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German Pages 222 Year 2020
Ulrich Binder, Johannes Drerup (Hg.) Der Preis der Bildung
Pädagogik
Ulrich Binder ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildungstheorie an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam.
Ulrich Binder, Johannes Drerup (Hg.)
Der Preis der Bildung Dimensionen der Wertbestimmung schulischen Wissens
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Inhalt
Wert und Preis von schulischem Bildungswissen: Einleitung Ulrich Binder & Johannes Drerup .................................................... 7
Geld und Geist im Bildungsbereich Neuere Befunde, Konzepte und Kontroversen Heiner Barz ......................................................................... 11
Wie wir Bildung schätzen lernten Wert und Preis von Bildung in der Spätmoderne – eine bildungshistorische Perspektive Anne Rohstock ...................................................................... 41
Die bildungstheoretische Perspektive Wert und Preis des Schulwissens Heinz-Elmar Tenorth ................................................................ 71
Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung Eine bildungsphilosophische Perspektive Krassimir Stojanov ................................................................. 85
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung? Perspektiven der empirischen Bildungsforschung Rolf Strietholt ...................................................................... 101
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens Eine bildungsplanerische Perspektive Dieter Timmermann ............................................................... 125
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens Die Perspektive der Bildungsfinanzierung Dieter Dohmen ..................................................................... 151
Abstrakte Bildung Eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf den Wert von Bildung Thomas Höhne ..................................................................... 171
Wert und Preis von schulischer Bildung Die rechtswissenschaftliche Perspektive Wolfram Cremer.................................................................... 191
Die bildungsökonomische Perspektive Was Schule, Wissen und Bildung ökonomisch wertvoll macht Volker Bank ........................................................................ 211
Wert und Preis von schulischem Bildungswissen: Einleitung Ulrich Binder & Johannes Drerup
Die Fragen, ob, inwieweit und wie Wert und Preis von immateriellen Gütern bestimmbar sind, werden mit Bezug auf unterschiedliche Kontexte und im Rahmen konkurrierender Theorieperspektiven kontrovers diskutiert (vgl. Blair/Wallman 2001; Brighouse et al. 2018; zur Gesellschaftstheorie: Reckwitz 2017; zur Kultur- und Kapitalismuskritik: Brown 2015; Crouch 2015; Mau 2018). Während die Sachlage z.B. bei geistigem Eigentum noch recht einfach zu sein scheint (auch weil hier meist mit dem Warenbegriff operiert wird), verkompliziert sie sich bei anderen Kulturgütern. Kulturelle Ausdrucksformen können, müssen aber nicht monetär bewertet werden, was häufig – ähnlich wie im Bereich der Gesundheit (hierzu: Sunstein 2014) – zu kulturkritischen Verdikten Anlass gibt, die ihre Einschätzungen reflexartig mit Attributen wie ›unsagbar wertvoll‹ bzw. ›unbezahlbar‹ versehen. Dies scheint auch für die Kategorien ›Wissen‹ und ›Bildung‹ im Kontext von Schule zu gelten, die sich, so eine immer noch gängige Annahme, a priori jeder komparativen Einordnung im Rahmen von konsequentialistisch und ökonomisch orientierten Taxonomien und Axiologien zu entziehen scheinen bzw. entziehen sollen. Zugleich geraten solche tradierten Legitimationsmuster, die schulischem Bildungswissen als solchem einen häufig nicht weiter definierten intrinsischen Wert, jedoch nur selten einen Preis zuschreiben, in Verdacht, bloße Protestformeln darzustellen, mit denen ihre Protagonisten Privilegien sichern und Vorgegebenheiten gegen rationale Kritik und Diskussion immunisieren wollen. Im Streit um die Frage nach der theoretischen Konzeptualisierung, empirischen Rekonstruktion und normativen Begründung des Wertes und des Preises schulischen Bildungswissens bleibt somit einerseits die Vorstellung leitend, dass der ›reale‹ Wert und/oder der Preis von schulischem Bildungswissen entweder gar nicht oder allenfalls dann bestimmbar ist, wenn die-
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Ulrich Binder & Johannes Drerup
ser auf einen Waren-, Tausch- und letztlich Marktwert reduziert wird. Andererseits sind aber auch ohne direkte Bezugnahmen auf einen ökonomischen Markt in der Öffentlichkeit stets auch Wert- und Preisvorstellungen im Umlauf (vgl. Stehr 2000), zumal sich kulturelle Formen kapitalistisch organisierter Ökonomie – so eine aktuelle Zeitdiagnose – dadurch auszeichnen, dass Wissen und Bildung als Kulturprodukte ökonomisiert und ökonomische Felder kulturalisiert, d.h. mit kulturellen Wertungen aufgeladen werden (Reckwitz 2017). Bildung und Wissen zahlen sich – und dies ist selbstverständlich keine neue soziologische Einsicht – nicht nur in ökonomischer, sondern auch in kultureller Hinsicht aus (vgl. die Analyse von unterschiedlichen Kapitalsorten bei Bourdieu 1987). Aus erziehungs- und bildungsphilosophischer Perspektive spricht zudem viel dafür, dass Erziehung und Bildung als wertgebundene Praktiken und Arrangements nolens volens auch eine ökonomische Dimension aufweisen (etwa Knappheit; vgl. Bellmann 2001). Auch wenn es um schulisches Bildungswissen geht, scheint daher zu gelten, dass allem nicht nur ein Wert, sondern eben auch ein Preis zugeschrieben werden kann. Dies gilt schon deshalb, weil die Produktion, Verwaltung und Distribution des staatlich verantworteten Bildungswissens konkret zu benennende Kosten verursacht. Und überdies definieren sich Gesellschaften als Wissensgesellschaft und Wissen als ihr wichtigstes Kapital, der schulische Wissenserwerb gilt als Investition, die sich bezahlt macht, und Bildungswissen fungiert als lohnender sozialer Integrationsfaktor und als wertsteigernder Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperität. Umgekehrt gilt: Mangelnde Bildung verursacht Kosten in wirtschaftlicher, kultureller, demokratischer usw. Hinsicht (vgl. für eine historische Einordnung: de Pleijt 2018; für eine wissenssoziologische Betrachtung: Stehr 2015; für eine makroökonomische Analyse: Wößmann/Piopiunik 2009). Nichtsdestoweniger bleibt es notorisch schwierig, diesen lohnenden Wert, von dem allenthalben die Rede ist, theoretisch angemessen zu rekonstruieren. Auch wenn man die Auffassung nicht teilt, dass bereits die Frage nach dem expliziten Wert und Preis von Bildungswissen als öffentlichem und insofern kostenfreiem Gut (vgl. Drahos 2004; Zhou 2015) weder analytisch angemessen noch legitim ist, bleibt Klärungsbedarf. Wo und wie lässt sich dieses unsichtbare Gut dingfest machen, als Produkt oder als Ressource, als Leistung oder als Ertrag, als Set von Kompetenzen oder im Vergleich von Volkswirtschaften (vgl. Gorz 2004)? Wie hängen Wert und Preis jeweils konkret zusammen oder nicht zusammen? In welchen spezifischen Zusammenhängen stehen sie zu anderen Bildungsgütern und Prinzipien (etwa der personalen und politischen Autonomie oder der Bildungsgerechtigkeit; vgl.
Wert und Preis von schulischem Bildungswissen: Einleitung
Brighouse et al. 2018; Bellmann/Merkens 2019; Merry 2020; El-Mafaalani 2020). Wie soll mit konkurrierenden Deutungsmustern und Bewertungen des Wertes und Preises schulischen Bildungswissens und damit verbundenen Konflikten – etwa zwischen Staat und Markt – umgegangen werden? Wo und durch wen entstehen Wert- und Preisdefinitionen, welche Prozesse der Inklusion und Exklusion gehen damit einher, und mit Rekurs auf welche Kriterien werden sie legitimiert und durchgesetzt? Ausgehend von diesen vielschichtigen und komplexen Debatten werden im vorliegenden Band aus unterschiedlichen Theorieperspektiven grundlegende Fragen nach den Möglichkeiten, Formen und Dimensionen der Wert- und Preisbestimmung von schulischem Bildungswissen bearbeitet und diskutiert. Der durch einen Überblicksartikel von Heiner Barz eingeleitete Band versammelt Beiträge aus Bildungstheorie (Heinz-Elmar Tenorth) und -philosophie (Krassimir Stojanov), der historischen (Anne Rohstock) und empirischen Bildungsforschung (Rolf Strietholt), der Bildungsökonomie (Volker Bank) und -finanzierung (Dieter Dohmen), des Bildungsrechts (Wolfram Cremer), der Bildungsplanung (Dieter Timmermann) und der Gesellschaftstheorie (Thomas Höhne). Herzlicher Dank geht an Caroline Bossong für die Hilfe bei der Durchsicht und Erstellung des Bandes.
Literatur Bellmann, Johannes (2001): Knappheit als Bildungsproblem. Die Konstruktion des Ökonomischen im Diskurs Allgemeiner Pädagogik, Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Bellmann, Johannes/Merkens, Hans (Hg.) (2019): Bildungsgerechtigkeit als Versprechen, Münster: Waxmann. Blair, Margaret/Wallman, Steven (2001): Unseen wealth. Report of the Brookings task force on intangibles, Washington, D.C.: Brookings Institution. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brighouse, Harry/Ladd, Helen/Loeb, Susanna/Swift, Adam (2018): Educational goods, Chicago, London: University of Chicago Press. Brown, Wendy (2015): Die schleichende Revolution, Berlin: Suhrkamp. Crouch, Colin (2015): Die bezifferte Welt, Berlin: Suhrkamp. Drahos, Peter (2004): »The regulation of public goods«, in: Journal of International Economic Law 7, S. 321-339.
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El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Gorz, André (2004): Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich: Rotpunktverlag. Mau, Steffen (2018): Das metrische Wir, Bonn: bpb. Merry, Michael (2020): Educational justice, Cham: Palgrave MacMillan. Pleijt de, Alexandra M. (2018): »Human capital formation in the long run. Evidence from average years of schooling in England, 1300-1900«, in: Cliometrica, 12, 1, S. 99-126. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin: Suhrkamp. Stehr, Nico (2000): »The productivity paradox: ICT’s, knowledge and the labour market«, in: John de la Mothe/Gilles Paquet (Hg.), Information, innovation and impacts, Norwell, Massachusetts: Kluwer, S. 255-272. Stehr, Nico (2015): Die Freiheit ist eine Tochter des Wissens, Wiesbaden: Springer VS. Sunstein, Cass (2014): Valuing life: Humanizing the regulatory state, Chicago: University of Chicago Press. Wößmann, Ludger/Piopiunik, Marc (2009). Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/ files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Was_unzureichende_ Bildung_kostet.pdf vom 10.09.2019. Zhou, Yi (2015): »The tragedy of the anticommons in knowledge«, in Review of Radical Political Economics 48, S. 158-175.
Geld und Geist im Bildungsbereich Neuere Befunde, Konzepte und Kontroversen Heiner Barz
Heinrich Heine hat die Grundüberzeugung des deutschen Bildungsbürgertums auf die knappe Formulierung gebracht: »Geld ist rund und rollt weg – aber Bildung bleibt.« Dieses Zitat aus Heines »Reisebildern«, in dem Materielles und Kommerzielles gegenüber dem Ideellen und Kulturellen herabgestuft wird, stößt auch heute noch auf große Resonanz. Dies wird u.a. durch die Tatsache belegt, dass es 2012 durch Personal und Studierende der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf mit dem Ehrentitel »mein liebstes Heine-Zitat« gekürt wurde.1 Die Sentenz bringt das geradezu klassische Schisma zwischen Geld und Geist auf einen kurzen Nenner. Ein Schisma, das wohl als entscheidendes Erbe, manche meinen auch als Erblast der deutschen Kulturgeschichte anzusehen ist. Die Vernachlässigung, ja Abwertung alles Praktischen und Ökonomischen zugunsten einer Betonung der zweckfreien Selbsttätigkeit des Geistigen und der individuellen Bildung des autonomen Individuums lässt sich auch in der deutschen idealistischen Philosophie wiederfinden, während etwa die großen angelsächsischen Philosophen wie John Locke oder David Hume als Empiriker oder William James und John Dewey als Pragmatisten dem Greifbaren und Nützlichen weit weniger abgeneigt waren. Der tendenziell weltabgewandten Innerlichkeit als spezifischer Besonderheit des deutschen Geisteslebens hatte einst der Siegener Literaturwissenschaftler Georg Bollenbeck (Bollenbeck 1994) eine umfassende geistesgeschichtliche Studie gewidmet. Dieses Deutungsmuster, das zentral auf das Begriffspaar »Bildung« und »Kultur« abstellt, gewinne in Deutschland gerade in dem Moment großen Einfluss in bürgerlichen Kreisen, in dem die Aufklärungsphilo1
https://www.uni-duesseldorf.de/home/startseite/news-detailansicht-inkl-gb/article/ mein-liebstes-heine-zitat-2012-geld-ist-rund-und-rollt-weg-aber-bildung-bleibt. html?cHash=412e4a3904f72728761f0716cde82092
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Heiner Barz
sophie den Ansprüchen der Vernunft nicht mehr genügte und die Ideale der Französischen Revolution uneingelöst blieben. Im Neuhumanismus erhielt es seine typisch deutsche Ausprägung: Das Faktum politischer Machtlosigkeit wird vom aufstrebenden Bürgertum zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Überhöhung des Bildungsgedankens kompensiert. Es ist zu vermuten, dass die Geringschätzung und Ausklammerung vieler Aspekte des Ökonomischen in der Bildungsforschung bis heute unter diesen Vorzeichen zu interpretieren sind. Eine vertiefte Thematisierung von Fragen der Bildungsfinanzierung, des Bildungsmarketings, des Bildungscontrollings, der Bildungsrenditen und generell der Bildungsökonomie lässt sich jedenfalls in der deutschen Erziehungswissenschaft nicht nachweisen. Die Kategorien des Ökonomischen fungieren vielmehr oft pauschal als Feindbild, um liebgewonnene Ideologien und traditionelle Besitzstände zu wahren. In kurzschlüssigen Argumentationsfiguren wird dabei wirtschaftliche Vernunft gerne mit bloßer Outputorientierung gleichgesetzt und jeder Verweis auf Kosten und Nutzen als Neoliberalismus denunziert. Dieser Überblicksbeitrag will versuchen, anhand einiger Schlaglichter die grundlegenden Positionen zu charakterisieren und das verfügbare Wissen in den vielfältigen Grenzregionen zwischen Wirtschaft und Pädagogik zu systematisieren. Ich wähle dafür: • •
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Bourdieus Konzept des kulturellen Kapitels als beispielhaftes Theoriekonstrukt; das Fehlen bildungshistorischer Rekonstruktionen zu Finanzierungsaspekten als Beispiel für einen insgesamt wenig ausdifferenzierten Forschungsstand; einige Basisdaten aus dem Bildungsfinanzbericht des Statistischen Bundesamts nebst Erläuterung einiger notwendiger Grundbegriffe; den Reformimpuls »Schulautonomie« mit dem Teilaspekt »Finanzautonomie« als beispielhafte jüngere Entwicklung sowohl der Theorie wie der Praxis.
Anstelle elaborierter Reflexionen zum wechselseitigen Zusammenhang bzw. zur relativen Autonomie von Preis- und Wertbestimmungen will diese Einführung vor allem einige für konkrete Bildungsthemen relevante Befunde und Begriffe, Konzepte und Kontroversen an der Schnittstelle von Pädagogik und Ökonomie vorstellen. Dass dabei die philosophischen und kulturgeschichtlichen Dimensionen und Kontroversen nur angesprochen, aber nicht vertieft
Geld und Geist im Bildungsbereich
werden können, die eine grundsätzliche Befassung mit Leitbegriffen wie Wert und Preis, Geld und Geist, Warenform und Denkform, Gebrauchswert und Tauschwert etc. mit sich bringt2 , liegt in der Natur eines Überblicks.
1.
Ein exemplarisches Theoriekonstrukt: Pierre Bourdieu über Bildung und Kapital
Wer einen sozialwissenschaftlichen Ansatz sucht, der die Sphären der Ökonomie und der Kultur sowie der Pädagogik umfasst und ihre Interdependenzen beschreibt, der stößt unvermeidlich auf Pierre Bourdieus soziokulturelle Analysen. Bourdieu verbindet in seinem Werk in einem komplexen theoretischen Zugriff, der gleichwohl empirisch gesättigt erscheint, Wirtschaft, Sozialisation und Ästhetik. Und gerade auch zur Rolle, die Bildung und Erziehung dabei zukommen, hat er immer wieder pointiert Stellung bezogen. Man kann den Einfluss, der vor allem von Bourdieus Hauptwerk »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1979/1982) auf die verschiedensten sozialwissenschaftlichen Disziplinen auch jenseits der Soziologie ausging, kaum überschätzen. Sein Ansatz eignet sich in gleich mehrfacher Hinsicht als Verbindungs-Theorem. Er verbindet nicht nur Ökonomie und Soziologie, nicht nur qualitative und quantitative Forschungsmethoden, sondern vor allem auch die scheinbar rein subjektiv gewählten ästhetischen Präferenzen des einzelnen Individuums mit der objektiv bestimmbaren Position in einem recht traditionellen Modell der Klassengesellschaft. Jenseits von Strukturalismus und Existentialismus, Theoriekonzepten also, in denen das Individuelle entweder negiert oder überbetont wurde, bietet Bourdieu mit seinem Habituskonzept ein Scharniertheorem, in dem kulturelle Vorlieben, bevorzugte Freizeitbeschäftigungen und der Stil der Wohnungseinrichtung als Ausdruck und Bekräftigung der jeweiligen Klassenlage dechiffriert werden. Mit seinem Ansatz, die Vermittlung von objektiven Lebenslagen und subjektiven Einstellungen und Lebensstilen neu zu thematisieren, hat Bourdieu nicht nur die sozialwissenschaftliche Theoriediskussion über Jahrzehnte beschäftigt, sondern auch zahlreiche Forschungsprogramme inspiriert – am nachhaltigsten vielleicht in der Lebensstilforschung und in den Konzepten der »Erlebnis-Milieus« (Schulze) bzw. »SinusMilieus« (Sinus-Integral). 2
Auch der Begriff des »Körperkapitals« findet sich gelegentlich bei Bourdieu. Dieser wird indessen nicht systematisch in seinem theoretischen Konzept integriert.
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In seinem Buch »Die feinen Unterschiede« geht Bourdieu davon aus, dass alle Handlungen, auch die scheinbar interesselosen und zweckfreien, letztlich auf die Maximierung materiellen und symbolischen Gewinns gerichtet sind. Diese Hypothese führt Bourdieu zu der Überzeugung, dass unterschiedliche Lebensstile und Geschmacksurteile sozialer Gruppen nicht nur ein plurales buntes Bild der Massengesellschaft erzeugen, sondern in letzter Konsequenz Instrumente im Konkurrenzkampf gegensätzlicher Gruppen um Macht und Einfluss sind. Eine zweidimensionale Vorstellung des sozialen Raumes führt Bourdieu dazu, die soziale Position von Subjekten in der Sozialstruktur aus dem verfügbaren ökonomischen Kapital, das im Wesentlichen das produktive und unproduktive Geldvermögen beinhaltet und dem verfügbaren kulturellen Kapital abzuleiten, für das er im Zuge seiner empirischen Analyse u.a. die Menge und Qualität erworbener Bildungstitel als Indikator verwendet. In den so abgesteckten Raum sozialer Positionen werden die Daten seiner empirischen Lebensstil-Untersuchung eingetragen. Bourdieu versucht damit, kulturelle Vorlieben, Sportarten, Bildungsbedürfnisse, Lesegewohnheiten, Speiseund Wohnvorlieben den sozialen Positionen systematisch zuzuordnen. In der näheren und gerade für die Bildungsforschung interessanten Beschreibung der Ausprägungen kulturellen Kapitals unterscheidet Bourdieu drei Dimensionen: Neben das durch Schul- und Hochschulbesuch sowie durch Bildungsabschlüsse relativ gut operationalisierbare institutionalisierte kulturelle Kapitel tritt das inkorporierte kulturelle Kapital. Letzteres hängt eng mit dem Habituskonzept zusammen, insofern hier die teilweise unbewussten und unbewusst übernommenen Bewertungsmaßstäbe und ästhetischen Kategorien angesprochen sind, die ein Individuum im Zuge seiner Sozialisation in einer bestimmten Familie, in einem bestimmten sozialen Umfeld und eben auch in einem bestimmten Bildungsmilieu erwirbt. Da gerade im Begriff des inkorporierten Kulturkapitals die Durchdringung bzw. der Austausch von materiellen und ideellen Komponenten von Bildungsprozessen deutlich werden, lohnt es sich, hier eine genauere Erläuterung von Bourdieu selbst zu zitieren: »Die meisten Eigenschaften des kulturellen Kapitals lassen sich aus der Tatsache herleiten, daß es grundsätzlich körpergebunden ist und Verinnerlichung (incorporation) voraussetzt. Die Akkumulation von Kultur in korporiertem Zustand – also in der Form, die man auf Französisch ›culture‹, auf Deutsch ›Bildung‹, auf Englisch ›cultivation‹ nennt – setzt einen Verinnerlichungsprozeß voraus, der in dem Maße, wie er Unterrichts- und Lernzeit erfordert, Zeit kostet. Die Zeit muß vom Investor persönlich investiert werden:
Geld und Geist im Bildungsbereich
Genau wie wenn man sich eine sichtbare Muskulatur oder eine gebräunte Haut zulegt, so läßt sich auch die Inkorporation von Bildungskapital nicht durch eine fremde Person vollziehen. Das Delegationsprinzip ist hier ausgeschlossen. Wer am Erwerb von Bildung arbeitet, arbeitet an sich selbst, er ›bildet sich‹. Das setzt voraus, daß man ›mit seiner Person bezahlt‹, wie man im Französischen sagt. […] Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ›Person‹, zum Habitus geworden ist; aus ›Haben‹ ist ›Sein‹ geworden. Inkorporiertes und damit verinnerlichtes Kapital kann deshalb (im Unterschied zu Geld, Besitz- oder sogar Adelstiteln) nicht durch Schenkung, Vererbung, Kauf oder Tausch kurzfristig weitergegeben werden.« (Bourdieu 1997: 56) Als dritte Facette unterscheidet Bourdieu schließlich das objektivierte kulturelle Kapital, also diejenigen Gegenstände, in denen sich bestimmte kulturelle Vorlieben gleichsam materialisieren: Original-Kunstwerke oder ein Posterdruck an der Wohnzimmerwand, ein Klavier oder ein TV-Bildschirm, ein Bücherregal oder eine kleine Hausbibliothek etc. In Derartigem zeigt sich nicht nur, was man sich leisten kann oder nicht, sondern es materialisiert sich auch ein bestimmtes ästhetisches Urteilsvermögen – von dem Bourdieu immer annimmt, dass es gesellschaftlich determiniert ist. Vor dem Hintergrund seiner Analysen werden die Konturen einer Drei-Klassen-Gesellschaft sichtbar: Die herrschenden gesellschaftlichen Gruppen versuchen durch »Distinktion« dem eigenen Lebensstil die Aura der Höherwertigkeit und der Legitimität zu verleihen, während sich die mittleren Gruppen des Kleinbürgertums in ihrem Geschmacksurteilen an den ökonomisch oder kulturell überlegenen Gruppen orientieren. Bourdieu charakterisiert dieses häufig sehr beflissene Nacheifern mit dem Begriff der »Prätention«. Der Arbeiterschaft wiederum kommt ein eigener Lebensstil zu, der dem Diktat der Notwendigkeit unterworfen ist; als erstrebenswert gilt hier, von allem genug bzw. sogar eine nicht alltägliche Fülle zur Verfügung zu haben: Das gilt für Muskeln (Bodybuilding), Bräune (Sonnenstudio) oder die Portionsgröße von Gerichten bei Feierlichkeiten oder im Restaurant. Für Bourdieu ist der Erwerb von Bildungstiteln prinzipiell ein Weg zum sozialen Aufstieg. Allerdings stand er sowohl der Institution Schule als auch den anderen expandierenden Bildungseinrichtungen äußerst skeptisch gegenüber, wie er schon in einer frühen berühmten Schrift erläuterte, die in Deutschland unter dem sprechenden Titel »Die Illusion der
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Heiner Barz
Chancengleichheit« (Bourdieu/Passeron 1964/1971) erschien und ein wenig euphorisches, aber vielleicht realistisches Bild der begrenzten Möglichkeiten des Bildungssystems zeichnete, vorhandene gesellschaftliche Ungleichheiten aufzubrechen bzw. zu unterlaufen. Bourdieu und sein Ko-Autor Passeron formulieren hier gewissermaßen ein Bildungsparadox: Immer mehr höhere Abschlüsse führen zur Entwertung eben dieser höheren Abschlüsse. Der Vollständigkeit halber sei auch das soziale Kapitel, also die sozialen Beziehungen, genannt, über die ein Individuum oder besser: seine Herkunftsfamilie verfügt, und die für die gesellschaftliche und berufliche Positionierung eine wichtige Rolle spielen können. Gelegentlich spricht Bourdieu auch vom symbolischen Kapital, das dann gleichsam die Summe aus ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital bildet und das Insgesamt der gesellschaftlichen Macht und Anerkennung umfasst, über die eine Person verfügt.3 Auf den Anregungsreichtum der Entdeckung der ästhetischen und Lebensstil-bezogenen Dimensionen sozialer Ungleichheiten auch für die Bildungsforschung wurde schon hingewiesen. Ein zweiter hervorzuhebender Aspekt, der die bleibende Bedeutung dieses 2002 verstorbenen Soziologen unterstreicht, ist sein Nachweis, dass trotz Schul- und Hochschulbesuch kulturelle Prägungen durch die familiäre und milieugeprägte Herkunft relevant bleiben – und sich gelegentlich sogar stärker durchsetzen als alle äußerlich bleibenden Attribute des Bildungsaufstiegs. Schließlich sollte drittens nicht übersehen werden, dass Bourdieus Ansatz im Kern einer nur leicht modifizierten marxistischen Klassenideologie folgt, für die Perspektiven des gesellschaftlichen Ausgleichs immer nur eine beruhigende und verschleiernde Funktion haben können: letztlich bleibt der antagonistische Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat bestehen, der nur durch eine sozialistische Revolution wirklich aufgelöst werden kann. Über die vielen bunten Beschreibungen der sozialen Realität, die illustrativen Fotos und die lebensnahen Porträts (»eine ›sehr klassische‹ Lehrkraft«, »eine Bäckersfrau, ›die nicht aus dem Rahmen fällt‹«, »ein nicht einzuordnender Professor« usw.), die man bei Bourdieu findet, sollte man diese letztliche dichotome Schlichtheit (es gibt eine Zeit vor und eine nach der Revolution) nicht vergessen.
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Vgl. Schleicher 2010.
Geld und Geist im Bildungsbereich
2.
Bildung im Kontext von Kosten und Werten: Forschungsstand, Positionen und Desiderate
Generell lässt sich konstatieren, dass Fragen der konkreten Bildungsfinanzierung offenbar nur dann eine gewisse Beachtung im sozialwissenschaftlichen Forschungsbetrieb finden, wenn bildungspolitische Reizthemen, wie etwa der Streit um die Studiengebühren, unübersehbar Finanzierungsaspekte in den Vordergrund rücken.4 Für die historische Dimension, also für die Frage, wie eigentlich in früheren Jahrhunderten, wie vormoderne Gesellschaftsordnungen die Produktion von Wissen und die Weitervermittlung von Kenntnissen hinsichtlich der Ressourcenallokation geregelt hatten, fehlen systematische Untersuchungen bis heute. Dass hier durchaus spannende Forschungsfelder noch der Erschließung harren, zeigt etwa die Lektüre der wohl inspiriertesten Abhandlung zur Universitätsgeschichte, die von Inge und Walter Jens (Jens/Jens 1977/2004) über »500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik« vorgelegt wurde. Im Kapitel »Die Zunft und ihr Betrieb« werden dort auch Aspekte der Entlohnung der Professoren, die u.a. in Naturalien aus dem universitätseigenen Landwirtschaftsbetrieb bzw. durch Steuerprivilegien erfolgte, berichtet. »Dreihundertfünfzig Jahre lang mußten die akademischen Bürger weniger Steuern zahlen als ihre universitätsfernen Nachbarn, brauchten keinen Frondienst zu leisten und ihren Wein, sofern er dem Eigenverbrauch diente, nicht zu verzollen, waren vom Marktzwang befreit. […] Schließlich hatten sie […] das Recht, Ochsen und Kühe lebend zu kaufen und sich – jedenfalls im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert – durch eine universitäre Hausschlachterei, die sogenannte ›lateinische Metzge‹ (was, hier irrt der schwäbische Volksmund, nichts mit Anatomie zu tun hat), mit dem notwendigen Vorrat zu versorgen.« (Jens/Jens 1977/2004: 47) Auch wird deutlich, dass die Hochschullehrer über viele Jahrhunderte ganz andere Sorgen hatten als die Gelehrten von heute; denn sie »hatten sich um konkretere Dinge zu kümmern als Forschung, Studienpläne und neue Didaktik – ihnen ging es zunächst ums tägliche Brot, um Leib und Leben. […] Jede Mißernte konnte die pünktliche Auszahlung der Gehälter gefährden, jedes gute Jahr dagegen den Professoren Extra-Rationen an Wein, Getreide und ›Süßspeis‹ einbringen.« (ebd.: 51f.)
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Vgl. Schleicher 2010.
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Die Universität war »sehr viel mehr als eine gelehrte Bildungsanstalt. Sie war ein Wirtschaftsbetrieb von beachtlichem Ausmaß. Eine geschlossene Körperschaft mit eigener Ökonomie, eigener Verwaltung und eigenem Recht« (ebd.: 53f.). Universitäten hatten eine eigene Gerichtsbarkeit und sie konnten z.B. auch Bußgelder erheben. In Leipzig setzten die Statuten »für das Aufheben eines Steines oder eines ähnlichen Gegenstandes in der Absicht, ihn auf einen Magister zu werfen, eine Buße von zehn neuen Groschen fest; für einen Wurf, der das Ziel verfehlte, betrug die Buße acht Gulden und für einen erfolgreichen Wurf noch mehr« (Gieysztor 1993: 130). Teilweise, etwa in Bologna, waren die Professoren von den Studierenden angestellt und von ihnen beaufsichtigt. Professoren hatten eine Kaution zu hinterlegen, die sie verloren, wenn es ihnen nicht gelang, den vorgesehenen Lehrstoff in der gesetzten Frist zu vermitteln. Professoren waren teilweise also lange Zeit, vor allem soweit sie als Laien weltliche Fächer wie Recht oder Medizin lehrten, ganz direkt von der Finanzierung durch die Studierenden abhängig. Während andere Universitäten – etwa Paris – die Professoren des kanonischen Rechts und der Theologie mit Pfründen ausstatteten (Zwick 2010: 114). Die in vergangenen Jahrhunderten gängigen Formen der Entlohnung der Hochschullehrer, die sich so fundamental von der heutigen Situation unterscheiden, bilden nicht nur die Gepflogenheiten feudaler Gesellschaftsordnungen ab, sie können auch nicht nur anekdotische Evidenz beanspruchen – in ihnen zeigen sich auch der Stellenwert und die Relevanz, die Bildungsaufgaben in früheren staatlichen Formationen zukam. Umso mehr muss man bedauern, dass sich zur Rekonstruktion von Bildungsfinanzierungsstrukturen bis heute kaum historische Arbeiten finden. Was für die historischen Dimensionen gilt, lässt sich auch für die Gegenwart festhalten: Einen konsolidierten Forschungsstand gibt es nicht. Man findet einzelne periodische statistische Werke – die sich bei näherer Betrachtung allerdings als lückenhaft und umstritten präsentieren. Und man findet Studien für einige Aspekte, die gleichwohl nicht viel mehr als erste Schlaglichter zu werfen vermögen. Seit 2008 erstellt das Statistische Bundesamt den Bildungsfinanzbericht für Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Daneben gibt das Statistische Bundesamt zur
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Bildungsfinanzierung regelmäßige Publikationen (zuletzt: Statistisches Bundesamt 2020) sowie Sonderpublikationen – so etwa die »Finanzen der Schulen. Schulen in freier Trägerschaft und Schulen des Gesundheitswesens 2013« (Statistisches Bundesamt 2016) – heraus. Auch im Bundesbildungsbericht finden sich regelmäßig Daten zur Bildungsfinanzierung – zuletzt mit einem Berichtsschwerpunkt zu »Wirkungen und Erträgen von Bildung« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Education at a Glance (dt.: Bildung auf einen Blick) ist die jährlich erscheinende Datensammlung der OECD zum Bildungsbereich, die zu zahlreichen Indikatoren aktualisierte Kennzahlen international vergleichend aufbereitet. Dabei kommen auch immer wieder Bildungsbudgets in unterschiedlicher Ausdifferenzierung sowie auch Kalkulationen zu Bildungsrenditeerwartungen zur Darstellung, etwa in »Indikator A5: Welche finanziellen Anreize bestehen für Investitionen in Bildung?«5 Für ein erstes Handbuch Bildungsfinanzierung (Barz 2010) konnten Beiträge von 45 Autor*innen zu ersten Zwischenbilanzen versammelt werden, in denen sowohl Desiderate als auch verstreute Ergebnisse und Perspektiven inventarisiert wurden. Ideologien, Traditionen und Innovationskonzepte werden ebenso bilanziert, wie gegliedert nach den verschiedenen Bildungsbereichen und nach den verschiedenen Kostenträgern die Konturen der Bildungsfinanzströme nachgezeichnet werden. Ebenfalls aufgegriffen sind in diesem Handbuch Bildungsfinanzierung neuere Diskussionen zu alternativen Modellen der Bildungsfinanzierung (Pfeiffer et al. 2010) und spezifische Innovationsansätze, etwa »Genderbudgeting« (Cleuvers 2010) oder »Anreizstrukturen in der Finanzierung von Hochschullehre« (Kamm 2010). Vom Gesichtspunkt thematischer Affinitäten aus betrachtet, wäre die Erziehungswissenschaft eigentlich wie kein anderes Fach prädestiniert, sich mit Fragen der Bildungsfinanzierung zu befassen. Wer sich indessen die erziehungswissenschaftliche Forschung und Diskussionskultur der vergangenen Jahrzehnte vergegenwärtigt, der findet vieles – aber kaum Beiträge, die sich konstruktiv mit dem Thema Bildungsfinanzierung befassen. Dies gilt zumindest weithin für die deutsche bzw. deutschsprachige Diskussion unter Einbeziehung von Österreich und der Schweiz. Erst in den 2000er Jahren ist eine etwas größere Offenheit für Fragen im Grenzbereich von Ökonomie und 5
Zu berücksichtigen ist bei allen derartigen Berechnungen, dass hier keine belastbare Datengrundlage gegeben ist, sondern dass sie auf Schätzungen beruhen, in die vielfältige Vorannahmen eingehen. (vgl. OECD 2019: 123)
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Pädagogik entstanden. Anfang der 2000er Jahre hatte das Thema Bildungsfinanzierung sogar eine gewisse Konjunktur. Beispielsweise wurde am 28. Juli 2004 der Abschlussbericht der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission »Finanzierung lebenslangen Lernens« vorgestellt. Im November 2004 erschien das umfangreiche Manifest. »Bildung neu denken! Das Finanzkonzept« als zweiter Teil der Studie »Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt« (2003), die im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) ein Gesamtkonzept für die Reform des deutschen Bildungswesens von der Kinderkrippe bis zur Seniorenweiterbildung darlegte. Man antizipierte die Bildungslandschaft des Jahres 2020 und fordert eine z.T. radikale Veränderung der Bildungspolitik. Von der Vorverlegung des Schuleintrittsalters auf das vierte Lebensjahr über die Begrenzung der Schulpflicht auf das vollendete 14. Lebensjahr, die Abschaffung des Sitzenbleibens und die Verkürzung der Schulferien bis zum Outsourcing der Staatsaufsicht über das Bildungswesen erstreckte sich der imposante Forderungskatalog. Vor allem aber wurden Individuen, Unternehmen und Staat zu mehr Investitionsbereitschaft in Bildung aufgefordert: »Bildung ist teuer. Ein Verzicht auf Bildung ist noch teurer.« (Abraham Lincoln). Kosten wurden ebenso aufgelistet wie Einsparungs- und Refinanzierungs-Möglichkeiten. Allein der Wegfall der Klassenwiederholung spare, so die Autoren, über eine Milliarde Euro pro Jahr. Abenteuerlich war etwa die Forderung, an Lehrlinge keine Ausbildungsvergütung mehr zu zahlen. Das damit freiwerdende Budget der Betriebe sollte stattdessen in Weiterbildung investiert werden. Im Vergleich dazu sind Umgestaltungs-Appelle inzwischen seltener geworden. Der Kronberger Kreis (»Bildungsfinanzierung neu gestalten«, Kronberger Kreis 2013) empfiehlt etwa Bildungsgutscheine und Studiengebühren und will öffentliche Zuschüsse zur Weiterbildung durch staatliche Kredite ersetzen. Noack (2016) beklagt demgegenüber den empirischen Rückgang der öffentlichen Finanzierung im Bereich der Weiterbildung im Vergleich zu anderen Bildungsbereichen. In der Diskussion über den Ausgleich von Bildungsnachteilen für Kinder aus sozial schwächeren Schichten wurden Formen von Sozialindex-gebundenen Verteilungsschlüsseln entwickelt. Hamburg hat früh eine relativ weitgehende sozialindexgesteuerte Ressourcenzuweisung implementiert, in Bremen, Hessen und NRW sind teilweise ähnliche Modelle entstanden (vgl. Weishaupt 2016). Die angesprochene, in Deutschland offenbar bis heute tief verwurzelte Distanz gegenüber wirtschaftlichem Denken gerade unter Geisteswissenschaftlern manifestierte sich z.B. in den »fünf Einsprüchen« einer Reihe von Erziehungswissenschaftlern (Erstunterzeichner: Gruschka, Herrmann, Radtke,
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Rauin, Ruhloff, Rumpf, Winkler) aus dem Jahr 2005 unter dem Titel »Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb«, der von über dreihundert Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern unterzeichnet wurde. Auch wenn in diesen Thesen z.T. durchaus reale Probleme benannt werden, geht der Tenor doch eindeutig in Richtung auf die Fortschreibung der apodiktischen Frontstellung von Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaft, wenn es etwa heißt: »Wir wenden uns gegen die Illusionen einer alle politischen Parteien übergreifenden Bildungspolitik, die das Bildungssystem nach betriebswirtschaftlichen Mustern in den Griff zu bekommen sucht« (Gruschka et al. 2005). Seit den 1990er Jahren kritisiert eine breitere erziehungswissenschaftliche Publizistik unter dem Stichwort »Ökonomisierung der Bildung« die »Gefahr, dass die Orientierung an wissenschaftlichem Wissen hinter privatwirtschaftliche Partikularinteressen zurücktritt« (Liesner 2008: 914). Als Ursache und Movens für die sog. Ökonomisierung sieht Radtke weniger die Wirtschaft, sondern »ein strategisches Projekt der Politik selbst« (Radtke 2009: 625). In der Umsetzung würde die Expertise von betriebswirtschaftlichen Beratungsfirmen hinzugezogen – mit der paradoxen Konsequenz, dass »das System mit der höchsten Versagensquote [dominiert] […]. Der Rest der Gesellschaft ist mit ökonomischen Fragen beschäftigt, weil das Versagen der Wirtschaft […] in allen anderen Funktionssystemen verkraftet werden muss« (Radtke 2009: 626). Als Fehlentwicklung wird die Ablösung des Professionalisierungsdiskurses mit der Betonung auf Kollektivorientierung durch die »manageriale« Umgestaltung von Schule (Höhne/Schreck 2009) und Hochschule (Münch 2009a) gebrandmarkt – wobei der Manager als auf Eigennutz reduzierter Systemdiener, als Herdentier (Münch 2009b: 11) beschrieben wird und der professionelle Pädagoge als der moralisch Gute, der sich von »höherstufigen Formen universeller Solidarität« leiten lässt (so Radtke 2009: 631, unter Bezug auf Brunkhorst). Luhmanns Systemtheorie, Foucaults Analysen der Gouvernementalität und andere anspruchsvolle Referenzrahmen werden herangezogen, um das Bildungswesen gegenüber Veränderungen zu immunisieren. Die alte Universität wird zur heilen Welt, die durch Unternehmensberater bedroht ist. Die alte Verwaltungsbürokratie wird zur »Dienerin der Professoren« – wohingegen »unter dem Regime von McKinsey & Co« die eigentliche akademische Lehre leidet und stattdessen »ein umfangreiches Angebot an Sprach-, Kommunikations- und Trainingskursen zur Selbstvermarktung« (Münch 2009b: 11, 13) eingeführt würde.
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Wenngleich vor allem in den einschlägigen Fach- und Standesorganisationen derartige Positionen viel Gehör finden, werden sie nicht von allen geteilt, die sich aus bildungssoziologischer oder erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit dem »New Public Management« beschäftigen. Den Vorwurf der Ökonomisierung weist beispielsweise Heinz-Elmar Tenorth scharf zurück: »Gefangen in den alten Formeln, zeigen sich die Kritiker blind gegenüber der tatsächlichen Praxis und den Möglichkeiten der aktuellen Bildungsreform; vereint in einem seltsamen Bündnis der alten Privilegierten, vor allem in den Universitäten, mit denjenigen, die sich in ihrem gemütlichen Alltag aufgeschreckt finden, wozu Evaluation ohne Zweifel beiträgt, machen sie sich zum Wortführer einer Politik, die den notwendigen Umbau unseres Bildungssystems hemmt« (Tenorth 2005: 89). Dass Konkurrenz ein belebendes Element sein kann, gilt unter Ökonomen als unstrittig. Strittig ist, inwiefern sich im Bildungsbereich Wahlmöglichkeiten qualitätsfördernd auswirken (vgl. zum kontroversen Forschungsstand: Schneider 2018). Der Bildungsökonom Ludger Wößmann begründet auf Basis einer Reihe von Sekundäranalysen von internationalen Leistungsvergleichsstudien (u.a. TIMSS 1995, PISA 2000, PISA 2003) die These, dass der Anteil der privaten Schulen in einem Land sich auch auf die Leistungsfähigkeit des gesamten staatlichen Bildungssystems auswirke: Je mehr Schüler eine private Schule besuchen, desto besser schneidet das betreffende Land bei Leistungsvergleichstests ab.6 Während die zumeist besseren Schulleistungen von Schülern an privaten Schulen sich zumindest teilweise auch auf sozioökonomische Auswahlprozesse zurückführen lassen (Weiß 2011), belegt Wößmann, dass ein Großteil der positiven Auswirkungen des Privatschulanteils gerade Schülerinnen und Schülern in öffentlichen Schulen zugutekommt. Die auf systemische Wettbewerbseffekte zielende These besagt, dass auch die staatlich geleiteten Schulen dort besser werden, wo die Konkurrenz durch private Schulen stärker zum Tragen kommt (Wößmann 2011: 12). In einer Sonderauswertung der PISA-Daten von 2009 kommt die OECD (OECD 2012: 47) zu dem Ergebnis, dass für die systemischen Effekte des Schulwettbewerbs insbesondere auch die Finanzierungsmodalitäten eine wichtige Rolle spielen: In Ländern, in denen die Schulen in freier Trägerschaft höhere staatliche Finanzzuschüsse erhalten, schwächt sich für das gesamte Bildungssystem der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg ab. Damit stützt 6
Manfred Weiß (2011) bestreitet diesen Zusammenhang und kritisiert ihn als Artefakt.
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auch die OECD die These, dass nicht die bloße Existenz von privaten Schulen soziale Ungleichheit verstärkt, sondern dass es vor allem auf die staatliche Bildungsfinanzierungspolitik ankommt.
3. Das deutsche Bildungsbudget: Grundbegriffe, Daten, offene Fragen Für die Bildungsausgaben in Deutschland sind die Befunde widersprüchlich. Regelmäßig etwa betonen die offiziellen Stellen der deutschen Bildungspolitik – also das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und die Kultusministerkonferenz – anlässlich der jeweils im Herbst erfolgenden Veröffentlichung der OECD-Bildungsindikatoren »Education at a Glance« (EaG), dass Deutschlands Bildungsausgaben über dem OECD-Durchschnitt liegen würden. Anlässlich der Vorstellung von EaG 2018 hat das BMBF in einem »Presse-Papier« des BMBF vom September 2018 beispielsweise als Zwischenüberschrift hervorgehoben, dass die Bildungsausgaben je Teilnehmer über dem OECD-Durchschnitt liegen und weiter erläutert: »Trotz des demografischen Wandels und des damit verbundenen Rückgangs der Schülerzahlen hat Deutschland seine Bildungsausgaben in den letzten Jahren stetig erhöht.« (BMBF 2018: 13). Kritische Stimmen dagegen – etwa die Pressemitteilungen der GEW dazu, aber auch die OECD selbst – betonen ebenso regelmäßig, dass Deutschland Bildungsausgaben erneut unterhalb des OECD-Durchschnitts liegen würden. Wortlaut der »OECD-Country Note: Germany« zu EaG 2018: »2015 beliefen sich die Ausgaben im Primar, Sekundar- und Tertiärbereich für eigentliche Bildungsdienstleistungen, zusätzliche Dienstleistungen und FuE in Deutschland auf 4,2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), was deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 5,0 % lag.« (OECD 2018: 7) Die Bildungsausgaben Deutschlands sollen also mal über, mal unter den OECD Durchschnittswerten liegen. Beide Behauptungen stützen sich auf dieselbe Publikation. Was soll man glauben? Tatsächlich stimmt beides: Die deutschen Bildungsausgaben liegen sowohl über wie unter dem OECDDurchschnitt. Je nachdem, welche Kennziffer man betrachtet – und je nachdem, welche politischen Absichten man verfolgt. Betrachtet man die Ausgaben für Bildung als Ganzes in Relation zum Brutto-Inlands-Produkt, liegt Deutschland unterhalb des OECD-Durchschnitts. Betrachtet man die
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Ausgaben pro einzelnem Schüler, liegt Deutschland dagegen über dem OECD-Durchschnitt. Die in der BRD höheren Pro-Kopf-Ausgaben erklären sich vor allem aus der demographischen Entwicklung: Länder mit sinkenden Schüler- und Studentenzahlen haben naturgemäß tendenziell geringere Bildungsausgaben – und gerade deshalb kann pro Kopf mehr Geld zur Verfügung stehen. Je nachdem, ob also die Bildungsausgaben in Relation zum BIP gesetzt werden oder in Relation zur Zahl der Schüler, ergibt sich ein anderes Bild. Im folgenden Abschnitt werden zunächst einige wichtige Grundbegriffe (vgl. Dohmen et al. 2004) und die letzten verfügbaren Zahlen zum deutschen Bildungsbudget vorgestellt und schließlich deren beschränkte Reichweite diskutiert. a. Man unterscheidet die Durchführungs- und die Finanzierungsbetrachtung, je nachdem, ob danach gefragt wird, wie viel Geld den unterschiedlichen Bildungsbereichen insgesamt zur Verfügung steht (»Was kommt wo an?«) oder aus welchen Quellen die Finanzströme stammen (»Woher?«). Bei den öffentlichen allgemeinbildenden Schulen etwa finanzieren überwiegend die Bundesländer das Lehrpersonal, während für Bau und Unterhalt der Gebäude die Kommunen aufkommen. Die Kosten für Weiterbildung werden von staatlichen Stellen wie der Bundesagentur für Arbeit und privaten Haushalten sowie von Wirtschaftsunternehmen getragen. b. Ausgaben und Kosten von Bildung sind insofern zu unterscheiden, als der Begriff der Ausgabe primär auf den öffentlichen Sektor und die dort früher übliche kameralistische Buchführung bezogen ist. Insofern beziehen sich Bildungsausgaben auf die tatsächlich – zumeist pro Kalenderjahr – geflossenen Finanzmittel. Kosten dagegen berücksichtigen im Sinne der kaufmännischen Betrachtungsweise die tatsächliche Nutzungsdauer einer Investition. Die Anschaffung eines elektronischen Whiteboards im Wert von 2.000 Euro z.B. würde bei Betrachtung der Bildungsausgaben in vollem Umfang im Beschaffungsjahr zu Buche schlagen, in der Perspektive der kaufmännischen Kostenrechnung dagegen z.B. auf vier Jahre »abgeschrieben« werden – mit jährlichen Kosten von 500 Euro. c. Während die Bruttoausgaben die Addition der von den verschiedenen Stellen getätigten Zahlungen enthalten, eliminiert die Aufstellung von Nettoausgaben die durch die Beteiligung unterschiedlicher finanzierender Stellen möglichen »Doppelzählungen«. Ein Beispiel wäre etwa die Bezuschussung von Schulbaumaßnahmen einer Kommune durch das Bundesland: Während in der Aufstellung der Bruttoausgaben die entsprechenden Beträge sowohl im Haushalt der Kommune als auch im Haushalt des Landes aufgeführt sind,
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werden in der Darstellung der Nettoausgaben die bereits in anderen Haushalten verbuchten Zahlungen abgezogen. d. Von Grundmitteln wird dort gesprochen, wo von den Nettoausgaben die dem jeweiligen Aufgabenbereich unmittelbar zurechenbaren Einnahmen abgezogen werden. Die Grundmittel der Hochschulmedizin etwa errechnen sich, wenn man von den Nettoausgaben, die für den Betrieb einer Universitätsklinik anfallen, die Einnahmen abzieht, die im Rahmen der Krankenversorgung erzielt werden. e. Das Bildungsbudget einer Nation setzt sich aus den von privater und staatlicher Seite getragenen Ausgaben zusammen. Dabei variiert diese Aufteilung von Land zu Land. In der BRD etwa ist der Anteil der von privaten Haushalten und privaten Trägern übernommen Kosten im Bereich der Elementarbildung (z.B. Kindergärten) im internationalen Vergleich relativ hoch. Der private Anteil an der Finanzierung der Hochschulausbildung fällt dagegen für die BRD im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich aus. Die Differenzen in den privat finanzierten Anteilen der Hochschulausbildung relativieren sich jedoch massiv, wenn man die (zu großen Teilen privat aufgebrachten) Ausgaben für die Lebenshaltung der Studierenden mit in die Berechnung einbezieht (Schwarz/Teichler 2004). f. Hinsichtlich der Berücksichtigung von Aufwendungen für den Lebensunterhalt (Bildungsausgaben zweiten Grades) als Bildungskosten zeigen die Bildungsbudgetaufstellungen meist Inkonsistenzen. Während z.B. staatliche Zuschüsse zur Lebensführung von Studierenden (BAföG) oder die Mittel für den Lebensunterhalt von Teilnehmern an Fortbildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit Berücksichtigung finden, werden private Aufwendungen von Bildungsteilnehmern oder deren Eltern für den Lebensunterhalt oder auch privat finanzierte Internatskosten meist nicht als Bildungsaufgaben verbucht. g. Durch die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen entstehen nicht nur die direkt mit dem Unterricht, mit Seminaren, Kursen, Lehrgängen verbundenen Kosten für Lehrmaterial, für Lehrer und Trainer, für Anreise und Räume. Zusätzlich zu diesen direkten Kosten können indirekte Kosten beziffert werden, die durch den Ausfall der Bildungsteilnehmer als produktive Arbeitskräfte entstehen – und im Falle von betrieblicher Weiterbildung real eventuell mit der Bezahlung von Aushilfskräften verbunden sind. h. Die sog. Opportunitätskosten, d.h. die Einkünfte, die die Bildungsteilnehmer erzielen könnten, wenn sie, statt sich zu bilden, einer Erwerbsarbeit nachgingen (entgangene Verdienste), werden im Bildungsbudget nicht be-
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rücksichtigt. Während für kurzzeitige Bildungsmaßnahmen die Kalkulation indirekter Kosten relativ unstrittig scheint, ist deren Abgrenzung im Bereich der Allgemeinbildung und der beruflichen Erstausbildung eher schwierig. Obgleich sie als fiktive Messgröße im Rahmen von Humankapital-Analysen durchaus eine Rolle spielen, werden die Opportunitätskosten der alternativen Zeitverwendung in Bildungsbudgetaufstellungen in der Regel nicht einbezogen. Das deutsche Bildungsbudget wird jährlich vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen. In der Regel liegt das Bezugsjahr der Daten drei Jahre vor dem Erscheinungsjahr. Der Bildungsfinanzbericht 2019 enthält also die konsolidierten Daten für 2016 (und einige vorläufige Zahlen für 2017, 2018, 2019). Das Bildungsbudget zeigt die Bildungsausgaben in Deutschland, die von den öffentlichen Haushalten, dem privaten Bereich und dem Ausland bereitgestellt wurden (vgl. Abb. 1). Es setzt sich zusammen aus einem internationalen Teil (Budgetteil A) und zusätzlichen Bildungsausgaben in nationaler Abgrenzung (Budgetteil B). Die Unterscheidung in nationale und internationale Definitionen ist notwendig, weil es trotz aller Bemühungen um internationale Standardisierung noch nicht für alle Aspekte gelungen ist, übereinstimmende Regelungen zu finden. In einer umfassenderen Darstellung wird auch das Budget für Bildung, Forschung und Wissenschaft jährlich vom Statistischen Bundesamt zusammengestellt. Es beinhaltet das Bildungsbudget (Budgetteile A+B) und zusätzlich das Forschungsbudget (Budgetteile C+D) (Statistisches Bundesamt 2019: 12). Die hier ausgewiesenen Ausgaben für Bildung, Forschung Wissenschaft sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2016 betrugen sie 283,2 Mrd. Euro (9 % des BIP), davon entfielen 201,6 Mrd. Euro auf den Anteil des Bildungsbudgets. Dies bedeutet gegenüber dem Jahr 2010 eine Steigerung um 46,2 Mrd. Euro oder 19,5 %. Auf Basis einer vorläufigen Berechnung spricht das Statistische Bundesamt für 2017 von einer weiteren Steigerung auf nunmehr 295,5 Mrd. Euro. Den größten Teil des amtlichen Bildungsbudgets machen mit 162,3 Mrd. Euro auch im Jahr 2016 die öffentlichen und privaten Ausgaben für formale Bildungseinrichtungen wie Krippen, Kindergärten, Schulen, Berufsbildung oder Hochschulen aus. Private Haushalte haben für Nachhilfeunterricht, Lernmittel und dergleichen 2016 6,3 Mrd. Euro ausgegeben. Für die Finanzierung der Lebenshaltungskosten von Bildungsteilnehmer*innen in formalen Bildungsgängen stellten die öffentlichen Haushalte 2016 bundesweit 12,7 Mrd. Euro zur Verfügung (BAföG bzw. Kindergeld für Volljährige).
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Non-formale Angebote wie die betriebliche Weiterbildung, die Lehrerfortbildung, die sonstige Weiterbildung sowie Horte, Jugendarbeit usw. schlugen 2016 mit insgesamt 20,3 Mrd. Euro zu Buche. Pro Kopf der Bevölkerung ergeben sich Ausgaben in Höhe von 1.769 Euro. Wenn man die Bildungsausgaben nur auf die jüngere Altersgruppe der deutschen Einwohner*innen bezieht, ergeben sich für die unter 30jährigen im Jahr 2016 Ausgaben in Höhe von 5.132 Euro pro Kopf, die für 2019 wiederum (lt. vorläufigen Soll-Werten) auf 5.893 Euro angestiegen sind (Statistisches Bundesamt 2019: 116) – und die von Bundesland zu Bundesland starke Unterschiede aufweisen. Für jeden Schüler an einer staatlichen allgemeinbildenden Schule wurden in Deutschland 2016 im Durchschnitt 7.700 Euro ausgegeben – in den Stadtstaaten sogar 9.800 Euro, in den Flächenländern Ost 7.800 Euro und in den Flächenländern West 7.500 Euro (ebd.: 126). Die deutschlandweiten Durchschnittswerte für die einzelnen Schulformen lauten: Grundschulen: 6.200 Euro, Hauptschulen: 9.300 Euro, Schulen mit mehreren Bildungsgängen: 8.100 Euro, Realschulen: 6.700 Euro, Gymnasien: 8.100 Euro, Integrierte Gesamtschulen: 8.200 Euro – wiederum mit starken Unterschieden in Abhängigkeit vom jeweiligen Bundesland (ebd.: 127). Auf S. 24 dieses Zahlenwerks findet sich ein entscheidender Satz: »So vertritt beispielsweise die Länderfinanzseite die Auffassung, dass die Bildungsausgaben in Deutschland in diesem Bericht unterzeichnet werden.« Dieser scheinbar harmlose Hinweis auf strittige Interpretationen und Zuordnungen der Ausgaben für Bildung zeigt, dass hier viel Sprengkraft verborgen ist – und zwar in durchaus relevanten Dimensionen. Auch die Tatsache, dass in den vom Statistischen Bundesamt erstellten Berechnungen zwischen amtlicher Finanzstatistik und »realem Bildungsbudget« unterschieden wird, deutet bereits in diese Richtung: Das Bildungsbudget liegt deutlich höher als die in der Finanzstatistik erfassten Kosten. Zuletzt wurde für das aus öffentlichen Mitteln bestrittene Bildungsbudget ein Betrag von 160,4 Mrd. Euro und laut Finanzstatistik ein Betrag von 129,1 Mrd. Euro ausgewiesen (vgl. Abb. 1 »Öffentlicher Bereich (Initial Funds)« und »Bildungsausgaben […] laut Finanzstatistik«). Die größten Posten, die die Differenz ausmachen, sind dabei die unterstellten Sozialbeiträge für die Altersversorgung aktiver Beamtinnen und Beamte im Bildungsbereich (12,4 Mrd. Euro), das Kindergeld für volljährige Bildungsteilnehmerinnen und Bildungsteilnehmer (8,3 Mrd. Euro) und die Bildungsausgaben der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 6,6 Mrd. Euro (Statistisches Bundesamt 2019: 29).
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Abbildung 1: Budget für Bildung, Forschung und Wissenschaft 2016 Budget für Bildung, Forschung und Wissenschaft (A+B+C+D) 283,2 Mrd. Euro - 9,0 % des BIP
Bildungsbudget (A+B) 201,6 Mrd. Euro - 6,4 % des BIP
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Sonstige Bildungs- und Wissenschaftsinfrastruktur (D) 6,1 Mrd. Euro - 0,2 % des BIP
Bildungsbudget für Forschung und Entwicklung (C) 92,2 Mrd. Euro - 2,9 % des BIP
Durchführungsbetrachtung 201,6 Mrd. Euro - 6,4 % des BIP Bildungsausgaben in internationaler Abgrenzung (A) 3) 181,3 Mrd. Euro - 5,8 % des BIP Ausgaben für Bildungseinrichtungen (A30 - Krippen, Kindergärten, Schulen, Berufsbildung, Hochschulen 162,3 Mrd. Euro - 5,2 % des BIP
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Finanzierungsbetrachtung 201,6 Mrd. Euro - 6,4 % des BIP Wirtschaft, Organisation ohne Erwerbszweck, Private Haushalte, Ausland 41,2 Mrd. Euro - 1,3 % des BIP
Öffentlicher Bereich (Initial Funds) 160,4 Mrd. Euro - 5,1 % des BIP Bund
Käufe außerhalb von Bildungseinrichtungen (A40 Nachhilfe, Lernmittel u. dgl.)
21,2 Mrd. Euro - 0,7 % des BIP
Länder
6,3 Mrd. Euro - 0,2 % des BIP
106,2 Mrd. Euro - 3,4 % des BIP
Förderung von Bildungsteilnehmenden (A50 - BAföG, Kindergeld für volljährige Bildungsteilnehmer/-innen, Berufsausbildungsbeihilfe)
Gemeinden
33,1 Mrd. Euro - 1,1 % des BIP
12,7 Mrd. Euro - 0,4 % des BIP
Methodische Unterschiede sieh Kapitel 3, Abb. 3-1
Zusätzlicher bildungsrelevante Ausgaben in nationaler Abgrenzung (B) 20,3 Mrd. Euro - 0,6 % des BIP Ausgaben für betriebliche Weiterbildung (B10)
11,2 Mrd. Euro - 0,4 % des BIP
Bildungsausgaben von Bund, Ländern, und Gemeinden laut Finanzstatistik 129,1 Mrd. Euro - 4,1 % des BIP
Ausgaben für weitere Bildungsangebote (B20 Horte, Volkshochschulen, Jugendarbeit, Bildungsträger im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik) 7,4 Mrd. Euro - 0,2 % des BIP
Förderung von Teilnehmenden an Weiterbildung (B30) 1,6 Mrd. Euro - 0,1 % des BIP
Kindertageseinrichtungen
25,3 Mrd. Euro - 0,8 % des BIP
Schulen
64,3 Mrd. Euro - 2,1 % des BIP
Hochschulen
29,8 Mrd. Euro - 1,0 % des BIP
Bildungsförderung
6,1 Mrd. Euro - 0,2 % des BIP
Sonstiges Bildungswesen
1,6 Mrd. Euro - 0,1 % des BIP
Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit 2,1 Mrd. Euro - 0,1 % des BIP
Bei den Summen kann es aufgrund von Rundungen in den Zwischensummen zu Abweichungen kommen. 1) Konsolidiert hinsichtlich der Ausgaben für Forschung und Entwicklung an Hochschulen. 2) Grauer Bereich markiert die Ausgaben für Forschung und Entwicklung an Hochschulen (16,6 Mrd. Euro) . Diese Ausgaben werden nach der internationalen Abgrenzung sowohl im Budgetteil A als auch C zugeordnet. Für die Ermittlung des Budgets für Bildung, Forschung und Wissenschaft (A+B+C+D) ist eine Konsoildierung um diesen Betrag erforderlich. 3) Bildungsprogrammen der ISCED-2011.
Quelle: Statistisches Bundesamt 2019: 19
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Nichtsdestotrotz sind für die Bildungsfinanzstatistik in den letzten Jahren deutliche Fortschritte zu verzeichnen. Diese Fortschritte spiegeln sich auch im Bildungsfinanzbericht für die Bundesrepublik, der u.a. die Länderstatistiken bündelt und vergleicht. Seit dessen erstem Erscheinen im Jahr 2008 konnten sowohl was die umfassendere Berücksichtigung der verschiedenen Ausgaben- und Kostenarten (z.B. Personal, Beamtenpensionen, Beihilfen, Sachkosten, Investitionskosten) als auch was die Transparenz der Dokumentation betrifft, viele Schwachstellen beseitigt werden. Die bildungspolitische Diskussion um die dokumentierten Kosten der staatlichen Schulen reißt dennoch nicht ab, ja sie gewinnt abhängig vom Bundesland, von Zeit zu Zeit immer neu an Schärfe. Im Hintergrund steht regelmäßig die Frage einer gerechten oder »auskömmlichen«, jedenfalls grundgesetzkonformen Gestaltung der Privatschulfinanzierung durch die Länder. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil es jenseits aller bildungspolitischen Präferenzen für oder gegen private Schulen tatsächlich eine große Herausforderung darstellt, die mit schulischem Unterricht real verbundenen Aufwendungen des Staates statistisch adäquat zu erfassen. Folgende Problembereiche sind es vor allem, die es hier zu adressieren und durch geeignete kalkulatorische Verfahren zu minimieren gilt: 1. Schulen werden nicht »aus einer Hand« finanziert. Beteiligt sind die staatlichen Gliederungsebenen Kommunen, Landkreise und Länder sowie, z.B. über Investitionsprogramme, oft auch der Bund oder sogar europäische Stellen (z.B. der Europäische Sozialfonds, ESF). 2. Innerhalb der staatlichen Haushalte sind schulbezogene Ausgaben in verschiedenen Ressorts rubriziert. So fehlt z.B. oftmals die Möglichkeit die Pensions- oder Beihilfelasten von Lehrern von anderen staatlichen Beamten gesondert auszuweisen. Andererseits fließen Gelder, z.B. für Förderschüler bzw. Förderschulen, aus unterschiedlichen Ministerien und Ressorts. Dass die Schulen in freier Trägerschaft den Staat deutlich weniger kosten als die staatlichen Schulen, sagt schon die amtliche Statistik. Dass sie den Staat sogar relativ noch viel weniger kosten, weiß man aus den SchülerkostenGutachten des Steinbeis-Transferzentrums (vgl. Vogel 2010) – weil die staatlichen Schulen in Wirklichkeit teurer sind, als die unvollständige amtliche Statistik ausweist. Sind die Formeln zur Berechnung der staatlichen Zuschüsse auch kompliziert und verschieden, so haben sie aus der Sicht vieler Forscher (vgl. Klein 2019) doch eine Gemeinsamkeit: Unter dem Strich bleibt eine erhebliche Deckungslücke, die die Schulen irgendwie schließen müssen. Dass die Deckungslücke deutlich größer ist, als es einem arglosen Blick in die Bun-
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desbildungsfinanzstatistik zunächst erscheint, ist inzwischen vielfach belegt und weitgehend Konsens in der Bildungsfinanzdiskussion. So haben etwa die vom Steinbeis-Transferzentrum erstellten Gutachten gezeigt, dass je nach Bundesland und Schulart die staatliche Finanzhilfe nur 50 bis 60 % der tatsächlichen Schulkosten abdeckt. Ein Hauptproblem liegt darin, dass die Kosten auch der staatlichen Schulen tatsächlich äußerst schwierig zu berechnen sind. Zum Teil liegt das daran, dass die Ausgabenposten in den Haushalten verstreut sind. So sind die Ausgaben für Beihilfen oder Altersversorgung der Lehrer in Haushaltspositionen erfasst, in denen auch alle anderen Landesbeamten enthalten sind. Zum anderen weist die kameralistische Buchführung nur die Ausgaben, aber keine Kosten aus. Dadurch ist z.B. die sachgemäße Angabe der Grundstücks- und Gebäudekosten unmöglich.7 Es gibt meist keine konsequente interne Kostenverrechnung. Den Kostensätzen gemäß der amtlichen Statistik müssen dementsprechend betriebswirtschaftlich ermittelte Kostenansätze gegenübergestellt werden. Nach den Berechnungen des Steinbeis-Transferzentrums liegen die tatsächlichen Schülerkosten demnach je nach Schulform und Bundesland um 20 bis 40 % über den von den Landesregierungen als Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen verwendeten Zahlen (vgl. Barz 2016).
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Verwerfungen im Schulautonomie-Diskurs: Aus Autonomie wird Accountability
Für die Schulpraxis ist die Möglichkeit einer an die jeweiligen lokalen Bedingungen, an die konkreten Schülerpopulationen angepassten Gestaltung des Schullebens und des Unterrichts eine wichtige Determinante für den Schulerfolg. Neben strukturellen Faktoren oder der baulichen und personellen Ausstattung – bzw. deren chronisch beklagtem defizitärem Zustand – werden dementsprechend ressourcenbezogene Entscheidungsbefugnisse vor Ort von vielen Bildungsforschern als wichtige Determinante gelingender Bildungsprozesse betrachtet. Die diesbezügliche Diskussion entwickelte, zusammen-
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Man muss sich das ähnlich wie bei den kirchlichen Liegenschaften vorstellen, wo etwa der Kölner Dom mit einem Buchwert von 27 EUR in der Bilanz des Erzbistums Köln auftaucht. Die großen, stattlichen Schulgebäude, oft in teurer Innenstadtlage, sind ähnlich nicht mit ihrem Immobilien- Marktwert, sondern mit vor vielen Jahrzehnten oder gar vor über einem Jahrhundert festgelegten Buchwerten veranschlagt.
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gefasst im Schlagwort der »Schulautonomie«, insbesondere in den 90er Jahren eine größere Reichweite (vgl. Altrichter et al. 2016), auch wenn sich frühe diesbezügliche Überlegungen auch schon in den 70er Jahren, etwa beim Deutschen Bildungsrat (1973) finden. Gefordert wurde die Erhöhung schulischer Gestaltungsspielräume indem Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse an die einzelnen Schulen und die dort tätigen Personen delegiert werden. Die Hoffnung richtete sich auf eine verstärkte Innovationsdynamik, z.B. durch eine höhere Identifikation der Akteure mit ihren Aufgaben und die Nutzbarmachung der vor Ort vorhandenen Praxisexpertise. Die als schwerfällig, veränderungsresistent und praxisfern geltenden, zentralistisch-bürokratischen Hierarchien von Schulverwaltung und Schulaufsicht sollten in ihren Befugnissen eingeschränkt und Handlungs- und Entscheidungskompetenzen auf die Einzelschulen verlagert werden: »[L]okale Entscheidungsfindung sollte zu effizienterer Ressourcennutzung, zur Stimulierung der Verantwortlichkeit, Innovationskraft und Entwicklungsdynamik lokaler Akteure, zu einer Diversifikation der Bildungsangebote entsprechend unterschiedlicher Bedürfnisse und zu mehr demokratischer Teilhabe führen.« (Altrichter et al. 2016: 115) Wenngleich Begriff und Sache der Schulautonomie immer wieder auch kritisch bewertet wurden – schon 1998 wurde er beispielsweise im »Handbuch Schulentwicklung« (vgl. Maritzen 1998: 609) unter Beliebigkeitsverdacht gestellt und zum »reformpolitischen Unwort« erklärt – bündelten sich in ihm ähnlich wie in den Konjunkturen früherer Begriffe wie »Schulklima« oder »Schulleben« doch geradezu paradigmatische Sichtweisen der Schuldiskussion. Abschwächungen und Relativierungen wie »schulische Selbstverwaltung«, »Teilautonomie«, »relative Autonomie« o.ä., wie sie im Zuge der Diskussion vorgeschlagen wurden, zeigen nur, wie sehr diese Perspektive in den 90er Jahren eine dominante Stellung im Bildungsforschungs- und Bildungsplanungsdiskurs einnahm. Neben der Personalautonomie, der pädagogischen Autonomie und der organisatorischen Autonomie wurde auch in die Finanzautonomie als ein wichtiger Teilbereich diskutiert, in dem der dezentralen Ressourcenverantwortung größerer Spielräume gewährt werden sollten. Etwa indem Schulen Einnahmequellen wie Sponsoring, Drittmitteleinwerbung oder Erlöse beispielsweise aus Raumvermietungen ermöglicht werden oder indem sie eigene Verfügungsrechte über ein Globalbudget erhalten (vgl. Altrichter et al. 2016: 110). Wenn man heute (im Jahr 2020) danach fragt, was aus diesem einstmaligen Aufbruch geworden ist, der durchaus Unterstützung auch
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in den höheren und höchsten Etagen der deutschen Bildungspolitik gefunden hatte (vgl. z.B. die Denkschrift der sogenannten »Rau-Kommission«; Bildungskommission NRW 1995), dann scheinen drei Beobachtungen relevant: 1. In der Bildungsforschung konnten sich die Stimmen vermehrt Gehör verschaffen, die sich vor allem auf die Risiken und die möglicherweise problematischen Begleiterscheinungen einer Deregulierungspolitik im Bildungsbereich konzentrieren, die sich also pro Zentralisierung und gegen verstärkte Kompetenzdelegation an die Akteure vor Ort positionieren. Vom Einwand der »Dezentralisierung der Mangelverwaltung« oder der »Verdopplung der administrativen Strukturen« bis hin zur generellen Kritik einer stärker an Marktmechanismen und Wettbewerb orientierten Schulsteuerung reichen die Vorbehalte. Sie beziehen – siehe oben – ihre Überzeugungskraft auch in den Kreisen der Bildungsforschung wohl nicht zuletzt aus einem impliziten Argumentationsmuster, in dem jede wirtschaftliche Kategorie als für Bildung angeblich grundsätzlich schädliche »Ökonomisierung« gebrandmarkt und das Schreckensszenario einer nur noch kommerziellen Interessen unterstellten »Bildungsindustrie« beschworen wird (vgl. Radtke/Weiß 2000). Soziale Ungleichheit, bildungsbezogene Segregation und gesellschaftliche Entsolidarisierung sind die Chiffren, die auch noch die zaghaftesten Versuche einer Liberalisierung der Steuerungsmechanismen und Effektivierung der Ressourcenallokation diskreditieren sollen. 2. Dass das produktive Interesse am Thema »Schulautonomie« sich in der Folge insgesamt stark rückläufig entwickelt, zeigt sich allein schon an der Zahl der einschlägigen Publikationen: Eine Recherche im Fachinformationssystem Bildung ergibt für das Jahr 1997 den Spitzenwert von 185 Treffern zum Suchwort »Schulautonomie«.8 Seither nimmt die Trefferzahl von Jahr zu Jahr innerhalb eines geringfügigen Schwankungskorridors kontinuierlich ab (1998: 112; 2000: 92; 2004: 102; 2007: 77; 2010: 21; 2017: 13; 2018: 8; 2019: 3). Ein ähnlicher Verlauf ergibt sich für das Suchwort »Finanzautonomie«, wo ebenfalls das Jahr 1997 den Höhepunkt mit 27 Treffern markiert und für das im Jahr 2019 schon kein einziger Treffer mehr zu verzeichnen ist. Die für eine real höhere schulische Selbstverwaltungskompetenz zentrale finanzielle Ressourcenverantwortung, die sich vor allem in den Kategorien Personalbewirtschaftung und Sachmittelbewirtschaftung zeigt, ist gegenüber anderen Teilbereichen deutlich ins Hintertreffen geraten. Demgegenüber zeigt die Analyse der
8
»FIS Bildung« am 29.02.2020; Freitextsuche »Schulautonomie«.
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Veränderungen im Schulrecht in den 16 Bundesländern hinsichtlich der Verwirklichung von Aspekten der Schulautonomie (vgl. Rürup/Heinrich 2007) für die Jahre 1994 bis 2004, dass es eine massive Verlagerung hin zu einem Zuwachs in den Bereichen Unterstützungsangebote und Orientierungsvorgaben gab. Die massivste Neuakzentuierung der ursprünglichen Reformidee Schulautonomie indessen wird für den Bereich der Rechenschaftslegung (Accountability) verzeichnet (vgl. Abb. 2). Während im Jahr 2004 nur 12 % der schulgesetzlichen Novellierungen dem Bereich der Personalbewirtschaftung und nur 16 % der Sachmittelbewirtschaftung zuzurechnen waren, entfallen auf den Aspekt Rechenschaft 38 %. Flankiert wird diese Neuakzentuierung, die man auch als Umdeutung des ursprünglichen Impulses bezeichnen könnte, durch verschiedenste Maßnahmen der Standardisierung und der externen Evaluation.
Abbildung 2: Anteil der Verwirklichung von Schulautonomieaspekten (1994, 1999, 2004 )
Unterrichtsorg.
8%
65% 13%
36%
Personalbewirt.
15%
30%
Sachmittelbewirt. Reflexionsauf.
7%
Orientierung
14%
1999 2004
15% 31%
38% 36%
30% 0%
1994
16%
29%
20%
3%
12%
15%
36%
Unterstützung Rechenschaft
10% 6%
58%
Lernorgansiation
25 %
50 %
31% 75 %
Quelle: Altrichter et al. 2016: 121, Hervorhebung des Verfassers
3. Es ist fast ein wenig bestürzend, wenn man nach 30 Jahren Schulautonomie-Diskurs feststellen muss, dass sich für Schulen hinsichtlich der Verfügung über finanzielle Ressourcen bis heute offenbar wenig verändert hat. Dies
100 %
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Heiner Barz
gilt für Schulen in Deutschland, ebenso wie für Österreich und die Schweiz, »entziehen sich doch allseits mit Gehältern und gebäudebezogenen Ausgaben die größten Budgetposten bislang weitgehend dem Handlungsspielraum der Akteure vor Ort.« (Tarazona/Brückner 2016: 85) Sieht man von den meist sehr begrenzten Mitteln ab, die hier und da über Fördervereine eingeworben und verwaltet werden, dann verfügen deutsche Schulen heute noch immer über kaum mehr als über das Budget für die Erneuerung der Schulbücher, die sie kostenlos ausgeben.
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Wie wir Bildung schätzen lernten Wert und Preis von Bildung in der Spätmoderne – eine bildungshistorische Perspektive Anne Rohstock
1.
Einleitung: Forschungsfrage und -hypothesen, Theorierahmen, Literaturüberblick
Bildung gilt heute als »Allheilmittel« für eine Vielzahl identifizierter gesellschaftlicher Problemstellungen (El-Mafaalani 2019: 18, 32).1 Sie soll Arbeitsmarktschwierigkeiten ebenso beseitigen wie gesellschaftliche Ungleichheiten generell, individuelles Glück, Gesundheit, ja ein gelingendes Leben als ›gute‹, demokratische Bürger*innen ermöglichen, für gesellschaftlichen Wohlstand, Fortschritt und Wachstum sorgen, gleichzeitig Nachhaltigkeit sichern, Prozesse der Technologisierung und Digitalisierung befördern, aber auch kritisch begleiten, als sozialer Kitt und damit integrativ wirken sowie einen Beitrag zu Moral-, Friedens- und Gerechtigkeitsfragen leisten (vgl. auch Ricken 2006; Hodgson 2016). Nicht nur national, sondern auch international ist der Glaube an die Problemlösungskraft von Bildung offenbar immens: Im 2015 aufgelegten Programm »Future of Education and Skills 2030« der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) etwa wird Bildung eine zentrale Rolle nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen im globalen Maßstab zuerkannt. Die Aufgabe, die die OECD Bildung zuschreibt, umfasst nichts Geringeres als junge Menschen zu befähigen »[to] participate in shaping a future that improves the well-being of individuals, communities and the planet« (OECD 2019: 9).
1
Ich danke meinen Kolleg*innen Angela Janssen, Patrick Bernhard und Kai Wortmann für ihre hilfreichen Kommentare und Anmerkungen.
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Anne Rohstock
Die Beispiele könnten mühelos erweitert werden. Bildung, das machen diese deutlich, wird offenbar weltweit großer Wert zugeschrieben – sowohl als individuelles »Moment transformatorischer Lernprozesse« als auch als Motor für umfassende Transformationsprozesse der Gesellschaft (Ricken 2006: 17). Und auch aus monetärer Perspektive deutet einiges darauf hin, dass Bildung wertgeschätzt wird: der ›Preis‹, den sich Länder und private Haushalte Bildung weltweit ›kosten‹ lassen, ist einer Gruppe von Bildungshistoriker*innen um die Schwedin Anne Berg zufolge hoch: Diese Gruppe führt von der OECD aufgestellte Statistiken an, wonach die OECD-Mitgliedsstaaten 2004 im Durchschnitt 5,8 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgaben (Berg et al. 2015: 3). Ebenso zeigen kürzlich von der UNESCO bereitgestellte, ländervergleichende Daten sowohl aus dem Globalen Norden als auch aus dem Globalen Süden eine offenbar weltweite Tendenz an: »the world is expanding government funding for education today« (Roser/Ortiz-Ospina 2020: o. S.). Auch wenn hier noch recht unbedarft von ›Wert‹, ›Preis‹ und ›Kosten‹ der Bildung die Rede ist und die aufgerufenen Daten detaillierter analysiert und differenzierter betrachtet werden müssten: Erstaunlich scheint vor allem, wie selbstverständlich und unhinterfragt eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Akteuren weltweit Bildung als gleichsam natürlichen Weg zur Lösung anstehender Probleme begreift und damit als ›wertvoll‹ setzt. Diese »Valorisierung« von Bildung, also die »Aufladung mit Wert«, lässt sich in Anlehnung an Steffen Mau als »soziokulturelle Praktik der Inwertsetzung« verstehen (Mau 2019: 16). Dinge, denen wir Wert beimessen – in diesem Fall: Bildung – sind aus dieser Perspektive nicht als überzeitliche und universale Essenzen zu begreifen, deren eingeschriebener, ›natürlicher‹ Wert nur noch »entdeckt« oder »gemessen« werden müsste (ebd.). Der »Wert oder Werte von etwas«, so Mau unter Berufung auf Doganova, stehen demnach nicht vorgängig fest, sondern müssen zuallererst »etabliert, eingeordnet, verhandelt, provoziert, erhalten, konstruiert und/oder herausgefordert werden« (Doganova 2014: 87, zitiert nach: Mau 2019: 16). Bildung, so ließe sich stark pointiert formulieren, ist also nicht wertvoll an oder in sich. Ihr Wert ist vielmehr sozial ›produziert‹, ›hergestellt‹ und ›gemacht‹. Damit soll nicht suggeriert werden, dass Bildung nicht tatsächlich große Bedeutung etwa für die gesellschaftliche Klassifikation von Individuen, für gesellschaftliche Aufstiegschancen oder die Emanzipation des Bildungssubjekts zukommt. Aber eben jene Aufladung mit Wert wird häufig als selbstverständlich hingenommen. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich demgegenüber mit der Frage, wie sich dieses Denken
Wie wir Bildung schätzen lernten
historisch entwickeln konnte und warum es heute noch Bestandteil unserer Gegenwart ist. Wenn aber die Valorisierung von Bildung über soziale Praktiken erfolgt und ihr Wert in diesem Sinne immer wieder neu verhandelt, justiert und erzeugt werden muss, ist diese bildungsspezifische Wertsetzung prinzipiell auch eines: anders vorstellbar. Damit wohnt dem Wert, den wir Bildung zuschreiben, ein eminent historisches Moment inne. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Vorstellung, Bildung sei ein »Allheilmittel« für die Lösung komplexer individueller, gesellschaftlicher und globaler Probleme, ist die Tatsache (El-Mafaalani 2019: 18, 32), dass wir Bildung wertschätzen, viel eher Resultat komplizierter, machtbesetzter historischer Aushandlungspraktiken.2 Ich versuche zu zeigen, wie der Wert der Bildung geschichtlich hervorgebracht wurde, in Gesellschaften der Spätmoderne aber so oft reproduziert worden ist, dass er schließlich zu einem »Mythos« wurde. Der Begriff »Mythos«, der u.a. von Roland Barthes geprägt wurde, bezeichnet dabei eine Botschaft, die sich so weit in die Dinge und die Strukturen zurückgezogen hat, dass sie nicht mehr einfach beobachtet werden kann. Die Botschaft ist ihrer Geschichtlichkeit und damit ihres konstruierten Charakters beraubt, sie existiert selbstverständlich, ist ›naturalisiert‹ worden (Barthes 1964). »Geschichte«, so hat es der Historiker und Kulturwissenschaftler Philipp Felsch auf den Punkt gebracht, ist in »Natur verwandelt« worden (Felsch 2016: o. S.). Indem ich den Wert der Bildung als »Mythos« bezeichne, mache ich darauf aufmerksam, dass eine Wertzuschreibung, die historisch kontingent ist, uns heute über ihre stete Neuerfindung und Aktualisierung zur zweiten Natur geworden ist, die kaum jemals hinterfragt wird. Natur, so könnte man den Gedanken Felschs fortspinnen, lässt sich aber auch wieder in Geschichte zurückübersetzen. Genau dies ist Anliegen des vorliegenden Aufsatzes. Er fragt aus kulturhistorischer und praxisgeschichtlicher Perspektive danach, wie wir Bildung schätzen lernten, wie es also historisch zu erklären ist, dass Bildung in Gesellschaften der Spätmoderne gleichsam ubiquitär wertgeschätzt, also – recht abstrakt – mit Bedeutung und Wert jenseits eines konkret zu benennenden Preises aufgeladen wird. ›Schätzen‹ verwende ich in meinem Text aber nicht nur im Sinne von ›wertschätzen‹,
2
Das angesprochene ›Resultat‹ ist allerdings nicht deterministisch und/oder geschichtsphilosophisch-teleologisch zu denken: Geschichte wohnt keine Notwendigkeit inne.
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Anne Rohstock
sondern auch im Sinne von ›berechnen‹, ›beziffern‹, ›quantifizieren‹ oder ›kalkulieren‹. Die Frage, wie Gesellschaften der Spätmoderne Bildung schätzen lernten, zielt demnach auch darauf, warum und in welchen geschichtlichen Kontexten es als wichtig und notwendig erachtet wurde, Bildung messbar zu machen, sie numerisch abzubilden, zu berechnen, in international vergleichenden Statistiken zu erheben und zu quantifizieren. Ich unterscheide also geschichtliche Praktiken des ›Wertschätzens‹ als – auch emotionale – Valorisierung von Bildung auf der einen Seite und des ›Wert Schätzens‹ im Sinne des Berechnens und Evaluierens von Bildung auf der anderen Seite. Hierbei greife ich auf theoretische Annahmen der Bewertungsforschung zurück, die sich ihrerseits von John Deweys Unterscheidung in ›prising‹ (hier: Wert schätzen) und ›appraising‹ (hier: wertschätzen) hat inspirieren lassen (vgl. dazu Heintz 2018). Dass beide Praktiken im vorliegenden Artikel zunächst zu analytischen Zwecken getrennt werden, heißt nicht, dass sie nicht aufs engste aufeinander bezogen wären. »What is counted usually counts«, hat der Soziologe Peter Miller diesen Sachverhalt prägnant verkürzt (Miller 2001, zitiert nach Heintz 2008: 117). Im Folgenden werde ich beide Aspekte nicht nur in Bezug zueinander setzen, sondern das Relationsgefüge selbst zum Gegenstand meiner Überlegungen machen. Konkret heißt das: Statt anzunehmen, dass die Vermessung der Bildung in und durch Zahlen objektiv eine Realität abbildet, gehe ich davon aus, dass Zahlen zuallererst Wirklichkeit konstruieren – und zwar selektiv (Tooze 2004; Haas et al. 2019). Die »Objektivität von Zahlen« wäre »folglich kein Sachverhalt, sondern eine Zurechnung« (Heintz 2008: 117). Und es ist diese vermeintliche Objektivität der Zahlen, die wiederum gleichsam im Rücken der Beobachter*in Wertigkeiten setzt, denn »in Zahlen sind immer schon Vorentscheidungen darüber enthalten, was als relevant, wertvoll oder maßgeblich gelten soll« (Mau 2019: 30). Die Berechnung von Bildung im Sinne des Wert Schätzens wäre demnach »eine besondere Form des Schreibens von Wert« (Vormbusch 2012: 24). Valorisierung von Bildung und Berechnung und Evaluierung von Bildung sind folglich eng verbunden (Mau 2019: 31). Oder anders und mit Rekurs auf Miller formuliert: Wir schätzen, was wir schätzen. Dass wir Bildung heute in dem Maße wertschätzen, hängt, so meine These, mit der engen Kopplung von Bildung an transnationale Praktiken ihrer Berechnung zusammen, wie sie sich auf überstaatlichem Level auch und vor allem seit den 1950er Jahren herausbildeten. Der Fokus dieses Artikels liegt deswegen auf den quantifizierenden Praktiken bildungsspezifisch agieren-
Wie wir Bildung schätzen lernten
der internationaler Organisationen, die ich mit Matthias Schmelzer als »contested social and epistemic spaces« beschreibe, »through which historians can observe the production, negotiation, and circulation of ideas, norms and international networks and their interaction with national and local societies« (Schmelzer 2016: 25). Mit der OECD und der UNESCO nehme ich internationale Organisationen in den Blick, die Bildung in der Ära des Kalten Kriegs über Praktiken des Vermessens mit Wert aufluden. Dem Artikel liegt ein genealogischer und transnationaler Zugang zugrunde, der Elemente der Praxis- und Kulturgeschichte undogmatisch verbindet. Es geht mir vor allem darum zu zeigen, dass es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer transnationalen Verdichtung der ehemals primär nationalstaatlich ausgerichteten Praktiken des Berechnens kam und dass dies letztlich zu einer größeren Wertschätzung von Bildung auch in einem internationalen Maßstab führte. Explizit ist es nicht mein Anliegen, Entwicklungen etwa in der Curriculumsund Unterrichtsforschung oder der Bildungsstatistik in einzelnen Ländern vor dem Zweiten Weltkrieg zu untersuchen – die Geschichte des educational measurement reicht – dies ist mir bewusst – in vielen Ländern bis ins 19. Jahrhundert zurück. Auch geht es mir nicht darum zu behaupten, dass sich Praktiken des Berechnens ungebrochen durchgesetzt haben. Gerade in den Ländern, denen die Berechnung von Bildung und Erziehung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs relativ fremd war, trafen diese Praktiken auf Widerstand. Ich argumentiere vielmehr, dass die 1950er und 1960er Jahre gewissermaßen als Vorgeschichte unserer Gegenwart zu begreifen sind. Aus dieser Perspektive zeugen nicht erst die PISA-Studien seit Ende der 1990er Jahre und ihre Aufnahme in Politik und Öffentlichkeit von einer veränderten Wertschätzung der Bildung über Praktiken ihrer Berechnung. Hier ist in der Geschichtsvergessenheit der Debatte häufig verkannt worden, wie langsam und mühsam sich Neuerungen im Bildungsbereich häufig durchsetzen. Das, was in der bundesdeutschen Debatte oftmals ahistorisch als PISA-Schock bezeichnet wurde, brach, so meine Argumentation, eben nicht über Nacht herein, sondern war das Resultat eines sich seit den 1950er Jahren allmählich verdichtenden, vielschichtigen und kleinschrittigen transnationalen Transformationsprozesses. Dieser Prozess verlief nicht zielgerichtet, nicht ungebrochen und nicht linear und kannte in verschiedenen Ländern unterschiedliche Geschwindigkeiten. Der Artikel ist in drei Teile gegliedert. Teil eins beschäftigt sich mit der Valorisierung von Bildung über die Humankapitaltheorie, die maßgeblich über die OECD, aber auch – wie ich zeigen werde – über die UNESCO verbreitet wurde. Teil zwei widmet sich dem Aufstieg fachfremder, internationaler
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Anne Rohstock
Bildungsexperten, die gewissermaßen im Krieg rechnen gelernt hatten, und verfolgt die Institutionalisierung einer quantifizierend und empirisch arbeitenden Bildungsforschung in Westdeutschland. Sie trug mit ihrem ›style of reasoning‹ (Hacking 1991) nicht unerheblich dazu bei, dass wir Bildung heute in der oben beschriebenen Art und Weise wertschätzen. Teil drei bündelt die Ergebnisse. Der Artikel führt vorhandene Literatur zum Thema zusammen, basiert aber auch auf unveröffentlichten Quellen aus dem OECD Archiv Paris, dem Archiv der Max Planck Gesellschaft in Berlin und den National Archives in Washington. Zudem greife ich auf zahlreiche publizierte Quellen wie Schriften der OECD und der UNESCO sowie Biografien wichtiger transnationaler Akteure zurück. Über Wert und Preis in der Bildungsgeschichte liegen bislang kaum Arbeiten vor – generell klaffte mit Blick auf Praktiken des Zählens und Berechnens in der Bildungsgeschichte bis vor kurzem noch eine empfindliche Lücke (vgl. aber Lindblad et al. 2018) – das gilt etwa auch für die Geschichte der Bildungsstatistik (vgl. aber für die Schweiz Rouss 2018 und einzelne Kantone Manz et al. 2015). Allein die Bildungsfinanzierung hat in den letzten Jahren nach langer Durststrecke erstmals vermehrt Aufmerksamkeit erfahren (Überblick bei Barz 2010; Berg et al. 2015). Die OECD und der Einzug der Humankapitaltheorie im Bildungsbereich sind bildungsgeschichtlich erst in letzter Zeit ins Zentrum des Interesses gerückt (Gugerli/Bernet 2011; Geiss 2015; Bürgi 2017; Holden/Biddle 2017; Bürgi/Tröhler 2018; Knewitz 2019; Teixeira 2019; Ydesen 2019). Dabei stehen jedoch zum einen eher selten Valorisierungspraktiken im Vordergrund. Zum anderen fokussieren die meisten Studien auf Bildungspolitik, nicht aber auf die Veränderungen, die internationale Vermessungspraktiken für die Disziplin Erziehungswissenschaft und die internationale Bildungsforschung zeitigten – diese sollen hier zum Gegenstand gemacht werden. Zur Kulturgeschichte der Statistik liegen erste Arbeiten vor, leider spielt Bildung dabei eine untergeordnete Rolle (Tooze 2004; Haas et al. 2019). Die UNESCO ist als Verbreiterin der Humankapitaltheorie bislang selten Gegenstand der bildungshistorischen Forschung gewesen (vgl. aber Jones 1990).
2.
Praktiken des Valuierens und Evaluierens von Bildung im Kontext des Kalten Kriegs
Das Streben nach wissenschaftlicher Objektivität und Neutralität ist keine Folge des Zweiten Weltkriegs, sondern hat eine erheblich längere Geschichte
Wie wir Bildung schätzen lernten
(Daston/Galison 2007). Der Krieg wirkte aber noch einmal als Katalysator für den Bedeutungszuwachs der rationalen, objektiven Methoden und Verfahren der Naturwissenschaften in vielen Wissenschaftsbereichen und der Politik (Smith 1994). Aus Sicht vieler Nordamerikaner*innen und befördert durch den Einfluss, den die naturwissenschaftliche Elite des Landes auf den öffentlichen Diskurs in der Nachkriegszeit hatte, waren es die rationalen, objektiven Methoden und Verfahren der Naturwissenschaften, die die faschistischen Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg niedergerungen und den Sieg über Nazideutschland möglich gemacht hatten (Rudolph 2002; Rohstock 2014, 2015). Wie der berühmte Report von Vannevar Bush, Direktor des US-amerikanischen Office of Scientific Research and Development, bereits im Juli 1945 festhielt, sollten eben jene objektiven Verfahren der naturwissenschaftlichen Kriegsforschung in Zeiten des Friedens auf zivile Bereiche ausgeweitet werden (Bush 1945: Kapitel 4). Praktiken der Quantifizierung erhielten in diesem Kontext eine große Bedeutung. Sie stellten zum einen die Basis dafür dar, dass nach 1945 die internationale Koordination der Aufbauprogramme effektiv in Angriff genommen werden konnte. Vor allem in den USA war die Angst vor wirtschaftlichen Rezessionen hoch. Noch allzu deutlich stand den Zeitgenossen die »Great Depression« nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vor Augen – ähnliche Fehler galt es nun zu vermeiden (Schmelzer 2016). Zum anderen machte insbesondere die Blockkonfrontation im Zuge des Kalten Kriegs einen neuen ›style of reasoning‹ (Hacking 1991) attraktiv, der sich mit seiner metrischen Weltsicht ideologiefrei gab – und zwar auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs (Tröhler 2013). Daten schienen wert- und ideologiefreie Fakten zu liefern, Zahlen unbestechlich die Realität abzubilden. Nicht selten wurden Datenerhebungen und Praktiken des Quantifizierens mit dem neuen ›scientific way‹ gleichgesetzt, der in alle Bereiche des individuellen und kollektiven Lebens vordringen sollte (Ward 2004). Die Praktiken der Quantifizierung in der Nachkriegszeit knüpften zwar einerseits an Methoden an, wie sie seit dem 19. Jahrhundert entwickelt worden waren. Andererseits waren es gerade die wissenschaftlichen Verfahren im Zweiten Weltkrieg, die vermeintlich kriegsentscheidend gewesen waren, die handlungsleitend für die Berechnungspraktiken nach 1945 wurden. Insbesondere Operational Research Verfahren, wie sie sich im Zuge der Kriegswissenschaft in England herausgebildet hatten und später in den USA unter dem Namen Operation Research adaptiert wurden, übertrugen Kriegswissenschaftler in der Nachkriegszeit auf zivile Bereiche (Rohstock 2011; Thomas
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2015; Bürgi 2017; Bürgi/Tröhler 2018). Hierbei handelte es sich um statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die im Krieg in der Radarüberwachung und in der militärischen Planung eingesetzt worden waren. Der schottische Chemiker Alexander King, der im Zweiten Weltkrieg Leiter der UK Scientific Mission in der Britischen Botschaft in Washington gewesen war, und in den 1960er Jahren als erster Generaldirektor für Bildung und Wissenschaft in der OECD fungierte, gibt in seiner Autobiografie zu Protokoll, Operational Research »was applied during the war to the use of scientific logic and simple statistical methods for the analysis and optimization for defence operations« (King 2006: 163). Unter dem Namen Systems Analysis wurden diese Verfahren in der Nachkriegszeit auf »problems of broader context and longer range« erweitert (Hitch 1955) – und fanden auch im internationalen Bildungsbereich Anwendung (Bürgi 2017). Hier trieb eine Reihe von internationalen Experten um die OECD-Männer Alexander King und Philip H. Coombs vor allem die Frage um, wie Bildungssysteme auf einem internationalen Level quantitativ vergleichbar gemacht werden könnten (Bürgi/Tröhler 2018: 77). Bildung international berechnen zu können schien notwendig, weil eine Allianz aus führenden ehemaligen Kriegswissenschaftlern und hochrangigen Bildungspolitikern in den USA das Bildungssystem in der Folge des Sputnik-Schocks als Verteidigungssystem im nun anbrechenden Kalten Krieg entworfen hatten (Rudolph 2002). Dass diese Analogie zwischen Bildungs- und Verteidigungssystem bestimmend wurde, zeigt sich zum einen in der Ende der 1950er Jahre eingeleiteten Curriculumreform (Rudolph 2002; Tröhler 2013; Rohstock 2014). Zum anderen wird die Analogie offenbar in der Verabschiedung des National Defense Education Act 1958 (Urban 2010; Tröhler 2013) sowie in der Tatsache, dass das US-amerikanische Office of Education das Bildungs- und Erziehungswesen der Sowjetunion umfassend evaluieren ließ (vgl. etwa NAW, RG 12, Box 41). Doch nicht nur in den USA, sondern auch global wurde die Angst vor einem Zurückfallen der westlichen Welt im existenziellen Kampf der Blöcke geschürt: Es war Coombs, der das entscheidende »background document« für eine Konferenz in Williamsburg im Jahr 1967 schrieb (Tjeldvoll 2000: 150), auf der eine »world crisis« in education ausgerufen wurde (Bürgi 2017: 153).3 ›Verwissenschaftlichung‹ im Sinne von Bildungsplanung und numerische Berechnung von Bildung erhielten in diesem Kontext exakt die Aufgabe, die Alexander
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Als deutsche Vertreter nahmen Hellmut Becker, Hans Reimers, Friedrich Edding und Hans Leussink teil (vgl. Becker 1967).
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King in seiner Biografie als Aufgabe der Operational Research Verfahren beschrieben hatte: Es ging darum, das ›Verteidigungssystem‹ – damit war das Bildungssystem gemeint – über seine wissenschaftliche Planung und Berechnung zu ›optimieren‹. Die Voraussetzungen dafür waren allerdings in der Nachkriegszeit noch nicht geschaffen (Tröhler 2014). Bildungsstatistiken, die aus heutiger Sicht einen unhintergehbaren Standard darstellen und als eine scheinbar zeitlose Tatsache erscheinen, waren am Ende des Zweiten Weltkriegs sowohl auf nationaler, viel mehr aber noch auf internationaler Ebene erst in rudimentärer Form vorhanden (Godin 2008; Bürgi 2017). Politische Entscheidungen auf der Basis vorhandener Daten zu treffen, hatte sich vor allem als internationaler Grundsatz 1945 noch nicht etabliert und war alles andere als unumstritten. Die Statistik generell, die im Zweiten Weltkrieg aufgrund der Kriegshandlungen erhebliche Probleme bei der Datenerhebung zu bewältigen hatte, war zu diesem Zeitpunkt noch ein eher randständiges wissenschaftliches und politisches Tool (Schweber 2002). Zwar hatten nationale Regierungen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Daten erhoben – statistische Ämter etablierten sich vielerorts bereits im 19. Jahrhundert. Die Datenerhebung, -erfassung und -auswertung erfolgte aber zumeist in einer weder sonderlich »kohärenten« noch »koordinierten« Art und Weise (Ward 2004: 34). Zudem wurden viele Statistiken, die oftmals von einzelnen nationalen Ministerien zusammengestellt wurden, nicht in allen Fällen systematisch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (ebd.), blieben also dem Arkanbereich des Staates vorbehalten. Standardisierte internationale Bildungsstatistiken mussten sich in der Nachkriegszeit erst mühsam entwickeln und vor allem gegen Widerstände durchsetzen. Wie eng Praktiken des Berechnens und Evaluierens dabei mit Wertzuschreibungen zusammenhingen, ja wie Berechnungspraktiken Wertschätzung zuallererst möglich machten, zeigt sich sehr deutlich an der allmählichen Herausbildung eines »Wachstumsparadigmas« seit den späten 1940ern und frühen 1950er Jahren, das erhebliche Auswirkungen auch auf den Bildungsbereich hatte (Schmelzer 2016). Mit dem Begriff des Wachstumsparadigmas beschreibt Schmelzer ein Ensemble von diskursiven Formationen, in denen Ökonomen Wachstum und Wirtschaft erstmals systematisch aufeinander bezogen, berechenbar machten und mit normativem Wert aufluden. Im Bereich der Ökonomie gab es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs keine kohärente Wirtschaftsstatistik, was vor allem damit zusammenhing, dass sich entsprechende Messgrößen noch nicht etabliert hatten. Heute so zentrale Kenngrößen wie das Bruttoinlandsprodukt fehlten und es
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war folglich höchst umstritten, wie sich ›die Wirtschaft‹ in ihrer Gesamtheit überhaupt definieren ließ (ebd.: 91). Erst in den späten 1940ern und frühen 1950er Jahren setzte sich ein international standardisierter Referenzrahmen für die Berechnung des Volkseinkommens und mit ihm die Idee durch, dass sich eine Volkswirtschaft über das Bruttosozialprodukt/Bruttoinlandsprodukt konstituiere (ebd.: 94). Damit waren nicht nur die statistischen Grundlagen für die Berechnung wirtschaftlichen Wachstums gelegt, sondern auch die Voraussetzung für seine Wertschätzung. Mit der Berechenbarkeit schwanden die bis dato in der scientific community vorhandenen erheblichen Unsicherheiten darüber, was ›Wachstum‹ überhaupt ausmache. Erst jetzt ließ sich die »Größe« eines Landes an sein Wachstum koppeln, erst jetzt wurde Ländern mit hohen Wachstumsraten »vitality«, »vigor« und »strength« zugeschrieben, erst jetzt wurde Wachstum zu einem normativ aufgeladenen Begriff und zum Synonym für alle möglichen »good things«, nicht zuletzt des »human well-being« (Schmelzer 2016: 186). Die OECD, die 1961 gegründete Nachfolgeorganisation der im Kontext des Marshallplans 1948 errichteten OEEC, war das internationale Forum, in dem das »Wachstumsparadigma« am wirkmächtigsten verhandelt und ausgeprägt wurde (ebd.: Bürgi 2017). Und sie war es auch, die Wachstum auf den Bildungsbereich bezog und damit die Humankapitaltheorie, wie sie in der Chicago School of Economics um Theodore W. Schultz, Jacob Mincer und Gary S. Becker entworfen worden war, weltweit verbreitete (Schmelzer 2016). Obwohl die Zugänge der drei Ökonomen durchaus Unterschiede aufweisen, die hier nicht detailliert nachgezeichnet werden können, machten alle drei den Begriff des Humankapitals populär und führten ihn als vierten Produktionsfaktor neben Land, Kapital und Arbeit ein (Gugerli/Bernet 2011: 436). Humankapital wurde dabei insbesondere von Becker als all das aufgefasst, »was als produktive Ressource verstanden werden konnte, also nicht nur Muskelkraft und Zeit, sondern auch Bildung, Erfahrung, Gesundheit oder Beziehungen« (ebd.). Bildung konnte auf diese Weise als Investition gesehen werden, die mit dem wirtschaftlichen Wachstum von nationalen Volkswirtschaften in unmittelbarem Zusammenhang stand. Die Humankapitaltheorie der 1960er Jahre verstärkte interessanterweise einen Diskurs, in dem Bildung seit den späten 1940er und frühen 1950er Jahren insbesondere im Umfeld der OEEC und der European Productivity Agency, als deren führender Kopf Alexander King fungiert hatte, an Produktivität gekoppelt worden war (Bürgi 2017: 64ff.). Laut Kings eigenen Aussagen hatte er sich seit Kriegsende bemüht, die Idee, dass Bildung, wie auch Wissenschaft und Technologie, ein Investment und damit
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einen Wachstumsfaktor darstellen könne, auch auf internationalen Plattformen durchzusetzen (King 2006). Diese Annahme beruhte aber mehr auf »Erfahrung« denn auf belastbaren Daten (King 2006: 230; Bürgi 2017: 65; Schmelzer 2016: 206) – und stieß, als sie tatsächlich international vorgebracht wurde, auf erheblichen Widerstand, nicht zuletzt von deutscher Seite (Schmelzer 2016: 199). Bildung und Wissenschaft waren bis dato zumeist auf dem Feld der Kulturpolitik verhandelt worden, selbst Hochschul- und Wissenschaftspolitik, wie wir sie heute kennen, war damals als eigenes Politikfeld noch kaum etabliert (Rohstock 2010). Vor diesem Hintergrund musste die Kopplung von Bildung und Wachstum befremdlich erscheinen – insbesondere in den Staaten, in denen traditionelle Bildungsideen ganz anders konnotiert waren als beispielsweise in den USA. Dort war growth spätestens seit der Bildungsphilosophie John Deweys zumindest als Begriff bekannt, wenn er auch von Dewey und der progressive education nicht rein ökonomistisch aufgefasst wurde (Oelkers 2009). King selbst hielt die Herstellung des Zusammenhangs zwischen Bildung und Ökonomie für »gefährlich« (King 2006: 272). Die OECD und Alexander King zeigten sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Unsicherheiten von der Presidential Address Theodore W. Schultz’ vor dem 73. Kongress der American Economic Association im Jahr 1961 (Schultz), auf der er die Humankapitaltheorie unter dem Titel »Investment of Education« populär machte, »impressed« (King 2006: 272). Die im gleichen Jahr folgende Bildungskonferenz in Washington, die mit Unterstützung der OECD und den »best available experts on both sides of the Atlantic« vorbereitet worden war, trug den noch keineswegs etablierten Zusammenhang von Bildung und ökonomischem Wachstum dann bereits im Titel: »Economic Growth and Investment in Education« (ebd.). Bezeichnend ist, dass King den von Ingvar Svennilson, Friedrich Edding und Lionel Elvin für die Konferenz verfassten Bericht, für den »most sophisticated attempt« hielt, den es bis dato in der Verbindung zwischen Bildung und Ökonomie gegeben hatte (ebd.). Denn die kausale Verbindung von Wachstum und Bildung stand nach wie vor auf wackeligen empirischen Füßen und war auch innerhalb der OECD selbst alles andere als unumstritten (Bürgi 2017: 108). Einiges spricht deswegen dafür, dass die Koppelung von Bildung und Wachstum und damit die Aufladung von Bildung mit ökonomischem Wert erst in dem Moment durchsetzungsfähig wurde, als es der OECD gelang, die Daten zur Verfügung zu stellen, die diese Annahme mit dem nötigen quantitativen Rückhalt versahen. Auch wenn diese Daten selbst bis 1963 – als der erste internationale Standard für das Sammeln wissenschafts- und
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bildungsspezifischer Daten erschien und als Frascati Manual in die Geschichte einging (Schmelzer 2016: 210) – statistisch noch kaum elaboriert waren: Viel entscheidender als die Validität der Daten dürfte die Wirklichkeit gewesen sein, die sie schufen. Allein die Möglichkeit des quantitativen Vergleichs, den die seit Beginn der 1960er Jahre bereitgestellten Daten zwischen den Bildungssystemen der einzelnen Mitgliedsstaaten untereinander erstmals möglich machten, schuf eigene Fakten. Jetzt ließen sich Gewinner und Verlierer ausmachen, höhere und niedrigere Entwicklungsstufen identifizieren und Abstände zwischen Ländern in Zahlen ausdrücken (OECD 1967; OECD 1975). Als Georg Picht in Westdeutschland 1964 die bundesrepublikanische »Bildungskatastrophe« ausrief, tat er dies – und das ist bislang wenig beachtet worden – auf Basis der Daten der OECD. Und auch die Diagnose eines »Leistungs- und Modernitätsrückstand[s]« Westdeutschlands, der von Bundeskanzler Ludwig Erhard aufgegriffen wurde, stützte sich auf die Ergebnisse des ersten OECD-Länderexamens für die Bundesrepublik (Tjeldvoll 2000; Hepp 2011: 122). Die ersten ländervergleichenden Surveys der OECD wurden, so gibt auch Alexander King zu Protokoll, als »league tables of technological progress« gelesen und sorgten tatsächlich für vermehrte Investitionen der jeweiligen nationalen Regierungen in den Bildungsbereich (King 2006: 241). Bildung und Wachstum wurden seit den 1960er Jahren immer stärker aneinandergeknüpft, wobei eine bildungsspezifische Prägung des generellen Wachstumsdiskurses vor allem über die Koppelung von Bildung und Entwicklung bzw. education und development stattfand (Bürgi 2017). Über Zahlen und Statistiken ließen sich Entwicklungsstufen ausmachen, die Bildungssysteme von Ländern konnten über- oder unterdurchschnittlich entwickelt sein und auch einzelne Individuen ließen sich als bessere oder schlechtere Lerner*innen identifizieren. Wie durchsetzungsfähig und weitgehend die Valorisierung von Bildung über ihre Berechnung auf diese Weise war, lässt sich auch an den bildungsspezifischen Diskursen und Praktiken einer Organisation ablesen, die von der bildungsgeschichtlichen Forschung zumeist als primäre Vertreterin eines internationalen Humanismus gesehen wird: die UNESCO. Auch in der UNESCO, die nach eigenen Angaben eng mit der United Nations Economic Commission und der International Bank zusammenarbeitete (AMPG, ZA 80, Kasten 28a), stellten Bildungsziele wie Lesefähigkeit zu Beginn der 1960er Jahre offenbar keinen rein intrinsischen Wert dar. Hier zeigte sich die Universal Literacy Campaign der UNESCO der 1960er Jahre stark beeinflusst durch die US-amerikanische Kritik, die von wissenschaftlicher Seite an dem Programm
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laut wurde. In einem Kommentar von Adam Curle von der Harvard Graduate School of Education heißt es: »literacy is not an aim in itself, it must be linked with the general work of economic and social development« (NAW, RG 12, Box 159: 9). In dem Kommentar wird deutlich, dass jene Individuen, die nicht alphabetisiert waren, als »weak links in the whole chain of development« gesehen wurden. Analog charakterisierte Curle die Länder, die eine hohe Rate an Analphabeten aufwiesen, als in einer »economic straight jacket« gefangen, die abgeschüttelt werden müsse, »if true progress is to be made« (ebd.: 11). Wie verschiedentlich deutlich gemacht wurde, setzte sich die in dem Papier vertretene Auffassung innerhalb der UNESCO recht schnell durch und bereitete den Raum für ein funktionalistisches Bildungsverständnis innerhalb der Organisation (Jones 1990: 54ff.; Rassool 1999: 103). Die UNESCO trug damit auf ihre Weise dazu bei, dass sich Bildung zu einem wertgeladenen »status symbol« herausbilden konnte (NAW, RG 12, Box 159: 19). Die ökonomische Valorisierung von Bildung wurde zwar einerseits durchaus aktiv und intentional betrieben – insbesondere von amerikanischer Seite. Andererseits darf man sich die Durchsetzung des Wachstumsparadigmas nicht unilinear, an die Handlungsmacht einzelner Individuen oder Organisationen geknüpft oder ungebrochen vorstellen. Zum einen war Wachstum in den 1960er Jahren noch mit anderen Werten aufgeladen, wurde also nicht immer und überall an wirtschaftliches Wachstum gekoppelt. Der amerikanische Kognitionspsychologe und wissenschaftspolitische Berater Jerome Bruner etwa trug maßgeblich dazu bei, Wachstum vor allem kognitiv zu fassen (Bruner 1964). Mit der Verbindung von Wachstum und Entwicklung knüpfte er an eine lange Tradition der Psychologie um Jean Piaget an. In dieser psychologischen Ausrichtung war Wachstum zunächst einmal nicht ökonomisch validiert, stellte aber insofern auch keinen Gegendiskurs dar, als die Auffassung von Individuen als sich selbst steuernde und aktualisierende, kybernetische Systeme mit dem ökonomischen Wachstumsparadigma durchaus kompatibel war. Hier zeigt sich, dass es offenbar ganz unterschiedliche diskursive Formationen und Elemente waren, die sich im Wachstumsdiskurs miteinander verbanden und auf diese Weise erst Macht und Durchsetzungskraft entfalteten. Zum anderen sah sich das Wachstumsparadigma in den 1960er Jahren durchaus starken Widerständen gegenüber – sei es durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, die Cultural Studies in den USA und Großbritannien, den Feminismus oder die internationale Studierendenbewegung der späten 1960er Jahre. Drittens schließlich darf der Wandel nicht unterschätzt werden, den der Begriff des Wachstums seit den 1960er Jahren
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durchlebte. Es gab nicht einen Wachstumsbegriff, sondern viele verschiedene; Wachstum musste immer wieder neu erfunden, angepasst und justiert werden. Interessanterweise waren es die Experten der OECD selbst, die schon früh mahnten, dass es Grenzen des Wachstums gebe (Bürgi 2017). Bekanntermaßen wurden diese durch den Club of Rome im Jahr 1973 ganz offiziell ausgerufen (Schmelzer 2016). Und dennoch scheint es, als habe sich die Aufladung von Bildung mit ökonomischem Wert, wie sie in den 1960er Jahren erfolgte, bis heute erhalten können. Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, hatte dies nicht unwesentlich mit dem wachsenden Einfluss rechnender Experten in der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung sowie der Institutionalisierung der empirisch-quantitativ arbeitenden internationalen Bildungsforschung in der Ära des Kalten Kriegs zu tun. Dies gilt vor allem für Länder wie (West-)Deutschland, in denen diese Forschung keine entsprechende Tradition wie etwa in den USA aufweisen konnte.
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Rechnende Experten, ›Denkstile‹ und die Institutionalisierung der Bildungsforschung
Für die Datenerhebung und -auswertung waren Experten notwendig, die rechnen konnten. In diesem Kontext bildete sich ein internationales Muster heraus: Es waren vor allem fachfremde, d.h. nicht pädagogische Experten aus den Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Statistik und Psychologie, weiße Männer jüngeren und mittleren Alters, denen in der Nachkriegszeit Karrieren als internationale Bildungsexperten offen standen. Sie hatten im Zweiten Weltkrieg rechnen gelernt – auch hier ist die Verbindung zwischen Bildungsforschung und Kriegsforschung in der Nachkriegszeit mit Händen zu greifen. Der westdeutsche Bildungsforscher Friedrich Edding etwa, der an der OECD-Konferenz 1961 teilgenommen und sie vorbereitet hatte, war als Statistiker im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete bzw. im Wirtschaftsstab Ost eingesetzt worden und in dieser Funktion rechnend und planend an der Ausbeutung der Sowjetunion beteiligt gewesen (Rohstock 2019). Der Schwede Torsten Husén, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer der anerkanntesten Bildungsforscher weltweit und u.a. an den ersten internationalen Leistungstests der Association for the Evaluation of Educational Achievement in leitender Funktion beteiligt, führte als Militärpsychologe in der schwedischen Armee Eignungstests an schwedischen Soldaten durch – diese Art der angewandten Psychologie hat ihn nach eigenen Angaben stark
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geprägt (Tjeldvoll 2000: 12). Gleiches gilt auf amerikanischer Seite für den späteren Kognitionspsychologen Jerome Bruner (Bruner 1983), aber auch für den westdeutschen Bildungsexperten und Psychologen Heinrich Roth (vgl. Brumlik 2014; Hoffmann-Ocon 2014) sowie eine Reihe von weiteren Experten aus den Niederlanden (etwa Jan Tinbergen; vgl. Tinbergen 1958, 1975; vgl. zur Rolle Tinbergens in der OECD kurz Bürgi 2017; Teixeira 2019), Belgien (Gilbert De Landsheere; vgl. De Landsheere 1975; zur Mitgliedschaft De Landsheeres in der Educational Research Policy Group in der OECD vgl. AMPG, ZA 80, Nr. 301) und Luxemburg (Gaston Schaber; vgl. Lenz/Rohstock 2018) – die Liste ist nicht vollständig, könnte aber mühelos erweitert werden. Auch wenn die Ausbildung dieser Experten im Zweiten Weltkrieg wenig überraschend ist, schließlich stellte der Krieg eine gemeinsame biografische Erfahrung der ersten Nachkriegsgeneration der empirischen Bildungsforscher dar: Es waren eben jene Kriegserfahrung und die akademische Sozialisation der Männer in nicht-pädagogischen Disziplinen, die in der Bildungsforschung nach 1945 für die Herausbildung eines neuen ›Denkstils‹ sorgten (Ludwik Fleck). So unterschiedlich die rechnenden Experten auch gewesen sein mögen, was Herkunft, Sozialisation, Persönlichkeit und individuelle Werthaltungen angeht: Viele dieser Männer kamen aus quantifizierend arbeitenden Wissenschaften und hatten im Krieg am eigenen Leib erfahren, wie viel von der Bereitstellung von Daten und exakten Berechnungen für die Planung und das Funktionieren eines ›Systems‹ abhing. Selbst wenn sie das nach 1945 nicht in jedem Einzelfall zu Vertretern einer allein quantifizierend arbeitenden Bildungsforschung machte (siehe etwa Heinrich Roth und Jerome Bruner), lässt sich doch an ihrem Nachkriegshandeln ablesen, dass sie die ›Verwissenschaftlichung‹ von Bildung – verstanden als Orientierung an einer datenfundierten Planung – durchweg unterstützten (für die Bundesrepublik vgl. AMPG, ZA 80, Nr. 299; für Husén vgl. Tjeldvoll 2000). Der Zweite Weltkrieg und dessen Praktiken des Berechnens bildeten auf diese Weise den Referenzrahmen, vor dessen Hintergrund sich seit den 1950er Jahren eine funktionalistische, empirieorientierte und mathematisierte Auffassung von Bildung herauszubilden begann, die ihrerseits wertbildend wirkte. Dass die Experten selbst die Voraussetzungen und Prämissen ihres Denkstils für wertneutral und objektiv hielten (Schmelzer 2016; Bürgi 2017), ist Teil der Funktionslogik einer cold war rationality. Mit diesem Begriff bezeichnet eine Gruppe von Wissenschaftshistoriker*innen die Hervorbringung eines neuen rationalisierten, mathematisierten Denkstils in der Ära des Kalten Kriegs (Erickson et al. 2013). Auch wenn dieser Denkstil nicht in allen Ländern
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neu war – die USA und Frankreich etwa haben eine lange Tradition des education measurements – verdrängte er doch im Kalten Krieg zunehmend andere Begründungszusammenhänge und pädagogische Traditionen wie etwa die progressive education und die Bildungsphilosophie John Deweys in den USA oder die der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in Westdeutschland (Lagemann 2000). Unterstützt und gefestigt wurden diese Denkmuster und Praktiken des Berechnens durch die Institutionalisierung entsprechender Forschungen in den 1960er und 1970er Jahren. In fast allen Ländern hatten sich zu diesem Zeitpunkt größere Forschungseinrichtungen außerhalb der bestehenden Universitäten gebildet, die interdisziplinär und international arbeiteten und zu wahren Umschlagplätzen neuer Methoden und Forschungsansätze wurden – für die Bundesrepublik Deutschland waren dies Institutionen wie das Max Planck Institut für Bildungsforschung, das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt a.M. und die Arbeitsgruppe Empirische Bildungsforschung in Heidelberg (OECD ED(72) 14).4 Als die OECD 1974 erstmals den status quo der Bildungsforschung in den Mitgliedsstaaten erhob, zeichnete sie dennoch ein düsteres Bild der gegenwärtigen Situation. Zwar wies der entsprechende, nicht öffentlich zugängliche Report darauf hin, dass »the available information, particularly statistical information, is not only incomplete and uneven in itself but so varied that standardization and comparabilty are almost impossible« (OECD ED(72) 14: 3). Und obwohl aus diesem Grund nur »only very tentative generalisations« (ebd.) möglich sein sollten, waren die Schlüsse, die die OECD aus den vorhandenen Daten zog, weitreichende. Sie machte – analog zum Bildungssystem – verschiedene Entwicklungsstadien der Bildungsforschung in den Mitgliedsstaaten aus. Die untere Entwicklungsstufe, »stage 1«, umfasste Forschung, die als »simple« (ebd.: 4) und als »documentary research« (ebd.: 6) bezeichnet wurde. Sie zeichnete sich nach Meinung des OECD-Berichts dadurch aus, dass sie »scanty«, »free«, »discipline-oriented«, »fragmented« und »detached« sei (OECD ED(72) 14: 4). Demgegenüber war die Bildungsforschung der höheren Entwicklungsstufe (»stage 2«) nach Dafürhalten des Berichts insgesamt »greater in volume and wider in scope«. Sie umfasste sowohl »problem-oriented research«, die als »largely conditioned by and 4
Die von der OECD als Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung in Heidelberg benannte Gruppe firmierte auch unter der Bezeichnung Arbeitsstelle zur Förderung und Pflege wissenschaftlicher Methoden des Lehrens und Lernens.
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involved in policy and practice« gesehen wurde, als auch »academic research of a more fundamental character (OECD ED(72) 14: 4). Zudem sahen die OECD-Experten die Forschung in »stage 2« engagiert in der Erhebung von Unterrichtsmethoden, in den Wandel des Curriculums und in der Bildungspolitik. Außerdem lieferte sie Methoden des Assessments (OECD ED(72) 14: 8). Auch wenn der Bericht allen Ländern bescheinigte, dass sie im Vergleich zu dem umfassenden Bedarf an Bildungsforschung, den die OECD allerdings aufgrund der verfügbaren Daten noch gar nicht hatte erheben können, viel zu wenig in die Bildungsforschung investierten (OECD ED(72) 14: 4), gab es doch Länder, die besser abschnitten als andere. Gelobt wurden etwa Skandinavien, die Niederlande und die Länder des United Kingdom (OECD ED(72) 4: 9). Sie alle hätten, indem sie dem Beispiel der USA gefolgt seien – so die Vermutung der Experten –, die Transition zur höheren Entwicklungsstufe nahezu vollzogen: Indem sie sich an dem Modell von Forschung und Entwicklung, wie es sich etwa in der Physik und der Biologie herausgebildet habe, orientiert hätten, sei es ihnen auch im Bereich der Bildungsforschung gelungen, direkte Lösungen für die akuten Problemstellungen des Bildungsbereichs in der Nachkriegszeit zu initiieren (OECD ED(72) 4: 8). Dazu gehörte nach Ansicht des OECD-Reports sowohl eine Orientierung an den »clients« des Bildungssystems als auch die Ausprägung einer Mentalität, der zufolge das Bildungssystem eines der »delivery systems« darstellte, um »needs« der Gesellschaft zu befriedigen (OECD ED(72) 4: 8). Anders hingegen schätzten die OECD-Experten die Situation in den mediterranen Ländern, aber auch in Frankreich und Deutschland ein: »One can say that among the European countries France, Germany and the Mediterranean countries are on the whole still in stage 1« (OECD ED(72) 4: 8). Hier sahen sie noch Forschung überwiegen, die sich auf der unteren Entwicklungsstufe befinde, vor allem »history and philosophy of education and comparative education« (OECD ED(72) 14: 6) betreibe und sich – gemäß der universitären Forschungstradition – mit ihrer Rolle »of adding to knowledge, understanding and wisdom« zufrieden gäbe (OECD ED(72) 4: 8). Auch wenn der Report immer wieder darauf hinwies, dass er mit Vereinfachungen arbeite und beide Entwicklungsstufen durchaus parallel bestehen könnten, war doch klar, wohin der Weg gehen sollte: »One thing seems clear – that the indirect assistance of the stage I arrangements is no longer adequate, that it is not sufficient for the researcher to sit in his university tower and build up theoretical knowledge, however valid. Modern R & D is active, supportive, participative with a wide range of
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functions, providing technical and evaluative support for reform initiatives, providing training and trained people in research skills, informing and suggesting possible lines of policy in pursuit of educational progress« (OECD ED(72) 4: 9, 10). Dabei war sich der Bericht sicher, dass die erforderlichen Neuerungen, die Bildungsforschung auf »stage 2« benötigen würde, vermutlich nicht durch die existierenden Universitäten geleistet werden könnten: »Though there is great virtue in the university dedication to research and in the academic tradition, it seems unlikely that one will achieve through existing departments of education the threshold of effort or the interdisciplinarity which are essential to research for a more modern system of education. University structures are still too rigid to allow rapid change or the degree of positive discrimination or concentration which seems to be necessary« (OECD ED(72) 14: 5). Abgesehen von dem Vorschlag, lediglich ein nationales Forschungszentrum pro Mitgliedsland zu etablieren, das in der Nähe von Universitäten zu errichten war, um auf bereits existierende Infrastrukturen wie Bibliotheken oder Computer zurückgreifen zu können, sah der OECD-Report vor allem eine Lösung: eigene Expert*innen auszubilden, über die eine Forschungsentwicklung Richtung »stage 2« forciert werden konnte. Befördert durch die immer umfassender werdenden Aufgaben internationaler Organisationen im Bereich der Bildungsforschung à la »stage 2«, gelang es zahlreichen internationalen Organisationen in der Folgezeit erstaunlich gut, ihre eigenen Expert*innen zu schulen, die – anders als die Generation der Kriegswissenschaftler*innen – zumeist gar keine rein nationale institutionelle Forschungsbasis mehr hatten. Exemplarisch lässt sich dies etwa an Karrieren wie der Hans Weilers ablesen (Rohstock in Vorbereitung): Als junger Doktorand in der Arbeitsstelle zur Förderung und Pflege wissenschaftlicher Methoden des Lehrens und Lernens in Heidelberg (vgl. die weiter oben aufgeführte Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung) wurde Weiler zunächst von den USA sowie dem damaligen Direktor des MPI für Bildungsforschung, Hellmut Becker, unterstützt und stieg in der Folge zum Leiter des Institute of Educational Planning in Paris auf. Später wechselte er an die Stanford University und beeinflusst bis heute Bildungs- und Hochschulpolitik im nationalen und internationalen Raum in entscheidendem Maße. Bekanntlich war es Hans Weiler, der sich auf dem Münchner Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erzie-
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hungswissenschaft (DGfE) im Jahr 2002 öffentlich dafür aussprach, das Fach Pädagogik komplett abzuschaffen und die eigentlich relevante Wissenschaft – die empirische Bildungsforschung – auf einer »Insel« neu zu konzipieren (Gruschka 2004: 11). Obwohl in dem zitierten OECD-Report an verschiedenen Stellen aufscheint, dass die angestrebte enge Verquickung von Bildungsforschung und Bildungspolitik von den OECD-Expert*innen selbst keineswegs als unproblematisch empfunden wurde, scheinen sich langfristig gesehen die kritischen Stimmen nicht haben durchsetzen können. Nicht zuletzt über die enge Verbindung zwischen Bildungsforschung und Bildungspolitik – exemplarisch verkörpert durch an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik arbeitenden, einflussreichen Männern wie Hellmut Becker – wurden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs »new attitudes« in der Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik hervorgebracht. Sie ließen die alte, in methodologischen und disziplinären Traditionen verhaftete Pädagogik hinter sich und luden über Praktiken des Quantifizierens und Berechnens Bildung mit ökonomischen und emotionalem Wert auf (OECD ED(72) 14: 4).
4.
Fazit
Beeinflusst durch die Wissenschaftsentwicklungen im Zweiten Weltkrieg und den Bedeutungszuwachs der Naturwissenschaften, radikalisierte sich nach 1945 »der Vermessungsimpuls der Aufklärung« in vielen Gesellschaften der westlichen Welt noch einmal spürbar (Simanowski 2014: 15) – und ließ auch Bildung nicht unberührt. Exemplarisch abzulesen ist dies am Einzug der Humankapitaltheorie in den Bildungsbereich, womit die »Monetarisierung der Schätzung«, also »das Messen des wirtschaftlichen Werts von marktfremden Gütern« wie Bildung en vogue zu werden begann (Schlaudt 2018: 15). Unter den Auspizien der Humankapitaltheorie wurde Bildung, die in der Bildungsgeschichte zwar seit der Entstehung moderner Schulsysteme eine wirtschaftliche Größe darstellt, aber bis dato selten und nicht flächendeckend als wirtschaftlicher Wert exakt numerisch zu bestimmen versucht wurde, mit einem Preissignal ausgestattet, das bildungsspezifische Konkurrenz und Wettbewerb zwischen Staaten noch einmal erheblich verstärkte. Wettbewerb wurde auf diese Art und Weise zu einem internationalen Bildungsprinzip, das einen gouvernementalen Regulierungsmechanismus darstellt, dessen Regeln erst geschrieben werden mussten (Foucault 2008: 120). Nicht unerheblich für die Vermessung und Valorisierung von Bildung
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war dabei ihre Koppelung an das »Wachstumsparadigma« (Schmelzer 2016), wie es seit den 1950er Jahren durch internationale Organisationen, allen voran die OECD und die UNESCO, hervorgebracht wurde. Angetrieben von der Wissenschaft und zahlreichen internationalen Organisationen etablierte sich seit den 1950er Jahren in der Bildungspolitik ein Politikstil, der sich an Zahlen und damit am vermeintlich »Objektiven zu orientieren« vorgab (Schlaudt 2018: 15; vgl. Hacking 1990). Zwar sehen Theodore M. Porter, Ian Hacking und andere bereits das 19. Jahrhundert als eine Zeit der wachsenden Faszination des Staates und der Politik für Zahlen und Objektivität (Hacking 1991; Porter 1995) und identifizieren in diesem Kontext eine erste Hochzeit der Statistik, die mit einer wahren »avalanche of numbers« einhergegangen sei (Hacking 1990: 5; 1991: 186). Aber diese Statistiken wurden von relativ unabhängig voneinander agierenden Staaten und Regierungen aufgestellt, deren Politik der Quantifizierung sich zwar ähnelte, aber noch kaum supranational oder intergouvernemental koordiniert war (Schmelzer 2016: 24). Zudem waren sie, wenn sie vergleichend operierten, meist deskriptiv angelegt (Spearritt 2003: 1107). Erst in der Nachkriegszeit intensivierten sich die Bemühungen, Bildung international vergleichbar zu machen, zu erheben, zu messen, zu evaluieren, zu standardisieren und dadurch auch global zu harmonisieren (Rohstock und Tröhler 2014). Die large scale studies, wie wir sie heute kennen (Stichwort PISA oder TIMMS), entstanden in dieser Zeit (vgl. aus einer zeitgenössischen Perspektive Husén/Postlethwaite 1996; Pettersson 2014; Lindblad et al. 2018; Sundberg 2019). Nicht nur erlangte Bildung dadurch eine zuvor nie dagewesene globale Sichtbarkeit, denn die aufgestellten Statistiken waren öffentlich zugänglich. Durch die Zahlen wurden erstmals auch Vergleiche zwischen Staaten möglich, Bildungsniveaus konnten identifiziert und Hierarchien erstellt werden. Und dies steigerte nicht nur den Wettbewerb, sondern auch den Wert der Bildung. Die Forderung nach einer ›Verwissenschaftlichung‹ der Bildung, wie sie in den 1960er Jahren erhoben wurde, ist sichtbarster Ausdruck dieser globalen Standardisierungsbemühungen und ihrer Auswirkungen auf nationale Kontexte (Rohstock 2014; 2015; 2019). Dabei spielte auch eine Rolle, dass die Wissenschaften im Zuge der zahlreichen erkenntniskritischen ›turns‹ der 1960er Jahre ihre Selbstentthronisierung als strikt rationale, objektive Wahrheit findende Kraft gleichsam aktiv mit betrieben hatten. Folgt man Robert Simanowski, stellte die Orientierung an Zahlen, Daten, Statistiken und Berechnungen eine Möglichkeit dar, eine Wissenschaft zu rehabilitieren, die sich in dem Moment »entthront« hatte, »als sie den methodischen Skepti-
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zismus gegen sich selbst einsetzte und konsequenterweise ›wahrheitsunfähig‹ geworden war« (Simanowski 2014: 115). Forderten Bildungspolitiker*innen und Bildungsforscher*innen seit den 1960er Jahren also eine ›Verwissenschaftlichung‹ der Bildung, lässt sich dies auch als der Wunsch begreifen, über die Berechnung und Auspreisung von Bildung die verloren gegangene Objektivität der wissenschaftlichen Wirklichkeitsbeobachtung wiederherzustellen. Dass exakt durch diese vermeintlich verobjektivierenden Praktiken des Vermessens Bildung zuallererst mit Wert aufgeladen wurde, ist ein paradoxes Ergebnis des Verwissenschaftlichungsparadigmas. Nicht zuletzt spielte im Kontext der internationalen Vermessung der Bildung und damit ihrer Valorisierung die Neufassung traditioneller Bildungsbegriffe und -konzepte durch den Einfluss der Kybernetik, der Informationstheorie und Computerwissenschaft sowie der Psychologie eine Rolle. Durch den zunehmenden Einfluss von Naturwissenschaftler*innen, Ökonom*innen, Psycholog*innen, Kybernetiker*innen und Informationstheoretiker*innen auf ›Bildung‹, wurde Bildung nicht (mehr) trennscharf von Lernen, Wissensaneignung und Informationsverarbeitung unterschieden, sondern zunehmend in eins gesetzt. Die Versuche der fachfremden internationalen Expert*innen, durch ihre Konzepte des Lernens, der Wissensaneignung und der Informationsverarbeitung an den Bildungsbegriff anzuknüpfen, folgte dabei nicht immer einem naiven Impuls (vgl. Rieger 2003; Hagner/Hörl 2008; Oelkers 2008). Die Kybernetik und die Psychologie etwa waren sehr erfolgreich darin, Autonomie und Selbsttätigkeit – zentrale Begriffe des deutschen Bildungsdiskurses im Neuhumanismus und in der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik – in ihre Konzepte der Selbststeuerung, Rückkopplung und Informationsverarbeitung zu integrieren, nicht ohne allerdings gleichzeitig traditionellere Bildungs- und Lernbegriffe zu mathematisieren und damit erst berechenbar zu machen. Besonders deutlich ist dies in der Lehr- und Lernforschung bzw. der Curriculumsforschung abzulesen (Hof 2018), die gewissermaßen auf der Ebene des Klassenzimmers Messbarkeit schaffte und damit bereits in den 1960er Jahren die internationale Vergleichbarkeit der Leistungen von Schüler*innen ermöglichte. Auf diese Weise trugen internationale Praktiken des Berechnens von Bildung nicht unerheblich zur Herausbildung dessen bei, was Sverker Lindblad, Daniel Pettersson und Thomas S. Popkewitz als »comparativistic paradigm« bezeichnet haben (Lindblad et al. 2018: 5f.). Es bestimmt bis heute den positivistisch-numerischen ›style of reasoning‹ (Hacking 1991) in Gesellschaften der Spätmoderne (vgl. auch Bürgi/Tröhler 2018). Praktiken des Vermessens,
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Berechnens und Vergleichens wurden zu Instrumenten des Regierens, über die zuallererst Hierarchien, Ordnungen und Wertigkeiten erzeugt, aufrechterhalten, verstärkt und reproduziert werden konnten. Über vermeintlich verobjektivierende Praktiken des Vermessens wurde Bildung also nicht nur mit Wert aufgeladen, sie brachte auch Ungleichheiten hervor. Auch wenn die Praktiken des Berechnens und Evaluierens, wie sie sich seit den 1950er Jahren international herauszubilden begannen, in den Folgejahrzehnten immer wieder auf Widerstände stießen und sich keineswegs ungebrochen durchsetzten: Die erheblichen finanziellen Mittel, die den internationalen Organisationen zur Verfügung standen, die Attraktivität ihrer an Zahlen orientierten, vermeintlich objektiven Aussagen über die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen im Kalten Krieg für die Politik sowie der immer größere Einfluss internationaler Experten, die einen ökonomischen und/oder positivistischen Denkstil in die internationale empirische Bildungsforschung trugen, sorgten letztendlich dafür, dass ein Denken hegemonial zu werden begann, das Bildung auf umfassende und nie zuvor dagewesene Art und Weise mit Wert auflud. Die umfassende Wertschätzung von Bildung, wie wir sie heute in Gesellschaften der Spätmoderne beobachten können, hängt also elementar mit Praktiken des Wert-Schätzens und damit mit der Evaluierung und Berechnung von Bildung im internationalen Maßstab zusammen, wie sie sich im Kontext des Kalten Kriegs entwickelten. Obwohl diese Praktiken in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext entstanden, sind sie heute zu einem naturalisierten Mythos geworden, der kaum mehr hinterfragt wird. Das muss jedoch nicht so sein. Eine historisch informierte Erziehungswissenschaft, die Geschichte als Teil der Gegenwart begreift, richtet ihr Interesse genau auf jene machtvollen Ordnungsbildungen ihrer eigenen Gegenwart und wendet sich kritisch gegen deren »vermeintliche Alternativlosigkeit durch die Historisierung ihrer Bedingungen« (Martschukat 2012: 16). Gegenwart, so ließe sich im Anschluss an Martschukat formulieren, ist also aus der Geschichte heraus anders denkbar. Und es ist meiner Meinung nach Aufgabe einer reflexiven Erziehungswissenschaft, über die Historisierung ihrer eigenen disziplinären Bedingungen Alternativen denkbar zu machen. In diesem Sinne sehe ich historisch arbeitende Erziehungswissenschaftler*innen dazu aufgerufen, zur »Konstruktion von Welten« beizutragen, »die in geringerem Maße durch Achsen der Herrschaft organisiert sind« (Haraway 1995: 85).
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Die bildungstheoretische Perspektive Wert und Preis des Schulwissens Heinz-Elmar Tenorth Bildung ist das, was bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man in Schulen lernen musste. (Alltagsweisheit)
Die Ausgangslage für eine Antwort auf die Leitfrage nach Wert und Preis des Schulwissens ist bildungstheoretisch eher paradox und ich könnte mich mit einem juristischen Argument – »nicht zuständig« für Wissen – gleich verabschieden. In der bildungstheoretischen Lehre über die Schule kommt nämlich nicht dem Wissen die zentrale Bedeutsamkeit zu, sondern Einstellungen und Haltungen, Kompetenzen und Fähigkeiten, Normen und Werten, die im Umgang mit Schule den Habitus konstruieren, der den Adressaten allgemeiner Bildung zum handlungsfähigen Akteur in der Welt macht. »Nicht Vielwissen sättigt die Seele«, so wird Ignatius von Loyola oft und zustimmend zitiert, wenn man die Schule, ihre Lehrpläne und curricularen Konstruktionen kritisiert (Böhm/Lindauer 1988), denn, solche Kritik scheinbar stützend, fährt der ja fort: »sondern das Verkosten der Dinge von innen.«1 Bei der Frage allerdings, wie solche Kompetenz erworben wird, ob überhaupt in Schulen und wenn ja, zu welchem Preis, geht es offenbar doch nicht ohne »Wissen«. Dann reicht auch die gustatorische Metaphorik nicht mehr aus, wenn man den Wert, die Kosten und den Preis beziffern will, den der 1
Es gehört zur philologischen Bildung, dass man auf unterschiedliche Übersetzungen achtet. Neben der zitierten, von Hans Urs von Balthasar (Jesuit bis 1940), lesen ihn andere Jesuiten so: »Denn nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-die-Dinge-Verspüren-und-Schmecken.« (Mertes/Siebner 2010: 140) – und die Überschrift des Kapitels codiert dort auch kulinarisch: »Kosten und Schmecken«.
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schulische Erwerb von Wissen erzeugt. Zumindest ist es notwendig, den Status von »Wissen« im Kontext der Schule zu klären, auch als Abgrenzung von den »Dingen«, von denen Loyola und die jesuitische Pädagogik sprechen. Zur Klärung der einleitend bemühten Unterscheidung von »Bildung« und »Wissen« bedarf es schließlich der Klärung, in welchem Sinne die Selbstattribuierung der Argumentation als »bildungstheoretisch« zu verstehen ist, z.B. im Unterschied zu »bildungsphilosophisch« (wie eine andere Argumentation in diesem Buch sich selbst qualifiziert) oder auch von einer »bildungsforscherischen Perspektive«. Erst vor diesem Hintergrund sind die Referenzen geklärt, auf die hin Wert und Preis des Schulwissens hier diskutiert werden.
I. Beginnt man mit »Schulwissen«, dann steht es im Kontext des Bildungssystems wohl grundsätzlich für die »Sachen«, die das Curriculum bestimmen und denen man die Qualität zuschreibt, Lernprozesse zu strukturieren und schulische Bildung zu ermöglichen (Musolff/Hellekamps 2003). Dieses Potential haben die im Schulwissen präsenten »Sachen« bildungstheoretisch, weil sie die »Welt« repräsentieren; denn um die geht es, die Welt, weniger darfs nicht sein. Das ist schon mit Humboldt zu beglaubigen, wenn er Bildung erläutert, als »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person … einen so grossen Inhalt, als möglich zu verschaffen«, und dann auch gleich sagt, wie das »allein« möglich werden kann: »diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.« (Humboldt 1809/1980: 235f.) Das sieht – man kennt ja die Bildungstheoretiker! – zunächst etwas riskant aus: »Die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt scheint vielleicht auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke.« Aber Humboldt findet den Weg in die Realität und damit auch in die Schule als einen möglichen Ort solcher Wechselwirkung von Mensch und Welt, um eine basale Bestimmung von Bildungsprozessen einzuführen: »Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand, genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen, so muss er der
Die bildungstheoretische Perspektive
Gegenstand schlechthin, die Welt seyn, oder doch (denn diess ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden.« Schule und ihre »Sachen« können bildungstheoretisch als ein solcher »Gegenstand … betrachtet« werden. Schulwissen im besonderen und Schule überhaupt gewinnen ihre Legitimation durch den Prozess, »die blosse Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung, das bloss unruhige Streben in eine weise Thätigkeit zu verwandeln.« (Humboldt 1809/1980: 237f.) Damit ist allerdings weder die spezifische Form schon hinreichend qualifiziert, die Wissen in Schule annimmt, noch der Prozess konkretisiert, der die erwünschten Ergebnisse liefert, aber auch die komplexe Form von Schule noch nicht bestimmt, und zwar bildungstheoretisch noch nicht bestimmt. Betrachtet man zunächst die Schule als den sozialen Ort, an dem sich Bildungsprozesse ereignen und sowohl die »Sachen« als auch die Akteure präsent sind, und fragt man weiter, wie man diesen Ort auch theoretisch angemessen beobachten kann, trifft man weniger auf eine »Leerstelle« (Reichenbach/Bühler 2017), als auf »eine unendliche Geschichte« von Versuchen zu einer Theorie der Schule (Terhart 2017), eingeschlossen die fatale Tatsache einer ungeschlichteten Vielfalt von Beobachtungsperspektiven, die sich auch nicht alle einer bildungstheoretischen Betrachtungsweise zuordnen lassen. Ignoriert man jetzt einmal alle Formen von Schulkritik, Aussagensysteme also, die der Schule systematisch – von welchem Standpunkt immer: theologisch, kapitalismuskritisch oder sonst wie – die Möglichkeit absprechen, Bildungsprozesse zu ermöglichen, ignoriert man auch alle Reformrhetorik, dann gibt es aktuell mindestens zwei ernstzunehmende Kandidaten für eine Theorie der Schule und der Beobachtung der Praxis und der Leistungen des Bildungssystems. Aus dem PISA-Kontext und der empirischen Bildungsforschung ist das sog. »Angebots-Nutzungs-Modell« bekannt, das zu beschreiben und zu erklären sucht, wie der outcome des Bildungssystems als Ergebnis professioneller pädagogischer Arbeit im Bildungssystem zustande kommt. Dieser outcome wird meist in Kompetenzmodellen beschrieben und in der Varianz ihrer Ausprägung nach unterschiedlichsten Kriterien präsentiert, die als im Bildungsprozess erzeugte »Disparitäten« interpretiert und dem System und seinen professionellen Akteuren als Leistung oder Defizit zugerechnet werden. Wie immer man seinen Wert für systembezogene Leistungsmessung interpretiert (Kohler/Wacker 2013), bildungstheoretisch operiert dieses Modell, folgt man der Analyse von Jürgen Baumert, also aus dem Kern der Empirischen Bil-
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dungsforschung selbst und nicht von außen (zu Details Tenorth 2020: 263ff.), mit zwei systematisch in Kauf genommenen, erkennbar nicht unproblematischen »Kontingenzen«: Die Tatsache der Ko-Konstruktion wird systematisch nicht berücksichtigt, der sich in der Praxis von Lehrenden und Lernenden die gemessene Leistung im schulischen Prozess überhaupt erst verdankt, und gleichzeitig wird die für Lernprozesse ja ebenfalls nicht unerhebliche Frage ausgeblendet, worin die »Natur verständnisvollen Lernens« eigentlich besteht. Das Modell steht mit diesen Fixierungen auf jeden Fall in striktem Gegensatz zu der Grundprämisse aller Bildungsreflexion, dass zugleich Prozesse und Produkte der Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt ihr genuines Thema ausmachen. Als zweites Modell einer Theorie der Schule wäre also eine Interpretation der Schule vom Begriff der Bildung aus notwendig. Eine solche Theorie der Schule existiert aber leider nicht, jedenfalls nicht in der breit genutzten und in der Forschung erprobten Gestalt, die dem Angebots-Nutzungs-Modell vergleichbar wäre. In der dominierenden empirischen Forschung wird die Referenz schon wegen des normativ-kritischen Überhangs der Bildungsreflexion, gleich welcher philosophischen Provenienz, nicht gesucht. Die aktuellen Alternativen aus der Bildungsforschung, empirisch oder sonst wie zu attribuieren, obwohl reichhaltig präsent, lassen sich auch weder theoretisch noch in ihren Forschungspraktiken einfach zu einem neuen Modell integrieren oder zur Einheit bündeln. Einerseits gibt es systematische Arbeiten, die von der Form ausgehen, in denen die Schule die zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimensionen der Bildungspraxis unter nicht frei wählbaren Rahmenbedingungen, z.B. der Befristung der Zeit oder der materiellen und personellen Ressourcen, zur Einheit bündelt, z.B. operativ (Prange/Strobel-Eisele 2006) oder organisatorisch (z.B. Masschelein/Simons 2012/2013), zum andern gibt es auch explizit Versuche, Schultheorie von Bildung aus in ihrer Eigenart zu konstruieren (jüngst z.B. wieder Grunder 2017). Aber diese Versuche sind bisher eher kasuistisch angesetzt oder nur enumerativ-klassifikatorisch, meist noch nicht systematisch strukturiert oder schon in reichhaltiger Forschung hinreichend abgesichert. Man sollte auch den weiten Komplex der Forschungen über Schulkultur hinzunehmen, also daran erinnern, dass der schultheoretische Blick, wenn er auch bildungstheoretisch sein will, nicht nur auf das Klassenzimmer, den Unterricht und das Schulwissen fixiert sein darf, sondern auch den Schulhof und die peer group mit betrachten muss, zudem eingebettet in die spezifischen, aber differenten Zeitdimensionen von Organisationen und Biografien (Helsper/Krüger/Lüdemann 2019). Aber dann geraten
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in der Regel wieder die didaktisch-methodischen Probleme aus dem Blick. Das Gegenmodell zum Denken in Angebots-Nutzungs-Dimensionen ist also nicht so einfach und konsensual verfügbar, wie es wünschenswert wäre – ganz zu schweigen davon, dass das Angebots-Nutzungs-Modell auch selbst intern verbessert wird, weil man hier jetzt auch die Kontingenzen sieht (Übersicht: Reusser 2020). Für die hier versuchte Argumentation zum Schulwissen muss es deshalb ausreichen, in der Diskussion von »Wissen« über die nur outcome-orientierte Perspektive hinauszugehen und auch die anderen Dimensionen schulischer Praxis reflexiv mit in den Blick zu nehmen. Letztlich wird dabei Schule als eine ganz »gewöhnliche Institution« betrachtet (Reichenbach 2013), die sich in den Praktiken der Akteure konstituiert, wie sie von oben und von außen, von innen und nach innen agieren, als eine Wirklichkeit, die sich in ihrer Bedeutung je kollektiv wie je individuell zurechnen lässt, aber keineswegs in einem, gar konfliktfreien, Kontinuum von individuell und professionell, gesellschaftlich, ökonomisch und politisch zurechenbaren und artikulierten Erwartungen und Normen, Praktiken und ihren Folgen oder den intendierten und/oder nichtintendierten Ergebnissen darstellen lässt. Bildungstheoretisch und subjektbezogen zählt Schule also zu den höchst ambivalenten Institutionen. Als Organisation lebt sie, aller politischen Steuerung zum Trotz, letztlich doch von der klugen Anpassung der Lernenden an schulische Erwartungen. Als Lebenswelt gehört sie zu den Orten, die Individuen unausweichlich dazu nötigen, zugleich mit sich selbst und den gesellschaftlich vorgegebenen Erwartungen der Institution zu leben, also angesichts der Praxis der Institution und der je eigenen individuellen Aktion und Leistung in der Institution dennoch eine eigene Form im Prozess zu finden, also nicht weniger zu leisten, als sich selbst zu bilden.
II. Denkt man an Wissen in diesem Kontext und dann auch bildungstheoretisch, dann hat man mit der Tatsache zu tun, dass sich Wissen der Form nach und in Schulen immer als »Kanon« präsentiert (Tenorth 1994: 122-140). Das ist ein Wissen, das in seiner Bedeutsamkeit, Lehrbarkeit und Lehrbedürftigkeit vor allen individuellen Aneignungsprozessen schon historisch-gesellschaftlich als wertvoll ausgezeichnet wurde (wie immer begründet: traditional, pädagogisch, curriculumtheoretisch, in Kompetenzmodellen, politisch –
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etc.). Es gilt deshalb als geeignet, den erwünschten Habitus zu konstruieren, und ist zugleich unterschieden von dem nicht kanonisierten, minderen, abgewerteten, apokryphen, als gefährlich beurteilten Wissen. Kanonisiert findet Wissen seinen Ort in der Schule, sie wiederum beweist in der Wahrnehmung der »Kanonisierungsfunktion« ihre Notwendigkeit für Individuum, Kultur und Gesellschaft und auch gegenüber lebensweltlichem Wissen und Lernen, nicht allein, sondern immer im Bündnis mit anderen Praktiken, die Schule sozial oder zeitlich bestimmen. Die sachliche Dimension steht also neben anderen, von der kustodialen bis zur sozialisatorischen. Die »Sachen« gewinnen ihre Bedeutung erst durch den spezifischen Lernprozess, in dem »Bildung«, als Erwartung spezifischer Kompetenzen operationalisiert, standardisiert und messbar gemacht, und »Wissen« in definierter Graduierung und Stufung in der Ordnung des Bildungssystems relationiert werden. Nicht erst in der Universität setzt »Unterricht in den Wissenschaften« ein (Benner 2007; Benner 2020). Alltagsweltliches Umgangswissen ist der Ausgangspunkt, Kompetenz für den Umgang mit Wissen und vor allem für die Qualifizierung des Wissens soll deshalb zuerst erworben werden, sichtbar in der sich erweiternden Kompetenz der Adressaten. Schulische »Grundbildung« ist der erste Schritt. Sie eröffnet Distanz gegenüber dem Alltagswissen. Die folgende »wissenschaftliche Grundbildung« (Flitner 1965) ermöglicht den Übergang zur Wissenschaftspropädeutik, die Universität bildet durch Teilhabe an Forschung. Dabei werden, denkt man noch ganz klassisch und an die Kompetenzen, die schon in der artes-Tradition als Aufgabe den »Sachen« des abendländischen Lehrplans (anfangs nur für die Bildung der Freien) zugeschrieben wurden, dann sind das immer die für einen reflexiven Umgang mit »Welt« notwendigen Kompetenzen. Sie werden als Modi des Umgangs mit Welt aufgebaut und erweitert und bilden sich der Auseinandersetzung mit dem trivium und dem quadrivium. In Grammatik, Rhetorik und Dialektik wird man kompetent für den Gebrauch von Argumenten, mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie für den Zugang zur Realität der Welt und ihren Gesetzen. Im Kanon sind also, generell, die »Sachen« präsent, an denen sich solche Kompetenz – kognitiv, evaluativ, motivational – im Umgang mit den »Dingen«, den fachlich strukturierten Lernprozessen als dem Kern schulischer Arbeit (Heer/Heinen 2019) erwerben lässt. Die Bildungsbewegung verläuft dabei als Initiation in und Reflexion von Wissen, in einem Spiralcurriculum, in dem zuerst Alltagswissen problematisiert und in ein Verständnis von Welt überführt wird, das mit wissenschaftlichen Begriffen, Konzepten und Praktiken arbeiten kann, so
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wie es aktuell die fachbezogenen Bildungsstandards diskutieren, bevor Konzepte selbst beobachtet und reflektiert werden. »Wissen« ist dabei je notwendiger Ausgangspunkt, zugleich aber auch Abstoßpunkt für die eigenständige Bildungsbewegung, insofern wertvoll in sich selbst. Sie eröffnet nicht nur die Kenntnis der Welt in ihren unterscheidbaren, historischen und sozialen, mathematischen und naturwissenschaftlichen, ästhetischen und literarischen, also kanonischen Dimensionen, sondern bildet schon schulisch die (natürlich immer steigerbare) Fähigkeit, eigenständig am Prozess der Konstruktion von Erkenntnis teilzuhaben (Gruschka 2009). Bevor man von hier aus die Frage nach Wert und Preis von »Schulwissen« angesichts seiner spezifischen Form aufnimmt, muss eine Komplikation ernstgenommen und diskutiert werden, die im Begriff des »schulischen Bildungswissens« präsent ist, den ja auch die Herausgeber des hier vorliegenden Bandes in ihrer Einleitung verwenden. In der Akzentuierung als »Bildungswissen« wird das Schulwissen in einer Weise qualifiziert, die schon eine lange Tradition hat, und vor allem in der triadischen Unterscheidung von Herrschaftswissen, Bildungswissen und Erlösungswissen klassisch geworden ist (Scheler 1925/1960).2 Bevor man aber diesen ehrwürdigen Begriff aktualisiert, sollte man sich der Grenzen bewusst sein, in denen Scheler das »Bildungswissen« und seinen »finalen ontischen Sinn« (ebd.: 204) bestimmt, also »dem Werden und der Entfaltung der Person« (Hervorhebung i. O., ebd.: 205) und »ihrer überschwenglichen [sic!] transzendentalen Bestimmung« (ebd.: 211). Einerseits
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Schelers Unterscheidung hat auch andere Triadisierungen von Wissen und Praktiken inspiriert, denkt man an die Habermassche Trias von technisch, pragmatisch und emanzipatorisch, die im Blick auf »Erkenntnisinteressen« und die ihnen impliziten Praktiken bis in die Pädagogik hineingewirkt hat. Im Blick auf »humane Bildung« (Nida-Rümelin 2013) und die »philosophische Klärung der Bedingungen eines gelingenden Lebens« (ebd.: 117), für die »Verständigung« in Gesellschaft ebenso notwendig sei wie »Orientierungswissen«, also kanonisches kollektives Wissen, finden sich aber schon Triadisierungen, die zeigen, dass »Bildungswissen« jedenfalls für »humane Bildung« allein nicht mehr hinreichend gilt. »Tugenden« seien notwendig, in denen Lebensformen legitim zur Einheit kommen, und zwar »dianoetisch«, also erkennend und urteilend, »ethisch«, im Blick auf die moralischen Fragen, sowie »emotional«. Tugenden sind hier also »nichts anderes als Wertungen, Einstellungen und Entscheidungen, die die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringen« (ebd.: 169). Nida-Rümelin lässt offen, was Schulen dazu beitragen können, das sei das Problem und die Aufgabe der Pädagogen.
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schreibt er damit dem Wissen – und schon dem Wissen allein! –, der Tradition entsprechend, die höchsten Leistungen zu: »es dient jener Selbsterfassung des Urwirklichen ›im‹ Menschen als einem seiner Teile und Funktionen – jener Seinswerdung des Makrokosmos im Sein des Mikrokosmos des menschlichen Bewußtseins« (ebd.: 206) und liefert »Schemata für die Anschauung, das Denken, die Auffassung, die Bewertung und Behandlung der Welt« (ebd.: 209). Andererseits, und bevor man sich fragt, ob und wie man solche Erwartungen schon auf das schlichte Schulwissen beziehen kann (und ob man erwarten darf, dass Wissen allein das überhaupt ermöglicht), sollte man auch sehen, dass Scheler den Ort des Bildungswissens nur auf der Stufe der Universität und einer neu zu schaffenden Hochschule für das Volk (»Volkshochschule«) erwartet, im »Überbau« also (ebd.: 32). »Schulen« dagegen, die »Lehrund Erziehungsorganisationen«, sind bestenfalls »wissensverbreitende Anstalten« (ebd.: 55, Hervorhebung i. O.), in denen der »notwendige Wissensstand von Generation zu Generation nur übertragen wird« (ebd.: 32, Hervorhebung i. O.) – also Orte vor aller wahren Bildung. Die Pflichtschulen, die bei der Debatte von Schulwissen Thema sind, kommen konsequenterweise in seinem Modell des Bildungswesens auch gar nicht vor, das beschränkt sich auf den tertiären Bereich (ebd.: 399f.). Nicht nur weil wir gegenüber der autonomen Leistung des Wissens und seinem vermeintlich von Geschichte und Gesellschaft nicht zu trübendem Wert ebenso ernüchtert sind wie gegenüber hohen Wirkungs-Ambitionen von »Bildung«, empfiehlt es sich also, beim schlichten Begriff des Schulwissens zu bleiben. Für Bildungsprozesse bleibt dieses Wissen bedeutsam, aber es gewinnt Bedeutung, nach dem Abschied von alten, idealistischen Wirkungsmodellen, erst in der Praxis der Individuen selbst, nämlich in den je individuellen Formen, in denen sie sich »Welt« aneignen, d.h. mit Schulwissen umgehen und ihm Wert zuschreiben. Das ist mehr und anders als in der meist nur kognitiven Dimension outcome orientiert gemessen wird. Ja man muss, wie Bildungstheoretiker zwar wissen, aber meist nur zu beklagen pflegen, wohl mit der unleidigen Tatsache rechnen, dass zu den Ergebnissen und Formen von Verhalten gegenüber dem Wissen neben seiner positiven Aneignung, d.h. seiner Anerkennung als wertvoll für den je individuellen Bildungsprozess, auch andere Praktiken gehören, suboptimale und kontrafinale, wie man aus der Perspektive normativ eindeutig interessierter Beobachter sagen kann. Dazu gehört, individuell nicht selten, z.B. Desinteresse, auch Ignorieren und Negation, Praktiken, die dem Schulwissen jeden Wert absprechen. Nicht zufällig besteht eine der wesentlichen Forschungsaufgaben der pädagogischen
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Psychologen darin, Möglichkeiten der Steigerung von Motivation und Interesse gegenüber schulischen Erwartungen und dem Schulwissen zu erkunden und Lehrern bei entsprechenden Strategien behilflich zu sein. Nur nüchterne Schulpädagogen und ernüchterte Bildungstheoretiker wissen, dass trotz aller solcher Anstrengungen die Schule immer auch ein Ort von »Schwindel« und »Täuschung« bleibt, wo Interesse und Motivation, Wertschätzung und Bedeutung nur fingiert werden, um den Alltag für alle Beteiligten nicht zur Last werden zu lassen (Reichenbach 2013). Auch das ist eine Form von »Arbeitsbündnis«, das bekanntlich existieren muss, wenn Schule überhaupt gelingen soll. Aber auch hier ereignen sich Bildungsprozesse, nämlich im kompetenten Umgang mit Menschen und ihren Erwartungen, die einen Alltag auch bei konflikthaften Prämissen möglich machen.
III. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen zu Status und Funktion des Schulwissens und der Schularbeit kann man jetzt aber für die Lernbiographie innerhalb und außerhalb der Schule die Frage nach Wert und Preis aufnehmen, bildungstheoretisch, also in dem her erläuterten Sinne, und, wie ausdrücklich betont werden soll, ohne damit die anderen Referenzen für belanglos zu erklären, etwa die bildungsökonomische, denn schon Kanonisierung kostet Geld, wie Schulbuchverlage oder die Lehrerbesoldung belegen. Schulische Praxis hat dann, bildungstheoretisch, zuerst und zweifellos ihren eigenen, je individuell intrinsischen Wert, den man Bildung meist auch zuschreibt. Sie hat aber, schon mit den Zertifikaten, die den Umgang mit Wissen beglaubigten und Karrieren ermöglichen, auch extrinsischen Wert (Bourdieus Kapitalsorten klären das hinreichend), in Teilen auch monetär diskutierbar. Aber dieser extrinsische Wert, der Tauschwert, kann nie allein dem Schulwissen zugeschrieben werden. Das war historisch und ist auch aktuell immer nur instrumentell von Bedeutung, auch in den unterschiedlichen Referenzräumen, die biografisch von Bedeutung sind, von der alltäglichen Handhabung der Kulturtechniken, im Kalkül beruflicher Karrieren oder beim Spiel. Schon der Besuch altsprachlicher Gymnasien, so sozial exklusiv wie esoterisch und vermeintlich der beste Indikator für Eigenwert der Sachen, erweist dann seine eigene Ambivalenz, beim Berufszugang oder in interkultureller oder vielsprachiger Kommunikation nur noch selten wirklich hilfreich, kann er sich z.B. bei Kreuzworträtseln durchaus als wertvoll erweisen, ohne dass
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damit die anderen Defizite kompensiert werden. Die zentrale Frage ist also, welchen eigenen Preis diese Praxis hat, einen Preis, der sich der Bindung an den bildungstheoretischen Umgang mit Schulwissen, also mit kanonisiertem Wissen verdankt. Gibt es bildungstheoretisch, je individuell und kulturell – jenseits der notwendigen Anstrengung angesichts der »Sachen«, von Schweiß, Enttäuschung oder flow – einen Preis, den man beziffern und in seiner Legitimität und seinen Kosten diskutieren kann? Dann muss man einräumen, dass es spezifische Kosten gibt, die man dafür bezahlt, dass man sich in einer Welt bewegt, die durch kanonisiertes Wissen definiert ist. Denn die Praktiken einer solchen Welt bedeuten neben Ermöglichung immer auch Ausschluss, und das ist mehr als Langeweile oder Desinteresse. Nicht zufällig wird der Kanon als Form von Zensur in seiner Funktion beschrieben, nicht zufällig wird Schule als eine normierende Zwangsanstalt kritisch beurteilt, nicht zufällig besteht ein großer Teil der didaktischen Anstrengung darin, das Schulwissen als bedeutsam, exemplarisch, wertvoll auszuzeichnen und gegen den Vorwurf mutwilliger Selektivität oder gar Indoktrination zu verteidigen. Im Prinzip wird damit die Legitimität von Schule insgesamt zum Problem, denn sie arbeitet als Welt eigener Art, die schon aus Zeitgründen nicht alles Wissen zum Thema machen kann, zu schweigen von den operativen Problemen. Die Selektivität ist unvermeidbar, Kanonisierung notwendig – lässt sich der Preis auch präzise beziffern, gar messen? Sind es entgangene Erträge im Wettbewerb um Positionen? Zumindest dieser Preis, also die ökonomisch messbaren Kosten, ist nicht einfach auf Schulwissen zuzurechnen. Mit Sicherheit weiß man nur, dass Schulkarrieren ohne Abschlüsse oder ohne Kompetenzen, »Bildungsarmut«, natürlich den Berufseinstieg und anschließende Laufbahnen erschweren, ansonsten sind die Karriereoptionen nach der Schule jenseits der öffentlich erwarteten Grundbildung noch nicht curricular determiniert und relativ offen. Dann zählen auch das Zertifikat und der Habitus, das Gesamtbild, wenn man so will, mehr als das Wissen im Einzelnen. Und später, in der beruflichen Bildung, hat man es mit sehr spezialisiertem Wissen zu tun. Karrieren bauen auf Selektivität des Wissens auf, Spezialisierung wird prämiiert, nicht universalistisches Gerede. Insofern: Schulbesuch hat Folgen, Schulerfolg wird belohnt, nicht das Schulwissen allein. Macht Selektivität des Wissens aber jenseits der ökonomischen Dimension und ansonsten dumm, wie die Schulkritiker behaupten, vor allem, weil sie unsensibel mache für die Fragen jenseits der Karriere? Muss man das emphatische Subjekt und die wahre, nicht ökonomisch kontaminierte Bildung ins Spiel bringen, also primär von Reflexivität und
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Urteilsfähigkeit aus das Schulwissen bewerten? Besteht der Preis der Schule darin, dass sie im Umgang mit Welt die großen Konflikte und Probleme, von Ungleichheit bis Ungerechtigkeit, ausblendet und unsensibel macht gegenüber dem »Elend der Welt« und der »Kälte« der bürgerlichen Gesellschaft? Schulkritisch wird das als Effekt schulischer Bildungsarbeit, der tradierten »Allgemeinbildung«, durchaus unterstellt (Heinrich 2001), bildungstheoretisch wird man das kaum generalisierend behaupten können. Offenbar hat Schule schon nicht verhindert, dass immer neu kritische Bildungstheorie entsteht; so mächtig kann sie also nicht sein, wie die Kritiker sagen. Auch die Jugendkultur als immer neuer Nährboden für Protestbewegungen lässt sich schwerlich als Indiz für die These lesen, dass umfassende Beschulung der Heranwachsenden nur negative oder unerwünschte Folgen hat. Der Preis, den man für die schulische Bildung zu zahlen hat, und der Wert, den sie einträgt, ist insofern durchaus bildungstheoretisch, und zwar auch für Kollektive diskutierbar. Dabei merkt man aber rasch, dass sich die Wirkungen schulischen Lernens insgesamt, gar des Schulwissens allein und sonstiger Bedingungen des Aufwachsens, von sozialer Herkunft bis peer group, vielleicht statistisch unterscheiden, aber bildungstheoretisch nur schwer gegenüber der je individuellen Praxis der Aneignung von Wissen isolieren lassen. Deshalb sind Preis und Wert bildungstheoretisch wohl nur individualisiert zu beziffern, schon weil das Ergebnis des Umgangs mit schulischem Wissen jenseits der kompetenten Handhabung der Kulturtechniken weder antizipierbar noch steuerbar ist. Preise wie Kosten beweisen sich im Lebenslauf und der Bildungsmarkt hat seine eigenen Gesetze, jenseits des intrinsischen Werts. Auch die gesellschaftliche Kommunikation belohnt variabel, nicht zuerst Wissen, sondern eher Bildung, in welchen Dimensionen immer. »Stallgeruch« zählt dann auch, gelegentlich mehr als die Indikatoren für den erfolgreichen Umgang mit Schulwissen. Selbst ein Autor, der imperativisch »alles« zu klären meint, »was man wissen muss«, landet mit seinem höchst selektiv konstruierten Kanon und beim Übergang vom »Wissen« zum »Können« doch bei »Bildung« (bestimmt ihre Dimensionen also in einem Dual, das aus der DDR-Pädagogik gut bekannt war). Dann gesteht er ein, dass zur gebildeten Teilhabe an Kommunikation, einem »Unterstellungsspiel«, auch der »Bluff« gehört, der auch bedeutsamer als das Wissen sei (Schwanitz 1999: 401). Zum Handlungsrepertoire eines souveränen Akteurs gehört deshalb wohl auch, zu wissen, »wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat« (Bayard 2007), sich also von Unwissen kommunikativ nicht irritieren lässt. Auch das hat seinen Preis, situativ trägt es nicht selten
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Belohnung ein, z.B. Reputation, wie man wissen kann. Man muss nur mit den Risiken solcher Praxis zu leben lernen, um ihren Ertrag genießen zu können.
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Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung Eine bildungsphilosophische Perspektive Krassimir Stojanov
Einleitung Die Frage nach dem Wert schulischer Bildung kann man in zwei unterschiedlichen, wenn auch miteinander korrelierenden Richtungen konkretisieren. Zum einen kann man diese Frage in der Form »Was ist (uns) Schulbildung wert?« und zum anderen als »Was sind die Werte von Schulbildung?« stellen. Die erstere Fragestellung thematisiert den Preis schulischer Bildung, während die letztere ihre Zielsetzungen in Bezug auf Vermittlung von Wissensinhalten sowie Ermöglichung von bestimmten Erfahrungen und Entwicklungen bei Schüler/innen anvisiert. Bei den Werten von Schulbildung handelt es sich um das Gute, was Bildung bewirken soll. Es ist evident, dass der Preis der Bildung ganz wesentlich von der Bestimmung dieses Guten abhängt. Nun ist die Diskussion über die Werte von Bildung nicht neu. In der Geschichte der (Bildungs-)Philosophie gibt es seit der Antike unzählige Reflexionen darüber, was Bildung bezwecken soll bzw. was eine gelungene Bildung ausmacht. Allerdings beobachten wir in den letzten Jahren einen signifikanten Bedeutungswandel des Bildungsbegriffs, der eine erneute systematischanalytische Rekonstruktion seines Wertefundaments erforderlich macht: Hat man lange Zeit Bildung als eine Angelegenheit des Einzelindividuums betrachtet, die wenig mit sozialen Verhältnissen und Institutionen zu tun hat, und hat man dementsprechend Aufgaben und Funktionen von Schule nicht primär mit »Bildung«, sondern mit »Lernen«, »Qualifikation«, oder »Erziehung« umschrieben, beobachten wir heute hingegen eine zunehmende »Sozialisierung« des Bildungsbegriffs, der inzwischen mehrheitlich auch als die zentrale Leit- und Orientierungskategorie für Schule verwendet wird. Neue-
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re bildungstheoretische und bildungsphilosophische Arbeiten legen Bildung als eingebettet in sozialen Beziehungen und Institutionen, als abhängig von Formen intersubjektiver Anerkennung (vgl. Stojanov 2018: 2, 70-118) sowie von schichtspezifischen Habitusformen (vgl. El-Mafaalani 2020: 42-49) aus. Bildungstheoretische Rekonstruktionen werden zunehmend unmittelbar mit den Thematiken der (Gewährung von) Chancengleichheit und (Verringerung von) sozialer Ungleichheit in Verbindung gesetzt (vgl. El-Mafaalani 2020: 919). Diese »Sozialisierung« des Bildungsbegriffs wirft aufs Neue die Frage nach der Differenz und dem Verhältnis von und zwischen intrinsischen und extrinsischen Werten von Bildung auf. Welchen externen gesellschaftlichen (wirtschaftlichen, politischen, sozialen) Zwecken soll Bildung dienen, und inwiefern, in welchen ihrer Dimensionen und Zusammenhängen ist sie als Zweck an sich zu betrachten? Steht das Verständnis von Bildung als Mittel zum Zweck nicht im Widerspruch zu seiner Auslegung als Selbstzweck? Oder ist es vielmehr nicht paradoxerweise so, dass schulische Bildung nur dann zum Erreichen von wirtschaftlichen, politischen, sozialen Zwecken und zur Verwirklichung entsprechender Werte effektiv beitragen kann, wenn sie primär als Selbstzweck verstanden und betrieben wird? Und ist es grundsätzlich möglich, einen Preis für Bildung verstanden als Selbstzweck zu ermitteln – selbst, wenn diese Bildung keinen unmittelbaren Gebrauchswert hat? Dies sind die zentralen Fragen, zu deren Beantwortung dieser Aufsatz einen Beitrag leisten soll. Ich beginne meine Überlegungen mit einer Rekonstruktion der klassischen Kantischen Unterscheidung zwischen Preis und Wert, wobei ich die These aufstelle, dass die inneren Werte von Formen des menschlichen Lebens (und Bildung ist eine solche Form) sich zwar nicht direkt in Preisen übersetzen lassen, dass aber die Darlegung dieser Werte grundlegend für die qualitative Bestimmung der Ressourcen ist, die für die Aufrechterhaltung dieser Lebensformen vonnöten sind. Diese Ressourcen lassen sich dann durchaus preislich quantifizieren. Im nächsten Abschnitt erläutere ich, warum aus meiner Sicht als übergreifenden Wert schulischer Bildung das gelten soll, was in dem gegenwärtigen internationalen bildungstheoretischen und bildungsphilosophischen Diskurs als human flourishing bezeichnet wird. Ich zeige auf, dass der Erwerb von akademischem Wissen eine notwendige Dimension von human flourishing ist. Demnach soll die Schule in all ihren Formen und Phasen diesen Erwerb bei jedem einzelnen Kind bezwecken – anstatt wie bis jetzt einen Teil der Kinder früh in nichtakademische Schultypen zu schicken.
Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung
Sodann thematisiere ich die aus meiner Sicht zentralen extrinsischen Werte von Bildung wie Kultivierung von individueller Autonomie, von ökonomischer Leistungsfähigkeit und von Fähigkeit zur demokratischen Partizipation, sowie Gewährung von Chancengleichheit. Zugleich argumentiere ich gegen die Darstellung von Weitergabe von (hoch)kulturellen Traditionen und von Allokation von Kindern und Jugendlichen auf unterschiedlichen Berufslaufbahnen als Werte von Bildung. Schließlich stelle ich die These auf, dass die herausgestellten extrinsischen Werte von schulischer Bildung nur dann erreicht werden können, wenn Schulen sich human flourishing der Schüler/innen als übergreifende Zielsetzung verschreiben. Dementsprechend sind diejenigen Ressourcen zu identifizieren (und später vielleicht in ihrem Preis zu bestimmen), die zum Erreichen dieser Zielsetzung vonnöten sind.
1.
Preis und Wert (schulischer) Bildung
In der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« führt Immanuel Kant (1785/1968: 68f.) eine in der neueren Philosophiegeschichte als klassisch geltende Unterscheidung zwischen »Preis« und »Wert« ein. Demnach hat dann etwas einen Preis, wenn es gegen ein Äquivalent (z.B. gegen eine bestimmte Geldsumme) getauscht bzw. verrechnet werden kann. Wenn jedoch etwas Zweck an sich ist, dann kann es gegen nichts anders getauscht oder verrechnet werden, und dann hat dieses »etwas« keinen Preis, sondern einen »inneren Wert«, den Kant auch als »Würde« bezeichnet (ebd.: 68). Die Würde lässt sich nicht im Preis ausdrücken, oder anders gesagt, sie kann nicht gekauft und verkauft werden. Nun besitzen lediglich Menschen Würde und sie verwirklicht sich nach Kant in ihrem rational-autonomen Handeln, dessen Maxime die Individualität des Einzelnen ausdrücken und zugleich seine Beteiligung an der moralischen »allgemeinen Gesetzgebung« widerspiegeln, die von allen vernünftigen Menschen getragen wird (ebd.: 69). Diese äußert sich darin, dass Menschen sich die Normen, die ihr Handeln bestimmen, selbst geben, und zwar aufgrund von freien Wahlentscheidungen, die auf Gründen herrühren, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Mit anderen Worten äußert sich die Würde, der »innere Wert« des Menschen darin, dass sein Handeln sich einer kausalen Determinierung entzieht, sondern vielmehr durch vernünftig begründete Wahlentscheidungen hervorgerufen wird.
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Was haben diese Ausführungen mit Bildung zu tun? Würde es nicht seltsam klingeln, wenn wir behaupten würden, dass Bildung »Würde« habe, wo eigentlich nur Menschen Würde besitzen? Dies wäre in der Tat der Fall, wenn wir Bildung im Einklang mit einer in dem gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurs weit verbreiteten Vorstellung als ein besitzbares Gut oder Ressource, als verfügbares Objekt, und nicht als Subjektpraxis verstehen, d.h. wenn wir sie – um mit Erich Fromm zu sprechen – in den Termini des Habens und nicht des Seins ausdeuten würden (vgl. Fromm 1976/2006). Allerdings ist Bildung in erster Linie nicht ein zu besitzendes und zu verteilendes Gut, sondern eine spezifische Form menschlichen Lebens, in der sich die Autonomie des Individuums entfaltet und sich in einer Reihe von Tätigkeiten verwirklicht – allen voran in diejenige des Wissenserwerbs. Zumindest wird diese Erkenntnis von zwei so unterschiedlichen philosophischen Klassikern der Bildungstheorie wie John Dewey und Georg Wilhelm Friedrich Hegel geteilt. Nach Dewey bedeutet Bildung geistiger Wachstum des Einzelnen; ein Wachstum, das sich in der Entstehung von neuen und immer komplexeren Handlungs- und Denkmustern äußert, und das die wichtigste Dimension des menschlichen Lebens darstellt. Daher ist Bildung nichts untergeordnet, außer sich selbst: »Since in reality there is nothing to which growth is relative save more growth, there is nothing to which education is subordinate save more education« (Dewey 1916: 51), behauptet Dewey lapidar in seinem bildungsphilosophischen Klassiker »Democracy and Education« – ein Titel, der ins Deutsche übrigens fälschlicherweise als »Demokratie und Erziehung« übersetzt wurde.1 Dabei verwirklicht sich Bildung qua Wachstum in einer spezifisch menschlichen sozialen Lebensform, die sich durch ei-
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Gerade die zitierte Stelle macht die Problematik der deutschen Standardübersetzung von Erich Hylla von »Democracy and Education« als »Demokratie und Erziehung« besonders sichtbar. Denn zu behaupten, dass Erziehung nichts untergeordnet sei als weiterer Erziehung, ist ein offenkundiger Nonsens – und zwar schon deshalb, weil Erziehung im Unterschied zur Bildung kein lebenslanger Vorgang ist, sondern als Formung von Kindern und Jugendlichen durch ihnen außenstehenden Personen, durch Erzieher/innen zu verstehen ist, die Erziehung als Mittel zum Zwecke der Herbeiführung von bestimmten Einstellungen und Fähigkeiten bei den Zöglingen anwenden. Die deutsche Standardübersetzung von »Democracy and Education« vermag diesen Nonsens nicht zu vermeiden, und zwar wegen der Entscheidung des Übersetzers »Education« durchgehend als »Erziehung« zu übersetzen – einschließlich bei der deutschen Wiedergabe des hier zitierten Satzes über die Selbstbezüglichkeit des Wertes von Bildung (vgl. Dewey 1916/2011, S. 77).
Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung
ne intersubjektiv konstituierte Offenheit und Plastizität auszeichnet; die die Absonderung der Menschen in geschlossenen Gruppen der Rasse, der Klasse oder des Volkes überwindet und dadurch neue Erfahrungshorizonte in ihnen eröffnet (vgl. Dewey 1916: 87). Auch für Hegel ist Bildung eine zentrale Form des sozialen Lebens des Menschen, die zugleich ein Schlüsselstadium in der Entwicklung des Geistes darstellt. Dieses Stadium besteht in der Herausbildung der »Subjektivität in ihrer Besonderheit« (Hegel 1821/1986: 343). Diese Herausbildung vollzieht sich durch die Entfremdung des Einzelnen aus der organischen und natürlichen Einheit der Familie; eine Entfremdung, wodurch seine individuelle Besonderheit entsteht, die jedoch nur dann in der bürgerlichen Gesellschaft aufrechterhalten werden kann, wenn sie mittels allgemeingültigen und allgemeinverständlichen Termini und Propositionen zum Ausdruck gebracht wird. »Die Bildung heißt, daß das Besondere der Form der Allgemeinheit annehme« – behauptet Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie des Rechts (Hegel 1822/2005: 180). Und da die Form der Allgemeinheit diejenige des Begriffs ist, bedeutet Bildung letztlich den Prozess der begrifflichen, d.h. objektivierenden Selbst-Artikulation des Subjekts (vgl. Stojanov 2018: 81-91). Diese SelbstArtikulation ist höchste Form des menschlichen bzw. des geistigen Lebens; in diesem Sinne ist Bildung dieses Leben selbst, das nicht austauschbar ist, weil es kein Äquivalent hat. Zugleich unterscheiden sowohl Dewey wie auch Hegel zwischen Bildung an sich und schulischer Bildung und beide schreiben der letzteren realistischerweise auch Funktionen zu, bei der sie nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck fungiert. Neben Vorbereitung des Einzelnen auf das ökonomische und politische Leben in der bürgerlichen Gesellschaft (Hegel) bzw. die Ermöglichung und Aufrechterhaltung von Demokratie (Dewey) gehört für die beiden Denker eine Funktion schulischer Bildung dazu, die gewissermaßen als Scharnierelement zwischen der intrinsischen und der extrinsischen Wertedimensionen von ihr zu verstehen ist. Dewey umschreibt diese Funktion als Kultivierung der Kräfte, die lebenslanges Wachstum der Individuen ermöglichen, wie etwa Neugier, Offenheit oder Lernbereitschaft (vgl. Dewey 1916: 51). Ähnlich argumentiert Hegel, wenn er Schulbildung als Vorbereitung auf das öffentliche Leben der bürgerlichen Gesellschaft darlegt (vgl. Hegel 1811/1968: 55-58); eine Vorbereitung, welche die gezielte und pädagogisch vorstrukturierte Befassung der Schüler/innen mit fremdartigen und nicht-unmittelbaren Inhalten erfordert. Nur so können sie zu
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»[d]er nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit« (Hegel 1821/1986: 344) übergehen, kurzum: sich als geistige Wesen immer weiterentwickeln, die nicht in ihrem Handeln und Denken von unmittelbar-vorreflexiven, quasinatürlichen Sitten und Gebräuchen vorbestimmt werden, sondern autonome Norm- und Wertvorstellungen entwickeln, die sie begrifflich artikulieren und argumentativ begründen. Allerdings kann Schule die Funktion erfüllen, auf geistigem Wachstum und auf rationale Autonomie vorzubereiten, wenn sie es ermöglicht, dass Wachstum und Autonomie in ihrem Rahmen gelebt werden. Mit anderen Worten, setzt die Erfüllung dieser vordergründig extrinsischen Funktion schulischer Bildung die Subjektivitätsentwicklung der Schüler/innen als intrinsischen Wert dieser Bildung voraus: Nach Dewey soll die Schule in dem Sinne erfahrungsbezogen sein, dass sie den Kindern die Entwicklung von neuen Erfahrungsreihen und -horizonten um dieser Entwicklung willen ermöglichen (vgl. Dewey 1916: 49f.). Nach Hegel sollen die Jugendlichen in der Schule intellektuelle Autonomie in der Form des selbstständigen Denkens, verstanden als »Selbstthätigkeit des Ergreifens« (Hegel 1810/1968: 43), ebenfalls als Selbstzweck bereits praktizieren. Nun sind die Begriffe »geistiges Wachstum«, »Herausbildung von Subjektivität«, oder »rationale Autonomie«, die in den bisherigen Ausführungen verwendet wurden, um die Schnittstelle zwischen den intrinsischen und den extrinsischen Wertedimensionen von Bildung zu umreisen, zugegebenermaßen erläuterungsbedürftig – insbesondere was die Zusammenhänge zwischen diesen Begrifflichkeiten im Kontext schulischer Bildung angeht. Freilich beobachten wir in den letzten Jahren eine sich verstärkende Tendenz, im internationalen bildungstheoretischen und bildungsphilosophischen Diskurs diese Begrifflichkeiten als Komponenten der übergreifenden Kategorie von human flourishing auszudeuten und zu präzisieren. Diese Kategorie hat inzwischen einen spezifischen terminologischen Status erlangt, der bei ihrer wortwörtlichen Übersetzung ins Deutsche als »menschliches Aufblühen« nicht zum Vorschein kommt. Sämtliche Autor/innen schreiben eine besondere Bedeutung von human flourishing zu, die darin liegt, dass diese Kategorie den übergreifenden Wert von (schulischer) Bildung zum Ausdruck bringt. Der strukturelle sowie der pädagogisch-praktische Vorteil dieser Kategorie besteht darin, dass sie sämtliche traditionelle Zielvorstellungen von Bildung
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wie Selbstverwirklichung, Glück, ökonomische und politische Teilhabe sowie Geselligkeit mitumfasst, ohne auf ihre Summe reduzierbar zu sein. Im nächsten Abschnitt lege ich den übergreifenden Wert des human flourishing in seinen intrinsischen und extrinsischen Dimensionen dar.
2.
Human flourishing als übergreifender Wert von Bildung – intrinsischer Kern und extrinsische Wirkungen
In ihrem rasch prominent gewordenen Buch über »Educational Goods« setzen Harry Brighouse, Hellen F. Ladd, Susanna Loeb und Adam Swift human flourishing als »fundamentalen Wert« voraus, der die Bestimmung und Verteilung von Bildungsgütern orientieren soll (vgl. Brighouse at al. 2018: 21). Dabei verstehen die Autor/innen des Buches unter »Bildungsgüter«, welche vor allem durch die Schule erzeugt werden, Wissen, Fähigkeiten, und Einstellungen (vgl. ebd.: 19), die »[h]elp people’s lives go well – and what matters, ultimately, is the creation and distribution of opportunities for people to flourish« (ebd.: 21). Bereits diese Formulierung zeigt, dass die Autor/innen schulische Bildung als Mittel zum Zwecke des menschlichen Aufblühens betrachten – und nicht primär als ein Feld, in dem sich dieses selbst vollzieht. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie sich nicht auf den Prozess des human flourishing selbst fokussieren, sondern auf seine Ermöglichung durch schulische Bildung: »We focus on opportunities for flourishing rather than flourishing itself because the most that educational goods can do is equip people with what they need for their lives to go well, including the capacity to make good choices.« (ebd.: 21) Dabei fassen Brighouse et al. die Domain und die Ermöglichungsbedingungen von human flourishing ziemlich breit: Dazu gehören ökonomische Produktivität, individuelle Autonomie, demokratische Kompetenz, gesunde interpersonelle Beziehungen, Behandlung der Anderen als Gleiche, sowie persönliche Verwirklichung. Schulische Bildung soll zu all diesen Merkmalen menschlichen Aufblühens befähigen (vgl. ebd.: 23-27). Was ist jedoch das Besondere bei der Kategorie des human flourishing, was sie von den aufgezählten Begrifflichkeiten unterscheidet, und zugleich ihr erlaubt, in ihnen allen als ein identisches Motiv präsent zu sein?
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Ansatzpunkte für die Beantwortung dieser Frage finden wir eher in Brighouse’s früherem Einführungsbuch »On Education« (Brighouse 2006), das einige wichtige Spezifizierungen des Begriffs von human flourishing enthält, die ihn übrigens in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen als in »Educational Goods«. Im ersteren Buch wird human flourishing in Verbindung mit einer nicht-funktionalistisch verstandenen Allgemein- bzw. Persönlichkeitsbildung (»liberal education«) gebracht (vgl. Brighouse 2006: 2). Demnach trägt die Schule dann zu einem florierenden menschlichen Leben bei, wenn sie den »intrinsic value of education« (ebd.: 4) umsetzt, wodurch die Schüler/innen je nach Interessen sich dauerhaft, sogar lebenslang an selbstbezweckten intellektuellen Aktivitäten beteiligen, wie etwa Beschäftigung mit Poesie, mit Geschichte, oder auch mit Algebra (vgl. ebd.: 4). Zudem wird flourishing als wertvollstes Ziel von Schule sowohl von ökonomischer Teilhabe (vgl. ebd.: 2), als auch von individueller Autonomie abgegrenzt (vgl. ebd.: 15). Diese Abgrenzung geschieht entlang zweier spezifischer Hauptmerkmale eines florierenden menschlichen Lebens: Erstens ist ein solches Leben keine Anpassung an äußerliche Zwänge; es zeichnet sich vielmehr durch eine innere Authentizität aus, es ist »lived from the inside« (ebd.: 16). Zweitens, das ist ein Leben, das sich an objektiv Gutem orientiert (vgl. ebd.: 15f.). Ein Leben, das sich ausschließlich oder sogar vorwiegend an den Erfordernissen der Gesellschaft im Allgemeinen und der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes im Besonderen ausrichtet, ist nicht authentisch, weil ein solches Leben nicht die eigenen Interessen, Vorlieben und Ideale der Person verwirklicht, sondern sich äußerlichen Imperativen unterwirft. Im Übrigen bedeutet die Kultivierung von ökonomischer Teilhabe und Produktivität des Einzelnen nach Brighouse eben nicht seine Anpassung an die momentanen Bedürfnisse von Wirtschaft und Arbeitsmarkt im Sinne des modernen Begriffs der employability, sondern seine Befähigung, seine eigenen Interessen und Zielsetzungen im Rahmen des Wirtschaftssystems der Gesellschaft zu verwirklichen, und dort die Tätigkeiten auszuüben, mit denen er sich identifiziert (vgl. ebd.: 2, 28). Um diese Tätigkeiten herauszufinden, um seine eigenen Interessen finden zu können, braucht das heranwachsende Individuum eine schulische Bildung, in deren Rahmen es sich mit unterschiedlichen Erfahrungsund Wissensbereichen aus Wissenschaft und Kunst befasst, und zwar um dieser Befassung willen. In diesem Sinne setzt die Befähigung zur Authentizität durch schulische Bildung das Erleben der Authentizität in schulischer Bildung: Authentizität ist daher primär ein intrinsischer Wert schulischer Bildung.
Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung
Eine autonom-authentische Lebensführung ist jedoch zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung von human flourishing. Darüber hinaus muss ein florierendes menschliches Leben, wie bereits erwähnt, auf objektiv Gutes ausgerichtet werden. Demnach führt ein Egozentriker, dem es nur um die Verwirklichung seiner subjektiven Interessen und Vorlieben geht, ein solches Leben nicht. Dies ist schon deshalb der Fall, weil nach Brighouse et al. sich human flourishing nicht nur auf das Einzelindividuum, sondern auch auf dessen Mitmenschen bezieht. Ein menschliches Leben ist demnach nur dann erfüllt, wenn es Gutes herbeiführt, das gut nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaft ist (vgl. Brighouse et al. 2018: 2; Brighouse 2006: 15f.). Dies bedeutet, dass schulische Bildung nur dann human flourishing verwirklicht, wenn in ihrem Rahmen ein Sinn für Objektivität in den Schüler/innen entsteht und sich entwickelt. An dieser Stelle wird die immense Bedeutung des akademischen Bildungswissens sichtbar, das in den diversen wissenschaftlichen und künstlerischen Schulfächern vermittelt wird. Denn der Sinn für Objektivität und für das objektiv Gute entsteht genau in dem Erwerb dieses Wissens. Im Zuge dieses Erwerbs, insofern er als Selbstzweck und nicht um externe Anforderungen und Interessen zu befriedigen betrieben wird, überschreitet das Individuum die engen Grenzen seiner ursprünglichen Umwelt und unmittelbaren Subjektivität, und so eröffnet sich für das Individuum eine Welt begrifflicher Inhalte, die eine überindividuelle, universelle Gültigkeit beanspruchen. Freilich führt die Eröffnung dieser objektiven Welt des akademischen (im Sinne von nicht-utilitären, nicht-angewandten, kontextübergreifenden) Wissens nur dann zum Aufblühen des Individuums, wenn es sich in diese Welt hineinprojizieren kann, d.h. wenn es ihre Inhalte als Medium der begrifflichen Artikulation der eigenen Interessen, Ideale und Zielvorstellungen sowie als Grundlage für die Ausübung von Aktivitäten und Interaktionen handhabt, in denen sich das Individuum in seinem geistigen Wachstum verwirklicht. Hegelianisch gesprochen, besteht human flourishing in der dynamischen und permanenten, zugleich spannungsreichen Vermittlung zwischen subjektiven Erfahrungen, Perspektiven und Bestrebungen einerseits und objektiven Wissensinhalten anderseits, die begrifflich strukturiert sind und deren Erwerb Beteiligung an Argumentationen voraussetzt, die die Gründe dieser Inhalte kommunikativ reflektieren. Ohne die subjektive Seite dieser Vermittlung bleibt (schulisches) Wissen abstrakt und belanglos für ein florierendes Leben. Aber ein solches Leben findet auch dann nicht statt, wenn das Individuum
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seine Erfahrungen und Anliegen, seine Ziele und Ideale nicht rational objektiviert, um sie dann in der breiten Gesellschaft zu kommunizieren und durch sinnvolle Tätigkeiten zu verwirklichen. Die Schule ist nur dann ein Ort von human flourishing, wenn ihr diese Vermittlung gelingt. Dann – und nur dann – kann sie zugleich auch ihre extrinsischen Werte verwirklichen, wie etwa Befähigung zur ökonomischen Teilhabe, zur demokratischen Partizipation, oder zur Verringerung von sozialen Ungleichheiten. Dieser Zusammenhang soll nun näher erörtert werden.
3.
Extrinsische Werte schulischer Bildung und der »intrinsische Weg« ihrer Verwirklichung
Wenn Bildung als Mittel zum Erreichen von ihr externen Zwecken verstanden wird, dann stellt sich vor allem die Frage, wie effektiv sie als ebensolches Mittel in Relation zum jeweiligen Zweck fungieren kann. Diese Frage enthält bereits an sich die Vorstellung, dass Bildung grundsätzlich gegen andere Mittel ausgetauscht werden kann, die effektiver oder »kostengünstiger« für das Erreichen des Zweckes erscheinen. So wird zwar Herbeiführung von Chancengleichheit oft als wertvolles Ziel schulischer Bildung in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte dargestellt, aber es gibt nicht wenige Autoren, die ihr nur wenig Wirkungsmöglichkeiten in Bezug auf dieses Ziel einräumen (vgl. etwa El-Mafaalani 2020: 13-16, 49-56). In der Tat scheint es plausibel zu vermuten, dass andere Mittel wie etwa Sozialpolitik, Arbeitsintegration oder Abschaffung von Diskriminierung mehr diesbezüglich bewirken könnten. Ich möchte allerdings nun die These aufstellen und begründen, dass wenn schulische Bildung als eine Lebensform ausgestaltet wird, die auf human flourishing von allen Schülerinnen und Schülern ausgerichtet ist (und dieses auch verkörpert), sie sehr viel zur Verwirklichung von Werten wie ökonomischer Teilhabe, demokratischer Partizipation und auch Chancengleichheit beitragen kann. Andere angebliche Werte schulischer Bildung wie etwa Weitergabe kultureller Traditionen, oder Allokation von Heranwachsenden auf unterschiedliche Berufslaufbahnen haben in der Tat wenig mit human flourishing zu tun. Allerdings werde ich gegen Ende dieses Abschnittes argumentieren, dass diese »Werte« keine Plausibilität aufweisen und daher nicht anerkennungsfähig als solche sind. Befähigung zur ökonomischen Teilhabe ist ein unmittelbares Ergebnis von human flourishing – zumindest, wenn wir »ökonomische Teilhabe« im Sin-
Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung
ne von Brighouse ausdeuten, den ich oben kurz skizziert habe. Hierzu geht es in erster Linie darum, dass das Individuum die Arten von Erwerbsarbeit identifiziert und sich für sie qualifiziert, die es als Selbstverwirklichung im Rahmen des vorhandenen Wirtschaftssystems ausüben kann. Dazu soll das Individuum seine eigenen Interessen und Ideale in seiner Schulzeit nicht nur erkannt, sondern auch erfahren haben können, und es soll gelernt haben, wie es diese Interessen und Ideale in gesellschaftlich nützliche Beiträge übersetzen kann. Kultivierung von Authentizität und Befähigung zur SelbstObjektivierung sind die Grundvoraussetzungen dafür. Ähnliches gilt für die Befähigung zur demokratischen Partizipation als extrinsischen Wert schulischer Bildung. Teilnahme am politischen Prozess einer demokratischen Gesellschaft bedeutet vor allem, dass ihre Mitglieder ihre Interessen, Werte- und Normvorstellungen rational-argumentativ im Rahmen von öffentlichen Diskursen artikulieren, und diese Interessen, Werteund Normvorstellungen in Verbindung zu den überindividuellen Institutionen der Gesellschaft setzen. Grundvoraussetzung dafür ist das Praktizieren der begrifflichen Selbst-Artikulation, die oben als Hautmerkmal von human flourishing im Bereich der Schulbildung dargelegt wurde. Human flourishing in der Schule trägt zur Chancengleichheit in zweierlei Hinsicht bei: Erstens bezweckt Schule, die sich diesem Wert verschreibt, das Aufblühen aller Schüler/innen. Sie ermutigt jedes einzelne Kind, seine subjektiven Interessen und Ideale auszuleben und lässt sie in das schulische Geschehen einfließen. In diesem Sinne behandelt sie die Kinder gleich, ohne ihnen etwa unterschiedliche Begabungen zu unterstellen und ihnen dadurch unterschiedliche Chancen zu eröffnen. Zugleich macht eine solche Schule die Subjektivität der einzelnen Schüler/innen zum Ausgangspunkt ihres Unterrichts, der letztlich auf die Befähigung jedes Kindes zur begrifflichen Artikulation dieser Subjektivität, auf ihre Vermittlung mit objektivem Wissen ausgerichtet ist. Zweitens bezieht sich das Aufblühen des Einzelnen auch auf seine Beziehungen mit seinen Mitmenschen. Das Leben des Individuums ist dann florierend, wenn es aus sich herausgeht und sich in die Lage und die Sichtweisen der Anderen hineinversetzt – was übrigens auch eine Bedingung für die Entstehung des erwähnten Sinnes für Objektivität ist. Dies trägt zur Entstehung von Beziehungen wechselseitiger Anerkennung, zu einer Solidarität zwischen Gleichen bei, die mit Chancenungleichheit, geschweige denn mit Diskriminierung nicht vereinbar ist.
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Aber wie ist es dann um die Auslesefunktion der Schule bestellt, die viele Autor/innen als wertvoll, d.h. als etwas Gutes ausdeuten, das die Schule bewirke, da sie eine für die Gesellschaft wichtige Aufgabe der planvollen Allokation von zukünftigen Arbeitskräften in unterschiedlichen Segmenten des Arbeitsmarktes erfülle (vgl. Fend 2006: 34f., 44-50; Geißler 2006: 273f.)? Schüler/innen, die aus höheren, akademischen Schultypen ausselektiert werden, und dadurch gespiegelt bekommen, dass sie angeblich nur über eingeschränkte »kognitive Fähigkeiten« verfügen, dürfen ihr Leben an der Schule wohl kaum als florierend oder erfüllend erfahren. Wie ich an einer anderen Stelle ausführlich dargelegt habe, ist die Auslesefunktion der Schule zwar faktisch vorhanden, aber nicht moralisch legitim (vgl. Stojanov 2011: 165-174). Demnach soll man die selektierende Wirkung schulischer Bildung zu minimalisieren versuchen, anstatt sie zu einem Wert zu verklären. Vielmehr widerspricht diese Wirkung nicht nur dem übergreifenden Wert des human flourishing in der Schule, sondern auch den anderen bisher aufgezählten Werten von Bildung. Sie trägt zur Verstärkung von Chancenungleichheit bei, weil die frühkindliche Selektion, so wie sie in manchen Bundesländern nach wie vor praktiziert wird, Herkunftsbenachteiligungen verstärkt. Schulische Selektion widerspricht darüber hinaus den Werten der Befähigung zur demokratischen Partizipation und zur ökonomischen Teilhabe, da sie einen großen Teil der Kinder sehr früh aus der Befassung mit akademischen Inhalten im oben darlegten Sinne ausschließt und ihre Motivation dazu durch die erlebte Missachtungserfahrung der Exklusion zum Erliegen bringt. Diese Befassung ist aber eine Grundvoraussetzung für begriffliche Selbst-Artikulation, ohne die – wie wir es gesehen haben – demokratische Partizipation und eine ökonomische Teilhabe, die zur Selbstverwirklichung beiträgt, kaum möglich sind. Im Übrigen behindert frühkindliche schulische Selektion die Selbstartikulationsfähigkeiten auch bei Kindern, die besser bei ihr abgeschnitten haben, da der Selektionsdruck sie oft zwingt, die in der Schule vermittelten Wissensinhalte nur zu »pauken«, um bessere Noten zu bekommen, anstatt diese Inhalte mit den eigenen Interessen, Bestrebungen und Idealen in Verbindung zu setzen. Auch das Bewahren und die Sicherung von kulturellen Traditionen um dieser Traditionen willen steht im Widerspruch zu den bisher dargelegten Werten schulischer Bildung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man etwa mit Martin Fuhrmann Traditionen in homogene, in sich geschlossene, schulisch zu vermittelnde Kulturkanons überführen möchte, deren Inhalte nicht zur Disposition für Wahlentscheidungen und subjektiven Präferenzen der Schüler/innen stehen dürfen (vgl. Fuhrmann 2002: 6, 65-73). Dieses Verständnis
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widerspricht ganz offensichtlich der Befähigung zur individuellen Autonomie, die nicht nur eines der Kernelemente von human flourishing ist, sondern darüber hinaus unentbehrlich für demokratische Partizipation und ökonomische Teilhabe ist. Individuelle Autonomie setzt nämlich einen kritisch-reflexiven und auch selektiven Umgang mit Traditionen voraus: selektiv in dem Sinne, dass das Individuum aus der Fülle der zugänglichen kulturellen Überlieferungen, die übrigens in Plural gegeben und in sich heterogen sind, sich solche Inhalte aussucht und sich mit ihnen befasst, die das Individuum ansprechen und zu einem besseren Verständnis von Selbst und Welt bei ihm führen. Freilich soll dies nicht als ein Plädoyer für Beliebigkeit missverstanden werden – kulturelle (wissenschaftliche, künstlerische, literarische) Inhalte werden nur dann begrifflich erfasst, wenn sie zusammen mit ihren Domänen wahrgenommen werden, in denen sie in einer Reihe von Zusammenhängen mit anderen Inhalten stehen. Kulturelle Inhalte in ihre breiteren Zusammenhänge zu stellen bedeutet jedoch längst nicht, sie zu kanonisieren. Eine solche Kanonisierung widerspricht auch dem Wert der Chancengleichheit durch Bildung, denn sie benachteiligt enorm diejenigen Schüler/innen, die fernab der kanonisierten (Hoch-)Kultur aufwachsen. Nicht zufällig beklagen Proponenten eines schulisch zu vermittelten Kanons der »europäischen Kultur« (im Singular!) das angebliche Verschwinden von Bildungseliten und den Massenzugang zur Bildung als Hauptursache für die »Demontage des Bildungskanons« (vgl. Fuhrmann 2002: 65-73), die für sie einem allgemeinen Verfall von Bildung gleichkommt. Fassen wir es zusammen: Die in der einschlägigen Literatur oft der schulischen Bildung zugeschriebenen Funktionen der Auslese von Kindern und Jugendlichen und der Sicherung von kanonisierten kulturellen Traditionen widersprechen den zentralen extrinsischen Werten schulischer Bildung – ökonomische Teilhabe, demokratische Partizipation und Herstellung von Chancengleichheit – und können daher selbst nicht als wertvoll betrachtet werden. Die Verwirklichung der erwähnten Werte setzt die Bildung qua human flourishing als intrinsischen Wert von Schule voraus. Mit anderen Worten, ist die Betrachtung, Behandlung und Umsetzung von Bildung verstanden als Form eines florierenden menschlichen Lebens als Selbstzweck an Schulen, d.h. ohne sich die Frage nach der Nützlichkeit und Verwertbarkeit dieser Bildung zu stellen, der Königsweg zur Verwirklichung des sozialen, des politischen und des wirtschaftlichen Guten, das die Schule leisten soll. Wie aber, mit welchen Mitteln und Ressourcen ist dieser Weg zu bauen? Dazu einige eher kursorische Überlegungen zum Abschluss.
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4.
Der »Preis« von Bildung als human flourishing
Wie bereits zum Beginn dieses Aufsatzes ausgeführt, lassen sich innere Werte von menschlichen Lebensformen wie Bildung nicht direkt in Preise umrechnen. Man kann sich aber dennoch fragen, welche Mittel und Ressourcen für die Verwirklichung von dem Wert von human flourishing an Schulen vonnöten sein könnten. Dies ist natürlich eine weitgehend empirische Frage, die im Rahmen dieses normativ-analytischen Aufsatzes nicht beantwortet werden kann. Aus der bisherigen Argumentation ergeben sich aber zumindest einige Ansatzpunkte zu dieser Frage, die ich nun zum Ausdruck bringen möchte. Möchte man Schule zu einem Ort menschlichen Aufblühens und dadurch der Befähigung aller Kinder und Jugendlichen zur individuellen Autonomie, ökonomischen Teilhabe und demokratischen Partizipation machen, dann muss man nicht zuerst an zusätzliche Ressourcen, sondern an tiefgreifende Reformen denken. Diese haben selbstverständlich ihren »Preis«, aber dieser ist weniger monetärer, sondern vielmehr sozialer und psychologischer Natur: es geht hierbei um die Reformierung von überlieferten, in den Köpfen von schulpolitischen Akteuren und in schulbezogenen Institutionsstrukturen festsitzenden Denk-, Handlungs- und Funktionsweisen. Vielleicht das Wichtigste wäre eine schulstrukturelle Reform, bei der schulische Selektion konsequent abgeschafft und durch eine wirklich inklusive Schulbildung ersetzt wird. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass allen Kindern und Jugendlichen Befassung mit akademischen Wissensinhalten für die gesamte Zeit ihrer Beschulung ermöglicht wird, und zwar so, dass diese Inhalte mit ihren subjektiven Erlebnissen, Interessen und Bestrebungen in Verbindung gebracht werden, wodurch die Schüler/innen zur begrifflichen Selbst-Artikulation befähigt werden. Dazu gehört ein individualisierter Unterricht, der die Kinder und Jugendlichen in der Entwicklung und in dem Ausleben ihrer Authentizität stärkt. Dazu gehört auch die Gestaltung von Schule als einen liebenswerten Lebensort, der möglichst stressfrei und ohne übertriebenen Leistungsdruck ist, so dass die Kinder gern auf diesem Ort verbleiben. Wie hoch wären die Kosten für diese und ähnliche Reformen, die darauf abzielen, Schule als einen Ort echter Bildung, d.h. als Ort menschlichen Aufblühens umzugestalten? Selbst wenn es kaum möglich sein dürfte, diese Kosten zu beziffern, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass sie niedriger als die Kosten sein werden, die das Ausbleiben dieser Reformen
Intrinsische und extrinsische Werte schulischer Bildung
in der Form von menschlichem Leid, Verkümmerung von Entwicklungsmöglichkeiten, sozialer und ökonomischer Passivität oder Überanpassung, Unfähigkeit zur Autonomie und zur Authentizität verursachen.
Literatur Brighouse, Harry (2006): On education, London/New York: Routledge. Brighouse, Harry/Ladd, Helen F./Loeb, Susanna/Swift, Adam (2018): Educational goods. Values, evidence, and decision making, Chicago: The University of Chicago Press. Dewey, John (1916): Democracy and education. An introduction to the philosophy of education, New York: The Macmillan Company. Dewey, John (1916/2011): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, in: Erich Hylla (Hg.), 5. Aufl., Weinheim/Basel: Beltz. El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln: Kiepenheuer& Witsch. Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, Wiesbaden: VS-Verlag. Fromm, Erich (1976/2006): Haben oder Sein, Hamburg: Spiegel-Verlag. Fuhrmann, Manfred (2002): Bildung. Europas kulturelle Identität, Stuttgart: Reclam. Geißler, Rainer (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 4. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag. Hegel, Georg W. F. (1810/1968): »Gymnasialrede am 14. September 1810«, in: Karl Löwith/Manfred Riedel (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Studienausgabe in 3 Bänden, Bd. 1, Hamburg: Fischer, S. 39-51. Hegel, Georg W. F. (1811/1968): »Gymnasialrede am 2. September 1811«, in: Karl Löwith/Manfred Riedel (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Studienausgabe in 3 Bänden, Bd. 1, Hamburg: Fischer, S. 52-63. Hegel, Georg W. F. (1821/1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hegel, Georg W. F. (1822/2005): »Die Philosophie des Rechts. Vorlesungen von 1821/22«, in: Hansgeorg Hoppe (Hg.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Kant, Immanuel (1785/1968): »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant Werke VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 11-103. Stojanov, Krassimir (2011): Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs, Wiesbaden: VS-Verlag. Stojanov, Krassimir (2018): Education, self-consciousness and social action. Bildung as a neo-Hegelian concept, London & New York: Routledge.
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung? Perspektiven der empirischen Bildungsforschung Rolf Strietholt
1.
Einleitung
Die Frage, welchen Wert die (empirische) Bildungsforschung welchem schulischen Bildungswissen beimisst, lässt sich unterschiedlich angehen. Mein pragmatischer Ansatz ist es zu untersuchen, welches Wissen in empirischen Studien bewertet wird, um so den Rückschluss zu ziehen, welches Wissen als bedeutsam erachtet wird und welches nicht. Eine umfassende Analyse aller Studien, die der Bildungsforschung zugerechnet werden (könnten) ist kaum möglich, daher fokussiere ich mich im Folgenden auf internationale Schulleistungsstudien (z.B. PISA, TIMSS). Diese Studien sind eng mit der sogenannten »empirischen Wende« verknüpft und haben eine enorme Strahlkraft auf die empirische Bildungsforschung im Allgemeinen (vgl. BuchhaasBirkholz 2009). Im Folgenden werde ich zunächst die Bedeutung internationaler Schulleistungsstudien für die empirische Bildungsforschung aufzeigen, im Anschluss untersuche ich anhand der in den vergangenen 25 Jahren durchgeführten internationalen Studien, welche Wissensbereiche in welchem Ausmaß untersucht wurden und inwiefern die unterschiedlichen Bereiche empirisch voneinander abgrenzbar sind. Zum Schluss diskutiere ich kritisch die Dominanz bestimmter Wissensbereiche und die untergeordnete Rolle, die andere Wissensbereiche in der empirischen Bildungsforschung einnehmen.
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Rolf Strietholt
1.1
Welcher Wert wird seitens der Bildungsforschung welchem Bildungswissen beigemessen: Tests internationaler Schulleistungsstudien als Indikator
Studien wie PISA und TIMSS werden immer wieder als Katalysator für die empirische Bildungsforschung bezeichnet, denn diese Studien werden breit rezipiert, die Daten werden in einer Vielzahl von Sekundäranalysen ausgewertet und das Design und die Methodik internationaler Studien wird in vielen regionalen oder nationalen Studien adaptiert. Die breite und kontinuierlich wachsende Rezeption der Ergebnisse internationaler Schulleistungsstudien in den Medien und der Bildungspolitik ist seit Beginn des neuen Millenniums durch bibliographische Analysen sowie eine Reihe von Fallstudien in einzelnen Ländern dokumentiert (vgl. Grek 2009; Meyer/Benavoth 2013; Meyer et al. 2018; Schwippert 2009). Neben der breiten öffentlichen Rezeption rahmen die Ergebnisse internationaler Studien zudem den fachwissenschaftlichen Diskurs innerhalb der empirischen Bildungsforschung. Im Speziellen werden die Daten dieser Studien in einer Vielzahl von Sekundäranalysen genutzt. Dabei wird das Datenmaterial nicht nur für Ländervergleichen, sondern auch für innerstaatliche Analysen auf Individual-, Klassen- und Schulebene sowie in Untersuchungen zu Bildungsungleichheit genutzt. Inhaltlich werden der persönliche Hintergrund der Schülerinnen und Schüler, Lernprozesse in Schule und Unterricht sowie die Ausgestaltung von Bildungssystemen untersucht. Des Weiteren werden die Daten internationaler Studien in der Methodenforschung verwendet (vgl. Übersichten von Hanushek/Wößmann 2011; Hopfenbeck et al. 2018; Lenkeit et al. 2015; Robitaille/Beaton 2002; Strietholt et al. 2019; Strietholt/Scherer 2017).
1.2
Von Bildungsbeteiligung zu Bildungsergebnissen
Für viele Staaten kann seit Beginn des 19. Jahrhunderts anhand empirischer Daten nachgezeichnet werden, welcher Anteil der Bevölkerung Zugang zu primärer, sekundärer und tertiärer Bildung hat und vielfach liegen auch Informationen darüber vor, wie sich die Teilnahmequoten in den vergangenen 200 Jahren, zum Beispiel differenziert nach Regionen oder Geschlecht, entwickelt haben. Bei der Analyse von Teilnahmequoten wird bewertet, ob Kinder oder Jugendliche Zugang zur Schule haben, dabei bleibt allerdings offen was sie in der Schule lernen. Um tatsächlich erworbenes Bildungswissen zu beschreiben, müssen Kinder und Jugendliche getestet werden. In dem vorliegenden
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
Beitrag widme ich mich in diesem Kontext mit der Frage, welchen Wert die empirische Bildungsforschung welchem Bildungswissen beimisst. Die Entwicklung internationaler Schulleistungsstudien bietet einen Wendepunkt für die empirische Bildungsforschung. In den ersten internationalen Studien wurde die Leistung der Schülerinnen und Schüler in ganz unterschiedlichen Bereichen getestet. Eine Pionierrolle nimmt dabei die sogenannten International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) ein, die zunächst ein loser Zusammenschluss international renommierter Forscher war und die in hohem Maß vom individuellen Engagement getrieben wurde (Papanastasiou et al. 2011). In der sogenannten Pilot Study wurden Anfang der 1960er Jahre Jugendliche aus 12 Staaten in Mathematik, Leseverständnis, Geographie und Naturwissenschaft getestet (Foshay et al. 1962). Neben den vier Schulleistungstests wurde auch ein Intelligenztest administriert. In den Folgejahren Ende der 1960er Jahre wurde dann zunächst die First International Mathematics Study durchgeführt (Husén, 1967), in der nur Mathematik getestet wurde, um im Anschluss im Rahmen des umfangreichen Six Subject Survey, Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Naturwissenschaft, Lesen, Literatur, Englisch als Fremdsprache, Französisch als Fremdsprache und politische Bildung zu testen (Walker, 1976). In den 1980er Jahren gab es weniger Aktivität, wobei die Erhebungen in Naturwissenschaft und Mathematik wiederholt wurden. Eine neue Phase in der international vergleichenden Schulleistungsforschung begann 1995 mit der Administration der sogenannten Third International Mathematics and Science Study, die seither alle vier Jahre wiederholt wurde und mittlerweile unter dem Namen Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) Kinder und Jugendliche in Mathematik und Naturwissenschaft testet (Mullis et al. 1997). Zusätzlich zu TIMSS administriert die IEA seit 2001 alle fünf Jahre die Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS), in der Kinder im Lesen getestet werden (Mullis et al. 2003). Parallel zu den genannten IEA-Studien führt die Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) seit 2000 alle drei Jahre die Programme for International Student Assessment (PISA) Studie durch, in der Jugendliche in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft getestet werden (OECD, 2001). Neben den genannten Studien gibt es einige Ergänzungen zu den genannten Studien. PISA bietet in einigen Erhebungszyklen optionale Zusatzerhebungen in Bereichen wie Problemlösefähigkeit oder Finanzwissen, wobei in der Regel nur ein Teil der Teilnehmerländer von diesen Optionen Gebrauch macht. In jüngeren Jahren gibt es vonseiten der IEA zudem die Bemühungen ihr Portfolio
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Rolf Strietholt
mit kleineren Studien zu erweitern, in denen politisches Wissen (International Civic and Citizenship Education Study, ICCS) und computer- und informationsbezogene Kompetenzen (International Computer and Information Literacy Study, ICILS) getestet werden (Fraillon et al. 2014; Schulz et al. 2018). Neben den genannten internationalen Studien gibt es eine Reihe von regionalen Studien, wie etwa SACMEQ (Southern and Eastern Africa Consortium for Monitoring Educational Quality; Lesen, Mathematik, Gesundheitswissen) in Afrika, ESLC (European Survey on Language Competences; Fremdsprachen) in Europa oder SERCE (Segundo Estudio Regional Comparativo Explicativo; Lesen, Mathematik, Naturwissenschaft) in Lateinamerika und der Karibik.
1.3
Differenzierbarkeit der Tests internationaler Schulleistungsstudien
Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Testung der Leistung von Schülerinnen und Schülern einen Mehrwert gegenüber der Erfassung der Besuchsdauer der Schule (in Jahren) hat; zudem korrellieren Schuldauer und Schulleistung allenfalls lose miteinander. So entspricht der Leistungsvorsprung der Schülerinnen und Schüler in den leistungsstärksten Ländern (die meisten liegen in Ostasien) gegenüber der Leistung in vielen europäischen Ländern in der Sekundarschule einem Leistungszuwachs von zwei Schuljahren, wobei die Kinder überall etwa gleich lange in der Schiule waren. Die enorme internationale Varianz in der Leistung von Schülerinnen und Schülern wurde in einer Vielzahl von Studien repliziert (Mullis et al. 2016). Zudem erweist sich die in internationalen Schulleistungsstudien mithilfe von Tests gemessene Leistung als ein besserer Prädiktor für das Wirtschaftswachstum als die reine Schuldauer (Hanushek/Wößmann 2015). Weniger Einigkeit besteht demgegenüber, inwiefern unterschiedliche Tests empirisch trennbare Wissensbereiche erfassen. So haben Hanushek und Wößmann in der zuvor zitierten Studie einfach die verfügbaren Daten aus ganz unterschiedlichen Tests zusammengefasst, ohne zwischen Wissensbereichen zu differenzieren. Rindermann (2007) argumentiert anhand hoher Korrelationen, die er zwischen den Tests von PISA, PIRLS, TIMSS sowie den Daten aus Intelligenztests auf Länderebene beobachtet, dass die internationalen Schulleistungsstudien allesamt dasselbe messen (in seiner Interpretation: allgemeine Intelligenz). Wendt und Kasper (2016) finden in einer Analyse von Testdaten auf Individualebene keine Schülergruppen mit fachspezifischen Stärken und Schwächen in Lesen, Mathematik oder Na-
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
turwissenschaft, sondern nur Schülergruppen mit allgemein höheren oder niedrigeren Testscores über alle Domänen hinweg. Demnach ist es kaum sinnvoll möglich zwischen den einzelnen Tests zu differenzieren bzw. die Tests bieten wechselseitig keinen Mehrwert an Informationen. Im Gegensatz zu den Forschungsarbeiten, die hohe Zusammenhänge zwischen den Tests in unterschiedlichen Domänen dahingehend interpretieren, dass die Wissensbereiche kaum trennbar sind, gibt es eine Reihe von Forschungsarbeiten, die konzeptionelle und empirische Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Tests internationaler Studien herausarbeiten. Baumert et al. (2009) arbeiten – als Antwort auf Rindermann – heraus, dass PISA fachliches Wissen misst und nicht Intelligenz. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Arbeiten, die selbst bei Tests innerhalb einzelner Domänen Unterschiede herausarbeiten (Lockheed/Wagemaker 2013; Wu 2010). Die IEA definiert Zielpopulationen für Stichproben bezogen auf Jahrgangsstufen und konstruiert Tests so, dass sie nationale Curricula abbilden, wohingegen die OECD in PISA altersbezogene Stichproben zieht. Die Tests enthalten Inhalte, welche OECD-Expertinnen und -Experten als wichtig für das spätere Leben und den Arbeitsmarkt erachten. Klieme (2016) berichtet für die Jahre, in denen TIMSS und PISA parallel administriert wurden sowohl für Mathematik als auch für Naturwissenschaft hohe, aber nicht perfekte Korrelationen in Höhe von etwa .9 in den jeweiligen Wissensbereichen. Während einige Studien die Tests in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft miteinander verglichen haben oder unterschiedliche Tests zu derselben Domänen betrachten (z.B. Mathematik PISA und Mathematik in TIMSS), so gibt es bislang keine Studien, die systematisch die genannten Tests im sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich mit Tests in anderen Bereichen verglichen haben (z.B. politische Bildung).
2.
Forschungsfragen
Welchem schulischen Bildungswissen misst die empirische Bildungsforschung einen Wert bei? Ich werde versuchen dieses Thema anhand von zwei konkreten Fragestellungen empirisch zu beantworten: 1) Welches Bildungswissen wird in internationalen Schulleistungsstudien getestet und welche Bedeutung haben die einzelnen Wissensbereiche?
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Rolf Strietholt
2) Lassen sich die in unterschiedlichen Studien administrierten Tests empirisch voneinander abgrenzen?
Zur Beantwortung der ersten Fragestellung betrachte ich, welche Wissensbereiche in internationalen Schulleistungsstudien getestet werden. Um zu quantifizieren, welche Bedeutung den einzelnen Bereichen zukommt, vergleiche ich die Anzahl der Tests in den einzelnen Bereichen sowie die Zahl der Staaten, die an diesen Tests teilgenommen haben. Zur Beantwortung der zweiten Frage, betrachte ich inwiefern sich die unterschiedlichen Wissensbereiche empirisch voneinander abgrenzen lassen. Hierzu analysiere ich die Korrelation zwischen den Testergebnissen. Diese Analysen erfolgen auf Staatenebene, da unterschiedliche Schülerinnen und Schüler an den jeweiligen Studien teilgenommen haben. Hierbei untersuche ich insbesondere die Differenzierbarkeit zwischen Wissensbereichen, Zielpopulation (Primar- oder Sekundarstufe) sowie zeitliche Stabilität über unterschiedliche Erhebungszyklen hinweg.
3.
Methoden
3.1
Daten
Um aufzudecken, welches schulische Bildungswissen welchen Wert in der bildungswissenschaftlichen Forschung hat, betrachte ich die Testinhalte internationaler Schulleistungsstudien, die in der Primar- oder Sekundarstufe durchgeführt werden. Aus Gründen der Vergleichbarkeit beschränke ich mich dabei auf Studien, die weltweit durchgeführt wurden und an denen somit theoretisch alle Staaten teilnehmen konnten, das trifft auf Studien zu, die von der IEA und der OECD administriert werden. Gleichzeitig werden damit Studien ausgeschlossen, die nur regional, also zum Beispiel ausschließlich in Afrika oder Lateinamerika, durchgeführt wurden. Des Weiteren beschränke ich mich auf Studien, die seit 1995 durchgeführt wurden, dieses Jahr markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der international vergleichenden Bildungsforschung, da die Administration zunehmend standardisiert und professionalisiert wurde (z.B. Gustafsson 2008; Papanastasiou et al. 2011). Tabelle 1 führt die seit 1995 durchgeführten internationalen Schulleistungsstudien und die in den jeweiligen Studien getesteten Wissensbereiche bzw. Domänen
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
auf. Daten aus PISA 2018 und ICILS 2018 werden nicht berücksichtigt, da die Daten bislang nicht oder nur unvollständig veröffentlicht wurden.
3.2
Analysen
Deskriptive Häufigkeitsauszählungen Die Entwicklung von Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung unterschiedlicher Bereiche von Bildungswissen für die empirische Bildungsforschung ist für sich genommen eine eigene Forschungsaufgabe. Im Folgenden nutze ich als Indikator für die Bedeutsamkeit, welche unterschiedlichen Wissensbereiche beigemessen wird, die Häufigkeit in der unterschiedliche Wissensbereichen bzw. Domänen seit 1995 getestet wurden. Dabei gilt es zu beachten, dass einige Studien mehrere Tests zu verschiedenen Wissensbereichen administrieren. Neben der Anzahl an Tests ziehe ich als weiteren Indikator die Anzahl der Länder heran, die an den unterschiedlichen Tests teilgenommen haben. Hierzu betrachte ich die kumulierte Anzahl an Teilnehmerländern an den unterschiedlichen Tests, wobei Länder mehrfach gezählt werden, wenn sie an unterschiedlichen internationalen Tests im selben Wissensbereich teilgenommen haben.
Hierarchische Clusteranalyse der Korrelationen zwischen Tests Um empirisch zu untersuchen, welche Tests ähnliches Bildungswissen erfassen und welche Tests einen Mehrwert gegenüber den anderen Tests bieten, betrachte ich auf Länderebene die Korrelationen zwischen den einzelnen Tests. Wenn zwei Tests sehr hoch miteinander korrelieren, bieten sie wechselseitig kaum einen Mehrwert an Informationen, demgegenüber haben Tests einen hohen Mehrwert, wenn sie gering mit anderen korrelieren. In den in Tabelle 1 aufgeführten Studien wurden insgesamt 53 Tests durchgeführt, das führt zu insgesamt 1378 paarweisen Korrelationen. Um diese Daten auszuwerten, führe ich hierarchische Clusteranalysen durch (z.B. Backhaus et al. 2006). Das Ziel ist es, die unterschiedlichen Tests zu homogenen Gruppen bzw. Clustern zusammenzufassen, um gleichzeitig Heterogenität zwischen den Clustern herauszuarbeiten. Das Gruppieren der Tests erfolgt mithilfe eines Distanzmaßes, dass die Unähnlichkeit zwischen den einzelnen Tests quantifiziert. In der vorliegenden Studie greife ich hierzu auf die Korrelation zurück: d(xi , xj ) = 1 − ρ (xi , xj ) ,
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wobei d die Distanz zwischen den Tests xi und xj ist und anhand der Pearson-Korrelation ρ zwischen ebendiesen Tests bestimmt wird. Die Subtraktion von 1 verschiebt den Wertebereich von ρ (xi , xj ) ∈ [−1, 1] auf 1 − ρ (xi , xj ) ∈ [0, 2], wodurch d keine negativen Werte annehmen kann. Ein Wert von d (xi , xy ) = 0 steht für zwei Tests, die perfekt positiv korrelieren und einen Wert von d (xi , xy ) = 1 für zwei Tests, die völlig unabhängig voneinander sind. Werte von d (xi , xy ) > 1 stehen für negative Korrelationen, kommen aber in den empirischen Daten nicht vor. Da in den unterschiedlichen Studien unterschiedliche Schülerinnen und Schüler getestet wurden, werden die Korrelationen auf Staatenebene geschätzt. Die Schätzung der bivariaten Korrelationen basiert auf allen verfügbaren Daten, d.h. den Daten der Staaten die an beiden Tests teilgenommen haben. Die Headmap in Appendix 1 visualisiert die Korrelationen sowie die jeweils zugrunde gelegten Stichprobengrößen. In einigen Fällen sind aus weniger als 10 Staaten Daten verfügbar, daher sollten einzelne Zusammenhänge nicht überinterpretiert und keine statistischen Signifikanztests verwendet werden, sondern eher allgemeine Muster betrachtet und interpretiert werden. Die Gruppierung der Tests erfolgt in einem iterativen Prozess, wobei zunächst die beiden Tests mit der geringsten Distanz miteinander fusioniert werden, danach werden schrittweise einzelne Tests oder Cluster von mehreren Tests vereinigt. Bei der Kombination von Clustern mit mehreren Tests wird die durchschnittliche Distanz aller möglichen Kombinationen der Tests zwischen den beiden Clustern als Distanz herangezogen (Average-LinkageVerfahren).
4.
Ergebnisse
4.1
Das in internationalen Schulleistungsstudien gemessene Bildungswissen
Internationale Schulleistungsstudien werden breit rezipiert und die Daten finden in einer Vielzahl von Sekundäranalysen in der empirischen Bildungsforschung Verwendung. Vor diesem Hintergrund findet ein Agendasetting statt, wenn in internationalen Studien bestimmte Wissensbereiche getestet werden und andere nicht. Die Übersicht zu den Testinhalten internationaler Studien zeigt einerseits eine gewisse Breite, da sowohl fachliche wie auch überfachliche Inhalten getestet werden, gleichzeitig ist es lediglich eine
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
Auswahl und nicht umfassend (Tabelle 1). So wurden in den vergangenen 25 Jahren Tests in den neun Bereichen Mathematik, Lesen, Naturwissenschaft, Problemlösen, kollaboratives Problemlösen, Finanzen, politische Bildung, Computerwissen und interkulturelle Kompetenz administriert.
4.1.1
Anzahl der Studien differenziert nach Wissensbereich
Während Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft in der Schule überwiegend im Fachunterricht vermittelt werden, handelt es sich bei den anderen Wissensbereiche um überfachliche Kompetenzen, die Querschnittsaufgaben für die Schule darstellen. Mit Blick auf Lerninhalte, die vorwiegend im Fachunterricht vermittelt werden, zeigt sich eine Fokussierung auf sprachliches und mathematisch-naturwissenschaftliches Wissen zuungunsten von etwa sozialwissenschaftlicher, motorischer und musisch-künstlerischer Bildung sowie von Fremdsprachen. Gegenüber der offensichtlichen Engführung auf die sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereiche bei den fachlichen Kompetenzen wurde in den internationalen Studien ein vergleichsweise breites Spektrum überfachlicher Kompetenzen erfasst. Zur Beurteilung der relativen Bedeutung unterschiedlicher Bereiche von Bildungswissen zeigt Abbildung 1, in wie vielen der n=26 Studien Tests in den jeweiligen Wissensbereichen durchgeführt wurden. Aus der Gegenüberstellung wird deutlich, dass fachliche Kompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften mit Abstand am häufigsten getestet werden. In diesen Bereichen wurden in den vergangenen 25 Jahren jeweils mehr als zehn Studien durchgeführt, wobei jeweils etwa zwei Drittel der Studien in der Sekundarstufe durchgeführt wurden und ein Drittel in der Primarstufe. In den anderen Wissensbereichen wurden deutlich weniger Studien durchgeführt, wobei diese überwiegend in jüngeren Jahren durchgeführt wurden.
4.1.2
Kumulierte Anzahl an Teilnehmerländern in den unterschiedlichen Wissensbereichen
Die Beurteilung der Bedeutsamkeit unterschiedlicher Bereiche von Bildungswissen über die Anzahl an durchgeführten Studien hat gewisse methodische Einschränkungen, denn die Studien haben eine unterschiedliche Reichweite, so nahmen 57 Länder in der Lesestudie PIRLS 2016 teil, aber nur 24 Staaten an der Studie ICCS 2016, die politische Bildung testet. In PISA werden die Tests in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft in allen Teilnehmerstaaten administriert, andere Tests sind optional. So haben in PISA 2015 nur
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Tabelle 1: Internationale Schulleistungsstudien 1995- 2016
TIMSS
1995 IEA
Jahrgang 3, 4
26 x
x
TIMSS
1995 IEA
Jahrgang 7, 8
40 x
x
TIMSS
1999 IEA
Jahrgang 8
38 x
x
CIVED
1999 IEA
Jahrgang 8
27
PISA
2000 OECD
15 -Jährige
43 x
x
PIRLS
2001 IEA
Jahrgang 4
36
x
PISA
2003 OECD
15 -Jährige
41 x
x
TIMSS
2003 IEA
Jahrgang 4
29 x
x
TIMSS
2003 IEA
Grade 8
51 x
x
PISA
2006 OECD
15 -Jährige
57 x
x
PIRLS
2006 IEA
Jahrgang 4
47
x
TIMSS
2007 IEA
Jahrgang 4
44 x
x
TIMSS
2007 IEA
Grade 8
57 x
x
PISA
2009 OECD
15 - Jährige
73 x
Computer und IT
Politische Bildung
Finanzen
Na
Kollaboratives Problemlösen
Population
Problemlösen
Organisation
Naturwissenschaft
Jahr
Lesen
Studie
Mathematik
Getestete Wissensbereiche
x
x
x
x
x
x
x
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
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PIRLS
2011 IEA
Jahrgang 4
57
TIMSS
2011 IEA
Jahrgang 4
58
x
x
TIMSS
2011 IEA
Grade 8
50
x
x
PISA
2012 OECD
15 - Jährige
65
x
x
ICILS
2013 IEA
Jahrgang 8
21
PISA
2015 OECD
15 - Jährige
73
x
TIMSS
2015 IEA
Jahrgang 4
56
x
x
TIMSS
2015 IEA
Grade 8
46
x
x
PIRLS
2016 IEA
Jahrgang 4
57
ICCS
2016 IEA
Jahrgang 8
24
Computer und IT
Politische Bildung
Finanzen
Na
Kollaboratives Problemlösen
Population
Problemlösen
Organisation
Naturwissenschaft
Jahr
Lesen
Studie
Mathematik
Getestete Wissensbereiche
x
xb
xc x
x
x
xd
xe
x
x
Anmerkungen: a) Anzahl der teilnehmenden Staaten oder Regionen (z.B. Ontario in Kanada); b) N=44; c) N=18; d) N = 17; e) N= 54
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Rolf Strietholt
Abbildung 1: Anzahl der Tests in internationalen Schulleistungsstudien seit 1995 differenziert nach Testinhalt
Anmerkung: N=26 internationale Schulleistungsstudien; in einigen Studien wurden Tests in unterschiedlichen Wissensbereichen administriert.
17 von 73 Länder den Test in kollaborativem Problemlösen administriert. Um diese Unterschiede bei der Beurteilung der relativen Bedeutsamkeit zu berücksichtigen, stellt Abbildung 2 die kumulierte Anzahl an Teilnehmerländer dar, wobei Länder mehrfach gezählt werden, wenn sie an unterschiedlichen Studien zum selben Wissensbereich oder an unterschiedlichen Studienzyklen teilgenommen haben. Die Übersicht bestätigt die bereits zuvor beobachtete dominante Stellung sprachlicher und mathematisch-naturwissenschaftlicher Tests in internationalen Schulleistungsstudien. Während in Lesen mehr als 500 Teilnahmen und in Mathematik und Naturwissenschaft mehr als 800 Teilnahmen beobachtet werden, sind es in den anderen Bereichen weniger als 100, in den Bereichen Computerwissen, Finanzen und kollaboratives Problemlösen sogar weniger als 50.
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
Abbildung 2: Kumulierte Anzahl der Teilnehmerstaaten in internationalen Schulleistungsstudien seit 1995 differenziert nach Testinhalt.
Anmerkung: Teilnehmerstaaten, die an mehreren Studien teilgenommen haben, werden mehrfach gezählt.
4.2
Welches Bildungswissen in internationalen Schulleistungsstudien gemessen wird
Die Ergebnisse der Clusteranalysen unterstreichen die Bedeutsamkeit einer differenzierten Betrachtung zwischen bestimmten Wissensbereichen. Die simultane und wiederholte Testung in den Bereichen von Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft liefert kaum zusätzliche Informationen. Demgegenüber bietet die zusätzliche Erfassung politischer Bildung, Computerwissen, Problemlösen und Finanzwissen einen Mehrwert zur Erfassung von Fachkompetenzen in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft. Unterschiede zwischen den Tests unterschiedlicher Jahre und Zielpopulationen (Primar- und Sekundarstufe) lassen sich ebenfalls empirisch abbilden,
113
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fallen aber insgesamt geringer aus als die Unterschiede zwischen bestimmten Wissensbereichen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden im Folgenden die Ergebnisse der Clusteranalysen für unterschiedliche Teildatensätze berichtet. Die Ergebnisse der Analysen für alle verfügbaren Tests unterscheiden sich qualitativ nicht von den Analysen mit den Teildatensätzen (vgl. Appendix 2).
4.2.1
Differenzierbarkeit der Wissensbereiche in der Sekundarstufe
Um etwaige Unterschiede zwischen Tests aufzudecken, die in der Primarund Sekundarstufe administriert werden, wurde eine Clusteranalyse durchgeführt, in der ausschließlich die Daten der Sekundarstufe verwendet wurden. Abbildung 3 visualisiert die Ergebnisse dieser Analyse mithilfe eines Dendrogramm, in dem schrittweise die angeführten Tests fusioniert werden. Die Gruppierung der Tests erfolgt anhand der Distanz, die an der Abszisse abgetragen ist. Die Grafik bietet zwei zentrale Erkenntnisse dazu, inwiefern sich die unterschiedlichen Tests empirisch differenzieren lassen. Zum einen ist die Distanz zwischen den Tests in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft insgesamt gering, demgegenüber bieten die Tests zu überfachlichen Kompetenzen einen echten Mehrwert an Information zu ergebnisbezogener Bewertung von Bildungssystemen. Einzelne Ausreißer von diesem allgemeinen Befundmuster sollten nicht überinterpretiert werden, da die bivariaten Korrelationen teils auf geringen Stichproben unterschiedlicher Staaten basieren. Zunächst fällt die geringe Distanz zwischen den PISA-Tests in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft auf. Trotz einer Zeitspanne von bis zu 15 Jahren werden die PISA-Tests in den genannten drei Bereichen bis zu einer Distanz von 0,1 zu einem großen Cluster zusammengefasst. Diese Distanz entspricht einer durchschnittlichen Korrelation von etwa ρ = 0, 9 zwischen den PISA-Tests in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft, die zwischen 2000 und 2015 im Rahmen von PISA administriert wurden. Auch bei den TIMSSDaten werden geringe Distanzen zwischen den einzelnen Tests beobachtet, wobei sich die Tests in Mathematik und Naturwissenschaft besser empirisch voneinander abgrenzen lassen als bei PISA. Interessanterweise sind die Distanzen zwischen TIMSS- und PISA-Tests in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaft doppelt so groß wie innerhalb der jeweiligen Studie. Die beiden Cluster fusionieren erst bei einer Distanz von mehr 0, 2, das entspricht
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
einer durchschnittlichen Korrelation von etwa ρ = 0, 8 zwischen TIMSS- und PISA-Tests.
Abbildung 3: Dendrogramm der Testergebnisse der Sekundarschule
Anmerkung: Die Test sind wie folgt benannt: Studie (T=TIMSS, PIS=PISA, PIR=PIRLS, C=CIVED, ICC=ICCS, ICI=ICILS), Jahr, Population (nur bei TIMSS: G4=Jahrgangsstude 4, G8=Jahrgangsstufe 8), Domäne (r=Lesen, s=Naturwissenschaft, m=Mathe, civ=politische Bildung, com=Computerwissen, cps=kollaboratives Problemlösen, flit=Finanzen)
Das zweite Kernergebnis der in Abbildung 3 dargestellten Analyse ist, dass die Erfassung überfachlicher Kompetenzen komplementäre Informationen zum Bildungswissen von Schülerinnen und Schülern liefert. Die Tests zu überfachlichen Kompetenzen in den Bereichen Computerwissen, politische Bildung und Finanzen sind klar abgrenzbar von den Tests in sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftliches Bereich. Erst ab einer Distanz von 0, 3 werden die Tests in fachlichen und überfachlichen Wissensbereichen miteinander fusioniert.
115
116
Rolf Strietholt
4.2.2
Unterschiede zwischen Jahren und Populationen im Bereich Lesen
In den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft wurden regelmäßig Tests in der Primar- und Sekundarstufe durchgeführt. Hierzu stellt sich die Frage, ob die Testung unterschiedlicher Populationen einen Mehrwert an Information bietet. Abbildung 4 veranschaulicht die Ergebnisse der Clusteranalysen zu dieser Frage am Beispiel des Wissensbereichs Lesen, wobei in der Primarstufe viermal PIRLS und in der Sekundarstufe sechsmal PISA administriert wurden. Die Fokussierung auf einen Wissensbereich macht es zudem einfacher zu betrachten, inwiefern die wiederholte Testung innerhalb eines kurzen Zeitraums zusätzliche Informationen bietet, Unterschiede zwischen Wissensbereichen qua design kontrolliert werden.
Abbildung 4: Dendrogramm der Testergebnisse im Wissensbereich Lesen
Anmerkung: Die Tests sind wie folgt benannt: Studie (PIS=PISA, PIR=PIRLS), Jahr, Domäne (r=Lesen)
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
Das Dendrogramm zeigt, dass die Distanz zwischen zwei Tests geringer ausfällt, wenn der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Tests gering ist. Dieses Muster wird sowohl für die Primarschuldaten aus PIRLS, als auch für die Sekundarschuldaten der PISA-Zyklen beobachtet. Generell ist die Distanz zwischen den Tests innerhalb der Primar- bzw. Sekundarschule jeweils geringer als 0, 1. Im Gegensatz zu den geringen Distanzen innerhalb der jeweiligen Alterskohorten, fallen die Distanzen zwischen den Test unterschiedlicher Kohorten höher aus. Das Primarschulcluster mit den vier PIRLS-Tests wird erst bei einer Distanz von 0, 35 mit dem Sekundarschulcluster der sechs PISATests fusioniert. Insofern bieten die Informationen der beiden unterschiedlichen Studien komplementäre Informationen. Vergleichbare Ergebnismuster werden auch in separaten Analysen für Mathematik und Naturwissenschaften beobachtet.
5.
Diskussion
Welcher Wert wird seitens der empirischen Bildungsforschung welchem schulischen Bildungswissen beigemessen? Um diese Frage zu beantworten, habe ich untersucht, welche Wissensbereiche in internationalen Schulleistungsstudien bewertet werden. Im Folgenden bespreche ich zunächst einige Limitationen des Forschungszugang der vorliegenden Studien, danach diskutiere ich Implikationen der Ergebnisse der Analysen.
5.1
Limitationen
Die Reichweite der vorliegenden Studie hat gewisse Grenzen. Zum einen lag der Fokus auf Bildungswissen, dass in standardisierten Leistungstests erfasst wird, wohingegen nicht-kognitive Variablen wie Motivation, Selbstkonzept oder Interesse in den entsprechenden Leistungsdomänen außer Acht gelassen wird. Wenngleich die Bedeutung dieser Bereiche kaum zu bestreiten ist (z.B. Weinert 2001; Klieme 2007), so scheint es schwer zu fordern, dass alle Schülerinnen und Schüler ein möglichst hohes Niveau an Motivation, Selbstkonzept oder Interesse in den genannten Domänen haben. In einer liberalen Gesellschaft wäre eine solche Zielsetzung eine illegitime Indoktrination und kaum mit allgemeinen Bildungszielen wie Selbstbestimmung oder Mündigkeit in Einklang zu bringen.
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In der vorliegenden Studie habe ich internationale Schulleistungsstudien betrachtet, um zu untersuchen, welches Bildungswissen in der empirischen Bildungsforschung betrachtet wird. Vermutlich gibt es weitere nationale und regionale Studien, die andere Wissensbereiche untersuchen als die Bereiche, die in internationalen Studien in den Blick genommen werten. Eine umfassende Analyse all dieser Studien ist zwar wünschenswert, ist aber praktisch kaum oder nur mit extrem hohem Aufwand möglich. Gleichzeitig haben internationale Studien eine hohe Strahlkraft auf die empirische Bildungsforschung, sodass es vertretbar erscheint die anhand dieser Studien Aussagen über den Zustand der empirischen Bildungsforschung zu machen. Die Zahl an Ländern, die an den unterschiedlichen internationalen Schulleitungsstudien teilgenommen haben, kann als ein Indikator für die Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Studien interpretiert werden. Gleichzeitig sind die unterschiedlichen Teilnehmerzahlen an unterschiedlichen Studien ein Problem für die Analysen zur Differenzierbarkeit der unterschiedlichen Tests, denn diese basieren auf den paarweisen Korrelationen der Tests auf Länderebene. Teilweise ist die Zahl der Länder, die paarweise an zwei Tests teilgenommen haben, gering. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, allgemeine Muster zu betrachten und einzelnen Ergebnissen nicht übermäßig hohe Bedeutung zuzumessen. Die Analysen zur Differenzierbarkeit der Tests unterschiedlicher Wissensbereiche wurde in der vorliegenden Studie auf Ebene von Ländern durchgeführt. Internationale Studien zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass Länder miteinander verglichen werden können. Es ist allerdings möglich, dass sich die Dimensionalität von Leistungsdaten auf unterschiedlichen Ebenen (Individuum, Klasse, Schule, Land) voneinander unterscheiden (Kim et al. 2018)
5.2
Bildung light
Die Analyse der Wissensbereiche, die in den Tests internationaler Schulleistungsstudien erfasst werden, offenbart eine ausgeprägte Dominanz sprachlicher und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer zuungunsten der Erfassung sozialwissenschaftlicher, motorischer und musisch-künstlerischer Bildung sowie von Fremdsprachen. In den Wissensbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft werden die meisten Studien durchgeführt und die Zahl der Teilnehmerländer an den entsprechenden Studien ist größer als in Studien zu anderen Wissensbereichen. Mit Blick auf Schulcurricula ist die-
Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
se Engführung auf Sprache, Mathematik und Naturwissenschaft kaum zu erklären, da Geschichte, Geografie, Sport, Musik, Kunst sowie Fremdsprachen bereits seit 100 Jahren weltweit ebenso zum Fächerkanon gehören (Benavot et al. 1991). Wenn sich der Bildungsauftrag von Schulen in Curricula manifestiert, dann wird die Pluralität schulischer Bildungsziele in internationalen Studien kaum abgebildet. Dass internationale Studien zu einem Agendasetting für die empirische Forschung führen, zeigt sich in der Forschung zu den institutionellen Determinanten von Schülerleistung. Es gibt eine Vielzahl von Studien, die Effekte institutioneller Merkmale von Bildungssystemen auf das Leistungsniveau oder Bildungsungleichheit in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft untersucht, aber kaum vergleichbare Studien zur politischen Bildung oder Computerwissen (Hanushek/Wößmann 2011; Strietholt et al. 2019).
5.3
Perspektiven: Tiefe oder Breite
Unter der Annahme begrenzter Ressourcen stellt sich die Frage, ob man Mittel eher möglichst dafür aufwendet viele Tests in einzelnen Wissensbereichen zu administrieren oder unterschiedliche Wissensbereiche in einzelnen Tests zu untersuchen. Gegenwärtig werden tendenziell eher einige wenige Bereiche getestet und andere Bereiche nachrangig oder gar nicht beachtet. Legt man Schulcurricula als normativen Referenzrahmen an, so ist die starke Dominanz sprachlicher und mathematisch-naturwissenschaftlicher Tests in internationalen Schulleistungsstudien kaum zu begründen. Schulcurricula liegt ein breites Bildungsverständnis zugrunde, dass über Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft hinausgeht. Nun könnte man argumentieren, dass die Bereiche Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft primus inter pares seien. Ob man dieser Auffassung folgt, hängt davon ab, wie man die jeweils guten Gründe für und gegen eine solche Priorisierung gewichtet, letztendlich handelt es sich um normative Setzung. Gleichzeitig ist es möglich den Mehrwert an Informationen einer wiederholten Testung desselben Wissensbereichs mit dem Mehrwert an Informationen einer Testung in einem anderen Wissensbereich zu vergleichen. Die Ergebnisse der Clusteranalysen legen nahe, dass die wiederholte Administration von Tests in hoher Frequenz einen vergleichsweise geringen Mehrwert bietet. Die Analysen zur Differenzierbarkeit der einzelnen Tests haben sehr hohe Korrelationen zwischen den aufeinanderfolgenden Tests einer Studie aufgedeckt. Des Weiteren waren die Tests in den Bereichen Lesen,
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Rolf Strietholt
Mathematik und Naturwissenschaft besonders hoch korreliert, wohingegen Zusammenhänge zu den Tests in politischer Bildung und zu Computerwissen geringer ausfielen. Basierend auf diesen Analyseergebnissen kann man kritisieren, dass in PISA alle drei Jahre Tests in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft administriert werden. Alternativ könnte man weniger häufig ein breiteres Set an Bildungswissen testen. Ein Muster hierfür bieten die ersten internationalen Studien vor etwa 50 Jahren, in denen neben Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft auch Geografie, Literatur, politische Bildung, Englisch als Fremdsprache und Französisch als Fremdsprache untersucht wurden (Foshay et al. 1962; Husén 1967; Walker 1976).
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Rolf Strietholt
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Welches Wissen bewertet die empirische Bildungsforschung?
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Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens Eine bildungsplanerische Perspektive Dieter Timmermann
1.
Einleitung
Den meisten Pädagog*innen sowie Erziehungswissenschaftler*innen ist es befremdlich, Erziehung und Bildung, Lehren und Lernen in einen Zusammenhang mit Preisen und zumindest ökonomisch geladenen Werten zu bringen. Die Vorgabe für diesen Beitrag ist es, eine Verbindung zwischen den pädagogischen Handlungen des Lehrens und Lernens und der durch Preise und Werte ausgedrückten ökonomischen Betrachtung dieser Handlungen einerseits und der diese Handlungen prospektiv gestaltenden Bildungsplanung herzustellen. Das bedeutet hinsichtlich des Charakters dieses Beitrags, dass er weder als empirische Studie noch als theoretisches Werk bezeichnet werden kann, sondern allenfalls als eine theoretisch angereicherte Reflexion über pädagogische Prozesse, deren ökonomische Implikationen und deren Planbarkeit. Zunächst werden Preise und Werte im Hinblick auf ihre Verwendung in diesem Beitrag begrifflich gesetzt. In einem zweiten Schritt werden LehrLern-Prozesse mittels einer Bildungsproduktionsfunktion (BPF) dargestellt. Das geschieht in der Überzeugung, dass die Ansatzpunkte für Preise und Werte sowie für bildungsplanerische Bemühungen am ehesten mittels einer BPF veranschaulicht werden können. Im Zuge der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen sowie bildungsökonomischen Diskussionen wurden die Wirkungen der Lehr-Lern-Prozesse unterschiedlich benannt und operationalisiert. Während Bildung immer schon als Prozess und Wirkung bzw. als sich im Zeitverlauf veränderndes Ergebnis beschworen wird, wurden von den 1960er bis in die 1990er Jahren Qualifikationen, werden seit den 1990er Jahren Kompetenzen als messbare Wirkungen der Lehr-Lern-Prozesse verwendet. Es wird folglich versucht zu bestimmen, wie sich Preise und Werte mit Blick auf
126
Dieter Timmermann
diese unterschiedlichen Wirkungskonzepte darstellen lassen. Schließlich soll geprüft werden, ob und wie sich Preise und Werte in diesen unterschiedlichen Wirkungskontexten bildungsplanerischen Ansprüchen öffnen oder verschließen.
2.
Preise und Werte: begriffliche Setzungen
Die Begriffe Preis und Wert haben eine lange Tradition, die in das alte römische Recht zurück reicht. Allerdings waren Preis und Wert (definiert als Sachwert) in einem einheitlichen Namen (dem pretium) zusammengepresst. »Pretium« bezeichnete das Entgelt, das einer Sache gegenübergestellt wurde. Es wurde entweder beim Kauf oder bei der Sachwertschätzung festgesetzt (vgl. Honsell 1969: 14). Als Preis wird seit etwa 250 Jahren die sich aus Angebot und Nachfrage auf einem Markt ergebende und in Geldeinheiten gezahlte Gegenleistung für eine bestimmte Mengeneinheit erworbener Produkte oder Dienstleistungen definiert. Der Preis besteht daher aus den Dimensionen Geldeinheit pro Mengeneinheit (vgl. Richter 1970: 11). Das Ergebnis einer monetären Schätzung gilt dagegen immer als ein Wert und nicht als Preis. So wird etwa der geschätzte Verkehrswert eines Objekts durch Orientierung an Vergleichsobjekten ermittelt und bleibt daher abstrakt. Der Preis manifestiert sich erst bei der tatsächlichen Veräußerung. Solange der Wert nicht realisiert wird, stellt er lediglich eine Preisforderung des Anbieters oder ein Preisgebot des Nachfragers dar. Der Preis stellt den in Geldeinheiten gemessenen Tauschwert einer spezifischen Tauschaktion zwischen Marktteilnehmern dar, er beinhaltet deshalb vor einem zustande gekommenen Tauschakt, in welchem Kauf- und Verkaufsakt zusammenlaufen, die individuellen und subjektiven Vorstellungen von Verkäufer und Käufer über den Wert des zu tauschenden Vermögensgegenstandes (eines Gutes oder einer Dienstleistung), d.h. den imaginierten Kaufpreis des Käufers und den imaginierten Verkaufspreis des Verkäufers. Erst der realisierte Tauschakt bestimmt den (Markt-)Preis. Man kann allerdings festhalten, dass vom Wert einer Sache schon sehr früh im Sinne eines Schätzwertes gesprochen wurde. Die sich im 18. und 19. Jahrhundert entwickelnde Wert- und Preistheorie (z.B. von Quesnay, Smith, Ricardo und Marx) betonte die Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert eines Gutes bzw. einer Dienstleistung, womit die Differenz zwischen der monetären und der Nutzen- bzw. Nützlichkeitsdimension des Tausches von Gütern und Dienstleistungen zur Sprache
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
kam. Nutzen und Nützlichkeit verweisen auf die Fähigkeit der Bedürfnisbefriedigung bzw. die Ermöglichung des Wünschbaren. Der Tauschwert verweist auf die Steuerungsfunktionen des Preises (vgl. Gabler Verlag 2004: 2376): a) auf die Indikator- oder Signalfunktion, welche das Ausmaß der Knappheit von Tauschobjekten indiziert; b) auf die Koordinierungs- oder Ausgleichsfunktion in Bezug auf die Abstimmung der individuellen Pläne der Käufer und Verkäufer; c) auf die Allokationsfunktion, der zufolge die Preise die Produktionsfaktoren bzw. die Ressourcennutzung (von Arbeit, Boden und Kapital) in die Verwendungen lenken, bei denen sie am dringendsten gebraucht werden; d) auf die Selektionsfunktion, der zufolge die Höhe des Preises darüber entscheidet, welche soziale Schicht als Käufer in Frage kommt bzw. ausscheidet; e) auf die Exitfunktion, die auf die Preishöhe verweist, bei der Verkäufer nicht mehr bereit sind zu tauschen bzw. zu produzieren, weil der Preis ihre Kosten nicht deckt und zu Verlusten führt. Die mindestens zu deckenden Kosten bestehen üblicherweise aus Betriebskosten für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, Energiekosten, Personalkosten, Marketing- bzw. Vertriebskosten, Logistikkosten, Lagerhaltungskosten, Kapitalkosten und Steuern. Die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert führt zum Aspekt des Nutzens bzw. der Nützlichkeit und dem dahinterstehenden Wünschbaren. Das entspricht der von Horn (2018: 39) als pragmatisch bezeichneten Definition von Kluckhohn (1951: 388ff.), der Werte als« Konzeption des Wünschenswerten« bezeichnete (siehe dazu auch Hradil 2018: 20). Hermann Lübbe (2006: 59) zufolge entsteht im 19. Jahrhundert ein immer enger werdender Zusammenhang zwischen dem zunächst nur ökonomisch gefüllten Wertbegriff und einem hinzutretenden ideellen, mit grundlegenden Verhaltenstugenden gefüllten Wertbegriff. Lübbe spricht gar von einer »Universalisierung einer primär ökonomischen Kategorie«. Hier stehen nun Werte »an sich«, die Vorstellungen für moralisch als gut betrachtete Eigenschaften und Qualitäten von menschlichem Verhalten und Handeln nahe legen und soziale Normen vorgeben, die in gesellschaftliche Handlungsanweisungen für das Sozialverhalten und den Erhalt sowie die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts münden. Es sind Werte wie Freiheit, Menschenwürde, Sicherheit, Frieden, Ordnung, Wahrheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Ehrlichkeit, Toleranz, die das individuelle, gesellschaftliche und politische Handeln leiten (sollen). Horn (2018: 40) weist darauf hin, dass diese Werte und die aus ihnen strömenden Tugenden nicht als gesetzt »vom Himmel fallen« sondern immer wieder aufs Neue gefunden und gepflegt bzw. gelebt werden müssen, und zwar durch
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Dieter Timmermann
Kommunikation und Interaktionen in durchaus pluralen schicht- und milieuabhängigen Wertewelten. Hradil (2018: 21f.) spricht von politisch relevanten, religiös fundierten, biografischen und dinglichen Werten. Er fragt nach ihren Entstehungs- und Wandelsbedingungen. Und er verweist neben dem Einfluss der Peers und der wachsenden Rolle der Medien, insbesondere der Social Media, auf die herausragende Bedeutung der Familien und des Bildungssystems, insbesondere der Schulen und vorschulischen Einrichtungen (Hradil 2018: 26f.). Damit ist der Schritt zu der Frage getan, wie schulisches Wissen bzw. Lehren und Lernen in den Kontext von ökonomischen und ideellen Werten bzw. von Preisen und Werten eingebettet ist.
3.
Die Bildungsproduktionsfunktion als Erklärungsbasis1
Während die amerikanische Bildungsökonomie bereits Anfang der 1970er Jahre damit begonnen hatte, die Wirkkraft schulischen Lernens in den Blick zu nehmen, befasst sich die (west)deutsche Bildungsökonomie erst seit Mitte der 1990er Jahre mit der Analyse von schulischen Lehr-Lern Prozessen, ihren Strukturen, Kontexten und Organisationsformen, sie betreibt diese Analysen intensiviert seit der ersten PISA Studie. Wesentliche Fragen beziehen sich auf das Niveau der kognitiven Lernerfolge, auf die Faktoren, die dafür verantwortlich sind, und auf die Produktivität, Effektivität und Effizienz schulischen Unterrichts. Benutzt wird ein analytisches Tool, das der ökonomischen Theorie von Produktion und Wachstum entlehnt ist und zur theoretischen wie empirischen bildungsökonomischen Analyse von schulischem Lernen eingesetzt wird: die Bildungsproduktionsfunktion (BPF).2 Der Vergleich mit einem von Bokelmann 1970 präsentierten Aufsatz über Pädagogik, Erziehung und Erziehungswissenschaft macht deutlich, dass die BPF die dort geäußerten Überlegungen aus der Sprache der Pädagogik in die Sprache der Bildungsökonomie übersetzt. Abbildung 0 präsentiert die in einen modellhaften Zusammenhang gestellten Aussagen Bokelmanns, Abbildung 1 und die darauf-
1
2
Die folgenden Ausführungen in den Abschnitten 3. und 4. lehnen sich stark an den Beitrag »Jenseits von Kompetenz- und Outputorientierung: Was können Bildungsökonomie, Bildungsplanung und Steuerungstheorie dazu sagen?« an, der zu Zeit begutachtet wird. Siehe dazu z.B. Thomas 1971; Froomkin et al. 1976; Bridge et al. 1979; Hanushek 1995.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
129
folgenden Abbildungen übersetzen das Bokelmann-Modell in das Modell einer sich konkretisierenden und ausdifferenzierenden BPF. Abbildung 0: Das pädagogische Handlungsmodell nach Bokelmann (1970) Erziehungsnormen
Erziehungbedingungen
Erziehungstätigkeit
Erziehungsziele
Erziehungsgehalte
Erziehungspersönlichkeit
Edukand
Erziehungswirkungen
Erziehungsmaßnahmen
Die BPF stellt einen zeitlich ablaufenden Wirkungszusammenhang zwischen der Verfügbarkeit der für Lehr-Lern Prozesse erforderlichen Ressourcen, den in den Lehr-Lern Prozessen verbrauchten und genutzten Ressourcen als Inputs in die Prozesse, den unter bestimmten Prozess-, Kontext- und Strukturbedingungen stattfindenden Lehr-Lern Prozessen und den Ergebnissen dieser Prozesse, dem Output, her. Von Interesse ist ferner die Frage, welche Wirkungen mit dem Gelernten nach dem Verlassen des Lehr-Lern Systems im Beschäftigungssystem, in der Arbeitswelt, aber auch in anderen gesellschaftlichen Subsystemen außerhalb des Bildungssystems beobachtet und auf die Lehr-Lern Prozesse zurückgeführt werden können. Es gilt zu betonen, dass für jedes Bildungsteilsystem (Kindergarten, Schulen, Berufsbildung, Hochschulen, Weiterbildung) spezifische BPF’s entwickelt werden müssen, weil anzunehmen ist, dass sich die Gehalte vieler Inputvariablen, der Lehr-Lern Prozesse und der Outputs unterscheiden. Die Erzeugung empirisch belastbarer Aussagen über die den Inputfaktoren, den Prozess-, Kontext- und Strukturelementen zurechenbaren Wirkungen (z.B. fachlicher Lernerfolg) setzt voraus, dass sowohl die theoretisch oder über Plausibilitätsannahmen identifizierten Inputfaktoren sowie die Prozess-, Kontext- und Strukturelemente selbst direkt oder mittels Indi-
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Dieter Timmermann
Abbildung 1: Eine einfache Bildungsreproduktionsfunktion Übergang in die Arbeitswelt Wirkungen
Ressourcen
Inputs
Prozesse/ Strukturen/ Lehren/ Lernen
Outputs/ Lernerfolg
Transfer
Outcomes
katoren beobachtbar und messbar sind. Dies gilt auch für den Output und die Lehr-Lern-Prozesse. Ein erstes grundlegendes Problem besteht allerdings darin, dass der Lehr-Lern-Prozess als pädagogisch-methodischer Prozess allenfalls mittels selektiver Inspektionsverfahren beobachtbar ist, diese Beobachtungsergebnisse aber kaum verallgemeinerbar sind. Die Lehr-LernProzesse sind einem auf Gewinnung von verallgemeinerbaren Ergebnissen angelegten Forschungsprojekt nur schwer zugänglich. Hinzu kommt zweitens das von Luhmann thematisierte Kontingenzproblem, welches darin besteht, dass die Lernenden zugleich Koproduzent*innen ihres Lernerfolges sind und diese Koproduzent*innentätigkeit in der Regel nicht beobachtbar ist. Deshalb trifft den Lehr-Lern-Prozess ein Unbestimmtheitsverdikt bzw. die These eines Technologiedefizits mit der Folge, dass das, was im Lehr-Lern Prozess geschieht, um Lernerfolg zu erzeugen, eine Black Box ist.3 Gleiches gilt im Übrigen auch für den Transferprozess, in welchem das schulisch Gelernte in andere Teile des Bildungssystems (Berufsausbildung oder Hochschulbildung) und anschließend in außerpädagogische Bereiche von Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft transferiert wird und dort in systemspezifische Handlungen einmündet. Damit schulisches Lernen geschehen kann, bedarf es der Verfügbarkeit von Ressourcen. Darunter sind Mittel, Güter, Eigenschaften oder Gegebenheiten zu verstehen, die Lehrende und Lernende nutzen können, um Lehr3
Siehe Luhmann/Schorr 1979: 118ff.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
und Lernziele zu verfolgen, Anforderungen zu bewältigen, spezifische Handlungen zu tätigen oder einen Vorgang zielgerecht ablaufen zu lassen. Die Ressourcen befinden sich auf Seiten der Lernenden, der Lehrenden und der Organisationen, in denen das Lernen stattfindet. Die Funktion der Ressourcen ist es, in einem abgestimmten und in der Regel geplanten Kombinationsprozess Leistungen bzw. Inputs abzugeben, die es den Lernenden ermöglichen zu lernen. Diese Kombinationsprozesse sind die Lehr-Lern-Prozesse. Sie finden unter bestimmten Prozess-, Kontext- und Strukturbedingungen statt, und sie erzeugen, fördern und entwickeln auf Seiten der Lernenden Kompetenzen und Bildung. Die zentrale Frage ist: Wie geschieht das? Denn dieser Kombinationsprozess findet in aller Regel für Außenstehende nicht beobachtbar in der sog. Black Box statt, im Klassenzimmer, er findet in der Zeit statt und wirkt jenseits des konkreten Lernortes im Lernenden fort. Dieser Prozess des Lernens spielt sich in den Lernenden ab in Form von Verarbeitung neuen Wissens, in der Veränderung von Wissensbeständen und –strukturen, von Haltungen, Wertungen, Wertorientierungen und Einstellungen, von Fertigkeiten, Können und Handlungen, was mit den Begriffen neues Wissen, Qualifikationen, Kompetenzen und Bildung belegt wird. Was in Abbildung 2 noch abstrakt und allgemein dargestellt ist, erfährt in Abbildung 3 Konkretionen auf Seiten der Inputs. Die Inputs werden üblicherweise auf der Basis von Plausibilitätsüberlegungen und bereits gewonnenen empirischen Befunden in die Inputs der Lehrenden, der Lernenden, der jeweiligen Organisation bzw. Lernorte und der prozessualen, strukturellen und kontextualen Bedingungen gruppiert, unter denen die Kombinationsprozesse stattfinden. Die Wirkungen der Kombinationsprozesse bei den Lernenden werden durch Tests und Prüfungen, aber auch durch Beobachtungen ihres Tuns und Verhaltens identifiziert, d.h. durch die Performanz der Indikatoren, die den jeweiligen Wissensformen, Qualifikationen und Kompetenzen zugeordnet sind. Zugleich geschieht in den Kombinationsprozessen und durch sie das, was Bildung genannt wird. Im Hinblick auf die Wirkungen der Lehr-LernProzesse werden in der Regel zwei unterschiedliche Maße definiert, zum einen der Lernstand bzw. das erreichte Niveau des Wissens und der Kompetenzen, und zum anderen der Lernzuwachs an Wissen und Kompetenzen, ökonomisch gesprochen: Brutto- und Nettooutput. Beide Outputmaße setzen voraus, dass sie bzw. die Performanz ihrer Indikatoren beobachtbar und messbar sind. Die Messung des Lernzuwachses verlangt, dass das Niveau der Eingangskompetenzen bzw. des Eingangswissens gemessen und mit dem Niveau der Ausgangskompetenzen bzw. des Ausgangswissens verglichen
131
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Dieter Timmermann
Abbildung 2: Die Struktur einer Bildungsproduktionsfunktion
Ressourcen
Inputs
Ressourcen der Lehrenden
soziales, kulturelles, ökonomisches Kapital der Lehrenden
Ressourcen der Organisation
Prozesse und Strukturen
Inputs der Lehrenden
Prozess, Kontext und Strukturbedingungen
situative Dispositionen der Lehrenden
Inputs der Organisation
Wirkungen
Qualifikationen Die Black Box Lehrende Lernende
Kompetenzen
Bildung Ressourcen der Lernenden
Inputs der Lernenden
soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital der Lernenden
situative Dispositionen der Lernenden
werden kann. Letzteres ist in den wenigsten Ländern mangels Messbarkeit der Eingangskompetenzen möglich bzw. sie werden in aller Regel nicht gemessen. Unabhängig von dieser Frage der adäquaten Outputmaße kann gesagt werden, dass Lehr-Lern-Prozesse – ökonomisch gesprochen – für Kuppelproduktionen stehen, und zwar insofern, als die Kombinationsprozesse uno actu in einer Outputvielfalt, d.h. sowohl in Wissensbeständen, Qualifikationen und Kompetenzen als auch in Bildung wirksam werden. Der Lehr-Lern-Prozess selbst, einerseits das schulische Lehr-Lern Geschehen am Lernort (dem Klassenzimmer), andererseits die Lehr- und Unterrichtsstrategien der Lehrenden und die Lernstrategien der Lernenden sind nach wie vor eine Black Box, die im Bereich schulischen Lehrens und Lernens allmählich aufgebrochen wird, und zwar in erster Linie durch die PISA
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
133
Abbildung 3: Die entfaltete Struktur einer Bildungsproduktionsfunktion
Ressourcen der Lehrenden
soziales, kulturelles, ökonomisches Kapital der Lehrenden
psychische Ressourcen physische Ressourcen kognitive/ intellektuelle Ressourcen zeitliche Ressourcen soziale, kulturelle Ressourcen ökonomische Ressourcen genetische Ressourcen fachliches, methodisches, didaktisches Wissen und Können, entsprechendes Fähigkeitspotenzial kommunikatives Potenzial Persönlichkeit
kulturelle Interessen (Musik, Literatur) soziales Milieu, gesellschaftliche Kreise
Ressourcen der Organisation räumliche Ausstattung/ Ambiente, technische Ausstattung (Geräte), W-Lan, Lehr- und Lernmaterialien, Dienstleistungsinfrastruktur
Inputs der Lehrenden Zeit für Unterricht/ Lehre, Beratung, Betreuung, Vor- u. Nachbereitung, Bewertungen, Feedback, in Anspruch genommene kognitive/ intellektuelle Potenziale, eingebrachte Wissens-/ Lehrinhalte, im Prozess aktivierte fachliche, methodische, didaktische Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmale wie Empathie
Inputs der Organisation genutzte räumliche/ technische Infrastruktur/ W-Lan, Dienstleistungen/ Infrastruktur, Verbrauch an Materialien
situative Dispositionen der Lehrenden Lehrmotivation/ -freude/ -bereitschaft, Lehrwille, Feedback-, Anerkennungserwartung, Kritikoffenheit
Black Box: Lehr-LernProzess
134
Dieter Timmermann
Ressourcen der Lehrenden psychische Ressourcen, physische Ressourcen, genetische Ausstattung, kognitive/intellektuelle Ressourcen, zeitliche Ressourcen, Wissen, Können, Fertigund Fähigkeiten zu Beginn des jeweiligen Lernprozesses, Lernmaterialien
Inputs der Lernenden
situative Dispositionen der Lernenden
Vorwissen, Motivation (ex-/ intrinsisch), Alter, Lernzeit (in Schule/ zu Hause), aktivierten kognitiven, intellektuellen Potenziale, die aktivierten Teile ihres Wissens, Fähigu. Fertigkeiten, Feedback in den Unterricht, Aufmerksamkeit, Konzentration, Interesse am Lerninhalt jeweilige Kompetenzen
Lernbereitschaft, Lernwille, Anerkennungserwartung
Wirkungen Qualifikationen
Black Box: Lehr-LernProzess
soziales, kulturelles u. ökonomisches Kapital der Lernenden Familientyp, Geschwisterzahl u. -folge, Geschlecht, Religion, Nationalität, Migrationshintergrund, Schul-, Berufs-, Hochschulbildung von Mutter/ Vater (höchste Abschlüsse), Beruf/ berufliche Stellung von Mutter/ Vater, Freizeit- u. Medienverhalten, Nutzung häuslicher Anregungen
Kompetenzenperformanzen • fachliche • soziale • methodische • kommunikative • Selbstkompetenz Bildung
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
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Prozess-, Kontext- und Strukturbedingungen Typ von Bildungsorganisation, Bildungsstufe, Lernorte, funktionsfähige Infrastruktur, Ganztags-/ Halbtagslernen, Gruppengrößen/ Betreuungsrelationen, Schüler-Lehrer-Relationen, Lehr- und Lernzeitvorgaben, Formen der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden: • Frontallehre • Vortragsformat • Übungen, Seminarformen • Praktika • Teamlernen, Gruppenarbeit • kooperatives, rezeptives, genetisches, forschendes, selbtständiges, kreatives Lernen • Blended Learning, flipped/ inverted classroom learning • praktizierte Prüfungsformen u. -inhalte • praktizierte Lehrmethoden/ Didaktiken • genutzte Lehr-Lern-Technologien • genutzte Lehr- und Lernmaterialien
Wirkungen Qualifikationen Black Box: Lehr-LernProzess
Kompetenzenperformanzen • fachliche • soziale • methodische • kommunikative • Selbstkompetenz Bildung
Studien der OECD, aber auch durch die Schulinspektionen.4 Ist in der Studie von Bergbauer et al. (2018) die Black Box noch fest verschlossen, wühlt Hattie bereits tief in der Black Box »Schule« und kommt zu inzwischen 252 Variablen, deren Wirkungen auf den Lernstand von Schüler*innen er offen legt.5 Neben den Variablen, welche die Lernenden, die Lehrenden, das Elternhaus der Lernenden, die Schulorganisation und das Schulleitungshandeln charakterisieren, liefern Prozess-, Struktur- und Kontextvariable wie das Curriculum, die Lehrstrategien der Lehrenden, die Lernstrategien der Schüler/innen
4
5
Siehe zu PISA die jüngste Studie von Mostafa et al. 2018. Im Rahmen der PISA Studien wurden auch Lernstrategien, selbstreguliertes Lernen und Problemlösungsverhalten der Schüler/innen erhoben. Siehe Hattie 2013
136
Dieter Timmermann
sowie Unterrichtsgestaltung und Unterrichtstechnologien Wirksamkeitsdaten von 135 Variablen, welche die Black Box kennzeichnen.6 Eine wichtige Frage ist bisher offengeblieben: Was wissen wir über die Wirkungswege der Inputs und ihres Kombinationsprozesses auf das Kuppelprodukt »Bildung«? Es ist wohl angemessen zu sagen: Nichts. Bildung läuft einfach mit, ist ein Nebenprodukt von Erziehung, Sozialisation und Lernerfahrungen in Lernorganisationen, auch von schulischen Lernprozessen. Bildung ist ein in dem Sinne unbekanntes Wesen, dass zwar durch Eigenschaften und Habitus definiert und umschrieben wird, aber bislang weder durch ein empirisch belastbares »Produktionsmodell« noch durch empirische Evidenz getragen wird. Bildungsökonomisch ist daran interessant, dass Bildung eher außerhalb des Bildungssystems sichtbar wird, im Habitus der Gebildeten, ihrem kulturellen Geschmack und Verhalten und vor allem in der Besetzung von Positionen in den höheren und höchsten Etagen der Arbeitswelt mit entsprechenden Folgen für Einkommen, Ansehen und Arbeitsplatzsicherheit. Insofern könnte man sagen: Jenseits von Output-, Wissenszuwachs-, Qualifikations- und Kompetenzorientierung thront die Bildung, aber der Weg zu ihr ist mühsam und nicht sehr transparent, auch der Beitrag des schulischen Lernens auf diesem Weg liegt im Dunkeln.
4.
Preise und Werte im Kontext von Output, Wissen, Qualifikationen, Kompetenzen, und Bildung
Schulisches Lernen hat immer Folgen bzw. Wirkungen in Gestalt des Gelernten und dessen Umsetzung in Einstellungen, Orientierungen und Handlungen. Die Wirkungen können beabsichtigt oder nicht intendiert sein, wobei der Wirkungsbegriff eine Kausalitätsimplikation enthält, während der Folgenbegriff Kausalität nicht ausschließt, aber eher den Korrelationsaspekt nahelegt. Output bezeichnet allgemein, dass Lernen Wirkungen bzw. Folgen hat, lässt deren Charakterisierung aber offen. Die nähere oder auch präzise Charakterisierung von (beobachtbaren) Wirkungen bzw. Folgen geschieht sowohl durch das Wissens-, das Qualifikations- als auch durch das Kompetenzkonzept. Das Wissenskonzept als vermutlich ältestes Outputkonzept ist 6
Das sind immerhin 54 % aller Variablen. Siehe www.lernensichtbarmachen.net und https://visible-learning.org/hattie-ranking-influences-effect-sizes-learningachievement/ vom 29. 01. 2019.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
allein auf den schulischen Lehr- und Lerninhalt bezogen, da es die Lehrenden messen und bewerten lässt, welches Wissen bei den Lernenden zu einem bestimmten Zeitpunkt angekommen ist. Das Qualifikationskonzept lieferte in den 1960er bis 1980er Jahren die Outputdefinition. Der Qualifikationsbegriff wurde nicht aus den schulischen Lehr-Lern-Inhalten, sondern aus den Wissens-, Könnens- und Fertigkeitsanforderungen der Arbeitswelt abgeleitet. »Der Begriff Qualifikation stellt eine systematische Verbindung von erlernten Befähigungen und beruflichen Aufgaben her. Als Qualifikation (oder zuweilen als personengebundene Qualifikationen oder Qualifikationspotentiale) werden Befähigungen (oder auch nur die erlernten Befähigungen), d.h. Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, über die Personen verfügen, bezeichnet, die bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit (ggf. auch bei anderen zentralen lebenspraktischen Tätigkeiten) zur Verwendung kommen können. Als Pendant dazu werden unter Qualifikationsanforderungen die Anforderungen an Befähigungen verstanden, die sich aus der Betrachtung der beruflichen Tätigkeiten und ihres Kontextes schließen lassen.« (Hartung et al. 1981) Der Qualifikationsbegriff zeichnete sich durch ein unter den Qualifikationsforscher*innen relativ homogenes Verständnis aus. So war die Unterscheidung zwischen fachlichen, innovativen und über- bzw. metafachlichen Qualifikationen weit verbreitet. Die überfachlichen Qualifikationen mündeten in den viel zitierten Begriff der Schlüsselqualifikationen, der soziale und methodische Fähigkeiten und Fertigkeiten umfasste.7 In den 1990er Jahren wurde die »Qualifikationsepoche« bzw. der Qualifikationsbegriff vom Kompetenzbegriff abgelöst, dessen allgemeines Unterscheidungsmerkmal in der Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus von den Anforderungen der Arbeitswelt bzw. konkret der Arbeitsplätze hin zum Arbeitsvermögen des Subjekts liegt, d.h. von einer Arbeitsmarkt- und bildungsökonomischen auf eine genuin pädagogische Perspektive. Diese Perspektive war 1971 von Heinrich Roth angeregt worden, der zwischen Sachkompetenz, Sozial- und Selbstkompetenz unterschied und bereits auf Handlungskompetenz verwies, indem er »Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche
7
Siehe Mertens 1974; ferner Grünewald 1979 und Teichler 1995.
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Handlungsfähigkeit« definierte. Diese Anregungen wurden aber in der Erziehungswissenschaft zunächst nicht aufgegriffen.8 Die in den 1990er Jahren beginnende Fokussierung auf Kompetenzen, die alle Teilsysteme des Bildungssystems, der Erziehungswissenschaft und die Bildungspolitik erfasste, bemächtigte sich auch der Schulforschung, Schulpolitik und Schulpraxis. Allerdings wurde dieser Wechsel weg vom Qualifikationsbegriff hin zum Kompetenzbegriff mit erheblich größerer Definitionspluralität erkauft.9 Zudem ist es bis heute irritierend, dass sowohl die europäischen wie die deutschen Kompetenzstandards das Wort Qualifikation im Namen tragen (EQR bzw. DQR). Mit W. Klafki und F. E. Weinert werden mit Kompetenz die bei Individuen verfügbaren und durch sie erlernbaren Wissensbestände, Fähigkeiten, kognitiven, selbstregulativen und sozial-kommunikativen Fertigkeiten, Zuständigkeiten und motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften gemeint, die es dem Individuum ermöglichen, bestimmte Probleme in bestimmten Handlungsfeldern in variablen Situationen selbständig und selbstverantwortlich erfolgreich zu lösen.10 Insofern sind Kompetenzen als allgemeine Dispositionen von Subjekten zur Bewältigung bestimmter lebensweltlicher Anforderungen in den gesellschaftlichen Subsystemen konstruiert, in denen sie aktiv sind. Sie sind nicht direkt beobachtbar, sondern sie können nur mittels der beobachtbaren Ausführung von Aufgaben bzw. Handlungen, der Performanz, indirekt diagnostiziert, beurteilt und erschlossen werden. Unterschiedliche Qualität der Ausführung bzw. der Performanz, soweit sie beobachtet werden kann, lässt auf unterschiedliche Kompetenzgrade schließen. Der Umstand, dass z.B. unterschiedliche Schuloder Hochschulformen, Schul- oder Studienfächer oder Berufsausbildungsund Weiterbildungsformate unterschiedliche Kompetenzanforderungen erzeugen, hat zu einer breiten Auffächerung von Kompetenzelementen geführt. Dieser Beitrag zielt lediglich auf die allgemeine Ebene der zumeist genannten Kompetenzelemente: fachlich-kognitive, methodische, soziale, kommunikative und personale bzw. Selbstkompetenzen ab. Bildung repräsentiert einen Wirkungskomplex von Lernen, der weit über Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen hinausgeht. Insofern ist zu erörtern, wodurch sich Bildung auszeichnet. Bildung liegt nicht jenseits von Output, da Output einerseits alle Arten von Lernwirkungen umfasst, zugleich
8 9 10
Siehe Roth 1971: 180. Siehe dazu Klieme 2004 und Klieme/Hartig 2007. Siehe Klafki 1985/2007 und Weinert 1999 sowie 2001
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aber inhaltlich leer und unspezifisch, praktisch Platzhalter für die konkreten Wirkungen ist. Pädagogisches Handeln hat, wie im Kontext von Kompetenzen bereits angedeutet, eine normative und eine empirisch-faktische Dimension. Die normative Orientierung zeigt sich im alltäglichen pädagogischen Handeln, indem einerseits Ziele formuliert, andererseits Ergebnisse der Performanz von Kompetenzen festgestellt und mit den Zielen abgeglichen werden. Im Falle von Bildung ist es insofern komplizierter, als zwar auch Bildungsziele normativ formuliert werden und eine gesellschaftliche Normvorstellung eines gebildeten Subjekts besteht, aber die Performanz viel schwieriger durch empirische Evidenzen demonstriert werden kann. Dahinter steht die Frage, wie Bildung als Prozess und Prozessresultat beobachtet und gemessen werden kann. Dahinter steht aber auch die Frage, wie Bildung definiert wird. Wird Bildung auf Wissen bzw. auf die Beherrschung bestimmten Wissens reduziert, dann löst sie sich in der Kombination von fachlicher und methodischer Kompetenz auf und ist durch deren Performanz mit gemessen. Insofern kann an dieser Stelle behauptet werden, dass Kompetenzen nicht etwas völlig anderes als Bildung sind, sondern sie können als eine Dimension oder als ein Element von Bildung angesehen werden. Als Quintessenz der Lektüre über Bildung kann man zu folgender Charakterisierung von Bildung gelangen.11 Bildung ist ein Prozess in der Zeit und zugleich ein Ergebnis und Zustand zu einem Zeitpunkt. Das Individuum bildet sich, wenn es reift, klüger und weiser wird in einem lebenslangen Lernprozess und zu jedem Zeitpunkt über einen bestimmten Grad von Reife, Klugheit und Weisheit verfügt. Es setzt sich mit bestimmten Wissensinhalten, mit seiner Umwelt und sich selbst kritisch und reflektiert auseinander und entwickelt dabei ein reflektiertes Verhältnis zu sich, zu anderen Menschen und Kulturen sowie zur Welt. Es verinnerlicht Wissen, entwickelt bestimmte Wertorientierungen und daran ausgerichtete Verhaltensweisen und ist zunehmend in der Lage, frei von Vorgaben zu denken, zu entscheiden und zu handeln. Wenn Bildung für den Menschen einen Zweck hat, dann liegt er darin, sich als Werk seiner selbst zu entwickeln, den Bildungsprozess als Prozess der Selbstbildung, der Selbstwerdung und Selbstpraxis zu durchlaufen, sich zum Menschsein, zu einer Persönlichkeit mit bestimmten geistigen, physischen, sozialen und kulturellen Merkmalen selbstständig und selbsttätig in kritischer Distanz zu sich selbst zu formen und dabei Vorbild für andere Menschen zu werden und zu sein. Schulisches Lernen soll dabei helfen. 11
Siehe dazu Hentig 1996.
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Als ein wesentliches Merkmal von Bildung wird die Freiheit von äußeren Zwecken und vom Nützlichkeitsdenken herausgestellt. Lernen kann aber durchaus seitens der Lernenden (und ihrer Familien oder Förderer) von Nutzenerwägungen begleitet, wenn nicht geleitet sein. Hier kommt u.a. die bildungsökonomische Betrachtung ins Spiel, die zum Ersten fragt, ob an äußeren Zwecken und Nützlichkeit orientiertes Lernen (was z.B. für die Berufsbildung oder auch für die Hochschulbildung mit ihrem EmployabilityZiel gilt) Bildung im oben beschriebenen Sinn hemmt oder zumindest auch mitfördern kann. Zum Zweiten weist die Bildungsökonomie gemeinsam mit der empirischen Bildungsforschung und der Erziehungswissenschaft daraufhin, dass Bildung kein im luftleeren Raum stattfindender Prozess ist, sondern vielfältig durch die nähere und fernere Umwelt der Subjekte ermöglicht, geformt und gefördert wird. Familiäre Erziehung und Sozialisation, Erziehungseinrichtungen wie vorschulische Lernstätten und Schulen (natürlich auch Berufsausbildungseinrichtungen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen) tragen durch die Schaffung ökonomisch-materieller, organisatorischer und inhaltlicher Lerngelegenheiten und Lernbedingungen dazu bei. Zum Dritten weisen bildungsökonomische und sozialwissenschaftliche Studien darauf hin, dass Bildung als Ergebnis von formalen, d.h. hier schulischen (ferner auch von non-formalen und informellen) Lernprozessen durchaus Nutzen bzw. Nützlichkeit für verschiedene Nutznießer in Wirtschaft und Gesellschaft bereithält. Diese außerpädagogischen Wirkungen werden hier mit Outcome bezeichnet.12 In der Regel wird von den kognitiven Leistungen (neuerdings auch von der genetischen Ausstattung) und vom Bildungs- und Statusniveau des Herkunftskontextes auf das Ausmaß der Bildbarkeit von Lernenden geschlossen. Folglich wird angenommen, dass das Bildungsmaß von Personen – angesichts der Schwierigkeit sie zu operationalisieren und zu messen – mit deren Abschlussniveaus korreliert, d.h. die (Schul-, Berufs-, Hochschul-)Abschlüsse werden als Indikatoren oder Signale für unterschiedliche Maße von Bildung von Menschen gedeutet. Dies zeigt sich darin, dass bei Durchschnittsbetrachtungen der Arbeitsmarkterfolg (Monats-, Jahres-, Lebenseinkommen, Positionen in Organisationshierarchien) und der sozia-
12
Siehe Abbildung 1. Outcome bezeichnet hier also etwas anderes als in der Kompetenzforschung, die unter Outcome die durch Lernprozesse geförderten Kompetenzen und deren durch Tests oder Prüfungen gemessenen Performanzen versteht.
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le Status mit dem Abschlussniveau steigen und das Arbeitslosigkeitsrisiko sinkt.13 Als Zwischenfazit kann gesagt werden: i) Lehr-Lern-Prozesse haben uno actu multiple Wirkungen, die – je nach zurück gelegten Lernstufen, besuchten Lernorganisationen und erfahrenen Lernkontexten – mit unterschiedlichen Gewichtungen als Qualifikationen und/oder Kompetenzen und/oder Bildung bezeichnet werden; ii) Kompetenzen umfassen Qualifikationen, aber gehen deutlich über sie hinaus, und Bildung umschließt sowohl Qualifikationen wie Kompetenzen, geht aber deutlich über sie hinaus. In den nun folgenden Überlegungen sollen mit Hilfe der Bildungsproduktionsfunktion die Beziehungen zwischen dem schulischen Beitrag zur Erzeugung von Qualifikationen, Kompetenzen und Bildung und sich daraus ergebenden Werten und Preisen analysiert und diskutiert werden. Dabei hilft ein Blick auf Abbildung 3. Auf der linken Seite des BPF Modells sind die Ressourcenbestände festgehalten, über welche die am schulischen Lehr-Lern-Prozess beteiligten Akteure (die Lehrenden, die Schule als Organisation und die Lernenden) verfügen. Diese Ressourcenbestände werden in Form von Inputs genutzt, z.T. verbraucht. Ein Teil dieser Ressourcen hat in Geldeinheiten ausgedrückten ökonomischen Wert, d.h. einen Preis (in Abb. 3 durch die blaue Schriftfarbe gekennzeichnet). Bei den Lehrenden sind dies die zeitlichen und die ökonomischen Ressourcen. Die Zeit ist ökonomisch von Bedeutung, da sie für unterschiedliche Aktivitäten sowohl in der Schule als auch außerhalb verwendet werden kann und der ökonomische Wert der Aktivität A auf dem Verzicht auf die ebenfalls möglichen Aktivitäten B bis Z beruht. Im Falle der Lehrenden ist der Preis für ihre Lehraktivität ihr Gehalt. Abb. 3 veranschaulicht, dass neben der bloßen Zeit weitere Ressourcen die Arbeitskraft der Lehrenden ausmachen und im Lehrprozess als Inputs aktiviert werden. Während der Input an Arbeitszeit messbar ist und die eingebrachten Wissens- und Lehrinhalte sowie die im Lehrprozess aktivierten fachlichen Wissensinhalte und methodisch-didaktischen Lehrformen beobachtbar sind, bleibt unbeobachtbar, was und wie viel an psychischen, physischen, kognitiven, sozialen, kulturellen und genetischen Ressourcen im Lehrprozess aktiviert wird. Dieser nicht beobachtbare Ressourceninput hat für die Wirksamkeit des Lehrens aber Bedeutung, daher einen immateriellen Wert, aber keinen Preis. Ähnliches gilt für den Ressourceninput der Lernenden. Ihr Vorwissen bzw. ihre jeweiligen Eingangskompetenzen könnten zu Beginn einer Lern13
Siehe dazu Hummelsheim/Timmermann 2018.
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phase über Tests gemessen werden, was aber in der Regel nicht geschieht. Daher bleibt ihr Beitrag zum Output, gleich ob über Qualifikationen oder Kompetenzen erfasst, im Dunkeln, hat aber einen für den Lernprozess (unbekannten) hohen immateriellen Wert. Im Gegensatz zu den Lehrenden hat die Lernzeit der Lernenden in- und außerhalb der Schule keinen Preis, wohl aber eine für den Lernprozess zentrale Bedeutung: ohne Nutzung von Zeit kann nicht gelernt werden. Daher hat die Lernzeit der Lernenden einen hohen immateriellen Wert, der monetär nicht beziffert werden kann. Demgegenüber stellt die formale Organisation, in der gelernt wird (hier die Schule), ausschließlich Ressourcen bereit, die jeweils Preise haben und demzufolge ökonomische Werte. Sie sind allerdings insofern zugleich auch ideell bzw. immateriell wertvoll, als sie Lernen und Lernerfolg ermöglichen. Wenn unterstellt werden kann, dass die in Abb. 3 dargestellten Ressourcen über ihre Inputs in die Lehr-Lern-Prozesse für deren Gestaltung und Lernwirkungen bedeutsam sind, weil sie daran mitwirken, dann kann behauptet werden, dass alle genannten Ressourceninputs aufgrund des erzeugten Lernzuwachses an Wissen und Kompetenzen pädagogischen Wert haben. Preislich relevant sind auf Seiten der Lernenden nur die Lernmaterialien, die sie kaufen müssen, und die ggf. anfallenden Transportausgaben. Alle anderen genannten Inputs repräsentieren immaterielle Werte, haben aber zumindest an öffentlichen Schulen keine Preise. Sofern Schulgeld gezahlt werden muss, kann es als »Eintritts- oder Teilhabegebühr« für die Teilnahme an Lehr-Lern Prozessen bezeichnet werden. Das stellt sich bei den Inputs der Lehrenden insofern ganz anders dar, als ihr Gehalt als Preis für ihre zu leistende (oder geleistete) Arbeitszeit und die während der Arbeitszeit eingebrachten Inputbündel gelten kann. Die Inputbündel kennzeichnen die Eigenschaften der Arbeitskraft, welche als Inputs von Lehrenden aufgrund ihrer Ausbildung erwartet und im Gehalt mit abgegolten werden. Während es möglich wäre, die durch die verschiedenen Aktivitäten in Anspruch genommene Zeit der Lehrenden in Preise oder Kosten zu transformieren (was aber sehr aufwändig wäre) – so könnte z.B. der Preis der Beratungs- oder Korrekturtätigkeit durch Bezug ihrer prozentualen Anteile an der gesamten monatlichen Arbeitszeit auf das Monatsgehalt bestimmt werden –, sperren sich die im Hinblick auf den Lehr-Lern-Prozess und seine Wirkungen wertvollen Inputs wie die »in Anspruch genommenen kognitiven und intellektuellen Potenziale« oder »die im Prozess aktivierten fachlichen, methodischen und didaktischen Kompetenzen« gegen eine ökonomische Bewertung in Form von Preisen. Die Inputs der Organisation Schu-
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le lassen sich hingegen sämtlich mit ihren Preisen ökonomisch bewerten: Der Verbrauch von Lehr- und Lernmaterialien wird mit den Anschaffungspreisen bewertet, gemietete Inputlieferanten mit den Mietpreisen (z.B. Gebäude oder Maschinen/Geräte), längerlebige gekaufte Inputgeber (z.B. Gebäude, Maschinen, Geräte) mit kalkulatorischen Abschreibungspreisen. Was den Output der schulischen Lehr-Lern Prozesse betrifft, so ist er frei von Preisen, aber gefüllt mit Wertgrundlagen. Das Wissen, die Qualifikationen und Kompetenzen, die als Output gemessen werden, natürlich auch die darüber hinaus gehenden kaum beobachtbaren Bildungselemente werden nicht mit Preisen belegt. Aber sie werden als mehrperspektivisch wertvoll gewürdigt, weil sie grundlegend sind für anschließende Lehr-Lern Prozesse, sei es im allgemeinbildenden Schulsystem selbst, im Berufsbildungs- oder Hochschul- oder Weiterbildungssystem und für Orientierungen, Haltungen, Verhaltens- und Handlungsweisen, die gesellschaftlich als Ausdruck der im 2. Abschnitt genannten ideellen und immateriellen Werte gelten. Ein letzter Aspekt, der bezüglich der beim schulischen Lehren und Lernen entstehenden Preise und Werte diskutiert werden soll, richtet sich auf die Mengendimension. Die schulischen Lehr-Lern Prozesse transformieren die identifizierten Preise auf der Ebene des Systems (einer Stadt, eines Bundeslandes oder eines Staates) in Ausgaben oder Kosten. Diese Transformation hat die in Abb. 3 erläuterten Prozess-, Kontext- und Strukturbedingungen zu berücksichtigen, insbesondere den Aspekt des Ganz- oder Halbtagsunterrichts, die Gruppengrößen und Betreuungsrelationen sowie die Formen der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. Diese Bedingungen erzeugen je nach Ausgestaltung unterschiedliche Kosten bzw. Ausgaben, d.h. unterschiedlich hohe ökonomische Werte, und unterschiedliche Outputs14 .
5.
Die bildungsplanerische Perspektive auf Preise und Werte von schulischer Bildung
Im Folgenden wird reflektiert, welchen Beitrag Bildungsplanung zur Gestaltung des schulischen Lehr-Lerngeschehens leisten kann, und welche Rolle die Preis- und Wertdimension bislang dabei spielen. Planung kann als gedankliche Vorwegnahme eines Handlungsprogramms verstanden werden, 14
Ob mit der Veränderung der Klassengröße sich auch der Output verändert, ist höchst umstritten. Siehe dazu Chen 2017.
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das Handlungsziele, -mittel und -wege definiert und eine in Vergangenheit und Gegenwart ausgeübte Handlungspraxis mehr oder weniger verändert fortführen oder ablösen soll. Dazu gehört, dass die Handlungspraxis der Vergangenheit auf ihre Wirkungen und Folgen betrachtet und bewertet wird, und es werden die vom für die Zukunft geplanten Handlungsprogramm erwarteten bzw. wahrscheinlichen Wirkungen – z.B. in Form von Prognosen – durchgespielt.15 Dieses Planungshandeln kann auf mehreren Ebenen stattfinden, beginnend mit der Ebene der einzelnen Person (Mikroplanung des/der Lehrenden, des/der Lernenden), fortgeführt über die Ebene der einzelnen Organisation (Mesoplanung der einzelnen Schule) und der Region, z.B. eines Bundeslandes (Mezzoplanung) und mündend in die Makroplanung auf der Ebene des Nationalstaates. Curriculumplanung ist – auf fachliche Inhalte und Lehrmethodik bezogen – auf der Ebene der einzelnen Lehrperson, der einzelnen Organisation (der einzelnen Schule/Fakultät oder Hochschule), eines Bundeslandes und ggf. des Nationalstaates angesiedelt. Unterrichtsund Lehrplanung sind Aktivitäten der Lehrenden (Mikroebene) und Schulen (Mesoebene). Alle drei Planungsformen sind bis heute nicht Gegenstand bildungsökonomischer Analysen oder empirischer Beobachtungen gewesen, obwohl das Modell der BPF nicht nur bildungsökonomische Reflexionen, sondern auch Bildungsplanungsanalysen nahelegt. So könnte es z.B. interessant sein zu eruieren, ob ein geplantes, d.h. zeitlich und in inhaltlichen Schritten strukturiertes Lernhandeln von Schüler*innen a) planmäßig praktiziert wird und b) eine höhere (oder auch niedrigere) Lernwirkung hat als ein spontanes, ungeplantes und eher chaotisches Lernverhalten. Das ist sowohl eine Effektivitäts- wie Effizienzfrage individuellen Planungshandelns, in welchem aber Preise bzw. Geldwerte keine Rolle spielen. Gleiches gilt für das individuelle Lehrendenhandeln, das durch Planung der zeitlichen und inhaltlichen Struktur des Unterrichtsstoffes geleitet oder einem durch Zeitdruck und Unorganisiertheit gekennzeichneten Vorbereitungs- und Unterrichtsstil geschuldet sein kann. Auch hier steht die Frage des effektiveren und effizienteren Unterrichtshandeln im Raum, ohne dass es um Preise oder ökonomische Werte geht. Man könnte allerdings in Anknüpfung an die Wertüberlegungen in Abschnitt 4 wertend definieren, dass das effektivere und effizientere Lehr- und Lernhandeln das im Hinblick auf die zeitlich folgenden Lehr- und Lernprozesse wertvollere Handeln ist, wobei es offenbleibt
15
Siehe hierzu Zedler 1979.
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bzw. eine empirische Frage ist, ob dies das auf Planung beruhende Handeln ist. Bildungsökonomisch und bildungspolitisch motivierte Bildungsplanung war in ihrer Hochzeit von den späten 1960er bis Anfang der 1990er Jahre vor allem auf die Mezzo- und Makroebene fokussiert, wobei mit Mezzoebene in diesem Fall Kommunen und Bundesländer gemeint sind. Die damalige Bildungsplanung war im doppelten Sinne bedarfsorientiert. Zum einen ging es darum, erstens den gesellschaftlichen Qualifikationsbedarf voraus zu schätzen, wobei es primär um den Akademikerbedarf ging, allen voran in den Natur- und Ingenieurwissenschaften und im Bereich der Lehrerausbildung,16 zweitens die gesellschaftliche Nachfrage nach schulischer, beruflicher und hochschulischer Bildung auf der Basis einer gegebenen Struktur des Bildungssystems zu prognostizieren und drittens den aus einer Chancengleichheitsperspektive politisch gewollten Durchlauf der Lernenden durch das bestehende Bildungssystem zu lenken und zu quantifizieren.17 Die kommunale Schulentwicklungsplanung war ausschließlich quantitativ und nachfrageorientiert ausgelegt, und sie prognostizierte den Durchlauf der Lernenden durch die lokalen Schulsysteme auf der Basis der angenommenen demografischen Entwicklung, der gegebenen Struktur des lokalen Schulsystems und der aus Vergangenheitstrends abgeleiteten (Übergangs-)Entscheidungen der Eltern. Zum zweiten war es ein Anliegen der Mezzo- und Makroplanung, die aus den verschiedenen Planungsansätzen resultierenden Ressourcenbedarfe an Manpower, Finanzen und Infrastruktur abzuschätzen, Bildungsplanung war Kapazitäts-, Ressourcen- und Finanzplanung. Sie war durch das Qualifikationskonzept geprägt, und sie griff u.a. auf die Ergebnisse der Qualifikationsforschung zurück, während Kompetenzen noch nicht (wieder)entdeckt waren und Bildung nur im Begriff der Bildungsplanung als Teil des Wortes auftauchte. Hier liefen die Qualifikationsforschung und die auf systemischer Ebene stattfindende Bildungsplanung zusammen, welche die quantitativen Qualifikationsbedarfsprognosen in Ressourcenanforderungen des jeweils angezielten Bildungs(teil)systems übersetzte (z.B. Akademikerbedarf, Lehrerbedarf, Ingenieursbedarfe etc.). Kritische Auseinandersetzungen mit den Planungsansätzen auf der Mezzo- und Makroebene wiesen darauf hin, dass die Ansätze zunächst ausschließlich Informationen über Qualifikationsbedarfsmengen lieferten. Die 16 17
Vgl. dazu Schlaffke 1979; Sommer 1986 und 1989. Siehe dazu und zum Folgenden umfassend Zedler 1979.
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Debatte um die Qualität von Lernen, Lehren, von Schule, Hochschule und Bildung war noch nicht eröffnet. Vielmehr wurde u.a. die Frage aufgeworfen, ob die Struktur des Schulsystems und des Bildungssystems insgesamt, das die Qualifikationsstrukturen der Absolvent*innen lieferte, überhaupt den Strukturen der Qualifikationsbedarfe des Beschäftigungssystems gerecht werde. Diese Kritik intensivierte die Qualifikations- und vor allem die Flexibilitätsforschung und bewirkte den Übergang von der Kapazitäts- zur Strukturplanung, die in der Folge zwar von Bildungsökonomen beobachtet, aber nicht mehr betrieben sondern der Kompetenz der pädagogischen, psychologischen und soziologischen Bildungsforschung überlassen wurde.18 Erst bei der Erarbeitung des Bildungsgesamtplans (1973, mit Zeithorizont bis 1985) wurden wieder bildungsökonomische Kompetenzen in Anspruch genommen, weil es darum ging, für den Fall seiner Umsetzung die Kosten des Plans, seine möglichen Nutzen- und Ertragswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, auf den Arbeitsmarkt, die Bauinvestitionen, den öffentlichen Gesamthaushalt und das Bildungsbudget abzuschätzen und seine Finanzierungsmöglichkeiten zu eruieren. Hier ging es allein um Preise, Kosten und Erträge, d.h. um ökonomische Wertabschätzungen von Bildungsplanungsvorhaben. Während die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung z.B. unter Nutzung von aktuellen, vorausgeschätzten und kalkulatorischen Preisen die Kosten- und Budgetimplikationen des Bildungsgesamtplans von 1973 kalkuliert hatte, rechnete W. Krelle (1974 und 1975) mit seinem ökonometrischen Prognosemodell die ökonomischen Wirkungen der im Bildungsgesamtplan geplanten Maßnahmen auf Wirtschaftswachstum, Arbeitsmarkt u.a. ökonomische Größen durch, demonstrierte gewissermaßen die ökonomische Wertigkeit der damaligen Bildungsplanung. Demgegenüber hatte der Deutsche Bildungsrat (1970) in seinem Strukturplan für das Bildungswesen, der wie der Bildungsgesamtplan das gesamte Bildungswesen, insbesondere auch das Schulsystem, im Blick hatte, seinen Fokus auf die pädagogische Wertigkeit gelegt, d.h. auf jenes Potenzial der geplanten Bildungs- und Strukturreform, das diejenigen Lehr- und Lernformen sowie Lehr- und Lerninhalte zu entwickeln und zu stärken vermag, die neben der
18
Als Beispiele seien hier der »Strukturplan für das Bildungswesen« des Deutschen Bildungsrats von 1970, der Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung von 1973 (veröffentlicht 1974) und die »Empfehlungen zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens im Hochschulbereich nach 1970« des Wissenschaftsrats genannt
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
Erzeugung von Kompetenzen auf die Entwicklung und Förderung ideeller, immaterieller und sozialer Werte bei den Lernenden zielen. Am Ende der Überlegungen lassen sich drei Schlüsse ziehen. Erstens: Die individuelle Ebene der Planung des schulischen Lehrens und Lernens hatte über die Diskussion in Veranstaltungen zur Lehrerbildung hinaus in der politischen und ökonomischen Bildungsplanung keinen hohen Stellenwert. Zweitens: Die zentrale Funktion von Bildungsplanung war und ist die Reduktion von Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung von Bildungssystemen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene im Hinblick auf wahrscheinliche Entwicklungen. Dabei wird die quantitative Dimension der Planungsgrößen zunehmend durch Annahmen über ihre qualitativen Dimensionen ergänzt. Drittens: Die Bildungsplanung hat zur Aufklärung dessen, was in der Black Box der Lehr-Lern Prozesse geschieht, wie und wodurch die erzeugten (und prognostizierten) Qualifikationen oder Kompetenzen im Bildungssystem entstehen, entwickelt und gefördert werden und wie sich Bildung im oben definierten Sinne durch Anreize und Anstöße im Bildungssystem entfaltet, bisher keinen Beitrag geleistet. Und viertens: Preise und Werte im Kontext schulischen Lehrens und Lernens erfuhren seitens der Bildungsplanung kaum Aufmerksamkeit.
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Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens Die Perspektive der Bildungsfinanzierung Dieter Dohmen
1.
Einleitung
Der vorliegende Beitrag kann auf den theoretischen Überlegungen von Timmermann (in diesem Band) aufbauen und überträgt diese zunächst in eine kostenorientierte Betrachtung, die den Status quo der Bildungsfinanzierung darstellt (siehe Kapitel 2). Anschließend wird analysiert, ob und wo es ggf. eine preisorientierte Bildungsfinanzierung in Deutschland gibt (siehe Kapitel 3.1) und wie eine bzw. wertorientierte aussehen könnte (siehe Kapitel 3.2). Kapitel 4 fasst die vorstehenden Ausführungen zusammen und leitet einzelne Folgerungen ab. Anders als die meisten anderen Beiträge in diesem Band nimmt der vorliegende eine stark praxisorientierte Perspektive ein.
2.
Schulausgaben und Schulfinanzierung in Deutschland
Bildung wird in Deutschland, wie in den meisten anderen Ländern, auf der Basis der anfallenden Ausgaben für die »Inputs« finanziert. Diese umfassen die investiven Ausgaben1 für die Errichtung oder den Erwerb der Gebäude ebenso wie für die Anschaffung der technischen Einrichtung. Diese Kosten entstehen vor Beginn der Maßnahme bzw. vor Aufnahme des Schulbetriebs und sind somit zugleich Fixkosten. Weitere Fixkosten entstehen u.U. für Curricula- und Programmentwicklung, ggf. Akkreditierung sowie
1
Ausgaben fallen an, wenn Geld abfließt, Kosten beziehen sich auf den wertmäßigen Verbrauch von Ressourcen. Wird ein Schulgebäude gebaut, sind die Beträge, die an das Bauunternehmen gezahlt werden, im Moment der Zahlung Ausgaben. Die Kosten entsprechen in diesem Fall üblicherweise der Abschreibungsrate.
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Dieter Dohmen
zu erheblichen Teilen auch für das Personal. Eine Schule braucht nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Verwaltungskräfte, deren Anzahl zumindest teilweise unabhängig von der konkreten Anzahl an Schüler/innen ist. Da zudem vor einer Klasse immer eine Lehrkraft stehen muss, unabhängig davon, ob in dieser Klasse 15, 25 oder auch 30 Schüler/innen sind, fallen sogenannte sprungfixe Kosten2 an, sobald eine (neue) Klasse gebildet wird bzw. werden muss. Dieser finanzielle Zusammenhang ist beispielsweise bei Klassenteilungen von Bedeutung, da die Grenzkosten3 des/der ersten Schüler/in einer Klasse dem vollen Gehalt der Lehrkraft ebenso entsprechen wie den (ggf. hypothetischen) Mietkosten für den zusätzlichen Klassenraum und dessen Ausstattung. Anschließend sinken die Grenzkosten auf (nahezu) Null, sodass die durchschnittlichen Kosten mit jedem/jeder zusätzlichen Schüler/in sinken, bis die maximale Gruppengröße erreicht ist und eine neue Klasse eingerichtet werden muss. Abbildung 1 zeigt diese Zusammenhänge in abstrakter Form und verdeutlicht, dass die Durchschnittskosten je Schüler/in am niedrigsten sind, wenn die Klasse genauso viele Schüler/innen hat, wie – im Rahmen der Vorgaben – möglich. Abbildung 1 verdeutlicht zudem den Zusammenhang von relativ hohen Fix- und vergleichsweise geringen marginalen Kosten je zusätzliche/n Schüler/in, sodass die Grenz- und Durchschnittskosten bis zum Erreichen der jeweiligen Kapazitäts- bzw. Kappungsgrenze sinken. Darüber hinaus sind auch weitere Economies of Scale4 für die Kostenstruktur im Bildungsbereich zu beachten: einmal bezogen auf die Nutzung der Infrastruktur und einmal bezogen auf die Nachfrage nach jedem einzelnen Angebot. So sind Schulleitung und Schulverwaltung weitgehend unabhängig von der Zahl der Schüler/innen, d.h. eine kleine Schule hat deutlich höhere Durchschnittskosten als eine große Schule. Eine gymnasiale Oberstufe mit
2
3 4
Sprungfixe Kosten sind die Kosten, die bei Überschreiten einer Kapazitätsstufe, z.B. einer Klassengröße, anfallen, indem z.B. bei Einrichtung einer neuen Klasse, die Kosten für eine ganze Lehrkraftstelle getragen werden müssen, unabhängig davon, wie viele Auszubildende in dieser Gruppe/Klasse sind. Grenzkosten bezeichnen hier die Kosten für die Aufnahme einer oder eines zusätzlichen Auszubildenden. Economies of Scale oder Skalenerträge beschreiben eine Konstellation, in der der Output um mehr als eine Einheit steigt, wenn die Produktionsfaktoren um den Faktor eins erhöht werden. Vereinfacht formuliert: im vorliegenden Fall können zusätzliche Teilnehmende aufgenommen werden, ohne die Ausbildungsinfrastruktur zu erweitern.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
Abbildung 1: Kostenstruktur von Bildungsangeboten
Quelle: Dohmen 2015
zum Teil kleineren Klassen und insbesondere Leistungskursen führt zu höheren Durchschnittskosten, wie auch eine Förderschule. Auch die technische Ausstattung einer Schule, z.B. in den MINT-Fächern, führt zu höheren Durchschnittskosten – ein Grund, warum Grundschulen vergleichsweise günstig sind. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die vor kurzem vom Statistischen Bundesamt (2020) veröffentlichten Ausgaben je Schüler/in im Jahr 2017, dann zeigt sich einerseits ein bundesweiter Durchschnittsbetrag von 7.300 Euro bezogen auf alle Schulen und andererseits eine Bandbreite von 6.400 Euro in Nordrhein-Westfalen bis 9.700 Euro in Berlin. Zudem zeigen sich erhebliche Unterschiede auch hinsichtlich der Ausgaben für die einzelnen Schulformen: So belaufen sich die Ausgaben je Schüler/in an den TeilzeitBerufsschulen des dualen Systems auf durchschnittlich 3.200 Euro (Bandbreite: 2.700 bis 4.400 Euro), während es für die allgemeinbildenden Schulen im Schnitt 8.000 Euro sind. Betrachtet man beispielhaft die Ausgaben je Schüler/in für die allgemeinbildenden Schulen, dann gibt Nordrhein-Westfalen im Schnitt 7.000 Euro über alle Schulformen hinweg aus, während es in Hamburg 10.700 Euro sind, gefolgt von Berlin mit 10.400 Euro. Für diese Unterschiede lassen sich vielfäl-
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Dieter Dohmen
Abbildung 2: Ausgaben je Schüler/in in Deutschland 2017 Berufliche Schulen
Bundesländer
Allgemeinbildende Schulen Insgesamt
darunter: Berufsschulen Alle Schularten
im Dualen System2 Deutschland BadenWürttemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen MecklenburgVorpommern Niedersachsen NordrheinWestfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt SchleswigHolstein Thüringen
8 000
5 100
3 200
7 300
7 800
5 800
3 200
7 300
9 300 10 400 7 800 8 000 10 700 7 700
5 400 6 600 4 900 4 400 5 900 5 400
3 500 3 800 3 700 2 700 3 900 3 400
8 400 9 700 7 300 6 900 9 600 7 200
7 400
4 200
3 000
6 800
7 800
4 500
2 700
7 000
7 000
4 400
2 700
6 400
7 500 7 800 7 800 8 000
4 800 4 600 5 500 4 700
2 900 3 100 3 800 3 100
6 900 6 900 7 400 7 400
7 300
4 900
3 600
6 700
9 000
6 900
4 400
8 600
1: Die Ausgaben enthalten die Personalausgaben für Schulen und Schulverwaltung (einschließlich unterstellter Sozialbeiträge und Beihilfeaufwendungen für aktive verbeamtete Lehrkräfte), den laufenden Sachaufwand sowie die Investitionsausgaben. Alle Ergebnisse wurden nach der Berechnung gerundet. 2: Teilzeitunterricht. Quelle: Statistisches Bundesamt 2020
tige Gründe anführen: unterschiedliche Lehrergehälter (inkl. verbeamtete vs. angestellte Lehrkräfte5 , Schüler-Lehrer-Relationen, Altersstruktur der Lehrkräfte, Alter und Zustand der Gebäude, sozio-demografische Zusammensetzung der Schülerschaft, Verteilung der Schüler/innen auf die unterschiedli-
5
In den o.g. Ausgaben sind unterstellte Sozialbeiträge enthalten, sodass dieser Faktor weniger ins Gewicht fällt.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
chen Schulformen, die ihrerseits mit unterschiedlich hohen Ausgaben verbunden sind etc.). Diese Ausgabenunterschiede sind fast regelmäßig Gegenstand politischer Diskussionen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Ausgaben insgesamt, wie auch resultierend pro Schüler/in, nicht die Folge von grundlegenden Überlegungen zum Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Inputfaktoren und -strukturen und einer angestrebten »Bildungsqualität«, sondern ausschließlich das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse sind, in denen qualitätsrelevante Aspekte der Struktur- oder Prozessqualität kaum eine – oder auch: keine – Rolle spielen. Allerdings muss man auch konstatieren, dass die vorliegende empirische Evidenz diesbezüglich nur begrenzte Hilfestellungen bietet,6 die konkreten Schlussfolgerungen über die Bildungsproduktion(sfunktion) (siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Timmermann in diesem Band) und damit auch die Bildungsfinanzierung zuließen.
3.
Preis & Wert in der Bildungsfinanzierung
3.1
Preisorientierte Schulfinanzierung
Da Timmermann (in diesem Band) eine ausführlichere Herleitung der Begriffe Preise und Wert darlegt, kann an dieser Stelle darauf verzichtet werden. Der Preis ist der in Geldeinheiten definierte Betrag eines Tauschakts, hier also der Betrag, den die Eltern oder der/die Schüler/in, für die Ware oder Dienstleitung, hier: Bildung, tatsächlich bezahlt. Einen solchen preisdefinierten Tauschakt gibt es jedoch in der öffentlich verantworteten Schulbildung in Deutschland in dieser Form nicht, es gibt auch keinen »Markt« im eigentlichen Sinne.7 6 7
Siehe hierzu übergreifend z.B. Hattie (2013). Damit ist jedoch nicht die Aussage gleichzusetzen, dass die schulische Bildung für Eltern bzw. Schüler/innen kostenlos sei. So tragen sie u.a. die Kosten für Lehr- und Lernmaterialen, ggf. die Kosten für den Schultransport etc. Zudem steigen mit zunehmendem Alter die Opportunitätskosten des Schulbesuchs der Schüler/innen, da sie u.U. einer bezahlten (unqualifizierten) Tätigkeit nachgehen könnten oder aber im Haushalt der Eltern geldwerte Aufgaben übernehmen könnten. Während ersteres in Deutschland aufgrund des Verbots von Kinderarbeit eine marginale Rolle spielt, ist dies insbesondere in Entwicklungsländern anders. Dort übernehmen die Kinder u.a. Hausarbei-
155
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Dieter Dohmen
Allerdings könnte man z.B. die Elternbeiträge und ggf. Spenden, die Eltern für den Besuch von Schulen in privater oder freier Trägerschaft zahlen, durchaus als »Preis« bezeichnen, den diese dafür entrichten, dass ihre Kinder keine staatliche Schule besuchen (»müssen«), sondern eine freie oder private Schule besuchen können. In diesem Fall sind die Eltern bereit, diesen Preis zu entrichten, um dadurch erwartete Vorteile – unterstellte bessere Bildungsleistungen der Kinder,8 die andere sozio-demografische Zusammensetzung der Schülerschaft etc. – realisieren zu können. Umgangssprachlich könnte man auch sagen, dass es ihnen die Leistungen der Schule »wert« sind, diesen Betrag zu entrichten – allerdings ist es kein (Markt-)Preis im eigentlichen Sinne, da er nicht der Logik von Angebot und Nachfrage folgt.9 In anderen Ländern, in denen es ein (überwiegend) privatwirtschaftliches Bildungssystem gibt, ist dies anders, dort gibt es einen, ggf. »funktionierenden«, Markt auf dem sich Preise für Bildung, den Schulbesuch bilden. Auch in anderen Bereichen des Bildungssystems, wie insb. dem (berufsbezogenen) Weiterbildungsbereich, gibt es Preisbildung, wenngleich auch hier die Teilnehmenden nur in begrenztem Umfang als Zahlende auftreten. Mit Blick auf einen fairen Wettbewerb ist zu berücksichtigen, dass die staatliche Vollalimentierung öffentlicher Schulen Auswirkungen auf die Preissetzung bzw. Preisbildung privater Bildungsanbieter hat (siehe hierzu und im Folgenden: Dohmen 2015): Auf der einen Seite ist die Balance zwischen Qualität und den durch die sprungfixen Kosten sinkenden Grenzund Durchschnittskosten von Bedeutung. Da die Grenzkosten ab dem bzw. der zweiten Teilnehmenden eher gering, wenngleich fachspezifisch und abhängig von der Ausstattung sind, gelingt die Kostendeckung nur, wenn
8
9
ten oder das Hüten von Tieren etc., sodass der Schulbesuch mit beträchtlichen – und zum Teil prohibitiv hohen – Opportunitätskosten verbunden ist. Daher wird dort über unterschiedliche Instrumente versucht, diese Opportunitätskosten zu reduzieren. Bessere Bildungsleistungen von Schüler/innen privater bzw. freier Schulen sind nicht zu beobachten, sobald für die unterschiedliche sozio-ökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft kontrolliert wird (siehe z.B. Klemm u.a. 2018). In den letzten beiden Jahren hat es, insbesondere angestoßen von Helbig und Wrase, einige Diskussionen darüber gegeben, ob die von den privaten und freien Schulen erhobenen Beträge zu einer sozialen Segregation bzw. Ausgrenzung von Kindern aus einkommensschwächeren und/oder bildungsfernen Familien führen und damit dem Sonderungsverbot widersprechen oder nicht (siehe hierzu etwa Helbig/Wrase 2017; Brosius-Gersdorf 2017). Auch über die Frage, ob die Finanzierung freier Schulen »auskömmlich« sei, so etwa Akkaya u.a. (2019), oder nicht, wie Klein (2011) schrieb.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
der »Preis« mindestens den Durchschnittskosten der jeweiligen Schule entspricht. Mit Blick auf die freien Schulen in Deutschland muss zumindest die Differenz zwischen den öffentlichen Zuschüssen und den tatsächlichen Kosten gedeckt werden. Im Wettbewerb unter privaten Anbietern ermöglichen die sinkenden Durchschnittskosten aber auch, dass Anbieter über niedrigere Preise ihre Nachfrage erhöhen können. In diesem Fall sinkt der Preis mit der Größe des Anbieters und es kommt somit u.U. zu einem Verdrängungswettbewerb, sofern es (überhaupt) mehrere (private) Wettbewerber gibt. Dies ist nur dann unproblematisch, wenn die Nachfrage so groß ist, dass sie über der Kapazitätsgrenze eines einzelnen Anbieters liegt. Ist die Nachfrage begrenzt, kommt es zu einem partiellen, also regionalen oder schulspezifischen, natürlichen Monopol, sofern nicht regulierend in die Preisbildung eingegriffen wird. Ist unter den anderen Anbietern eine staatliche Bildungseinrichtung, dann müssen (bzw. dürfen) diese aufgrund ihrer staatlichen Finanzierung in vielen Ländern keine Gebühren nehmen oder sie können zumindest geringere Gebühren als private Einrichtungen nehmen. Selbst wenn das Equipment veraltet und die Qualität ggf. begrenzt ist, schaffen sie damit einen Referenzpreis, der in der Regel unterhalb der Kostendeckung privater Anbieter liegt. Auch in diesem Fall ist somit davon auszugehen, dass der Markt keine hohen bzw. kostendeckenden Preise ermöglicht und somit die Attraktivität für neue Anbieter einschränkt.10 Ein privates Konkurrenzangebot wird sich in diesem Fall nur dann etablieren können, wenn der Qualitätsunterschied so gravierend ist und der Mehrwert für die Absolventinnen und Absolventen, z.B. durch Absolventenstudien, hinreichend nachgewiesen werden kann, dass sie bereit sind, diesen vergleichsweise hohen Preis zu zahlen. Die vorstehenden Ausführungen legen eine erhebliche Skepsis nahe, dass es insbesondere in technischen Ausbildungsberufen zur Entwicklung eines (privaten) Ausbildungsangebots bzw. eines Trainingsmarktes mit institutionellen privaten Ausbildungsanbietern kommt, da die Vorlauf- bzw. Investitionskosten für die Er- und Einrichtung eines Trainingszentrums (sehr) hoch sind. Dies gilt umso mehr, wenn die Kosten vollständig oder
10
Dies gilt im Übrigen auch dann, wenn es sich z.B. um kirchliche Einrichtungen oder Nichtregierungsorganisationen handelt, die große Teile ihrer Finanzierung aus anderen Quellen erhalten und somit, sofern überhaupt, Gebühren nehmen können, die unter der Kostendeckungs- bzw. Gewinnschwelle privater Anbieter liegen.
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158
Dieter Dohmen
weitgehend über Gebühren gedeckt werden müssen oder die langfristigen Perspektiven der Existenz z.B. eines Technologiezentrums ungewiss sind. Aus ökonomischer Sicht ist zudem zu berücksichtigen, dass es aufgrund sinkender Durchschnittskosten zu partieller natürlicher Monopolbildung kommen dürfte. Somit hat der erste Anbieter am Markt die besten Chancen erfolgreich zu sein, gleichzeitig müssen ergänzende Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Preiskontrolle ergriffen werden. Ein privates Angebot und die Entwicklung eines Marktes sind demgegenüber eher dann zu erwarten, wenn die Investitions- und laufenden Kosten niedrig sind und der Bedarf, also die Nachfrageerwartung, groß ist. Grundlegend gilt aber auch hier, dass Anbieter ein genuines Interesse haben, sich dort zu positionieren, wo die Konkurrenz möglichst gering ist; sei es räumlich-lokal oder bezogen auf die Ausrichtung des Angebots.
3.2
Überlegungen zu einer wertorientierten Schulfinanzierung
Man kann sich der Fragestellung zu einer wertorientierten Bildungsfinanzierung von folgender Seite her annähern: der Wert der Bildung ergibt sich, gerade im Kindes- und Jugendalter, aus den damit verbundenen zukünftigen Möglichkeiten, sei es im wirtschaftlichen, aber auch im nicht-wirtschaftlichen, privaten Sinne. Partnerschaften werden u.U. stärker als früher auch vom Bildungsniveau der beiden Partner/innen beeinflusst, die Bildung der Eltern hat Auswirkungen auf die intergenerationale Bildung und Sozialisation, und natürlich hängen weitere Bildungs- und Karrierechancen vom frühkindlichen und schulischen Bildungsniveau ab. Insofern ergibt sich der heutige Wert aus den – abdiskontierten – zukünftig zu erwartenden monetären und nicht-monetären Erträgen und entspricht dem längerfristigen Wert der Bildung.11 Mit anderen Worten: Bildung zielt darauf ab, Voraussetzungen für den nachfolgenden Lebensweg zu verbessern (»Nicht nur für die Schule, sondern für das Leben lernt man«). Einerseits beeinflussen formale Schulabschlüsse (Haupt-, Realschulabschluss oder Abitur), und ggf. die dabei erworbenen
11
An dieser Stelle könnte man u.U. unterscheiden zwischen dem monetären Ertrag am Ende des Lebens als realisiertem Wert des lebenslangen Lernens, der jedoch nicht identisch ist mit dem Ertrag der Schulbildung. Demgegenüber ist der individuell wahrgenommene monetäre und nicht-monetäre Ertrag der (subjektive) Gesamtwert des lebenslangen Lernens.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
Noten, Übergangschancen in nachfolgenden Bildungs-, Lern- und Lebensphasen. Andererseits sind Kompetenzen und Fähigkeiten sowie sog. nichtkognitive Fähigkeiten nicht minder, sondern möglicherweise sogar noch bedeutsamer (siehe u.a. Heckman et al. 2006; Cunha et al. 2010; Dutta/Singh 2017). Die nachfolgende Abbildung 3 zeigt die potenziellen Implikationen einerseits in einem etwas umfassenderen Ansatz des lebenslangen Lernens, beginnend mit der frühkindlichen Bildung, andererseits aber eine stark monetär fokussierte Betrachtung. Sie zeigt, über welche Indikatoren und an welchen »Messpunkten« sich die unterschiedlichen Effekte quantitativ und qualitativ besserer Bildung zeigen (können). Bewertet man sie mit entsprechenden monetären Einheiten, dann lässt sich der Ertrag von (höherwertigerer) Bildung ermitteln, was man als monetären Wert ansehen könnte. Mit Blick auf die Bildungsfinanzierung könnte man – zumindest vordergründig – argumentieren, dass diese im Hinblick eine monetäre Bewertung zukünftiger monetärer Erträge darstellt.12 Angesichts unterschiedlicher Zeitpräferenzen von Individuen,13 aber auch z.B. Politiker/innen, wären diese abzudiskontieren.14 Von der besseren Qualität der (frühkindlichen oder schulischen) Bildung – wie auch von einem quantitativen Ausbau der frühkindlichen Bildung, aber 12
13
14
Dieser verkürzten Betrachtungsweise steht nicht entgegen, dass Bildung – bzw. allgemeiner: Lernen – auch darüberhinausgehende nicht-monetäre Erträge bzw. ggf. auch Kosten haben kann. So könnten z.B. die Lernmühen (in ungeliebten Fächern) oder der Freizeitverlust als »nicht-monetäre« Kosten des Lernens angesehen werden, während die Lernfreuden (in beliebten Fächern) nicht-monetäre Erträge darstellen. Erstere würden – abdiskontiert auf den Gegenwartswert – den individuellen Referenzpreis absenken, letztere erhöhen. Bei Individuen spielt die Gegenwartspräferenz z.B. eine Rolle bei der Frage, ob man eine duale Ausbildung oder ein Studium aufnimmt, da man bei ersterer eine Ausbildungsvergütung erhält, während dies bei einem Studium nicht der Fall ist, sondern dort auch der Lebensunterhalt selbst finanziert werden muss (siehe dazu sowie zu den Auswirkungen unterschiedlicher Finanzierungsformen des Studiums Dohmen 1999). So wird z.B. bei Politiker/innen eine hohe Gegenwartspräferenz unterstellt, da sie sich an Wahlperioden orientieren und wiedergewählt werden wollen. Dies würde bedeuten, dass sie den zukünftigen Wert bzw. Ertrag entsprechend hoch abdiskontieren und den kurzfristigen Ertrag sehr hoch bewerten. Vor diesem Hintergrund wäre möglicherweise zu erklären, warum Bildungsinvestitionen in der Regel ein Niveau haben, dass unterhalb des volkswirtschaftlichen »Optimalen« bleibt. Wie die Ausführungen in den Kapiteln 3.2.2 und 3.2.3 zeigen, würden zusätzliche Investitionen in den quantitativen und/oder qualitativen Ausbau zu erheblichen fiskalischen wie sozialen Erträgen führen, die zusätzliche Investitionen rechtfertigen würden.
159
160
Dieter Dohmen
Abbildung 3: Schema der potenziellen (fiskalisch relevanten) Effekte von unterschiedlichen Bildungsqualitäten im Lebensverlauf Kita-Personal
Höhere Löhne Geringere Arbeitslosenquote Höhere Erwerbsquoten
Erwerbstätigkeit steigt
Kita-Dauer Kita-Qualität
Sozioökonomische Unterschiede
Eltern
Schnellere Übergänge in Ausbildung/Studium
}
Höhere kognitive Fähigkeiten: Sprache, »Rechnen« Höhere nicht kognitive Fähigkeiten: Sozialverhalten Mehr/bessere Hauptschulabschlüsse Mehr/bessere mittlere Schulabschlüsse Mehr/bessere Hochschulzugangsberechtigungen
Mehr Auszubildende im dualen System Mehr berufliche Schulausbildungen
Höhere Zufriedenheit
Übergang Grundschule (schneller weniger Zurückstellungen, höhere Eingangsfähigkeiten)
}
Geringerer HzE- Bedarf Weniger Schulabbrecher Weniger Klassenwiederholungen Weniger Rückstufungen an »niedrigere« Schulform
Weniger Klassen wiederholungen
}}
Hauptschule Realschule Sekundarschulen Gymnasium (Ganztagsschule/ Hort)
Höhere Löhne Höhere Rente Höhere Steuereinnahmen Geringere Arbeitslosenquote Mehr Sozialversicherungsbeiträge Geringere Ausgaben für Alterssozialgeld Höhere Erwerbsquoten Weniger Sozialausgaben
Mehr Studierende Weniger Jugendliche im Übergangssystem
Bessere Gesundheit, Geringere Krankheitskosten, Niedrigere Kriminalitätsraten Intergenerationale Effekte
Quelle: Dohmen et al. 2017
auch eines qualitativ hochwertigen Ganztagsschulsystems etc. – würden einerseits Kinder und deren Eltern bzw. Familien, aber auch andere Nutznießer profitieren. Es ist daher sinnvoll, die zu erwartenden Nutzen auch den einzelnen Begünstigten zuzuordnen bzw. zuzurechnen. Hierbei ist generell zwischen individuellen (privaten), gesellschaftlichen (sozialen) sowie fiskalischen Erträgen zu unterscheiden. Die gesellschaftlichen Erträge sind zunächst die Summe der privaten Erträge, zuzüglich der auf staatlicher bzw. gesellschaftlicher Ebene anfallenden Erträge.
3.2.1
Individuelle und familiäre Effekte der (qualitativ höherwertigen) Bildung
Das Kind ist die zentrale Person, auf die die Leistungen einer Kindertageseinrichtung ausgerichtet sind; insoweit beginnen die folgenden Betrachtungen auch damit. Der Nutzen des Kindes aus einer besseren Qualität der
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
Kindertages- oder Ganztagsschulbetreuung kann z.B. auf folgenden Ebenen liegen:15 Kurzfristig • • • • •
unmittelbarer Partizipationsnutzen (Umgang mit anderen Kindern, höheres Selbstwertgefühl etc.) höhere kognitive Leistungen höhere non-kognitive Fähigkeiten, z.B. besseres Sozialverhalten, Empathie etc. bessere Gesundheit und Ernährung verbesserte Eltern-Kind-, insbesondere auch Mutter-Kind-Beziehung etc.
Mittelfristig • • • • • • •
eventuell frühere (vorzeitige) Einschulung oder weniger Rückstellungen weniger Klassenwiederholungen geringerer Verweis auf Sonder-/Förderschulen geringeres Schulabbruchrisiko bzw. höhere Abschlusswahrscheinlichkeit kürzere Verweildauer im Bildungssystem höhere Übergangswahrscheinlichkeit auf weiterführende Bildungseinrichtungen besseres soziales Verhalten
Langfristig • • • • • • • •
15
frühere Einkommenserzielung höheres Erwerbseinkommen (netto) geringeres Arbeitslosigkeits- und Sozialleistungsrisiko eine höhere Arbeitsproduktivität geringere Kriminalitätsraten schnellerer Übergang in Ausbildung und Studium größeres Erwerbspersonenpotenzial und höhere Qualifikationen bessere Gesundheit, längere Lebenserwartung
Vgl. aktuell hierzu: Rollett et al. (2020).
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Dieter Dohmen
Mit Blick auf die Frage der Effekte von höherwertigerer Qualität der Kindertagesbetreuung oder der Ganztagsbetreuung ist dabei zu differenzieren zwischen Effekten, die sich aus dem (grundlegenden) Besuch einer Kita oder (Ganztags-)Schule ergeben, und denen, die darüber hinaus durch hochwertige Bildungs- und Erziehungsprozesse erzielt werden können. D.h. mit Blick auf die Wirkungen der besseren Qualität sind nur die Wirkungsunterschiede zwischen einer guten oder sehr guten und einer weniger guten Einrichtung relevant, d.h. es kommt nur auf den Grenzertrag der besseren Qualität an. Zu beachten ist dabei auch, dass Kinder in unterschiedlichen Familien unterschiedliche Bedingungen des Aufwachsens vorfinden, so sind z.B. die Bildung der Mutter,16 die berufliche Stellung der Eltern oder das Familieneinkommen wichtige sozio-ökonomische Faktoren, die – im Durchschnitt – das Leistungsniveau von Kindern völlig unabhängig vom Kita-Besuch und von der Qualität der Einrichtung beeinflussen. Dies führt dazu, dass sich die Effekte der Qualität der Kindertages- oder Ganztagsschulbetreuung i.d.R. abschwächen. D.h. es gilt auch hier, die »Netto«-Effekte zu identifizieren. Mit Blick auf die Ermittlung der hier im Fokus stehenden ökonomisch relevanten bzw. fiskalischen Erträge ist darauf hinzuweisen, dass ein Teil der in der Übersicht weiter oben aufgelisteten Effekte nur indirekt für die nachfolgenden Überlegungen von Bedeutung ist. Wenn sich z.B. die sprachlichen und numerischen Kompetenzen von Kindern durch den Besuch einer höherwertigen Kindertageseinrichtung oder Ganztagsschule stärker verbessern als bei einer weniger guten Einrichtung, dann fließt dies in die nachfolgenden Berechnungen nur insoweit ein, als sich daraus ökonomisch bzw. fiskalisch messbare Effekte ergeben. Führen z.B. Kompetenzverbesserungen dazu, dass sich der Anteil der Kinder erhöht, die vorzeitig eingeschult werden können, oder sich der Anteil verringert, der zurückgestellt werden muss, dann wird dies berücksichtigt. Gleiches gilt etwa, wenn sich der Anteil an Schüler/innen reduziert, der eine Klasse wiederholen muss. In diesem Fall verringern sich die Kosten eines/r Schülers/in um ein Schuljahr. Dies setzt aber voraus, dass es möglich ist, den Umfang der entsprechenden Veränderungen zu spezifizieren. Mit anderen Worten: Entweder liegen entsprechende Informationen aus empirischen Studien vor oder es müssen – im Rahmen eines Simulationsmodells – Annahmen zu den Effektstärken getroffen werden. Hinzu kommt,
16
Die Bedeutung der Bildung der Mutter für die Bildungsbeteiligung wurde wiederholt in empirischen Studien nachgewiesen, siehe aktuell dazu Jessen et al. 2020.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
dass ggf. Informationen zu den Effekten bestimmter Veränderungen vorliegen müssen, etwa dergestalt, dass bekannt ist, in welchem Umfang eine Reduktion der Klassenstärke bzw. Schüler/innen-Lehrer/innen-Relation positive Effekte auf die Schüler/innen hat. Die diesbezügliche empirische Evidenz liefert allenfalls geringe Hinweise in diese Richtung.17 Neben dem Kind profitieren u.U. auch die Eltern, insbesondere die Mütter, von einer besseren Qualität der Kindertagesbetreuung, wenn ihnen dies die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bzw. einen größeren Erwerbsumfang ermöglicht, wobei zu beachten ist, dass es in dieser Studie um die Effekte von Qualitätsunterschieden und nicht um die Effekte eines quantitativen Ausbaus geht. D.h. die Auswirkungen auf das Erwerbsverhalten der Eltern (Mutter) sind nur insoweit von Relevanz, als ein höherer Erwerbsumfang ursächlich auf die bessere Qualität der Kindertagesbetreuung – und nicht allgemein: den Kita-Besuch – zurückgeführt werden kann. Dies setzt voraus, dass die bessere Qualität als solche wahrgenommen, positiv bewertet und in eine höhere Erwerbsstundenzahl umgesetzt wird (Schober/Spieß 2014). Sofern die hier beschriebenen Effekte eintreten, sind sie mit Auswirkungen auf die individuellen, aber auch fiskalischen Erträge verbunden.18 Im Folgenden liegt der Fokus auf den fiskalischen Erträgen.
3.2.2
Fiskalische Effekte auf die öffentlichen Haushalte
Die öffentlichen Haushalte profitieren von quantitativ und qualitativ höherwertiger Bildung insbesondere durch geringere Sozialausgaben, höhere Steuer- und Sozialeinnahmen, die jeweils kurz-, mittel- und langfristig anfallen können. Um in einem föderalen System die fiskalischen Effekte ermitteln zu können, sind die divergenten Finanzierungs- und Einnahmestrukturen zu beachten. So ist der Bund an den direkten Schulausgaben allenfalls mit
17
18
Siehe übergreifend u.a. Hattie (2013). Es gibt aber vereinzelt auch Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass kleinere Gruppen bzw. Klassen positive Effekte haben können (siehe etwa Bach/Siewert 2018), z.B. auch bei Kindern aus benachteiligten Familien. Soweit unterschiedliche Schulformen zu unterschiedlichen individuellen Erträgen führen, wäre eine wertorientierte (nachträgliche) Finanzierung durch die (ehemaligen) Schüler/innen theoretisch denkbar. Allerdings ist das zumindest in Deutschland aufgrund der Schulpflicht derzeit ausgeschlossen. Ertragsabhängige Refinanzierungen wurden in Deutschland aber insbesondere für den Hochschulbereich z.B. unter dem Stichwort Akademikerabgabe diskutiert (Dohmen 2003).
163
164
Dieter Dohmen
einem marginalen Anteil beteiligt,19 erhält aber, genau wie die Länder z.B. 42,5 % der Einkommensteuereinnahmen. Soweit ersichtlich gibt es keine empirischen Studien, die ja eher retrospektiv ausgerichtet sein müssten, allerdings gibt es einige Simulationsrechnungen, die aufgrund unterschiedlicher methodischer Ansätze und berücksichtigter Einflussfaktoren zu abweichenden Ergebnissen kommen. In einer der ersten Studien ermitteln Dohmen/Henke (2011) Erträge für unterschiedliche Bildungsreformen – Kita-Ausbau, Reduktion Schulabbruch, Ganztagsschulausbau, Ausbau Ausbildungsplätze – in unterschiedlichen Szenarien. Im mittleren Szenario belaufen sich die fiskalischen Erträge auf 1,4 bis 12,5 Prozent (siehe Tabelle 1). In einer nachfolgenden Studie wurden diese bundesweiten Erträge differenziert für die Sozialversicherungen und die öffentlichen Haushalte sowie Bund, Länder und Kommunen ermittelt (Dohmen 2011). Hierbei zeigte sich erwartungsgemäß, dass – je nach Bildungsbereich – meist die Länder, die den höchsten Finanzierungsanteil haben, die geringste fiskalische Rendite haben, gefolgt von den Kommunen, wohingegen der Bund, der den geringsten Anteil finanziert, die mit Abstand höchste Rendite hat. Dies sei in Tabelle 2 beispielhaft für den Ausbau der Ganztagsschulen sowie die Verringerung des Schulabbruchs aufgezeigt, in der zudem die Erträge für die Sozialversicherungen und die öffentlichen Haushalte separat ausgewiesen werden. In den vergangenen Jahren haben u.a. Krebs und Scheffel (2016) auf Basis eines mikrofundierten makroökonomischen Modells die gesamtwirtschaftlichen Effekte von Bildungsreformen in Deutschland abgeschätzt. Die fiskalischen Effekte für einen Ausbau der Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen belaufen sich, ohne Berücksichtigung möglicher Auswirkungen auf den Bildungserfolg, auf 7 Prozent (ebd.: 30f.). Die zum Teil beträchtlichen Unterschiede in den verschiedenen Berechnungen beruhen auf unterschiedlichen Modellen, z.B. hinsichtlich der Berücksichtigung von zusätzlichen Kosten aufgrund besserer Bildungsleistungen in nachfolgenden Bildungsbereichen oder zusätzlichen Erträge, da bessere Bildungsleistungen über höhere Abschlüsse in Verbindung mit unterschiedlichen Erwerbsbeteiligungsquoten in Abhängigkeit vom Bil19
Das Statistische Bundesamt (2019) weist im Bildungsbudget einen Betrag von 0,0 Mrd. Euro aus, allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sehr heterogene Verteilungsmechanismen gibt, die zu einer indirekten Bundesbeteiligung an der Schulfinanzierung führen können.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
165
Tabelle 1: Fiskalische Erträge ausgewählter pädagogischer Reformmaßnahmen (Dohmen/Henke 2011 ) Prävention Schulabbrüche
Berufsorientierung
Ausbau Ganztagsschulen
Ausbau Kitaplätze
Gesamtsummen
Einnahmen und Ausgaben in Folge der Investitionen (in Mio. Euro) 9.027 6.233 25.570 28.074 Gesamtinvestitionen 4.650 3.208 16.398 2.397 davon direkte Maßnahmekosten
68.904 26.653
87.088 33.285
72.048 27.937
90.858 39.510
310.780 161.390
560.773 262.122
Einsparungen Übergangssystem Überschuss/Nettoerträge
49.634 4.169 78.061
35.772 8.339 65.814
48.545 2.803 65.287
147.988 1.401 282.706
281.938 16.712 491.869
jährliche Gesamtrendite davon Rendite öffentliche Haushalte davon Rendite Sozialversicherungen
21,0% 9,0% 12,0%
25,1% 12,7% 12,5%
7,7% 3,6% 4,1%
24,1% 12,6% 11,5%
17,7% 8,8% 8,9%
Bruttoerträge davon Steuermehreinnahmen davon Sozialversicherungseinnahmen
Quelle: Berechnungen des FiBS Durchnittl. Bruttoerträge (46 J.) Bruttorendite ( Anteil an Investition)
1.893 21,0%
1.566 25,1%
1.975 7,7%
6.756 24,1%
12.191 17,7%
Durchnittl. Bruttoerträge ESt (46 J.) Bruttorendite nur Est
814 9,0%
789 12,7%
920 3,6%
3.539 12,6%
6.062 8,8%
Durchnittl. Bruttoerträge SV (46 J.) Bruttorendite nur SV
1.079 12,0%
778 12,5%
1.055 4,1%
3.217 11,5%
6.129 8,9%
Tabelle 2: Fiskalische Erträge ausgewählter Maßnahmen für Bund, Länder und Kommunen (Dohmen 2011 ) Sozialversicherung*)
Öffentliche Haushalte
Bund
Länder
Kommunen
Ganztagsschule
4,1%
1,4%
3,8%
0,2%
3,4%
Prävention Schulabbruch
12,0%
6,8%
27,4%
3,0%
8,5%
Anmerkung: *) Erträge der Sozialversicherung gehen strenggenommen gegen unendlich, da sie an den Kosten der Bildungssystem nicht beteiligt sind
166
Dieter Dohmen
dungsniveau (siehe u.a. Dohmen 2010, 2019) die makroökonomischen Erträge deutlich überproportional erhöhen können.20,21
3.2.3
Volkswirtschaftliche Effekte
In Deutschland hat insbesondere Wößmann mit verschiedenen Kolleg/innen in verschiedenen Studien dargelegt, dass bessere Bildungsqualität bzw. Schülerkompetenzen, gemessen an den Pisa-Studien zu einem (deutlich) höheren Wirtschaftswachstum führen würde (siehe u.a. Piopiniuk/Wößmann 2010; Hanushek/Wößmann 2007, 2019). Auch Krebs/Scheffel (2016) zeigen die positiven Wachstumsimplikationen von (höheren) Bildungsinvestitionen.
4.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Die vorstehenden Ausführungen haben die bestehende inputorientierte Finanzierung der Preis- und insbesondere einer wert- bzw. ertragsorientierten Finanzierung gegenübergestellt. Die ertragsorientierte Finanzierung wurde dabei als angemessene Übersetzung des Wertes frühkindlicher, schulischer Bildung verstanden. Die zentrale Implikation dieser veränderten Herangehensweise ist einerseits, dass eine stärker wert- bzw. ertragsorientierte Bildungsfinanzierung möglicherweise zu höheren Bildungsinvestitionen führen würde, da sie mit beträchtlichen individuellen, insbesondere aber fiskalischen Erträgen einhergeht. Andererseits würde sie aber einen Finanzier erfordern, der einen entsprechend langfristigen Ertragshorizont hätte – hier kämen z.B. Pensionsfonds oder Lebensversicherer in Betracht (siehe hierzu Dohmen 2018).
20
21
Dieser methodische Unterschied hinsichtlich der Berücksichtigung von unterschiedlichen Erwerbsquoten auf der Makroebene ist von beträchtlichem Einfluss gegenüber den Berechnungen von öffentlichen Erträgen auf der Mikroebene, die lediglich die öffentlichen Kosten und Erträge auf Ebene des einzelnen Individuums betrachten. Die Ausweitung der Zahl der Erwerbstätigen sowie der Reduktion von Arbeitslosen bei höheren Bildungsabschlüssen führt zu einer überproportionalen Steigerung fiskalischer Erträge. Vergleichsweise geringe fiskalische Erträge ermitteln Dohmen u.a. (2017) für den Ausbau frühkindlicher Bildung unter Berücksichtigung der (abdiskontierten) Effekte auf Sozial- und insbesondere Rentenversicherungen.
Wert & Preis des schulischen Lehrens und Lernens
Der Vollständigkeit halber ist jedoch abschließend darauf hinzuweisen, dass es bisher an einer ausreichenden empirischen Evidenz für die konkrete Berechnung fiskalischer oder gesamtwirtschaftlicher Effekte und Erträge mangelt (so auch Krebs/Scheffel 2016: 48). Auch wenn alle vorliegenden Studien zu dem Ergebnis kommen, dass ein quantitativer und/oder qualitativer Ausbau des Bildungswesens zu erheblichen fiskalischen Einnahmeund Wachstumseffekten führt, erschwert die mangelnde empirische Evidenz die praktische Implementierung einer (Zukunfts-)wertorientierten Bildungsfinanzierung. Für deren Umsetzung wäre insbesondere die Einbindung langfristig orientierter »Investoren« bzw. Finanziers erforderlich, wie Dohmen (2018) exemplarisch für den Hochschulbereich aufzeigt (siehe hierzu grundlegender bzw. übergreifend auch bereits Dohmen 2011).
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Dieter Dohmen
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Abstrakte Bildung Eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf den Wert von Bildung Thomas Höhne
Einleitung und Problemaufriss Die Frage nach dem Wert von Bildung scheint auf den ersten Blick den rein ökonomischen Wert zu meinen, mit dem in der Regel ein geldwerter und klar messbarer Output verbunden wird, der sich in einem entsprechenden Preis ausdrückt. Gegenüber dieser ökonomieimmanenten Sichtweise soll im Folgenden eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf den ›Bildungswert‹ auf Grundlage werttheoretischer bzw. wertkritischer Überlegungen skizziert werden. Prozesse und Formen gesellschaftlicher Bewertung – einschließlich Fragen des ökonomischen Werts – sind stets von modernen kulturellen Basisnormen wie Autonomie, Entwicklung, Fortschritt und Wachstum abhängig und daher politisch, technologisch-wissenschaftlich und kulturell mehrfach bestimmt bzw. überdeterminiert. Gegenüber einem objektivistisch-substantialistischen Verständnis eines ›Wertes an sich‹ (eines Objekts, einer Handlung, eines Ereignisses) ist die Prozesshaftigkeit von Valorisierungen hervorzuheben, denn jede Form der Wert-Bestimmung ist letztlich auch ein sozialer Prozess des Bewertens (Nicolae et al. 2019). Sie ist eingeschrieben in gesellschaftliche Strukturen und Institutionen und lässt sich sozialphänomenologisch als Prozess gesellschaftlicher »Institutionalisierung« auffassen, die durch Prozesse der Sedimentierung von Traditionen, der Objektivierung von Sinn- und Wissensstrukturen und der Habitualisierung von Handlungspraktiken charakterisiert sind (Berger/Luckmann 1966/1994: 49ff.). Werte sind wandelbar und mit gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen verknüpft, d.h. mit gesellschaftlichen Wertsetzungen gehen in der Regel Asym-
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Thomas Höhne
metrien, Hierarchien und Exklusionen einher: ob als soziale und kulturelle Distinktionen, dem Vergleichen und der damit verbundenen Hierarchisierung von Dingen, Menschen, Normen (Leistung) oder Handlungen, der damit verknüpften Kategorisierung als mehr oder weniger wertvoll und schließlich als Imperativ der Steigerung und Optimierung von Wert in Form von Mehrwert (vgl. Karpik 2011; Höhne 2019: 6). Unbesehen der Bedeutung der relational-prozessualen Konstruktion von gesellschaftlichen Wert(en) reicht es jedoch nicht aus, den modernen Wertbegriff einzig auf seine soziale Konstruiertheit im Rahmen einer allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Bewertungen, Valorisierungen oder Bewertungsformen hin zu untersuchen (Nicolae et al. 2019) oder etwa nur auf den Aspekt der Quantifizierung hin zu reduzieren (Mau 2017). Denn es stellt sich die grundlegende Frage, wie die Vorstellung von Wert(en) und – damit verbunden – der systematischen Erzeugung von Mehrwert überhaupt in die Gesellschaft gekommen und gesellschaftlich verankert sind. Sicherlich hat es in allen Gesellschaften kulturelle Vorstellung des Wertvollen gegeben, aber der Gedanke der systematischen Steigerung und Erzeugung von Mehr-Wert hat sich historisch erst mit der modernen bürgerlich-kapitalistischen Marktgesellschaft durchgesetzt (Fülberth 2008: 152). Insofern ist es für eine umfängliche gesellschaftstheoretische Betrachtung des Werts von Bildung – im Folgenden der Kürze halber auch ›Bildungswert‹ genannt – wichtig, die Diskursebene der Wertzuschreibungen mit der gesellschaftlich-strukturellen Ebene zu verbinden. Denn gesellschaftliche Wertsetzungen finden sich in vielerlei institutionalisierten Formen, sei es etwa in Form der Schulstruktur (Mehrgliedrigkeit, niedere höhere Bildung) und der Hierarchisierung von Schulfächern (Kernfächer, MINT-Fächer) oder auch in der Art der Bildungsfinanzierung, mit der Wertakzentuierungen etwa in der bevorzugten finanziellen Förderung der weiterführenden Bildung gegenüber der Elementarbildung vorgenommen werden (vgl. Klinger 2018). Eine historische Rekonstruktion der Genese des modernen säkularen Wertbegriffs wird zeigen, dass dieser aus dem Bereich der Ökonomie und Arbeit in nicht-ökonomische Bereiche übertragen wurde und damit eher stillschweigend auch die ökonomischen Mechanismen von Steigerung und Optimierung (›Mehrwert‹) übernommen wurden. Denn auch nichtökonomische sozialen Felder sind von Formen des Tausches, Wettbewerbs und der Konkurrenz durchzogen, bei denen es nicht primär um Geld, sondern um symbolischen Gewinn geht, was auch für das Feld der Bildung gilt. Auch diese symbolischen Formen haben eine wertbildende Funktion, die
Abstrakte Bildung
theoretisch berücksichtigt werden muss. Insofern ist es sinnvoll, ›die Ökonomie‹ als eigenlogisches Feld vom ›Ökonomischen‹ als gesellschaftlich verallgemeinerten Formen mit ökonomischer Funktion zu unterscheiden, die aber die Eigenlogik nicht-ökonomischer Felder nicht determinieren. Die Argumentation wird wie folgt entfaltet: Im ersten Schritt soll gezeigt werden, wie im Feld der Bildung historisch ganz unterschiedliche diskursive und strukturelle Setzungen des Bildungswertes im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entstanden sind, von denen viele bildungspolitisch bis heute konstitutiv sind für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Wert von Bildung. Ziel der Rekonstruktion ist es, die Diskurse um Bildung und die etablierten institutionellen Strukturen als verfestigte Formen gesellschaftlicher Wertzuschreibungen deutlich zu machen. Danach sollen theoretische Anschlüsse an die systemtheoretische Medientheorie, Simmel und Marx aufgezeigt und Eckpunkte einer systematischen werttheoretischen Dimension des gesellschaftlichen Bildungswertes skizziert werden. Eine wichtige werttheoretisch relevante Differenzierung hat Bourdieu mit dem erweiterten Kapitalkonzept vorgelegt, das anschließend vorgestellt wird. Damit können die symbolischen Tauschprozesse analysiert werden, die den Wertzuschreibungen und Wertveränderungen in nicht-ökonomischen Feldern wie dem der Bildung zugrunde liegen, die über geldbasierten Tausch – ob als Kosten oder Investitionen – hinaus gehen. Abschließend sollen mit den gewonnen Beschreibungskategorien beispielhaft Veränderungen des Bildungswertes im Kontext der jüngsten Bildungsreformen aufgezeigt werden.
1.
Historische Fluchtlinien der Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Wert von Bildung
Nützlichkeit und Bildungsschisma Die politischen Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Wert der Bildung sind seit dem 18. Jahrhundert an der Schnittstelle von Bildung und Ökonomie/Arbeit und im Kontext der entstehenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft lokalisiert (Titze 1973). Ein Ausgangspunkt ist die protestantischcalvinistische Arbeitsethik mit ihrer pädagogisch-säkularen Übersetzung in eine pietistische Pädagogik auf Grundlage einer rationalistischen Moral, in der Arbeitstugenden und Frömmigkeit kombiniert wurden (Titze 1973: 27). Ein zentraler Topos stellt hierbei die »Nützlichkeit« (Titze 1973: 25) dar, an
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Thomas Höhne
welcher der gesellschaftliche und ökonomische Wert des Bildungswissens im 18. Jahrhundert bemessen werden sollte. Über dominierende Bedeutung des ökonomischen Nutzens bei den Philanthropen hinaus entfalteten sich mit Rousseau und der Aufklärungspädagogik auch noch die beiden Linien des pädagogischen sowie des öffentlichen Nutzens, d.h. der Gemeinnützigkeit (Blankertz 1982/1992: 80f.) oder – wie es bei Locke heißt – »Wohlfahrt und Gedeihen der Nation« (Benner/Brüggen 2004: 186). Das Motiv utilitaristischer Nützlichkeitserwägungen findet sich zudem im französischen Merkantilismus des 17. Jahrhunderts und dem deutschen Kameralismus des 18. Jahrhunderts, in denen zum ersten Mal ein systematischer »Zusammenhang von Erziehung und Wohlstand« (Radtke 2005: 356) behauptet wird: »Beide Politiken können als Vorläufer der modernen Nationalökonomie gelten, die erstmals die Eigenschaften der Bevölkerung problematisiert, die Perfektibilität des Menschen unterstellt und dieses Vorhaben gezielt unter ökonomischen und moralischen Kalkülen betreibt« (ebd.). In diesem utilitaristischen Diskurskontext entwickelte sich mit der folgenreichen Unterscheidung von allgemeiner und spezieller, beruflicher Bildung ein weiteres dominantes »Deutungsmuster« (Bollenbeck 1996: 15ff.), mit dem der gesellschaftliche Wert von Bildung in antagonistischer Weise festgeschrieben wurde. Dieses »Bildungsschisma« (Baethge 2007) bildet bis heute eine zentrale wertkonstitutive Differenz im Feld der Bildung, mit der weitere wertbildende Differenzsetzungen und Trennungen assoziiert sind wie etwa Bildung/Ausbildung, Theorie/Praxis, theoretisches Wissen/praktisches Können, akademisch/beruflich bzw. niedrig/hoch (Bildungswesen) – und nicht zuletzt die von Kopf-/Handarbeit als mitlaufender ökonomischer Unterscheidung. All diese Differenzen zeigen zum einen, in welch tiefgreifender Weise Ökonomie und Arbeit einen konstitutiven Bezug für die Auseinandersetzungen um und die Grenzziehungen von (Aus-)Bildung bilden, da sich ökonomische Formen und Unterscheidungen wie die der Arbeitsteilung (Kopf/Hand, komplexe/einfache Tätigkeiten), des Wissens (theoretisch/praktisch) sowie der gesellschaftlichen Zwecksetzung (Nutzen) strukturell in den Bildungsdiskurs eingeschrieben haben und im Kontext der entstehenden Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft wertunterscheidend für Bildung geworden sind. Zum anderen wird deutlich, dass es sich oft um asymmetrische Differenzen bzw. »Gegenbegriffe« (Koselleck 1989) handelt, die eine ungleiche hierarchiebildende Inwertsetzung implizieren.
Abstrakte Bildung
Meritokratischer Individualismus und Gleichheit Ein weiteres wiederkehrendes Muster der Wertbestimmung von Bildung lässt sich aus der universalistischen Orientierung der Aufklärungspädagogik mit den Kategorien ›Volk‹, ›Gemeinschaft‹ und ›Menschheit‹ auf der einen Seite und deren partikularistischer Brechung rekonstruieren, mit der das neuhumanistische »Individualitätsprinzip« (Blankertz 1982/1992: 100) unterstrichen wird. Davon abgeleitet sind weitere individualistisch-meritokratische Wertzuschreibungen wie »Leistung« (Blankertz 1982/1992: 101), »Anlagen« (Titze 1973: 78) oder »Tüchtigkeit und Talent« (Benner/Brüggen 2004: 186), die nach wie vor für die Wertbestimmungen von Bildung entscheidend sind. Mit dem Gleichheitsbegriff wurde etwa naturrechtlich und anthropologisch allen Menschen eine »mögliche Bildungskraft« (Blankertz 1982/1992: 100) eine »perfectibilité« (Benner/Brüggen 2004: 188) zugeschrieben, die aber in individueller Verantwortung und – wie es bei Humboldt heißt – gegen die »zufälligen Schwierigkeiten der Umstände und der physischen Natur« (Benner/Brüggen 2004: 188) jeweils individuell entfaltet werden sollte. Erst im 19. Jahrhundert und im Rahmen der preußischen Bildungsreformen formulierte Lorenz von Stein als einer der ersten den Grundsatz, dass sich soziale Gleichheit und Bildungsgleichheit gegenseitig bedingten (Benner/Brüggen 2004: 199). Semantisch geht zudem ein weiterer entscheidender Impuls vom entstehenden Gesellschaftsbegriff aus, der in der Folge der Französischen Revolution und zunehmenden sozialen Ungleichheit im Kontext des Industriekapitalismus aufkommt und an politischem Gewicht gewinnt (vgl. Riedel 1972/2004), weil er untrennbar mit Gleichheit(sforderungen) verbunden ist (Rosanvallon 2013). Insofern wird gesellschaftliche Gleichheit in dieser Phase zur zentralen Referenz für die Bestimmung des überindividuellen Bildungswerts, wodurch sich die Spannung zwischen universalistischen Gleichheitspostulaten und individualistisch-meritokratischen Normen erhöht. Eine Hauptaufgabe von Bildungspolitik liegt fortan in der Vermittlung dieser antagonistischen Normen, die in verschiedenen Reformphasen entweder stärker egalitär oder mehr individualistisch akzentuiert sind. So dominiert aktuell seit Ende der 1990er Jahre der Diskurs über Bildungs- bzw. Leistungsgerechtigkeit, der den stärker egalitär ausgerichteten Diskurs der Chancengleichheit abgelöst hat (Bellmann/Merkens 2019; Bollenbeck 1996: 222). Zudem wird der Leistungstopos seit dem 19. Jahrhundert zum Bezugspunkt für eine mehrfache semantische Aufspaltung von Bildung in die Formen »›Halbbildung‹ (…) ›Unbildung‹, ›Überbildung‹ und ›Verbildung‹« (Bollenbeck 1996: 223),
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Thomas Höhne
die zwischen »sozial-distinktiver, aber auch selbstkritisch-reflexiver« (ebd.) Bedeutung changieren. Bildungsreformen markieren also historisch wichtige Umbrüche, in denen bildungspolitisch neue Wertsetzungen in der Bildung durch jeweilige Kompromisse und Konsense institutionalisiert wurden/werden (von Friedeburg 1992). Gleichheit und das damit verbundene Versprechen des sozialen Aufstiegs spielte im Kontext der sich verschärfenden Ungleichheit aufgrund der entstehenden Klassengesellschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle (Wehler 1995: 106ff.). Dies artikuliert sich bildungspolitisch im Kampf um den Grad und die Formen der Selektion, Differenzierung und sozialer Integration – sprich: um Strukturfragen von Bildung, zu der zentral auch die geschlechterdifferente Wertunterscheidung gehört. Während etwa unter der preußischen Kultusverwaltung Mädchen bis zum Ende des Kaiserreichs keinen Zugang zum höheren Bildungswesen erhielten und in den »mittleren Schulen« gleichsam stecken blieben (von Friedeburg 1992: 236), erhielten sie formal im Rahmen der Weimarer Verfassung die Gleichstellung und Zugang zur höheren Bildung. So herrschten bildungspolitisch kulturelle Vorstellungen von der Unvereinbarkeit akademisch-wissenschaftlicher Rationalität und der angestammten gesellschaftlichen Rolle der Frauen (ebd.: 238) vor, so dass die traditionelle Sphärentrennung von männlich dominierte Produktion und Öffentlichkeit und weiblich zugewiesener Zuständigkeit für Familie und Reproduktionsbereich auch mittels Bildung konsolidiert wurde. In bildungspolitischen Kompromissen gingen historisch eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer und politischer Interessen ein, in denen entsprechende Wertakzentuierungen und -verschiebungen vorgenommen wurden. Dazu gehören unter anderem die Sicherung exklusiver sozialer Privilegien, die staatsfunktionale Rekrutierung bürokratischer Experten oder die ökonomisch-technischen Qualifikationsinteressen von Unternehmen (Herrlitz et al. 2009). Diese von Hans Ulrich Weiler so benannte »polyvalente Funktionalisierung« (Wehler 1995: 1191) von Bildung war und ist Ausdruck eines sozialen und politischen »Kräfteparallelogramms« (Wehler 1995: 1191) und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, die sich in Form unterschiedlicher soziale, kulturelle, politische und ökonomische Wertsetzungen institutionell ins Bildungssystem eingeschrieben haben. Insofern sind in diesen Wertsetzungen auch immer gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse des Bildungswertes repräsentiert. In den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um den Bildungswert wurden jeweils Möglichkeiten und Grenzen von Veränderungen festgeschrieben, was die Chancen zu sozialem Aufstieg und sozialer Mobilität
Abstrakte Bildung
zeigen. So entwickelte sich zwar im 19. Jahrhundert das sozialpolitisch nicht (mehr) hintergehbare Aspirationsniveau als »aufsteigende Klassenbewegung« (Herrlitz et al. 2009: 130), aber gleichzeitig wurden mit den Möglichkeiten auch die Grenzen sozialer Gleichheits- und Aufstiegserwartungen im Weimarer Schulkompromiss offenbar, die bis heute konstitutiv sind: »Alle Versuche, die Grundschulzeit seitdem [Weimarer Schulkompromiss, T. H.] auf sechs Jahre zu verlängern, sind gescheitert. Das ist immerhin ein Zeitraum von fast hundert Jahren. Hinter diesem Widerstand steckt nicht nur das Sonderinteresse der Verteidiger des ›grundständigen‹ neun- oder achtjährigen Gymnasiums. Vielmehr zeigt es auch ein nicht sehr ausgeprägtes allgemeines Interesse an gleicher Bildungsteilhabe, die unmöglich nach vier Jahren gemeinsamer Grundschule erreicht sein kann.« (Hopf 2017: 31) Eine weitere, für das 19. Jahrhundert zentrale Scheidelinie der Festschreibung des gesellschaftlichen Bildungswerts ist die von niederer und höherer Bildung (von Friedeburg 1992: 156), die sich in der gleichnamigen schulstrukturellen Unterscheidung eines »niederen und höheren Schulsystems« (ebd.: 155) institutionalisiert hat – und letztlich auf der strukturellen Trennung von Hand- und Kopfarbeit beruht (ebd.: 156), mit der eine Kette weiterer normativer Wertzuschreibungen assoziiert ist: kognitive Fähigkeiten, Autonomie, akademisch/nicht-akademisch usw. Ein aktuelles Beispiel hierfür bildet der europäische bzw. nationale achtstufige Qualifikationsrahmen, in dem wertbildende Differenzen der akademischen und beruflichen Bildung. Dies schließt an Differenzierungsformen wie die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems an, die für die strukturelle »Trennung in eine volkstümlich-elementare, eine technisch-praktische und eine wissenschaftlich-theoretische Bildung« (von Friedeburg 1992: 377) stehen. Die historischen Differenzlinien, die hier rekonstruiert wurden, beschreiben – so die Annahme – zentrale gesellschaftliche Wertbestimmungen von Bildung, die in institutionellen Strukturen und diskursiven Auseinandersetzungen ihren jeweiligen Ausdruck gefunden haben. Diese Differenzen sind nicht vollständig, sondern ließen um weitere zentrale neuralgische Punkte wie private/öffentliche Bildung oder Differenzierung/Einheitlichkeit der Schulstruktur erweitern, was hier jedoch nicht weitergeführt werden soll. Die historische Rückschau sollte exemplarisch verdeutlichen, dass sich der Wert von Bildung sowohl in institutionellen Formen und Strukturen materialisiert als auch in Diskursen und politischen Auseinandersetzungen seinen gesellschaftspolitischen Ort hat. Etablierte institutionelle Strukturen und Diskur-
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se sind die beiden Seiten gesellschaftlicher Anerkennungsverhältnisse und Wertbestimmungen, die sich historisch je nach Konsens und Kompromissen verändern können. Diese doppelte Dimension von Werten müssen für die folgenden vertiefenden Überlegungen zum Wertbegriff im Auge behalten werden, die im folgenden Kapitel unternommen werden.
2.
Werttheoretische Reflexionen
Systematisch-theoretisch haben sich zahlreiche AutorInnen zum Wertbegriff Gedanken gemacht und einige der Positionen (Weber, Simmel, Marx) sollen im folgenden Kapitel vorgestellt werden. Die Genese des Wertbegriffs ist, wie bereits eingangs erwähnt, historisch und systematisch ohne die Ökonomie und, präziser mit Max Weber formuliert, »aus dem Geist des Kapitalismus« (Weber 1988) nicht zu verstehen. Der moderne Wertbegriff stellt sich hierbei als »Zwitterwesen« (Sommer 2016: 39) dar, der sowohl ökonomischen Ursprungs ist – der Wert von Arbeit und Tausch – als auch die Form moderner säkularer Moral bezeichnet, eben Werte wie ›Gerechtigkeit‹ oder ›Humanität‹, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen gelten (ebd.). Beide ›Wertformen‹ verbindet, dass sie eine Art ›quantifizierende Abstraktion‹ vom je konkret Gegebenen, von spezifischen Merkmalen, Qualitäten und Situationen beinhalten: »Das große Versprechen, die große Suggestion von Werten ist erstens die Bezifferbarkeit. Wer ›Werte‹ sagt, suggeriert, dass da etwas genau Bestimmund Messbares vorliegt, im Unterschied zum schieren und damit so schlecht greifbaren Guten. Bei Tugenden muss man ein Maß, eine Mitte finden zwischen Zuviel und Zuwenig, während man Werte miteinander verrechnen kann. Bei der Pflicht gilt nur Gehorsam, kein Abwägen und kein Austarieren, während Werte Buchführung, vielleicht sogar doppelte und mehrfache Buchführung verlangen, Rubriken für Activa und Passiva, Amortisation und Altlasten, stille Reserven und Reptilienfonds.« (Sommer 2016: 31) Moralische Werte, ökonomische Werte oder auch technische Werte, die man hier hinzunehmen könnte, sind drei Erscheinungsformen von Werten, welche die Abstraktion von spezifischen Qualitäten des Gegenstandes gemeinsam haben, den sie beziffern, benennen oder bestimmen. Ob es sich um Normwerte (Median, Durchschnitt) handelt oder auch um moralische Werte, die das Sagbare, Denkbare und die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten
Abstrakte Bildung
auf bestimmte Optionen eingrenzen, in jedem Fall kommt Werten determinierend-eingrenzende Funktion zu. Man könnte auch von Verdichtung sprechen, da in Werten gleichsam Bedeutungen gespeichert und Vereindeutigungen vorgenommen werden: Ist beispielsweise Gleichheit als Wert gesellschaftlich einmal anerkannt, so kann er gesellschaftliche Konflikte vereindeutigen ›auf den Punkt‹ bringen und Geld repräsentiert in der ökonomischen Welt einen ökonomischen Wert, der langes Feilschen, Reden und Aushandeln um den Wert einer Sache überflüssig macht, auch wenn auf ›dem Markt‹ Preise verhandelt werden können, aber eben nicht der Wert an sich. Und schließlich zeigt der Wert auf dem Fieberthermometer mehr oder minder eindeutig an, ob die Körpertemperatur noch im Normbereich liegt, man von erhöhter Temperatur oder von Fieber sprechen muss. Der Gedanke der Abstraktion und Bedeutungsverdichtung in Werten ist zentral für die moderne soziologische Theoriebildung und hat etwa in Luhmann’s Medienbegriff einen avancierten theoretischen Ausdruck gefunden. Soziologisch gehören Werte für ihn zu den sogn. symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien – wie Wahrheit, Werte, Liebe, Eigentum/Geld, Macht/Recht (Luhmann 1997: 336), die kommunikativen Erfolg und Austausch sicherstellen sollen. Der Grundgedanke einer informationsökonomisch verdichteten symbolischen Kommunikation durch Medien stammte ursprünglich von Parsons: »Um die Vermittlung intersystemischen Austauschs durch die Medien erklären zu können, konzipiert Parsons sie in Analogie zu wirtschaftswissenschaftlichen Geldmodellen [Hervorhebung des Verfassers] und überträgt die dort entwickelten Grundfunktionen des Geldes (Wertfunktion, Tauschfunktion und Rechenfunktion) auch auf die nichtmonetären Medien.« (Künzler 1987: 318) Geld erhält in der systemtheoretischen Theorie als eine Art Leitmedium paradigmatischen Vorbildcharakter für alle anderen Medien und weitere gesellschaftliche Funktionen, vor allem für Kommunikation und ›symbolischen (Aus)Tausch‹1 . Dies verwundert nicht, denn »Parsons begann die Ausarbei1
Die Komplexität der gesellschaftlichen Verkehrsformen wird in der systemtheoretischen Analogiebildung von ökonomischer und gesellschaftlicher Operation auf Kommunikation natürlich funktionalistisch reduziert. Aber der systemtheoretische Medienbegriff hilft zwei Dinge zu verstehen: Zum einen, dass in Werten und gesellschaftlichen Wertsetzungsprozessen Bedeutungen verdichtet und Abstraktionen vorgenommen werden und zum anderen, dass damit eine Logik von Tausch und Wertsteigerung verknüpft ist.
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tung der Medientheorie mit einer Untersuchung des Austauschs zwischen Wirtschaft und den anderen Subsystemen der Gesellschaft und seiner Vermittlung durch das Geldmedium« (ebd.: 318). Damit werden Kommunikation, Sprache und Symbole in der Theorie zu geldanalogen Tauschmitteln (gemacht): »Zwar wird auf grundbegrifflicher Ebene das Geldmedium in das sprachorientierte Konzept eingeordnet und unter der linguistischen Begrifflichkeit von Code und Message analysiert; in der konkreten Ausführung der Theorie findet jedoch eine stillschweigende monetäre Umdeutung der zunächst anhand des linguistischen Modells eingeführten Medieneigenschaften statt.« (ebd.: 319) Im Kontrast zu dieser ökonomisierenden Analogisierung hat in der soziologischen Theoriebildung wertkritisch Georg Simmel die grundlegend gesellschaftlich wertvermittelnde und abstrahierende Funktion des Geldes hervorheben. In Anschluss an Marx stellt Geld für ihn zum einen eine allgemeine Äquivalentform für den Tausch verschiedener Waren dar, dessen Ursprung die abstrakte Arbeit bildet (s.u.). Damit werde eine »reale Abstraktion« konstituiert, nämlich als »umfassende Wirklichkeit der Wertungsvorgänge« (Simmel 1989: 57), mit der von den Besonderheiten des Waren-Objekts abstrahiert (seinen charakteristischen Eigenschaften, der Spezifik der Produktion usw.) wird. Dadurch wird der Tausch für das einzelne Subjekt am Markt zu etwas Realem und zu einem sinnlich erfahrbarem Austauschprozess gemacht, denn jede Münze oder jeder Geldschein repräsentiert symbolisch den Wert eines Gutes: »Diese Ermöglichung von Symbolen durch die psychologische Heraussonderung des Quantitativen aus den Dingen, die uns heute freilich sehr selbstverständlich erscheint, ist eine Geistestat von außerordentlichen Folgen. Auch die Möglichkeit des Geldes geht auf sie zurück, insofern es, von aller Qualität des Wertes absehend, das reine Quantum desselben in numerischer Form darstellt« (Simmel 1989: 169). Simmel bestimmt diese Transformation genauer als »Übergang von dem qualitativ bestimmbaren zu dem quantitativ symbolischen Ausdruck«, der die Zeichen einer »Reduzierung auf den rein quantitativen Gesichtspunkt die Symbolisierung des Wertes trägt, auf der erst die ganz reine Verwirklichung des Geldes ruht.« (Ebd.) Werte und gesellschaftliche Wertbestimmungen, so zeigt die theoretische Konstruktion, haben mehrere Funktionen: Sie beinhalten eine Reduktion von Komplexität und erzeugen dadurch ›Übersichtlichkeit‹ und Eindeutigkeit, zu-
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gleich sind die Real-Abstraktionen, die gesellschaftlichen (Aus)Tausch ermöglichen, in denen Bedeutungen konkret-symbolisch verdichtet und gleichzeitig abstrakt sind. Darin gleichen sich Geld, Zahlen und Daten, die sozial akzeptierte und anerkannte Wertzeichen repräsentieren. Für den Bildungsbereich bilden Noten und Abschlüsse die anerkannte institutionalisierte Form des Bildungswertes einer Person bzw. Ihres kulturellen Kapitals, wie man es mit Bourdieu formulieren kann. In seinem Kapitalkonzept ist zudem die Dimension von Tausch und Wertsteigerung enthalten, weshalb ich darauf noch genauer eingehen werde.
Gebrauchswert und Tauschwert Von Marx wurde seinerzeit im Kontext seiner Kritik der politischen Ökonomie die werttheoretisch bedeutsame Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert eingeführt (Marx 1867/1969: 62). Dem zugrunde liegt die unterschiedlichen Wertbestimmungen, bzw. Differenzierung von konkreter und abstrakter Arbeit (Heinrich 2018: 45). Lebendige Arbeit stellt nach Marx die entscheidende Quelle der Schaffung gesellschaftlicher Gebrauchswerte dar, womit materialistisch der Ausgangspunkt auch für jede weitere Wertbestimmung dargelegt ist. Ohne Arbeit, so die These, kein(e) Wert(e), keine Wertsteigerung und kein Mehrwert. Arbeit durchläuft im Kapitalismus aber einen entscheidenden Formenwandel, da sie zu abstrakter Arbeit (gemacht) wird: Denn die Arbeitskraft – berechnet nach Arbeitskosten, Lohn und Zeit – wird auf dem ›Arbeitsmarkt‹ ge-/verkauft und damit in eine Ware transformiert, die schließlich nur noch einen Tauschwert als abstrakte Arbeit hat. Der Tauschakt selbst wird also zur Grundlage einer abstrahierenden Inwertsetzung: »Im Tausch wird vom Gebrauchswert der Waren abstrahiert, die Waren werden als Werte gleichgesetzt« (Heinrich 2018: 47). So drückt etwa der Arbeitslohn »nicht den Wert der Arbeitskraft, sondern den Wert der Arbeit aus« (Heinrich 2018: 95). Daher bezeichnet Marx Ausdrücke wie ›Wert der Arbeit‹ oder ›Wert des Bodens‹ als »imaginäre Ausdrücke« (ebd.: 95) oder auch als »Realabstraktionen« (ebd.: 47), mit der eine Wertsubstanz imaginiert bzw. vorgespiegelt wird, für die Geld als abstraktes Wertzeichen fungiert. Wertanalytisch kann also festgehalten werden, dass die ursprüngliche Wertbestimmung des Gebrauchswertes durch eine gänzlich neue Wertsetzung gleichsam überlagert wird, die durch eine neue Ordnung, nämlich die des kapitalistischen Marktes geschaffen wird, innerhalb derer ausschließlich der Tauschwert der Ware Arbeitskraft zählt. Möglich ist dies nur durch die
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objektivierende Quantifizierung des Gebrauchswerts, also die Umwandlung in eine verrechenbare Größe, nämlich der Arbeitszeit: »Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Wertes messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ›wertbildenden Substanz‹, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.« (Marx 1867/1969: 59) Mit dem zeitlich quantifizierten und objektivierten Tauschwert wird zugleich die Grundlage für eine systematische Produktion von Mehrwert geschaffen und zwar gleichgültig, ob in Form der Kostenreduktion, der Effizienzsteigerung (Optimierung des Aufwand-Ertrags-Verhältnisses) oder der Intensivierung von Leistung und Output (Verlängerung der Arbeitszeit). Auf der Ebene des Tauschwerts steht nicht mehr die konkrete Einzelarbeit und ihre genuinen qualitativen Eigenschaften im Vordergrund, sondern die Produktion von Mehrwert. Marx hebt hervor, in welch radikaler Weise die Durchsetzung der Tauschwertlogik die Gesellschaft insgesamt verändert: »Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde. Es ist […] die Zeit, in der jeder Gegenstand, ob physisch oder moralisch, als Handelswert auf den Markt gebracht wird, um auf seinen richtigsten Wert abgeschätzt zu werden.« (Marx 1847/1972: 69)
Die Erweiterung des Kapitalkonzepts Die Expansion ökonomischer Logiken in außerökonomische Bereiche, die bei Marx beschrieben wird, erfordert einen erweiterten Begriff des Ökonomischen, das über die rein geldbasierten Tauschvorgänge auf expliziten wirtschaftlichen Märkten auch symbolische (Aus)Tauschprozesse berücksichtigt. Bourdieu hat über das klassische ökonomische Kapital hinaus (Geld, Besitz) weitere wertformbildende Kapitalsorten unterschieden (Bourdieu 1997): Mit ›sozialem Kapital‹ bezeichnet er den gesellschaftlichen Wert sozialer Beziehungen (Freunde, Netzwerke) und ›kulturelles Kapital‹ repräsentiert nach ihm den gesellschaftlichen Wert von Bildung. Dieser verteilt sich hinsichtlich des Bildungswertes vor allem auf zwei Sorten von kulturellem Kapital, nämlich
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der institutionalisierten Form (= Bildungstitel, Abschlüsse) und der inkorporierten Form, welche das im Bildungsprozess individuell angeeignete Wissen und Können sowie die habituellen Kompetenzen und Möglichkeiten einer Person bezeichnet. Die Tauschoption – als Grundlage für Realisierung des Tauschwerts – ist im erweiterten Kapitalkonzept Bourdieus insofern berücksichtigt, als die unterschiedlichen Kapitalsorten a) grundsätzlich ineinander konvertierbar sind und b) potentiell letztlich auch immer in ökonomisches Kapital getauscht werden können (Bourdieu 1997). Damit wird auch klar, dass das Kapitalkonzept nicht den umfänglicheren sozialen Gebrauchswert von Bildung umfasst, sondern auf den möglichen Tauschwert zielt. Der Hochschulabschluss, also institutionalisierte Kulturkapital, kann beispielsweise gegen eine gut dotierte Stelle getauscht werden, auf der das Gehalt unter anderen Motiven einen Hauptanreiz darstellen mag. Es sei gegenüber möglichen Bedenken einer ökonomistischen Sicht auf soziale Beziehungen, die eine solche Perspektive eröffnet, hervorgehoben, dass Tausch hierbei als eine Form der institutionalisierten Anerkennungsbeziehung bzw. von Gabe und Erwiderung angesehen wird, die in keiner Weise ausschließlich ökonomische Funktion hat, sondern kulturell und gesellschaftlich – genauso wie auch ökonomisch – bestimmt ist (Hillebrand 2009). In den außerökonomischen kulturellen Feldern haben nach Bourdieu bestimmt kulturelle Werte eine herausragende Bedeutung, nämlich »die symbolischen Güter, womit etwa Anerkennung, Prestige, Ehre und andere nicht warenförmig zu beschreibende Güter gemeint sind (…)« (Hillebrand 2009: 186). Denn die »durch Gabe und Gegengabe entstehende Zirkulation von Gütern, die ein beträchtliches Ausmaß annimmt, erzeugt dabei eine besondere Art des Kapitals, die Bourdieu das symbolische Kapital nennt, verstanden als ein ›nach besonderen Wahrnehmungskategorien konstruiertes Wahrgenommenwerden‹« (Hillebrand 2009: 187, Bourdieu-Zitat in einfachen Anführungszeichen, T.H.). Eine besondere Bedeutung kommt dem symbolischen Kapital als einer weiteren Kapitalsorte zu, denn es wird in den Händen des Staates zu einem »Metakapital« (Bourdieu 1998: 100), da es kapital- und feldübergreifend gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse regelt. Der Staat ist »das Ergebnis eines Prozesses der Konzentration verschiedener Kapitalsorten, Kapital der physischen Gewalt bzw. der Mittel der Ausübung dieser Gewalt (Armee, Polizei), ökonomisches Kapital, kulturelles […] Kapital, symbolisches Kapital« ist (Bourdieu 1998: 100). Mit der Monopolisierung von symbolischem Kapital als
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»Metakapital« gewinne der Staat nicht nur »Macht über die anderen Kapitalsorten und ihre Besitzer«, sondern auch »über die verschiedenen Felder und über die verschiedenen besonderen Kapitalsorten« (ebd.: 100f.) einschließlich des Feldes der Bildung. Insofern ist er nach Bourdieu »der ideale Ort für die Konzentration und Ausübung symbolischer Macht« (ebd.: 109). Damit stellen Bildungsreformen auch immer den Dreh- und Angelpunkt für die Veränderung und Neuakzentuierung des gesellschaftlichen Wertes von Bildung dar. Dies kann am Beispiel staatlicher Privatisierungspolitik im schulischen Feld verdeutlicht werden. So stellt etwa die Aufhebung von festen Schuleinzugsbezirken (Schulsprengel) seit den 2000er Jahren eine zentrale bildungspolitische Deregulierungsmaßnahme dar, die in der Regel mit dem Hinweis auf die Individualisierung und Pluralisierung des Elternwillens begründet wird. Symbolisch sind in einer solchen Legitimation gesellschaftliche Werte und Wertpräferenzen wie Individualität und Autonomie von Elternentscheidungen repräsentiert, die bildungspolitisch im Akt der Aufhebung des Schulsprengels politisch anerkannt und gleichzeitig in eine Verordnung oder ein Gesetz institutionell festgeschrieben werden. In diesem Kontext stellt auch das Unterlassen der politischen Aufsichtspflicht einen (verdeckten) Akt symbolischer Anerkennung – oder ›Aberkennung‹ – dieser bildungspolitischen Wertsetzungen dar. Denn wie das Ignorieren bzw. Unterlaufen des verfassungsrechtlich vorgegebenen Sonderungsverbots von Privatschulen durch kommunale Behörden zeigt, erheben einige Privatschulen mit stillschweigender Billigung der Behörden zu hohe Schulgebühren (Wrase/Helbig 2016). An diesem Beispiel des erstmals mit dem Weimarer Schulkompromiss eingeführten Schulsprengels zeigt sich, in welcher Weise bildungspolitisch Neuakzentuierungen des Bildungswertes realisiert werden können. Denn mit dem Fokus auf individualisierte Bildungsentscheidungen sind Subjektvorstellungen eines nutzenmaximierenden homo oeconomicus (Elternklientel) verknüpft, der nur auf einem entsprechenden (Privatschul)Markt seine Entscheidungsfreiheit nutzen kann. Die weitere implizite normative Wertprämisse lautet hierbei, dass nur individuelle Bildungsentscheidungen in einem differenzierten Schulsystem einen hohen effektiven Bildungs(tausch)wert haben können, da nur dieser aus einer entsprechenden »Passung« von sozialem Milieu, individuellen Kompetenzen bzw. Begabungen und Schule erwachsen kann (Helsper/Kramer/Thiersch 2014). Damit wird die sozial distinktive Funktion von Bildung hervorgekehrt, in der eine der zentralen Wertbestimmungen schulischer Bildung besteht.
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Symbolische Märkte funktionieren über Unterscheidungen und eine solche Privatisierungspolitik ist ein Angebot an distinktionsorientierte soziale Milieus, individualisierte und exklusive Angebote von Privatschulen zu nutzen und öffentliche Schulen zu meiden. Die Aufwertung privatisierter Bildung(sangebote) geht also unter Bedingungen von Quasi-Märkten notwendig mit einer Abwertung staatlicher Institutionen einher. Dies ist der ›Preis‹, der gesellschaftlich mit der Vermarktlichung des schulischen Angebots gezahlt wird. Es ist der »Distinktionswert«, der hierbei den »symbolischen Gewinn« (Bourdieu 1982/1987: 360) ausmacht. Auf symbolischen Märkten stellt die spezifische Macht der Unterscheidung das allgemeine Äquivalent dar – analog zu Geld für die reale Marktökonomie –, um deren Vermehrung und Akkumulation die Subjekte in den sozialen Feldern ringen.
3.
Abstrakte Bildung, Daten und symbolischer Markt
Die bildungspolitischen Reformen seit Mitte der 1990er Jahre haben zu einer paradigmatischen Verschiebung des gesellschaftlichen Wertes von Bildung geführt. Grosso modo kann man, wie schon angedeutet, von einer ökonomischen Neuakzentuierung sprechen, die sich bildungspolitisch im Zeichen von Globalisierung, output-orientierter Steuerung, Evaluation, Standardisierung, Wettbewerb, Schulautonomie, expandierendem Privatschulsektor und New Public Management vollzogen hat, um nur einige Stichworte zu nennen. Nicht von ungefähr wird diese Entwicklung insgesamt unter dem Stichwort »Ökonomisierung« (Hoffmann/Maak-Rheinländer 2001; Peetz 2014) diskutiert, in deren Zeichen eine Neubestimmung des Bildungswerts vollzogen wird. Abschließend sollen nun die gewonnen werttheoretischen Kategorien angewendet werden, um zum einen deren analytisches Potential aufzuzeigen und zum anderen die Veränderungen des gesellschaftlichen Werts von Bildung im Kontext der jüngeren Bildungsreformen zu umreißen. Hierbei geht es um die Stärkung der Tauschwertlogik von Bildung durch PISA und die strukturelle Umwertung von Bildungskapital. Mit den von der OECD organisierten PISA-Vergleichsstudien wurden transnational und zentralisiert output-orientierte und standardisierte Benchmarks in die OECD-Welt eingeführt mit dem Ziel, globale BestPractice-Beispiele für erfolgreiche Schulen zu etablieren (Knodel/Martens/de Olano 2010). Diese Form globaler Bildungsgovernance fußt auf einer Indika-
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torensteuerung als einer Art Produktstandard, nach denen die ›Qualität‹ von Bildung als Tauschwert bestimmt wird. Mit PISA wurde das arithmetische Mittel von 500 Punkten als normierter Leistungsdurchschnitt eingeführt, anhand dessen der Bildungswert jedes einzelnen nationalen Schulsystems bemessen und bewertet sowie repräsentiert und auf einen Blick sichtbar gemacht werden soll. Ähnlich dem Bruttoinlandsprodukt ist es die »Macht der einen Zahl« (Lepenies 2013), in der sich symbolisch der Leistungswert eines nationalen Schulsystems verdichtet, mit dem über- und unterdurchschnittliche und als Leistungsnorm(alität) angesetzte ›Leistungsquanten‹ gesetzt werden: »Diese empirische Mitte definiert das Normale – es handelt sich um ›durchschnittlich gute‹ Schülerinnen und Schüler« (Bloem 2016: 43). Die Übersetzung von ganz unterschiedlichen Bildungsqualitäten in eine standardisierte und sichtbare Zahl von Quantitäten bzw. Merkmalen (Indikatoren, Daten usw.) ist kein abbildender, sondern konstruierender und formgebender Prozess. Es bedarf technologischer Expertise, um diese Übersetzung leisten zu können (Imdorf/Leemann/Gonon 2019), über welche die OECD verfügt und die sie bewusst strategisch nutzt (Bloem 2016). Zahlen und Daten werden damit zur Währung bzw. Wertzeichen und erhalten symbolisch einen »autoritativen Charakter« (Bloem 2016: 40), da sie für Objektivität, Evidenz und die Klarheit des Vergleichs stehen, die nicht hinterfragt werden können. Sie wirken als Realabstraktionen insofern, als sie Qualitäten unsichtbar, aber den Tauschwert von Bildung unmittelbar sichtbar, d.h. ›evident‹ werden lassen. Obschon sie das Resultat von (normativen) Vorentscheidungen der Zahlen/DatenproduzentInnen sind (hinsichtlich der Indikatoren), bleibt der »Entstehungsprozess von Statistiken« (ebd.: 46) ausgeblendet: »Die Trennung ist schließlich entscheidend dafür, ›nackten‹ Zahlen ihren autoritativen Charakter zu verleihen« (ebd.: 46). Der Tauschwert von Daten und Zahlen hat also die abstrahierende Trennung von Produktion, Zirkulation und Konsumtion der Daten in Politik, Öffentlichkeit und Medien zur Voraussetzung. Damit können Daten und Zahlen – ähnlich wie im Fall des Geldes – als allgemeines Äquivalent ihre Tauschfunktion nur unter der Voraussetzung erfüllen, dass sie überhaupt nichts Konkretes über die gebrauchswertseitige Realität von Bildung aussagen dürfen, sondern genau davon abstrahieren müssen. Erst auf dieser Ebene des Tauschwerts ergibt sich ihre genuine Steuerungs- bzw. Kontrollfunktion für die Politik – eben in Form der abstrakten Verdichtung von Information bis zur ›Unkenntlichkeit‹ komplexerer Realität(en) von Bildungspraxen. Darin besteht die per-
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formative Funktion von Daten als abstraktes Wertzeichen für Bildung (z.B. der Aufstieg von Platz 17 auf Platz 12 in einer Vergleichsuntersuchung). Die so erzeugten Datenordnungen und -hierarchien (League Tables, Rankings, Normal- bzw. Durchschnittswerte plus Abweichungen usw.) stellen eine Form abstrakter Bildung insofern dar, als den Produktions-/Konstruktionsprozess, die normativen Vorentscheidungen sowie die komplexe Prozessrealität von Bildung also notwendig unsichtbar lassen. Damit wird die tauschwerttypische Trennung von ›Produkt(ionsprozess)‹, ›Produzent‹ und ›(Bildungs-)Praxis‹ mit all ihren Widersprüchen, Brüchen und strukturellen Technologiedefiziten vollzogen. Alternativ wäre der soziale und ›realkonkrete‹ Gebrauchswert eines mehrfach zu bestimmenden Bildungswertes gegenüber der ›realabstrakten‹ und ökonomistischen Vereinseitigung geltend zu machen. Über kurz oder lang werden global wie auch national auf Basis dieser Datenpolitik symbolische Quasi-Märkte konstruiert, mit denen sozial »hoch aggregierte Ordnungen zwischen den Individuen« (Angermüller/Maeße 2015: 65) hergestellt werden. Dekontextualisierte Daten haben auch in Deutschland für die politische Produktion von Quasi-Märkten im Kontext der Schulautonomie-Politik und mit der Expansion des Privatschulmarktes seit Ende der 1990er Jahre eine zentrale Bedeutung erlangt, da sie auf diesen symbolisch strukturierten Märkten das geld- bzw. preisanaloge Tauschmittel für abstrakte Bildung darstellten. Denn für die MarktteilnehmerInnen (Eltern) bilden Daten in Form von Rankings, Durchschnittsnoten oder Evaluationsergebnissen Informationen bzw. Marktsignale, die für die politische Produktion von Quasi-Märkten unabdingbar sind (Weiß 2001: 72), weil sie Eltern zu Wahlentscheidung veranlassen und sie so als Kunden erst hervorbringen. Daten sind gleichsam die symbolische Währung und verdichtete Information, die den Eltern/Kunden den Wert einer Schule anzeigt. Wichtig ist, dass der Quasi-Markt mit Angebot-Nachfrage-Struktur erst mittels Daten kreiert wird, die wiederum das Ergebnis entsprechender bildungspolitische Maßnahmen (Vergleichsarbeiten, veröffentlichte Evaluationsberichte, Abiturdurchschnittsnoten usw.) sind. Durch abstrakte Bildung, so lässt sich abschließend festhalten, wird das Bildungssubjekt auch in einen rationalen Wahlentscheider verwandelt oder wie es Ulrich Bröckling lakonisch formuliert: »Ein homo oeconomicus zu werden ist auch ein Bildungsprogramm« (Bröckling 2007: 95).
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Wert und Preis von schulischer Bildung Die rechtswissenschaftliche Perspektive Wolfram Cremer
I.
Einleitung – Entwicklung und Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes
1.
Wertvoll ist, was nichts kostet
»Was nichts kostet, ist nichts wert.« Dieser nicht zuletzt von Albert Einstein (Einstein 1920) formulierte Sinnspruch reflektiert eine für marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaftsordnungen (prima facie) kaum in Frage stellbare Selbstverständlichkeit. Und ein solcher Gleichklang von Wert und Preis wird auch in bildungspolitischen Kontexten immer wieder gepredigt (vgl. mit dem zitierten Sinnspruch im Kontext von Studiengebühren etwa der ehemalige BDI-Präsident Hans Olaf Henkel, Rhein-Zeitung, 27.01.1997, RHZ97/JAN14514). Aber ist dies auch die Perspektive des Bildungsrechts und namentlich des Schulrechts? Meine prima facie vielleicht überraschend anmutende Antwort lautet: »Nein«! Ganz im Gegenteil – Wertschätzung der (schulischen) Bildung bringt das Recht dadurch zum Ausdruck, dass es die (schulische) Bildung dem Markt entzieht und eine Preisbildung somit von vorneherein ausschließt. Oder umgekehrt: Soweit das Recht schulische Bildung dem Markt überlässt oder jedenfalls eine selektiv wirkende Bepreisung von schulischer Bildung zulässt, bekundet es damit gleichzeitig eine geringe Wertschätzung derselben. So gewendet erscheint die These wohl kaum erklärungsbedürftig: Soweit das Recht die Kostenlosigkeit schulischer Bildung an staatlichen1 und ggf. privaten Schulen gewährleistet, wird seine damit verbundene Wertschätzung für eben diese Bildung explizit.
1
Staatlichkeit bezieht hier die kommunale Ebene mit ein.
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Die nachfolgende Analyse soll dementsprechend der Frage nachgehen, ob das geltende Recht eine entsprechende Wertschätzung der schulischen Bildung gewährleistet. Dabei wird angesichts der derzeitigen Kostenlosigkeit schulischer Bildung an allgemeinbildenden staatlichen Schulen untersucht, ob eine Rechtspflicht besteht, diesen Zustand zu erhalten sowie vorgelagert, ob überhaupt eine staatliche Pflicht besteht, ein (öffentliches) Schulsystem zur Verfügung zu stellen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Existenz und den Inhalt eines (Grund)rechts auf (schulische) Bildung eingegangen. Wer diese Fragestellung als konstruiert, weil realitätsfern abtun möchte, dem sei entgegnet, dass viele Selbstverständlichkeiten ihre Selbstverständlichkeit immer schneller einbüßen und die Interpretation von Recht unter Einschluss des Schul(verfassungs)rechts gegenüber solchen Entwicklungen keineswegs immun ist. Erinnert sei mit Blick auf den hiesigen Kontext an die vor wenigen Jahren vielfach und mit Verve intonierte Forderung nach Liberalisierung und Privatisierung traditionell staatlich verantworteter Lebensbereiche – auch der Bildung. Entsprechende Debatten wurden nicht zuletzt durch Rekurse auf (vermeintliche) Liberalisierungspflichten aus dem Recht der Europäischen Union sowie dem Welthandelsrecht (WTO-Recht) befördert (vgl. dazu Cremer et al. 2011: passim; Korte/Dingemann 2009: passim). Den zweiten Untersuchungsgegenstand, welcher ebenfalls durch die Ausgangsprämisse »wertvoll ist, was nichts kostet« motiviert ist, bildet das im Grundgesetz verankerte Sonderungsverbot für sogenannte private Ersatzschulen resp. Ersatzschulen in freier Trägerschaft. Insoweit ist einerseits die Frage, inwieweit das Sonderungsverbot der Erhebung von Schulgeld und mithin der Bepreisung schulischer Bildung an privaten Ersatzschulen entgegensteht; gleichzeitig und komplementär stellt sich die Frage nach der (finanziellen) Verantwortung des Staates, nicht zuletzt im Interesse einer Zugänglichkeit privater Ersatzschulen für Kinder aller sozialen Schichten.
2.
Der rechtliche Bezugsrahmen
Die Analyse muss sich schon aus Platzgründen im Wesentlichen auf das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht beschränken und rückt das Bundesverfassungsrecht, also das Grundgesetz, in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Rechtswirkungen entfalten in Deutschland daneben das Völkerrecht, insbesondere verschiedene von der Bundesrepublik ratifizierte völkerrechtliche Verträge mit bildungsrechtlichem Einschlag, sowie das Recht der Europäischen Union. Die Einflüsse des übernationalen Rechts werden in die
Wert und Preis von schulischer Bildung
Darstellung eingewoben. Daneben enthalten zahlreiche Landesverfassungen bildungsrechtliche Verbürgungen mit Relevanz für das jeweilige Bundesland. Diese Verbürgungen können hier nur kursorisch behandelt werden. Gleiches gilt für die Schulgesetze und weitere schulrechtliche Regelungen in den 16 Bundesländern.
II.
Grundgesetzliche Pflicht des Staates zur Einrichtung und Erhaltung eines (öffentlichen) kostenlosen Schulsystems
1.
Grundgesetzliche Pflicht des Staates zur Einrichtung und Erhaltung eines (öffentlichen) Schulsystems
a) Textbefund und Deutungen in der Rechtswissenschaft Die Frage nach einer staatlichen Pflicht zur Einrichtung und Erhaltung eines (öffentlichen) Schulsystems wird hier auf die allgemeinbildenden Schulen begrenzt. Der Textbefund des Grundgesetzes im Hinblick auf eine Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung eines (öffentlichen) Schulsystems ist kärglich. Zwar finden sich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes (»Die Grundrechte«) in Gestalt von Art. 7 Abs. 1-6 GG verfassungsrechtliche Festlegungen für das Schulwesen, eindeutige Aussagen bezüglich einer Verantwortlichkeit des Staates für die Einrichtung und Gewährleistung eines (öffentlichen) Schulsystems fehlen indessen. Während Art. 7 Abs. 2 und 3 GG dem Religionsunterricht gewidmet sind, handeln die Abs. 4 und 5 von Art. 7 GG vom Recht der Privatschulfreiheit und seinen Bedingungen und Art. 7 Abs. 6 GG erklärt Vorschulen für aufgehoben. In Art. 7 Abs. 1 GG heißt es schließlich: »Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.« In Rechtsprechung und Literatur wird daraus abgeleitet, dass der Staat über sämtliche Befugnisse zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens verfügt (statt vieler Maunz/Dürig 2019: Art. 7 Rn. 45). In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: »Die Schulaufsicht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 GG umfaßt die Befugnis des Staates zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Die organisatorische Gliederung der Schule und die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche
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und didaktische Programm der Lernvorgänge und das Setzen der Lernziele sowie die Entscheidung darüber, ob und wieweit diese Ziele von dem Schüler erreicht worden sind, gehören zu dem staatlichen Gestaltungsbereich« (BVerfGE 59: 360, 377). Die Befugnis des Staates zur Etablierung eines Schulsystems unter öffentlicher Aufsicht und unter Einschluss öffentlicher Schulen kann mithin schon nach dem Textbefund des Grundgesetzes als gesichert gelten und wird folgerichtig auch nicht bestritten. Gestützt wird dieses Verständnis von Art. 7 Abs. 1 GG zudem durch Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG (»Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.«), welcher von der (tatsächlichen) Existenz öffentlicher Schulen ausgeht oder diese jedenfalls als rechtlich zulässig erachtet. Die (verfassungsrechtliche) Einräumung einer Befugnis ist aber keineswegs ipso iure mit einer (verfassungsrechtlichen) Verpflichtung (des Staates) gleichzusetzen. Mindestens ebenso plausibel ist es, aus der Befugnis das Recht respektive die Befugnis des Staates abzuleiten, selbst zu entscheiden, wie er das Schulwesen ausgestaltet unter Einschluss der Befugnis dieses dem Markt (unter mehr oder weniger restriktiver Aufsicht und mit mehr oder weniger restriktiven staatlichen Interventionsbefugnissen) zu überlassen. Dass eine solche (verfassungsrechtliche) Konzeption keineswegs bloße Theorie respektive ein bloßes Glasperlenspiel ist, zeigt der 1994 in das Grundgesetz einfügte Art. 87f, nach dessen Abs. 1 »der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen« gewährleistet. Und nach Art. 87f Abs. 2 GG werden diese Dienstleistungen »als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und durch andere private Anbieter erbracht.« Nun mag man einwenden, Dienstleistungen im Bereich des (lange Zeit staatlich geführten) Post- und Telekommunikationswesen seien mit Bildungsdienstleistungen in der (allgemeinbildenden) Schule nicht vergleichbar. Das mag so sein oder auch nicht (wobei bereits die Bestimmung des Vergleichsmaßstabs alles andere als trivial wäre) – es kann hier jedenfalls dahinstehen. Ziel dieses Einschubes war es angesichts des (kargen) verfassungsrechtlichen Textbefunds lediglich, für jedenfalls denkbare resp. denklogisch schlüssige Alternativen zur staatlich verantworteten öffentlichen Schule zu sensibilisieren. Und was sagt die deutsche Rechtswissenschaft dazu? Die sog. ganz h. M. entnimmt dem Grundgesetz und zumeist unmittelbar Art. 7 Abs. 1 GG die
Wert und Preis von schulischer Bildung
staatliche Pflicht zur Errichtung bzw. Vorhaltung eines (öffentlichen) Schulsystems (Thiel 2000: 43, 132; Müller 2006: 49; Anderheiden 2006: 418; Schlie 1986: 72ff.; Wimmer 1976: 458). Und wie nicht selten in der Rechtswissenschaft: Umso herrschender eine Auffassung, desto weniger meint man, sie begründen zu müssen. Und soweit doch eine »Begründung« gegeben wird, wird schlicht behauptet, Art. 7 Abs. 1 GG setze eine solche Pflicht voraus oder sie ergebe sich aus einem systematischen Verständnis der Norm (vgl. Gibis 2008: 71). Welche systematischen Erwägungen dieses Urteil tragen sollen, wird indessen nicht offengelegt. Was folgt nun daraus? Zunächst einmal sei daran erinnert, dass das Recht auf jede Frage eine Antwort gibt, die es also zu finden gilt. Dabei gilt mutatis mutandis der Grundsatz, dass, wenn das Recht eine bestimmte Regel (im Sinne einer Verschriftlichung) nicht aufweist, eine solche auch nicht gilt. Oder in der Sprache der juristischen Methodenlehre: Schweigt die Rechtsordnung, spricht eine Vermutung für ein beredtes Schweigen resp. der Umkehrschluss ist seiner syllogistisch gleichermaßen plausiblen Schwester, der Analogie, aus normativen Gründen vorzugswürdig. Daraus folgt: Wer die Geltung einer Regel, die der Normtext nicht kennt/nennt, behauptet, trägt die Argumentationslast. Für die Bewältigung dieser Argumentationslast ist entgegen einem verbreiteten Missverständnis in der Rechtswissenschaft, aber mit dem Bundesverfassungsgericht, die Heranziehung der Entstehungsgeschichte einer Norm oder eines Rechtskörpers in besonderer Weise qualifiziert (näher dazu Cremer 2004: 70f.).
b) Vorgängernormen und Entstehungsgeschichte Dem unergiebigen grundgesetzlichen Textbefund bezüglich einer Pflicht zur Errichtung und Aufrechterhaltung eines öffentlichen Schulsystems steht der Text der Weimarer Reichsverfassung gegenüber, welcher eine unzweideutige staatliche Pflicht zur Betreibung öffentlicher Schulen statuiert. In dem »Bildung und Schule« gewidmeten vierten Abschnitt des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung (Art. 142-150 WRV) heißt es zwar in Art. 144 1. HS analog zu Art. 7 Abs. 1 GG: »Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates«. Dass diese Aufsichtspflicht aber nicht im Sinne einer bloßen Überwachungspflicht über ein allein privat verantwortetes Schulwesen verstanden werden kann, verdeutlicht Art. 143 Abs. 1 S. 1 WRV, wonach für »die Bildung der Jugend (…) durch öffentliche Anstalten zu sorgen« ist (vgl. auch Art. 21 Abs. 1 preußische Verfassung 1850: »Für die Bildung der Jugend soll durch öffentliche Schulen genügend gesorgt werden.«; Art. 155 Abs. 1 Pauls-
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kirchenverfassung: »Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche Schulen überall genügend gesorgt werden.« Daneben hieß es freilich in Art. 154: »Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen, zu leiten und an solchen Unterricht zu ertheilen, steht jedem Deutschen frei, wenn er seine Befähigung der betreffenden Staatsbehörde nachgewiesen hat.«) In Art. 146 WRV finden sich dann weitere Anforderungen an die organische Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens. Angesichts dieser Konfigurationen des Schul- und Bildungsabschnitts der WRV kann es nicht überraschen, wenn es in der Kommentierung von Gerhard Anschütz zu Art. 143 Abs. 1 WRV heißt: »Der Sinn ist der: das kulturpolitische Ziel einer möglichst vollkommenen Jugendbildung ist in erster Linie – nicht bloß ergänzungs- und aushilfsweise, sondern von vornherein und grundsätzlich – durch das Mittel öffentlicher Schulen anzustreben. ›Gesorgt‹ ist also für die Bildung der Jugend im Sinne des Abs. 1 nur dann, wenn öffentliche Schulen überall in solcher Anzahl, Größe und Lage vorhanden sind, dass jedermann seine Kinder sie besuchen lassen kann und niemand auf Privatschulen angewiesen ist. Ein dem Abs. 1 Satz 1 genügendes öffentliches Schulwesen ist ein solches, welches die gesamte Schuljugend des Reichs aufnehmen kann und so eingerichtet ist, dass niemand durch zu geringe Anzahl der Schulen, durch allzu weite Entfernung zwischen Schule und Wohnsitz oder sonstwie faktisch gezwungen ist, seinen Kindern die gesetzlich notwendige Mindestbildung, d.h. die Volksschulbildung (Art. 145), oder eine von ihm freiwillig erstrebte höhere Schulbildung durch Privatunterricht zu verschaffen.« (Anschütz 1933) Und weiter heißt es bei Anschütz, dass die Schulaufsicht ungeachtet ihres Namens nicht nur Aufsicht im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes ist, sondern anderes, nämlich Leitung und Verwaltung der inneren Schulangelegenheiten durch den Staat (Anschütz 1933: 672). Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, dass dem Grundgesetz eine entsprechende Regelung fehlt und allein der Satz von dem unter der Aufsicht des Staates stehenden gesamten Schulwesen geblieben ist? Haben die Verfassungsmütter und -väter des Grundgesetzes den Staat von der Verpflichtung zur Betreibung allgemeinbildender öffentlicher Schulen suspendieren wollen, etwa im Sinne eines Wahlrechts des Staates? Dagegen mag man einwenden, dass der bereits genannte Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG eine Regelung für öffentliche Schulen enthält – Religionsunterricht ist an diesen (mit Ausnahme der bekenntnisfreien) Schulen ordentliches Lehrfach − und diese mithin von Verfassungs wegen voraussetzt und somit verfassungsrechtlich garan-
Wert und Preis von schulischer Bildung
tiert. Zwingend ist diese Schlussweise indessen nicht. Ebenso schlüssig wäre ein Syllogismus, welcher aus Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG lediglich die (verfassungsrechtliche) Zulässigkeit öffentlicher Schulen ableitet, und soweit diese existieren, die Rechtsfolge anordnet, dass an diesen (mit Ausnahme der bekenntnisfreien) Schulen der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist. Liegt es angesichts des Vergleichs mit der Weimarer Reichsverfassung also nahe, dass der historische Verfassungsgeber des Grundgesetzes eine staatliche Pflicht zum Betreiben öffentlicher Schulen verfassungsrechtlich nicht (mehr) festschreiben wollte? Die Entstehungsgeschichte zeichnet ein anderes Bild.2 Im Zentrum der Auseinandersetzungen um das Schulwesen stand im Parlamentarischen Rat die Debatte um die Reichweite der Elternrechte (vgl. dazu Jestaedt 2009: 13ff.; Große 2019: 212ff.); Beiträge zum Verständnis des Schulaufsichtsbegriffs sind dagegen nur sehr vereinzelt und beiläufig nachweisbar. Indessen ist diesen wenigen Äußerungen zu entnehmen, dass die staatliche Verpflichtung, allgemeinbildende öffentliche Schulen zu betreiben, in keiner Weise infrage gestellt wurde, sondern vielmehr im Parlamentarischen Rat als Selbstverständlichkeit unterstellt wurde (vgl. nur Heuss 1949: 214f.; ferner zur Rezeption der Entstehungsgeschichte BVerwGE: E 6, 101, 104; Große 2019: 214f.). Vor diesem Hintergrund wird man dem Grundgesetz die staatliche Verpflichtung entnehmen müssen, für ein funktionierendes öffentliches Schulsystem zu sorgen. Damit ist keineswegs eine Absage an private Ersatzschulen verbunden; diese sind vielmehr in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG unter Beachtung der dort genannten Kautelen garantiert. Die staatliche Verpflichtung geht vielmehr dahin, allgemeinbildende Schulen – der Begriff muss hier schon aus Platzgründen in seiner verfassungsrechtlichen Dimension unerläutert bleiben – jedenfalls in dem Umfang zur Verfügung zu stellen, in welchem das Angebot privater Ersatzschulen zur angemessenen Bedarfsdeckung nicht ausreicht.
2.
Grundgesetzliche Pflicht des Staates zur Einrichtung und Erhaltung eines kostenlosen Schulsystems
a) Textbefund Jenseits der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung eines Schulsystems liegt die Frage, ob das Grundgesetz den Schulbesuch an öffentlichen Schulen 2
Die Fassung von Art. 7 GG geht auf einen Entwurf des sog. interfraktionellen Fünferausschusses zurück, der nachfolgend nicht mehr in Frage gestellt wurde.
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als kostenlosen garantiert. Dabei wird die Untersuchung wiederum auf die allgemeinbildenden Schulen beschränkt. Eine ausdrückliche Regelung zur Unentgeltlichkeit des Schulbesuchs findet sich im Grundgesetz anders als etwa in den Verfassungen Belgiens (Pflichtunterricht), Finnlands (Grundunterricht), Dänemarks, Irlands, Italiens, (Grund- bzw. Volksschulunterricht), Estland, Japans, Brasiliens (allgemeinbildende Schulen), Griechenland und Polens (sämtliche Unterrichtsanstalten) nicht (näher dazu Brosius-Gersdorf 2013). Unentgeltlichkeit, teils unter Einschluss der Lehr- und Lernmittel, ist zudem in neun von sechzehn Landesverfassungen verbürgt (BadenWürttemberg: Art. 14 II LV; Bayern: Art. 129 I 1, 2 LV; Brandenburg: Art. 30 V 2 LV; Bremen: Art. 31 I LV; Hessen: Art. 59 LV; Nordrhein-Westfalen: Art. 9 I, II 3 LV; Sachsen: Art. 102 IV 1 LV; Sachsen-Anhalt: Art. 26 IV LV; Thüringen: Art. 24 III 1 LV). Die Landesverfassungen von Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Schleswig-Holstein enthalten keine Regelungen zur Kostenfreiheit bzw. und Unentgeltlichkeit.
b) Systematisches Freilich ist dem in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 2. HS GG verankerten Verbot für private Ersatzschulen, nach den Besitzverhältnissen der Eltern zu sondern – unbeschadet anderweitiger verfassungsrechtlicher Fundierung −, im Wege systematischer Auslegung zu entnehmen, dass auch ein Schulgeld an staatlichen Schulen in diesem Sinne nicht sondern darf. Das bedeutet – worauf sogleich noch näher eingegangen wird −, dass die Zugänglichkeit zu staatlichen Schulen nicht mit Regeln belastet werden darf, die in irgendeiner Weise sozial selektiv wirken. Aber dürfen – um es plakativ zu formulieren – etwa die Schüler einkommensstarker und/oder vermögender Eltern − der vor- und nachschulischen Bildung vergleichbar – nach dem Grundgesetz (unter Einhaltung des grundgesetzlichen Gleichheitssatzes) zu den Kosten des Schulunterrichts an allgemeinbildenden Schulen herangezogen werden? Diese Frage wird in der Rechtswissenschaft kaum diskutiert und ist, solange und soweit die Landesverfassungen oder jedenfalls die Landesschulgesetze die Kostenfreiheit allgemeinbildenden Unterrichts vorsehen, derzeit auch tatsächlich ohne praktische Relevanz. Will man aber beantworten, welchen Wert das Grundgesetz schulischer Bildung zuschreibt und zugleich klären, ob die Schulgesetzgeber von Grundgesetz wegen gehindert sind, die Schüler (unter Beachtung des Gleichheitssatzes) an den Kosten des allgemeinbildenden Unterrichts zu be-
Wert und Preis von schulischer Bildung
teiligen, kann man der Frage nach der bundesverfassungsfesten Kostenfreiheit allgemeinbildenden Unterrichts nicht ausweichen. Prima facie könnte man geneigt sein, eine verfassungsfeste Kostenfreiheit des Besuchs allgemeinbildender staatlicher Schulen jedenfalls soweit zu bejahen, als eine Schulpflicht besteht. Nach einer verbreiteten Auffassung in der Literatur ist die Schulpflicht aber im Grundgesetz nicht verfassungsfest festgeschrieben (Thurn/Reimer 2008: 721; Mayer 1955: 583ff.; Ihlenfeld 1971: 89; Heinz 2007: 132; anders Rux 2018: Rn. 137; Fetzer 1993: 97) und verschiedene Stimmen in der Literatur propagieren gar ihre Verfassungswidrigkeit unter Hinweis auf die Grundrechte der Schüler und ihrer Eltern (Thurn/Reimer 2008: 722; Bärmeier 1993: 82ff.; Heinz 2007: 131f.). Auch wenn jedenfalls Letzterem nicht zu folgen ist (siehe BVerfG NVwZ 1992: 370; BVerwG NvwZ 2014: 804; Schmidt-Bleibtreu et al. 2017: Art. 7 Rn. 4; Theuersbacher 1993: 633; Thurn/Reimer 2008: 718f.), ist keineswegs von vorneherein vorentschieden, dass ein verpflichtender Schulbesuch (von Grundgesetz wegen) kostenfrei sein muss oder ob insbesondere eine nach sozialen Kriterien gestaffelte Beteiligung der Eltern an den Kosten jedenfalls bundesverfassungsrechtlich zulässig wäre. So ist unstrittig, dass öffentliche Abgaben und namentlich Gebühren und Beiträge nicht deshalb verfassungswidrig sind, weil der Einzelne mit Pflichten belastet wird, die für den Einzelnen zudem mit Kostenlasten einhergehen. Als Beispiel sei die Personalausweispflicht für Personen ab einem Alter von 16 Jahren gem. § 1 Personalausweisgesetz genannt; die für die Erstellung des Ausweises anfallenden Kosten betragen zwischen 22,80 Euro und 28,80 Euro. Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht die Erhebung von (nach sozialen Kriterien gestaffelten) Kindergartengebühren für verfassungsgemäß erklärt und ausgeführt, der (progressiven an der Leistungsfähigkeit ausgerichteten) Erhebung direkter Steuern komme keine im Hinblick auf eine Differenzierung nach der Leistungsfähigkeit abschließende Wirkung zu, welche eine Erhebung sozial gestaffelter Kindergartengebühren von Verfassungs wegen ausschließe.
c) Grundrecht auf (schulische) Bildung Nach allem bedarf es einer bildungsspezifischen Begründung für die eine im Grundgesetz verankerte unbedingte Kostenfreiheit des Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen. Als Kandidat für eine solche Begründung kommt das Grundrecht auf (schulische) Bildung in Betracht, welches im Grundgesetz freilich nicht ausdrücklich niedergelegt ist und dessen Existenz und Konfi-
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guration in Rspr. und Literatur umstritten ist. Sehr zurückhaltend formuliert etwa das Bundesverfassungsgericht »Das einzelne Kind hat aufgrund des Art. 2 I GG ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen. Allerdings steht dieses Recht unter dem Vorbehalt der in dieser Verfassungsbestimmung genannten Eingrenzungen« (BVerfGE 45: 400, 417). Was das kindliche Entfaltungsrecht im Einzelnen zum Inhalt hat und namentlich, inwieweit es Elemente eines »Rechts auf Bildung« enthält, lässt das Gericht ausdrücklich offen (nochmals BVerfGE 45: 400, 417). Ohne ein Grundrecht auf Bildung zu nennen, heißt es an anderer Stelle: »Diese [Kinder] haben nach Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit auch im Bereich der Schule und damit einen Anspruch auf eine Entfaltung ihrer Anlagen und Befähigungen im Rahmen schulischer Ausbildung und Erziehung. (…) Außerdem können sie nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verlangen, dass der Staat bei der Festlegung der Unterrichtsinhalte auf ihr Persönlichkeitsrecht Rücksicht nimmt« (BVerfGE 98: 218, 257). Aufgeschlossener gegenüber einem Grundrecht auf Bildung zeigt sich das Bundesverwaltungsgericht, wenn es ausführt: »Durch die Erziehung in der staatlichen Schule werden zwangsläufig Grundrechte von Eltern und Schülern berührt, dies nicht nur wegen der Schulpflicht, sondern auch deswegen, weil die staatliche Schule, die allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnen soll (…), der Verwirklichung des Rechts auf Bildung dient (…), dessen Verweigerung oder Entziehung einen Grundrechtseingriff darstellen kann (BVerwGE 47: 201, 204).« In der Literatur findet sich neben der Ablehnung eines grundgesetzlichen Grundrechts auf Bildung etwa die These eines »Minimumgrundrechts«. Dies solle sich etwa aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben und gewährleiste, »daß jeder Mensch einen Anspruch darauf hat, mit denjenigen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestattet zu werden, ohne die ein Leben in dieser Gesellschaft entweder gar nicht möglich oder jedenfalls menschenunwürdig wäre« (Denninger et al. 2001: Art. 7, Rn. 39). Ähnlich wird aus den als Abwehrrechten konzipierten Grundrechten ein An-
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spruch auf ein »bildungsspezifisches Existenzminimum« abgeleitet, welches sich in Form eines »Untermaßverbotes« auswirke (dazu und zum Folgenden Huber 2014: 24ff.). Dieses »Recht auf Bildung« gewähre eine differenzierte Ausgestaltung des Bildungswesens, welche begabte wie leistungsschwächere und behinderte Schüler in spezifischer Weise behandeln müsse. Weiter wird gefordert, aus dem Grundrecht (endlich) konkrete Ansprüche abzuleiten. Ein aus einem Grundrecht auf Bildung abzuleitender Anspruch auf kostenfreien Unterricht an allgemeinbildenden Schulen wird indessen – soweit ersichtlich – nirgendwo behauptet.3
d) Unions- und Völkerrecht Indessen mag sich aus Unions- und Völkerrecht anderes ergeben; nicht zuletzt mit Wirkung für die Auslegung des Grundgesetzes und eines (Minimum)grundrechts auf Bildung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesfassungsgerichts hat die Auslegung des Grundgesetzes und seiner Grundrechte völkerrechtsfreundlich zu erfolgen, d.h. unter Berücksichtigung der von der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere durch völkerrechtliche Verträge.4 Insoweit mag naheliegen, den Blick zunächst auf das Recht der Europäischen Union zu richten, welches nicht nur im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung zu berücksichtigen ist, sondern welchem Anwendungsvorrang vor jeglichem entgegenstehenden nationalen Recht unter Einschluss des Verfassungsrechts zukommt und in Gestalt von Art. 14 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta unmissverständlich das Recht gewährleistet, »unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen«. In der Literatur wird in der Tat der Eindruck erweckt, Art. 14 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta verpflichte die Mitgliedstaaten und namentlich die Bundesrepublik Deutschland zur Unentgeltlichkeit des Pflichtschulunterrichts (vgl. nur Stern 2011: 581). Ob die Norm tatsächlich eine Rechtspflicht der Mitgliedstaaten begründet, wird jedenfalls nicht ansatzweise in Frage gestellt, sondern lediglich diskutiert, was unter »Pflichtschulunterricht« zu verstehen ist, auf welche Leistungen sich die
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Die Grundgesetzkommentare erwähnen das Thema – soweit ersichtlich – mit keinem Wort. Zur Klarstellung: Ohne Bedeutung für die Auslegung des Grundgesetzes sind die oben geschilderten Regelungen (über die Unentgeltlichkeit des Schulbesuchs) in den Landesverfassungen sowie in den Verfassungen anderer Staaten.
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Unentgeltlichkeitsforderung bezieht sowie ob Art. 14 Abs. 2 EU-GrundrechteCharta ein sog. Grundsatz darstelle oder ein Grundrecht verbürge (zu Letzterem Calliess/Ruffert 2006: Art. 14, Rn. 3.). Dabei wird übersehen, dass die EU-Grundrechte-Charta für die Mitgliedstaaten gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 »ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union« gilt. Davon kann indessen derzeit (und wohl auch auf lange Sicht) bei der Veranstaltung von Pflichtschulunterricht keine Rede sein. Bleiben Art. 28 Abs. 1 lit. a) Kinderrechtskonvention (KRK) sowie Art. 13 Abs. 2 lit. a) Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), welche die Vertragsstaaten verpflichten, eine unentgeltliche Grundschulpflicht einzuführen. Dabei soll hier nicht vertieft werden, ob es sich bei der Pflicht aus der Kinderrechtskonvention lediglich um eine progressiv zu erfüllende Verpflichtung im Sinne von Art. 4 S. 2 KRK handelt, wird doch die Pflicht aus dem IPwskR nicht zuletzt vom Bundesverwaltungsgericht im Sinne einer Pflicht zur sofortigen und unbedingten Umsetzung verstanden (BVerwG 29.4.2009: 6 C16/08, Rn. 47 ff). Angesichts dieser völkerrechtlichen Verpflichtung aus dem IPwskR wird man auch das grundgesetzliche (Minimum)grundrecht auf Bildung – wobei dahinstehen kann, wo genau es zu verorten ist – nach Maßgabe des Grundsatzes völkerrechtsfreundlicher Auslegung entsprechend aufladen können.
e) Ergebnis und Bewertung Jenseits eines völkerrechtlich vermittelten Gebots der Unentgeltlichkeit des Grundschulunterrichts sind die Schulgesetzgeber bundesverfassungsrechtlich nicht gehindert, die Schüler unter Beachtung des Gleichheitssatzes an den Kosten des allgemeinbildenden Unterrichts zu beteiligen. Gewährleistet ist mithin ein in sozialer Perspektive gleicher Zugang zu allen allgemeinbildenden staatlichen Schulen.
III.
1.
Preis und Wert von schulischer Bildung und Schulen in freier Trägerschaft Sonderungsverbot und staatliche Finanzierungsverpflichtung Art. 7 Abs. 4 Satz 3 2. HS GG: Sonderungsverbot
Wendet man sich unter den genannten Vorzeichen – schulische Bildung erfährt rechtliche Wertschätzung durch die Verbürgung ihrer Kostenlosigkeit
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oder ihre gleiche Zugänglichkeit für alle Kinder – den grundgesetzlichen Bestimmungen über Schulen in freier Trägerschaft, genauer den sog. privaten Ersatzschulen, zu, wird man in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 2. HS GG fündig. Nach dem dort verankerten sog. Sonderungsverbot darf eine Genehmigung für eine private Ersatzschule nur erteilt werden, wenn eine Sonderung nach den Besitzverhältnissen der Eltern dadurch nicht gefördert wird. Nachdem die Rechtswissenschaft dem Sonderungsverbot und der (teils dagegen verstoßenden) Praxis der Schulgelderhebung lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, hat sich in jüngerer Zeit eine lebhafte Debatte um das Sonderungsverbot entzündet (Wrase/Helbig 2016; Brosius-Gersdorf 2018; Cremer 2019), die hier ebenso wenig wie die einschlägige inkonsistente Rechtsprechung nachgezeichnet werden kann. Vielmehr soll der verfassungsgerichtliche Gehalt des Verbots, nach den Besitzverhältnissen der Eltern zu sondern, hier schrittweise systematisch entfaltet werden.
a) Kein Verbot der Schulgelderhebung Ausgangspunkt der Annäherung an das Sonderungsverbot ist der zu recht unbestrittene Konsens, wonach das Grundgesetz die Erhebung von Schulgeld durch private Ersatzschulen nicht verbietet. Dies ergibt sich im Umkehrschluss gerade aus Art. 7 Abs. 4 Satz 3 2. HS GG.
b) Gleiche Zugänglichkeit für alle Kinder aller sozialer Schichten bei der Ersatzschulwahl Des Weiteren folgt aus dem Sonderungsverbot, dass sämtliche Eltern unter Einschluss von Transferleistungsempfängern die Möglichkeit haben müssen, ihre Kinder ungeachtet ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation an Ersatzschulen anmelden zu können. Sie müssen unter Ausblendung ihrer wirtschaftlichen Situation die gleiche Möglichkeit wie andere Eltern haben, ihr Kind an jeder Ersatzschule anzumelden. Geschuldet ist mithin eine von den wirtschaftlichen Möglichkeiten unabhängige Chancengleichheit für alle Eltern und Kinder im Hinblick auf die Wahl einer Privatschule als Ersatz für eine staatliche Schule. Der unbefangene Leser von Art. 7 Abs. 4 Satz 3 2. HS GG mag sich fragen, warum dieser Grundsatz hier so hervorgehoben wird, ist der Norm doch kein (erkennbarer) Ansatzpunkt dafür zu entnehmen, dass die Förderung einer Sonderung zulasten »der Ärmsten der Armen« von der Norm nicht adressiert wäre. Und auch eine systematisch ausgerichtete Interpretation des Art. 7 Abs.
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4 Satz 3 2. HS GG gibt der These von einer Exklusion »der Ärmsten der Armen« aus dem Sonderungsverbot keinerlei Nahrung; ganz im Gegenteil weisen insbesondere das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 1 und 3 S. 2 Var. 6 (Herkunft) GG in die entgegengesetzte Richtung. Vor diesem Hintergrund muss es überraschen, dass sich gerade die Rechtsprechung dieser Einsicht oftmals verschließt. Zwar wird nicht ausdrücklich formuliert, dass das Sonderungsverbot nicht auch den Schutz »der Ärmsten der Armen« bezwecke; wohl aber werden Versatzstücke höchstrichterlicher (bundesverfassungsgerichtlicher und bundesverwaltungsgerichtlicher) Rechtsprechung mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stellt, mit unbewiesenen Hypothesen bzw. empirisch fragwürdigem Nichtwissen kombiniert und daran anschließend etwa ein Schulgeld von 120 Euro (Bezugsjahr 2000) als sonderungsverbotskonform ausgezeichnet (VGH Mannheim, Urt. v. 11.4.2013 − 9 S 233/12; Erläuterung bei Cremer 2019: 6).
c) (Un)zulässige Schulgeldmodelle Verlangt das Sonderungsverbot also eine Ausgestaltung der Zugangsregeln, welche allen Kindern ein im Hinblick auf ihre resp. die wirtschaftliche Situation ihrer Eltern gleichen Zugang zu einer Privatschule ermöglicht, stellt sich die Frage nach den mit diesen Vorgaben konformen Schulgeldmodellen. Ein einheitliches Schulgeld vermag dieser Anforderung jenseits einer Bagatellgrenze evidenter Weise nicht zu genügen, wobei die Bagatellgrenze, will man die Forderung nach gleichem Zugang für alle Kinder ernst nehmen, deutlich unterhalb der bislang in der Rechtsprechung genannten Grenzen (70 € und mehr) anzusiedeln ist. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass für Transferleistungsempfänger wohl nahezu jedes Schulgeld abschreckend wirkt. Verbietet das Sonderungsverbot also die Erhebung eines einheitlichen Schulgeldes (jenseits eines Bagatellbetrages), mag man eine Staffelung der Schulgelderhebung nach Maßgabe des Einkommens und gegebenenfalls des Vermögens der Eltern (und des Kindes) erwägen. Eine solche Staffelung wird verbreitet als mit dem Sonderungsverbot des Art. 7 Abs. 4 S. 3 2. HS GG vereinbar angesehen, soweit die Schulgeldbelastung die Einkommensund Vermögensunterschiede im Sinne einer relativen Belastungsgleichheit adäquat abbildet. Indessen beruhen die Staffelungsmodelle typischerweise auf der Zugrundelegung eines von der jeweiligen Ersatzschule angepeilten Durchschnittsschulgeldes mit der Konsequenz, dass die Zahl der Minderzahler im Verhältnis zur Zahl der Mehrzahler nicht zu hoch ausfallen
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darf. Und selbst wenn eine Ersatzschule programmatisch ein bestimmtes Durchschnittsschulgeld anpeilt, besteht dessen ungeachtet ein Anreiz, überdurchschnittlich zahlende Schüler aufzunehmen, soweit und solange ein über dem Durchschnitt liegendes Gesamtschulgeld nicht − wohin auch immer − abgeführt werden muss resp. gegenkompensiert wird, insbesondere durch eine Kürzung staatlicher Zuwendungen. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass ein gestaffeltes Schulgeld regelmäßig insofern eine Sonderung nach den Besitzverhältnissen fördert, als ein solches Modell der jeweiligen Ersatzschule den Anreiz gibt oder sie unter Zugrundelegung ihres Finanzplans sogar dazu »zwingt«, vermögende Kinder gegenüber armen Kindern zu bevorzugen. Demzufolge sind nur solche Staffelmodelle zulässig, in welchen durch die wirtschaftliche Situation des Kindes und der Eltern bedingte »Schulgeldausfälle« staatlicherseits vollumfänglich ausgeglichen werden (Grundsatz der vollständigen Kompensation); den Ausgangspunkt der staatlichen Kompensationszahlungen bildet der Höchstsatz der Schulgeldstaffel. Weitere sonderungsverbotskonforme Ausgestaltungen des Schulgeldes sind nicht ersichtlich.
d) Bewertung Fragt man vor dem Hintergrund der gefundenen Ergebnisse danach, welche Wertschätzung für schulische Bildung das Grundgesetz in seinen Regelungen über die Zulässigkeit der Erhebung von Schulgeld zum Ausdruck bringt, ergibt sich ein möglicherweise für viele überraschendes Ergebnis. Es verhält sich nicht substanziell anders als bei staatlichen allgemeinbildenden Schulen. Zulässig sind angesichts des Sonderungsverbots neben dem Schulgeldverzicht nur Staffelmodelle mit vollständiger staatlicher Kompensation, welche jeden finanziellen Anreiz für die Schule in freier Trägerschaft ausschließt, einen reichen gegenüber einem armen Schüler vorzuziehen.
2.
Staatliche Finanzierungsverpflichtungen – ein Blitzlicht
Welche Wertschätzung das Grundgesetz schulischer Bildung (an Schulen in freier Trägerschaft) beimisst, richtet sich schließlich danach, welche staatliche Finanzierungsverantwortung für die Errichtung und den Betrieb privater Ersatzschulen bundesverfassungsrechtlich geschuldet ist. Hier fehlt der Platz um die diesbezüglich unübersichtliche Rechtsprechung (des Bundesverfassungsgerichts) und die Diskussion in der Literatur auszubreiten. Auch bleiben meine eigenen Anmerkungen aus diesem Grunde äußerst kursorisch.
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Verfassungstextliche Ausgangspunkte der staatlichen Finanzierungsverantwortung für private Ersatzschulen sind neben dem Sonderungsverbot Art. 7 Abs. 4 S. 4 GG, nach welchem »die Genehmigung für eine private Ersatzschule zu versagen ist, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.« sowie Art. 7 Abs. 4 S. 31. HS GG, wonach die Genehmigung nur zu erteilen ist, wenn die privaten Schulen »in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen«. Es wurde gezeigt, dass das Sonderungsverbot den Schulen in freier Trägerschaft eine Finanzierungsmöglichkeit durch Schulgeld lediglich erlaubt, wenn der Staat für das geschilderte Staffelmodell mit staatlichen Kompensationszahlungen optiert. Jenseits dessen folgt aus dem Sonderungsverbots i.V.m. der Gründungsfreiheit der privaten Ersatzschulen nach Art. 7 Abs. 4 Satz GG die Pflicht des Staates für eine angemessene Finanzierung dieser Schulen, welche sich an der Ausstattung staatlicher Schulen zu orientieren hat, zu sorgen. Geschuldet ist im Grundsatz eine − ggfs. unter Abzug der verfassungsrechtlich zulässigen Erwirtschaftung von Schulgeld − an der Ausstattung staatlicher Schulen zu orientierende Vollförderung. Diskutabel erscheint aus verfassungsrechtliche Perspektive lediglich eine an Art. 7 Abs. 4 Satz 4 GG anknüpfende Kürzung, soweit man der Norm entnimmt, dass die wirtschaftliche Stellung der Lehrkräfte an privaten Ersatzschulen hinter der Stellung der Lehrkräfte an staatlichen Schulen (moderat) zurückbleiben darf. Ob ein solches Argument freilich ein bildungspolitisch taugliches ist, muss bezweifelt – Wertschätzung erfahren die in Rede stehenden Lehrer dadurch jedenfalls nicht.
IV.
Schluss
Es hat sich gezeigt, dass das Grundgesetz − jenseits eines völkerrechtlich vermittelten Gebots der Unentgeltlichkeit des Grundschulunterrichts − eine Bepreisung allgemeinbildender staatlicher und privater Schulen nicht verbietet. Bundesverfassungsrechtlich zulässig ist es, die Schüler unter Beachtung des Gleichheitssatzes an den Kosten des allgemeinbildenden Unterrichts an staatlichen Schulen zu beteiligen. Gewährleistet ist ein in sozialer Perspektive gleicher Zugang aller Schüler zu allen allgemeinbildenden staatlichen Schulen. Ganz ähnlich wirkt das für private Ersatzschulen geltende Sonderungsverbot aus Art. 7 Abs. 4 S. 3 2. HS GG. Obwohl das Grundgesetz also einen Preis für schulische Bildung an allgemeinbildenden Schulen nicht ausschließt, ist mit
Wert und Preis von schulischer Bildung
dem Verfassungsgebot gleichen Zugangs unabhängig von der sozialen und wirtschaftlichen Situation des Kindes eine Wertschätzung eben dieser Bildung verbunden, die das Grundgesetz anderen Dienstleistungen unter Einschluss anderer Bildungsdienstleistungen nicht zukommen lässt. Insoweit ist zwar die gesellschaftliche Sensibilität für den vorschulischen Bereich sowie das grundständige Hochschulstudium (Bachelor und konsekutiver Master resp. Staatsexamen) gestiegen und auch das Verfassungsrecht zeigt sich mit der Anerkennung eines grundrechtlich fundierten Anspruchs auf gleiche Teilhabe zunehmend aufgeschlossen. Für darüberhinausgehende akademische Bildung (etwa weiterbildende Masterstudiengänge im In- und Ausland) fehlt es weitgehend an staatlicher Unterstützung für die sozial Schwachen. Es wäre zu diskutieren, ob das Verfassungsrecht nicht auch insoweit mit einem grundrechtlich fundierten Anspruch auf gleiche Teilhabe helfen kann. Lohnen würde auch ein (verfassungsorientierter) Blick auf die Gewährleistung sozial gleicher Zugänglichkeit zu verschiedenen Ausbildungsberufen, namentlich im Gesundheitsbereich. Die dort lange Zeit gängigen und erheblichen Schulgelder sind freilich auf dem Rückzug – aber wohl weniger in Folge zunehmender (echter) Wertschätzung, sondern in Konsequenz des massiven sektoriellen Arbeitskräftemangels. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der Wert, den das (Verfassungs)recht der schulischen Bildung zuweist, jenseits der Kostenfreiheit maßgeblich davon abhängt, inwieweit dieses eine staatliche Pflicht oder gar einen korrespondierenden individuellen Anspruch des einzelnen Schülers auf eine bestimmte (hohe) Qualität schulischer Bildung begründet. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage ist auch deshalb unterblieben, weil dazu jüngst eine vorzügliche Dissertation (Große 2019) vorgelegt wurde.
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Die bildungsökonomische Perspektive Was Schule, Wissen und Bildung ökonomisch wertvoll macht Volker Bank
Manfred Weiß bestimmt in Übereinstimmung mit den seit den späten Fünfzigerjahren aufstrebenden Gruppe der Bildungsökonomen: »Die Bildungsökonomie widmet sich der ökonomischen Dimension (Kosten, Effizienz, Finanzierung) von Bildungssystemen, -institutionen und -prozessen. Mit dem Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften untersucht sie aus individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Perspektive Fragestellungen, die von funktionaler Bedeutung für die Bewältigung von Knappheitsproblemen und den optimalen Mitteleinsatz im Bildungsbereich sind.« (Weiß 2012: 304) Tatsächlich aber geht es schon definitorisch nicht um Bildung, auch wenn die individuelle Perspektive Erwähnung findet. Es geht um Erziehung, fast ausschließlich mit Blick auf die institutionale Erziehung, mithin schulisches Lehren und Lernen. Der Grund dafür liegt darin, dass sich situative und funktionale Erziehung weitgehend den Versuchen der Ökonomen entziehen, die damit verbundenen Kosten und erst recht die daraus resultierenden Leistungen zu bestimmen. Dabei finden sich bildungsökonomische Einsichten schon erstaunlich früh in der Volkswirtschaftslehre. Spätestens in den aufgeklärten Schriften werden entsprechende Überlegungen vorgetragen, wie wichtig Wissen und Erziehung für die wirtschaftliche Prosperität der Individuen, ja ganzer Gesellschaften seien – und schon ist man beim Urvater der modernen Ökonomischen Theorie, Adam Smith und dem Wealth of Nations (1776) angekommen. Spätestens mit der Verschärfung nationalistischer Tendenzen im ausgehenden 19. Jahrhundert kam die Idee auf, dass Volkswirtschaften, die
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über nur wenige oder keine Bodenschätze verfügen, dieses entsprechend mit Lehr- und Lernanstrengungen kompensieren, am besten überkompensieren müssten (Franke 1902: 468). Man könnte diese Auffassung als Führung des Krieges mit den Mitteln der Wirtschaft überzeichnen – damals betreffs des Deutsche Kaiserreichs, British Empire, der Grande Nation etc. Heute, aus der gefestigten Demokratie der Bundesrepublik würde man diese bellizistischen Anklänge empört zurückweisen – der akzentuiert (wirtschafts-)wettbewerbliche Charakter aber bleibt. So gesehen wird Wirtschaftswachstum zur nationalistischen Konkurrenz, die mit den Mitteln der Schule befeuert wird. Und es bleibt auch die Idee, dass Volkswirtschaften, denen keine oder wenig Rohstoffe zur Verfügung stehen, dieses durch ›Humankapital‹ und ›Erziehung‹ kompensieren müssen, um im globalen Wettbewerb der Exportnationen bestehen zu können. Trotzdem eignet sich die volkswirtschaftlich geprägte Bildungsökonomie nicht die Fragen von Lehren und Lernen an, nicht von Wissenserwerb, von Qualifikation oder gar von Bildung als schlecht bestimmbaren Erziehungsziel. Sie bleibt ausschließlich bei ihren vertrauten und bewährten Methoden und ignoriert fast immer dabei die Eigentümlichkeiten, ja Absonderlichkeiten, gar die ökonomischen Anomalien von Schule, Wissen und Bildung, was zu pseudo-ökonomischen, nicht aber zu ökonomischen Empfehlungen führt. Nicht selten werden durch Maßnahmen, die dem kommunikativen System ›Erziehung‹ fremd sind und die ökonomisch wirken sollen, gerade das Gegenteil von Effizienz bewirkt, sind also ökonomistisch und nicht ökonomisch. Vor diesem Hintergrund ist die verbreitete Ablehnung ökonomischer Argumente im Schulwesen nicht überraschend. Dabei ließen sich ungewollte Ökonomismen durch gleichrangige Berücksichtigung ökonomischer sowie bildungstheoretischer Formen wissenschaftlicher und praktischer Annäherung vermeiden.
Ökonomie der Schule Wie konnte es überhaupt kommen, dass Schulen und Schulorganisation zum Thema der Organisation für Ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden konnten? Indem wir diese Aktivitäten akzeptieren, erkennen wir an, dass wir das soziale System ›Erziehung‹ als Subsystem zum sozialen System ›Wirtschaft‹ verstehen können.
Die bildungsökonomische Perspektive
Nun ist es leicht einsichtig, dass Schulen ihrer Natur nach Ressourcen verbrauchen. Die Errichtung der Gebäude, die Beschaffung von Hilfs- und Betriebsstoffen sind rein ökonomische Akte. Ohne eine Bezahlung bleibt die Schule ungeheizt. Und selbst Tafel, Kreide, Lehrmittel und Bücher kommen nicht ohne Rechnung in die Schulen. Diese Fragen sind nun eher betriebswirtschaftlicher Natur. Auch die Lehrkräfte wollen bezahlt sein: Blieben sie dauerhaft ohne Salär, müssten auch die von einem schier unerschöpflichen Idealismus beseelten sich ihren Lebensunterhalt anderweitig suchen. Sie könnten längst nicht so professionell oder im gleichen Umfange agieren, wie sie es tatsächlich tun. Nachdem vor rund zwei Jahrhunderten der Staat die Organisation von und Sorge für die Schulen vom Klerus übernommen hat, stellt er die Finanzierung der Lehrkräfte, der schulischen Infrastruktur und nach Möglichkeit der Betriebskosten sicher. Dazu setzt er einen Teil der erhobenen Steuergelder ein. Das ist mithin ein finanzwissenschaftliches Erkenntnisproblem, da es um die Erhebung von Steuern und der davon systematisch zu trennenden Verwendung geht. Soweit die Verwendungsseite betroffen ist, sind sich Lehrkräfte, Pädagogen und Bildungsökonomen derzeit einig. Alle fordern für Deutschland eine Erhöhung des Ausgabenanteils für Erziehungsinstitutionen. Die vergleichenden Studien aus dem INES-Programm der OECD berechnen den Anteil am Gesamtvolumen einer Volkswirtschaft oder eines Staates (gemessen am Bruttoinlandsprodukt), der für Aufgaben der Erziehung wieder ausgegeben werden. Diese Erhebungen zeigen regelmäßig, dass die Ausgaben für Schulen in der Bundesrepublik um ca. zwei Prozentpunkte hinter den Skandinavischen Ländern zurückbleiben (z.B. OECD 2017). Inwieweit die Höhe der Ausgaben effizient eingesetzt wird, wird hingegen nicht untersucht, obwohl das ökonomische Denken eigentlich vollständig relativistisch auf die gleichgewichtige Berücksichtigung von Kosten- und Leistungsdaten gründet. Neben die reine Frage nach den Ausgaben und ihrer Finanzierung treten die Antriebe der Politikberatung der OECD aus der sogenannten »bildungsökonomischen Renaissance« (Zacher 2005) der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Damals war aufgefallen, dass das Wachstum des volkswirtschaftlichen Sozialprodukts in Volkswirtschaften bei längerer Beschulung junger Menschen höher ausfällt. Die statistischen Modelle zeigten, dass die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren zu ergänzen sind. Sie zeigen nicht, wie dieses Wachstumsziel am besten erreicht werden kann. Sie bedürfen dennoch einer eingehenderen Betrachtung.
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Wissen als Produktionsfaktor Der ›Wirtschaftskrieg‹ mit den Mitteln der Erziehung hat in der Tat der Grundidee der Bildungsökonomen vorgegriffen. Die klassisch-neoklassische Ökonomie beschreibt das Sozialprodukt einer Volkswirtschaft auf der Grundlage von drei Faktoren: Boden (als zu bepflanzende oder bewirtschaftende Bodenfläche und als Bodenschätze), dazu Arbeit (als abhängige oder selbständige Arbeit) und Kapital (in Form von Produktionsmitteln). Letzteres ist ist also kein Geld und keine Geldanlage, sondern ist aus dem früheren Wirtschaften gewonnen und wird etwa in den zur Produktion erworbenen und eingerichteten Maschinen fasslich. Das Wachstum einer Volkswirtschaft kann jedoch nur durch eine Intensivierung der Arbeit (Erhöhung der Arbeitskräfte oder Verlängerung der Arbeitszeiten) geschehen – oder eben durch eine Erhöhung des Kapitaleinsatzes, der ein Wachstum der Produktivität der Arbeit zur Folge hat. Nun wurde u.a. von Schultz (1961) nachgewiesen, dass die Erhöhung der beiden Faktoren Arbeit (L) und Kapital (K) nicht ausreicht, um das Wachstum der Volkswirtschaften zu erklären. Seither wurden in die volkswirtschaftlichen Produktionsfunktionen zur Erklärung des Wirtschaftswachstums (ΔY) nach und nach Schätzgrößen für den Beitrag der Erziehung (Ed) und der Forschungsinvestitionen (R&D) einbezogen (Klodt 1995). Einer der Irrtümer dieser Herangehensweise ist unterdessen darin zu sehen, dass die Modelle einfach das Wachstum als Funktion direkter Faktoren bestimmten (ΔY = f [ΔL, ΔK, Ed, R&D] oder ΔY = f [ΔL, ΔK, ΔEd, ΔR&D]). Die Rolle von Wissen ist auf diesem Wege kaum nur abzubilden, denn diese Faktoren sind in Wirklichkeit untereinander nicht unabhängig. Eine anspruchsvolle Erziehung mit gutem Wissensstand verändert die volkswirtschaftliche Produktivität, weil der Faktor Arbeit qualitativ verändert wird. Eine Erziehung, die über qualifikatorisches, d.h. funktional gebundenes Fakten- und Handlungswissen hinaus ein individuell und allgemein hohes Bildungsniveau anstrebt, ist auf Dauer die Bedingung der kreativen Akte, die für technische und organisatorische Innovationen nötig sind. Ohne eine Fähigkeit, einzelne Wissenskomponenten miteinander in neuartige Beziehungen zu setzen, könnten die investierten Mittel in R&D beliebig hoch sein, ohne dass über die Verausgabung dieser Mittel hinaus irgendein Wachstumseffekt erzielt wird.
Die bildungsökonomische Perspektive
Erziehung, Wissen und Bildung als seltsame Güter Wenn Bildung oder Erziehung aus sich heraus Produktionsfaktoren wären, dann müsste ihnen Gütercharakter zukommen. Das mag vielleicht so sein, jedoch lassen sich viele Merkmale, die einem Gut zugeschrieben werden, oft nur sehr vage – wenn denn überhaupt – zuordnen (Bank 2005: 213ff.). ›Bildung‹ ist singulär, weil nur für jedes Individuum einzeln zu bestimmen – also nicht fungibel (handelbar), wenn sie denn ein wirtschaftliches Gut darstellen sollte. Zugleich ist sie wegen ihrer Singularität alles andere als homogen, womit eine wesentliche Vorannahme neoklassischer Analyse über die Eigenschaften von Gütern entfällt. Man kann sie verkaufen aber nicht veräußern, denn bei einem Verkauf würde sie dennoch beim Verkäufer verbleiben. Faktisch kann man nur die Erziehungsleistung als Dienstleistungen veräußern – und das tun Kindergärtner und Lehrerinnen, Professorinnen und Sozialpädagogen ja auch. Sie sind dagegen nicht mit einem Kaufvertrag, nicht einmal mit einem Werkvertrag, sondern nur mit einem Dienstvertrag zu beurkunden, denn sie können nicht ohne die aktive Mitwirkung des Erwerbenden umgesetzt werden. Die Mitwirkung besteht mindestens in der Aktivität des Lernens. In anderen Fällen von Dienstleistung genügt meist eine passive Mitwirkung (z.B. den Kopf beim Haareschneiden ruhig zu halten). Der Didaktiker Wolfgang Radtke (Ratichius) hätte nicht von Kleinstaat zu Kleinstaat eilen müssen, hätte er diesen Unterschied beachtet. Er hätte dann nämlich zunächst seine Eleven inspiziert und sich auf hochbegabte Talente begrenzt, bevor er heldenhafte Lehrleistungen versprochen hätte. Schließlich noch ist nicht leicht zu beurteilen, ob Erziehung ein öffentliches oder ein privates Gut ist, denn man könnte Menschen von der Erziehung aussperren, die sie nicht bezahlen wollen oder können. Das ist ein wichtiges Definiens des privaten Gutes. Man findet es aber sehr ungezogen, das zu tun, und so wird Erziehung faktisch dennoch als öffentliches Gut gehandhabt. Auch die Frage, ob ›Erziehung‹ oder ›Bildung‹ ein ›Gut‹ ist, für das Ausgaben anfallen, um sie über die Zeit wieder zurückzuverdienen, oder ob sie nicht einfach nur wegen der Kurzweil, die Unterricht stiftet oder das zufriedene Selbstbewusstsein, das Bildung stiftet, ist schwer zu rechten. Für die Diskussion über den Charakter von Erziehung als Investitions- oder als Konsumgut oder deren jeweiligen relativen Anteile ist viel Tinte vergossen worden. In ganz ähnlicher Form betrifft diese Unentscheidbarkeit das ökonomisch gravierende Problem der Zurechenbarkeit. Wo fallen bei ökonomischen Transaktionen Erträge an – beim Individuum, in der Gesellschaft insgesamt oder
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in sozialen Systemen auf mittleren Ebenen (Familien, Betriebe, …)? Ganz zu schweigen von der jeweiligen Natur und der Höhe der Erträge.
Wissen als Beitrag zur Bildung und Bildung als Beitrag zum Nutzenwachstum Was genau aus ökonomischer Sicht der Vorteil von Erziehung im Allgemeinen und Schulen im Besonderen ist, kann man also aufgrund der mangelnden begrifflichen Fasslichkeit nicht so ganz einfach erklären. Es kommt erschwerend hinzu, dass man für den Prozess des Erziehens keine Schulen oder sonstige Institutionen benötigt. Sie bieten allerdings einen Schutz vor den Fährnissen der Welt. Beides hat wichtige Implikationen für die Erklärung ihres ökonomischen Wertes. Das von den Erziehungspersonen angestrebte oder vermittelte Wissen wirkt ökonomisch nur mittelbar durch die Aktivitäten der ehemaligen Edukanden. Nicht zuletzt war der Charakter von Bildung im Zuge der innerpädagogischen Diskurse immer wieder Thema umfassender Diskurse und Dissense, mit der Folge, dass er schon seit einiger Zeit als begrifflich zu unscharf verworfen wird. Auch ökonomisch bleibt er diffus und mit Blick auf ökonomische Kenntnisse ablehnend. So meint mancher heute, auf ein ökonomisches Denken und Handeln ganz verzichten zu können und sicherheitshalber vor den Schulen ein Verbotsschild für jedweden Verstoß gegen Humboldts sittliches Reinheitsgebot der Freiheit von »specieller« Bildung (1809/1964) zu errichten. Eine vom Standpunkt der Pädagogik annehmbare Bildungsökonomie – im ganz eigenen Sinne – jedoch suchte nicht das Wohl des Einzelnen zuerst im Wohlstand der Nation. Im Gegenteil stellt sie wie die Pädagogik den Einzelnen in ihren Mittelpunkt und leitet daraus die Wege zu einer besseren Bildung her. Der Ansatzpunkt hierfür findet sich in den individuellen Nutzenpräferenzen. Eine Erziehung, die nicht auf Qualifikation, sondern auf Bildung abzielt, ermöglicht genau durch die eben diskutierten Vernetzungseffekte so etwas wie ein ökonomisches Wunder (Bank 2011). Denn am Ende kommt es nicht darauf an, das ökonomische Minimumprinzip zur Anwendung zu bringen, d.h. wirtschaftlich möglichst sparsam in die Erziehung zu investieren. Es kommt nicht darauf an, ob die schulische Verweildauer hoch und die erworbenen Zertifikate zahlreich sind. Nicht einmal angesichts der Idee von Erziehung oder Bildung als ›Investition‹ kommt es darauf an, einen möglichst
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hohen return on investment (ROI) zu erzeugen, den empirisch darzulegen die Bildungsökonomie sich mit vielen untersuchten Variablen bemüht. Entscheidend wäre vielmehr der Nutzen, den die Erziehungsbemühungen hervorbringen. Diesen freilich gibt es nur in der rein individuellen Wahrnehmung des betroffenen Subjekts. So kann Erziehung eher auf unmittelbar verwertbare und relativ gut bewertbare Qualifikationen ausgerichtet werden oder man den ökonomisch wie didaktisch riskanten Versuch wagen, singuläre Bildungsprozesse anzustoßen. Qualifikation und Bildung haben beide einen je individuellen und je kollektiven Nutzen. In keinem Falle ist Nutzen kardinal messbar. Dass dessen Größe allenfalls rein subjektiv abzuschätzen ist, löst entsprechende Skepsis bei den um empirischen Gehalt bemühten Forschern aus. Zudem geht die Volkswirtschaftslehre mit Arrow (1951) davon aus, dass sich individuelle Präferenzen nicht konsistent oder gleich überhaupt nicht aggregieren lassen. Versteht man die Gesellschaft als soziales System, würde man mit Luhmann (1984) ohnehin davon ausgehen, dass keine Vorhersage möglich ist und der gesellschaftliche Nutzen eine emergente Größe. Dabei genügt es für die Zwecke der hier postulierten Bildungsökonomie (Bank 2005, 2011), dass niemand gehindert werde, seinen Individualnutzen durch ein Sich-Bilden zu steigern. Übersteigt der Nutzen kollektiv die dafür erforderlichen kollektiven Anstrengungen, dann wüchse damit auch die volkswirtschaftliche Wohlfahrt. Der Nutzen von Bildung, welche die erzieherischen Bemühungen und die autodidaktischen Anstrengungen auf die Gewinnung der Fähigkeit zum Urteil, zum Handeln und zur Verantwortung ausrichtet, beruht auf der Vernetzung von vielfältigem Wissen, von vielfältigem Können. Dieses enthält weder inhaltlich einen Kanon noch die Dressur auf einzelne Verrichtungen und schon gar keine Bindung an bestimmte situative Bedingungen. Weil er auf dem schöpferischen Potential von Bildung beruht und zugleich auf einer Neugier, die den Gebildeten mit wachsender Begeisterung sich Erfahrungen in der Welt und Erkenntnisse in der Theorie erschließt, ist der Grenznutzen von ›Bildung‹ eine wachsende Funktion. Unter dem Grenznutzen wird der zugewonnene Nutzen bei Einbringung einer zusätzlichen ›Einheit‹ Einsatz oder Anstrengung. Das Phänomen eines wachsenden Grenznutzens ist ungewöhnlich, in der Ökonomik ist das natürliche fortgesetzte Abnehmen des Grenznutzens unbefragt. So steht der wachsende Grenznutzen der ›Bildung‹ im Gegensatz zum Grenznutzen der ›Qualifikation‹, der erwartungsgemäß abnimmt und nach oben beschränkt ist. ›Bildung‹ überwindet also die ansonsten richtigerweise von Gossen (1854) in seiner elementar bedeutsamen
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Grenznutzentheorie geforderte Begrenztheit des Grenznutzens. Bildung ist in gewisser Weise ein ökonomisches Wunder, denn ihr Grenznutzen steigt weiter, während der Grenznutzen von Qualifikation früher oder später stagniert. Der Wert der Schule leitet sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen daraus ab, dass dort besser als anderswo gelehrt und gelernt wird. Das erklärt sich nicht aus den von Helmut Fend (1980) beschriebenen Funktionen der Schule (Qualifikation, politische Integration, Meritokratie der Lebenschancen): alle diese Funktionen lassen sich auch in tribal organisierten und funktional erziehenden Gesellschaften nachweisen. Die Schule existiert offenbar, weil sie auch unmittelbar ökonomisch Nutzen stiftet. Hier wird in einem abgesonderten Raum gelernt, in dem es einfacher ist, vor Schäden an Leib und Leben zu schützen. Trotz der Absonderung der Schule aus der Welt und dem dadurch hervorgerufenen Problem des Transfers ist es offenbar auch effizienter, in einem professionell angeleiteten und curricular geordneten Lernprozess, die Aneignung, Kritik und Weiterentwicklung der Kulturgüter anzuregen. Sonst gäbe es sie in der bekannten Form gar nicht.
Deskription, Präskription und Didaktik als bessere Ökonomik des Lehrens und Lernens Die Bildungsökonomie kennt – wie alle Wissenschaften – deskriptive wie präskriptive Theorien. Die beste präskriptive Bildungsökonomie ist im Interesse der Nutzenmaximierung eine gute Didaktik. Sie sucht nicht bloß nach Kovariationen und Signifikanzen, sondern gibt konkrete Gestaltungsempfehlungen. Eine Didaktik ist daher genau dann ›gut‹, wenn sie sich in umfassender Weise den auseinanderstrebenden Problemen des Beschützens der Lernenden, ihrer Unterstützung durch eine kluge Vordisposition der Lernabläufe und der bestmöglichen Übertragung des Gelernten in die Welt gleichermaßen widmet. Eine solche Didaktik wird den Wert des Wissens darin erkennen, dass ohne ein objektiviertes Wissen keine Sittlichkeit und keine Urteilskraft erreicht werden kann. In Unkenntnis ausreichender Referenzgrößen kommen ›alternative‹ und tatsächliche Fakten in nicht unterscheidbarer Gestalt daher. Wissen ist zunächst atomistisch und als solches hat es lediglich einen Preis. Ökonomisch leitet sich dieser aus den Produktionskosten her, wenn man von der nötigen Nachfrage ausgeht. Wissen hat aber dann einen Wert, wenn es zur
Die bildungsökonomische Perspektive
Bildung beizutragen vermag. Das ist genau dann der Fall, wenn es sich mit anderem Wissen vernetzt. Die Vernetzung des Wissens trägt zur Bildsamkeit bei, die mit großem Nutzen für das Individuum und die Gesellschaft, in der es lebt, verbunden ist.
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Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause
Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3
Julia Heisig, Ivana Scharf, Heide Schönfeld
Kunstlabore: Für mehr Kunst in Schulen! Ein Ratgeber zur Qualität künstlerischer Arbeit in Schulen Februar 2020, 216 S., französische Broschur, durchgängig vierfarbig 27,99 € (DE), 978-3-8376-4985-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4985-1
Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)
Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Robert Wunsch
Pädagogik der Bildungslandschaften Ein Arbeitsbuch Januar 2020, 210 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 29,99 € (DE), 978-3-8376-5119-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5119-9
Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman, Hans Karl Peterlini (Hg.)
Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven 2019, 312 S., kart., Dispersionsbindung, 11 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4312-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4312-5
Sybille Wiescholek
Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung Vermittlungschancen zwischen Handarbeit und Technisierung 2019, 258 S., kart., Dispersionsbindung, 53 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4687-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4687-4
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