Traum (HL 5,57± HQGHWGHUIDVWDXVVFKOLHOLFKYRQ$ULVWLGHV¶ Äkünftigem Ruhm³ (ਲ ıIJİȡȠȞ įંȟȘ HL 5,67) als Redner kündet. HL 6 setzt dann in gewohnter Weise durch das Anknüpfen an die Krankheitsgeschichte das narrative Kontinuum fort (HL 6,1f.), bricht aber dann ab, so dass uns alles weitere nicht mehr nachvollziehbar ist. Die hiermit skizzierte Linie über ÃTraumbuchµ (1) ± ÃBuch des Initiandenµ (2) ± ÃDer Gottbegeisterte als Krankerµ (3) ± ÃIch und mein Gottµ (4) hin zu ÃDer berühmte Redner Aristidesµ (HL 5) wird, wie zu beobachten war, nicht starr durchgeführt. Zumindest zu Beginn der Linie aber lässt sich feststellen, dass der qualitative Sprung vom ÃTraumbuchµ (HL 1) hin zum ÃBuch des Gottbegeistertenµ stark an die Differenz zwischen ਕʌȠȖȡĮij (apographe) und įȚȖȘıȚȢ (dihegesis) erinnert: vom zwar bereits chronologisch gebrochenen, aber dennoch relativ geordneten Protokoll in HL 1 (zwei zeitliche Blöcke, symmetrisch gegliedert) hin zur gottgelenkten Erzählung der anschließenden Bücher mit ihren größeren chronologischen Lizenzen. HL 2 und 3 führen das Ãwohin der Gott mich treibt und führtµ weiter fort, vollziehen aber dabei schon die allmähliche Schwerpunktverschiebung weg vom kranken Körper hin zur Redetätigkeit. In HL 4 ist diese dann Mittelpunkt der mittlerweile fest etablierten Gottesbeziehung. Bis hin zu HL 5 scheint sich die Chronologie des erzählerischen Kontinuums immer mehr zu beruhigen, in HL 5 schließlich stehen zwei chronologisch fortlaufende, quantitativ einigermaßen gleichwertige Blöcke, das wundersame Wirken des Gottes in der Vergangenheit (HL 5, 1±37) und die Jetzt-Zeit des Autors (ebd. 38±41) nahezu gleichberechtigt nebeneinander. Die HL bilden also auch durch ihren Umgang mit der Chronologie die Genese des Werkes ab. Da der Gott auch Ãgöttlicher Herausgeberµ ist, soll in ihnen, anders als etwa in den Prosahymnen mit ihrer ungleich schlichteren poetologischen Programmatik, das Göttliche nicht nur dargestellt oder verherrlicht, sondern gleichsam nacherlebbar werden. Der kranke Körper bzw. seine darstellbare, weil Ãerinnerbareµ Krankheit ist dabei letztlich nur ein Medium, mittels dessen Aristides seine Beziehung zum Göttlichen etabliert. Sobald diese Etablierung gegen Ende von HL 3 hinreichend Stabilität gewonnen hat, tritt die Schilderung der körperlichen Befindlichkeiten stark zurück. An ihre Stelle treten jetzt die HL selbst, ihre Verfertigung bildet die Gottesbeziehung ab. Über das Medium des eigenen Körpers wurde somit eine literarische Form gefunden, die einer Darstellung des zu Beginn als Ãundarstellbarµ Annoncierten immerhin möglichst nahe kommt. ÃSchriebµ der Gott zunächst seine Mitteilungen an Aristides in den Körper desselben und wurden seine Gnadenerweise damit letztlich nur an dem Kranken bzw. für diejenigen, die ihn sehen konnten, erkennbar, so sichert die Verlagerung der Sichtbarwerdung der Kommunikation auf die Ebene des Textes nicht nur eine größere Publizität der besonderen Gottesbeziehung, sondern macht diese unabhängig von der körperlichen Verfasstheit des Aristides. Somit ist sie auch für einen wieder gesundeten Rhetor verfügbar und damit in letzter Konsequenz unabhängig von jeder Zeitlichkeit. Das Ausgezeichnetsein durch den Gott bleibt für Aristides lebenslang verfügbar.
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4. KONTINUITÄT DER GOTTESBEZIEHUNG: DER TEXT ERSETZT DEN KÖRPER Auch dieses strategische Ziel der Form des Erzählens wird die gesamten HL hindurch artikuliert, allerdings meist unauffällig, oft nur in Halbsätzen oder Satzteilen: Der Aristides der HL ist einer, der Äbis zum heutigen Tag³ (HL 1,1) Gnadenerweise empfangen hat, er bemerkt, dass Äder Gott rettete, wie er auch jetzt noch rettet³ (HL 2,37) etc. Einmal mehr erweist sich hierfür das ÃDurcheinanderseinµ, also der spezifische Umgang mit der chronologische Anordnung der zu berichtenden Ereignisse, als Vorteil: Auch dort, wo Aristides für mehrere Kapitel in die Situation der Abfassungszeit springt,57 wird dies der Rezipient, sobald er sich einmal auf den Gesamtductus der HL eingelassen hat, nicht mehr als störende Unterbrechung empfinden. Die oft aufwendigen Verfahren anderer narrativer Texte, zeitliche Pro- bzw. Metalepsen in ein erzählerisches Kontinuum einzubetten, entfallen in den HL fast völlig. Im fünften Buch der HL mit seinem breiten zweiten, ausschließlich aktuellen Geschehnissen gewidmeten Teil, wird vollends deutlich, dass der eigentliche Basistext dieses Erzählens die Gegenwart des Schreibenden ist. Sie stellt nicht Rahmen oder Unterbrechung der in der Vergangenheit stattfindenden Ereignisse dar, sondern ist Ausgangspunt und Ziel des gesamten Schreibvorganges. Dass man trotzdem in Teilen der Forschung liest, dass die Geschichte des Aristides mit Asklepios nur so lange dauern könne, wie der Rhetor erkrankt sei, sie deshalb mit dem zeitlichen Abbruch der HL als beendet gelten müsse und der Rhetor auch deswegen gar nicht gesunden könne,58 ist m. E. nicht zutreffend. Einer solchen Interpretation widerspricht auch, wie Aristides selbst in anderen Werken auf die HL Bezug nimmt. Wenn er gleichsam einen ÃBelegµ für die besondere Verbindung seiner Person zu Asklepios benötigt, verweist er nach der Publikation der HL nicht mehr auf seinen kranken Körper bzw. dessen vergangene Krankheitsgeschichte, sondern auf den Text der HL.59 Voraussetzung hierfür ist die ÃErsetzungµ des eigenen Körpers durch den im Auftrag des Gottes verfassten Text. Überfrachtet nun eine solche Lesart die HL? Ist dies nicht eine allzu diffiziler metapoetischer Überbau für einen Text, der sich, wie erwähnt, in manchem Aspekt mit einfachen Heilinschriften vergleichen lässt? Auch in dieser Frage sind 57 Vgl. beispielsweise HL 3,34±36 oder HL 4, 68±70. 58 Vgl. z.B. J. PERKINS: ÄThe ÃSelfµ as Sufferer³, HTR 85.3 (1992), 245±272, hier: 266: ÄArisWLGHV¶UHODWLRQVKLSZLWK$VFOHSLXVKRZHYHUODVWHGRQO\DVORQJDVKLVLOOQHVVGLG³; trotzdem ist PERKINS in ihrer Analyse der Funktion des kranken Körpers als Ämeeting place of human and divine³ (so DIES.: The Suffering Self. Pain and Narrative Representation in the Early Christian Era, London, New York 1995, 189) völlig überzeugend. 59 So etwa in der ca. sechs Jahre (nach BEHR 1968 [oben Anm.4], 32 Anm. 47 und DERS. (1994) 1217±1219 ) nach der Abfassung der HL gehaltenen Ansprache auf Asklepios (or. 42). Aristides verweist dort auf die Nobilitierung seiner Redekunst durch Asklepios selbst, der auch die Authentizität seiner Inhalte verbürge, so or. 42,3 und v.a. 10: ÄDenn diese Dinge kenne ich nicht nur vom Hörensagen, sondern kann vielmehr aus eigener Erfahrung über sie sprechen. Alles, was man über diese Dinge äußern kann, ist in den HL enthalten (ıĮįૅ ĮIJȞȠੈંȞIJİ ਕʌȠȝȞȘȝȠȞİ૨ıĮȚਥȞIJȠȢੂİȡȠȢțĮIJĮ૨IJĮȞİıIJȚȜંȖȠȚȢ).³
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wir nicht auf Spekulationen angewiesen. Aristides referiert nämlich just im fünftem Buch der HL, also in demjenigen (von den erhaltenen), in denen der hier konstatierte Ersetzungsvorgang schon relativ weit fortgeschritten ist, einen für die Beantwortung der gestellten Frage besonders aufschlussreichen Traum, die so genannte ÃPhilumene-Episodeµ (HL 5,20±25). In diesem Traum erhält Aristides Einsicht in ein Schriftstück (ȖȡȝȝĮIJĮ HL 5,22), in dem ein nächtliches (ȞțIJȦȡ a.a.O.) Traumgesicht des Vaters der Philumene von diesem selbst festgehalten ist, also ein ÃTraumbild im Buch im Traumµ. Philumene ist die Ziehschwester des Aristides und, so hat der Leser zuvor erfahren, erst kürzlich an einer Krankheit verstorben.60 In diesem Traumbild sind wesentliche Elemente der bisher beschriebenen Lesart der HL versammelt (HL 5,22): ÄAus dem Gedächtnis³ (ਕʌȠȝȞȘȝȠȞİıĮȞIJĮ) hat der Vater ÄStaunenswertes in solcher Fülle und Bedeutung³ (șĮȣȝĮıIJ ʌȜșİȚ țĮ įȣȞȝİȚ) aufgeschrieben, dass Aristides sich Äwundern muss, wie er [sc. der Vater] sich daran hatte erinnern können³. Aristides selbst kann deshalb davon nur den ÄHauptinhalt³ (țİijȜĮȚȠȞ HL 5,23) mitteilen. ÄIm Körper³ des Mädchens Äselbst³ (ਥȞ ĮIJ IJ ıઆȝĮIJȚ) nämlich ist Äihr ganzer Fall ... eingeschrieben³ (ਥȞȖİȖȡĮȝȝȞȠȣ ʌĮȞIJઁȢ IJȠ૨ ʌİȡ ĮIJȞ ʌȡȖȝĮIJȠȢ, ebenfalls 5,23), eine Aussage, die im Folgenden ganz wörtlich genommen wird: Die ÄEingeweide³ des Mädchens werden Äwie bei einem Opfertier³ (HL 5,23) begutachtet, ja Aristides selbst sieht plötzlich diese inneren Organe, die unter seinem Blick freilich nicht mehr primär von dem Mädchen künden (HL 5,24): Es war mein Name folgendermaßen eingeschrieben (ਥȞİȖȖȡĮʌIJȠ): Aelius Aristides; und in bestimmten Abständen auch einiges andere, was meinen Namen bezeichnete; [es wird AristiGHV¶5HWWXQJYHUKHLHQ@XQGGDVV3KLOXPHQH6HHOHIU6HHOHXQG.|USHUIU.|USHUKLQJegeben habe, ihre für die meinen.
Ähnlich abrupt schwenkt Aristides in unmittelbarem Anschluss dann wieder auf die Ebene des Buches des Vaters zurück: Und es waren darin [sc. im Buch des Vaters] noch andere Weissagungen enthalten, die sich auf dasselbe bezogen, alle in etlichen Büchern aufgeschrieben [wörtl. wieder: Ãeingeschriebenµ, ਥȖȖİȖȡĮȝȝȞĮ].
Dass der Aristides dieses Traumes tatsächlich selbst die inneren Organe des Mädchens bis in ihre gesunden und erkrankten Teile hinein sehen kann, ist für den bloßen Informationsgehalt dieser Episode (Opfertod der Philumene, Auserwähltsein des Aristides) nicht erforderlich. Hierfür würde es genügen, dass er von ihnen liest, ohne eine unmittelbare Visualisierung zu vollziehen. Wieder kann Aristides also das Bild des kranken Körpers (hier: der Philumene) relativ genau schildern, während der Rest des Traumes sogar hinsichtlich der Akteure eher unbestimmt bleibt. Und einmaOPHKULVWHVHLQNUDQNHU.|USHUíJHPlGHU=XUFkdrängung des eigenen kranken Körpers im Verlauf der HL nicht mehr der des Aristides VHOEVWíGHUGHQ.HUQGHUYRP*RWWJHVDQGWHQ%RWVFKDIWLQVHKUZ|UWOicher Weise Ãträgtµ. Und schließlich befindet sich dieser Körper in einem Buch, das man Aris60
Die Todesmeldung erfolgte unmittelbar davor in HL 5,21.
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tides im Traum bringt. Bis in wörtliche Wendungen hinein ist also die literarische Strategie der HL in der Philumene-Episode abgebildet. Hatte der Aristides von HL 2 noch in dem Buch Odyssee gleichsam nachgelesen, dass ein Gott (dort: die Göttin) ihn retten werde, so liest er dieselbe Botschaft jetzt im Traum in einem Körper, der in einem Buch ist. Was die HL vom Buch des Vaters der Philumene, pointiert formuliert, als einziges unterscheidet, ist, dass sie ein reales, kein ÃBuch im Traumµ sind. 5. ZUSAMMENFASSUNG Zu Beginn seiner Hieroi Logoi annonciert Aelius Aristides die Unausführbarkeit eines Erzählens von seinen religiösen Erfahrungen, und dies, obwohl sich ihm das Göttliche durchaus konkret (in Asklepios, in verschiedenen anderen Göttern) präsentiert und er wesentliche Aspekte seiner Interaktion mit dem Heilgott Asklepios schildern kann. Was Aristides hierbei zunächst als rein quantitatives und deshalb auch mnemotechnisches Problem erscheinen lässt, hebt er durch die Unterscheidung von verlorenem protokollierendem Bericht (ਕʌȠȖȡĮij, apographe) und in den HL vorliegender Erzählung (įȚȖȘıȚȢ, dihegesis) auf ein qualitatives Niveau. Inkommensurabel und damit nicht mitteilbar ist die aktuelle Erfahrung des Göttlichen, vor allem der Begegnung mit dem personalen Gottes Asklepios, mit dem Aristides unmittelbar kommuniziert. Diese Erfahrung kann sich im Text nur indirekt andeuten in dem, was Aristides in der Schilderung des Körpergeschehens zu vergegenwärtigen sucht. Das Körpergeschehen als Zentrum des Interesses wird seinerseits im Verlauf der HL durch die HL selbst abgelöst: Die HL, das Buch, das nicht geschrieben werden konnte, ersetzt den Körper, der Redner den Kranken.61 LITERATUR R. BAUMGARTEN 1998. Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen. Hieroi logoi und verwandte Erscheinungen, Diss. Feiburg i. B., Tübingen (Scriptoralia 110. A. Altertumswiss. Reihe. 26). C. A. BEHR 1968. Aelius Aristides and the Sacred Tales, Amsterdam. DERS. 1981. 1986. Aelius Aristides. The Complete Works. Vol. I: Orations I±XVI. With an Appendix containing the Fragments and Inscriptions. Vol. II: Orations XVII±LIII. Translated into English, Leiden. DERS. 1994. ÄStudies on the Biography of Aelius Aristides³, in: ANRW II, 34.2, Berlin; New Yorkí J. BOMPAIRE 1989. Ä/H 6DFUp GDQV OHV GLVFRXUV G¶$HOLXV $ULVWLGH ;/9,,±LII Keil)³, REG 102 28±39.
61 Aufgrund des fragmentarischen Zustandes des sechsten Buches wissen wir leider nicht, wie die zuletzt vom Krankheitsgeschehen emanzipierte Geschichte des Aristides mit seinem Gott ausgeht: Reizvoll wäre es, anzunehmen, dass schon der Autor der HL das sechste Buch unvollendet ließ. Dafür gibt es freilich keinerlei Hinweise.
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ANHANG: ZEITLICHE STRUKTUR DER HL NACH BEHR (1968. 1986/1. 1994) Die grau unterlegten Felder markieren die ÃJetzt-Zeitµ des Sprechenden, die fett gedruckten Linien größere zeitliche Sprünge (mehr als 5 Jahre) innerhalb der einzelnen Erzählblöcke. HL 1 ÃDas Traumbuchµ §§ Jahr 1±4 170/171 5±57 166 58 59±61a 171 61a±68 148 69±73 74±78
Jahreszeit/Monat Winter 4.1.±15.2. Dezember Winter Okt.±Jan. Spätsommer November
HL 2 ÃDer Gottbegeisterte / Initiandµ §§ Jahr 1±4 170/171 5±7a 144 7b 8±10 145 11±14 149 15±28a 28b±36 146 37±45a 165 45b±49 145 50 144 51±53. 145/146 54±59 60±62 62±64a 64b±66 144 67±68a 68b 69±70a 71a 145 71b±73 146 74±76 146/7 77. 78±80
Jahreszeit/Monat ± Oktober Dezember Sommer Januar 27. Jan. Winter Sommer Sommer Dezember Winter Januar Frühling Herbst 22. Sept. Oktober November Sommer Vor 22. März 22. März Winter
Katharina Luchner
154 81±82
170
August
HL 3 ÃDer Gottbegeisterte als Krankerµ §§ Jahr Jahreszeit/Monat 1±5 146 Frühling 6±7a 148 Sommer 7b±9 147 September 10±13 Oktober 14 später Jan. 148 15.16±20 Februar 21±33 August 34±36 170/171 ± 37 149 Frühling 38±43 nach Sept. 44 145±147 ± 45±46 144/145 Winter 47 149 Winter 48±50 149 25. April HL 4 ÃIch und der Gottµ §§ Jahr 1±8 152 9 165 10±11 153 12±13 152/153 14a 144/145 145 14b±29 30 170/171 31 144 32±37 38±42 145±146 43±56 147 57 148 58±62 147 63±67 153±154 68±70 170/171 71±77 78±84 153 85±87 88 89±94a 94b±99 152 100±102 147 103±104 148 105±108 146 HL 5 ÃDer berühmte Rednerµ §§ Jahr 1±10 165 11±16 166 17 18±19. 20±21. 166/7 22±25
Jahreszeit/Monat 22. Dezember Sommer Januar ± ± Herbst ± 13. Juli 30. Sept. ± August Januar Herbst September ± Januar Februar 3. März Juli August Juli 23.September 1. Januar August
Jahreszeit/Monat August Spätsommer Herbst Dezember
Aelius Aristides und die Inkommensurabilität des Göttlichen 26±29a 29b±34. 35±37 38±41 42±46 47±48a. 48b±55 55b±67 HL 6 Ã???µ §§ 1±3 « «
167
29.Dez.±2.Jan.
170
± Januar Spätsommer Herbst
170/171
Winter
Jahr 155 « «
Jahreszeit/Monat nach April « «
155
MEMORY, TEXT AND PERFORMANCE IN EARLY CHRISTIAN FORMATION Ian H. Henderson In memory of Ian Balfour Henderson, died 23 December 2006
1. INTRODUCTION Early Christian studies have increasingly paid attention to the complex processes of memory, remembrance and memorialization in the formation of Christian identities and in the production of Christian historiographical literature. This partly reflects developments in cultural and historiographical thought generally, yet it is also anchored in something specific to the religious history of early Christianity. More than most self-consciously exotic Greco-Roman religious movements (e.g. of Isis, Mithras or Juppiter Dolichenus), early Christianity asserted its µpast-ness¶ and µalien-ness¶ in narratives about Jesus and the apostles, to say nothing of the appropriation of older biblical prophecy and Israelite covenant-history. At the same time, most Jesus-devotees insisted on profound, if selective, discontinuity of identity among the relativized Israelite/biblical past, the rejected idolatrous pasts of polis-religion, and the ³new creation´ of life in Christ (2 Corinthians 5:17). The negotiation, transmission and variation of proto-Christian identity constitutes one of the most complex and best-documented processes of identity formation and transmission in Greco-Roman religious and political life. This is especially evident as older models of µthe parting of the ways¶ between Christianity and Judaism have yielded to more complex models of Jewish-Christian interaction. Four sketches of Christianity as it appeared by the second-century (more-orless in Asia Minor) provide a particularly apt starting point for a discussion of the mediation, formation and modulation of cultic knowledge among Jesus devotees and their observers. The first three sketches each give a different glimpse of the interaction in earliest Christianity of rituals and texts in the formation of a selectively distinct religious identity. We turn then to some more theoretical reflections on memory construction among Christians and in their texts before turning in relative detail to the Peri Pascha attributed to Melito of Sardis. 2. RITUALS AND TEXTS IN THE FORMATION OF RELIGIOUS IDENTITY 2.1 The famous letter of Pliny to Trajan (Ep. X.96, c.AD 110) gives a tantalizing description of Christian cultic behavior, evidently a digest of testimony mostly
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Ian H. Henderson
from confessed ex-members of the group. On this representation, Christians typically would ³gather on a fixed day before dawn, to sing a song in alternate verses to Christ as to a god, and to bind themselves by an oath,´ reconvening later in the day to share ³ordinary and harmless´ food. Pliny specifically mentions that examination under torture of two slave-women revealed little else about this superstitio prava et immodica, except that the two women had been ³called µattendants¶´ [ministrae].1 3OLQ\¶VVSDUVHVHOHFWLRQRISRVLWLYHGHWDLOVLVFOHDUO\UHODWHGWR the legal category of banned hetaerias, but is no less interesting for that: Christdevotion is shown as symbolically and ideologically informed by interactive singLQJ« carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem), oath-taking (sacramentum), and a commensality which to some extent determines cult roles and nomenclature, while remaining open to ordinary food and very ordinary participants (ancillae). Later in the letter Pliny notoriously cites a resurgent market for Temple-slaughtered meat as an index of the success of his anti-Christian measures: abstinence from sacrifice and the products of sDFULILFH LV WKH PRYHPHQW¶V most public ritual face, the exterior of its commensality. Clearly the Roman governor is essentially interested only in the outward organizational pragmatics of the movement, as a focus of social and economic conflict and a network of voluntary FXOWLFDVVRFLDWLRQVXQVDQFWLRQHGE\WKH6WDWH3OLQ\¶VOHWWHULPSOLHVPXFKPRUHHxtensive information than it presents as legally relevant: the mythical, ideational content of the hymns and oaths is deemed irrelevant not only for the letter¶VDddressee, but also for its eventual wider public. In this sense the letter is not only a precious testimony about early Christianity; it is also a classic formulation of a self-consciously Roman attitude to religion.