Paradoxien der Entscheidung: Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien [1. Aufl.] 9783839401484

Die »Freiheit der Wahl« stellt sich nicht nur alle vier Jahre. Ob Brot, Kleidung oder Website - wir haben sie täglich. G

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German Pages 248 Year 2015

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Vorbemerkung
Die Paradoxie des Entscheidens
Die Ordnung der Sandkörner. Zu Christian Wolff und Barthold Heinrich Brockes
Fiktive Wahllosigkeit. Die Kunst der Orientierung in J.L. Borges’ »Garten der Pfade, die sich verzweigen«
8448 verschiedene Jeans. Zu Wahl und Selektion im Internet
»Ich sehe was, was du nicht siehst …« Zur Paradoxie der Medienwertung
Unsichtbare Rahmen. Zur Interaktion von Kino und Fernsehen
Selektives Sehen im Kamerafokus. Peter Campus’ »Double Vision«
Es ist Ihre Entscheidung! Die Hypostasierung der Wahl in Ratgeberbüchern
Die Autorinnen und Autoren
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Paradoxien der Entscheidung: Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien [1. Aufl.]
 9783839401484

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Paradoxien der Entscheidung

... Masse und Medium 3

2003-11-03 10-09-19 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236038807202|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 36038807210

Editorial M a s s e u n d M e d i u m untersucht Techniken und Macht des Diskurses, seine Funktionseinheiten, Flüchtigkeiten und Möglichkeiten zu seiner Unterbrechung. Damit geht M a s s e u n d M e d i u m von einer eigentümlichen Brisanz des Massen- und Medienbegriffs aus. Denn keineswegs markieren die Massenmedien ein einheitlich integratives und symmetrisches Konzept, sie sind vielmehr auf eine Differenz verwiesen, mit der das eine im jeweils anderen auf z.T. unberechenbare Weise wiederkehrt: Weder ist die Masse in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen noch gelingt es den Medien, die Masse allumfassend zu adressieren. Stattdessen zeigt eine Differenzierung zwischen Massen und Medien, dass es sich dabei um beidseitig fragwürdige Konzepte handelt, die gerade auch in ihrer gegenseitigen Zuwendung problematisch und daher zu problematisieren sind. In dieser Hinsicht wird die im Logo der Reihe vorgenommene Auftrennung des Kompositums zu ihrem Einsatz. Zugleich weist der hier und in Zukunft zur Diskussion gestellte Massen- und Medienbegriff auf die Unmöglichkeit eines (bestimmten) Empfängers, auf eine oszillierende Menge als immer auch konstitutive Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Für M a s s e u n d M e d i u m steht damit weder ein Programm der Einheit noch eines der Differenz zur Debatte. Dagegen wäre ein Brennpunkt zu fokussieren, in dem beide Felder in merkwürdiger Solidarität längst schon und wiederholt auseinander driften und zusammenwachsen. Somit benennt M a s s e u n d M e d i u m Medialität und ›Massivität‹ als Grenzbegriffe des Sozialen und thematisiert darin ebenso jene Punkte, mit denen das Soziale in seiner Fragilität auf dem Spiel steht, indem es sich für politische Re-Artikulationen öffnet.

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) T00_02 editorial.p 36038807218

Friedrich Balke, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.)

Paradoxien der Entscheidung. Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien

... Masse und Medium 3

2003-11-03 14-39-45 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236055031450|(S.

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) T00_03 titel.p 36055031522

Impressum

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Layout und Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: more! than words, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-148-5

2003-11-03 14-39-45 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236055031450|(S.

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) T00_04 impressum.p 36055031674

Inhalt Gregor Schwering

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Vorbemerkung Niklas Luhmann

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Die Paradoxie des Entscheidens Natalie Binczek

57

Die Ordnung der Sandkörner. Zu Christian Wolff und Barthold Heinrich Brockes Torsten Hahn

87

Fiktive Wahllosigkeit. Die Kunst der Orientierung in J.L. Borges’ »Garten der Pfade, die sich verzweigen« Jens Schröter

117

8448 verschiedene Jeans. Zu Wahl und Selektion im Internet. Helmut Schanze

139

»Ich sehe was, was du nicht siehst …« Zur Paradoxie der Medienwertung Alexander Böhnke

153

Unsichtbare Rahmen. Zur Interaktion von Kino und Fernsehen Christian Spies

177

Selektives Sehen im Kamerafokus. Peter Campus’ »Double Vision«

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Sabine Maasen

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Es ist Ihre Entscheidung! Die Hypostasierung der Wahl in Ratgeberbüchern Die Autorinnen und Autoren

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Vorbemerkung Gregor Schwering

Herkömmlich verbindet sich mit dem Begriff der Wahl eine Freiheit der Entscheidung: »Du kannst es dir aussuchen«; »Wähle, was dir gefällt«; »Entscheide dich, für was du willst«. Doch reicht schon ein kleiner Zusatz, ein Ausrufezeichen z.B. – »Wähle!« –, um die Situation ins Unbehagliche zu verschieben. Und so spricht der Volksmund ebenso von einer ›Qual‹ der Wahl und bezeichnet damit eine Schwierigkeit, die Niklas Luhmann folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Jede Organisation operiert in einer Welt, die sie nicht kennen kann. Diese Welt wird durch Unsicherheitsabsorption in eine bekannte Welt überführt, durch eine bekannte Welt ersetzt. Dies setzt im Rückblick eine erste Entscheidung voraus, die die Welt durch eine Unterscheidung anschneidet – etwa durch eine Zwecksetzung, durch eine ›Koalition‹ von (künftigen) Mitgliedern mit einer entsprechenden Klientel als Umwelt oder einfach durch den Gründungsakt einer anderen Organisation. Wie immer, die Entscheidung (und das heißt: was jeweils im rekursiven Netzwerk des weiteren Operierens als eine solche angenommen wird) vollzieht die Entfaltung der Paradoxie, gehorcht der Ausgangsanweisung von Spencer Brown: draw a distinction, legt etwas im Unterschied zu anderem fest und differenziert dadurch einen Bereich aus, in dem das Entscheiden stattfinden kann.« (Luhmann 2003: 19f)

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Mitnichten also ist die Wahl eine einfache oder angenehme Angelegenheit, die sich souverän und nur zum Nutzen der jeweils WähVorbemerkung

lenden vollziehen ließe. Denn: 1. Setzt sie eine Welt voraus, die einem Abgrund gleicht, wenn sie vor allem unbekannt ist. 2. Beinhaltet die Wahl einen Moment der Unsicherheit, den sie zwar in ihrer Praxis absorbiert, der aber deshalb noch nicht verschwindet, da er zum Wählen selbst gehört: In der Entfaltung der Paradoxie, das ganz oder relativ Unbekannte wählen zu können (zu müssen), bleibt ein Rest dieses Widerspruchs, ein blinder Fleck erhalten. 3. Bedeutet das »[A]nschneide[n]« der Welt immer auch eine Verletzung derselben, ein Ausscheiden oder Aussortieren desjenigen, das, jedenfalls zum Zeitpunkt der Wahl, nicht ›in den Kram‹ passt. In diesem Sinne erhält jede Wahl den Charakter der Selektion. 4. Verselbständigt sich die Wahl nach der Wahl: sie ist nun in ein »rekursive[s] Netzwerk« eingebunden, das, indem es aus einer ersten Entscheidung resultiert, bestimmte andere Entscheidungen begünstigt oder nahe legt, ganz andere aber unmöglich macht oder zumindest mit schwerwiegenden Konsequenzen belegt. Kurz gesagt: die Freiheit der Wahl ist ein Mythos und, glaubt man Søren Kierkegaard, der »Augenblick der Entscheidung […] ein Wahnsinn«, falls er von dieser Freiheit ausgeht (Wetzel 1998: 155; vgl. dazu Zitat ebd.). Was aber bleibt, wenn dieser Wahnsinn vermieden werden soll? Antwort: das Problem der Wahl als dem prekären Augenblick, an dem sich die oben genannten Faktoren zu einer Verbindung verdichten, die weder nur lose noch nur fest zusammenhängt. Dem stellen sich die hier versammelten Aufsätze in unterschiedlicher Weise, indem sie die Fragestellung einerseits aus verschiedenen Blickrichtungen (Soziologie, Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaft) angehen, um sie andererseits in

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der Wahl ihres jeweiligen Schwerpunkts auch in sich different zu gewichten. Gregor Schwering

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Luhmanns Beitrag eröffnet den Band, indem er die Struktur des Problems verdeutlicht. Jeder Wahlentscheidung geht eine Unterscheidung – draw a distinction – voraus, da nur das, was zuvor ausdifferenziert erscheint, d.h. an Bedeutung gewinnt, nachher als Wahlversprechen, als wählbare Einheit in Anspruch genommen werden kann. So aber ist das grundlegende Paradox des Wählens markiert. Letzteres meint die Einheit von etwas Unterschiedenem und gleichzeitig die Unmöglichkeit, dies in seiner Komplexität zu überschauen: Die Wahl »sieht nicht, dass sie nicht sieht, was sie nicht sieht« (Luhmann 2003: 9, 16). Deshalb ringt sie mit den bereits skizzierten Tücken. Mit Natalie Binczeks Arbeit bewegen wir uns zunächst in die Vergangenheit. Sie zeigt, wie im 18. Jahrhundert die scheinbare Vorbestimmtheit einer Wahl an Boden verliert. Zur Diskussion steht die Struktur eines Denkgebäudes, das Michel Foucault in seinem berühmten Buch Die Ordnung der Dinge als Episteme der Klassik bezeichnet hat. Gemeint ist jene Vorherrschaft eines binären Zeichensystems, das, indem es seine Arbitrarität in Erkenntnis überführt, Transparenz verfügt, absichert und perpetuiert. Doch ist damit noch nicht alles gesagt, wenn in dieser Beobachtungsweise die Spur einer nur mühsam zur Raison gebrachten Unsicherheit sichtbar wird, die Binczek anhand zweier Beispiele aufzeigt und verfolgt. Auf dem Programm stehen zuerst Christian Wolffs mikroskopische Versuche: Indem Wolff seinen Forschungsgegenstand, den Sand, mikroskopisch-detaillierter Betrachtung unterzieht, zersetzt sich dieser unter der Lupe so weit, dass er beinahe verschwindet: In dem Paradox der Entdeckung einer größtmöglichen Ferne bei Herstellung einer größtmöglichen Nähe konfrontiert er den Beobachter mit dem unabsehbaren Nichts, das aller selektierenden Sicht und Interpretation, d.h.

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dem, laut Foucault, Leitmotiv des Wissens im klassischen Zeitalter1 vorausgeht bzw. es unterläuft. Wolffs Verdienst ist es, diese Vorbemerkung

Unmöglichkeit des Sehens in der Wahl seiner Methode sowohl zugelassen als auch ausgestellt zu haben. Ähnlich verfährt der Dichter Barthold Heinrich Brockes in seinem Gedicht Der Sand. Auch seine Beschreibung des Gegenstandes unterstreicht weniger dessen sichtbare Präsenz und Handgreiflichkeit, als vielmehr eine Desorientierung dieser Perspektive in einem Objekt, dessen oszillierende Fern-Nähe die Literatur auf entsprechende Umwege nötigt. Literaturwissenschaftlich argumentiert auch Torsten Hahn. Seine Lektüre von Jorge Luis Borges Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen liest den Text als komplexe Versuchsanordnung, in der insbesondere auch der Wahnsinn der Entscheidung ins Feld der Beobachtung gerät. Ohne hier schon alles vorweg zu nehmen, lässt sich sagen, dass mit der Entscheidung des Helden der Erzählung, einen Plan zu realisieren, der mit nichts anderem als der eigenen Notwendigkeit rechnet, d.h. eine Wahl so zuzuspitzen, dass sie unerbittlich selektiert, eben jener unheimliche Verfolger auftaucht, der dieser Wahl die Züge der Paranoia verleiht. Dabei steht dieser Verwirrung eine andere gegenüber, insofern Borges Text sich in sich nochmals teilt, wenn er zusätzlich von einem Roman erzählt, der gerade das Gegenteil der Zwangsläufigkeit zum Thema macht: Er entwirft ein Labyrinth, das stets alle Möglichkeiten offen hält, insofern es eine Wahl erlaubt, ohne in ihr gefangen zu sein; alles kann überall passieren. Auch hier ist eine paranoide Verstrickung nicht weit. In diesem Sinne stellt Borges die Frage nach der Möglichkeit von Information, insofern er sie zwischen zwei Formen des Wahnsinns, dem Abgrund des Zwangs zur Unterscheidung und dem des Zwangs zur Unentschiedenheit, hin und her pendeln lässt. Jens Schröters Garten der Pfade, die sich verzweigen heißt Internet. Zur Debatte steht eine allbekannte Komplikation: Gibt man einen Suchbegriff in die Suchmaschine ein, ist das Ergebnis der Fahndung meist überwältigend und also die Chance, auf Anhieb

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das passende Angebot zu wählen, gering. Insofern damit der direkte Treffer zur Ausnahme wird, vollzieht sich mit der Datenautobahn eine allgemeine Umstellung von Kommunikation auf deren Unwahrscheinlichkeit. Allerdings ist dieses Wahlversprechen

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einer Entgrenzung nicht so unschuldig, wie man vielleicht glauben möchte. Vielmehr enthält es eine auf den ersten Blick nur paradox erscheinende, dann aber als äußerst effektiv kenntlich werdende, subtile Zensur. So stellt sich nämlich die Frage, ob die Überschwemmung des Users mit Informationen und deren Wählbarkeit nicht gerade eine Verhinderung der Wahl, d.h. Unsicherheitsabsorption als deren zuverlässige Steuerung erlaubt: Wollen die Nutzer ob der maßlosen Streuung möglicher Entscheidungsofferten nicht einfach aufgeben oder sich ihnen verweigern, sind sie gezwungen, der Dynamik des elektronischen Marktes zu willfahren. Dort werden sie zum Teil einer Gesellschaft, die darauf aus ist, ihre Mitglieder auf eine ständige Flexibilisierung einzuschwören, um sie in diesem Ritual zu ›kompetenten‹ – tatsächlich aber: berechenbaren – ›Mitarbeitern‹ in einem global orientierten und unablässig expandierenden Unternehmen (Kulturindustrie?) zu erziehen. Helmut Schanzes Beitrag beschäftigt sich ebenfalls mit einer Paradoxie, welche zugleich einer Ritualisierung Vorschub leistet. In seinem Text geschieht dies eingangs am Beispiel des alljährlich wiederkehrenden Kultes um die Verleihung von Medienpreisen. Mithin zehren diese Wahlen von einer Praxis der Medienwertung, die in sich doppelbödig ist: Sie impliziert ein Geheimnis, das sie jedoch allererst herstellt. Anders gewendet: Was nach Außen als einheitliches Ergebnis regelrechter Wahl gefeiert wird, zerfällt nach innen in die Mannigfaltigkeit der »Geschmacksurteile« (Kant). Genau diese divergente Vielfalt aber muss hinter den Kulissen bleiben, damit das Fest ungestört über die Bühne gehen kann: Der Juror entscheidet, um sich danach diskret zurück zu ziehen. So wird der blinde Fleck der Wahl zum Geheimnis stilisiert und kaschiert, dass des Kaisers neue Kleider nicht existieren (Schanzes Beispiel). Aber: Wird dieses Ritual im Zeitalter der

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neuesten Medien, wo der Nutzer wie nie zuvor zum Autor werden kann und wird, wo demnach das Geheimnis der Experten und Vorbemerkung

Wissenden der Wahl, das die alten Medien dominierte, hinfällig? Nicht ganz, wenn hier ›Techno-Gurus‹ oder neuerdings verstärkt aufflammende Werte- und Kanondiskussionen darüber bestimmen,2 was derzeit wählbar ist, was selektiert werden muss, damit die Unsicherheit nicht zu groß wird. Auch Alexander Böhnkes Text widmet sich Problemen der Medienindustrie, insofern er einen Medienwechsel – vom Kino zum Fernsehen – thematisiert, d.h. analysiert, wie, mit welchen Mitteln und mit welchen Folgen Hollywood-Breitwandproduktionen fernsehtauglich gemacht wurden. Dabei arbeitet er heraus, dass im Wechsel des Mediums gleichzeitig eine Schwierigkeit des Formats oder der Rahmung zum Tragen kommt, die sich mit Gérard Genette als Frage des Paratextes anschreiben lässt. Für Genette geht es in seinem Konzept paratextueller Funktion, ganz allgemein gesagt, um die Wahl einer das eigentliche Produkt (hier: den Text) umfassenden und begleitenden Klammer, die ersteres zusammenhält und somit erst handhabbar macht.3 Bezüglich des Films und seiner Anordnung für das Fernsehen wird nun in dieser Wahl ein Paradox erkennbar: Das neue Format zeigt zugleich mehr und weniger als das Original, es sprengt dessen Rahmen, wenn in ihm etwa Teile des Films sichtbar werden, die im Kino aus technischen Gründen unsichtbar blieben. Darüber hinaus verweist Böhnkes Argumentation auf eine ebenso altbekannte wie aktuelle Debatte innerhalb der Medienwissenschaft, die er, sozusagen auf einem ›Nebenschauplatz‹ seines Textes, anreißt: (Wie) kann man Filme lesen?4 Christian Spies Überlegungen nehmen den Faden einer Geschichte des Sehens erneut auf, wenn sie sich zunächst mit der Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert befassen, um diese dann in ihren Fortschritten und Auswirkungen bis in die Gegenwart zu verfolgen. Auf dem Plan steht dabei die scheinbare Unbestechlichkeit des Kameraauges als dessen, wie Siegfried Kracauer schreibt, »ausgesprochene Affinität zur ungestellten

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Realität« (1985: 45). In dieser Hinsicht geht jene Emphase technischer Reproduzierbarkeit von einer Stillstellung des menschlichen Blicks im Objektiv aus und erhebt das fotografische Abbild darin zum Dokument jenseits aller Medialität: Was fotografiert ist,

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lässt sich zuletzt nicht leugnen. Diese, obwohl bei ihrem Aufkommen bereits in Zweifel gezogene, ›Neutralität‹ des technischen Auges ist ein bis heute häufig bemühtes Argument zur Rechtfertigung bestimmter Sichtbarkeitsselektionen und muss daher wiederholt problematisiert werden. Double Vision, eine 1971 entstandene Videoarbeit des Künstlers Peter Campus, leistet dies, indem sie die Zurichtung des Blicks als Illusion von dessen Verfügbarkeit auf die Probe stellt. In einem spezifischen, von Spies in seinem Beitrag ausführlich vorgestellten und erläuterten, technischen Verfahren setzt Campus der vorgeblichen Transparenz desselben eine in ihm mögliche Andersheit, eine Pluralität des Sehens und der Sichtbarkeit entgegen. Sabine Maasens Untersuchung beschließt den Band, indem sie zu dessen Anfang zurückkehrt: Sie bewegt sich in den von Luhmann gespurten Bahnen. Darin greift sie zunächst in die Geschichte zurück, indem sie darauf aufmerksam macht, dass in den vormodernen, stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften das Problem der Wahl vor allem verschoben wurde; die Handlungsoptionen von Individuen waren weitestgehend in einer Ständeordnung aufgehoben und kanalisiert. Erst der Zerfall dieser Ordnung in funktional ausdifferenzierte Bereiche (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft etc.) hebt die Schwierigkeit des Wählens in ihrer ganzen Komplexität hervor, da sie dem Einzelnen durch seine größere Unabhängigkeit auch eine erhebliche (Selbst-)Verantwortung aufbürdet. In der Folge nimmt sich eine bis in die Gegenwart andauernde Flut von Ratgeberliteratur jener Steigerung von Unsicherheit an. Indem erstere ein erfolgreiches und effizientes Selbstmanagement – Stichwort: ›Ich-Marketing‹ – verspricht und propagiert, also das Unbehagen der Wahl zuvorderst einzuschränken vorgibt, tendieren diese Ratgeber allerdings zu einer »Technologie der Eindeutigkeit« (Maasen), welche sich mit Fou-

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cault als Selbstregulierung im Sinne der »Gouvernementalität« (Foucault 2000: 41) anschreiben lässt. Auf dem Programm steht Vorbemerkung

dabei die paradoxe, weil immer schon doppelte codierte (Freiheit und Zwang) Einbettung des Subjekts in eine »durch die Sicherheitsdispositive kontrollierten Gesellschaft« (ebd.: 66). Somit sprechen alle Beiträge von einer Paradoxie des Entscheidens, die jeglicher Wahl einen Wendepunkt einschreibt, der ihren Horizont in der Zuspitzung auf diesen zugleich eröffnet und offen hält. Darin bleibt gleichzeitig ein Rest der Frage erhalten, welche die Wahl in ihrem unheimlichen (Ab-)Grund betrifft: Der Augenblick der Entscheidung – ein Wahnsinn? *** Zum Schluss gilt der Dank der Herausgeber den Autoren für ihre unkomplizierte und flexible Mitarbeit an unserem Projekt sowie dem transcript Verlag in Gestalt von Roswitha Gost, Karin Werner und Gero Wierichs für die Geduld, Ruhe und permanente Unterstützung, mit der sie das nun fertige Buch auch durch die turbulenten Phasen seiner Herstellung begleitet und gefördert haben. Anmerkungen 1 »Beobachten heißt also, sich damit bescheiden zu sehen; systematisch wenige Dinge zu sehen.« (Foucault 1974: 175). 2 Zur Popularität dieser Diskussionen vgl. beispielsweise die Titelgeschichte in DER SPIEGEL 28/2003: »Die neuen Werte: Ordnung, Höflichkeit, Disziplin, Familie«. 3 Vgl. dazu Genette 1989: 9ff sowie aktuell Kreimeier/ Stanitzek 2003. 4 Zum Stand der Diskussion vgl. einige der Beiträge in Friedrich/Jung 2002.

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Literatur DER SPIEGEL (28/2003). Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäo-

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logie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main: Suhrkamp (frz. Paris: Éditions Gallimard 1966). Foucault,

Michel

(2000): »Die ›Gouvernementalität‹«.

Übers. von Hans-Dieter Gondek. In: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp (frz. Paris: Éditions Gallimard 1978), S. 41-67. Friedrich, Hans-Edwin/Jung, Uli (Hg.) (2002): Schrift und Bild im Film. Bielefeld: Aisthesis. Genette, Gérard (1989): Paratexte. Das Buch zum Beiwerk des Buches, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt/Main, New York: Campus (frz. Paris: Éditions du Seuil 1987). Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films, übers. von Friedrich Walter/Ruth Zellschan (vom Verf. revidiert). Frankfurt/ Main: Suhrkamp (engl. New York: Oxford University Press 1960). Kreimeier, Klaus/Stanitzek, Georg (Hg.) (2003): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin: Akademie. Luhmann, Niklas (2003): »Die Paradoxie des Entscheidens« (in diesem Band, S. 17-55). Wetzel, Michael (1998): »Kontiguität – Kontinuität – Kontingenz«. In: Natalie Binczek/Peter Zimmermann (Hg.): Eigentlich könnte alles auch anders sein, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, S. 140-156.

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) vakat 016.p 36038807306

Die Paradoxie des Entscheidens1 Niklas Luhmann

I. Was sind »Entscheidungen«? Entscheidungen werden oft als Ursachen ihrer Wirkungen angesehen. Das ist jedoch nur eine Folge von Zurechnungsprozessen, die die Vielzahl möglicher Kausalwahrnehmungen extrem vereinfachen. Wenn man Organisationen als Verknüpfung von Entscheidungsereignissen beobachtet, gewinnt man noch keinen Zugang zu brechbaren Kausalanalysen; sondern man bekommt nur das zu Gesicht, was die Organisation selbst für Zwecke der Einflußnahme, Planung, Rechenschaftslegung und Kontrolle hoch selektiv beleuchtet. Der Fortgang der Operationen von Entscheidung zu Entscheidung ist mithin ein selbstgemachtes Artefakt. Er beruht, ähnlich wie die Statistik, auf einer fiktionalen (und in nochmals verengtem Sinne dann aktenkundigen) Realität. Das Entscheidungsgeschehen ist, anders gesagt, die Art und Weise, in der die Organisation sich selbst unterscheidet und daran erkennt, was sie tut. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Eingangsüberlegung läßt schon ahnen, daß es gar nicht so einfach ist zu bestimmen, was eine Entscheidung eigentlich ist. Wenn von Entscheidungen gesprochen wird, denkt man

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Die Paradoxie

normalerweise an einen Wahlakt, dem eine gewisse Willkür eigen ist. Was bereits voll determiniert ist, kann nicht mehr entschieden

des Entscheidens

werden. Zur Entscheidung gehört daher auch ein Mindestmaß an Unvorhersehbarkeit, fast könnte man sagen: an Irrationalität. Eben das macht Versuche attraktiv, Einfluß zu nehmen. Daran schließen Überlegungen an, ob nicht Bemühungen um Rationalisierung der Entscheidungen oder der Entscheidungsprozesse die Entscheidungslust schwächen, Motive zersetzen und deshalb auch dazu beitragen, daß niemand sich für die Durchführung einer Entscheidung, wenn sie denn einmal getroffen ist, besonders einsetzt.2 Ähnliches gilt für Risikobereitschaft.3 Die klassische Vorstellung, gute Entscheidungen seien richtige Entscheidungen und richtige Entscheidungen seien durch rationale Abwägung von Zwecken und Mitteln zu erreichen, befindet sich in voller Auflösung. Aber wodurch wird sie ersetzt? Die übliche Auszeichnung von Entscheiden gegenüber bloßem Verhalten oder einfachem Handeln durch ein Willkürmoment hatte deutliche Zusammenhänge mit dem hierarchischen Aufbau von Organisationen. Nicht alles Verhalten in Organisationen wird in den Organisationen selbst als Entscheidung bezeichnet, und die Entscheidungslast und folglich Verantwortung, Erfahrung, Autorität, wenn nicht Weisheit nehmen, nimmt man an, auf dem Dienstweg von unten nach oben zu; oder jedenfalls stärkt die Art, wie in Organisationen von Entscheidungen gesprochen wird, diese Erwartung. Man läßt (nach wie immer trickreicher Vorbereitung) seine Vorgesetzten entscheiden – und läßt sie das genießen. Sie bestätigen ihre Rolle mit der durch Sprachgebrauch institutionalisierten Erwartung, daß nur sie (oder: vor allem sie) zu entscheiden haben; auch wenn jedermann (sie selbst eingeschlossen) weiß, daß und wie sie durch die Vorbereitung ihrer Entscheidungen gesteuert werden. Der Sprachgebrauch dient, indem er nur wenige Entscheidungen als Entscheidungen markiert, dem »upgrading« des Entscheidens, der Aufwertung bestimmter Entscheidungen als schwierig und wichtig. Das Mysterium der Entscheidung und das Mysterium der Hierarchie stützen

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einander wechselseitig. Beide entfalten ein unformulierbareres (soll man sagen: göttliches?) Moment, das sie erst zu dem macht, was sie sind. Oder zu sein scheinen? Offenbar kommt man an die Entscheidungskomponente

Niklas Luhmann 18 | 19

Willkür schlecht heran – in der Praxis ebenso wie in der Theorie. Es handelt sich sicher nicht um ein psychologisches Moment, sondern, ähnlich wie »Absicht«, um ein Erfordernis der Zurechnung von Entscheidungen, um ein Erfordernis der Lokalisierung von »entscheidenden« Stellen im Netzwerk der Kommunikation. Man müßte also nicht fragen, wie der Entscheider sich fühlt, wenn er Willkür in sich aufsteigen spürt oder wenn er sich »einen Ruck geben muß«; sondern man muß diejenigen beobachten, die Willkür attributieren.4 Willkür scheint eine attributionsdienliche Fiktion zu sein; oder vielleicht sogar: Unzurechnungsfähigkeit eine Voraussetzung für Zurechnung. Jedenfalls ersparen sich die Modelle rationalen Entscheidens ein Ausleuchten dieses dunklen Punktes. Mit einem alten poetischen und theologischen Begriff des »integumentum« könnte man sagen: Die Entscheidung verhüllt das Entscheidende. Aber weshalb? Wir vermuten (und Parallelüberlegungen der vielfältigsten Art, vor allem aber der Formenkalkül von George Spencer Brown,5 könnten das bestätigen), daß der blinde Fleck dazu dient, eine Paradoxie zu verdecken, auf die man stoßen würde, wenn man die Analyse weitertreiben würde. Heinz von Foerster drückt dies mit aller wünschenswerten Klarheit aus: »Only those questions that are in principle undecidable, we can decide«; alles andere sei eine Sache der (mehr oder weniger langwierigen) Errechnung.6 Eine darauf sich einlassende Analyse kann dann zwei Wege nehmen, je nachdem, ob sie von einer sachlichen oder einer zeitlichen Beschreibung der Entscheidung ausgeht. Sachlich gesehen handeIt es sich, wir folgen der allgemeinen Meinung, um eine Wahl zwischen Alternativen. Offensichtlich also nicht um die eine oder die andere Seite der Alternative, sondern eben um dies »oder« oder um dies »zwischen«. Aber was ist dies »oder«, was ist die Form der Alternativität?7 Sie selbst ist nicht

2003-11-03 10-09-24 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236038807202|(S.

17- 55) T02_01 mum.paradoxien.luhmann.p 36038807314

Die Paradoxie

möglicher Gegenstand der Wahl. Man kann sich nicht für das »oder« entscheiden.8 Offenbar ist das »oder«, ist die Form der

des Entscheidens

Alternativität aus dem Bereich möglichen Entscheidens ausgeschlossen, obwohl (oder weil?) sie ihn konstituiert. Es handelt sich bei der Konstruktion von Alternativität also um den Einschluß des Ausgeschlossenen, um den »Parasiten« im Sinne von Michel Serres.9 Der Parasit nutzt die Chance, die sich aus dem Ausgeschlossensein ergibt. Der Entscheider selbst ist keine Alternative, auch keine Option innerhalb der Alternative. Er kann nur sich selber wählen, und das unbemerkt. Je rationaler die Wahl desto unheimlicher der Parasit, der sich mit immer neuen Zusatzunterscheidungen der Benennung entzieht. Mit Jacques Derrida kann man allenfalls noch der Spur nachspüren, die das Abwesende (Paradox) hinterläßt, oder genauer: »la trace de l’effacement de la trace«.10 Wir finden uns in einer weniger unheimlichen Gesellschaft, wenn wir bemerken, daß auch die Semiotik, die auf die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem verpflichtet ist, etwas »Drittes« annehmen muß, zum Beispiel den »interpretant« im Sinne von Peirce. Will man diese Annahme als Paradox formulieren, so geht es immer um die Einheit einer Unterscheidung, um die Selbigkeit des Differenten – also um den Punkt, wo Hegelianer ihr Glückserlebnis der »Aufhebung« haben. Versetzt man diese Überlegung aus der Sachdimension in die Zeitdimension, gewinnt dasselbe Paradox der Entscheidung eine andere Form. Für alle Systeme, die sich durch ihre eigenen Operationen reproduzieren, gilt, daß sie nur in der Form des rekursiven Operierens existieren und also nur in dem Moment, in dem eine Operation tatsächlich stattfindet. Daher besteht auch die Welt immer gleichzeitig mit den aktuellen Operationen und weder vorher noch nachher.11 Sofern solche Systeme ihre Operationen für Beobachtungen benutzen, also unterscheiden und bezeichnen können, können sie die Gegenwart (in der allein sie »sein« = operieren können) als Grenze zwischen jeweiliger Vergangenheit und jeweiliger Zukunft einsetzen, also zeitlich unter-

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scheiden und so in gewisser Weise die Welt detemporalisieren. Dann sieht es so aus, als ob die Welt vom Anfang bis zum Ende der Zeit (oder auch: immer) existiert und in dieser Weltzeit dann Dinge von mehr oder weniger langer Dauer bestehen. Aber das

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ist und bleibt die Konstruktion eines Beobachters, der immer nur gegenwärtig und immer nur gleichzeitig mit der Welt operieren kann. Die Welt umfaßt dann, von der aktuellen Gegenwart aus gesehen, die inaktuellen Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft, und die Gegenwart verschwindet dann gleichsam in der Welt. Sie ist nichts anderes als die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft; oder genauer: sie ist die Einheit dieser Differenz – also ein Paradox. Will man entscheiden, braucht man als Beobachter diese inaktuellen Zeithorizonte von Vergangenheit und Zukunft. Deren Inaktualität macht es überhaupt erst möglich, in die gleichzeitig aktuelle Welt, die immer so ist, wie sie ist, und nicht anders, Alternativen hineinzukonstruieren. Die Aktualität der Entscheidung kann in der Entscheidung nicht berücksichtigt werden. Sie ist und bleibt jene Grenze, die das Unterscheiden erst ermöglicht, aber selbst nicht in das Unterschiedene eingehen kann. Die Entscheidung selbst ist weder etwas Vergangenes noch etwas Zukünftiges, und sie ist weder die eine noch die andere Seite der Alternative. Selbstverständlich kann ein Beobachter die Entscheidung beobachten, kann eine andere Entscheidung sie als Entscheidungsprämisse übernehmen oder dies ablehnen. Aber das wäre dann jeweils eine andere Operation, für die ebenfalls gilt, daß die Einheit der Unterscheidung, die getroffen wird, für die unterscheidende Operation selbst unsichtbar bleibt. G. L. S. Shackle12 meint, deshalb jede Entscheidung als »ursprünglich«, als »Anfang« von etwas Neuem und mit Bezug darauf dann als »subjektiv« auffassen zu können. Aber das ist bereits eine Schematisierung des Problems durch einen Beobachter, und es mag andere Beobachter geben, die sich (wie wir) mit der Darstellung aus der Sicht einer Beobachtung von Beobachtern, also einer Kybernetik zweiter Ordnung, begnügen. Bei dieser Umfor-

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Die Paradoxie

mulierung bleibt die Einsicht erhalten, daß das Entscheiden ein gleichsam »unnatürliches«, gegenläufiges Verhältnis von Vergan-

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genheit und Zukunft aktualisiert. Von jeder Gegenwart aus wird die Vergangenheit als nicht mehr änderbar, die Zukunft dagegen als noch änderbar beobachtet. Komplementär dazu läßt die Entscheidung sich durch die Vergangenheit nicht determinieren. Sie konstruiert die Alternativität ihrer Alternative unter dem Gesichtspunkt »was sein könnte«; und sie konstruiert sie in ihrer Gegenwart. Was künftige Gegenwarten betrifft, geht die Entscheidung aber davon aus, daß es einen Unterschied machen wird, ob und wie sie getroffen wird. Also: keine Bindung an die (nicht mehr änderbare) Vergangenheit, wohl aber Selbstbindung in Richtung auf die (noch änderbare) Zukunft. So gibt sich die Entscheidung als motiviert, als intentional, als begründet; und so stellt sie sich für Rückfragen zur Verfügung. Sie macht Bindung sichtbar und trägt damit – auch und gerade dann, wenn sie Folgeentscheidungen weder prognostizieren noch determinieren kann – im System der Entscheidungssequenzen zur Unsicherheitsabsorption bei. Entsprechend sieht ein Beobachter (von welcher Gegenwart aus auch immer) die Entscheidung verschieden je nachdem, ob er auf die Zeit vor der Entscheidung oder auf die Zeit nach der Entscheidung abstellt. Für ihn ist die Entscheidung vor der Entscheidung eine andere Entscheidung als nach der Entscheidung. Vor der Entscheidung handelt es sich um eine offene Alternative, also auch um offene Kontingenz. Mehrere Entscheidungen, so sagt man jedenfalls,13 sind möglich. Nach der Entscheidung verdichtet sich die Kontingenz; und man sieht jetzt nur noch, daß die getroffene Entscheidung auch anders möglich gewesen wäre. Die Kontingenz (definiert als: weder notwendig, noch unmöglich) ist dann an einer Entscheidung fixiert. Auch hier gilt also: Eine Entscheidung ist etwas Verschiedenes, »the same is different«.14 Je nach Anschnitt, ob über Alternativität oder über Zeitdifferenz, zeigt dieselbe Paradoxie der Entscheidung verschiedene Gesichter. Aber es ist dieselbe Paradoxie: die Paradoxie der Einheit von

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etwas Unterschiedenem, die Paradoxie der Einheit einer Form mit zwei Seiten. Niklas Luhmann

II. Zur Funktion von Paradoxien

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Was bringt das?, wird man jetzt fragen. Die Praxis kommt doch mit einer geeigneten Mischung von Nüchternheit und Mystifikation ganz gut zurecht. Wozu soll man sie in die Sackgasse einer Paradoxie treiben und sie mit der geschlossenen Selbstreferenz eines Paradoxes konfrontieren, wenn A, dann nicht -A; wenn nicht -A, dann A. An dieser Stelle wird es nötig sein, sich über die Möglichkeiten des Umgangs mit Paradoxien etwas breiter zu informieren. Die Wurzeln des Begriffs liegen nicht in der Logik, sondern in der Rhetorik. Die Logik hat nie ein besonders freundliches Verhältnis zu Paradoxien unterhalten. Im Gegenteil: Sie hat sie unter die allgemeine Kategorie des Widerspruchs gebracht und sich damit begnügt, Widerspruchsfreiheit zu postulieren. In der Rhetorik hatte man dagegen weniger auf Bedingungen der Wahrheit als auf Bedingungen der Effektivität von Kommunikationen geachtet. Dabei interessierte unter anderem die Möglichkeit, durch Aussagen, die offensichtlich gegen allgemein akzeptierte Meinungen verstießen und in diesem Sinne »para-dox« auftraten, Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit zu erregen. Diese Technik kam mit dem Buchdruck, mit dem Renaissance-Humanismus, mit den religiösen Wirren, mit Kriegen um Wahrheitsfragen und nicht zuletzt mit dem Verfall der scholastischen Disputationstechnik im 16. Jahrhundert erneut zu Ansehen. Erasmus’ Lob der Torheit und Thomas Moores Utopia gaben die Startsignale, und am Ende des Jahrhunderts liegt eine ausgearbeitete Literatur vor, die auch Theater und Dichtung einschließt.15 Bei oberflächlichem Hinsehen macht die Darstellung einen verspielten Eindruck, insbesondere in der bloßen Auflistung von antiken Beispielen. Aber auch dann sieht man einen geplanten Irritationseffekt – so wenn eine

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Die Paradoxie

Paradoxiesammlung zugleich mit einem Buch zu ihrer Widerlegung publiziert wird.16 Von Theologen (John Donne zum Beispiel)

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ist jedenfalls anzunehmen, daß sie wissen, daß die Form der Paradoxie das Erbe der Quaestionentechnik antritt: Frage, Meinung, Gegenmeinung – und keine Autorität zur Entscheidung der Frage!17 Am Ernst der Angelegenheit ist also nicht zu zweifeln. Doch hat die gleichzeitig anlaufende mathematischempirisch orientierte Wissenschaftsbewegung den Sieg davongetragen, Geschichte gemacht und die Rhetorik mitsamt ihrer Faszination durch Paradoxien erstickt. Man findet im 17. und 18. Jahrhundert zwar noch viele Beispiele, und vor allem solche, die auf die seichte moralische und aufklärerische Selbstgerechtigkeit der Zeitgenossen zielen.18 Trotzdem hat sich die Form so abgenutzt, daß ihr in einem fortschrittsgläubigen Zeitalter kein Erkenntnisgewinn abzugewinnen war (und ein solcher war ja auch gar nicht beabsichtigt gewesen). Erst unser Jahrhundert entdeckt das Problem – oder sagen wir vorsichtiger: die Form – der Paradoxie neu; teils in den Begründungsproblemen der mathematischen Logik, teils im langen Todeskampf der ontologischen Metaphysik – um nur Nietzsche, Heidegger und Derrida zu nennen.19 Wir können uns jedoch mit einer sehr viel einfacheren Analyse begnügen. Es ist – wer würde das bestreiten? – davon auszugehen, daß alles Beobachten und Beschreiben eine aktuelle, real durchgeführte Operation ist und ferner: daß diese Operation das, was sie beobachtet bzw. beschreibt, muß unterscheiden können. Dies gilt nicht nur für wissenschaftliche Analyse, sondern auch für die internen Prozesse der Organisationen. Es gilt für innerpsychische Operationen ebenso wie für Kommunikationen. Es gilt für Erleben ebenso wie für Handeln. Immer erfordert Beobachten in diesem sehr allgemeinen Sinn ein Herausgreifen von etwas im Unterschied zu anderem. Also die Benutzung einer Unterscheidung, die aber nur auf der einen (der bezeichneten) und nicht auf der anderen Seite zur Anknüpfung weiterer Operationen verwendet werden kann. Beobachten ist somit zwangsläufig eine Operation mit ein-

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gebauter Asymmetrie. Die Forderung, beide Seiten der jeweils beobachtungsleitenden Unterscheidung zugleich zu bezeichnen, läuft deshalb auf die Paradoxie einer einseitigen und zweiseitigen Aktualisierung hinaus. Andererseits muß ein Zugleichfungieren

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der Unterscheidung als »Form« des Beobachtens vorausgesetzt werden.20 Jede Beobachtung verwendet also eine Unterscheidung zugleich zweiseitig und einseitig. Sie braucht (und kann) diese Eigenart jedoch nicht selber beobachten. Sie ist also paradox fundiert, bleibt aber trotzdem operationsfähig, weil sie ihre Paradoxie durch die Faktizität ihres Vollzugs verdeckt – verdekken kann, verdecken muß. Sie sieht nicht, daß sie nicht sieht, was sie nicht sieht, und das ist, wenn man noch einmal transzendental-theoretisch formulieren will, eine Bedingung ihrer Möglichkeit. Nur ein Beobachter eines Beobachters kann die Paradoxie bezeichnen, die dem beobachteten Beobachten zugrunde liegt; aber dies nur mit einer ebenfalls paradox fundierten Beobachtung. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sieht man die Unterscheidung der Beobachtung erster Ordnung als Form. Nur hier stößt man, wenn man die Frage nach der Einheit der Operation Beobachtung stellt, die Frage also nach der Einheit ihrer Unterscheidung, nach der Selbigkeit des Unterschiedenen, auf die alles Beobachten bedingende Paradoxie. Die Form der Paradoxie ergibt sich also erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Sie dient nur der Selbstverblüffung des Beobachters zweiter Ordnung. Sie hindert nicht, daß trotzdem geschieht, was geschieht, daß Operationen und auch Beobachtungsoperationen tatsächlich stattfinden. Selbst Paradoxien, wir sprechen die ganze Zeit davon, können durch faktisch stattfindende Operationen beobachtet und beschrieben werden. Die Frage ist nur: wozu? Und die Antwort lautet: Es gibt keine andere Möglichkeit der Letztbegründungen, weder für Erkennen noch für Handeln und schon gar nicht für Entscheidungen.

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Die Paradoxie des Entscheidens

III. Entfaltung der Paradoxie Begründungsfragen mag man der Philosophie überlassen, die sich über Esoterik, sprachliche Finessen, schnelle Metaphern, Transzendentalpragmatik oder sonstwie damit beschäftigt. Auch für die mehr mundane Beobachtungspraxis der Organisationsund Entscheidungstheorie könnte jedoch der Umweg über die Paradoxie Sichtmöglichkeiten und Zusammenhänge erschließen, die anderenfalls unbeachtet blieben oder nicht im Zusammenhang begriffen werden könnten. Wir erinnern daran, daß der Paradoxieschock in der traditionellen Rhetorik den Sinn hatte, den common sense anzugreifen und Gewohnheiten wegzutherapieren. Um diesen Aspekt des Paradoxiemanagements zu klären, benutzen wir die Unterscheidung (Unterscheidung!) von Paradoxie und Entfaltung der Paradoxie (analog zu: Problem und Problemlösung).21 Wir beschreiben damit, wie ein Beobachter, der eine Frage stellt, die nur durch eine Paradoxie beantwortet werden könnte, damit umgeht; und die Antwort ist durchaus als eine empirisch überprüfbare Theorie gemeint: Er verdrängt sie durch eine andere, ihm einleuchtende Unterscheidung. Entfaltung einer Paradoxie ist nichts anderes als Verlagerung des blinden Flecks des Beobachters an eine andere, weniger störende Stelle. (In der konstruktivistisch ansetzenden Familientherapie sagt man: an eine weniger schmerzliche Stelle.) Es werden, wider besseres Wissen, wieder stabile Identitäten eingeführt, die sich besser halten lassen. Musterbeispiel dieses Vorgehens bleibt Kants Nachweis der Antinomien der traditionellen Metaphysik als Startpunkt für die Suche nach einer anderen, in der Selbstanalyse des Bewußtseins fundierten Metaphysik.22 Aber Identitäten kann man nur mit Hilfe von Unterscheidungen bezeichnen, und auch diese Unterscheidungen sind paradoxieträchtig. Das muß man bei jeder Entfaltung, einer Ausgangsparadoxie in Kauf nehmen. Der Gewinn kann also nie in einer paradoxiefrei gesicherten Weltkonstruktion Iiegen, wohl aber in Organisations-

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vorteilen der Kognition; oder auch in größerer historischer Plausibilität des Wissens in Situationen, in denen alte Unterscheidungen verbraucht sind und allzu leicht »hinterfragt« werden können. Wir vermuten nun, daß uns ein solcher Fall vorliegt. Sowohl

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im üblichen Entscheidungsverständnis als auch in der üblichen Vorstellung von Hierarchie sind wir auf ein »integumentum«, auf ein unformulierbares Moment gestoßen. Im Falle von Entscheidung handelt es sich um ein Moment der »subjektiven« Willkür, das erst die Entscheidung zur Entscheidung macht. Im Falle der Hierarchie handelt es sich um die Autorität der Position oder des Besserwissens, die man wider besseren Wissens als von unten nach oben ansteigend unterstellt. Wir vermuten außerdem, daß diese beiden Mystifikationen zusammenhängen, einander wechselseitig stützen, im Sprachgebrauch verankert sind und den Normalbetrieb insofern absichern, als niemand Anstoß erregt, wenn er diese Sprachregelung befolgt, und diese Sprache mitspricht (was immer er bei sich selbst davon hält und wie immer in der Kantine darüber gesprochen wird). Die Frage ist deshalb: Kann man die Paradoxie des Entscheidens anders entfalten? Gibt es andere, heutzutage plausiblere Unterscheidungen, die dasselbe leisten, die ebenfalls Identitäten gewinnen und die unendlichen Informationslasten der nackten Paradoxie in endliche Informationslasten überführen können? Wir wissen: wir können eine solche Entfaltung nicht in der Form eines logisch kontrollierbaren Schrittes erwarten. Wir müssen uns auf kreative »lntuition« verlassen oder, was im Zweifel vorzuziehen ist, auf den Forschungsstand im entsprechenden Feld. Es scheint nun in der Tat geeignete Unterscheidungen bereits zu geben. Wir müssen sie nur finden und in ihrem Zusammenhang mit einer allgemeinen Rationalitätsskepsis vorführen. Es sind (1) die Unterscheidung von Entscheidungsprämissen und Entscheidung, (2) die Unterscheidung von Entscheidung und Unsicherheitsabsorption und (3) die Unterscheidung von Rationalität

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Die Paradoxie

und Motivation. Wir beschränken uns in den folgenden Abschnitten (IV-VI) auf diese Fälle, ohne ausschließen zu können, daß es

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weitere geeignete Unterscheidungen geben mag. IV. Entscheidungsprämissen Die Unterscheidung von Entscheidungsprämisse und Entscheidung stammt von Herbert Simon. In älteren Texten liest man »behavioral premises«.23 Das hatte den Sinn, auf die Faktizität des Entscheidungsprozesses aufmerksam zu machen im Unterschied zu normativen Theorien rationalen Entscheidens.24 Es geht also um tatsächliches Verhalten, das als Entscheiden beobachtet bzw. beschrieben und gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen wird. Bei »Prämissen« ist zunächst an Programme wie vorgegebene Zwecke und Beschränkungen (faktischer oder normativer Art) in der Wahl von Mitteln zu denken, ferner zum Beispiel an die Erwartungskomponenten einer sozialen Rolle,25 an vorgeschriebene Kommunikationswege, auf denen eine Entscheidung anzufertigen und zu validieren ist, und nicht zuletzt an die Eigenarten der Personen (Werteinstellungen, Geschicklichkeiten, soziale Responsivität), die mit den Entscheidungen befaßt sind. Offensichtlich lenkt der Begriff den Blick zunächst auf strukturelle Beschränkungen des jeweiligen Entscheidungsspielraums.26 Die Unterscheidung von Entscheidungsprämissen und Entscheidungen hat von Anbeginn einen sehr begrenzten Sinn. Sie dient dazu, den Bereich möglicher Entscheidungsrationalität einzugrenzen. Das wird mit dem Begriff des »bounded rationality« zum Ausdruck gebracht. Wie groß dieser Bereich sein kann, ist ein Problem der Datenverarbeitungs- und Entscheidungstechnik. Die Theorie zielt von vornherein also nur auf suboptimale Problemlösungen – so wie der Strukturfunktionalismus sich explizit als zweitbeste Theorie einführt. Wollte man die Gesamtwelt in Variablen auflösen und jede mit jeder korrelieren oder auch nur am Markt voraussetzen, daß alle Preise alle Preise beeinflussen,

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wären die Erkenntnis- und Entscheidungsmöglichkeiten erkennbar überfordert. Und da dies so ist, kann man mit einer Welt, mit einer Gesellschaft und mit Organisationen rechnen, die immer schon auf Beschränkungen ihrer eigenen Beobachtungsmöglichkeiten eingestellt

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sind. Alle Märkte aller Organisationen sind von vornherein Märkte mit begrenzter Substitutionskonkurrenz,27 so wie die öffentliche Meinung, in der sich politische Organisationen orientieren, von vornherein in Themenbereiche gegliedert ist. Diese strukturalistische Ausgangsannahme des »bounded rationality« läßt zwei Wege offen, eine Änderung auch noch der Strukturen in Rechnung zu stellen. Man kann diese Frage als ein Problem der Evolution einer Population von Organisationen ansehen, sie also der Evolutionstheorie überlassen.28 Das führt aus der Entscheidungstheorie heraus und postuliert nur eine gewisse Nichtzufälligkeit der evolutionären Prämiierung bzw. Bestrafung rationaler oder irrationaler, aber eben nicht: rational determinierbarer Entscheidungen. Die Chancen im Kontext evolutionärer Selektion können aber nicht als Entscheidungsprämissen in den Entscheidungsprozeß eingeführt werden; sie bleiben nach dem Selbstverständnis der Evolutionstheorie zufallsabhängig. Das Gegenkonzept findet man in einer Theorie der Planung oder Steuerung von Organisationen auf dem Wege der Entscheidung über ihre Entscheidungsprämissen.29 Dabei kann es sich, je nach der Art der Entscheidungsprämissen, um Personalplanung, Programmplanung oder Organisationsplanung im engeren Sinne, also um Festlegung der Kommunikationswege in der Organisation handeln. Vom Standpunkt rationaler Entscheidung aus gesehen liegt die Interdependenz dieser verschiedenen Sorten von Entscheidungsprämissen auf der Hand. Das würde aber wiederum zu einem offenen Modell verpflichten, in dem alles mit allem variiert. Die Praxis geht denn auch von bereits feststehenden Resultaten früherer Entscheidungen aus – vor allem von bereits gegebenen Programmfestlegungen (Organisationszielen), aber auch

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Die Paradoxie

von einem gegebenen (nicht rasch auswechselbaren) Personalbestand oder von einer vorgefundenen Größe des Systems, die

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man nur mit erheblichen internen Rückwirkungen variieren kann. Man kann diese Beschränkungen am Strukturmodell der »Stelle« ablesen, wie es vor allem in der öffentlichen Verwaltung gebraucht wir.30 Eine »Stelle« ist ein Identitätsprinzip zum Zwekke, Variation zu ermöglichen. Man kann die Besetzung mit Personen und die Zuweisung von Aufgaben und auch die organisatorische Zuordnung ändern – nur nicht alles auf einmal. Das Stellenprinzip dient also auch dazu, Beschränkungen für Änderungen durch das jeweils vorhandene sichtbar zu machen. Es ist, so gesehen, auf der Ebene der Entscheidung über Entscheidungsprämissen ein Prinzip des »bounded rationality«. Mit Hilfe der Theorie autopoietischer, sich durch eigene Operationen reproduzierender Systeme kann man dem Begriff der Entscheidungsprämisse eine nochmals größere Tragweite geben, die sich ganz von den Problemen der Rationalität der Entscheidungen ablöst (selbstverständlich aber nicht ausschließt, daß diese Probleme weiterhin beachtet und erforscht werden). Jede Entscheidung ist rein faktisch immer auch Entscheidungsprämisse für andere Entscheidungen, gleichgültig ob sie dafür die Form einer Regel, eines Programms, einer Direktive wählt oder nicht. Denn: was entschieden ist, muß im Normalfalle nicht nochmals entschieden werden, und wenn eine Wiederholung für angebracht gehalten wird, ist die wiederholende Entscheidung dennoch nicht dieselbe Entscheidung, sondern wird durch die Tatsache des »Vorgangs« in die Form der Wiederholung gezwängt. Wenn dies zutrifft, folgt daraus, daß spätere Entscheidungen die ihnen vorgegebenen Prämissen in rekursiven Prozessen der Reaktualisierung ihres Sinnes als Entscheidung lesen, gleichgültig ob eine und welche Wahl explizit getroffen worden war. In diesem Sinne kommt es zu einer operativen Schließung des Systems auf der Grundlage eigener Entscheidungen – und dies unabhängig davon, was die beteiligten Bewußtseinssysteme als Entscheidung erleben.

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Im Prämissesein von Entscheidungen für andere Entscheidungen liegt die Überführung der Ausgangsparadoxie in eine andere Form, nämlich in den Doppelsinn von Ermöglichen und Einschränken weiterer Entscheidungen: Folgeentscheidungen wer-

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den erst dadurch möglich, daß Vorentscheidungen vorliegen. Oder anders gesagt: Vorentscheidungen setzen Folgeentscheidungen in der Kommunikation unter Erwartungsdruck, der es dann unausweichlich macht, die weitere Entscheidung in der Kommunikation als Entscheidung auszuflaggen.31 Die Reduktion von Komplexität, die mit jeder Kommunikation einer Entscheidung vollzogen wird, dient zugleich dem Eröffnen eines Spielraums für weitere Entscheidungen. Das System pulsiert ständig zwischen Einschränkung und Ausdehnung von Entscheidungsmöglichkeiten und sichert sich auf diese Weise die eigene Autopoiesis. Zielformeln können darübergelegt werden und der Selbstbeschreibung des Systems dienen. Aber sie führen nie dazu, daß das System trichterförmig durch immer enger werdende Entscheidungsspielräume auf ein natürliches Ende (telos) zustrebt. Wäre das der Fall, würde es sich nicht um ein Organisationssystem handeln, sondern um ein (wie immer komplexes, langfristiges, organisationsbedürftiges) Projekt. In jedem Falle muß die Entscheidung über Entscheidungsprämissen auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung stattfinden.32 Man plant Entscheidungsprämissen für Entscheider, also im Hinblick darauf, wie diese Beobachter erster Ordnung ihre Entscheidungssituationen beobachten. Dasselbe gilt für jede nachträgliche Interpretation von Prämissen als Entscheidungen. Rein logisch gesehen führt das in erhebliche Schwierigkeiten. Man benötigte dazu eine mehrwertige Logik, die noch nicht (oder jedenfalls nicht in der Form von Operationsanweisungen) zur Verfügung steht.33 Das muß aber nicht ausschließen, daß man die Chancen einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung explizit nutzt, also vor allem: die Grenzen des »bounded rationality« mit in Betracht zieht (zum Beispiel berücksichtigt, daß der Entscheider sich selbst weder kennen noch ändern kann) und allgemein da-

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Die Paradoxie

von ausgeht, daß der beobachtende Beobachter nicht sehen kann, daß er nicht sehen, was er nicht sehen kann.34

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Normalerweise verbinden wir mit Begriffen wie Planung oder Steuerung die Vorstellung, dies geschehe von oben und sei deshalb durch Überblick, wenn auch ohne genaue Kenntnisse der Details, zu rechtfertigen. Das mag im Einzelfall so sein. Die Theorie des Beobachters zweiter Ordnung macht sich aber unabhängig von den Mystifikationen der Hierarchie. Sie betont, daß es sich um ein sehr spezifisches Beobachten in sehr spezifischen Situationen handelt; und natürlich um ein Beobachten, das sich seinerseits auf das stützen muß, was es nicht sehen kann. Dem originären Paradox kann man nirgendwo ausweichen. V. Unsicherheitsabsorption Die Praxis geht, hatten wir gesagt, von bereits feststehenden Resultaten früherer Entscheidungen aus. Dies kann man allgemeiner formulieren mit der Unterscheidung von Entscheidung und Unsicherheitsabsorption. Auch dafür finden wir die Quelle bei Herbert Simon; aber auch hier nur mit erheblichen Einschränkungen.35 »Uncertainty absorption takes place when inferences are drawn from a body of evidence and the inferences, instead of the evidence itself, are then communicated«.36 Nun, das ist kein Ausnahmefall, sondern findet immer statt, wenn Entscheidungen kommuniziert werden. Der Begriff der Unsicherheitsabsorption erweitert den Begriff der Entscheidungsprämisse; er verlagert ihn von der strukturellen auf die prozessuale Ebene. Unsicherheitsabsorption findet statt, können wir daher auch sagen, wenn Entscheidungen als Entscheidungsprämissen akzeptiert und dem weiteren Entscheiden zugrunde gelegt werden. Im Stile der Machtdefinition von Max Weber können wir noch hinzufügen: gleichviel worauf diese Akzeptanz beruht. Und der Clou ist: Es handelt sich nicht um eine Entscheidungsleistung, sondern um einen Entscheidungen verknüpfenden Prozeß.37 Es mag sich um Autorität im strengen, traditionellen Sinne

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handeln, das heißt um die Unterstellung, der Entscheider könne seine Entscheidung hinreichend erläutern und begründen. Autorität in diesem Sinne hing in älteren Gesellschaftsformationen von exklusivem (oder so gut wie exklusivem) Zugang zu Informationen

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ab, und zwar vor allem zu Informationen mit normierender Relevanz (Religion und Recht). Wenn diese Zugangsbarrieren sich auflösen – und das geschieht durch die Entwicklung der Massenmedien, die mit dem Buchdruck beginnt – müssen Autoritätsquellen ausgewechselt werden. Autorität wird zunehmend prätentiös, sie bedarf der Inszenierung, kann sich aber gegenüber entgegengesetzten Interessen nicht mehr durchsetzen.38 Im Übrigen gibt es vor allem innerhalb von Organisationen zahlreiche funktional äquivalente Mechanismen der Unsicherheitsabsorption, die Autoritätsverluste kompensieren können und zu ungeprüfter Übernahme der kommunizierten Reduktionen führen. Es kann auch die Befürchtung sein, Rückfragen würden als Provokation empfunden werden und mehr Ärger als Nutzen bringen. Die Gründe mögen im Zuständigkeitsschema liegen und in der wechselseitigen Respektierung der Zuständigkeit des anderen, oder schließlich in der Arbeitsökonomie (andere könnten sagen: die typische Trägheit) von Mitgliedern einer Organisation, denn man hat schließlich mit dem eigenen Arbeitspensum genug zu tun. Die Umstellung von Autorität auf Unsicherheitsabsorption als dem allgemeineren Begriff dürfte in der Organisationstheorie heute weithin vollzogen sein – wenn auch nicht notwendigerweise mit diesen Begriffen. Auf struktureller Ebene spiegelt sich das in einer Umstellung von Hierarchie auf Heterarchie;39 oder in der Umstellung vom Prinzip der »Einheit der Leitung« mit Begrenzung durch das »span of controll« des Vorgesetzten40 auf das Prinzip des »redundancy of potential command«.41 Das heißt keineswegs, daß die hierarchische Ordnung aufgegeben worden wäre. Sie bleibt erhalten als Notaggregat, als Netzwerk, auf das man zurückschalten kann, wenn Probleme nicht anders zu lösen sind. Aber das Normalfunktionieren einer Organisation kann, darüber besteht Konsens, so nicht begriffen werden. Und auch die Orga-

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Die Paradoxie

nisationsberater verwenden heute andere Theorien, wenn es um Erklärung oder Verbesserung geht – etwa die (inzwischen auch

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veraltete) Theorie der Gruppendynamik, die zur Unterscheidung von formaler und informaler Organisation und zu Programmen der »Organisationsentwicklung« geführt hatte;42 oder, mehr auf der Linie der vorstehenden Kritik des klassischen Begriffs der Entscheidungsrationalität, das Konzept der Matrix-Organisation.43 Man versucht auf diese Weise, das Netzwerk der organisierten Entscheidungszusammenhänge näher an die Probleme und Gefahren der Unsicherheitsabsorption heranzubringen. Damit wird, überspitzt formuliert, anerkannt, daß das Problem der Rationalität in ihrer Unerreichbarkeit liegt; und daß man sich nicht darauf festlegen kann, wie man zu zweitbesten Lösungen kommt. Die Unumgänglichkeit (und also: Organisationsfähigkeit) des schlichten Faktums der Unsicherheitsabsorption läßt sich nicht bezweifeln, wenn man einmal darauf verzichtet hat, das Gesamtsystem unter der Maxime einer optimalen Rationalität mit nur einzig-richtigen Entscheidungen zu bringen, die letztlich an der Spitze zu verantworten ist. Es ist klar, daß keine Organisation funktionieren könnte, wenn in jeder Entscheidung alle vorangegangenen Entscheidungen überprüft würden, was auch heißen müßte, die Überprüfungen zu überprüfen. Statt dessen bilden sich Präzedenzentscheidungen, die den künftigen Entscheidungsprozessen zugrunde gelegt werden,44 was dann zu subtilen Techniken überlegter Unaufmerksamkeit führen kann, mit denen man die Bildung unwillkommener Präzedenzentscheidungen zu vermeiden sucht. Diese Überlegungen machen zugleich deutlich, daß Unsicherheitsabsorption nicht Inhalt von Entscheidungen sein kann, Entscheidungen haben nicht die Aufgabe, ihr Entscheidungsprogramm anzuwenden und außerdem noch Unsicherheit zu absorbieren. Unsicherheitsabsorption ist weder ein Zweck noch ein Nebenzweck des Entscheidens. Sie geschieht zwangsläufig, wann immer Entscheidungen im kommunikativen Verbund angefertigt werden.

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Wenn die Theorie so weit trägt, kann man auch sagen: in der Unsicherheitsabsorption hinterläßt die Autopoiesis des Systems ihre Spuren, das heißt: die Produktion (= Reproduktion) von Entscheidungen aus Entscheidungen ist nur in dieser Form möglich.

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Die Strukturen dagegen kann man durch Entscheidung einführen und ändern (was prozessual gesehen dann wieder Unsicherheitsabsorption mit sich bringt, also nur als Vollzug von Autopoiesis erfolgen kann). Daher ist Unsicherheitsabsorption ein invariantes Merkmal von Organisationen, Strukturierung dagegen eine variable Engführung von Entscheidungsinhalten. Damit wird Unsicherheitsabsorption im Begriffsgerüst der Organisationstheorie aufgewertet. Es handelt sich nicht um eine Variable unter anderen, vielmehr um das Organisationssystem selbst im zeitlichen Längsschnitt gesehen. Das heißt selbstverständlich nicht, daß hier keine Verbesserungen denkbar sind. Aber alle Verbesserungen müssen auf der anderen Seite der Unterscheidung, beim Entscheiden selbst ansetzen. Und sie finden, um darauf zurückzukommen, deutliche Schranken in der Beschränkung auf »bounded rationality«. Wir hatten schon einmal Gelegenheit, auf Parallelen zwischen Organisationstheorie und Erkenntnistheorie hinzuweisen. Jetzt zeigt sich, daß und wie Organisationen eigene Wirklichkeitskonstruktionen anfertigen. Das muß in einer unbekannten Welt geschehen, in einer Welt, die zu allem Entscheiden gleichzeitig gegeben ist und sich mit allem Entscheiden gleichzeitig ändert. Das kann im Sinne der funktionalistischen Psychologie (Brunswik, Bioner) oder im Sinne der älteren Kybernetik (Ashby) als eine Überforderung durch Umweltkomplexität, als Fehlen von »requisite variety« aufgefaßt werden. Man kann es aber auch radikaler formulieren: Jede Organisation operiert in einer Welt, die sie nicht kennen kann. Diese Welt wird durch Unsicherheitsabsorption in eine bekannte Welt überführt, durch eine bekannte Welt ersetzt. Dies setzt im Rückblick eine erste Entscheidung voraus, die die Welt durch eine Unterscheidung anschneidet – etwa durch eine Zwecksetzung, durch eine »Koalition« von (künftigen) Mitgliedern

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mit einer entsprechenden Klientel als Umwelt45 oder einfach durch den Gründungsakt einer anderen Organisation. Wie immer,

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die Entscheidung (und das heißt: was jeweils im rekursiven Netzwerk des weiteren Operierens als eine solche angenommen wird) vollzieht die Entfaltung der Paradoxie, gehorcht der Ausgangsanweisung von Spencer Brown: draw a distinction, legt etwas im Unterschied zu anderem fest und differenziert dadurch einen Bereich aus, in dem das Entscheiden stattfinden kann. Der Rest wird der Unsicherheitsabsorption überlassen. Man hat sehr wohl bemerkt, daß dieser Gang der Dinge unvermeidlich und in seinen Konsequenzen problematisch ist. Man hängt gewissermaßen an den Resultaten langjähriger Unsicherheitsabsorption, die sich als bekannte Welt selbst validieren. Das gilt besonders, wenn man sich auf Risiken eingelassen hatte und es gut gegangen ist;46 aber auch, wenn man sich an Konflikte gewöhnt hat und deren Obsoletwerden nicht erkennen kann.47 In diesem Sinne gibt es zahllose Organisationen, die von ihren Mißerfolgen leben, weil gerade sie sichere Entscheidungsgrundlagen bieten. In der älteren Organisationstheorie hatte man hier ein Innovationsproblem gesehen, über erfolgversprechende Strategien geforscht und vor allem auf Führung gesetzt.48 Heute scheint man eher auf externe Berater zu setzen, die, weil extern, es leichter haben mögen, Unsicherheit wiederherzustellen.49 VI. Rationalität und Motivation Die Unterscheidung von Rationalität und Motivation (oder Rationalität und Handlung), die Nils Brunsson vorschlägt,50 reagiert ebenfalls auf Probleme, die an Entscheidungen sichtbar werden, denen Rationalität zugemutet wird. Rationalisierung erfordert eine Auflösung von Entscheidungen in Subentscheidungen und in Subsubentscheidungen. Es fällt leicht, darin ein Prinzip des organisatorischen Wachstums zu sehen, das zugleich den Modus der Verknüpfung von Entscheidungen durch Unsicherheitsabsorption

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stärkt. Dasselbe gilt übrigens – in der Sozialdimension – für Bemühungen um Demokratisierung der Entscheidungen.51 Wenn man solche Befunde analysiert, torpediert man die alte Vorstellung, der Mensch sei ein rationales und soziales We-

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sen, das Vernunft und Konsens schätze und genieße. Das mag zwar so sein, aber die Beobachtung des Entscheidens in Organisationen vermittelt einen anderen Eindruck, so als ob der Mensch hier ständig auf der anderen Seite seines »Wesens«, im Bereich von Korruption und Sünde operiere. Aber lassen wir solche Anthropologica dahingestellt – wie immer sie die Forderung nach einer menschengerechten Organisation beflügeln mögen. Uns genügt die Einsicht, daß Prozesse wie Rationalisierung oder Demokratisierung an den Bedingungen der Motivation zum Handeln vorbeizielen. Wer im Prozeß der Rationalisierung (und Demokratisierung, wir lassen dies im Folgenden beiseite) ermüdet wird, ist kaum noch bereit, sich für die Durchführung einer Entscheidung, die an Hunderten von Punkten hätte anders getroffen werden können, einzusetzen. Es kommt dann zwar zu Bemühungen um eine besondere Organisationskultur, um »corporate identity«, um Ideologisierung der Organisationsziele, die genau an dieser Bruchstelle ansetzen. Aber die Bemühung selbst verrät das Problem. Sie erzeugt nur eine neue Mystifikation an der Stelle, wo wir jetzt schon gewohnheitsmäßig eine Paradoxie vermuten müssen. Es fällt leicht, diese Paradoxie aufzulösen, indem man zwischen sozialen und psychischen Systemen unterscheidet und Begriffe wie Motiv, Engagement, commitment, Überzeugtsein psychologisch versteht. Aber damit wiederholt sich nur das Problem innerhalb des Sozialsystems der Organisation. Denn »Motive« spielen auch, ja vornehmlich in der Kommunikation eine Rolle, indem sie Selbstbindungen mitteilen oder fordern oder an sie erinnern. Motive in diesem Sinne sind Regieanweisungen einer Dramaturgie des Handelns.52 Sie sind auch Bedingungen möglichen Verstehens, damit auch Bedingungen des möglichen Vor-

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griffs auf ein Verstehen oder schließlich: Themen des Vorbereitetseins auf Rechenschaftslegung.53 Und nicht zuletzt kann man

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sagen: bei »Motiven« handele es sich um die Anschlußstellen für strukturelle Kopplungen zwischen psychischen Systemen, also um diejenigen Aspekte, in denen die Kommunikation sich selbst darauf hinweist, daß sie von psychischen Leistungen abhängt, die ihr fremd bleiben; oder umgekehrt: diejenigen Antworten, die ein psychisches System sich bereitlegt, wenn es überlegt, was es antworten würde, wenn es gefragt werden würde, warum es tut, was es tut. Diese Überlegungen zum Begriff der Motivation zeigen an, daß die Kommunikation von Entscheidungen in eine Gabelung läuft, an der sie die Sprache der Rationalität oder die Sprache der Motivation wählen muß. Rationalität gilt als selbstmotivierend. Man braucht nicht nach Motiven zu fragen, wenn feststeht (oder als feststehend angenommen wird), daß richtig entschieden worden ist. Erst in der modernen Welt, die für alle Fälle eine Beobachtung zweiter Ordnung bereithält, kommt auch hier die Frage nach latenten, »unbewußten« usw. Motiven in Betracht. Dann ist es nur konsequent, die Sprache der Motive gleichrangig neben der Sprache der Rationalität zu führen und diese Unterscheidung als Implikat des Entscheidens selbst vorauszusetzen.54 In der Entscheidungspraxis von Organisationen würde man jedoch erstaunte Blicke ernten, wollte man die Entscheidenden ständig nach ihren Motiven fragen. Die Motive werden, gleichsam als Aspekte des Mysteriums des Entscheidens, unerwähnt mittransportiert. Aber ihr Fehlen kann sich bemerkbar machen, wenn Schwierigkeiten auftreten und Personen mehr als üblich gefordert sind. Die Motivsprache wird dann aufgepfropft in der Form einer Unternehmensideologie, als Ersatz nicht zuletzt für das, was im Taylorismus oder in der Gruppendynamik und »Organisationsentwicklung« nicht gelungen ist. Auf diese Weise wird daher nur verschleiert, daß eine Unterscheidung, eine Bifurkation von Rationalität und Motivation vorliegt. Deren Einheit ist auch hier nur als Paradox zu haben.

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VII. Wahrnehmung und Kommunikation Begriffe wie Entscheidungsrationalität oder Handlungsmotivation werden üblicherweise als Bezeichnung von Leistungen der an der

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Organisation teilnehmenden, »in ihr« arbeitenden Menschen verstanden. Man müßte den entsprechenden Tatbeständen dann mit biologischen, neurophysiologischen oder psychologischen Untersuchungen nachgehen. Das dürfte wenig Erfolg versprechen. Wir haben diese biologische bzw. psychische Begriffsbedeutung deshalb »dekonstruiert«. Dazu verhilft die Rückführung dessen, was man unter Entscheidung versteht, auf eine Paradoxie. Zur Auflösung dieser Paradoxie verwendet das Sozialsystem Organisation bestimmte Bezeichnungen und meint mit Rationalität, daß die Entscheidung bestimmten Kriterien genügt, und mit Motivation, daß Individuen sich durch ihr eigenes Verhalten engagieren und binden lassen. So weit, so gut. Ein Nebenertrag dieser Analyse könnte sein, daß sie den Blick freigibt für ein Neuaufgreifen der Frage, worin eigentlich die Bewußtseinsleistungen bestehen, mit denen Menschen in Organisation teilnehmen, ohne Teile der Organisation werden zu können. Es muß sich um etwas handeln, was die Organisation selbst nicht kann, und hier wird man in erster Linie an Wahrnehmungen zu denken haben. Das mag überraschen, denn eine lange Tradition sieht die Eigenleistung des Menschen vor allem im Denken und in der Fähigkeit, seinen Willen seiner ratio (Verstand/Vernunft) unterzuordnen. Diese Akzentsetzung war bedingt gewesen dadurch, daß der Mensch durch den Unterschied vom Tier bestimmt wurde, so daß die animalischen Merkmale seiner Natur einen untergeordneten Rang erhielten.55 Nun mag man vom Denken halten, was man will: Es ist jedenfalls nicht so sicher und nicht so friedlich wie das Wahrnehmen. Nur über Wahrnehmungen ist dem Bewußtsein die Unmittelbarkeit seines Weltverhältnisses gegeben, wobei Unmittelbarkeit heißen soll: nicht durch Unterscheidungen, auch nicht durch die Unterscheidung von unmittelbar/mittelbar vermittelt.56 Nur Wahrnehmung gibt das Medium Welt, in das alle

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Unterscheidungen einschließlich die der wahrgenommenen Dinge und Ereignisse eingelassen sind. Wie konnte es geschehen, daß

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ein so wichtiger Sachverhalt in den Organisationsanalysen so gut wie unbeachtet geblieben ist? Lag dies an einer Fehlsteuerung durch die humanistische Tradition? Oder eher daran, daß man auf diese Weise die Paradoxie des Entscheidens auflösen konnte, indem man ihr ein »Subjekt« unterschob? Am wenigsten Spielraum hat das Wahrnehmen in Verwaltungsorganisationen. Hier handelt es sich um Kernstrukturen des organisierten Bereichs der Gesellschaft, hier ist Entscheidung nicht nur Verfahren, sondern auch und vor allem Produkt der Organisation. Die Teilnehmer müssen reden/hören und schreiben/ lesen können. Aber da dies alles in Sprachform stattfindet, ist der Variationsspielraum von Individuum zu Individuum gering. Was wahrgenommen wird, verdankt seine Herkunft einer Intention und ist insofern sozial validierbares Konstrukt, jedenfalls erkennbar als Ergebnis einer Entscheidung. Aber dies sind Sonderbedingungen. An anderen Organisationsformen erkennt man besser, daß und wie die Unmittelbarkeit der wahrgenommenen Welt dazu dient, Entscheidungsleistungen herauszufiltern. Das gilt zum Beispiel für die Auge/Hand-Koordination der Industriearbeit, die nur gelegentlich etwas melden muß. Es gilt vor allem aber für den großen, personalintensiven Organisationsbereich, den man im Anschluß an den angelsächsischen Sprachgebrauch »Feldarbeit« nennen könnte: die Tätigkeit von Lehrern, von Aufsehern jeder Art.57 Hier beobachtet der Soziologe eine eigentümliche organisatorische Lösung des »interface«-Problems von Wahrnehmung und Kommunikation, nämlich konzedierte Autonomie.58 Solche Arbeit ist typisch unbeaufsichtigte Einzelarbeit, orientiert an professionellen Standards und, wie man erwartet, an Engagement für die Aufgabe. Wahrnehmungen können nicht wiederholt und nur schwer und aufwendig mit Hilfe von Rekonstruktionen überprüft werden. Direktiven werden beachtet oder auch nicht beachtet, befolgt oder auch geflissentlich übersehen je nachdem, was der Fall in seiner wahrgenommenen Komplexität erfordert.

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Die Verbindungen zur Hauptorganisation werden über geschriebene Berichte oder Anträge hergestellt, die den Erfordernissen zu entsprechen suchen, aber hochselektiv abgefaßt werden. Auf diese Weise wird das Paradox ausgekühlt, daß gerade Freistel-

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lung zur Arbeit ohne Aufsicht für (dann unerwartet kommende) Aufsicht empfindlich macht. Mit der Abfassung von Berichten, also mit Einflußnahmen auf einen etwaigen Entscheidungsprozeß der Organisation, kann man dem vorbeugen, oder jedenfalls den Vorgesetzten im Verwaltungsbereich der eigenen Organisation die Möglichkeit geben, das Gefühl zu haben, daß sie ihre eigenen Aufgaben erfüllen. Im Verhältnis zu den Aufsichtsinstanzen kann es nur eine lose Kopplung geben, und in den Entscheidungssituationen vor Ort wird man typischerweise eine Mischung von Legalität und Illegalität finden. Die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation wird auf eine nicht standardisierbare Weise in Ambiguität überführt. Für die Organisierung solcher von Wahrnehmung abhängiger Tätigkeiten gibt es, mit anderen Worten, keine Technologie, die gegen Außeneinwirkungen hinreichend abgedichtet werden könnte.59 Kann man die das Problem lösende, das Heraussortieren von Entscheidungen erleichternde Autonomie verweigern? Dies Problem wird seit kurzem für den Fall der Überwachung hochriskanter großtechnischer Anlagen diskutiert.60 Hier werden Alarmsignale installiert, die mit der technischen Anlage so gekoppelt sind, daß sie wahrnehmbar werden, wenn Störungen auftreten. Wahrnehmbar werden! Ob sie wahrgenommen und wie sie interpretiert werden, wird jedoch in anderen Systemen und vor allem: in Systemen eines anderen Typs entschieden. Bewußtseinssysteme sind zwar durch eine lange evolutionäre Selektion ihrer Zentralnervensysteme auf das Wahrnehmen von Auffälligkeiten, von Bewegung, von Änderung getrimmt, und sie halten die Unmittelbarkeit ihres Weltverhältnisses nur als Differenz zu solchen Auffälligkeiten durch. Aber Auffälligkeiten profilieren sich gegen das, was als normal wahrgenommen wird, und gerade in der Normalität können sich Mißstände verbergen.61 Außerdem sind

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menschliche Wahrnehmungen immer auch interpretierte Wahrnehmungen, sie geben Sinn, erzeugen Verweisungsüberschüsse,

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können »dies oder etwas anderes« bedeuten und bleiben damit, von der Organisation her gesehen, unzuverlässig. Organisationen als entscheidungsbasierte autopoietische Systeme können nicht wahrnehmen. Ihnen fehlt daher auch die Möglichkeit, Wahrnehmungen ins eigene Netzwerk strukturdeterminierter Operationen einzugliedern. Wahrnehmungen erzeugen eine andere Welt. Menschen tendieren, da sie ja wahrnehmen können, dazu, diese Diskrepanz zu unterschätzen und sich selbst, wenn man so sagen darf, in die Organisation einzubringen. Das mag mit dazu beigetragen haben, das Entscheidungsparadox in Richtung auf verantwortliche, rationale, nur gelegentlich fehlerhaft handelnde Subjekte aufzulösen. Die Systemtheorie verfügt heute aber über analytische Instrumente, die derartige Symbiosen als fragwürdig erscheinen lassen. VIII. Vom Prinzip zum Paradox Die Umstellung von traditionellen Begründungsvorstellungen (Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten) auf Paradoxien bringt, so können wir zusammenfassen, der Organisationstheorie Systematisierungsvorteile ein. Sie hängen, paradoxerweise, von der Frage ab, wie man das Paradox wieder los wird. Dieser nicht logische, aber auch nicht willkürliche Vorgang kann als Suche nach geeigneten Unterscheidungen beschrieben werden. Wir hatten auch von »Entfaltung« der Paradoxie gesprochen. Dabei wird das Zentralproblem der Organisation, das Entscheiden, auf jeweils eine Seite der Unterscheidung gebracht. Man könnte mit Spencer Brown62 von der »Innenseite« der Form, mit Gotthard Günther63 vom Designationswert des binären Schemas sprechen. Die andere Seite der Unterscheidung bliebe dann (als »äußere« Seite, als »Reflexionswert«) frei für weitere Bestimmung. Erst die Ausfüllung dieser anderen Seite durch Bestimmungen macht die Unterscheidungstechnik theoretisch fruchtbar.

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Wenn man die andere Seite als »Entscheidungsprämisse« bezeichnet, gelangt man zu einem strukturellen Verständnis der Organisation. Wenn man sie als »Unsicherheitsabsorption« bezeichnet, gewinnt man ein prozessuales Verständnis der Organi-

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sation. Wenn man schließlich, korrespondierend mit einem normativ-rationalen Entscheidungsverständnis, auf der anderen Seite ein Problem der »Motivation« sieht, führt das in System/Umwelt-Probleme mit Bezug auf das Mitgliederverhalten. Wir hatten diese Probleme durch den Begriff der strukturellen Kopplung markiert. Auf der anderen Seite dieser Systemgrenze findet man dann vor allem bewußt gesteuerte Wahrnehmungen; und die Organisation muß Möglichkeiten finden, sich darauf einzustellen, daß diese Art Operation ihr fremd und unzugänglich bleibt. Die Dispositionen schließen an vorhandene Forschungsansätze an. Sie ermöglichen es, über sie hinauszugehen. Man kann mit ihrer Hilfe Organisationssysteme als autopoietische Systeme beschreiben, die Entscheidungen durch ein selbstgefertigtes Netzwerk von Entscheidungen reproduzieren. Das erfordert zusätzlich zu einer Charakterisierung der Einzeloperationen als Entscheidung eben die Begriffe, die wir schon haben: (1) einen Begriff für die Autopoiesis selbst (= Unsicherheitsabsorption), (2) einen Begriff für die rekursive Inanspruchnahme von Entscheidungsergebnissen als Struktur für die Selektion weiterer Entscheidungen (= Entscheidungsprämisse) und schließlich (3) einen Begriff, der bezeichnet, wie die Umwelt mitwirkt, ohne selbst Operationen beisteuern zu können (= Motivation). Eine solche Sichtweise ist nicht nur für die Organisationstheorie relevant. Sie eröffnet auch der Gesellschaftstheorie und insbesondere dem Verständnis wichtiger gesellschaftlicher Funktionssysteme neue Perspektiven. Das liegt nur zum Teil daran, daß diese Funktionssysteme für ihre Operationen auf Organisationen angewiesen sind. Es kommt hinzu, daß in der heutigen Gesellschaft Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Zukunft einer expliziten Kopplung durch Entscheidung bedürfen; sie ergeben sich nicht mehr aus natürlichen Notwendigkeiten und

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Unmöglichkeiten, nicht mehr aus der Geschichte selbst, nicht mehr aus den Imperativen einer »praktischen Vernunft«. Was

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aber kann das heißen, wenn die Gesellschaft sich Entscheidungen nurmehr als (irgendwie entfaltete) Paradoxie zumuten kann? Sowohl in der kognitiven als auch in den normativen Bereichen gesellschaftlicher Kommunikation, also in der Wissenschaft ebenso wie im Recht, zeichnen sich verstärkt Notwendigkeiten ab, auf Situationsdefinitionen zu reagieren, die man nur noch als selbsterzeugte Ungewißheit beschreiben kann.64 Die richtungsweisenden Grundlagen dafür hat die Religion geliefert mit ihrem Versuch, durch Dramatisierung der Heilsungewißheit eine soziale Disziplinierung einer im Mittelalter noch wenig christianisierten Bevölkerung zu erreichen – und zwar bezeichnenderweise auf der Grundlage von Bekenntnissen und Geständnissen, also auf der Grundlage von zu akzeptierender Selbstreferenz.65 Dieses Modell ist in der späteren Neuzeit kopiert und generalisiert worden, und heute stehen wir, nach einer Phase der Aufklärung über Religion, vor einer entsprechenden Aufklärung der Gesellschaft selbst. In der Wissenschaft zeigt sich dies am Postulat der Hypothetik allen wissenschaftlich gesicherten (!) Wissens und neuerdings an radikal konstruktivistischen Erkenntnistheorien. Im Rechtssystem findet man entsprechende Tendenzen der Orientierung an Interessen und Werten und in Abwägungsformeln, die offen lassen, was im Ergebnis herauskommt. Für beide Bereiche bietet die Diskurstheorie, die Jürgen Habermas ausgearbeitet hat, entsprechende Perspektivenn: Diskurse über Wahrheits- oder über Normgeltungsansprüche lassen keine Präfigurierung durch Naturgeschichte, moralische Prinzipien oder transzendentale Invarianten einer praktischen Vernunft mehr zu;66 sie beziehen sich auf eine ihnen noch unbekannte Zukunft, in der eine vernünftige, allen Betroffenen einleuchtende Entscheidung erst noch gefunden werden muß. Auf anderen Wegen kommt auch die Theorie selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme zu gleichem Ergebnis.67 Alle Informationen, und daher auch alles Fehlen von Informationen, alle Sicherheit und alle Unsicherheit,

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sind ein systeminternes Konstrukt und hängen von den Unterscheidungen ab, mit denen ein System die Welt beobachtet. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich nennen, etwa aus dem Erfahrungsbereich der Systemtheorie, aus der Risikoforschung oder

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aus Forschungen über Zusammenhänge zwischen Technologie und Ökologie.68 Das intellektuelle Klima der neunziger Jahre scheint sich damit abzufinden, daß nur noch die Unsicherheit der Zukunft eine Invariante ist, die allen Entscheidungsprozessen zugrunde liegt. Aber wenn das so ist, wird es nötig werden, die Entscheidungstheorie selbst von Prinzip auf Paradoxie umzustellen. Denn nur dann kann man Horrorszenarien und Verzweiflungsgesten vermeiden und anhand von schon gesammelten Theoriebeständen sehen, wie man damit zurechtkommt. Eine Theorie dieser Art ist also nicht auf einzelne Organisationsbereiche wie öffentliche Verwaltung oder Produktionsbereiche, Schulen oder Banken, politische Parteien oder Gerichte beschränkt. Sie übergreift auch die einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft, für die Organisation eine sehr unterschiedliche Bedeutung gewonnen hat. Das macht einen hohen Abstraktionsgrad unvermeidlich. Das muß aber nicht heißen, daß man mit unanalysierten Abstraktionen oder mit unklaren Begriffen arbeitet. Man sollte vielmehr Theoriebestimmungen so transparent wie möglich gestalten. Denn nur dann kann man kontrollieren, was man ändern muß, wenn irgend etwas in der Theorie nicht funktioniert. Anmerkungen 1 Dieser Beitrag erschien zuerst in NUMMER 1/1994. Er wird hier nochmals abgedruckt. Wir danken Niklas Luhmann für seine Einwilligung zu Lebzeiten. 2 Siehe hierzu vor dem Hintergrund schwedischer Erfahrungen Nils Brunsson, The Irrationality of Organization: Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change, Chichester 1985. 3 Vgl. Klaus Peter Japp, Selbstverstärkungseffekte riskan-

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ter Entscheidungen – Zur Unterscheidung von Risiko und Rationalität, Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), 31-48.

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4 Aus der Literatur über »Systemtherapie« kann man entnehmen, daß schon dies als »systemischer Ansatz« geführt wird: Das Problem liegt nicht dort, wo die Laien es vermuten, sondern woanders; und deshalb benötigt das System Beratung. 5 Siehe George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979, und dazu Niklas Luhmann, Paradoxie der Form, Ms. 1992. 6 So Heinz von Foerster, Ethics and Secondorder Cybernetics, Cybernetics & Human Knowing 1 (1992), LS. 9-19 (14). 7 Wir wollen nicht übersehen, daß es durchaus Versuche einer logischen Rekonstruktion von Alternativität gibt, die sich bemühen, Widerspruchsfreiheit zu garantieren und Paradoxie auszuschließen. Siehe z.B. Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, Berlin 1969. Aber diese Bemühungen verlagern das Problem nur in weitere Unterscheidungen, die dann nicht mehr problematisiert werden; so bei Rödig in die Unterscheidung mehrerer möglicher Welten (z.B. S. 43) oder in die Unterscheidung von (realen) Individuen und Sätzen (S. 58) und sehr typisch in Logik und Linguistik in die Unterscheidung mehrerer »Ebenen« der Analyse oder der Sprache. All diese Versuche haben die Schwäche, daß sie das Problem der (Einheit einer) Unterscheidung nicht behandeln, sondern nur auslagern können. Will man auch dies noch darstellen, braucht man eine deutlich metalogische Theorie, die dann zugleich die Logik einschließen, nämlich zeigen kann, daß man aus dem Paradox nur herauskommt, wenn man irgendwelche Unterscheidungen als vorläufig hinreichend plausibel zugrunde legt. »Draw a distinction« ist das erst in sich paradoxe Paradoxievermeidungsgebot jedes Kalküls. Siehe Spencer Brown, a.a.O. (Anm. 5), S. 3. Zur Notwendigkeit einer »kreativen« Entfaltung von Paradoxien vgl. auch Klaus Krippendorff, Paradox and Information, in: Brenda Derwin/Melvin J. Voigt (Hrsg.), Progress in Communication Bd. 5, Norwood N.J.

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1984, S. 45-71. Auch gibt es Tendenzen, solche Verfahren, wenn nicht als Logik, dann doch als Mathematik anzuerkennen. Vgl. Louis H. Kauffmann, Selfreference and Recursive Forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1989), 53-72.

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8 Man kann sich natürlich entscheiden, nicht zu entscheiden, aber dann konstruiert man eine neue Alternative mit einem neuen »oder«: Entscheiden oder Nichtentscheiden. 9 Michel Serres, Le parasite, Paris 1980. Auch Derrida benutzt diesen Begriff in diesem Sinne. 10 So in Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 76f. 11 So definiert auch G. L. S. Shackle, Information, Formalism, and Choice, in: Mario J. Rizzo (Hrsg.) Time, Uncertainty, and Disequilibrium: Explorations on Austrian Themes, Lexington Mass. 1979, S. 19-31 (20) »… the notion of the present, the moment of which, alone, we have direct knowledge, the moment-inbeing, the moment of actuality embracing all that is. All that is, is the present.« 12 A.a.O. (Anm. 11). 13 Wieso eigentlich im Plural, wenn man zugleich weiß, daß nur eine Entscheidung möglich ist. 14 Um einen Titel von Ranulph Glanville, The Same is Different, in: Milan Zeleny (Hrsg.), Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New York 1981, S. 252-262 (dt. Übers. in: ders., Objekte, Berlin 1988) zu zitieren. 15 Einen umfangreichen Überblick vermittelt Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton 1966. Vgl. auch Walter F. Lupi, Ars Perplexitatis: Etica e retorica del discorso paradosso, in: Rino Genovese (Hrsg.). Figure del Paradosso, Napoli 1992, S. 29-10; ferner die historischen Beiträge in Paul Geyer/Roland Hagenbüchle (Hrsg.), Das Paradox: Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992. 16 Siehe als ein viel zitiertes, auch viel übersetztes Beispiel

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Ortensio Lando, Paradossi, cioè sententie fuori del commun parere, Vinegia 1545, und dazu ders., Confutatione del libro de para-

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dossi nuovamente composta, in tre orationi distinta, o.O. o.J. 17 Siehe dazu A. E. Malloch, The Technique and Function of the Renaissance Paradox, Studies in Philology 53 (1966), S. 191-203. 18 Das vielleicht berühmteste Beispiel ist Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: or Private Vices, Public Benefits, zit. nach der Ausgabe von F. B. Kaye, Oxford 1924, – interessant auch insofern, als das Auflöseschema der Moralparadoxie mit der Unterscheidung von privat und öffentlich gleich mitgeliefert wird. Vgl. auch Jean Frèderic Bernard, Eloge d’Enfer: ouvrage critique, historique et moral, La HaYe 1759. 19 Hilary Lawson, Reflexivity: the most Modern Predicament, London 1985, sieht darin geradezu das auszeichnende Merkmal der Philosophie dieses Jahrhunderts. 20 Die Bestimmung des Begriffs »Form« durch die operative Praxis eines Beobachters liegt denn auch dem Formenkalkül von Spencer Brown, a.a.O. (Anm. 5), zugrunde. 21 Vgl. neben Krippendorf, a.a.O. (Anm. 7), auch Lars Löfgren, Some Foundational Views on General Systems and the Hempel Paradox, International Journal of General Systems 4 (1978), 243-253, Unfoldement of Self-Reference in Logic and Computer Science, Proceedings of the 5th Scandinavian Logic Symposium. Aalborg 1979, S. 205-229. 22 Hier natürlich noch nicht: wider besseres Wissen. Vielmehr war Gedanke, daß die Identitäten, die ein Bewußtsein in sich selbst als notwendige Bedingungen seiner Operationen vorfinden würde, größere Stabilität haben müßten als das, was als kategoriales Gerüst der ontologischen Metaphysik überliefert ist. 23 Vgl. Herbert A. Simon/Donald W. Smithburg/Victor A. Thompson, Public Administration, New York 1950, insb. S. 57ff. 24 Die Einschränkung folgt jedoch unmittelbar: »we are concerned primarily with behavior that is conscious and rational«.

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Deshalb wird später ohne Bedeutungsveränderung auch von »decision premises« gesprochen. Siehe z.B. Herbert A. Simon, Models of Man – Social and Rational: Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Setting, New York 1957,

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S. 201. An diesen Sprachgebrauch schließen wir an. 25 Simon, a.a.O. (Anm. 24), S. 201. 26 Annähernd zeitgleich entsteht ja auch ein erkenntnistheoretischer Strukturalismus, der den Variationsspielraum, der an sich relevant sein könnte, durch eine strukturelle Definition von Gegenständen aufs Machbare einschränkt. Man denke vor allem an Levi-Strauss, aber auch an Parsons Version des analytischen Strukturfunktionalismus. 27 Daraus folgt im übrigen, daß die generalisierte Bereitschaft, Geld zu akzeptieren, für die Wirtschaftstheorie eine ihrerseits paradoxe Form annimmt. Siehe dazu Andre Orléan, La monnaie et les paradoxes de l’individualisme, Stanford French Review 15 (1992), S. 271-291. Das wird durch den Individualismus der Entscheidungstheorien der ökonomischen Klassik unterstrichen, würde sich aber auch dann ergeben, wenn man die externe Referenz »Individuum« wegließe und nur auf die Zahlungsoperationen des Wirtschaftssystems selbst abstellte. 28 So Richard Nelson/Sidney Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge, Mass. 1982. 29 Vgl. Niklas Luhmann, Politische Planung: Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 1971, insb. S. 66ff. Heute ist man erheblich skeptischer in bezug auf Planungsmöglichkeiten, was terminologisch im Übergang von »Planung« zu »Steuerung« (oder auch: regulative Politik) zum Ausdruck kommt. Siehe nur: Helmut Willke, Entzauberung des Staates: Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Königstein/Ts. 1983; Manfred Glagow/Helmut Willke (Hrsg.), Dezentrale Gesellschaftssteuerung: Probleme der Integration polyzentrischer Gesellschaft, Pfaffenweiler 1987; ders., Prinzipien politischer Supervision, in: Heinrich Bußhoff (Hrsg.), Politische Steue-

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Die Paradoxie

rung: Steuerbarkeit und Steuerungsfähigkeit: Beiträge zur Grundlagendiskussion, Baden-Baden 1992, S. 51-80; Niklas Luhmann,

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Politische Steuerungsfähigkeit eines Gemeinwesens Ms. 1992. 30 In der Privatwirtschaft kalkuliert man direkter mit verfügbaren bzw. sinnvoll investierbaren Geldmitteln, weil hier die finanziellen Beschränkungen unmittelbar greifen. Zugleich geben diese schärferen Beschränkungen in dem Bereich, den sie ermöglichen, der Organisationsplanung aber auch mehr Beweglichkeit. 31 Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Soziologische Aspekte des Entscheidungsverhaltens, Die Betriebswirtschaft 44 (1984), 591-603. 32 Hierzu grundlegend Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside, Cal. 1981 (zum Teil deutsch in: ders., Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985). 33 Siehe dazu im Anschluß an George Spencer Brown und Gotthard Günther Elena Esposito, L’operazione di osservazione: Costruttivismo e teoria dei sistemi sociali, Milano 1992. 34 Hierzu auch Niklas Luhmann, Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? in: Paul Watzlawick/Peter Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters – Beiträge zum Konstruktivismus: Festschrift für Heinz von Foerster, München 1991, S. 61-74. 35 Siehe James G. March/Herbert A. Simon, Organizations, New York 1958, S. 164 ff. Die im Text genannte Einschränkung besteht darin, daß mit »uncertainty absorption« nur eine bestimmte Variable identifiziert wird, die vermutlich mit anderen Variablen (vor allem Einfluß) korreliert, aber nicht explizit auf die Unterscheidung von Entscheidung und Unsicherheitsabsorption abgestellt wird. Deshalb ist in die Theorie auch nicht hinreichend deutlich eingebaut, daß Unsicherheitsabsorption als die andere Seite der Form »Entscheidung« nie Gegenstand einer Entscheidung sein kann. 36 March/Simon, a.a.O. (Anm. 35), S. 165. 37 Siehe auch Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisie-

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rens, dt. Übers. Frankfurt 1985 zur Beseitigung von Mehrdeutigkeit als interpersoneller Prozeß, S. 206f. u. ö. 38 Vgl. zu vermuteten Auswirkungen des Fernsehens Joshua Meyrowitz, No Sense of Place: The Impact of Electronic Me-

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dia on Social Behavior, New York 1985, insb. S. 62ff., 160ff. Was »entgegenstehende Interessen« betrifft, wird man insbesondere an den Autoritätsverlust der Experten in ökologischen Debatten zu denken haben. Ihren Angaben wird nur noch geglaubt, wenn sie auf der »richtigen Seite« auftreten. 39 »Heterarchie« im Sinne des ästhetisch, neurophysiologisch und ökonomisch inspirierten Begriffs von Warren S. McCulloch, Embodiments of Mind, Cambridge, Mass. 1965. 40 Siehe etwa Henn Fayol, Administration industrielle et générale, Paris 1925. Vgl. auch Luther Gulick/L. Urwick (Hrsg.), Papers on the Science of Administration, New York 1937. 41 So Gordon Pask, The Meaning of Cybernetics in the Behavioural Sciences (The Cybernetics of Behaviour and Cognition; Extending the Meaning of »Goal«), in John Rose (Hrsg.), Progress in Cybernetics, London 1970, Bd. 1, S. 15-44 (32). Vgl. auch Dirk Baecker, Die Form des Unternehmens, Habilitationsschrift Bielefeld 1992, Ms. S. 111ff. 42 Vgl. kritisch Rudolf Wimmer, Organisationsberatung: Eine Wachstumsbranche ohne professionelles Selbstverständnis, in M. Hofmann (Hrsg.), Management Forum, Heidelberg 1991, S. 46-136. 43 Siehe Gerhard Reber/Franz Strehl (Hrsg.), Matrix-Organisation: Klassische Beiträge zu mehrdimensionalen Organisationsstrukturen, Stuttgart 1988. 44 Auch der Präzedenzkult des Rechtssystems kann letztlich auf diese Unmöglichkeit des Rückgangs in abgeschlossene Entscheidungsprozesse zurückgeführt werden, wobei die Grobschlächtigkeit dieses Auswegs im common law zu Anschlußentwicklungen der Feinanalyse der ratio decidendi und zu Möglichkeiten des distinguishing und overruling geführt hat. Zur Rückführung dieser Entwicklung auf Entscheidungsprobleme siehe vor

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Die Paradoxie

allem Ronald A. Heiner, Imperfect Decisions and the Law: On the Evolution of Legal Precedents and Rules, The Journal of Legal

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Studies 15 (1986), S. 227-261. 45 Speziell hierzu Herbert A. Simon, Das Verwaltungshandeln: Eine Untersuchung der Entscheidungsvorgänge in Behörden und privaten Unternehmen, dt. Übers., Stuttgart 1955, S. 71ff. 46 Vgl. dazu Japp, a.a.O. (Anm. 3), mit weiteren Hinweisen. 47 Beispiele dafür finden sich vor allem in politischen Organisationen. Man denke an die Behandlung des Asylantenproblems in der Bundesrepublik oder an die schulpolitischen Kontroversen in Nordrhein-Westfalen. 48 Siehe als typisches Beispiel Philip Selznick, Leadership in Administration: A Sociological Interpretation, Evanston, Ill. 1957. 49 Damit soll natürlich nicht behauptet sein, daß die Beratungsphilosophien schon auf dieses Konzept eingeschworen seien und auf das Angebot »besseren Wissens« verzichten (das dann eben oft an zu ungenauer Kenntnis des organisationsinternen Milieus scheitert oder doch verständlichen Widerstand auslöst). Immerhin gibt es inzwischen zahlreiche Verbindungen zwischen Familientherapie und Organisationsberatung, die teils durch Systemkonzepte, teils durch einen erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, vielleicht auch schon durch das Paradoxie-Konzept der Mailänder Schule (siehe Mara Selvini Palazzoli et al., Paradoxon und Gegenparadoxon, dt. Übers., 4. Aufl. Stuttgart 1985) inspiriert sind. Zu derzeit aktuellen Überlegungen siehe vor allem Rudolf Wimmer (Hrsg.), Organisationsberatung: Neue Wege und Konzepte, Wiesbaden 1992. 50 Siehe Nils Brunsson, a.a.O. (Anm. 2). Vgl. auch ders., The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations, Chichester 1989. 51 Zu diesem Vergleich: Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, in ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 335-389 (344ff.).

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52 Siehe Kenneth Burke, A Grammar of Motives (1945) und A Rhetoric of Motives (1950), zitiert nach der Ausgabe Cleveland 1962. 53 Vgl. C. Wright Mills, Situated Actions and Vocabularies

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of Motive, American Sociological Review 5 (1940), S. 904-913; Alan F. Blum/Peter McHugh, The Social Ascriptions of Motives, American Sociological Review 36 (1971), S. 98-109; George K. Zollschan/Michael A. Overington, Reasons for Conduct and the Conduct of Reason: The Eightfold Route to Motivational Ascription, in: George K. Zollschan/Walter Hirsch (hrsg.), Social Change: Explorations, Diagnoses, and Conjectures, New York 1976, S. 270-317; Austin Sarat/William L. F. Felstiner, Law and Social Relations: Vocabulary of Motive in Lawyer/Client Interaction, Law and Society Review 22 (1988), S. 737-769. 54 So verstehe ich Spencer Brown. Unter der Definition »Distinction is perfect continence« liest man: »There can be no distinction without motive, and there can be no motive unless contents are seen to differ in value« (a.a.O., S. 1). Aber diese Begrifflichkeit spielt in der Entfaltung des Kalküls der Bezeichnungen dann keine Rolle mehr. 55 Allerdings ist hinzuzufügen, daß das Naturrecht Tiere einbezogen hatte. So Ulpian in Digesten 1.1.1.3: »lus naturale est, quod natura omnia animalia docuit.« Das hatte aber in der Tradition die Folge, daß die gesamte Gesellschaftsentwicklung als Abweichung vom Naturrecht dargestellt werden mußte: Ehe als Abweichung vom natürlichen Fortpflanzungstrieb; Eigentum als Abweichung von der natürlichen Zugänglichkeit der Güter; Sklaverei, Knechtschaft, Arbeitsverhältnisse usw. als Abweichung von der natürlichen Freiheit. Noch die Vertragskonstruktionen des 17. und 18. Jahrhunderts basieren auf dieser Voraussetzung. Heutige Anhänger des Naturrechts scheinen diese Texte nicht mehr zu kennen. 56 Daß diese Unmittelbarkeit eine im Bewußtsein selbst erzeugte Illusion ist, muß freilich angemerkt werden. Denn

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selbstverständlich arbeitet das Zentralnervensystem, von dem das Bewußtsein nichts weiß, mit hochkomplexen Prozessen des

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Diskriminierens und Deligierens. 57 Siehe als Beispiel aus dem Bereich des Gewässerschutzes Keith Hawkins, Environment and Enforcement: Regulation and the Social Definition of Pollution, Oxford 1984, insb. S. 57ff. Besonders viele Untersuchungen über unbeaufsichtigtes Verhalten und Selbstschutz durch stark abweichende Berichterstattung gibt es aus dem Bereich der Polizei. Siehe z.B. Jonathan Rubinstein, City Police, New York 1974, Michael K. Brown, Working the Street: Police Discretion and the Dilemma of Reform, New York, 1981; David E. Aaronson/C. Thomas Diene/Michael C. Musheno, Public Policy and Police Discretion: Processes of Decriminalization, New York 1984. Vgl. auch Richard McCleary, Dangerous Men: The Sociology of Parole, Beverly Hills 1978, insb. S. 145ff.; Jeffrey M. Prottas, People Processing: The Street-Level Bureaucrats in Public Service Bureaucracies, Lexington, Mass. 1979, insb. S. 26ff., 61ff. 58 Zum Zusammenhang unpredicability/autonomy insb. Prottas, a.a.O. (Anm. 57), S. 111ff. 59 Siehe auch Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz: Fragen an die Pädagogik, Frankfurt 1982, S. 11-40. 60 Siehe z.B. Jost Halfmann/Klaus Peter Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale: Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990. 61 Vgl. Erving Goffman, Relations in Public: Microstudies of the Public Order, Harmondsworth UK 1971. Für die ethnologische Breite dieser Unterscheidung auch Edmund Leach, Social Anthropology, Glasgow 1982, S. 111f. 62 A.a.O. (Anm. 5), S. 5. 63 Siehe z.B. Strukturelle Minimalbedingungen einer Theorie des objektiven Geistes als Einheit der Geschichte, in: Gotthard

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Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 3, Hamburg 1980, S. 136-182 (140ff.). 64 Siehe dazu für das Rechtssystem Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation

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– Prozeduralisierung, Berlin 1992, besonders den dritten Teil über die Interpretation der Grundrechte (S. 176ff.). 65 Siehe dazu als wegweisenden Beitrag Alois Hahn, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 408-434. 66 So mit aller wünschenswerten Deutlichkeit Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992. 67 Siehe Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990; ders., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt (1993). Vgl. auch ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, insb. S. 149ff. 68 Vgl. etwa Mara Selvini Palazzoh et al., Paradoxon und Gegenparadoxon, dt. Übers., Stuttgart 1977; Fritz B. Simon, Meine Psychose, mein Fahrrad und ich: Zur Selbstorganisation der Verrücktheit, Heidelberg 1990; Jost Halfmann/Klaus Peter Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale: Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990.

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Die Ordnung der Sandkörner. Zu Christian Wolff und Barthold Heinrich Brockes Natalie Binczek

I. Die Sinne in der Naturforschung des 18. Jahrhunderts Aufgrund eines »fast exklusiven Privileg[s] der Sehkraft«, wie Foucault (1971: 174) festhält, unterliegt die Naturforschung des 18. Jahrhunderts nicht nur einer Rangordnung der Sinne, an deren Spitze das Auge steht, sondern sie schließt auch, und dies ist ausschlaggebend, die Beteiligung der übrigen Wahrnehmungsorgane weitgehend aus. Denn das ›Privileg Sehkraft‹ ist ›fast‹ – wobei diese Einschränkung zu spezifizieren ist – ›exklusiv‹. Die wissenschaftliche Erkundung der Empirie, wie sie die Aufklärung betreibt, setzt demnach die visuelle Wahrnehmung als ihr Leitmedium ›fast‹ konkurrenzlos voraus.1 Jedoch drückt sich darin kein blindes Vertrauen in die perzeptive und, auf dieser aufbauend, in die epistemische Sicherheit des Auges aus, da dieses als ebenso störungs- wie täuschungsanfällig gilt. Kein anderes Wahrnehmungsorgan wird in dieser Zeit einer derart grundlegenden Kritik unterzogen.2 Da die Sinne in ihrer Gleichzeitigkeit Resultate hervorbringen, an denen sich ihr jeweiliger individueller Wahrnehmungsbeitrag nicht immer ablesen lässt; da ihre Verknüpfung eine die

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Die Ordnung

Summe der beteiligten Sinnesleistungen überschreitende Eigenqualität entwickeln kann, müssen sie voneinander getrennt, d.h.

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wie die natürlichen Substanzen, die sie beobachten, selbst auch analytisch zerlegt werden.3 Um die Leistung der Sehkraft zu ermessen und auf ihre elementaren Bestandteile zurückzuführen, wird das Auge in der Praxis der Naturforschung von anderen Sinnesorganen abgegrenzt und seine Wirkung isoliert untersucht. Für die Naturforschung des 17., vor allem aber des 18. Jahrhunderts bedeutet dies jedoch, dass sie nicht nur den Bereich der Empirie und ihren Gegenstand, die ›Natur‹, gleichsam fremdreferentiell erkundet, sondern dass sie dabei auch selbstreferentielle Züge annimmt, indem sie ihre eigenen Konstitutionsbedingungen befragt. Problematisch wird diese Selbstreferenz dort, wo optische Instrumente zum Einsatz kommen, besonders dann, wenn sich der technisch erzeugte Eindruck von dem des bloßen Auges bis zur Unkenntlichkeit entfernt; wenn er jede Ähnlichkeit verliert und keinen Wiedererkennungswert mehr aufweist. Denn wie lässt sich etwas als Tatsache, als »Fakt«4 behandeln, was sich unter wechselnden Beobachtungsbedingungen selbst verändert?5 Als zentrales Instrument der Naturforschung des 17. und 18. Jahrhunderts6 bildet das Mikroskop, wie es scheint, das ›Privileg der Sehkraft‹, mehr noch ihre Exklusivität gleichsam ab, indem es als konzentrierter Einsatz des Auges und unter Ausschaltung aller übrigen Sinneswahrnehmungen funktioniert. »Um durch eine Linse besser beobachten zu können, muß man darauf verzichten, mit den anderen Sinnen […] zu erkennen« (ebd.). Foucault sieht die Vorherrschaft des Auges in der Aufklärung bzw. im Zeitalter der »Repräsentation« allein durch den Tastsinn zugleich erweitert und gestärkt.7 Im Verbund mit der visuellen Leistung wird auch diesem, wie sich an zahlreichen philosophischen und wissenschaftlichen Texten dieser Zeit ablesen lässt, eine epistemische Funktion zuerkannt.8 Inwiefern seine Wirkungen jedoch im mikroskopischen Zusammenhang zum Vorschein kommen, wird von Foucault nicht ausgeführt. Dabei können sie in mehrfacher Hinsicht nachgewiesen werden. Denn einerseits dienen tak-

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tile und/ oder haptische9 Kategorien zur Beschreibung des mikroskopisch Sichtbaren. Was das Auge sieht, ist zwar ausschließlich Ergebnis seiner Wahrnehmung, aber dennoch nicht frei von Eigenschaften, die wie das Rauhe oder Glatte auf Tasteindrücke

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zurückgehen. Andererseits eignet dem mikroskopisch vergrößerten und intensivierten Blick selbst eine taktile Dimension, da er in die Gegenstände, die er wahrnimmt, in gewisser Weise einzudringen scheint: eine visuelle Penetration.10 Dieser vom Sehsinn geleitete Zugriff auf die Natur konstituiert die für die Naturforschung der Aufklärung zentrale Konzeption der Beobachtung, wobei, wie Foucault fortfährt, »Beobachten heißt […], sich damit bescheiden zu sehen, systematisch wenige Dinge zu sehen« (ebd.: 175). Obgleich die Mikroskopie das ›Privileg der Sehkraft‹ bestätigt und ihre Operation als Beobachtung oder Observation bezeichnet wird, so steht allerdings in Frage, inwiefern sie auch in Bezug auf dieses spezifische Verständnis als paradigmatisch gelten kann. Denn die Auffassung des systematischen Beobachtens als einer sich auf ›wenige Dinge‹ begrenzenden Vorgehensweise wird, nimmt man einschlägige Dokumente in den Blick,11 von ihr nur bedingt umgesetzt. Die Mikroskopie des 18. Jahrhunderts ermöglicht, wie ich zu zeigen versuchen werde, eine Wahrnehmung, die die Konzeption des systematisch-analytischen Beobachtens weniger auf der Ebene der von ihr untersuchten Gegenstände nachvollziehbar macht, als auf derjenigen ihrer instrumentellen und technischen Eigenleistungen. Sie systematisiert demnach vor allem das Verfahren, nicht jedoch die mikroskopisch sichtbare Natur. Der perzeptiven Eingrenzung auf den Gesichtssinn, wobei auch diese vom taktil-haptischen Moment ergänzt wird, stellt sie im Hinblick auf die observierten Gegenstände eine umgreifende Proliferation entgegen. Je konzentrierter sich das Auge auf einen Gegenstand richtet, desto uneinheitlicher und zerstreuter zeigt sich dieser; desto weniger lässt er sich sowohl identifizieren als auch systematisieren. Ein Beobachten, wie Foucault es als Methode der Naturforschung im Zeitalter der Repräsentation be-

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Die Ordnung

schreibt, kann der mikroskopisch gestützten Vergrößerung der Gegenstände deshalb nur mühselig abgerungen werden. Obzwar

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ein systematisches und analytisch auf die Grundelemente der Natur zurückgehendes Prozedere von ihr nicht nur erwartet, sondern mit ihr auch angesteuert wird, dokumentieren die Aufzeichnungen mikroskopischer Versuche zugleich eine irritierte, vielfach sogar desorientierte Wahrnehmung.12 Anstatt ›sich damit bescheiden, systematisch wenige Dinge zu sehen‹, und sie mit wissenschaftlicher Präzision zu beschreiben, läuft die Observation deshalb nicht selten auf die Feststellung des ›Wunderbaren‹ hinaus. Der Beobachtungsbegriff beschränkt sich nicht auf die perzeptive Dimension. Er setzt vielmehr auch den Aspekt sprachlicher Repräsentation voraus, insofern eine systematische Organisation des Sichtbaren nur auf der Grundlage eines Verweissystems möglich ist.13 Nur weil sprachliche Distinktionen und Ordnungen den Wahrnehmungsprozessen bereits zugrunde liegen, kann das Sichtbare nach bestimmten Schemata organisiert werden. Und nur wenn unterschiedliche Erscheinungen auch unterschiedliche sprachliche Werte bekommen, werden sie in den Diskurs der Naturforschung aufgenommen. »Die durch die Augen gewonnenen Repräsentationen werden, wenn sie selbst entfaltet, von allen Ähnlichkeiten befreit und sogar von ihren Farben gereinigt sind, schließlich der Naturgeschichte das geben, was ihren eigentlichen Gegenstand bildet; das genau, was sie in jene wohlgeformte Sprache übergehen läßt, die sie bauen will« (Foucault 1971: 175).

Indem das Mikroskop sie vorführt, problematisiert es zugleich das Sichtbare und das Sagbare sowie ihre Zuordnung. Denn in dem Maße, in dem die durch die mikroskopische Linse observierten Gegenstände zu wuchern anfangen, tritt auch die Insuffizienz des bestehenden Kategoriensystems und seiner sprachlichen Repräsentation zutage. An dem Punkt, an dem sie alle ›Ähnlichkeiten‹ und damit alle durch Farbe und Gestalt bestimmten Iden-

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tifikationsmerkmale verlieren, gerät auch das sprachliche Bezeichnungssystem an seine Grenzen. Die Gegenstände werden visuell so weit zerlegt, bis einzelne Elemente durch Analogien oder Teilanalogien wieder an gesicherte Bezeichnungen geknüpft

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werden können.14 Dadurch aber wird ein Gegenstand nach seiner visuellen Zerlegung an Eigenschaften geknüpft, die sowohl nach der Beurteilung des bloßen Auges als auch der Logik der Naturforschung in keiner Beziehung zu ihm stehen. Durch derart sprachlich behauptete Ähnlichkeiten entstehen Verwandtschaftsbeziehungen, deren Relevanz lediglich für die Beschreibung gilt. Aus dem Teilvergleich eines Sandkorns mit einem Hirsenkorn und einem Kristall folgt keineswegs, dass zwischen diesen drei Materien auch eine systematische Beziehung besteht. Daran wird indessen deutlich, dass eine genaue Prüfung der Texte die epistemische Prämisse der »Repräsentation« als problematisch herausstellen muss. Die Mikroskopie des 18. Jahrhunderts verunsichert nämlich ihre Einheit im Sinne einer Äquivalenz zwischen dem Sichtbaren und dem Sagen, indem sie dieses Sichtbare selbst fundamental verunsichert.15 In Frage steht somit das Konzept einer Beobachtung, die den Einsatz optischer Instrumente in ihrer spezifischen Leistung zu berücksichtigen hat. 1729 erscheint der dritte Teil von Christian Wolffs Deutscher Experimentalphysik unter dem Titel »Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkäntniß der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird«. Ein ebenso umfangreiches wie zentrales Kapitel dieser Abhandlung ist der Mikroskopie gewidmet. Anders als John Locke, Nicolas Malebranche oder George Berkeley vor ihm, befragt Wolff hier nicht allein den philosophischen Nutzen mikroskopischer Versuche, sondern stellt sich der Praxis selbst. Er lotet ihre technische Eigengesetzlichkeit aus, ohne von Anfang an auf das theoretische Gebäude seiner philosophischen Grundannahmen unmittelbar Rücksicht zu nehmen; ohne sogleich die philosophischen und metaphysischen Konsequenzen mitzudenken. Deshalb markiert diese Schrift gegenüber seiner ›Metaphysik‹ oder ›Psychologie‹ einen einschneidenden Wechsel der Systemreferenz.

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Die Ordnung

Weder fragt Wolff hier nach dem philosophischen (Mehr-)Wert der Mikroskopie, noch beeinträchtigt er seine mikroskopischen

der Sandkörner

Studien durch philosophisch bedingte Prämissen. Er baut vielmehr auf der Unterscheidung zwischen den jeweiligen methodischen und strukturellen Eigengesetzlichkeiten der Naturforschung einerseits und der Philosophie andererseits auf. An einem fortgeschrittenen Punkt der Argumentation führt er dennoch eine Annäherung beider Systemreferenzen herbei und bezieht die philosophischen Voraussetzungen in die Ergebnisse der Naturforschung bzw. vice versa wieder ein. Bis er jedoch an diesen Punkt gelangt, hat er sich in den Bahnen experimenteller Logik bereits sehr weit fortbewegt und ihre Konsequenzen unabhängig von genuin philosophischen Problemstellungen entfaltet. II. Wolffs mikroskopische Versuchsanordnung Bevor er die Versuche im Einzelnen bespricht, legt Wolff detailliert auseinander, welche Vergrößerungsgläser ihm zur Verfügung stehen und welche Wahrnehmungseffekte sie jeweils erzeugen.16 Was sichtbar ist, so eine seiner mikroskopischen Grundthesen, verdankt sich immer auch der verwendeten Technik. Das bedeutet aber, dass sich der observierte Gegenstand von seiner technischen Versuchsanordnung nicht ablösen lässt. Beobachten bzw. Observieren ist somit ein Vorgang, der sich nicht nur zwischen einem Beobachter und seinem Bezugsobjekt ereignet, sondern in einem konstitutiven Sinn auch die verwendeten Instrumente einbezieht. Diese unterstützen die Observation nicht nur, indem sie die Resultate des Gesichtssinns deutlicher und eindeutiger nachzuweisen erlauben. Sie bringen die Resultate in gewisser Weise überhaupt erst hervor.17 Je nachdem, durch welche Vergrößerungsgläser die Beobachtung erfolgt, verändert sich das Sichtbare gänzlich. Vor diesem Hintergrund erscheint die für die Naturforschung des frühen 18. Jahrhunderts ausschlaggebende Unterscheidung zwischen Experiment und Beobachtung aufgeweicht. Nach dem

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historischen Verständnis bezieht sich eine Beobachtung bzw. Observation, auch unter Zuhilfenahme von Beobachtungsinstrumenten, auf einen Gegenstand, ohne ihn dabei in irgendeiner Weise zu modifizieren,18 wohingegen ein Experiment durch einen will-

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kürlichen Eingriff erfolgt.19 Dem Experiment wird die Konstitution seines Gegenstandes durch Eingriff des ›Fleißes und der Mühe‹ des Beobachters konzediert. Denn hier wird das Bezugsobjekt in eine besondere Lage versetzt, durch bestimmte Einflüsse verändert oder mit anderen Versuchsobjekten in ungewohnte Beziehung gebracht. Es wird Veränderungen unterzogen, die sein natürlicher Zustand nicht (immer) vorsieht. Dagegen impliziert das Verständnis der Beobachtung eine Distanz zwischen Beobachter und Gegenstand, die dafür sorgt, dass dieser vor jeglicher durch den Beobachter und seine Instrumente hervorgerufenen Einwirkung geschützt ist. Indem Wolff jedoch im Zusammenhang seiner mikroskopischen Versuche die technischen Instrumente, vor allem die durch Stärke und Schliff voneinander unterschiedenen Vergrößerungsgläser auf ihre je spezifische Leistung prüft,20 zeigt er auf, dass jedes Beobachtungsergebnis in hohem Maße von den gewählten Instrumenten diktiert wird. Indem er nachweist, wie die jeweils verwendeten Vergrößerungsgläser an der Hervorbringung der sichtbaren Gegenstände beteiligt sind, setzt er die Beobachtung in unmittelbare Abhängigkeit zum Experiment. Denn durch Darlegung der perzeptionssteuernden Wirkung der verwendeten Technik – ein Aspekt, den die lexikalische Definition des 18. Jahrhunderts unberücksichtigt lässt –, wird auch die Beobachtung zu einer experimentellen, weil durch die Vorgaben und Eingriffe des Beobachters bedingten Operation. Sein ›Fleiß‹ und seine ›Mühe‹ manifestieren sich hier in der Wahl und im Gebrauch der technischen Hilfsmittel. Entscheidend ist zudem, dass nur auf dieser Ebene mikroskopische Versuche im Sinne einer systematischen Operation – um Foucaults Definition des Beobachtungsbegriffs noch einmal aufzugreifen – stattfinden. Nicht die Wahrnehmung der observierten Gegenstände, sondern allein das Observations-

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Die Ordnung

verfahren, d.h. die Wahl und der Gebrauch der technischen Mittel erfolgt nach systematischen Kriterien.

der Sandkörner

Jede Beobachtung eines Gegenstandes erzwingt daher immer auch die Selbstbeobachtung des Verfahrens und seiner technischen Voraussetzungen. Mit Hilfe genauer Beschreibung könne man »lerne[n], wie man sich bey diesen Observationen in acht zu nehmen hat« (Wolff 1982, § 90: 364). So wird eine Grundlage geschaffen, auf welcher zwischen irrtümlicher, vor allem durch die Eigenleistung der verwendeten Instrumente bedingter, und richtiger Wahrnehmung unterschieden werden kann. »Ich gebe zu, daß bey den Observationen durch Vergrösserungs=Gläser vieler Betrug der Sinnen vorgehe, will auch nicht leugnen, daß unterweilen viel irriges von denen angegeben wird, welche die Sachen durch Vergrösserungs=Gläser betrachtet: allein deswegen folget noch nicht, daß man nicht entscheiden könne, ob die Sache auch würcklich so beschaffen sey, wie sie aussiehet« (ebd., § 91: 365).

Im § 81 unter der Überschrift »Von dem, was die Vergrösserungs=Gläser zeigen«21 mahnt Wolff nicht nur prinzipiell zur Achtsamkeit an, sondern führt auch in ihre einzelnen pragmatischen Regeln ein. Zunächst wird ein stufenweiser Aufbau des Versuchs empfohlen, bei dem unterschiedlich geschliffene und starke Vergrößerungsgläser verwendet werden sollen. Darin liegt das systematische Moment dieses Verfahrens. Es geht von einem zunehmenden Einwirkungsgrad der technischen Instrumente aus, um in Korrelation dazu einen zunehmenden Verlust der ›Ähnlichkeit‹ am Beobachtungsgegenstand vorzuführen. »Man leget eine Sache, die man betrachten will, anfangs unter ein Vergrösserungs=Glaß, welches wenig vergrössert, damit man es gantz übersehen kann« (ebd., § 81: 300).

Konkret schlägt Wolff vor, zunächst einen Gegenstand so zu beobachten, dass sich seine gewohnten Proportionen unter dem Mikroskop noch erkennen lassen. Der erste Vergrößerungsschritt

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sollte deshalb der dem bloßen Auge vertrauten Form entsprechen und zumindest auf dieser Stufe des Versuchs an einer Kongruenz bzw. Ähnlichkeit mit der natürlichen Wahrnehmung festhalten.

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»Ist sie [die Sache; N.B.] so beschaffen, daß man sie zergliedern kann; so zergliedere ich sie mit der Vorsichtigkeit, daß nichts daran verletzet wird, damit ich ein Glied nach dem andern insbesondere betrachten kann, brauche aber wiederum dazu solche Vergrösserungs=Gläser, da ich entweder das Glied gantz auf einmahl übersehen, oder doch nach und nach fortschieben kann, daß ich einen Theil davon nach dem andern zu sehen bekomme« (ebd.: S. 300f.).

Die einzelnen Glieder dürfen bei ihrer Zerlegung, falls diese überhaupt vorgenommen werden kann, nicht verletzt werden. Bei der Präparation der Gegenstände sind daher besondere handwerkliche und damit haptische Leistungen involviert. Vollzieht sich die mikroskopische Beobachtung als konzentrierter Einsatz des Gesichtssinns, so geht ihr in einigen Fällen ein nicht minder konzentrierter Einsatz der Hand voraus. Nur die unversehrt zerteilten Glieder können je nach Vergrößerungsglas entweder auf einmal, d.h. nebeneinander, oder nacheinander betrachtet werden. Im letzten Fall wird der sorgfältig zerstückelte Gegenstand in die zeitliche Ordnung übertragen und so einem für mikroskopische Observationen unerlässlichen Abstraktionsvorgang unterzogen. Die Wahrnehmung wird temporalisiert. Denn ab einem bestimmten Vergrößerungsgrad können die einzelnen Vergrößerungsausschnitte nur in der zeitlichen Ordnung miteinander in Beziehung gebracht werden. Erst als Illustrationen lassen sie sich wieder, sofern sie auf einer Seite abgedruckt werden, auch nebeneinander betrachten. »Sowohl wenn ich die Sachen gantz beschaue, als auch ihre Glieder oder Theile, darein ich sie zerleget, gebe ich acht auf die Figur und Proportion der Theile gegen einander und gegen das gantze, und auf die Verknüpffung der Gliedmassen und Theile« (ebd.: 301).

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Die Ordnung

Die »Figur und Proportion der Theile gegen einander und gegen das gantze«, Kategorien, nach welchen mit dem bloßen Auge Ge-

der Sandkörner

genstände identifiziert werden, sollen auch hier als Maßstab der Wahrnehmung gelten. Dadurch wird ein Kontinuum zur natürlichen Welt gewahrt. Jedoch wird sich erweisen, dass es Wolff selbst nicht gelingt, diesen Anspruch in seinen Versuchen umzusetzen. Bevor er u.a. Kirschen, Seidenstoffe, Würmer und Samenflüssigkeit observiert, zudem alle diese Gegenstände als Beitrag zur ›Erkenntnis der Natur‹ versteht,22 wendet er sich dem Streusand zu: einer Materie, die schon deswegen im Hinblick auf die ›Figur und Proportion der Teile‹ schwer zu handhaben ist, weil sie keinen festen Körper hat, sondern nur als Aggregat lose gekoppelter Einzelelemente vorkommt. Für die Identifikation des Sandes ist der Aspekt der ›Verknüpfung‹ demnach irrelevant, ja, er kann überhaupt nicht berücksichtigt werden. Es erstaunt, dass Wolff nach seiner Darlegung der Richtlinien, die zu beachten sind, um systematisch und erfolgreich zu mikroskopieren, für den zuerst von ihm vorgenommenen und beschriebenen Versuch ausgerechnet eine Materie wählt, die das Ausgangskriterium der ›Figur und Proportion der Teile‹ nicht erfüllt. Wenn er dabei zunächst festhält, was er mit dem bloßen Auge sieht, nämlich trotz größter Anstrengung keine Unterschiede oder Abweichungen zwischen den einzelnen Sandkörnern, wird die Identifikation des Streusandes auf die Ebene der einzelnen Sandkörner und ihrer Gleichförmigkeit verlagert, überdies aber auch das bloße Auge in die Versuchsanordnung einbezogen. Dieses funktioniert hier nicht als Richtwert, den die Beobachtung zu bestätigen habe. Es soll vielmehr durch den mikroskopischen Einblick in die Gegenstände selbst modifiziert, nämlich zugleich belehrt und verändert werden.23 Die Wahrnehmung des bloßen Auges hat daher lediglich den Stellenwert der ersten Versuchsstufe; eines Ausgangspunktes. Sie zieht eine Grenze zur kleinsten technisch generierten Vergrößerung, die bereits beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Teilchen aufzeigt.

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»Durch das Vergrösserungs=Glaß war ein über die maassen mercklicher Unterscheid sowohl an der Grösse, als der Figur, auch in der übrigen Beschaffenheit. Einige waren zwey, drey, vier bis sechs mahl so groß als die anderen. Etliche, wiewohl wenige, hatten eine viereckichte Figur, die meisten waren gantz unordentlich und mehr lang

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als breit« (ebd., § 82: 303).

Bei der kleinsten Vergrößerung lässt sich auch auf der Ebene der einzelnen Sandkörner die Maßgabe der ›Figur und Proportion der Teile‹ bis auf »wenige«, die sich darin gleichen, dass sie »eine viereckichte Figur« aufweisen, nicht mehr ausmachen. Denn »die meisten waren gantz unordentlich und mehr lang als breit«. Nicht nur für den Streusand als lose gekoppelte Materie, sondern auch für die einzelnen Körner stellt sich das Identifikationskriterium als problematisch heraus. Unter der Linse verwandeln sich die Elemente, die dem bloßen Auge als gleichförmig und ununterscheidbar erschienen, in singuläre, durch keine formalen oder proportionalen Ähnlichkeiten charakterisierte Figuren. Aufgrund dieser Abweichungen lassen sie sogar einen Zweifel darüber aufkommen, ob sie überhaupt noch als dasselbe, nämlich Sand, bezeichnet werden können. Zumindest wird ihre Identifikation als einheitliche Materie in Bezug auf visuell wahrnehmbare Charakteristika in Frage gestellt. Bei einer weiteren Vergrößerung, womit eine neue Observationsstufe erreicht ist, werden andere Veränderungen registriert. Neben Bestimmungen der Oberflächenbeschaffenheit – durchsichtig, hell oder abgesprungen – lassen sich vor allem Merkmale der Form – länglich, rund oder klein – unterscheiden. Rhetorisch fällt demgegenüber der ständige Rekurs auf Vergleichsphänomene zur Herstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen auf. Damit verfährt die sprachliche Operation in gewisser Weise asymmetrisch zum Verständnis der wahrnehmbaren Beobachtung als Abzug aller Ähnlichkeit. Die Diversifikation der einzelnen Sandkörner schreitet voran, während sich die Sprache um Anbindung an Attribute bemüht, die an anderen Gegenständen mit dem bloßen Auge wahrgenommen werden können. Trotz des Bemühens um

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Die Ordnung

Präzision in der Beschreibung, entsteht hier jedoch keine sprachlich-visuelle Repräsentationseinheit. Zwischen den Referenten

der Sandkörner

der Beschreibung und diese selbst schiebt sich nämlich stets ein »wie« ein, welches auf einem unüberbrückbaren Abstand zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren beruht. Es gibt lediglich eine Annäherung. »Eines sehe aus wie ein gläsernes durchsichtiges Küglein, dergleichen man zu Vergrösserungs=Gläsern brauchet, in der Grösse eines Hiersen=Körnleins und konnte man dadurch den Reiffen in dem schwartzen Korne des Tellerleins sehen. Das andere Stücke war länglicht, wohl drey Diameter des rundten lang und helle wie ein Crystall, von der oberen Seite wie wenn es poliret, von der unteren aber als wenn etwas davon unordentlich abgesprungen wäre: oben sahe es nicht anders aus als wie Glaß, welches von der Nässe zerspringet und unzehlich viel Brüche bekommet, indem es warm ist und kaltes Wasser darauf gegossen. Von den übrigen beyden Theilen war das eine sehr klein und bey nahe sehr rund, das andere länglicht und von der einen Seite sehr spitzig. Beyde waren nicht durchsichtig, sondern sahen aus wie Stücklein Zucker, wenn die Körnlein etwas grob sind, oder auch durch ein schlechtes Vergrösserungs=Glaß nur ein wenig vergrössert werden« (ebd., § 82: 304).

Jede Bestimmung wird an vertraute und begrifflich abgesicherte Gegenstände gekoppelt, wodurch die abhanden gekommene Maßgabe der ›Figur und Proportion der Teile‹ zumindest sprachlich restatuiert scheint. Nicht nur für jedes einzelne Sandkorn, sondern für jedes seiner Merkmale wird mittels eines Vergleichs, mit zersprungenen Gläsern etwa, mit polierten Kristallen oder Hirsekörnern, eine bereits definierte und bekannte Form herangezogen. Ein Vorgehen, das allerdings selbst auf wackeligen Füßen steht, insofern die sichtbaren Merkmale der herangezogenen Vergleichsgegenstände unter einem Mikroskop Gefahr laufen, sich ebenso aufzulösen und unkenntlich zu werden wie diejenigen der Sandkörner. Wolff aber liefert eine Detailbeschreibung, die nicht der vollkommenen Diversität verfallen will und sich deshalb mit Hilfe von Ähnlichkeiten an Vertrautes bindet, gleichwohl aber die Unterschiede unumwunden festhält: »Man siehet hier-

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aus gar deutlich,« so Wolff weiter, »daß nicht alle Stäublein Sand von einerley Beschaffenheit sind« (ebd., § 82: 304f.). Indes nicht nur die Sandkörner untereinander, auch ein einziges Sandkorn weist Unterschiede in sich selbst auf. Bei der

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nächsten Vergrößerung zeigt es anstatt der zuvor glatten Oberfläche nun rauhe Stellen auf. Glatt und rauh bezeichnen haptische bzw. taktile Eigenschaften. Diese fallen gegensätzlich aus, je nach Art des Schliffs und der Stärke der Linse. Obwohl die Ausführung der mikroskopischen Observation dem Auge obliegt, nimmt sie auch auf Vorstellungen anderer Sinne Bezug, sofern sich diese wie die Glätte oder Rauheit visuell manifestieren. Nicht durch Berührung werden sie wahrgenommen, sondern durch eine Substitution im Gesichtssinn. Das mikroskopische Auge sieht eben nicht nur, es tastet seinen Gegenstand in gewisser Weise auch ab. Mit zunehmender Vergrößerung verliert der Sand nahezu alle ihm mit dem bloßen Auge zugewiesenen Eigenschaften: »Wir sahen demnach, daß die Sand=Stäublein«, fasst Wolff seine Beobachtung zusammen, »ihnen selbst ganz unähnlich« (ebd., § 82: 307) werden. Als Masse wie als einzelnes Korn gerinnt der Streusand zu einer Materie ohne sichtbare Konstanz. Soll er dennoch als Einheit beschrieben werden, kann dies ausschließlich mit bloßen Augen geschehen; denn nur so halten »wir für einerley […], was unterschieden ist« (ebd., § 82: 310). Die Linse des bloßen Auges und die variablen Linsen des Mikroskops bringen demnach unterschiedliche Figuren hervor, obwohl sie sich auf dieselbe Materie beziehen. Sie verunsichern damit die Bestimmung des Streusandes ebenso wie die des Sehens. Vor allem aber geben sie dem Konzept einer Beobachtung, die sich vornimmt, weniges systematisch zu sehen, eine besondere Wendung. Denn sie verlagern die Beobachtungsproblematik vom Gegenstand auf die Beobachtungstechniken, zu denen die Vergrößerungsgläser ebenso wie die bloßen Augen gehören, um dabei, und das ist entscheidend, deren Konstruktionseffekte offenzulegen. Oder anders formuliert: Die Beobachtung beobachtet sich selbst. Sie

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Die Ordnung

leistet dies systematisch, indem sie vom bloßen Auge ausgeht und dieses in der Folge mit immer leistungsstärkeren Vergröße-

der Sandkörner

rungsgläsern konfrontiert. Was sie hingegen auf der Ebene der Gegenstände sichtbar macht, ist nicht nur der Abzug jeglicher Ähnlichkeit, sondern auch eine allmähliche Auflösung visuell identifikatorischer Kriterien. Nur für die Wahrnehmung mit den bloßen Augen und die daran anschließende sprachliche Bezeichnung bildet der Streusand eine einheitliche Materie. Auch hier kommt zum Vorschein, dass die im Paradigma klassischer Repräsentation unterstellte Einheit zwischen Wahrnehmung und Sprache durch den Einsatz von Mikroskopen gestört wird, zeigen diese doch einen Gegenstand in unterschiedlichen Formen. Deren Divergenz aber wird vom sprachlichen Ausdruck, der sich ausschließlich, wie am Beispiel des Streusandes erkennbar, am Eindruck des bloßen Auges orientiert, nicht abgebildet. III. Brockes’ Der Sand 1727 erschien im zweiten Band von Brockes’ Zyklus Irdisches Vergnügen in Gott das Gedicht »Der Sand« (1970). Es teilt, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur motivische Korrespondenzen mit Wolffs zwei Jahre später erschienen Abhandlung. »So gar auf einem öden Lande Wo weder Baum, noch Strauch, noch Gras, Selbst in dem unfruchtbaren Sande Find’t ein betrachtend Auge was, In diesem schönen Welt=Gebäude, Zu GOTTES Ehr’ und eigner Freude« (ebd.: 251).

Mit dem Adverb »so gar« setzt Brockes’ Gedicht bereits zu Anfang der ersten Zeile einen programmatischen Akzent: Eine Steigerung, deren Vergleichsreferent hier ungenannt bleibt, und mit ihr ein Staunen. Entscheidend ist dabei, dass Staunen und Verwun-

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derung nicht als unhintergehbare Abschlusssignifikate figurieren, d.h. nicht als »Antonym von Aufklärung« (Matuschek 1991: 157), sondern als ihre Voraussetzung verstanden werden müssen. Sie stoßen Erkenntnis und Wissen überhaupt erst an, indem sie die

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Aufmerksamkeit auf jene Gegenstände richten, über welche keine klaren Begriffe herrschen. Zwischen dem »öden Lande« in der ersten und dem »unfruchtbaren Sande« in der dritten Zeile folgen mit »Baum«, »Strauch«, »Gras« Kontrastwörter, die die ersten drei Zeilen zu einer Verdichtung der Differenz von belebter und mehr abgestorbener als nur unbelebter Natur formen. Das adverbial markierte Staunen zu Beginn betont die Unwahrscheinlichkeit, dass auch in der Öde und Unfruchtbarkeit Entdeckungen »Zu GOTTES Ehr’ und eigner Freude« gemacht werden können. Die Erkundung dieser Unwahrscheinlichkeit bildet das zentrale Anliegen dieses Gedichtes. Im »betrachtend Auge«, seinem Protagonisten, wird die visuelle Wahrnehmung ausgezeichnet und so das die Naturforschung der Aufklärung leitende Sinnesorgan unterstrichen. Doch verweist das dem »Welt=Gebäude« vorangestellte Adjektiv in der vorletzten Zeile dieser Strophe, dass auch die Schönheit Ziel der Beobachtung sein müsse. Wissenschaftliche Naturerkundung und die Grundannahme, das »Welt=Gebäude« sei schön, knüpfen dabei eine besondere Beziehung. Beide werden als Phänomene des Auges bestimmt.24 »Auf! Lasset uns denn weiter gehen, Und GOTT zum Ruhm was sehn, auch wenn wir nichts fast sehn! Die Sandes=Körper selbst und Theilchen unsrer Erden, Sind ebenfalls ja wircklich Creaturen, Worin, wenn wir den Geist mit unserm Blick verbinden, Wir mancherley Vergnügen finden, Da, wenn sonst nichts zu sehn, doch allerley Figuren Von eingedruckten Spuren Im dürren Sande ja gefunden werden« (Brockes 1970: 251).

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Die Ordnung

Hat die erste Strophe vor allem ein Staunen inszeniert, so fängt die zweite mit einem Imperativ an: »Auf!«. Gegen den Widerstand

der Sandkörner

der Unwahrscheinlichkeit, auch das ›öde Land‹ und der ›unfruchtbare Sand‹ können als Zeugnis Gottes aufgefasst und in ihrem ästhetischen Wert anerkannt werden, fordert das Gedicht im Duktus einer Hypotypose: »Lasset uns denn weiter gehen«. Damit ist weniger ein Standortwechsel gemeint als eine gleichsam vertiefende Fortsetzung – »weiter« – dessen, was das ›betrachtende Auge‹ bis dato wahrgenommen hat. »GOTT zum Ruhm« wird hier sogar Unmögliches verlangt, nämlich »was sehn, auch wenn wir nichts fast sehn!«25 Auch die zweite Zeile wird grammatisch als Imperativ formuliert. Das Auge wird dadurch in der Funktion eines Sinnesorgans angesprochen, welches nicht nur passiv auf die Aufnahme bestimmter Reize angewiesen ist, sondern den vermeintlich unmöglichen Forderungen nachzukommen imstande ist. Es muss somit seine Fähigkeit unter Beweis stellen, dass es gegen den Anschein des »nichts« vorgehen kann. Eine Verschiebung von der Gegenstandsebene – die als ›schönes Welt-Gebäude‹ ontologisch ohnehin abgesichert ist – zum Beobachter erfolgt, dem eine Überschreitung der vertrauten Wahrnehmungsgrenzen abverlangt wird: Eine Umstellung auf die Ebene zweiter Ordnung, wonach jede Bezugnahme auf die Welt stets auch in Hinblick auf die Bedingungen des Beobachters beleuchtet werden muss. Was dieser sieht, ist nämlich nicht nur Eigenschaft der Welt, sondern auch Effekt seines Verfahrens, seiner Fähigkeiten. Auf diese Weise adressieren die beiden in den ersten zwei Zeilen enthaltenen Imperative, auch wenn sie sich an ›uns‹ wenden, letztlich die Kompetenz des ›betrachtenden Auges‹. Das Personalpronomen und das Auge fallen gleichsam in eins. Dieses ist das Instrument, dessen Gebrauch hier geübt und dessen Wahrnehmungsvermögen sensibilisiert werden soll. In der dritten Zeile werden aus dem zuvor genannten ›unfruchtbaren Sand‹ nun »Sandes=Körper«. Damit ist eine analytische Betrachtung markiert, durch welche eine Substanz in ihre Bestandteile zerlegt wird. Die »Sandes=Körper« werden jedoch

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einer weiteren Transformation unterzogen, indem sie, nahezu unmerklich, aus dem semantischen Register der Unfruchtbarkeit als »wircklich Creaturen« in das der Creatio, mithin Schöpfung, Zeugung, des Lebens also, eingetragen werden. Dieser semanti-

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schen Verschiebung entspricht ein Zugewinn an visueller Wahrnehmung. Denn dort, wo »wir nichts fast sehn!«, kann Sichtbares hervortreten, »wenn wir den Geist mit unserm Blick verbinden«. Der analytischen Zerlegung des Sandes in »Sandes=Körper«, womit ein wissenschaftlicher Modus bezeichnet ist, folgt in der fünften Zeile, die zugleich die Mitte der Strophe markiert, eine weitere Spezifikation des Sehens: Die sinnliche Wahrnehmung muss sich mit dem ›Geist verbinden«. Unter dieser Voraussetzung können die »Sandes=Körper‹ als Bestandteil der Schöpfung, als »Theilchen unsrer Erden« zum Vorschein kommen. Bedeutet dies aber im Umkehrschluss, dass auch im Sichtbarmachen und -werden Lebendiges entsteht? Zum Ende dieser Strophe kehrt zwar im »dürren Sande« die Metaphorik der Leblosigkeit wieder, sie führt jedoch unmittelbar zu den Spuren: »wenn sonst nichts zu sehn, doch allerley Figuren / Von eingedruckten Spuren ja gefunden werden«. Hier interessiert der Sand als Einzeichnungsfläche für vielfältige Spuren, die ihrerseits vielfältige Figuren ermöglichen und zeigt so den Umschlag auf, durch welchen auch im ›öden‹ und ›unfruchtbaren‹ Sand sich Lebendiges einen Ausdruck verschafft bzw. einen Abdruck hinterlässt. Die Spur deutet zumindest auf eine vergangene Anwesenheit derjenigen Figuren, deren Abdrucke jetzt noch sichtbar sind. »Die Kleinheit, Festigkeit, die Klarheit, Glätt’ und Ründe, Die ich in manchem Sand=Korn finde, Wodurch sie sich nicht gantz verbinden können, Und eben dadurch allem Saft Vom Regen oder Thau, zu der Gewächse Kraft, Den Aufenthalt und Durchgang gönnen, Ist ja Bewunderns=werth. Noch mehr, da sie vereint,

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Die Ordnung

Und doch nicht gantz, (indem sie sonst versteint,) So können sie den Pflantzen nützen,

der Sandkörner

Den Wurtzeln Raum, sich auszubreiten, geben« (ebd.: 251f.).

Eine erneute Fokussierung auf die einzelnen Sandkörner folgt, ihre »Kleinheit, Festigkeit, die Klarheit, Glätt’ und Ründe« wird herausstellt. Es handelt sich nicht um jene Merkmale, die Wolffs letzte mikroskopische Observationsstufe freigelegt hat, sondern solche, mit denen sich die in den folgenden Zeilen beschriebene Funktionalität des Sandes erklären lässt: Die genannten Attribute verhindern eine Verbindung der einzelnen Körner zu einer undurchdringlichen Einheit. Der Sand bleibt porös, obschon er zugleich durch eine gewisse Dichte, »[…] vereint, / Und doch nicht gantz, (indem sie sonst versteint,)« charakterisiert ist. Dieser Zustand ermöglicht, das Regenwasser »zu der Gewächse Kraft« zu leiten und gibt den »Wurtzeln Raum, sich auszubreiten«. Er erzeugt einen »bewunderns=werthen« Mechanismus. Dieselbe lose Konsistenz, die den Sand dazu befähigt, wechselnde Spuren in sich aufzunehmen, wird nunmehr mit einem handfesten Nützlichkeitsargument26 verbunden und zum Faktotum des ökologischen Systems erklärt. Während hier der Sand noch aus einer Distanz betrachtet wird, die ihn als Konglomerat mehr oder weniger gleichförmiger Elemente erscheinen lässt, führt bereits die nächste Strophe den Blick näher an die einzelnen Körner heran, um ihre Unterschiede im Einzelnen zu benennen. »Ich nahm hierauf ein Häuflein Sand, Betracht’ es genau, und fand Den Unterschied, daß er nicht mancherley, Nein, in der That unzählig sey. Ich konnte tausend Form= und Ecken Auch an dem kleinsten Sand entdecken. Theils sind die Körner lang, theils rund, theils groß, theils klein,

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Theils schwartz, theils braun, theils gelb, theils grau, Theils röthlich, weißlich theils, theils blau, Es sind die meisten dicht und dunckel, viele helle, Durchsichtig, gläntzend, rein.

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Ich wurd’ auf mancher Stelle Verschiedener, die, wie Krystall so klar, Mit Lust und mit Verwunderung gewahr« (ebd.: 252).

Im Vergleich zu den Attributen der vorangegangenen Strophe zeigt die »unzählig« sich vervielfältigende Feinstruktur einen Moduswechsel auf. Die Differenzierung der Sandkörner in Größe, Form und Farbe, ihre ungleiche Oberflächenbeschaffenheit, ihre Lichtundurchlässigkeit oder kristalline Klarheit können mit bloßem Auge nicht wahrgenommen werden. Ohne hier explizit auf mikroskopische Vergrößerung Bezug zu nehmen, schreibt Brockes diese seinem Gedicht dennoch ein und knüpft sie, nach der adverbialen Markierung der Überraschung in der ersten Zeile und über ein später genanntes ›bewundernswert‹, nun an die »Verwunderung« an. Er bezieht hier den impliziten Verweis auf das optische Instrument und den rhetorischen Topos der admiratio aufeinander.27 In der letzten Zeile dieser Strophe nennt er die »Verwunderung« unmittelbar mit »Lust« zusammen und schafft so eine enge Beziehung – gemäß der prodesse et delectare-Losung –, wonach das Erleben des ›betrachtenden Auges‹ nicht in der didaktisch motivierten Erforschung allein, sondern auch in einer lustvollen Wahrnehmung der »Verwunderung« sein Ziel findet. Die Inkommensurabilität der Sandkörner wie das Fehlen von Merkmalen, mit welchen sich ihre Verwandtschaft visuell erfassen ließe, rufen in der Dichtung eine lustvolle »Verwunderung« hervor. Sie ist der Ort, an dem eine solche Beobachtung kein logisches Problem bereitet. Im Vergleich zu Wolffs Observation des Streusandes, die ebenfalls auf die Feststellung einer Divergenz zwischen den einzelnen Körnern hinausläuft, deutet sich dennoch ein Unterschied der Systemreferenz ab. Brockes’ Gedicht verfolgt

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Die Ordnung

– als poetisches ›Werk‹ – ein anderes Ziel in und mit seiner Darstellung als Wolffs wissenschaftliche Schilderung.

der Sandkörner

Die »Verwunderung« nimmt das grammatisch angedeutete Staunen der ersten Gedichtzeile wieder auf. Sie entsteht hier im Zusammenhang mit einer Beobachtung des ›betrachtenden Auges‹, das sich zwar auf einen höchst alltäglichen Gegenstand bezieht, nämlich Sand, diesen jedoch auf eine befremdliche Weise erblickt: Sie evoziert »Verwunderung«. Diese ist also kein Charakteristikum des Gegenstandes, sondern zuallererst der Perspektive bzw. Form der Beobachtung. »Was ist die schöne Kunst der edlen Mahlerey, Die guten Theils aus Farben nur bestehet, Und diese wiederum aus Sand und Erden? Wodurch jedoch die schönsten Bilder werden. Denn das, was unser Aug’ erfrischt Auf solche wundersame Art, Ist bloß ein wenig Sand mit Oel gemischt, Ist so unglaublich dünn und zart, Daß, wenn man es vom Tuche trennen wollte, Man es für cörperlich kaum halten sollte« (ebd.: 253).

Im Unterschied zu seiner Beschreibung als Trägermedium, dem sich Spuren als erkennbare Figuren einzeichnen, wird der Sand jetzt zum Bestandteil eines Vorgangs, »wodurch die schönsten Bilder werden«. Er ist nicht nur medialer Träger, er ist auch Aufgetragenes, nicht nur aufnehmende Substanz, sondern auch Element der Farbgebung, eine gestaltende Substanz also. Indem das Gedicht den Sand zunächst als Hintergrund von ›eingedruckten Spuren‹ einführt, dann seine Funktion, Regen- und Tauwasser zu den Pflanzenwurzeln weiterzuleiten, und schließlich seine gestaltende Effizienz als Farbe pointiert, vollzieht es eine Umdeutung von passiver zu aktiver Bestimmung, vom Negativ der Spur

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zum Positiv der Farbgebung. Von bloßer Aufnahme, über Kanalisierung bis zur Hervorbringung eines Gemäldes. Eine weitere paradigmatische Achse dieses Gedichtes entsteht, wenn der Sand in der ersten Zeile als ›ödes Land‹, d.h. als

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ein ebenso kompakter wie großer Ausschnitt der Natur, in der zweiten Strophe nur noch als ›Sandeskörper‹ und ›Teilchen unsrer Erde‹ bezeichnet wird, um zum Ende des Gedichts eine solche Feinheit zu erlangen – »so unglaublich dünn und zart« –, dass er sich kaum mehr als materieller Körper28 identifizieren lässt. Zum einen der mikroskopischen Vergrößerung analog, wird der Sand hier immer minutiöser und elementarer zergliedert, zum anderen jedoch, in gewisser Weise einen mikroskopischen Topos modifizierend, verbindet er sich aufgrund seiner Feinheit unauflösbar mit dem »Tuche«, d.h. mit der Leinwand und damit dem Gewebe, auf das er als Ölfarbe aufgetragen wird: »wenn man es vom Tuche trennen wollte, / Man es für cörperlich kaum halten sollte«. Im Gewebe ist aber nicht allein ein Stück Stoff semantisch erfasst: Indem es die deutsche Übersetzung von Textur impliziert,29 wird es vielmehr auch als Verweis auf eine, wenn nicht sogar die mikroskopische Zentralkategorie des 18. Jahrhunderts lesbar. Mit Hilfe eines sehr konkreten mimetischen Beschreibens stößt das Beschriebene hier paradoxerweise an die Grenzen seiner mimetischen Identifizierbarkeit. Denn von dem öden, unfruchtbaren Land über seine Verlebendigung als ›wirkliche Kreatur‹ bis zu seiner Beimischung in Ölfarben und sein Gewebewerden funktioniert der Sand, wie auch bei Wolff, als Referent einer visuellen Transformation. Im sprunghaften Wechsel der Zustände kommt so der Beobachtung ihr Gegenstand im Sinne einer mit sich selbst identischen Einheit abhanden. Einerseits aufgrund seiner losen Zusammensetzung aus einzelnen Körnern, andererseits aufgrund seiner Abhängigkeit von den Formen der Beobachtung konstituiert die Wahrnehmung und Darstellung des Sandes einen Wandel. Am ›Privileg der Sehkraft‹ halten beide Autoren fest. Beide

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Die Ordnung

aber problematisieren es auch. Der Naturforscher Wolff legt die Kontingenz sichtbarer Merkmale offen und setzt sie in Beziehung

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zu den jeweils verwendeten Vergrößerungsgläsern. Auf diese Weise schafft er zumindest auf der Ebene der verwendeten Instrumente eine systematische Ordnung. Der Dichter Brockes zeigt in mehreren paradigmatischen Ordnungen des Gedichtes, welche Veränderungen ein ›betrachtendes Auge‹ registrieren und selbst hervorrufen kann, wenn es seine Aufmerksamkeit auch auf das Unscheinbare richtet. Dass dieses jedoch überhaupt einer Betrachtung für wert befunden wird, hängt nicht zuletzt mit der Bedeutung mikroskopischer Versuche zusammen,30 haben sie doch erst bewiesen, dass die Gegenstände durch Vergrößerung bzw. jegliche perspektivische Veränderung gänzlich andere Eigenschaften sichtbar machen können, als sie das bloße Auge wahrnimmt. Anmerkungen 1 Seit der Studie von Langen (1934) gilt als Topos, dass die Semantik der Aufklärung vom optischen Wortfeld geprägt ist, indem sie solche Ausdrücke wie Gesicht- oder Standpunkt etabliert. 2 Descartes’ Skepsis gegenüber den Wahrnehmungssinnen ist diesbezüglich paradigmatisch. Des Weiteren ist zu bedenken, dass das 17. Jahrhundert mit Keplers folgenreicher Umstellung von der Katoptrik zur Dioptrik den Sehvorgang physikalisch und physiologisch als eine Operation versteht, welche sich nicht über Abbildungsprozesse ereignet, sondern durch eine komplizierte Reiz-Reaktions-Interaktion zwischen Licht und Auge entsteht. 3 Oder anders, mit der Eingangsthese von Utz (1990: 19) formuliert: »Wenn die Sinne einzeln auf ihre Leistung befragt werden, kann ihre Einheit höchstens noch nach dem Modell der Arbeitsteilung gedacht werden.«

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4 Zum Begriff und Status der empirischen Tatsache im 17. Jahrhundert vgl. Daston/Park 2002: 279ff. 5 Bezug nehmend auf den französischen Juristen Jean Domat führen Daston/Park (2002: 280) aus: »›Bei Fakten [faits],

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die geschehen oder nicht geschehen könnten, abhängig von Ursachen, deren Wirkungen ungewiß sind, folgt nicht aus sicheren und unveränderlichen Prinzipien, daß man weiß, was geschehen ist.‹ In Ermangelung von Prinzipien und Beweisführungen mußten die Juristen und Naturforscher, die Fakten vertrauten, sich auf die Wahrnehmung, die Erinnerung und das Hörensagen von Zeugen verlassen – allesamt notorisch unzuverlässige Quellen der Wahrheit.« 6 Zwar reicht die technische Erfindung des Mikroskops bereits ins 16. Jahrhundert zurück, dennoch erfolgt eine systematische Erkundung seiner Möglichkeiten auf dem Gebiet der Naturforschung erst hundert Jahre später. Seit dem 17. Jahrhundert hat die Mikroskopie eine Konjunktur, die im 18. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreicht. Vgl. zur Mikroskopie des 17. und 18. Jahrhunderts: Stafford 1993; Wilson 1995; Founier 1996. 7 »Dabei war das Hörensagen ausgeschlossen, aber auch der Geschmack und der Geruch waren ausgeschlossen, weil sie mit ihrer Ungewißheit, ihrer Variabilität keine Analyse in getrennte Elemente gestatten, die allgemein akzeptabel wäre. Es handelt sich um eine sehr enge Begrenzung des Tastsinns auf die Bezeichnung einiger, ziemlich evidenter Oppositionen (wie jene des Glatten und des Rauhen)« (Foucault 1971: 174). 8 Die Frage nach der Verwandtschaft zwischen den Eindrücken beider Sinne wird in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts intensiv diskutiert. Besonders im Anschluss an Molyneux’ Frage, ob ein Blindgeborener, dem als Erwachsener das Sehvermögen gegeben würde, dazu in der Lage sei, auf der Grundlage der Tasteindrücke auch die sichtbaren Formen richtig zu erkennen – eine Frage die er John Locke gestellt hat –, entsteht eine umfassende Debatte, in welcher die Beziehung beider

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Sinneswahrnehmungen hinsichtlich ihrer Unterschiede und Überschneidungen ausgelotet wird. Daran wird deutlich, dass die von

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Foucault hervorgehobene Verbindung von Sehen und Tasten in der Naturforschung des 17. und 18. Jahrhunderts auch eine sinnesphilosophische und epistemologische Ausrichtung hat. 9 Mit G. Révész‘ (1950) sowie den Arbeiten von James Jerome Gibson (1962/66) hat sich in der Psychologie die begriffliche Unterscheidung zwischen Haptik im Sinne eines aktiven motorischen Systems und Taktilität im Sinne eines passiven sensorischen Systems durchgesetzt. Diese Unterscheidung gilt auch heute noch. Vgl. dazu Martin Grunwald (2001: 9f). An den Texten des 17. und 18. Jahrhunderts lässt sich diese Begriffsabgrenzung allerdings noch nicht nachvollziehen. 10 In dieser Weise, d.h. als in die Textur der Gegenstände eindringend (penetrate), beschreibt John Locke (1988: 376) das »mikroskopische Auge«. 11 Der von mir hier ausgewählte Text von Wolff ist insoweit einschlägig und vorbildlich, als sich Zedlers Universal-Lexikon in seinem Artikel über Vergrößerungsgläser vielfach auf ihn bezieht. Vgl. Lothar Müller (1987: 174). 12 Diese Desorientierung hing überdies mit den technischen Voraussetzungen zusammen. »It has been established experimentally that the optical image of seventeenth-century microscopes suffered to such an extend from various optical defects that illusory images were observed by some microscopists, for example Athanasius Kircher’s famous reference to the worms in the blood of feverish people« (Founier 1996: 35). 13 »So angeordnet und verstanden, hat die Naturgeschichte als Bedingung ihrer Möglichkeit die gemeinsame Zugehörigkeit der Sachen und der Sprache zur Repräsentation. Sie existiert aber als Aufgabe nur insoweit, als die Dinge und die Sprache getrennt sind. Sie wird also jene Distanz reduzieren müssen, um die Sprache dem Blick sehr nahe zu bringen und die betrachteten Dinge möglichst in die Nähe der Wörter zu rücken. Die Naturge-

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schichte ist nichts Anderes als die Benennung des Sichtbaren« (Foucault 1971: 173). 14 Dieses Verfahren überschneidet sich mit der Beschreibung von Kuriositäten: »Die Beschreibung seltsamer Tatsachen

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stellte hohe Anforderungen an sprachliche Mittel und neigte zu vielfacher Analogiebildung, bei der die Merkwürdigkeit in ein Mosaik einzelner Eigenschaften zerlegt wurde, die dann stückweise wieder zu Elementen der vertrauten Erfahrung in Beziehung gesetzt wurden« (Daston/Park 2002: 274). 15 Dagegen Foucault (1971: 175): »Das Mikroskop ist nicht zur Überschreitung der Grenzen des fundamentalen Gebiets der Sichtbarkeit herangezogen worden«. In diesem Sinn argumentiert auch Dietmar Schmidt (2001: 161ff). Mein Interesse gilt hingegen nicht der episteme der Repräsentation, die in einem Text nachgewiesen werden soll, sondern dem Text selbst. 16 Vgl. dazu Christian Wolff (1982). Die Beschreibung erfolgt in den §§ 74-80, wo das Musschenbroecksche (§ 76-77), das Teuberische (§ 78) und das Leutmannische (§ 79) Vergrößerungsglas vorgestellt werden. 17 Anders formuliert: »Diese methodische Reflexion, die die ›Stärkung des Gesichts‹ als Nebeneffekt intensivierter Beobachtungspraxis erkennt, setzt die Unterscheidung zwischen physischer und kultureller Dimension des Sehens voraus. Wolff ist nicht so naiv anzunehmen, daß beim Blick durch das Mikroskop das Sehorgan geschärft wird. Nicht das Auge selbst, sondern die ›Aufmerksamkeit‹ des Sehenden wird geschärft, wenn das bloße in die Schule des bewaffneten Auges geht« (Müller 1987: 175). 18 Sie ist eine Operation, die von dem richtigen Zeitpunkt abhängt, der einen Gegenstand in der für die Beobachtung entscheidenden Form sichtbar macht. »Man siehet hieran, daß, wo man solche Kleinigkeiten genau beobachten will, vieles unterweilen auf das blosse Glücke ankomme, und man demnach dasselbe abwarten muß, indem man mit observiren anhält und nach einem Dinge mehr als einmahl siehet« (Wolff 1982, § 92: 384).

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19 Carsten Zelle (2001: 173f) hält – auf Walchs Philosophisches Lexikon von 1726 und 1775 Bezug nehmend – fest, dass

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hier »zwei Erfahrungsmodi unterschieden [werden], und zwar ›Wahrnehmung‹, ›Beobachtung‹ bzw. ›Observation‹ einerseits, das ›Experiment‹ andererseits. Jene Art der Erfahrung, d.h. Wahrnehmung, Beobachtung bzw. Observation, besteht in der Empfindung einer Sache, die ohne unsere Mühe wirklich ist«, wie z.B. die Wahrnehmung des Mondes, sei es ohne (Modus vulgaris) oder mit Hilfe bestimmter Instrumente, wie z.B. eines Fernglases (Modus artificialis). Diese Art der Erfahrung dagegen, d.h. Experiment bzw. Versuch, beruht auf der Empfindung einer Sache, »welche nur durch unsern Fleiß und Mühe wirklich wird«. 20 Die ausführlichen Detail- und Funktionsbeschreibungen der Geräte werden zudem von Illustrationen begleitet, welche sich im Anhang des Buches finden. 21 Der Titel hebt die aktive Beteiligung der Vergrößerungsgläser hervor, indem diese ausdrücklich etwas »zeigen« und nicht lediglich sichtbar machen. 22 Ich beziehe mich auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts und damit auf eine Epoche, die noch keinen Begriff vom organischen Leben im Sinne einer autonomen Kategorie kannte. Die Naturforschung des 18. Jahrhunderts umfasst hingegen Minerale ebenso wie Pflanzen und Tiere (vgl. Foucault 1971: 207). 23 »Ich erinnere nur noch dieses überhaupt, daß, wenn man einmahl einen Sache durch das Vergrösserungs=Glaß genau betrachtet, man nach diesem auch mit blossem Auge vielen Unterscheid wahrnimmet, den man vorher nicht erwogen« (Wolff 1982, § 82: 311). 24 Sie lassen sich auch als Hinweis auf die Differenz zwischen Naturforschung und Ästhetik im Sinne von Aisthesis lesen, und zeigen daher auf »ein[en] Sprung, ein[en] Diskurswechsel im Diskurs, zwischen der dargestellten Wahrnehmungsfülle und -intensität […] einerseits, der physikotheologischen Argumentation andererseits« (Preisendanz 1994: 481).

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25 Solche Textstellen machen deutlich, dass eine exemplarische Auslegung der Dichtung Brockes’ nach der diskursanalytischen Definition der Repräsentationsepisteme, wie sie etwa Ulrich Kinzel (1995) vornimmt, nicht aufgeht. So ist zwar unbestrit-

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ten, dass sich Brockes hinsichtlich der Beobachtung, Beschreibung und Einteilung der Naturgegenstände von Autoren an der Schwelle zum 19. Jahrhundert grundlegend unterscheidet. Ob sich diese Unterschiede jedoch auf die Formeln zurückführen lassen, reibungslose Kontinuität zwischen dem Sichtbaren und Sagbaren in der Frühaufklärung und Intransparenz dieser Beziehung zum Ende des 18. Jahrhunderts, ist fraglich. »Bei Brockes folgte die Belehrung direkt und übergangslos auf das Sagen dessen, was gesehen worden war. Goethe muß dagegen versuchen, nicht allein das Sichtbare, sondern vor allem dessen Hinweisfunktion für das Nicht-Sichtbare zu vermitteln« (ebd.: 98). Nicht zuletzt die Kategorie des Wunderbaren, des Bestaunenswerten indiziert die Grenzen eines solchen Kontinuums zwischen der Sicht- und Sagbarkeit, führt sie doch gerade auf die Unwahrscheinlichkeit sowohl des Sichtbaren als auch des Sagbaren und deren Korrespondenz hin. 26 Vgl. Zelle 1990: 235. 27 Martina Wagner-Egelhaaf (1997: 205) beschreibt Brockes’ Dichtung als eine Gleichzeitigkeit bzw. »diskursive Nähe des naturwissenschaftlich-technischen Perspektivenwechsels, den die Erfindung der optischen Instrumente mit sich brachte, und der in Frage stehenden rhetorischen Funktion«. Und weiter: »Dieser Befund will als Plädoyer dafür verstanden werden, das literaturgeschichtliche Bild von Barthold Heinrich Brockes nicht länger aufzuspalten in einen noch-barocken rhetorischen Brockes, der im Interesse des literaturgeschichtlichen Progresses nicht mehr zu interessieren braucht, und in den fortschrittlichen, zukunftsweisenden Brockes, dessen Aufgeschlossenheit gegenüber den modernen Wissenschaften im Sinne eines frühen Realismus vor den Augen der Literaturhistoriker Gnade zu finden pflegt. Das Ei-

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ne ist ohne das Andere bei Brockes nicht zu haben, sein naturwissenschaftliches Wahrnehmungsinteresse ist mit den Mitteln

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der Rhetorik ins Werk gesetzt, wie umgekehrt die Rhetorik ein Bewußtsein von der medialen Bedingtheit von Wahrnehmung und Erkenntnis schafft« (ebd.: 213f.). 28 Darin findet sich ein Charakteristikum von Brockes’ Naturlyrik, wie Günter Peters (1993: 139f) herausarbeitet, indem er eine Hervorhebung des ästhetischen und theologischen »Scheins« sowie, damit einhergehend, eine »Verklärung der Körper« beobachtet. 29 So spricht auch schon John Locke (1988: 376) von Texturen. 30 »War bis zum 17. Jahrhundert der Mikrokosmos gleich bedeutend mit dem Menschen. So erzwang der neue Blick durchs Mikroskop offenbar eine Revision. Das optische Gerät erschloss einen neuen Raum, eine neue Wirklichkeit, die sich ›unterhalb‹ der anthropomorphen Dimension erstreckte. Die ›kleinen Welten‹ waren fortan jene subhumenen Partikel, Lebewesen und Strukturen, die vor der Erfindung des Mikroskops unsichtbar geblieben waren« (Schmidt 2002: 9). Literatur Brockes, Barthold Heinrich (1970): »Der Sand«. In: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch und Moralischen Gedichten, nebst einem Anhange verschiedener dahin gehöriger Uebersetzungen. Zweiter Teil, Nachdruck der 4. Aufl. von 1735, Bern: J.C. Kißner. Daston, Lorraine/Park, Katharine (2002): Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750, Frankfurt/Main: Eichborn. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Founier, Marian (1996): The Fabric of Life. Microscopy in the Seventeenth Century, Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press.

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Fiktive Wahllosigkeit. Die Kunst der Orientierung in J.L. Borges’ »Garten der Pfade, die sich verzweigen« Torsten Hahn

Dem vorliegenden Beitrag ist daran gelegen, das Fiktive/die Fiktion unter der leitenden Perspektive von Wahl/Selektion zu beobachten. Dies geschieht anhand eines Textes, der zu den Klassikern moderner lateinamerikanischer Literatur gehört: Jorge Luis Borges’ Der Garten der Pfade, die sich verzweigen / El jardín de senderos que se bifurcan (1941/44). So wie jede Beobachtung gezwungen ist, gemäß ihrer Vorgabe eben etwas und nicht etwas anderes zu beobachten, werden auch in folgender Analyse blinde Flecken erzeugt, die sich u.a. im Ausfall von Fragen nach dem Zusammenhang von Text und Werk bzw. Text und Kontext, Gattung und Gattungsgeschichte oder möglichen Quellen der Erzählung bzw. ihrer Intertextualität zeigen. Stattdessen wird (1.) mit dem Spielbaum die Möglichkeit einer Anschreibung des Fiktiven eingeführt, das stets aus jeder Wahl resultiert. Dann soll (2.) gezeigt werden, inwiefern Literatur parallel zu den sich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs etablierenden Steuerungswissenschaften beginnt, das Paar Redundanz/Varietät als ihre basale Form zu beobachten. Zentral ist mir also an der Darstellung einer Form der Interferenz von systemverschiedenen Konzepten der aktuellen und möglichen Selektion gelegen, die vom Gebiet der Fiktionen/Ficciones aus be-

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obachtet wird. Die Fiktion zeigt sich als Modus des Potentiellen, der aber beginnt, die Bedingung seiner Möglichkeit zu thematisie-

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ren. Abschließend (3.) soll es darum gehen zu zeigen, inwiefern aus der Negation des Kontingenten, also desjenigen, was nicht nur jeder Wahl vorausgeht, sondern sie auch auszeichnet, jene Phantastik resultiert, für die die lateinamerikanische Literatur lange Zeit berühmt war. Aus der Transformation der Welt (des Krieges) in ein Spiel mit vollständiger Information, also eines, in dem der Gegner über jeden vorhergehenden Zug des Spielers informiert ist, entspringt ein Feind, dessen Handlungen ebenso determiniert wie zufällig, d.h. grundlos sind: ein Paradox als fiktive Figur. Im Abgleich mit dem Reich der Fiktionen, von dem Borges’ Erzählung wiederum erzählt, entsteht so eine Geschichte, deren Thema eine Berührung und partielle Überschreitung der Grenze ist, die auch dem weitgefasstesten Möglichkeitsraum, als der die Fiktionen des Gartens bestimmt sind, gesetzt ist. Eine Welt ist in der Moderne auch der Fiktion, die stets auf Selektionen beruht, verschlossen: die einer Gegenwart, für die »Zukunft« nur Redundanz meint. 1. gewinnen/verlieren »Der Krieg«, räsoniert Carl von Clausewitz, »ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse« (Clausewitz 1996: 34). Aus dem Ausschluss dieses Fremdlings würde im besten Fall die Möglichkeit einer Situation resultieren, in der der Krieg bereits »auf dem Papier« (ebd.: 50) entschieden wäre, bevor er begonnen hat – und zwar auf Grundlage der gewählten Strategie bzw. der Kenntnis der vom Gegner gewählten Strategie. Einem ungestörten Gang der Ereignisse, deren Eintritt dann eine reine Formsache bedeutete, stünde dann, so scheint es, nichts mehr

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im Wege. Der ideale Krieg wäre insofern eine reine Realisierung dessen, was sich zuvor in Planspielen als erfolgversprechendstes Kalkül erwiesen hatte. Die Beschreibung von Modellen des Konflikts unter ver-

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schiedenen – und d.h. auch: im Sinne des ausgeschlossenen Zufalls idealen – Bedingungen ist dann bekanntlich Teil der übergreifenden Spieltheorie geworden, die als »mathematisch-kybernetische Theorie zur Auswahl optimaler Verhaltensweisen von Systemen aus der Menge der möglichen Verhaltensweisen in Konfliktsituationen« (Klaus 1968: 598) definiert ist. Der Begriff der Strategie findet dann folgende Definition: »Wir wollen uns jetzt«, so John von Neumann/Oskar Morgenstern, »vorstellen, dass jeder Spieler k = 1, ···, n die Entscheidung über jeden Zug nicht erst dann trifft, wenn die Notwendigkeit dafür vorliegt, sondern daß er sich über sein Vorgehen bei allen möglichen Situationen vorher schlüssig wird; d.h. dass der Spieler k mit einem vollständigen Plan zu spielen beginnt: einem Plan, der angibt, welche Wahl er zu treffen hat in allen nur möglichen Situationen, für jede nur mögliche wirkliche Information, die er in diesem Augenblick im Einklang mit dem Informationsschema, das die Spielregeln für diesen Fall vorsehen, besitzen kann. Einen derartigen Plan nennen wir eine Strategie« (v. Neumann/Morgenstern 1961: 79).

Im Gegensatz zum Extremfall der Auseinandersetzung ist in der Simulation die Welt des Möglichen begrenzbar – dank der Spielregel, die den Zufall schlicht wegdefinieren kann. Graphisch lässt sich die Situation dann im topologischen Modell als Spielbaum darstellen (Abb. 1). Diese Verästelung legt den möglichen Verlauf verschiedener Partien offen. In Spielen mit vollständiger Information,1 wie etwa Schach, weiß der Spieler, der eine Entscheidung treffen muss, auf welcher Höhe er sich befindet und welche Verzweigungsstelle durch den Spielverlauf aktualisiert wurde, d.h., er kennt alle vorangegangenen Züge.

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Abbildung 1

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Aus: McKinsey, J.C.C. (1952): Introduction to the Theory of Games. New York: McGraw-Hill: 102.

Im Begriff der Strategie ist dann in dieser Hinsicht ein Plan gemeint, »der für jede Verzweigungsstelle die Wahl einer genau bestimmten Strecke vorgibt« (Klaus 1968: 592). Die Offenheit des Spielverlaufs weicht so einer stetig reduzierten Situation »unbestimmter Beliebigkeit«, was den Informationswert jedes Zuges für die gegnerischen Spieler zunehmend einschränkt. Die Situation verengt den Möglichkeitsraum vom ersten Zug an zunehmend, bis ein unausweichliches Ende produziert wird. Hat ein Spiel einen Sattelpunkt, lässt sich also eine optimale Strategie für das Spiel entwickeln, droht das Spiel, wie z.B. ticktacktoe, schlicht langweilig zu werden: Der Überraschungswert einer Wahl/eines Zuges ist zu stark eingeschränkt (McKinsey 1952: 126). Sofern die Spielregeln den Zufall/Spieler 02 ausschließen, nimmt das Maß der Information, das an dem Überraschungswert eines Zuges/einer Wahl orientiert ist, also idealiter stetig ab, sofern sich zwei rational operierende Systeme mit gleicher Ausstattung gegenüberstehen. Je höher im Spielbaum eine Wahl getroffen werden muss, desto erkennbarer wird (bei Spielen mit vollständiger Information) die Strategie des Gegners, desto weiter nehmen die Möglichkeiten ab, taktisch zu operieren, also sekundäre oder tertiäre Ziele zu verfolgen oder vorzuschieben, die vor allem dem

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»Erweitern des Aktionsbereiches« (Ducrocq zit. nach Klaus 1968: 639) dienen, aber nicht direkt auf den verfolgten Zweck verweisen, und so verstärkt informativ wirken können. Die Möglichkeit des Übergewichts der Strategie resultiert aus

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der Reduktion der Rahmenbedingungen: Die Spielregeln manipulieren den Möglichkeitsraum, indem sie, je nach Art des Spiels, mehr oder weniger Zufallszüge ermöglichen. Gerade die Anwesenheit des »Spielers 0/fiktiven Spielers« scheint wieder zurück zu der Realität zu führen, wie sie Clausewitz für die reale Auseinandersetzung bestimmt – und in der jedes strategische Kalkül gestört werden kann. Diese Spiele enthalten insofern mehr Welt, scheint es, als sie mehr Varietät zulassen. Zugleich zeigen sie auch, inwiefern Plan und Zweck im Sinne Clausewitz’ störungsanfällig sind: Der Zufall ist die Störung, die für das beteiligte System hohen Informationswert hat, indem sie stets neue Situationen schafft, die sich als solche der vollständigen Kalkulation entziehen. Für das Agieren in der Welt kann dies bedeuten, dass von »Steuerungshandeln« – der Verfolgung einer Strategie zur Realisierung eines Zweckes – besser Abstand genommen wird. Niklas Luhmann fasst dies folgendermaßen zusammen: »Wer einen Zweck in die Welt setzt, muss dann mit dem Zweck gegen die Welt spielen – und das kann nicht gut gehen oder jedenfalls nicht so, wie er denkt« (Luhmann 1988: 330). Einen einmal gefassten Plan unflexibel unter Bedingungen durchführen zu wollen, die Zufallszüge zulassen, heißt, unangemessen zu handeln bzw. ein Rationalitätskalkül zu verfolgen, das der Komplexität der Welt nicht gerecht wird. Eine (selbst kontingente) Entscheidung zu einem Handeln, das sich selbst als vollständig determinierter Ablauf begreift und sich so der Möglichkeit zu wählen begibt, scheitert gewöhnlich an seiner eigenen Prämisse. Ein solches Spiel wäre dann wohl ökonomisch unergiebig oder politisch fatal zu nennen, nur eines könnte man ihm wohl nicht vorwerfen: dass es uninteressant wäre.3 Je unwahrscheinlicher die Realisierung eines Zwecks auf der Grundlage vorbe-

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stimmter Selektionen im Spiel gegen die Welt wird, desto reizvoller wird es, gerade dies zur Darstellung zu bringen und es als erfolg-

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reich zu beschreiben. Ein solches Spiel gegen die Welt mitsamt der Welt als Spielbaum, in der nicht nur die Kontingenz der Wahl, sondern auch das Wirken des Spielers 0 zu kaum einholbarer Komplexität führt, entwirft Jorge Luis Borges’ Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (El jardín de senderos que se bifurcan [1941/1944]). Die Erzählung entsteht mitten im Zweiten Weltkrieg, der Zeit, in der die als Kybernetik zusammengefassten Steuerungswissenschaften wie Informations- und Spieltheorie zu bestimmenden Paradigmen werden. Im Rahmen von Ersterer werden mit Claude E. Shannons kurz nach dem Krieg veröffentlichter Schrift The Mathematical Theory of Communication (1948) die wohl populärsten und erfolgreichsten Flussdiagramme der Kommunikationstheorie entworfen. Dabei wird ein Maß für die Information gefunden, die sich am Wert der »unbestimmte[n] Beliebigkeit […] (Entropie)« (Luhmann 1984: 204) misst, sodass gerade die Unbestimmtheit und die Differenz zu bestimmenden Faktoren des Informationsgrades einer Nachricht werden. Auch die Spieltheorie, als mathematische Theorie von Konfliktsituationen, findet im Zweiten Weltkrieg zu ihrer maßgeblichen Ausformulierung: John von Neumann veröffentlicht 1943 zusammen mit dem Ökonomen Oskar Morgenstern die Theory of Games and Economic Behaviour, ein Standardwerk zur mathematischen Kalkulation der Möglichkeit von Zweckrealisierung am systeminternen Modell der Außenwelt. 2. aktuell/potentiell Auch das mögliche Korrelat der aktuellen Systemzustände der Gesellschaft, das Fiktionen und Literatur beständig entwerfen, findet gleichzeitig mit den Steuerungswissenschaften zu einem neuen Komplexitätsniveau: Borges’ Garten lässt sich in diesem Sinne als diskursive Interferenz von selbstreferentieller Literatur als thematisiertes Spiel der Fiktionen und den an der grundsätzli-

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chen Problematik von Information, Störung und Strategie orientierten Steuerungswissenschaften verstehen. Diese Interferenz resultiert aus den Faktoren Varietät und Redundanz, die sowohl die Informationstheorie – im Sinne eines Maßes für Information

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(Claude Shannon) – als auch die Spieltheorie bestimmen, zugleich aber auch die Möglichkeit der Fiktion regulieren. Seit Aristoteles Bestimmung, es sei nicht der Auftrag der mimetischen Künste, »mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte« (Aristoteles 1982: 29), ist die Aufgabe der Fiktion bestimmt als Verfolgung einer Möglichkeit, die nicht einer realisierten Partie entspricht – dies wäre Geschichtsschreibung – sondern einer, die durch die Wirklichkeit ins Reich der Potentialität verschoben wurde, aber dennoch den Index des Möglichen trägt. Die Vergangenheit wird insofern erneut von der Unbestimmtheit heimgesucht – potentialisiert – und die unabänderliche Redundanz, als die sie in der modernen Zeitsemantik erscheint, wird auf mögliche andere Zukünfte – Varietät – hin geöffnet. Fiktion ist insofern ein Medium, das die Beobachtung von Kontingenz provoziert, da selbst das Tatsächliche nur als eine Möglichkeit ausgestellt wird, die keineswegs notwendig ist, sondern vor allem eines – und so schon bei Aristoteles – möglich.4 An die Stelle des Aktuellen tritt dann eine Möglichkeit, was mit der Geschichtsschreibung zugleich auch alles andere, was noch möglich gewesen wäre, potentialisiert. Die gespielte Partie wird so durch eine nicht-gespielte und in diesem Sinne fiktive ersetzt, die im Rahmen der Fiktion alleinige Gültigkeit beansprucht und so wiederum andere mögliche Formbildungen – abweichende Verzweigungen des Spielbaums – unmarkiert lässt. Ist eine Selektion im Rahmen der Fiktion einmal erfolgt, wird sie gegen alle anderen Möglichkeiten im Sinne der aktuellen Realität verteidigt und mit einem Ausschließlichkeitsanspruch versehen, wie er sonst der Wirklichkeit zukommt. Fiele dieser Anspruch aus, wäre nach jeder Wahl noch das gleiche Maß an unbestimmter Beliebigkeit vorhanden, hätte dies Auswirkungen auf die Erfahrung von Sinn: Alles

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könnte demnach immer passieren; im reinen Möglichkeitsraum findet keine Geschichte statt. Die Gültigkeit einer Selektion, die

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den Raum der unbestimmten Beliebigkeit einschränkt, lässt sich in der Zeit nicht umgehen, wenn eine Geschichte, die Sinn ergibt, erzählt werden soll – und nicht eine, deren Sinn in der Provokation der Beobachtung liegt, dass es Geschichten gibt, die den unmittelbaren Anspruch auf Stimmigkeit verwirren.5 Borges’ Erzählung stellt die Frage danach, wie eine Information im Raum der Möglichkeit entsteht und dies zweifach: einmal in Folge der Erzählung einer geheimen Kommunikation im Ersten Weltkrieg, deren (verwerflicher, aber was kümmert das die Literatur) Held von der Unterscheidung von Varietät und Information geplagt wird, an der sein Unternehmen zu scheitern droht, und weiterhin mit Bezug auf einen »unmöglichen Roman«, der dem Leser ein Rätsel aufgibt, dessen Lösung die Zeit selbst ist – als deren Form Varietät/Redundanz aufgezeigt wird. Dieser in der Erzählung erzählte Roman – der titelgebende Garten der Pfade, die sich verzweigen - gibt vor, alles zu erzählen, was als Anschluss an eine Selektion möglich wäre: Er entwirft also den kompletten Spielbaum, indem nicht nur eine Version des Möglichen aktualisiert wird, sondern an alle sich ergebenden Möglichkeiten angeschlossen wird. So werden konkurrierende, einander ausschließende Versionen bzw. Zukünfte parallel (im Sinne des Spielbaums) bzw. nacheinander (im Sinne der für dieses Unterfangen problematischen Linearität des Buches) realisiert. Jede beansprucht ihre Gültigkeit.6 Die Erzählung von diesem Roman ist Teil einer metadiegetischen Erzählung, d.h. einer Erzählung dritter Stufe. Erzählt wird sie von dem Sinologen Stephen Albert, seinerseits späteres Mordopfer des im Ersten Weltkrieg für Deutschland spionierenden Yu Tsun, dessen Manuskript der (extradiegetische) Erzählakt im Rahmen einer Herausgeberfiktion wiedergibt.7 Die Ausgangssituation, d.h. der Grund, den der fiktive Herausgeber für die Veröffentlichung von Tsuns Manuskript in Anschlag bringt, ist dabei ganz an der Clausewitzschen Problematik orientiert, wonach der Krieg von »beständigen Einmi-

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schungen des Zufalls« (Clausewitz 1996: 34) heimgesucht wird: »Ein solcher Zufall ist z.B. das Wetter« (ebd.: 50). So ist der erste Absatz einem Faktum gewidmet, das in jeder möglichen Geschichte des Krieges – und so auch in der hier an-

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gesprochenen – zu finden sein könnte: »Auf Seite 242 der History of the World War von Liddell Hart steht zu lesen, daß eine Offensive von dreizehn britischen Divisionen (unterstützt von 1400 Geschützen) gegen die Linie Serre-Montabaun für den 24. Juli 1916 angesetzt war, jedoch bis zum Morgen des 29. verschoben werden mußte. Sintflutartige Regenfälle (vermerkt Captain Liddell Hart) veranlaßten diesen Aufschub – also nichts eigentlich Bedeutendes.« (Borges 1994, 77) 8

In Harts History (in der wirklichen Welt) lässt sich dieses Faktum in seiner zeitlichen Bestimmtheit so nicht verifizieren, dennoch sind solche Ereignisse und ihre Folgen im Rahmen der Kriegsgeschichte keineswegs ausgeschlossen, sondern im Gegenteil höchst wahrscheinlich. Die Rahmenerzählung fährt dann mit einer für die Literatur klassischen Bewegung fort: Sie ersetzt das zufällige Ereignis des Unwetters durch eine ebenso mögliche und plausiblere Geschichte, nämlich einer des Verrats. Die Einleitung fährt fort: »Die nachfolgende Erklärung, diktiert, durchgesehen und unterzeichnet von Doktor Yu Tsun, ehemals Dozent für Englisch an der Hochschule von Tsingtau, wirft ein unvermutetes Licht auf den Fall. Die ersten zwei Seiten fehlen« (77). Tsuns Manuskript beschäftigt sich mit einem abenteuerlichen Plan: Er tötet einen Mann (Stephen Albert), um auf diese Art und Weise und mittels der durch den unsinnig scheinenden Mord stimulierten Zeitungsmeldungen eine Nachricht nach Berlin abzusetzen, die über die Position des Artillerieparks informiert (die Stadt Albert). Der Sinologe Albert muss also sterben, da sein Name die Botschaft ist, die Tsun im »Kriegslärm« (89) in Richtung Berlin abzusetzen versucht: Albert ist der geheimgehaltene Name der Stadt, die einen zur Offensive bereiten britischen Artilleriepark beherbergt. Die intradiegetische Erzählung – Tsuns Manuskript – er-

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zählt also zunächst die Geschichte einer geheimen Kommunikation im Ersten Weltkrieg, die zumindest den Grund des Aufschubs

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der Offensive zu etwas Bedeutendem macht. Als Problem dieser Nachrichtenübermittlung wird die erhöhte Varianz angegeben, die die Kommunikation im Krieg auszeichnen soll und in die Erzählung als Kriegslärm eingetragen ist. Ein Strang der Erzählung hat es daher mit Nachrichtenübermittlung, der Selektion von Information und Störung zu tun. Tsuns Problem liegt darin, sein Signal so zu verstärken, dass seine Nachricht beim Empfänger erstens ankommt und zweitens von diesem auch verstanden wird. Sein Mittel ist ein irrationales Verbrechen: ein sinnlos scheinender Mord im Sinne eines Verbrechens, dessen Täter entdeckt werden muss. Da diese Tat unwahrscheinlich ist, gelingt es Tsun, die Nachricht durch einen öffentlichen Kanal, die Zeitung, zu übermitteln, deren Leser an einer durch Neuheit und Rätselhaftigkeit geprägten Berichterstattung interessiert sind. Yu Tsun vertraut auf den Umstand, dass gerade das Überraschende seiner Tat eben jenen Neuigkeitswert hat, auf den Berichterstattung reagiert. Das Medium funktioniert im Sinne eines berechenbaren Filters, der immer dann aktiviert wird, wenn etwas Unvorhersehbares geschieht, das sich in den Anspruch des Mediums, Neuigkeiten zu verbreiten, einfügt. Von allem, was geschehen könnte, ist es eben dies, dass ein Chinese und ehemaliger Dozent für Englisch einen englischen Sinologen tötet. Die Zumutung der Selektion liegt beim Mitteilungsempfangenden: Dieser muss zunächst einmal überhaupt ein Selektionsangebot wahrnehmen, um dann vom englischen Personennamen Albert auf den französischen Städtenamen Albert zu schließen. Dies gelingt auch: »Auf abscheuliche Art habe ich gesiegt; ich habe an Berlin den geheimgehaltenen Namen der Stadt durchgegeben, die sie angreifen müssen. Gestern haben sie sie bombardiert; ich las die Nachricht in denselben Zeitungen, die England vor das Rätsel stellten, daß der gelehrte Sinologe, Stephen Albert, von einem Unbekannten, Yu Tsun, ermordet wurde. Der Chef hat dieses Rätsel entschlüsselt. Er weiß, daß es

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mein Problem war, mitten im Kriegslärm die Stadt mit dem Namen Albert anzugeben (El Jefe ha descifrado ese enigma. Sabe que mi problema era indicar [a través del estrépito de la guerra] la ciudad que se llama Albert), und daß ich kein anderes Mittel fand, als eine Person dieses Namens zu töten« (89/Borges 1971: 116).

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Der von der Tageszeitung gerade wegen seiner Beliebigkeit ausgestellte Mord, für den keine kausale Erklärung gefunden werden kann, stellt für den Wartenden in Berlin eine Selektionsofferte dar, er erscheint als Wahl mit Mitteilungsabsicht. Das erste Problem liegt daher in der Identifizierung einer Mitteilung, das zweite in der Selektion der Information. Als Selektionsverstärker funktioniert der Name des Mörders, der die Selektion einer Mitteilungsabsicht zumindest wahrscheinlich macht. Das Vokabular ist, im spanischen Original wie in der deutschen Übersetzung, ganz an der Kryptographie orientiert. Statt dass ein Rätsel gelöst wird, ist es entschlüsselt/descifrado worden, nur dass zuvor, wie sonst üblich, kein Schlüssel verabredet worden war. Das Signal, das überhaupt zur Selektion einer Mitteilung führt, ist der Name des Mörders, der sich so als indirekter Absender einer Nachricht und als Schlüssel zum Rätsel zu erkennen gibt. Tsuns Name ist ebenso die Bezeichnung der Signalquelle wie Teil einer Botschaft. Sein Name macht ein beliebiges Geschehen für den Empfänger in Berlin, der eben diese Selektion vollziehen muss, zu einer erwarteten Nachricht. Alle denkbaren Wege, die zu dem Geschehen führen könnten, müssen von dem Adressaten ausgeschlossen werden, zu Gunsten der Erwartung, dass alles, was Yu Tsun ausführt und was die Filter eines Mediums wie der Tageszeitung passieren kann, Informationswert hat, nur dann kann der Kommunikationsakt gelingen. Worum es also geht, ist das Auswerfen eines »Erwartungsnetz[es]« (Luhmann 1984: 140), das die »Selektionslast« (ebd.) einschränkt. Die »generalisierte Verhaltenserwartung« (ebd.: 139), die die Wahl des Mitteilungsempfangenden steuert, ist der Verrat. Die Struktur des sozialen Systems, das Tsun und den Chef in Berlin verbindet, stellt die Redundanz bereit, die das hochspezialisierte Verstehen voraussetzt. Nur durch die generali-

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sierte Erwartung des Verrats lassen sich die Diskontinuitäten überbrücken und die Möglichkeit des Missverstehens der indirek-

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ten Kommunikation reduzieren. Borges’ Ficciones, selbst mitten im Kriegslärm entstanden, haben damit Teil an der Formulierung der grundsätzlichen Fragestellung der Kommunikationstheorie: Auf wessen Wahl beruht der Informationsgehalt einer Nachricht und wie wird Verstehen möglich? Die Mitteilung von etwas im Kontext des Möglichen und des Lärms gibt sich bei Borges als Rätsel, das entschlüsselt werden muss. Der Lärm ist es, der die Unwahrscheinlichkeit des durch den Mitteilenden intendierten Verstehens erhöht. Er stellt eine zusätzliche Signalquelle dar, mit anderen Worten: Er trägt zur Steigerung der Entropie/der unbestimmten Beliebigkeit bei. Der Lärm ist der Kontext jeder Information, das – im Blick des informierten Systems – Rauschen des Möglichen, das garantiert, dass etwas überhaupt informativ sein kann. Zugleich ist es störende Varietät, die den Plan des Spions zu torpedieren droht. Die Reduzierung des Möglichen auf das Bestimmte, die Wahl einer bestimmten Variante aus dem Bereich des Möglichen, ist zugleich aber die Problematik, die die kommunikationstheoretisch aufgeladene intradiegetische Erzählung mit der metadiegetischen Erzählung des Sinologen vom Garten der Pfade, die sich verzweigen verbindet. In dieser Binnenerzählung wird das thematisiert, was die gelingende Kommunikation unterscheiden und ausschließen musste: das Rauschen. Und wiederum liegt das Problem im Verstehen, d.h. in der Selektion von Information und Störung, bzw. von Aktualität und Potentialität. Stephen Albert präsentiert seinem späteren Mörder einen Roman Ts’ui Pêns, eben den Garten der Pfade, die sich verzweigen. Dabei will es der Zufall, dass dieser Ts’ui Pên ein Vorfahre des Mörders ist – und dieser insofern mit dem Plan Pêns, ein Labyrinth zu erschaffen, bekannt ist. »Ich verstehe ein wenig von Labyrinthen; nicht umsonst bin ich der Urenkel jenes Ts’ui Pên, der Gouverneur von Jünnan war und der weltlichen Macht entsagte, um

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einen Roman zu schreiben, der bevölkerter sein sollte als das Hung Lu Meng, und um ein Labyrinth zu bauen, in dem alle Menschen sich verirren sollten.« (81) Torsten Hahn

Der Trick, über den Stephen Albert aufklärt, besteht darin, dass

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Labyrinth und Roman ein und dieselbe Sache sind. Weiterhin will es ein »günstiger Zufall« (88), dass Albert seinen zukünftigen Mörder mit einem erwarteten Besucher verwechselt, von dem »gewiß« (82) sein soll, dass er kommt, um den Garten der Pfade, die sich verzweigen zu sehen. Das Labyrinth ist folgendermaßen definiert: »›Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist ein ungeheures Ratespiel oder eine Parabel, deren Thema die Zeit ist; dieser tiefverborgene Grund verbietet ihm die Erwähnung ihres Namens. Ein Wort immer auszulassen, sich mit untauglichen Metaphern und offenkundigen Umschreibungen zu helfen, ist vielleicht die betonteste Art, darauf hinzudeuten. […] Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide. In dieser Zeit nun, die mir ein günstiger Zufall beschert, sind Sie in mein Haus gekommen. In einer anderen haben Sie mich, da sie den Garten durchschritten, tot angetroffen; in wieder einer anderen sage ich dieselben Worte, aber ich bin ein Trug, ein Phantasma‹« (88).

Gerade diese letzte Variante ist natürlich ein Hinweis auf den Index der Potentialität, den auch die Wirklichkeit des Lesers trägt. Das Problem liegt darin, dass erst die Lösung dem ganzen Roman Sinn gibt. Für den, der die Lösung noch nicht kennt, zeigen sich »nichts als chaotische Manuskripte […]. Die Familie […] wollte sie dem Feuer überantworten, aber sein [Pêns] Testamentvollstrecker […] hat auf der Veröffentlichung bestanden« (84), so Albert. Für Pêns Nachkommen Tsun zeigt sich in diesem Sinn nur Chaos: »Diese Veröffentlichung war unsinnig. Das Buch ist ein wirrer Haufen widersprüchlicher Entwürfe. Ich habe es einmal durchgesehen: Im dritten Kapitel stirbt der Held, im vierten ist er

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am Leben« (84). Die Lösung des Rätsels liegt im Wissen, dass der Roman eine Verzweigung aus jeweils möglichen Zeiten darstellt,

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d.h. nur in verräumlichter Form zugänglich ist, worauf Albert durch ein Brieffragment Pêns gebracht wird (85): »In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman. Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis; ein Unbekannter klopft an seine Tür; Fang beschließt, ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene mögliche Lösungen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang töten; beide können davonkommen, beide können sterben und so weiter. Im Werk von Ts’ui Pên kommen sämtliche Lösungen vor; jede einzelne ist der Ausgangspunkt weiterer Verzweigungen« (86).

Der Roman des Ts’ui Pên unterläuft also die Form des Sinns durch den Versuch, jede Möglichkeit zu realisieren, keineswegs. Er basiert auf dem Faktum, dass keine Wahl den Ausgang eines Geschehens determiniert und stets mögliche andere Welten entstehen. Das skizzierte Vorgehen, sich für eine Möglichkeit und gegen die anderen zu entscheiden, bestimmt natürlich nicht nur die Welt der Fiktionen, sondern die Welt überhaupt, so wie sie im Medium des Sinns vorliegt. Pêns Roman arbeitet aber gerade an der Virtualisierung des Realen, das, gerade weil eine andere Ordnung möglich ist, fiktionalisiert wird, in dem Sinne, dass nur aktualisiert werden kann, was zuvor möglich war. In Pêns Garten entsteht daher nicht eine andere Realität, die dann in Kontrast zur »realen« Welt treten würde, sondern der gesamte Baum der Möglichkeiten, mit jeweils differenten Realitätsketten. Das Besondere an Pêns Roman liegt also in der Ausstellung der Form des Sinns: aktuell/potentiell. Dies gelingt, da eine grundlegende Paradoxie angesteuert werden kann, die der Form des Sinns inhärent ist. Denn was aktuell ist, muss selbst den Index der Möglichkeit tragen, mit anderen Worten: Dass die Partie

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π1 gespielt werden kann, resultiert nur daraus, dass π2 … πn ebenso möglich sind. In Luhmanns Worten: »Die sinngebende Unterscheidung von Aktualität und Potentialität tritt auf der Seite des Aktuellen in sich selbst wieder ein; denn aktuell kann nur

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sein, was auch möglich ist« (Luhmann 1995: 174). Es ist insofern nichts Anderes als der Möglichkeitsraum selbst, in dem etwas zur Information wird, indem gerade es und nichts anderes geschieht. Aus diesem Faktum resultiert für Luhmann die Möglichkeit der Fiktion: »[D]ie Kunst [verschärft] die Differenz zwischen dem Realen und dem bloß Möglichen, um dann mit eigenen Werken zu belegen, dass auch im Bereich des nur Möglichen Ordnung zu finden sei« (ebd.: 236). Pên verzichtet nun darauf, eine neue Ordnung zu etablieren, der Roman soll alle möglichen Anschlüsse realisieren, die ein Ereignis eröffnet, wobei sich jeweils eigene »Zeitreihen [series de tiempos]« (88/Borges 1971: 114) bilden, von denen jede die Differenz zu anderen möglichen Reihen verschärft. Diese stören sich in der Form des Romans, da dieser auf der durch die Schriftform vorgegebenen Linearität basiert und das Nebeneinander in ein Nacheinander überführt, d.h. auf der Sukzession der Ereignisse aufgebaut ist. Im räumlichen Modell des Gartens oder des Baumes interferieren sie keineswegs, sondern bilden wiederum eigene Aktualisierungsreihen, die für einander jeweils bloß mögliche Welten sind. So lässt sich ein »Plan dieses Chaos« (88) erschießen. »Das Buch« als »wirrer Haufen widersprüchlicher Entwürfe […]: Im dritten Kapitel stirbt der Held, im vierten ist er am Leben« (84), rekurriert auf das Problem zeitlicher Wahrnehmung. Die »Widersprüche im Roman« (86) ergeben sich daraus, dass jeder Anschluss Zeit erfordert, ein Vorrücken impliziert, das die Gleichzeitigkeit zweier möglicher Züge in ein Nacheinander verwandelt. Den Roman als Labyrinth zu lesen, hatte auf die Möglichkeit seiner Entschlüsselung verwiesen. An jeder Verzweigung entsteht eine neue Erzählung, es eröffnen sich beständig zusätzliche Pfade, woraus das räumliche Modell des Gartens resultiert. In diesem ist die Zeitdi-

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mension vollständig intakt: Der Zeitpfeil zeigt Richtung Zukunft, nur dass diese multipliziert ist, im Sinne dessen, was möglich

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wird. Was im Sinne des Spielbaums Evidenz erzeugt, wird in der linearen Form ›Buch‹ zum Chaos. Die »ursprüngliche Ordnung«, die Albert »glaubt« (88) erkannt zu haben, ist davon abhängig, mit einem modernen Zeitschema beobachtet zu werden. Dabei ist die Vergangenheit jeweils das, was durch Selektionen nicht mehr beeinflussbar ist, sich der Wahl entzieht, also das, was redundant ist, da es unabänderlich vorliegt. Die Zukunft ist hingegen als Varietät präsent, als Möglichkeitsraum. Die Zeitsemantik ist damit letztlich äquivalent zu den Vorgaben der Informationstheorie: »Als Vergangenheit wird, da hier nichts mehr zu ändern ist, Redundanz in die Zeit eingeführt, als Zukunft dagegen Varietät« (Luhmann 1997: 1006). Die Aufgabe des Beobachters liegt darin, Pêns Roman gemäß des Möglichkeitshorizonts zu ordnen, d.h. jeweils verbleibende Möglichkeit und redundante Struktur zu verbinden. Es geht damit darum, dasjenige zuzuordnen, was von einem gegebenen Systemzustand aus eine mögliche Information darstellt. Aus den verstreuten Möglichkeiten muss der Beobachter diejenige wählen, die unter den jeweiligen Bedingungen einen sinnhaften Anschluss darstellt. So entsteht »ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Universums« (88). 3. möglich/unmöglich Je stärker der Raum der unbestimmten Beliebigkeit eingeschränkt ist, desto augenfälliger wird der mögliche Anschluss bzw. desto weniger neue Selektionsmöglichkeiten eröffnen sich. Und dieses Wissen verbindet die Tätigkeit des Sinologen mit der des Verräters. Dessen Frage ist, wie sich ein Plan ausführen lässt, »den nicht riskant zu nennen keinem einfallen wird« (79). Ein Risiko besteht in der Wahl zwischen Alternativen und ist als solches »eine Form für gegenwärtige Zukunftsbeschreibungen unter dem Gesichtspunkt, daß man sich im Hinblick auf Risiken für die eine

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oder die andere Alternative entscheiden kann« (Luhmann 1992: 142), mit anderen Worten: mit allen Möglichkeiten konfrontiert wird, die sich aus einer Entscheidung ergeben, die selbst nicht notwendig, sondern kontingent ist. So betreffen »Risiken […] mög-

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liche, aber noch nicht feststehende, eher unwahrscheinliche Schäden, die aus einer Entscheidung resultieren, also durch sie bewirkt werden können, und bei einer anderen Entscheidung nicht eintreten würden« (ebd.). Tsuns Vorgehen liegt angesichts dieser Ausgangslage in der unerbittlichen Reduktion der unbestimmten Beliebigkeit, d.h. der Möglichkeiten, die bleiben, beschlossen. Riskant ist in seinem Spiel, gemäß seiner Vorstellung, nichts. Der Ausgang steht ja schon fest: Tsun stirbt. Die Vorstellung von nur einem einzigen möglichen Ablauf und nur einer möglichen Vorgehensweise eliminiert die Entscheidung so weit, dass selbst der Plan eines Mordes als Mittel der Kryptographie sich binnen weniger Minuten aus der Beobachtung der verbleibenden Spielelemente aufdrängt. Die potentielle Zukunft muss als bereits aktuell verstanden werden, sie muss so unabänderlich scheinen, wie die Vergangenheit. Während jede Handlung eine Bifurkation eröffnet, entwirft Tsun eine fiktive Welt der Eingleisigkeit. Den Plan »riskant« zu nennen, ergibt sich für den Verräter erst wieder aus der Retrospektive. Die Perspektive des (intradiegetischen) Erzählers Tsun ist verschieden von der des Tsuns seines Berichts, seines temporalen alter egos. Dass der Plan riskant war, ist erst »jetzt« sagbar und diese, im Satz wiederholte adverbiale Bestimmung der Zeit: »jetzt/ahora« (79/Borges 1971: 104), markiert die minimale aber entscheidende Verschiebung im point of view. »Jetzt/ahora« (ebd.), das ist »nachdem« er seine Aktion abgeschlossen hat, deren Bedingung die fiktive Wahllosigkeit und d.h. der Ausschluss des Risikos war. Sein »Plan«, der den Zweck des Verrats erfüllen soll, ist »[i]nnerhalb von zehn Minuten […] fertig« (79): Alle Möglichkeiten werden auf solche Bifurkationen reduziert, die nur zwischen »ja« und »nein« unterscheiden. Jedes Abweichen würde das gesamte Unternehmen beenden: so durch die äußerste Reduktion ökono-

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mischer Möglichkeiten, den »Revolver mit einer Patrone« (ebd.) und vor allem der Auswahl des Opfers, dessen Tod sich zum Me-

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dium eignet, da sein Name in Information verwandelt werden kann. »Im Telefonbuch fand ich den Namen des einzigen Menschen, der die Nachricht weitergeben konnte. Er wohnte in einer Vorstadt von Fenton, weniger als eine halbe Stunde Bahnfahrt entfernt« (ebd.). Alles soll notwendig erscheinen, denn nur dann kann der unwahrscheinliche Weg der Nachrichtenübermittlung gewählt werden. Weil es keine Alternativen geben soll, entwickelt sich in Kürze ein ebenso perfider und komplexer wie einfacher, da notwendig scheinender Plan. Diesem Plan liegt folgende Überlegung zugrunde: »Wer ein gräßliches Unternehmen ausführt, muß sich vorstellen, daß er es bereits vollbracht hat; er muss sich eine Zukunft aufzwingen, die so unwiderruflich ist wie die Vergangenheit« (80). Nur dann scheint eine Orientierung im Garten der Pfade, die sich verzweigen möglich. Dieser Ratschlag eines Pfadfinders im Garten der Zeit bestimmt dann auch die Rekonstruktion der Ereignisse im Manuskript. Jedes Detail deutet auf den einzig möglichen Weg. Der so dargestellte Ausfall von Wahlmöglichkeiten entspricht dabei einer Form von Labyrinthen, die dann auch Sachthema der Erzählung werden. Nur: während das normale Labyrinth eine Orientierung im Raum erfordert, liegt für Tsun das Problem in einer Orientierung in der Zeit. Diese eröffnet permanent Alternativen, so etwa die, schlicht zu fliehen; Tsun, der sich selbst als »feiger Mensch« (79) bezeichnet, muss also dauernd Varietät ausblenden, was nur durch das Ausstreichen von Wahlmöglichkeiten gelingt. In diesem Sinne stellte sich bereits der Weg zu Stephen Albert als Labyrinth dar. In Ashgrove mit der Bahn angekommen, weisen einige Jungen auf dem Bahnsteig Tsun den Weg: »Eine Lampe erhellte den Bahnsteig, aber die Gesichter der Jungen blieben in der Schattenzone. Einer fragte mich: ›Wollen Sie zu Doktor Stephen Albert?‹ Ohne die Antwort abzuwarten, sagte ein anderer: ›Das Haus ist weit von hier, aber Sie können

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sich nicht verirren, wenn Sie den Weg hier links nehmen und an jeder Kreuzung links abbiegen.‹ […] [Absatz] Der Rat, immer nach links abzubiegen, rief mir ins Gedächtnis, daß dies das übliche Verfahren war, um den Innenhof gewisser Labyrinthe zu entdecken.« (81)

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Die Lösung liegt also darin, sich blind gegen mögliche Verzweigungen zu stellen, sich zu verhalten, als ob es keine anderen Möglichkeiten gäbe und alle Varianten schon vorlägen. In der Welt ist dies nun unmöglich, die einzige Möglichkeit liegt in der Entscheidung für eine Fiktion, in der die Zukunft bereits redundant ist: Der Versuch, Ereignisse gleichsam abzuarbeiten, entspricht einer vormodernen Vorstellung der »Zukunft […] als Teil der Zeit, der auf uns zukommt und auf deren Aktualisierung man (im Blick auf die Uhr oder den Kalender) warten muss« (Luhmann 1997: 1005). Ausgeschlossen ist dabei die Kontingenz. Was notwendig ist, wird sich auch so ereignen. Als Folge des Ausschlusses der Kontingenz verwandelt sich Tsuns Gegner Richard Madden zum phantastischen Gegenspieler, der droht, mit Blick auf die Uhr Tsuns Pläne zu vereiteln. In der Abwicklung bloßer Notwendigkeit, der Negation von Kontingenz also, taucht folgerichtig auch das Unmögliche auf. Dies folgt aus der Bestimmung von Kontingenz als das, was weder notwendig noch unmöglich ist. »Der Begriff wird«, so Luhmann, »durch Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit gewonnen. Das Problem dabei ist, daß diese beiden Negationen sich nicht auf eine einzige reduzieren lassen« (Luhmann 1992: 96). Dies ist auch das Problem Tsuns, aus dessen Negation der Kontingenz sich nicht nur ein notwendiger Gang der Ereignisse ergibt, sondern auch ein unheimlicher Gegner, dessen Handlungen vor allem eines sind: nämlich unmöglich, da sie notwendig zufällig und dennoch zielgenau sind. Die Unmöglichkeit bringt also die Irrationalität des Phantastischen ins Spiel. An dieser Stelle scheint die Erzählung eine Vermutung Luhmanns zu unterstreichen, nämlich die, dass das Konstatieren des Irrationalen vor allem »als Schutz eines unzureichenden Begriffs von Rationalität« (ebd.: 58) dient. Die Irrationalität des um jeden Zug

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wissenden Verfolgers, der dennoch Tsuns Plan nicht kennen kann, ist eine der Folgekosten, die die Transformation der Zu-

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kunft in redundantes Geschehen mit sich bringt. Die Informationsvergabe in der intradiegetischen Erzählung folgt ja der Sicht des Beobachters, der seinen Begriff von Rationalität auf ein zwar unzureichendes aber vor Abirrungen geschütztes Muster umgestellt hatte. Im Gegenzug stellt sich aber auch das, was in diesem Bericht auftaucht, gemäß dieses Parameters dar. Aus der Befolgung seines eigenen Ratschlags, sich eine unwiderrufliche Zukunft aufzuzwingen, entsteht ein Informationsschema, dass die Züge des Gegenspielers als radikalisierten Zufall in der Gestalt des Unmöglichen auftreten lässt. Mit Captain Richard Madden ist Tsun von einem Verfolger geplagt, dessen Wirken jeglichen Grundes entbehrt. Madden ist insofern ein Spieler, dessen Züge als ebenso zielorientiert und über das Spiel informiert wie zufällig erscheinen, wenn Zufall das ist, für dessen Eintreffen es keinen Grund gibt.9 Er ist Tsun auf der Spur, was diesen dazu animiert, seinen Plan zu einem kaum lösbaren Rätsel zu machen und zugleich alle Spuren zu löschen bzw. zu verwischen: d.h. er blufft. So gibt er zunächst »Ich muss fliehen« (78) als Grund seiner Handlungen aus; er sagt dies »[l]aut«, so »als ob Madden mich schon belauerte« (ebd.). Damit beginnt das Spiel, dessen Zweck so aber schon verschoben ist, da Tsun sich zunächst der Möglichkeit des »verkehrte[n] Signalisieren[s]« bedient, d.h. er zielt auf ein »Irreführen des Gegenspielers« (v. Neumann/Morgenstern 1961: 54). Tsuns Plan soll davon abhängen, dass der Gegner ein Spiel mit unvollständiger Information spielt, also in ein »Kriegsspiel«10 (McKinsey 1952: 5) involviert wird. Der Ausgang der Partie als die Tatsache, dass er Madden nicht entkommen kann, steht damit für Tsun fest, die Frage ist nur, wann dieser ihn einholt. Alles, worum es geht, ist ein Aufschub/»demora« (Borges 1971: 101), wie er in der Herausgeberfiktion als nichts eigentlich Bedeutendes/»nada signicativa« (ebd.) apostrophiert wurde. Als Tsun das Haus verlässt, ist er allein auf der »leeren Straße« (79), er nimmt einen Wagen zum

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Bahnhof und lässt diesen in einiger Entfernung halten, er löst eine Karte für eine Station hinter Ashgrove (80). Trotzdem erscheint Madden auf dem Bahnsteig und verpasst Tsun nur knapp, was diesem einen Vorsprung von »vierzig Minuten« ver-

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schafft. Die Verfolgung wird von Tsun als »Zweikampf/duelo« (80/Borges 1971: 105) verstanden, allerdings als einer, aus dem notwendig Madden als Sieger hervorgehen wird: »Ich sagte mir, mein Zweikampf habe schon begonnen und ich hätte den ersten Gang gewonnen, indem ich, wenn auch nur für vierzig Minuten, wenn auch nur durch einen glücklichen Zufall, den Angriff meines Gegners vereitelt hatte. Ich redete mir ein, daß dieser winzige Sieg den Endsieg vorwegnehme. Ich redete mir ein, er sei nicht so winzig, da ich ohne diesen kostbaren Aufschub, den mir der Fahrplan bescherte, im Gefängnis oder tot wäre.« (80)

Das Zusammentreffen mit Madden hat also einen programmierten Schluss: Es bedeutet für Tsun das fin de partie. Madden ist eine Schatten-Figur, die ganz aus Tsuns Welt der Wahllosigkeit resultiert. Sobald sich eine Gegenwart ergibt, in der sich Maddens und Tsuns Wege kreuzen, steht der Ausgang fest und das Spiel ist vorbei, die möglichen Partien unterscheiden sich nicht durch ihren Ausgang, sondern nur durch die Realisierung eines besonderen Zwecks – dem Mord an Albert – der dem eigentlichen Spielgeschehen, dem Duell Tsun-Madden, entzogen ist. Auch dieser Gegenspieler agiert auf dem Grund der Notwendigkeit, auch er strebt dem Ende der Partie entgegen, deren Ausgang gewiss ist. Der Aufschub, der aus dem Fahrplan resultiert, ist insofern tatsächlich eine Selektion zwischen verschiedenen Partien, die sich dadurch unterscheiden, wie viele Züge Madden für das Schachmatt seines Gegners braucht. Als »Selektor« wirkt hier der Zufall, der, im Sinne des »Spielers 0« oder »fiktiven Spielers«, als der der in Spielen auftretende Zufallsmechanismus adressiert wird, auch Tsuns Partie entscheiden hilft. Aus Maddens Perspektive liegt also ein Zwei-Personen-Nullsummenspiel vor, in dem, gemäß der Vorgaben der Spielregeln, neben persönlichen Zügen auch

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Fiktive

Zufallszüge vorgesehen sind (Abb. 2). Im Gegensatz zu Nullsummenspielen, in denen der Gewinn des einen mit dem Verlust des

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anderen Spielers verrechenbar ist, ist Tsuns Spiel aber tatsächlich produktiv: Aus seinen Zügen entsteht Information, die in der Spielentscheidung nicht aufgeht.11 Tsun nimmt den unheimlichen Verfolger in Kauf. Die Notwendigkeit, mit der die Nachricht nach Berlin übermittelt wird, wird durch das unabänderbare Ende und die unmögliche Realität des Verfolgers erkauft: »Einen Moment lang dachte ich, Richard Madden habe irgendwie mein verzweifeltes Vorhaben durchschaut. Sehr bald begriff ich, daß das unmöglich war«12 (81). Was nicht weiter stört, sondern eben Resultat des Rationalitätsbegriffes ist. Durchschaut hat Madden das Vorhaben ja auch tatsächlich nicht: Trotz möglicher Kommunikationssperren wird die Nachricht verbreitet. Trotzdem findet Madden Tsun aber schließlich bei Albert, wobei »finden« natürlich wieder ein Suchen implizieren würde, das es im Modus der Notwendigkeit nicht gibt. Madden spielt also, trotz aller Versuche Tsuns, weiterhin ein Spiel mit vollständiger Information, bei dem jeder Spieler über die Züge des jeweils anderen informiert ist. Zugleich ist der über unmögliches Wissen verfügende Rivale aber über den besonderen Zweck der Züge Tsuns (das Kommunikationsunternehmen also) im Unklaren. Die Phantastik des Verfolgers resultiert also aus der Transformation des Geschehens in einen Spieltypus, der von dem Kriegsspiel Tsuns durch den »amount of information available to the players regarding the past choices« (McKinsey 1952: 5) unterschieden ist. Madden spielt ein Spiel vom Typus Schach, insofern ist es kaum verwunderlich, dass dieses Spiel in der (intradiegetischen) Erzählung auch aufgerufen wird. Albert erklärt so Tsun den Rätselcharakter von Pêns Roman, d.h. er entwirft einen Vergleich zum Zeiträtsel des Gartens: »›Ein Rätsel, in dem es um das Schachspiel geht: Wie lautet das einzige Wort, das nicht ausgesprochen werden darf?‹ Ich dachte einen Augenblick nach und erwiderte: ›Das Wort Schach‹« (87). Schach bzw. seine Bestimmtheit als Spiel mit vollständiger Information ist dann auch die Lösung

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Abbildung 2 Torsten Hahn 108 | 109

Quelle: McKinsey, J.C.C. (1952): Introduction to the Theory of Games. New York: McGraw-Hill: 126.

zur Phantastik des Verfolgers, ebenso wie die Lösung des Labyrinths in dem Wort liegt, das im Roman nicht verwendet wird: Zeit. »Ein Wort immer auszulassen, sich mit untauglichen Metaphern und offenkundigen Umschreibungen zu helfen,« so Albert, »ist vielleicht die betonteste Art, darauf hinzudeuten« (88). Parallel dazu, so lässt sich folgern, ist Information – als Schlüsselbegriff der Theoriebildung im Zweiten Weltkrieg – die Lösung des Rätsels, vor das Borges’ Erzählung stellt: Obwohl die (intradiegetische) Erzählung um nichts Anderes kreist, und d.h. die Verwendung des Begriffs nahelegt, fällt er in der Beschreibung von Tsuns Kommunikationsunternehmen aus. Zumindest in der spanischen Fassung – denn wie stark sich der Begriff aufdrängt, zeigt die deutsche Übersetzung, die Borges’ »noticias« (Borges 1971: 103), das spanische Wort für Nachrichten also, durch »Informationen« (78) wiedergibt. An dieser Stelle ist es unumgänglich, auf den Wortlaut des Originals zurück zu schalten, d.h. dem kollationierenden Begehren des Philologen im Sinne Stephen Alberts nachzugeben, um den Schlüssel zu gewissen Rätseln zu finden. Captain Richard Madden, als fiktives Paradox aus gleichzeitig zufälligem wie determiniertem Handeln, ist insofern Teil der

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Fiktive

größer angelegten Verschlüsselung des Informationsbegriffs, um so das Thema der intradiegetischen Erzählung zugleich als gene-

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relles Thema der gesamten Erzählung zu begreifen. Ihren überschüssigen Informationswert erlangt die von Madden und Tsun gespielte Partie durch die Beobachter, die das Unkalkulierbare der Aktionen Tsuns – das Verweilen bei einem Sinologen und den Mord an diesem Sinologen – als Überraschung beobachten und mitteilen. Ohne den Verlauf des Spiels zu modifizieren, kann Tsun so aus seiner Perspektive den »Sieg« davontragen, wenn das Spiel auch verloren ist: In einer als irrationales taktisches Manöver erscheinenden Operation liegt tatsächlich bereits die Strategie beschlossen. Was dann folgt, ist »unwirklich, unbedeutend. Madden drang ein, nahm mich fest. Man hat mich zum Strang verurteilt« (89). Dies ist nichts eigentlich Bedeutendes, da es erstens notwendig so kommen musste und es daher nicht informativ ist und zweitens – aus Tsuns Perspektive – nicht mehr zum eigentlichen Spiel gehört. Im Garten der Pfade, die sich verzweigen, den Sieg davon zu tragen, scheint insofern nur möglich, wenn es gelingt, besondere Zwecke zu entwerfen, die nicht mit dem Endzweck des Gegners verrechenbar sind. »Wer einen Zweck in die Welt setzt,« so ja Luhmann (1988: 330), »muss dann mit dem Zweck gegen die Welt spielen – und das kann nicht gut gehen oder jedenfalls nicht so, wie er denkt«. Die optimale Strategie scheint unter diesen Voraussetzungen darin zu liegen, einen Zweck zu entwerfen, der dann erwartungsgemäß scheitert, um so einen anderen Zweck realisierbar zu machen. Tsuns Strategie liegt also in der Verbergung dieses eigentlichen Zwecks bzw. dem Verstecken des scheinbar besonderen Zwecks hinter dem nur scheinbar allgemeinen, der Flucht. Diese vermeintliche Flucht scheitert dann ja auch. Was hingegen gelingt, ist das Kommunikationsunternehmen, dessen Betitelung durch Tsun als »riskant« anzeigt, inwiefern retrospektiv die Möglichkeiten als Alternativen wieder auftauchen, die der Plan, als Verbreitung einer Blindheit gegen Kreuzwege, ausgeschlossen hatte. Insofern ist die intradiegeti-

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sche Erzählung ein Dokument der nur scheinbaren Unendlichkeit der Fiktionen des Gartens. Denn so sehr der Garten des Ts’ui Pên auch wuchert, stets wird die Möglichkeit ausgeschlossen bleiben, die für Tsun zur leitenden Fiktion wird: die Beschreibung der Welt

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im Modus der Notwendigkeit. Alles Kreuzen von der Innenseite zur Außenseite der Form aktuell/möglich kann eine Geschichte nicht erzählen, nämlich die einer Welt des Notwendigen und Unmöglichen, in der die Wahl eliminiert ist. Dies entspricht dann ja auch der Definition Alberts: Man kann sich für eine Option und gegen eine andere oder für alle, aber nicht gegen die Entscheidung entscheiden. Anmerkungen 1 Vgl. zur Differenz von Spielen mit vollständiger Information (z.B. Schach) und Spielen mit unvollständiger Information (z.B. Bridge) etwa McKinsey 1952: 5f. 2 Ein »Zufallszug ist eine Wahl, die von irgendeinem mechanischen Apparat abhängt, der ihren Ausgang zufällig macht und mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten versieht« (v. Neumann/Morgenstern 1961: 50). Ein solcher Zug wird als »kk = 0« angeschrieben, wohingegen ein »persönlicher Zug« eine »Wahl« ist, die »von einem bestimmten Spieler getroffen wird, d.h. nur von seiner freien Entscheidung und von nichts anderem abhängt: ›kk = 1, ···, n‹« (ebd: 49f). 3 Vgl. zu interessant/langweilig als Codierung der Literatur Plumpe/Werber 1995: 20f. 4 Vgl. Aristoteles 1982: 31 zur Wahl der Namen von historischen Personen in der Tragödie: »Der Grund ist, daß das Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, dass es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehenen offenkundig ist, dass es möglich ist – es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre.« Aktuell/potentiell ist also schon bei Aristoteles eine zumindest grundlegende Form der Kunst, ebenso wie die Möglich-

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Fiktive

keit des Wirklichen ausgestellt wird, was bei Luhmann zur Darstellung eines re-entry führen wird (s.u.).

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5 Gerade Literatur der Moderne arbeitet mit Momenten der Störung bzw. der Paradoxie, was für den Leser dann die Möglichkeit eröffnet, eben diese Störungen geltender Kommunikationsvorgaben zu beobachten. Auch die Störung kann so im Medium Sinn beobachtet werden. Es öffnet sich kein »Sinnloch« (Luhmann 1984: 138); vgl. dazu mit Bezug auf moderne Literatur auch ders. 1997: 89-91. 6 Dies soll zu einem – im Sinne der Erzähltheorie – unmöglichen Erzählen führen, das dann auch nur beschrieben werden kann. Vgl. Martinez/Scheffel 2002: 131f. 7 Vgl. zu den narrativen Ebenen Genette 1998: 162-165. 8 Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden durch Angabe der Seitenzahlen im Text wiedergegeben, sofern es sich um Zitate aus dem spanischen Original handelt, erfolgt eine komplette Angabe. 9 Vgl. für eine Definition des Zufalls, die die Grundlosigkeit hervorhebt, Bubner 1998: 3-21. »Kontingenz« meint dann »jenen Raum, der sich ontologisch erschließt, wo das Auch-anderssein-können regiert« und »Zufall im strengen Sinne ist dann dasjenige, was innerhalb dieses vorgängig eröffneten Raumes tatsächlich sich verwirklicht, wobei das faktische Eintreten einer aus einer Mehrzahl von Varianten ohne erkennbaren Grund erfolgt. […] Zufall ist grundlos fixierte Kontingenz« (ebd.: 6f.). 10 Vgl. McKinsey 1952: 5f. zur Definition des Kriegsspiels, die direkt auf die Information verweist: »It is clear that, starting out with a given game, it is possible to get an entirely different game by altering the rules regarding the information to be given to the players. Thus bridge would become a quite different game if everyone had to expose his cards at the beginning of the play. And one obtains form chess a completely new game (called Kriegsspiel) by denying to the players information about the choices of their opponents.« 11 Vgl. v. Neumann/Morgenstern 1961: 46f.: »Ein wichtiger

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Gesichtspunkt bei der Klassifizierung der Spiele ist der, ob die Summe der Zahlungen aller Spieler am Ende des Spieles stets Null ist oder nicht. Falls sie Null ist, können wir sagen, daß die Spieler nur untereinander die Gewinne oder Verluste teilen, ohne

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daß eine Erzeugung oder ein Verbrauch von Gütern vorliegt. Alle Unterhaltungsspiele sind von dieser Art. Aber die ökonomisch bedeutungsvollen Spiele sind meist ihrem Wesen nach anders. Dort wird die Summe aller Tauschmittel, das gesamte Sozialprodukt, im allgemeinen nicht Null und nicht einmal konstant sein. […] Die Spiele der ersten Art werden wir Nullsummenspiele nennen, solche der zweiten Art Nicht-Nullsummen-Spiele.« An dieser Stelle sollen die »Güter« durch etwas ersetzt werden, das selbst keine Sache ist, aber ebenso, in Tsuns oben beschriebenen Kommunikationsunternehmen, produziert wird, zumindest als mögliche Selektionsofferte an den Chef in Berlin: eine Nachricht. Insofern ist Tsuns Niederlage (sein Tod) nicht äquivalent zu Maddens Gewinn. Obwohl Tsun und Madden einen Weg des Spielbaums verfolgen, der aus dem Informationsschema des Zweikampfs resultiert, differieren die Partien, die sie spielen, an dieser Stelle. 12 Madden ist also insofern ein unmöglicher Gegenspieler, als er eine Voraussetzung jeden Spiels mit unvollständiger Information verletzt: »Wir betrachten einen festen, speziellen Zug Mk. […] Ist Mk […] ein persönlicher Zug des Spielers kk, so ist es sehr wichtig zu wissen, wie weit kk informiert war, als er seine Entscheidung bezüglich Mk […] traf.« (v. Neumann/Morgenstern 1961: 51). Madden kann über das unwahrscheinliche Unternehmen nicht informiert gewesen sein, die Spuren sind verwischt, nicht einmal die Station wird ausgerufen (81), der Weg zu Albert ist ein Labyrinth. Madden handelt hingegen so, als sei er über Mk informiert bzw. als sei ihm jede Wahl Tsuns bekannt, sodass er gegen den Bluff unempfindlich wird. Durch seine stets unvollständige Information bzgl. der Züge Tsuns werden seine persönlichen Züge zu Zufallszügen, die aber dennoch immer »ins Schwarze treffen«. Dies ist zwar nicht allgemein unmöglich, da bei einer genügend hohen Anzahl von Partien auch dieser Fall nicht gänzlich ausge-

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Fiktive

schlossen werden könnte. Im Rahmen der einen Auseinandersetzung ist das Handeln aber dennoch im Sinne der Unmöglichkeit

Wahllosigkeit

zu qualifizieren. Literaturverzeichnis Aristoteles (1982): Poetik, Griechisch/Deutsch, hrsg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam. Borges, Jorge Luis (1971): »El jardín de senderos que se bifurcan«. In: Ficciones 1, Madrid: Alianza: 101-116. Borges, Jorge Luis (1992): »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«. In: ders., Fiktionen. Erzählungen, hrsg. v. Gisbert Haefs/ Fritz Arnold, übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/ Gisbert Haefs, Frankfurt/Main: Fischer: 77-89. Bubner, Rüdiger (1998): »Die aristotelische Lehre vom Zufall«. In: Gerhart von Graevenitz/Odo Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München: Fink: 3-21. von Clausewitz, Carl (1996): Vom Kriege, hrsg. v. Wolfgang Pickert/Wilhelm Ritter von Schramm, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Genette, Gérard (1998): Die Erzählung, hrsg. und m. einem Nachwort versehen v. Jochen Vogt, übers. v. Andreas Knop, München: Fink, 2. Aufl. Klaus, Georg (Hrsg.) (1968): Wörterbuch der Kybernetik, Berlin: Dietz. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Ders. (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Ders. (1992): Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag. Ders. (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Ders. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/ Main: Suhrkamp.

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Martinez, Matias/Scheffel, Michael (2002): Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck, 3. Aufl.. McKinsey, John Charles Chenoweth (1952): Introduction to the Theory of Games, New York: McGraw-Hill.

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von Neumann, John/Oskar Morgenstern (1961): Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, hrsg. v. S. Sommer, unter Mitwirkung v. F. Docquier, Würzburg: Physica. Plumpe, Gerhard/Werber, Niels (1995): »Umwelten der Literatur«. In: dies. (Hrsg.), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag: 9-33.

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) vakat 116.p 36038807402

»The prime action of use is

8448 verschiedene Jeans. selection, and here we are

Zu Wahl und Selektion im Internet.1 Jens Schröter

halting indeed.« (Vannevar Bush, As we may think, 1945)

Die Freiheit der Wahl hat quantitative Grenzen. Wird die Zahl der Alternativen zu hoch, so wird zuviel Zeit benötigt, um eine Entscheidung treffen zu können oder es wird angesichts eines unüberschaubaren Horizonts möglicher Alternativen jede Wahl durch den Verdacht belastet sein, vielleicht nicht die richtige gewesen zu sein. Anders gesagt: Nur durch Begrenzung ist die Freiheit der Wahl überhaupt möglich. Nirgendwo wird dieses Problem so deutlich wie im Internet, das eine zuvor unbekannte Informationsvielfalt verspricht. Aber leider besitzt es keine zentrale Linkverwaltung oder ein andersgeartetes, einheitliches Verzeichnis: Ein solches ist, angesichts der dynamischen und ständig expandierenden Struktur des Netzes, zwar kaum vorstellbar, aber die Unübersichtlichkeit des Webs fordert geradezu Ordnungsstrukturen oder Hierarchien, die Signifikanz erzeugen. Winkler betont, dass Suchmaschinen wie AltaVista, Yahoo oder neuerdings Google!2 genau deswegen entwickelt worden sind. Und obwohl sie für die meisten alltäglichen Zwecke ausreichende Ergebnisse liefern, bleibt oft ein Schatten des Zweifels. So erfassen die Suchmaschinen nur Bruchteile des Webs, strukturieren die gelieferten Antworten auf für den User

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Zu Wahl und Selektion

undurchschaubare (und manchmal schlicht kommerziell-manipulative) Weise vor oder liefern oft immer noch zu viele Ergebnisse

im Internet

(vgl. Winkler 2002). Es ist also (meistens) nicht schwer, »passende« Informationen zu finden – aber dafür ist es umso schwerer zu wissen, ob die gefundene Information die beste oder überhaupt eine richtige Antwort auf die gestellte Frage ist (es sei denn die Frage war ausreichend präzise gestellt, z.B. wenn man ein Buch in einem genau spezifizierten und autoritativen Katalog sucht). Gerade der Verzicht auf bestimmte ordnungsstiftende Verfahren bei der Entwicklung des World Wide Web (=WWW) ermöglichte dessen radikale Ausdehnung in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Es besteht also das Paradox, dass die Bedingungen der Expansion des Informationsangebots zugleich die Selektion aus diesem Angebot erschweren: Die enorme Freiheit, Wahl zu bieten3, droht sich, so betrachtet, in die Unmöglichkeit der »freien« Auswahl zu verkehren. Und das ist umso merkwürdiger, als das heutige so genannte »Internet« historisch aus einer Verkettung sehr unterschiedlicher Entwicklungen entstanden ist, von denen mindestens eine – und nur diese wird hier diskutiert – genau die Frage, wie nämlich mit der ständig wachsenden Fülle an Informationen noch umzugehen sei, zu beantworten versuchte.4 Diese Konzeption, die um 1965 durch Ted Nelson den Namen Hypertext bekam, wurde schon 1934 in Paul Otlets fast vergessenem Traité de documentation und, weit weniger vergessen, 1945 in Vannevar Bushs Aufsatz As We May Think angedacht. Bei Bush und bei Nelson wird angestrebt, die Masse an Informationen nach einem Modell oder Bild des Denkens »assoziativ« und – bei Nelson auch durch eine zentrale Linkverwaltung – überschaubar zu strukturieren: So soll Selektion ermöglicht werden. Daraus wird die geradezu utopische Hoffnung auf ein universelles Archiv abgeleitet, das alles Wissen der Menschheit nicht nur umfasst, sondern auch auffindbar hält – aber heute führt das Internet dieses Ziel zumindest in mancher Hinsicht ad absurdum. Wie und warum dies geschah und welche

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Subjekt- und Machteffekte dadurch erzeugt werden könnten, sind die Fragen, die hier diskutiert werden sollen. Jens Schröter

Im Juni 1945 erschien im Heft Nr. 176 des Atlantic Monthly Van-

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nevar Bushs Aufsatz As We May Think (vgl. Bush 1945). Bush koordinierte im Zweiten Weltkrieg die Nutzung der Wissenschaften für die Kriegsführung und stand dabei zeitweise mehr als 6000 Wissenschaftlern vor. Dabei kam es genau zu den Problemen des Zugriffs auf Wissen und der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern, für die Bush Lösungen vorzuschlagen sucht (vgl. Zachary 1997: 269). Sein Ausgangsproblem bestand darin, inwiefern Wissenschaftler noch effektiv arbeiten können, wenn einerseits eine ständig wachsende Menge an Wissen und andererseits der Zwang zu immer größerer Spezialisierung zusammenkommen. Bush beklagt, dass die Methoden der Übertragung, Speicherung, Ordnung und Selektion des Wissens alt und inadäquat seien. Gegen diese traditionellen Methoden hält er die Technikfiktion MEMEX. An dieser, mit auf Mikrofilm gespeicherten Daten operierenden Anordnung sollen hier nur zwei Aspekte herausgestellt werden. Erstens bemängelt Bush, dass die traditionelle Ordnung des Wissens vor allem durch die künstlichen und uneffektiven Indizierungssysteme geprägt sei. Dagegen hält er die »natürliche« Ordnung des menschlichen Denkens: »It [= ›human mind‹] operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain […]. The first idea, however, to be drawn from the analogy concerns selection. Selection by association, rather than by indexing, may yet be mechanized.« (Bush 1945: 106)

Gegenüber der Selektion aus einem z.B. alphabetisch organisierten Archiv, in welchem inhaltlich völlig disparate Materialien in einer Kategorie verbunden sind, ist im MEMEX-Konzept entschei-

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Zu Wahl und Selektion

dend, dass jeder Benutzer eigene Querverbindungen zwischen Materialien aufbauen kann, indem auf den entsprechenden Mi-

im Internet

krofilmvorlagen Markierungen aufgebracht werden. Die so entstehenden Vernetzungen sind auch für andere Benutzer des Archivs einseh- und ergänzbar. So soll im Laufe der Zeit eine völlig neue Form der Enzyklopädie entstehen, in der zusammengehörige Daten assoziativ verknüpft, mithin leicht auffindbar sind. Das menschliche Bewusstsein ist aber zweitens für Bush nicht nur Vorbild – es hat auch Mängel. Insbesondere das Vergessen, das Verblassen der einmal verknüpften Pfade (trails) zwischen verschiedenen Informationen soll im MEMEX (= Memory Extender) überwunden werden. So bahnt sich bei Bush bereits eine Vorstellung an, die bei Nelson geradezu eskalieren wird: Das Phantasma, alles müsse auf immer in den assoziativ organisierten »Superenzyklopädien« gespeichert werden. So spricht Bush am Schluss seines Aufsatzes vom anzustrebenden »world’s record« (1945: 108), der alles Wissen umfassen soll. Jedoch ist weniger klar, wie die dann entstehenden gigantischen Archive beherrscht werden können. Denn in Bushs mentalistischem Konzept5 wird übersehen, dass das Vergessen in der Ökonomie des menschlichen Gedächtnisses eine wichtige Funktion erfüllt. Vergessenes wird nicht einfach gelöscht, sondern wird – wie die Psychoanalyse gezeigt hat – in Form von Verdichtung und Verschiebung aufgehoben: »Die Vorstellung, praktisch unbegrenzte Quantitäten mit Hilfe einer neuen Zugriffstechnik dennoch beherrschen zu können, lebt von der Utopie, vollständig ohne Verdichtung auszukommen, ja, sie ist ein Gegenmodell zu Verdichtung selbst« (Winkler 1997: 174). Außerdem führt Bushs Idee, die einmal erstellten Verknüpfungen zwischen verschiedenen Dokumenten sollten nicht verlöschen, die schlicht auf der Tatsache beruht, dass Bush über ein auf Mikrofilm beruhendes Dispositiv schreibt, in dem trails auch gar nicht gelöscht werden können, dazu, dass die entstehenden, assoziativen Vernetzungen starr sind. Sie können kaum noch verändert werden – z.B. wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass einige der in einer ge-

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gebenen Assoziationskette befindlichen Dokumente im Lichte neuerer Ergebnisse fehlerhaft sind. Die Lösch- und Änderbarkeit der Verknüpfungen ist erst dann möglich, wenn sie, statt irreversible Inskriptionen in photographische Emulsionen zu sein, zu

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löschbaren elektronischen Aufzeichnungen oder gar Software werden.6 Den letzten Schritt geht in den sechziger Jahren Ted Nelson. Er diskutiert im Unterschied zu Bush keine maschinellen Vorrichtungen, sondern eine bestimmte »information structure, a file structure, and a file language« (Nelson 1965: 84).7 Aus den bei Bush vom User erzeugten trails, die nicht verlöschen, werden von der Software verwaltete links, die ebenso wie die verlinkten Files löschbar sind. Damit unter diesen Bedingungen aber eine Konsistenz der Verweisungen gewährleistet bleibt, sieht Nelson ein zentrales Verzeichnis aller gesetzten Links (»link table«) vor (Nelson 1965: 90). Er bemerkt weiter: »Systems of paper have grave limitations for either organizing or presenting ideas […] Let me introduce the word ›hypertext‹ to mean a body of written or pictorial material interconnected in such a complex way that it could not conveniently be presented or represented on paper. […] Such a system could grow indefinitely, gradually including more and more of the world’s written knowledge« (Nelson 1965: 96).

Besonders hervorgehoben seien zwei Aspekte, die stark an Bush erinnern. Erstens deutet Nelson an, dass der Hypertext gegenüber dem bisherigen Aufschreibesystem (Papier und Schreibzeug) eine für die Organisation und Präsentation von Gedanken etc. angemessenere Form darstellt. Zweitens steht auch für Nelson das endlose Wachstum des Systems fest – solange bis es alles Wissen der Welt umfasst. Gerade diese letzten beiden Vorstellungen weiten sich noch aus: 1974 erscheint im Eigenverlag sein Buch, oder besser, seine beiden Bücher Dream Machines: New Freedoms through Computer Screens – A Minority Report / Computer Lib: You Can and Must Understand Computers Now (vgl. Nelson 1987).8 Dort schreibt er:

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Zu Wahl und Selektion

»By ›hypertext‹ I mean non-sequential writing. Ordinary writing is sequential for two reasons. First it grew out of speech and speech-making, which have to be sequen-

im Internet

tial; and second, because books are not convenient to read except in sequence. But the structures of ideas are not sequential« (Nelson 1987: 29).

Der Hypertext ist für Nelson die einzig richtige Form, in der sich das schon immer hypertextuelle Denken ausdrücken kann, soll und muss. Bushs und vor allem Nelsons Konzepte der assoziativen Organisation der Archive sind logozentrisch, d.h. sie folgen der Illusion, dass es Formen der Anordnung von Zeichen gibt, die sich näher an der Intelligibilität, am »lebendigen« Geist befinden als die »tote«, lineare Schrift – was sich auch an Nelsons Idee, Schrift sei eine Ableitung des Gesprochenen und seiner merkwürdigen Vorstellung, Bücher seien praktisch nur linear zu lesen, zeigt. Diese logozentrische Struktur erlaubt die unbeschränkte Expansion des Archivs: »A grand hypertext, then, folks, would be a hypertext consisting of ›everything‹ written about a subject, or vaguely relevant to it. […] And then, of course, you see the real dream. The real dream is for ›everything‹ to be in the hypertext« (Nelson 1987: 32; Hervorhebung J. S.).

Wieder taucht hier die Utopie eines universellen Archivs auf, das absolut vollständig und verlustfrei ist. Nelson schreibt explizit: »The possibility of using a hypertext network as a universal archive is a dramatic development« (Nelson 1987: 33). Es bleibt zu sagen, dass Nelson mit seinen Konzepten, die er im Laufe der Jahre zu der Software Xanadu verdichtete, wenig Erfolg hatte. Die rasche Ausbreitung einer hypertextuellen Software gelang erst nach 1989. In diesem Jahr entwickelte eine Gruppe von Wissenschaftlern um Tim Berners-Lee eine Applikation, um den am CERN9 arbeitenden Forschergruppen den Austausch und die Organisation von Information zu erleichtern: Das WWW.10 Nach der Freigabe des WWW am 30.04.1993 entstanden rasch Browser wie Mosaic und dann Netscape Navigator und

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später noch Microsofts Internet Explorer. Durch diese Software wurde der Umgang mit den Datennetzen vereinfacht. Eine rasche Expansion setzte ein. Diese hatte ihre Möglichkeitsbedingung im speziellen Design des WWW, denn es gibt – anders als in Nelsons

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Entwurf – kein zentrales Linkverzeichnis: »Typically, though, hypertext systems were built around a database of links. […] [This] did guarantee that links would be consistent, and links to documents would be removed when documents were removed. The removal of this feature was the principle compromise made in the W3 [= WWW] architecture, which then, by allowing references to be made without consultation with the destination allowed the scalability which the later growth of the web exploited.« (Berners-Lee 1996)

Das bedeutet also, dass Links, die auf eine bestimmte Seite zeigen, nicht verschwinden, wenn die Zielseite selbst verschwindet. Ferner sind die Links im WWW – auch anders als in Nelsons Xanadu – unidirektional und univisibel, d.h. nur vom zeigenden Dokument aus setzbar und sichtbar: Auch dies macht die link maintenance problematisch, da ein Anbieter, der eine Website aus dem Netz nimmt, keine Möglichkeit hat festzustellen, welche Anbieter Links auf diese Seite gesetzt haben und folglich diese Anbieter auch nicht gezielt über das Verschwinden der Seite informieren kann (vgl. Pam 1997).11 Selbst wenn die Seite nur an eine andere Adresse verschoben wird, zeigt der Link nicht mehr korrekt auf das Dokument, da die Links nicht das Dokument, sondern seinen Ort adressieren: Andere Hypertextsysteme kennen dagegen den Unterschied zwischen document identifiern und document locators – im WWW gibt es dagegen nur URLs (Uniform Resource Locators). Der Verzicht auf diese Features erlaubt aber – und Berners-Lee stellt das ja explizit heraus – die ungebremste Expansion.12 Nelson war klar, dass nur ein zentrales Linkverzeichnis in dem Fall, dass die links und/oder die verlinkten Dokumente löschbar sein würden, die Konsistenz des Archivs gewährleisten könne. Wenn ein solcher Mechanismus aber fehlt, müssen jene positiven

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Zu Wahl und Selektion

Funktionen des Vergessens wieder eine Rolle spielen, die Bush und auch Nelson, insofern dieser trotz Löschbarkeit der Daten ein

im Internet

universelles Archiv anstrebte, vermeiden wollten.13 So weist Winkler etwa darauf hin, dass es sinnvoll wäre, wenn es im WWW Verfallsdaten für Websites gäbe. Nur so sei absehbar, ob und wenn ja, wann eine Information aus dem Netz genommen wird (was das Zitieren von Websites und die eigene Linkverwaltung erleichtern würde) und schließlich könnten Sites nach Ablauf einer gewissen Frist automatisch vom Server gelöscht werden. Da es ein solches Feature aber nicht gibt, füllt sich das Internet zunehmend mit Dokumenten, die vor Jahren zum letzten Mal aktualisiert wurden und deren Informationsgehalt gleich Null ist. Solche Sites werden trotzdem bei einer Internet-Suche mit angezeigt und erschweren das Auffinden relevanter Informationen, zumal viele Dokumente in zahlreichen verschiedenen Versionen vorliegen und oft nicht ermittelt werden kann, welche die gültige ist (vgl. Winkler 1997: 175f.). Ob das WWW Mechanismen implementieren könnte, die den Prozessen der Verdichtung und Verschiebung ähneln, ist noch unklar. Berners-Lee beruft sich in ähnlicher Weise wie Bush und Nelson auf den Vergleich zum Gehirn. So bemerkt er, dass sein Hypertext-System die »associations between disparate things« ermögliche, »although this is something the brain has always done relatively well« (Berners-Lee 1998). Andernorts heißt es schlicht: »[W]eb documents have links, and neurons have synapses« (Berners-Lee 1995). Diese Metaphern verdecken jedoch, dass in seinem Konzept – eben aufgrund des fehlenden zentralen link tables und irgendeiner geregelten Form des Verschwindens von nicht mehr aktuellen Informationen – ein ständig wachsender Datenozean relativ wenig strukturierter Information entsteht: Man stelle sich nur vor, Erinnerungen würden beständig ihren Platz wechseln und die zerebralen Verweise auf sie ins Leere gehen; oder jede Erinnerung würde sich in vielfältige, mehr oder weniger verschiedene Versionen zerstreuen, ohne dass man wüsste, welche die richtige ist. In dem sich so herausbildenden

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»pool of human knowledge« (Berners-Lee et al. 1994: 76) sind Informationen nicht mehr sorgfältig (assoziativ) angeordnet, das langsame Verfolgen der Verweisungsketten erlaubend, sondern kämpfen – wie Fische in einem »pool«14 – um ihr Überleben,

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darum, wahrgenommen zu werden. Dass das Netz bald mit darwinisierenden Metaphern beschrieben wurde, ist also naheliegend (vgl. Terranova 1996). Aus dem wohlgeordneten universellen Archiv wird mehr und mehr eine Art marktschreierischer Supermarkt. Schon 1991 war das Verbot der kommerziellen Aktivitäten in Datennetzen aufgehoben worden. Im Sinne von Jonathan Crarys Studie zur Archäologie der Aufmerksamkeit könnte man argumentieren, dass die »Logik des Zusammenhanglosen« (2002: 37) – eine Beschreibung, die durchaus auf das WWW zutreffen könnte – charakteristisch für die (kapitalistische) Moderne sei, gleichzeitig ist »diese Logik jedoch darauf aus, ein disziplinäres Regime der Aufmerksamkeit durchzusetzen« (ebd.: 23). Die »wechselnden Konfigurationen des Kapitalismus, mit ihrer endlosen Abfolge von neuen Produkten, Reizquellen und Informationsströmen [zwingen] Aufmerksamkeit und Zerstreuung ständig über neue Grenzen und Schwellen […] und [reagieren] dann mit neuen Methoden des Managements und der Regulierung von Aufmerksamkeit« (ebd.). Zweck der Sache ist die Produktion eines Subjekts, das »produktiv, lenkbar, kalkulierbar« (ebd.: 16) und mithin effizient ist. Doch zugleich erzeugt diese »Artikulation eines Subjekts über das Vermögen der Aufmerksamkeit zugleich ein Subjekt […], das sich solchen disziplinären Imperativen« (ebd.: 23) tendenziell entzieht. Crary verdeutlicht dies an einem Subjekt, dessen gewünschte Aufmerksamkeit in eine absorptive, wachtraumähnliche Hypnose übergeht. Zu dem Zeitpunkt, als das WWW entstand, kam zu den »wechselnden Konfigurationen des Kapitalismus« eine neue Variante hinzu. Es seien hier keine einfachen kausalen Verbindungen unterstellt. Weder der Kollaps des Realsozialismus just 1989/90

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noch die Emergenz des so genannten »Neoliberalismus« oder besser: postfordistischen Akkumulationsmodells (vgl. Hirsch

im Internet

1995: 75-94; 2001) – mindestens schon seit Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und dann durch den Zusammenbruch des »Systemkonkurrenten Realsozialismus« zu Triumphgeheul gesteigert – sind monokausal auf die Erfindung des WWW rückführbar. Ebenso kann das WWW nur schwer in Rekurs auf diese Ereignisse erklärt werden. Doch die Struktur des WWW »passt« einfach sehr gut zu der sich herausbildenden politischökonomischen Konfiguration. So entspricht z.B. die durch den Verzicht auf ein zentrales Linkverzeichnis ermöglichte rasche Expansion des WWW der raschen Tendenz des nunmehr »globalen Kapitalismus«, sich ständig auszubreiten; die vernetzte Kommunikation und der Datentransfer per Internet erlauben, Unternehmensteile per Outsourcing oder Offshoring an andere Orte zu verschieben; generell passt die Programmierbarkeit von Computern zur flexiblen Spezialisierung der Produktion etc. (vgl. Altvater 1998: 60; Hirsch 1995: 88f.; Sennett 1998: 65). Es ist naheliegend, dass der postfordistischen Formation auch ein oder mehrere neue Formen von Subjektivität entsprechen, die möglicherweise mit dem expansiven und ungeordneten WWW korrelieren. Das informationsverarbeitende Subjekt Bushs und Nelsons – und es sei unterstrichen, dass der mentalistische Vergleich zwischen Gehirn und Hypertext nicht nur ein Bild des Hypertextes, sondern eben auch ein Bild des Denkens bzw. des Subjekts zeichnet – war noch eine Art Wissenschaftler oder Schriftsteller, der gezielt und systematisch Informationen auswählt und ggf. eigene Überlegungen und Verknüpfungen zum Archiv hinzufügt: »The owner of the memex, let us say, is interested in the origin and properties of the bow and arrow. Specifically he is studying why the short Turkish bow was apparently superior to the English long bow in the skirmishes of the Crusades. He has dozens of possibly pertinent books and articles in his memex. First he runs through an encyclopedia, finds an interesting but sketchy article, leaves it projected. Next, in a history, he finds another pertinent item, and ties the two together. Thus he goes, buil-

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ding a trail of many items. Occasionally he inserts a comment of his own, either linking it into the main trail or joining it by a side trail to a particular item. When it becomes evident that the elastic properties of available materials had a great deal to do with the bow, he branches off on a side trail which takes him through text-

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books on elasticity and tables of physical constants. He inserts a page of longhand analysis of his own. Thus he builds a trail of his interest through the maze of materials available to him.« (Bush 1945: 107)

Bushs Beispiel suggeriert, dass im MEMEX nur sorgfältig recherchierte Informationen eingegeben oder sinnvolle und nutzbringende Verknüpfungen angelegt werden. Es unterstellt, dass das »Denken eine gute Natur und der Denker einen guten Willen besitzen« (Deleuze 1997: 172). Die Selektion aus dem universellen Archiv sollte in Bushs und Nelsons Konzepten durch die logozentrische Korrelation zwischen der Struktur des Hypertextes und der Struktur des Denkens gewissermaßen »natürlich« und »selbstbestimmt« ermöglicht werden. So schien eine distanzierte, souveräne Wahl aus klar überschaubaren Alternativen garantiert. Und noch Berners-Lee konnte sich am CERN, also in einer Wissenschaftlerkultur, implizit darauf verlassen, dass nur sinnvolle und richtige Informationen eingegeben werden, dass alle daran interessiert sind, die Übersicht zu behalten. Die Expansivität des WWW konnte so nicht als Problem erscheinen. Aber im mittlerweile für jeden, auch außerhalb von Wissenschaftlerkulturen15 zugängigen WWW garantiert keine »Neigung zum Wahren« (ebd.: 173) – außer in autoritativen Bibliothekskatalogen, Wissenschaftsseiten etc. –, dass nicht neben zahllosen ungeprüften Informationen auch Verschwörungstheorien, persönliche Idiosynkrasien, vorsätzliche Lügen, politische Extremismen etc. Eingang finden. In diesem Rauschen ist es, vor allem für kommerzielle Anbieter, von zentraler Wichtigkeit, überhaupt wahrgenommen zu werden, z.B. dadurch, dass in bestimmten Suchmaschinen die ersten Plätze auf der Trefferliste an Meistbietende verkauft werden (vgl. Baumgärtel 1998). Die Ausbreitung des e-commerce wird von ganz konventioneller Fernseh- und Printmedienwerbung begleitet, mit

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Zu Wahl und Selektion

der die Firmen auf ihre Netzpräsenz hinweisen wollen. Und wer mehr Werbung machen kann, erhöht seine Chancen mehr Links

im Internet

auf sich zu ziehen. Das WWW macht den User zu einem Kunden und potentiellen Käufer, dessen Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Segment des unüberschaubaren Angebots gelenkt werden muss. Die souveräne Distanz des wählenden Subjekts ist hier nicht mehr gegeben. Aber das postfordistische Akkumulationsmodell fordert vom Subjekt auch nicht souveräne Distanz und Stabilität, sondern vor allem Flexibilität (vgl. Sennett 1998) und Selbstdisziplin in der Anpassung an Erfordernisse des Marktes (vgl. Hirsch 2001: 200). Das bedeutet zunächst die konkrete Forderung, der oder die Einzelne müsse sich eben beruflich anpassen, räumlich mobil und ständig bereit sein, mehr und Anderes zu lernen. Es bedeutet auch, stets mehr und Anderes konsumieren zu wollen (Mode). Implizit wird daraus schnell der sehr viel allgemeinere Imperativ, ständig ein(e) Andere(r) sein zu können. Gerade das WWW scheint dieser Forderung entgegenzukommen – worauf etwa Sherry Turkle in ihrer Studie zur Identität in Zeiten des Internet hinweist. Über ihre eher bekannte These hinaus, dass die Homepages, MUDs und Chatrooms etc. die spielerische Arbeit an der eigenen Subjektivität erlauben und so quasi-therapeutische Effekte erzielen können, bemerkt sie ganz explizit, dass die Rollenspiele im Internet als »Flexibilitätsübungen« mit dem Zweck der Anpassung »an neue Arbeitsplätze, neue Berufslaufbahnen, neue Geschlechterrollen und neue Technologien« (1998: 415f.) verstanden werden können.16 So gesehen verkörpert das gegenwärtige WWW »die kulturelle Logik des Kapitalismus«, die verlangt, »dass wir unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen von einer Sache zu einer anderen ›umschalten‹ können« (Crary in Baumgärtel 1997). Die spezifische Form seiner Links, durch die User in einem relativ ungeordneten Informationsozean herumsurfen, ist Ausdruck dieser Logik. Zugleich soll das Subjekt sich nicht verlieren, tagtraumhaft in den Fluten des Webs versinken – was vielleicht sogar eine Form des

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Widerstandes wäre (vgl. Crary 2002: 67). Es muss gelernt werden, trotz der sich ständig ändernden Ansprüche und Ansprachen den »Überblick zu wahren«. Daher gibt es Handbücher, die Usern die Effiziente Suche im Internet beibringen wollen, damit sie vom

Jens Schröter 128 | 129

»Freizeit-Surfen hin zur professionellen Recherche« (Babiak 1997: 9) kommen. Subjekte sollen effektiv sein. Und sie sollen mobil und flexibel sein, ohne doch zu zersplittern, eben »wellenhaft […]. Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst« (Deleuze 1993: 258). Nicht mehr nur die körperliche, sondern auch die informationsverarbeitende Fitness soll gestärkt werden. Auch Turkle fordert, dass das beschworene multiple Selbst einen stabilen Kern besitzen muss: »Ohne Kohärenzprinzip verliert sich das Selbst in alle Richtungen. [Die multiple Identität] ist nicht annehmbar, wenn sie lähmende Verwirrung bedeutet« (Turkle 1998: 419f.). Das Oszillieren zwischen Zerstreuung, Verstreuung, Suche und Refokussierung, Fund im WWW ist ein Training für das von der postfordistischen »Informationsgesellschaft« geforderte Subjekt. Der Umgang mit den schon genannten Suchmaschinen, die die Dispersion der Informationsangebote temporär rezentrieren und z.B. durch 8.448 Ergebnisse wieder zerstreuen, ist ein Beispiel dafür. Übrigens ist die Zahl 8.448 nicht willkürlich gewählt. Denn der »große Vorsitzende« Bill Gates lehrt uns weise und genial über die Potentiale einer individualisierten Produktion: »In einer wachsenden Zahl von Einzelhandelsgeschäften können sich die Kundinnen für einen Aufpreis von ungefähr zehn Dollar ihre Jeans nach genauen Angaben anfertigen lassen – wobei sie zwischen 8.448 verschiedenen Kombinationen auf Hüftund Taillenmaßen, Beinlängen und Schnitten wählen können« (Gates 1997: 264).

Dies zeigt das – hier bezeichnenderweise auf konsumierende Frauen zugeschnittene – (post-)fordistische Modell von »Freiheit«, die darin bestehen soll, aus 8.448 Alternativen wählen zu können, ohne dass klar wäre, wie eine solche Fülle von Möglichkeiten zu überblicken ist. Dieses Konzept passt sehr gut zum WWW,

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Zu Wahl und Selektion

dem universellen Supermarkt, dessen Hauptproblem ja gerade darin besteht, den User vor eine unüberschaubare Fülle mögli-

im Internet

cher Informationen zu stellen, eine Fülle, die oft als Ausweis von »subversiver« Meinungsvielfalt und Informationsreichtum gepriesen wird. Aber: »Eine Recherche, die [8.448, J. S.] Antworten zum Resultat hat, hat nicht Reichtum, sondern weißes Rauschen geliefert« (Winkler 1997: 176). Es stellt sich offenkundig die Frage, ob die maßlose Inflation von Information nicht die heutige Version der Zensur ist. Statt Informationen zu verweigern oder zu unterdrücken, wird ihre Fülle durch die mit dem Netz, Radio- und Fernsehprogrammen gegebenen 8.448 Alternativen so weit vermehrt, dass ebenfalls jede »freie Wahl« unmöglich wird. Ist diese Behauptung nicht durch Shannons informationstheoretische Analyse gestützt, die besagt, dass es nur zwischen Redundanz (restriktiver Zensur) und Rauschen (inflationärer Zensur) Information gibt? Aber vielleicht geht es gar nicht mehr um Information, vielleicht dient das WWW vielmehr dem Zweck, die Wahl aus einer ständig sich verändernden und ausdehnenden Produktpalette einzuüben, denn nur so kann man effektiver Konsument des globalen, permanent expandierenden Marktes werden. Und am Horizont zeichnet sich schon eine neue Variante der Selektion im Internet ab. Es wird diskutiert, ob nicht intelligente Agenten vom Umgang mit den Nutzern lernen und so selbsttätig als »externe Gedanken« (so symptomatisch Heylighen 1997: 78) das Netz durchstreifen und Informationen auswählen könnten (vgl. Maes 1994). Das Denken wird zunehmend als modulares Aggregat verstanden (vgl. Minsky 1986), dessen Komponenten sich auslagern, formalisieren und technisch beschleunigen lassen. Die Verschiebung von Bushs Modell eines gutmeinenden Denkers zum oszillierenden Subjekt des WWW impliziert also noch etwas: War es bei Bush und Nelson die assoziative Struktur des Denkens, die in die Apparate und Programme externalisiert werden sollte, um eine Selektion zu ermöglichen, so soll jetzt das Selektieren als Aufmerksamkeitstechnik selbst in Programme – erst Suchmaschinen, dann Agenten – ausgelagert werden. Aus

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der quasi-McLuhanschen Externalisierung der Strukturen des Denkens in Hypertexten wird das postfordistische Outsourcing der Vermögen, spezieller der Aufmerksamkeit des Subjekts.17 So könnte man fast sagen, dass Subjekte mehr und mehr nach dem

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Modell gegenwärtiger Unternehmen – die ja nun auch eine »Seele haben, was wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt ist« (Deleuze 1993: 260) – modelliert werden. Nicht mehr soll das Netz wie das Denken, sondern eher das Denken als »mental marketplace« (Minsky 1986: 284) operieren. Ist es nicht bezeichnend, dass sich in Deutschland, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, schon das Unwort »Ich-AG« eingebürgert hat? Nur durch maschinelle und somit standardisierte Formen der Wahl (vgl. Manovich 2001: 57-61) bleibt die radikale Inflation und Diversifizierung der Angebote für die Subjekte halbwegs beherrschbar. Und umgekehrt: Es wird zum maschinellen Zwang, ständig »frei« wählen zu müssen. Das Bild des Denkens ist: Jede/r will informiert sein, jede/r will, um »frei« zu sein, aus 8.448 verschiedenen Jeans, Zahnbürsten, Versicherungsangeboten und und und auswählen, jede/r will ständig selegieren. Freiheit der Wahl ist die Notwendigkeit, alle Externalisierungen, jedes Outsourcing heranzuziehen, um überhaupt wählen zu können. Vielleicht fehlt die »Macht einer neuen Politik, die das Bild des Denkens stürzen würde« (Deleuze 1997: 179), einer Politik, die Subjekte nicht als ständig funktional selegierende Einheiten versteht. Gerade die dysfunktionalen Anteile, das Zögern, die Unentschlossenheit beim Wählen sollten in ihr Recht gesetzt werden. Vielleicht muss es ein Recht geben, nicht entscheiden, wählen, selegieren zu müssen, nicht mit 8.448 Alternativen terrorisiert zu werden, ein Recht auf Freiheit von Information. Vielleicht muss es zum Recht werden, einfach im Web (und auch in Einkaufszentren) tagtraumhaft verloren surfen zu dürfen. Aber vielleicht nehmen sich viele Netznutzer schon tagtäglich diese Rechte …

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Zu Wahl und Selektion

Anmerkungen

im Internet

1 Ich danke Bernhard Ebersohl für Recherchen und Korrekturen. 2 Vgl. http://www.google.de oder http://www.altavista.com u.v.m. 3 Dabei ist anzumerken, dass der Internet-Zugang in vielen Ländern der so genannten Dritten Welt kaum möglich ist. 4 Im Folgenden werden zum Internet beitragende Entwicklungslinien wie die verteilten Netzwerke mit packet-switching oder die Geschichte der Personal Computer ausgeklammert. Ebenso wird nicht auf konzeptuelle Vorläufer der Idee einer effizienten Organisation von Wissen eingegangen, wie Bibliotheken oder Gedächtnistheater etc. 5 Der

Vergleich

zwischen

dem

Computer

und

dem

menschlichen Gehirn ist nicht nur bereits in John von Neumanns erstem Text zum Digitalrechner anzutreffen, in welchem die heute noch immer standardisierte Rechnerarchitektur entwickelt wird (vgl. von Neumann 1945), sondern dominiert als Elektronengehirn-Metapher die fünfziger bis in die späten sechziger Jahre, vielleicht bis zum HAL 9000 in Kubricks Film 2001 – A Space Odyssey (GB, 1968). 6 Bush kommt in seinem späteren Essay Memex Revisited selbst auf dieses Problem zu sprechen: »Another important feature of magnetic tape, for our future memex, is that it can be erased. […] When we take a photograph we are stuck with it; to make a change we must take another whole photograph« (1969: 88). 7 Vgl. Carmody et al. 1969 zur Implementierung von Nelsons Konzept auf einem IBM 360. 8 Da die Wiederauflage von 1987 die zwei Bücher (Computer Lib + Dream Machines) so umfasst, dass sie »umgekehrt« aneinander gebunden sind und jedes Buch daher eine eigene Paginierung hat, werden bei allen folgenden Zitierungen Siglen (CL= Computer Lib; DM = Dream Machines) eingesetzt.

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9 = Centre Européenne pour la Recherche Nucléaire. 10 Das WWW beruhte auf Vorarbeiten Berners-Lees, dem schon 1980 erarbeiteten und assoziative Verknüpfungen verschiedener

Informationsbestände

erlaubenden

Enquire-Pro-

Jens Schröter 132 | 133

gramm. Vgl. Berners-Lee 1989/90: »In 1980, I wrote a program for keeping track of software with which I was involved in the PS control system. Called Enquire, it allowed one to store snippets of information, and to link related pieces together in any way. To find information, one progressed via the links from one sheet to another.« Tim Berners-Lee bestreitet zwar, direkt von Nelson beeinflusst gewesen zu sein, gibt aber zu: »Of course by 1989 there was hypertext as a common word, hypertext help everywhere, so Ted’s basic idea had been (sort of) implemented and I came across it through many indirect routes« (http://www.w3.org/ People/Berners-Lee/FAQ.html, letzter Zugriff Februar 2003). In Hypertext and our Collective Destiny (vgl. Berners-Lee 1995) bezieht er sich explizit auf Bush und dessen MEMEX. 11 Bidirektionale Links werfen wiederum neue Probleme auf: Auf populäre Seiten zeigen Tausende von Links. Wie sollte die Zielseite alle diese Verweise sichtbar machen können, ohne das selbst wieder ein undurchschaubares Chaos entstünde? Wesentliche Vorschläge zur Lösung dieser Probleme sind, die Verweise in »Metadaten« unterzubringen und zu filtern z.B. so, dass nur verweisende .edu-Seiten angezeigt werden. 12 Laut Berners-Lee et al. (1994: 80) stieg die Zahl der registrierten Web-Server von April 1993 bis April 1994 von 62 auf 829 an! 13 Wolf (1995) führt diesen Wunsch, das Vergessen vergessen zu können auf Nelsons Persönlichkeit zurück: »I was already taping our conversation, but Nelson clearly wanted his own record. Not because he was concerned about being quoted correctly, but because his tape recorder and video camera are weapons in an unending battle against amnesia. The inventor suffers from an extreme case of Attention Deficit Disorder, a recently named psychological syndrome whose symptoms include unusual

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Zu Wahl und Selektion

sensitivity to interruption. If he is stopped in the middle of anything, he forgets it instantly. Only by running his own tape recor-

im Internet

der could Nelson be confident that his words would not float off, irrecoverably, into the atmosphere. Nelson’s anxiety about forgetting is complicated by the drugs he takes. For his ADD, Nelson takes Cylert; for his agitation, he takes Prozac; for sleeplessness, he takes Halcion. Halcion can produce aphasia: during our lunch, Nelson sometimes found himself groping for a common word in the middle of a sentence.« 14 »Pool« kann übrigens nicht nur Tümpel oder Teich, sondern bezeichnenderweise auch »Kartell« bedeuten … 15 Die im Übrigen gelegentlich leider auch zu Fälschungen oder Plagiaten neigen … 16 Eine andere Weise, in der dieses Training stattfindet, ist die Distribution von Bildern flexibler Körper, vgl. Schröter 2002. 17 Es ist interessant, den Diskurs der »Externalisierung« menschlicher Vermögen in Medien (exemplarisch von McLuhan 1994 vertreten; kritisch dazu Tholen 1994; Winkler 1997: 52f.) historisch mit ökonomischen Strategien der Expansion und des Outsourcings zu verrechnen. Vgl. Hagen 2002. Literatur Altvater, Elmar (1998): »Kehrseiten der Globalisierung [Ein Gespräch mit Elmar Altvater]«. Telepolis 4/5, S. 54-61. Babiak, Ulrich (1997): Effektive Suche im Internet. Suchstrategien, Methoden, Quellen, Cambridge u.a.: O’Reilly. Baumgärtel, Tilman (1998): »Die Suchmaschine GoTo verkauft die besten Plätze auf ihren Trefferlisten«. http://www.heise. de/tp/deutsch/inhalt/te/1442/1.html

(Letzter

Zugriff

Februar

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»Ich sehe was, was du nicht siehst …« Zur Paradoxie der Medienwertung Helmut Schanze

Die alljährlichen Inszenierungen bei der Verleihung von Medienpreisen haben für das unbeteiligte Publikum den Anflug des Gespenstischen. Der Moderator öffnet einen Umschlag, liest einen Text, den er nach den Regeln des Geschäfts nicht kennen darf, und, natürlich völlig unabgesprochen, erhebt sich die oder der Erwählte im besten Kleid vom Sitz, verneigt sich vor den »Verlierern« und den anwesenden Gästen, und improvisiert eine kleine Rede, die unter Fachleuten der Redekunst mit dem Prädikat »kunstlos« bezeichnet werden kann. Das alles wiederholt sich in allen Gattungen, für die der Medienpreis ausgelobt wird. Dahinter steckt eine Jury, im Fall des Falles sogar mit dem Titel einer »Akademie« versehen, welche eben jene Zettelchen für den Moderator verfasst hat und die, natürlich streng geheim, nach einem strengen Ritual die preiswürdigen Persönlichkeiten aus einer Liste von Kandidaten, die natürlich ebenso streng geheim, zuvor aus einer noch größeren Zahl von Einreichungen ausgewählt hat. Auf die Wahl setzt sich die Wahl, und es ist wohl kein Geheimnis, dass das Geheimnis solcher Wahlen der strikte Verzicht auf jedes nachprüfbare Wahlkriterium ist. Aber: Jeder, der an einem solchen Verfahren je teilgenommen hat – und welcher Experte in

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Zur Paradoxie

Sachen Medien hätte dies nicht – müsste, allein schon aus Gründen des Selbstschutzes, genau dieser Feststellung wider-

der Medienwertung

sprechen. Die Wahl, von der hier behauptet wird, sie verzichte prinzipiell auf Kriterien, wird zu einer Expertise stilisiert, die, professionell durch und durch, von keinem Laien je begriffen werden kann und auch nicht soll. Natürlich, so wird man mit Recht einwenden: Es gibt Kriterien. Keinesfalls gilt der Satz, dass bei solchen Auswahlakten nicht gestritten werden darf, auch, dass keine Argumente ausgetauscht würden. Gestritten wird hinter den Kulissen; gelegentlich nur werden die Argumente öffentlich. Über Geschmack darf man bekanntlich nicht streiten, der Austausch von Argumenten ist jedoch notwendig, um überhaupt zu begründeten Geschmacksurteilen zu kommen. Und um Geschmacksurteile handelt es sich, auch noch bei der Medienwertung und ihren Wahlakten. Im Grundbuch der Theorie des Geschmacks und damit der ästhetischen Wertung, der Kritik der Urteilskraft von 1790, hat Immanuel Kant die Problematik des Geschmacksurteils auf zwei widerstreitende »Gemeinörter« gebracht: »Der erste Gemeinort des Geschmacks ist in dem Satze, womit sich jeder Geschmacklose gegen Tadel zu verwahren denkt, enthalten: ein jeder hat seinen eignen Geschmack. Das heißt soviel, als der Bestimmungsgrund dieses Urteils ist bloß subjektiv (Vergnügen oder Schmerz); und das Urteil hat kein Recht auf die notwendige Beistimmung anderer.« (Kant 1790: § 56) »Der zweite Gemeinort desselben, der auch von denen sogar gebraucht wird, die dem Geschmacksurteile das Recht einräumen, für jedermann gültig auszusprechen, ist: über den Geschmack läßt sich nicht disputieren. […]« (ebd.)

Kant »hebt« den offensichtlichen Widerspruch der »Gemeinörter« über den Geschmack auf eine Weise, die mehr ist als eine bloße Spitzfindigkeit:

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»Man sieht leicht, daß zwischen diesen zweien Gemeinörtern ein Satz fehlt, der zwar nicht sprichwörtlich im Umlaufe, aber doch in jedermanns Sinne enthalten ist, nämlich: über den Geschmack läßt sich streiten (obgleich nicht disputieren). Dieser Satz aber enthält das Gegenteil des obersten Satzes. Denn worüber es erlaubt sein

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soll zu streiten, da muß Hoffnung sein untereinander übereinzukommen; mithin muß man auf Gründe des Urteils, die nicht bloß Privatgültigkeit haben und also nicht bloß subjektiv sind, rechnen können; welchem gleichwohl jener Grundsatz: ein jeder hat seinen eignen Geschmack, gerade entgegen ist.« (ebd.)

Hinter den Kulissen der Medienwertung kann der Satz vom Streit über den Geschmack gelten. Auf der Bühne dagegen ist aller Streit vergessen, oder gilt als unschicklich oder gar als unangemessen. Die Akademie hat gesprochen, der Fall ist geschlossen. Diese Paradoxie gilt nicht nur für den letzten Akt, also die Auszeichnung eines Medienprodukts mit einem Medienpreis. Medienprodukte stehen am Ende professioneller Produktion, in der Wahlakte, von außen als Dezisionismus gesehen, von innen als hochrational, den Produktionsprozess vorantreiben. Ob man, mit Bertolt Brecht, Medienproduktion als Abbauproduktion beschreibt, oder ob man aus einem »Stoff« schließlich ein komplettes Programm, aus einem Nichts ein Etwas entstehen lässt: Jede Stufe des Abbaus oder Aufbaus eines komplexen Ganzen ist von Wahl- und Entscheidungsakten im Streit über Wertungen bestimmt. Es gibt keinen Nullpunkt in der Medienproduktion. Medienproduktion geht mit »Werten« um, generiert und/oder vernichtet sie. Das große Gefühl wird erregt und zerstört, wird sichtbar gemacht und bleibt letztlich doch unsichtbar. Das gilt, mit Schiller, schon von der Rede: »Spricht der Künstler, ach, so spricht er nicht mehr«. Kern dieses berühmten Satzes ist das »Ach«, der Laut des Gefühls, den Heinrich von Kleist in einer unnachahmlichen Offenheit an den Schluss seines Dramas von der Verführung der Frau durch den Gott gestellt hat. Ist, in einem Idealmodell, die Wahl des »Mythos«, also einer bildlich-paradoxen Vorstellung, der Ausgangspunkt der dichterischen Produktion, so folgt auf diese Invention eine Phase der

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Zur Paradoxie

Formwahl, eine Disposition der Materie, ihr eine der Wortwahl, ein Elokution. Der Redner kann sich dann entscheiden, eben das

der Medienwertung

Gesuchte, Geformte und Aufgeschriebene sich einzuprägen. Zur Memoria kommt in der letzten Phase das Äußere: Der Redner macht sich in der Aktion und ihrer Körperlichkeit zum Medium seines eigenen Textes. Er wählt die Rolle des Redners, der für einen anderen Stellung nimmt, ihn lobt, verteidigt, berät. Dieter Breuer hat in seinem Entwurf einer »pragmatischen Texttheorie« das rhetorische Modell der Wahlakte bei der Textherstellung universalisiert und modernisiert. Und er hat sich dabei mit guten Gründen entschlossen, es vom »Kopf auf die Füße« zu stellen. Ausgangspunkt seines Modells ist die »Medienwahl«. Ihr folgt die »Wahl des Argumentationsmusters«, die »Wahl der Argumentation«, dieser die »Wahl der sprachlichen Wirkmittel« (Breuer 1972: 287). Damit wird die Medienwahl zu einem vorgeordneten Produktions- wie auch Analyseschritt. Deren Problem aber ist, dass es der Ordnung der Mediengeschichte unterworfen ist. Ist das gewählte Medium ein neueres oder das neueste Medium, so ist Medienwahl auf einen Regress bis zur ersten Rationalisierung verpflichtet. In jedem neuen Medium steckt ein älteres. Die »medialen Möglichkeiten«, also der Anfang der Wahlakte, schreiben sich zurück auf die »Vorgeschichte«. Wenn Walter Benjamin von einem »Verlust der Aura« spricht, so argumentiert er im Sinne des Anfangs, der Originalität der Kunstwerke, die aber selbst niemals erscheinen können, wenn man sie nicht dieses Anfangs beraubte und einer »Medienwahl« unterwürfe. Die Faszination des Neuen überkreuzt sich im Medienprozess mit der Faszination des Alten (Schanze 1974: 44f). Die Paradoxie der Medienwertung ist als Paradoxie der Medienwahl konstitutiv für Kunstprodukte überhaupt. Aus der Sicht der Medienwertung, modelliert als Folge von Wahlakten, ergibt sich eine gegenläufige, doppelte Reihe: zum einem der Wert des Ursprünglichen, der Originalität, zum anderen der Wert der Funktionalität. Die Unterscheidung von »Ausstellungswert« und »Gebrauchswert«, wie sie Benjamin vornimmt, re-

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flektiert die Irrationalität des Ursprungs, die sich bis zur eingangs angesprochenen Paradoxie der Medienwertung bruchlos fortschreiben lässt. Sind Medienwertungen im Sinne von Wahlakten konstitutiv für den Produktionsprozess und sind sie, im Sinne des

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Modells der Medienproduktion, in sich widersprüchlich, so ist jeder einzelne Wahlakt Teil eines »unendlichen Bandes« (Bolik/ Schanze 2001: 7). Im Umgang mit Medien lässt sich das Wahlmodell, hier auf die Medienproduktion bezogen, auch vom Mediennutzer her einsetzen. Umgang mit Medien bedeutet auch hier immer Medienwahl, und diese ist eine »Medienwertung«. Aus der Sicht der professionellen Mediennutzer, der Werbeindustrie, dienen Medien der Kommunikation von »Werbebotschaften«. Die Wahl des geeigneten Mediums ist die entscheidende Vorraussetzung für den Erfolg einer Kampagne – eines Feldzugs. Medien werden im Blick auf Werbewirkung hin bewertet, kurz, wie viel Publikum (vulgo »Einschaltquoten«) sie versprechen und einhalten. Und letztlich ist es das Publikum, die vielen Einzelnen, die sich »einschalten«, die eine Wahl zu treffen haben, nach deren Begründung niemand mehr fragt. Was hier als Paradox der Medienwertung aufgestellt wird, die Uneinsehbarkeit der Wertungsakte und die Soziologie der Expertise – so von außen gesehen – und die Behauptung rationaler Wahlakte durch den inneren Zirkel der zur Wahl Berufenen – in eine Jury wird »berufen« –, scheint der Wissenschaft kaum zugänglich. Stellt sie sich in die Rolle des Außenstehenden, so ist der Vorwurf der Nichtbeteiligung gegeben. Aber gerade die Nichtbeteiligung, also eine Art von Neutralität, sollte Wissenschaft als beobachtende auszeichnen. Die Paradoxie der Medienwertung wiederholt sich auf der Ebene ihrer wissenschaftlichen Erforschung. Eine neutrale Beobachtbarkeit des Wahlaktes ist prinzipiell nicht gegeben; und jeder, dem eine Expertise zugestanden wird, ist zugleich Partei im strikten Sinne des Wortes, die sich entschlossen hat, sich am Streit der Meinungen zwar zu beteiligen, dann aber, wenn die

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Zur Paradoxie

Wahl getroffen ist, das Fest nicht mehr zu stören – also zu schweigen. An das Projekt der Ästhetik, wie es im 18. Jahrhun-

der Medienwertung

dert von Baumgarten, Meier und Kant begründet, von Hegel und Schelling in eine »idealistische« Systematik gebracht wurde, knüpft kritisch die Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft des Soziologen Pierre Bourdieu an. Werte, so in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Wertungsdiskussion, bilden sich in soziokulturellen Prozessen heraus. Sie sind zentral für die Integration und Stabilität von Gesellschaften. Sie begründen Handlungsalternativen und geben Verhaltenssicherheit. Sieht man auf die Diskussion um Werte und Wertungen in Medien, so wird man aber ebenso auf die ökonomische Dimension verwiesen; Wert ist »Tauschwert« oder »Produktionswert«, der als berechenbar erscheint. Die Bewertung von fiktionalen Medienprodukten jedoch muss stets auch auf die »ästhetischen Werte« rekurrieren. Bezieht man sich auf die Wertungsdiskussion im kulturwissenschaftlichen Bereich, so werden die Werte als Ergebnisse von Wertungen, d.h. von Selektionsakten begriffen. Sie lassen sich empirisch durch die Analyse von Wertungsakten ausweisen (Bolik/Schanze 2001: 10f). Und hier ergibt sich eine vergleichsweise stabile Verteilung der Wertungshintergründe. Sie beziehen sich vor allem auf »Inhalte«, dann auf den »Zuschauerbezug« und die »ästhetischen« Werte im klassischen Sinn. Medienspezifische Kategorien, wie etwa die einer Film- und Fernsehästhetik, selbst der Bezug auf die vielberufenen medienökonomischen Kategorien sind vergleichsweise nachrangig (Bolik/Schanze 2001: 15 sowie bes. 48). Überprüft man, wie im Projekt »Medienwertung« des Sonderforschungsbereichs 240 »Bildschirmmedien« geschehen, und in der Arbeit von Konrad Scherfer über die »Deutschen Fernsehpreise« spezifiziert (Bolik/Schanze 2001; Scherfer 2001), die Praxis des Streits um die »richtige«, genauer die »angemessene« Entscheidung in aestheticis, so wird eines deutlich: Es ist der Meinungsstreit, an dessen Ende ein »Geschmacksurteil« steht. Medienwertungen sind Wahlen in Unsicherheit und es kommt darauf an, sie

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in darauf ausgerichteten Texten zu rechtfertigen. Pointiert gesagt: Das Kriterium ist nicht vor der Wahl, sondern folgt ihr in einem Rechtfertigungsdiskurs. Mit Kant muss festgehalten werden, dass der Satz »Über den Geschmack soll man nicht streiten« nicht

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nur historisch falsch ist, sondern auch jedes Geschmacksurteil letztlich diffamiert. Kant hebt auf das Verbot des öffentlichen Disputs ab, nicht aber auf den »Streit« selber. Die Unmöglichkeit, einen Grund des Schönen anzugeben, bevor man es beurteilt hat, wird hier zu einer Unmöglichkeit der Beurteilung des Schönen schlechthin, und damit zur Rechtfertigung eines Geschmacksdiktates missbraucht. Richtig ist und bleibt der Satz: »Über Geschmack muss man streiten«. Dieser Streit aber kann nicht in infinitum fortgesetzt werden. Der unendliche Rekurs auf Letztbegründung widerspricht den Regeln des Diskurses, der eine Entscheidung nicht begründet, sondern im Regelfall »soziologisch« rechtfertigt, folgt man den Evidenzen, wie sie Bourdieu in seiner Soziologie der Urteilskraft beigebracht hat. Es ist, wie Helmut Kreuzer dies in seinen Überlegungen zu Begriff und Phänomen einer »Trivialliteratur« zusammenfassend formuliert hat, eine »führende Geschmacksträgerschicht«, die das Recht für sich in Anspruch nimmt, über Wert und Unwert zu entscheiden (Kreuzer 1967). Es kommt nicht allein auf die »rationalen Argumente« an, sondern auch darauf, wer sie vorbringt. Und, um noch einmal auf das französische Modell, aus dem Bourdieu seine Erkenntnisse ableitet, hinzuweisen: Es ist die »Akademie«, welche das Recht der letzten Entscheidung hat. Die französische Tradition der Akademie aber hat ihre Grenzen. Dort nämlich, wo die Rhetorizität solcher Prozesse bestritten wird, und eine philosophische Letztbegründung gefordert ist, im deutschen Idealismus nämlich und seiner Autonomieästhetik, wird die Paradoxie der Medienwertung zum Problem, das nur um den Preis der Ausgrenzung des fait social der Wertung gelöst werden konnte. Was Bourdieu als Lösung des Wertungsproblems anbietet, ist, aus dieser Sicht, nichts als ein Rückschritt in eine Rationalität, die längst als widerlegt erscheint. Wer auf der Autonomie des Ästhetischen besteht, wird

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Zur Paradoxie

ein »Gesetz«, das über die Kunst herrschen will, nie anerkennen. Die Expertise erscheint als fauler Zauber, ja als eine Art von Zy-

der Medienwertung

nismus, der jedem ernsthaften Nachdenken über die Kunst der Grenze widerspricht. Was der rhetorischen Lehre selbstverständlich ist, dass nämlich Urteile der redenden Begründung bedürfen, sollen sie nicht als willkürlich angesehen werden, ist der Gräuel der philosophischen Ästhetik, die nach Gründen sucht, bevor überhaupt das Objekt der Beurteilung erscheint. Das System der Rhetorik weist in der Tat Verfahren auf, die es vor reiner Subjektivität und reiner Beliebigkeit schützen. Die Lehre von der Argumentation verweist auf die Lehre von der Topik, auf die Lehre von den »Allgemeinplätzen«, die keineswegs nur Trivialitäten darstellen. Und genau diesen Ansatz hatte auch Kant in seiner Kritik der Urteilskraft gewählt, als er von den Antinomien des Geschmacks handelte. Sieht man also genauer, so erweist sich Medienwertung als Spezialfall der Wertung ästhetischer Objekte. Sieht man aber auf die Argumente, die im Prozess der Medienwertung eingesetzt werden, so sind es eben nicht nur Argumente, die man als ästhetisch qualifizieren kann, sondern auch ökonomische, politische, soziale: kurz, Argumentationen im weitesten Sinn. Medienwertungen werden also nicht nur spezieller angelegt, sondern auch allgemeiner begründet. Die Annahme des reinen Dezisionismus, also der beliebigen Wahl, kann damit als widerlegt betrachtet werden. Medienwertungen sind keineswegs beliebig im strengen Sinn des Wortes. Sie sind auch nicht willkürlich, Ausfluss und Beweis uneingeschränkter Subjektivität. Jede Argumentation ist topisch, rekurriert auf »Gemeinplätze«. Dem widerspricht die historisch anzusetzende Autonomieästhetik. Da es sich im Innenbereich der Medienwertung stets um »Werke« handelt, deren innere Autonomie letztes Qualitätskriterium ist, jene »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, die Kant in seiner Kritik der Urteilskraft betont, lässt sich die Behauptung der Subjektivität bei der Medienwertung nicht aus-

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schließen. Sie erhält jedoch, eingespannt in die doppelte Funktionalität des Kultischen und des Technischen, die jeder Medieninhalt ertragen muss, einen ideologischen Beigeschmack. Das Geschmacksurteil ist in der Medienwertung nie unverfälscht. Es

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ist verstellt, in den Innenbereich vertrieben. Die Experten der Medienwertung spielen den olympischen Himmel, bis in die Metaphorik hinein, und das Publikum erhält immer nur den Zipfel der Wahrheit. Es muss glauben, auch ohne Argumente. Die Argumente verschwinden im Innenbereich der Cella, wo das Götterbild von den Priestern angebetet wird. Gelegentlich, und auch dies ist eine ebenso alte wie gegenwärtige Praxis bei Wahlakten, sieht man die Rauchzeichen und hat zu akklamieren. Zieht man den ideologischen Schleier von der Medienwertung, so ist sie jedoch nichts weniger als die Rede von des Kaisers neuen Kleidern. Novalis meinte in Bezug auf Goethes Wilhelm Meister, dass die ökonomische Natur »die Wahre – Übrig bleibende« sei (Hardenberg 1800: 646). Dieser kritische Satz wird heute gefeiert. Medien- und Misswahlen zeigen den Glamour einer Industrie, die wie keine andere auf die Subsidien anderer Industrien und des Staats angewiesen ist. Trotzdem: Es werden Mehrwerte produziert, wenn die Feier gelingt. Und es werden Verluste geschrieben, wenn der Glaube an die Werte der Medien schwindet. Den Medien geht es wie den Mächtigen: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt. Dies aber ist auch ein Kernsatz der Autonomieästhetik, die zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen das »Schöne« als zwecklose Zweckmäßigkeit für den Augenblick festzuhalten sucht. Der Prozess der Medialisierung machte die alte Funktionalität der Anbetung für die Menge zugänglich, wenn auch nur für den Augenblick, den die technische Reproduktion sogleich zerstörte. In der universellen Simulation werden auch jene Simulacren zu Scheingebilden, die als Diven und Mogule der alten Medienzeit noch anbetungswürdig erschienen, weil ihnen das Geld wie dem Kaiser des Goetheschen »Faust«, im Ersten Akt des Zweiten Teils, nur so aus der Tasche flog. Sie fallen nun selber

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Zur Paradoxie

unter das Gesetz der »Zahl«. Im Falle des Falles sind die Medien zahlungsunfähig; ihre Scheine sind wertlos.

der Medienwertung

Die Frage ist jetzt, ob die angesprochene Paradoxie der Medienwertung nicht im zweiten Medienumbruch des 20. Jahrhunderts letztlich obsolet geworden ist. Hierarchien der Wertung lassen sich kaum noch postulieren. Das berüchtigte »Anything goes« scheint diese Ansicht zu ratifizieren. Wird der Nutzer zum Autor, so verschwindet die Differenz der professionellen Produktion, ihr Pseudos wie ihr Ethos. Die Reduktion der Wertung auf den Wahlakt, demgegenüber die Kriterien der Wertung nachrangig werden, könnte jedoch auch die Ideologie des wissenschaftlichen Zeitalters sein. Um der Erkennbarkeit willen wird die Welt in Differenzen aufgeteilt, deren letzte das »Alles oder Nichts« ist. Nun kommt es nicht darauf an, sich auf »alte Werte« zu besinnen, sondern, im Falle der Medienwertung, sich der Tatsache zu erinnern, dass eine reine Negativität auch den negiert, der sie ausspricht. Wer die Gemeinplätze der Wertung diffamiert, wird die Position der Wertung letztlich aufgeben müssen. So plausibel es ist, nicht nur systemtheoretisch, das Entstehen des Kunstwerks auf Unterscheidung abzustellen, so aussichtslos ist es, dieses Modell bis zum letzten, auch theoretisch, durchzuhalten. Kants Ansatz, dass der kritische Weg der einzig übrig bleibende sei, bedarf einer Neudefinition dessen, was einmal »Stil« genannt wurde, einer Regel, die sich aus dem menschlichen Zusammenleben ergibt. Medienwertung, in ihrer ganzen Komplexion, die auf einfache Differenz zurückgerechnet werden kann, bedarf einer Kategorie, die als »Angemessenheit« die Regeln dessen berücksichtigt, was Kleist einmal die »Gebrechlichkeit der Welt« nannte. Die neuere Kanondiskussion erinnert, nicht nur im Wortspiel, an die Verflochtenheit der Wertung mit »Macht« und »Kultur«, ihre Gegenläufigkeit und ihren Bezug aufeinander. Im Vorwort zum Berichtsband zum DFG-Kolloquium »Kanon – Macht – Kultur« hat Renate von Heydebrand auf die neu entfachte Diskussion um Wertung im Kontext der 80er und 90er Jahre verwiesen (Heyde-

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brand 1998, vgl. bes. die Einleitung). Es ist zugleich die Zeit des »Zweiten Medienumbruchs«. Die von ihr präferierte systemtheoretische Lösung des Kanonproblems hätte ihren Prüfstein dort, wo es um »Medienwertung« geht. Diese aber ist, aus Gründen der

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immer noch weit auseinander liegenden Positionen der »Medienwissenschaften« und der »Literaturwissenschaften« – trotz des historischen Zusammenhangs – kaum in Rede gestellt. Ansätze sind im Bereich der Filmbewertung gegeben. Hier gibt es untersuchbare Wertungspraxen. Nun aber ist der Film und das mit dem Film wertend und programmplanend umgehende Fernsehen mediengeschichtlich vor die Herausforderung einer gelegentlich überpointiert angesprochenen Interaktivität gestellt, die als Kennzeichen der »Neuen Medien« gilt. Hier nun ist der als Geheimsache erklärte Wertungsdiskurs genau das Verfahren, mit dem sich der »User« den Gegenständen seiner Wahl stellen kann. Zu Recht ist betont worden, dass die Interaktivität letztlich sich auf eine Wahlaktivität beschränkt, auf eine Verbreiterung der Auswahlmöglichkeit aus einer Datenbank ästhetischer Objekte. Die Utopie der vollständigen Interaktivität, die eine vollständige Kontrolle über alle Wahlakte verspricht, ist damit keineswegs ausgeblendet. Sie öffnet vielmehr »Türen«, die bisher systematisch verschlossen sind, und stellt in Rede, was vorher den Experten vorbehalten war. Das Problem der »Neuen Medien« und ihrer Öffnungsklausel aber ist, dass wiederum neue technische Experten die nun geöffnete ästhetische Expertise dominieren. Die alte Akademie wird transformiert in die Expertise der »Internet-Gurus« und der von ihnen angebotenen Orientierungsmittel, jener »Agenten« und »Agenturen«, die kein Nutzer je mit einem Auftrag versehen hat. Was bei Bourdieu als Kritik der sozialen Urteilskraft sich gegen die Ausblendung des fait social in der Autonomieästhetik abzeichnet, muss nunmehr als Kritik der technischen Systeme reformuliert werden. Dort, wo die Nutzer ihre Herrschaft antreten, »bedienen« sie eine »Wunschmaschine«, die sie mit Anforderungen an ihre Wahlkompetenz nur so überschüttet. Die Freiheit der

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Zur Paradoxie

Wahl wird grenzenlos. Ob dagegen die klassischen Konzepte der Medienwertung, die Deklarierung von Inhalten als »spam« mit Hil-

der Medienwertung

fe von »intelligenten Agenten«, die, werden sie aktiviert, vielleicht doch nur eine neue Menge an Müll anliefern, ohne dass dies der Nutzer auch nur am Rande kontrollieren kann, auch dies muss in Rede gestellt werden. These wäre, dass die erneuerte Kanondiskussion nichts mehr und nichts weniger ist als eben jener Versuch, sich in einer neuen Medienkonstellation, in der auch die sozialen Verbindlichkeiten der »alten Medien« noch gekappt werden, eine Neuorientierung zu gewinnen. Die Orientierungsmittel werden vom Neuen Medium, quasi als Beigabe, mitgeliefert. Das Neue Fernsehen arbeitet mit EPGs (Electronic Program Guides) welche nicht nur das Angebot sichtbar machen, sondern auch sortieren und klassifizieren. An ihrer Transparenz entscheidet sich die »Gratifikation«, die der individuelle Nutzer beanspruchen kann. In der Forschung ist dieser Ansatz unter dem Doppelansatz »Uses and Gratifications« bekannt. Was der »Nutzen« für einen »Nutzer« sein kann, klärt sich als Äquivokation. Es ist der »Gebrauchswert« im Benjaminschen Sinn. Unklar bleibt in den Forschungsdiskussionen, was mit den »Gratifikationen« gemeint ist. Ob man von »Belohnung« spricht – zuweilen auch vom Zucker für den Affen Publikum – oder von einer »(Sonder-)Zuwendung«, einer »Gefälligkeit« – stets wird eine ästhetische Dimension angesprochen, die ein direktes Gegenüber simuliert. Damit ist dieser kaum übersetzbare Begriff der »Gratifikation« historisch gesehen ein Rückgriff auf eine Situation, die Parallelen zu jener der voridealistischen Ästhetik aufweist. »Gefallen« und »Missfallen« sind die Grundkategorien des Ästhetischen. Kant spricht vom »Wohlgefallen an Objekten«. Die Sphäre der Gefälligkeit ist eine der Unverbindlichkeit, die doch den, dem der Gefallen erwiesen wird, verbinden soll. Eine »Gefälligkeit«, die man einem anderen erweist, ist von diesem nicht zu beanspruchen, er darf sie nicht »wählen«, sondern er muss sie sich gefallen lassen. Die Wahl bestimmt nicht nur das Objekt, das gewählt

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wird, sondern auch den Wählenden. Die Gefälligkeit wird erwiesen, kann nicht beansprucht werden. Damit kehrt das, wie bei Kant noch zu lesen, die Rhetorizität der Geschmacksurteile wieder »an das helle Licht des Verstandes«.

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Was als Wortspiel zwischen Gefallen und Gefälligkeit erscheinen mag, reproduziert das Paradox der Medienwirkung an seiner Basis, wie auch an seinem vorläufigen mediengeschichtlichen Ende, bei den Digitalmedien. Die Aktualität der Ästhetik als einer Theorie der Wahrnehmung ist keine zufällige. Dort, wo ästhetische Wertung stattfindet, ist sie stets eine gedoppelte. Jene »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, die Kraft der Form, stellt die Wahl für den Augenblick still und setzt auf Faszination. Die unendliche Freiheit der Wahlakte wird verwiesen auf das, was einmalig erscheint. Auf eben diese Einmaligkeit hebt Kant in seiner Kritik der Urteilskraft ab. Medienwertung ist nicht nur fait social – das ist sie im Sinne einer im Streit gewonnenen Verbindlichkeit – sie ist auch Urteil über Einzelnes und gewinnt ihre Verbindlichkeit erst im Bezug auf eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«. Die Frage ist, ob sich die eingangs angesprochene Paradoxie der Medienwertung im Sinne Kants als Antinomie reformulieren und auch in seinem Sinne »heben« lasse. Dies hieße zugleich, dass das »Geheimnis« der Medienwertung nicht nur »veröffentlicht« wird – in einer Vielzahl von »Hintergrundinformationen«, von »back stage informations«, von »footage«- und von »making of«Publikationen, sondern auch im Sinne von »Gemeinplätzen« und deren Widerstreit ausgesprochen werden kann. Ist jeder Nutzer auch ein Produzent und damit ein Experte, so wäre die Differenz zwischen Kunst und Leben aufgehoben. Dem aber widerspricht der technisch-wissenschaftliche Charakter der neuen Medienproduktion, die wie keine zuvor der wissenschaftlich-technischen Expertise bedarf, auch wenn sich die Horizonte von Produktion und Rezeption zu verwischen scheinen. Noch ein zweiter Punkt spricht gegen eine Medienutopie der Aufhebung der Paradoxie der Medienwertung. Ist das Digitalmedium nur die technische Plattform, auf der alle »alten Medien« erschei-

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Zur Paradoxie

nen, so sind auch deren Spezifika und deren Expertise nicht obsolet. Man wird sich also, trotz des Satzes von der Kunst für Alle

der Medienwertung

durch Alle für lange Zeit noch auf das Ritual der Medienpreise, ihrer Inszenierungen und ihren Glamour einstellen müssen – oder wollen. Der Reiz des Geheimnisses und der Öffnung des Briefumschlags scheint ungebrochen. Zu befragen ist allerdings der Akademismus, unter dem die Medienbewerter etwas altmodisch daherkommen und dem auch eine angeschlossene »Publikumsbefragung« nicht aufhelfen kann. Hier ist Skepsis angebracht und der kantische Wille zur Aufklärung des Geheimnisses der Expertise, das, bei Lichte besehen, eigentlich gar keines ist. Literatur Bolik, Sibylle/Schanze, Helmut (Hg.) (2001): Medienwertung, München: Fink. Breuer, Dieter u.a. (1972): Literaturwissenschaft. Eine Einführung für Germanisten, Frankfurt/Main: Ullstein. von Hardenberg, Friedrich (1960): »Gegen Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Richard Samuel/Paul Kluckhohn (Hg.), Novalis – Schriften, Bd. 3, Stuttgart: Kohlhammer, 2. Aufl. von Heydebrand, Renate (Hg.) (1998): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart: Metzler. Kant, Immanuel (1790): »Kritik der Urteilskraft«. In: ders. (1974), Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 10, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Kreuzer, Helmut (1967): »Trivialliteratur als Forschungsproblem«. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVJs) 41/2, S. 173-191. Schanze, Helmut (1974): Medienkunde für Literaturwissenschaftler, München: Fink. Scherfer, Konrad (2001): Deutsche Fernsehpreise – Argumente für Fernsehqualität, Frankfurt/Main: Lang.

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»Wide or narrow, the frame is still a frame. And which-

Unsichtbare Rahmen.

ever it is, it will always

Zur Interaktion von Kino

involve a certain degree of

und Fernsehen

fragmentation – just as its

Alexander Böhnke

limits impose a certain degree of organization.« (Mitry 1997: 201)

Die vorletzte Szene von Spartacus (USA 1960, Stanley Kubrick): Charles Laughton alias Gracchus sitzt an einem Tisch und sucht nach Papieren. Eine Hand greift in den Frame und reicht ihm die gesuchte Schrift. Gracchus schaut auf und spricht die Person, die immer noch nicht im Bild zu sehen ist, an: »Und Julia, ich habe es gar nicht gerne, wenn jemand hier [Schnitt] in diesem Hause weint. Ihr müsst fröhlich sein«. Der Schnitt enthüllt die bisher nur aus dem Off agierende Julia, die weinend vor dem Tisch steht, so kadriert, dass man die Statue, die man in der letzten Einstellung im rechten Hintergrund sehen konnte, nun im linken Hintergrund wahrnehmen kann. Der Zuschauer wird auf diese Weise der Einheit des Raums versichert, der Ton tut dies auf einer anderen Ebene. Ein Fall von continuity-editing? Merkwürdig ist nur, dass noch kein master-shot die Szene als Ganzes präsentiert hat, aber die Orientierung des Zuschauers ist durch die beschriebene Mehrfachdeterminierung gewährleistet. Ungewöhnlich ist vielleicht eher noch die Art und Weise der Kadrierung bzw. der Blickwinkel. Ein Wechsel der Kameraposition auf der horizontalen Achse dient im klassischen Hollywoodfilm eher der Profilansicht

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Zur Interaktion von Kino und

Zweimal fünf Bilder aus Spartacus

Fernsehen

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und ist demnach ungewöhnlich für den Anfang einer Szene.1 Aber weiter im Text. Aus dem Hintergrund tauchen Varinia (Jean Simmons) und Lentulus Batiatus (Peter Ustinov) auf. Gracchus aus dem Off: »Ah,

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da bist du ja. Geh jetzt bitte, Julia«. Die beiden Ankömmlinge treten näher, während Julia nach rechts abtritt. Batiatus beschwert sich über die Zustände in Rom – Crassus hat die Macht an sich gerissen und lässt »jeden zweiten Mann verhaften«. Dann bittet er Varinia, näher zu treten. Die Kamera folgt der Bewegung der beiden und schwenkt nach links. Gracchus wird wieder sichtbar, der Varinia die Hand entgegenstreckt. Darauf folgt ein Schnitt auf Gracchus, der nun – im Gegensatz zur ersten Einstellung – frontaler und in Nahaufnahme zu sehen ist und Varinias Hand nimmt. Ähnlich wie in der Einstellung mit Julia folgt nun ein Schnitt auf Varinia in Großaufnahme, die Gracchus’ Blick erwidert. Daraufhin wieder Schnitt auf Gracchus. Shot/reverse shot, wobei auffällt, dass die Figuren entsprechend ihrer Positionierung im Raum jeweils etwas mehr im rechten (Varinia) bzw. linken (Gracchus) Bildfeld positioniert sind. Die Szene geht noch weiter, aber für meine Zwecke reicht zunächst dieser kurze Ausschnitt. Was ich eben beschrieben habe, ist die Fernsehfassung von Spartacus. Sie wurde im Pan-and-Scan-Verfahren hergestellt. Dieses Verfahren ermöglicht es, Breitwandfilme für das Fernsehen so zu bearbeiten, dass möglichst viel Information – und das ist im Allgemeinen gleichbedeutend mit Aktion – erhalten bleibt. Vorgabe ist dabei, dass der gesamte Fernsehbildschirm genutzt werden soll. Die Alternative dazu wären Letterbox-Versionen, die die gesamte Breite des Breitwandformats nutzen, die Höhe des Bildschirms aber nicht ausfüllen. Meistens wird das Bild dann von zwei breiten schwarzen Balken – black matte – gerahmt. Diese Methode konnte sich aber zunächst nicht durchsetzen, obwohl sogar solche Fassungen hergestellt worden sind.2 Den Fernsehzuschauern ein Bild anzubieten, das den Bildschirm nicht völlig ausfüllte, erschien als unzumutbar. Deshalb wurde lieber das

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Zur Interaktion von Kino und

Filmbild beschnitten als Teile des Fernsehschirms schwarz zu lassen.

Fernsehen

Zunächst wurde bei der Herstellung dieser Fernsehfassungen nur das Zentrum des Bildes mit Hilfe eines optischen Printers gescannt. Diese krude Methode ist natürlich unangemessen und zu Recht kritisiert worden.3 Aber die Industrie hat Abhilfe geschaffen – nicht zuletzt, weil das Geschäft mit Filmen im Fernsehen Hollywood einen unverhofften Geldsegen verschaffte. »It is ironic that Twentieth Century-Fox, which pioneered widescreen films with CinemaScope as a means to lure audiences away from television and back to movies, also pioneered the process by which audiences could see those films on television – and won an Oscar from a grateful film industry for each.« (Lafferty 1990: 253)

Twentieth Century-Fox gewann also den Oscar für beide Prozesse, für die Entfernung des Kinofilms vom Fernsehen und für seine Wiederannäherung. Es ist daher auch kaum ein Zufall, dass mit How to marry a millionaire (USA 1953, Jean Negulesco) ein Fox-Film die Reihe »NBC Saturday Night at the Movies« am 23. September 1961 eröffnete, die einen Trend von Fernsehausstrahlungen von Hollywoodfilmen lostrat. Auch Russell Metty gewann 1961 einen Oscar. Für die beste Kameraarbeit. Für Spartacus. Gedreht wurde der Film auf Super Technirama 70, d.h. einem 70mm-Filmstreifen, der durch die größere Belichtungsfläche schärfere Bilder erlaubte als der normale 35mm anamorphotische Breitwandfilm.4 Wenn man nun die Pan-and-Scan-Fernsehfassung mit der Widescreen-Fassung vergleicht, fällt natürlich auf, dass die Breitwandfassung einen anderen Schnittrhythmus hat. Und man kann sehen, welche Teile des Bildes »geopfert« wurden (siehe dazu die Filmstills von Spartacus). Die Widescreen-Version beginnt mit einer Art master-shot, der den Raum und die anwesenden Figuren vorführt. Diese Einstellung gibt es natürlich nicht in der Pan-and-Scan-Fassung. Der Raum muss aufgeteilt werden. Man entschied sich, Gracchus zu fokussieren, der zweifellos eine wichtigere Rolle im Film einnimmt

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als seine Sklavin Julia. Dann nahm man die Gelegenheit wahr, den rechten Teil der Einstellung zu zeigen, als er Julia direkt anspricht. Das fällt auch mit der Ankunft von Lavinia und Lentulus Batiatus zusammen. Während die beiden näherkommen,

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schwenkt (= pan) die Kamera (hier der finder-frame) mit ihnen in Richtung von Gracchus. Schon diese kurze Szene zeigt alle drei Charakteristika, die das Pan-and-Scan-Verfahren laut Steve Neale ausmachen: »Panning and scanning involves selecting proportions of the widescreen image for presentation on the whole television screen. In moving from one portion of the widescreen image to another – during the course of a single shot, or while moving from one shot to another – panning and scanning entails either ›cutting‹ or ›panning‹ from one portion of the screen to another. It thus re-composes films made in and for widescreen formats in at least three different ways: by reframing shots, by re-editing sequences and shots, and by altering the pattern of still and moving shots used in the original film.« (Neale 1998: 131)

Das Reframing zeichnet jede Einstellung der Pan-and-ScanVersion aus. Jedes Bild zeigt nur einen Ausschnitt des ursprünglichen Materials. Der Umschnitt von Bild 1 zu Bild 2 ist ein Beispiel für eine Änderung des Schnittmusters, da das Original ohne Schnitt auskommt. Der Rhythmus von bewegter und unbewegter Kamera wird zwischen Bild 2 und Bild 3 verändert. Die Pan-andScan-Version liefert eine Kamerabewegung, die es im Original nicht gibt. Der Fernsehzuschauer kann diese Bewegung nicht von einer »ursprünglichen« Kamerabewegung unterscheiden.5

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Zur Interaktion von Kino und

Format als Paratext

Fernsehen

Wenn man die Wahl des Formats für Kinofilme als Paratext beschreibt, lassen sich einige medientheoretische Fragen neu stellen. Dabei hilft es, den Bezug zu Genettes Konzeption des Paratextes nicht aus dem Blick zu verlieren. Genette schreibt zur Wahl des Formats in der Literatur:

»Ein Text ist, wie bereits die »Der globalste Aspekt bei der Gestaltung eines Buches und damit der Materialisierung eines Textes für das Publikum ist sicher die Wahl des Formats« (ebd.). Etymologie des Worts sagt, nichts anderes als eine Rei-

»Der globalste Aspekt«, was heißt das? Vielleicht meint Genette »global« im Sinne von umfassend. Vom gewählten Format hängt

he von Abständen (écarts), einiges ab. Ein gegebenes Format schränkt weitere Entscheidun-

gen ein. So bedingt ein Format bestimmte Formen des Satzes und das gilt auch für den und schließt andere aus. Man wird die Größe der Schrift dem

Format anpassen. Und es gibt bestimmte generische Maßgaben: Film« (Metz 1973: 191). »In der Klassik waren die ›Großformate‹ den seriösen Werken (das heißt eher den religiösen oder philosophischen als den literarischen) vorbehalten oder den Prestigeausgaben, die literarischen Werken Anerkennung brachten […]« (ebd.: 23)

Auch für den Film lassen sich bestimmte Kopplungen von Format und Genre ausmachen.6 Historische Stoffe werden vermehrt produziert, aber man kann auch Komödien in CinemaScope drehen. How to Marry a Millionaire war der zweite Film nach The Robe (USA 1953, Henry Koster), der in CinemaScope gedreht wurde. Genette weist darauf hin, dass das Wort Format sich sowohl auf die Art und »Weise, in der ein Bogen Papier gefalzt wird oder nicht« als auch auf »die Dimension des ursprünglichen Bogens selbst« (ebd.) beziehen kann. Wenn man das mit dem Filmformat vergleicht, so ergibt sich eine Parallele. Die Größe des Filmstreifens ergab sich dadurch, dass W. K. L. Dickson, der Assistent von Thomas Edison, den 70mm-Eastman-Film in zwei Hälften schnitt. 70mm-Film wäre natürlich auch möglich gewesen – wie die spä-

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tere Entwicklung zeigen wird –, aber die Hälfte an Film produzierte immer noch passable Bilder. Dadurch sparte er die Hälfte an Filmmaterial und es gab keinen Verschnitt.7 Damit war aber noch nicht das Format, d.h. das Verhältnis von Breite und Höhe

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des Filmbildes festgelegt. Die Breite war durch die Perforationsstreifen auf 1 Zoll festgelegt. Warum er die Höhe von einem 3/4 Zoll wählte, ist nicht überliefert. Die Durchsetzung dieses Formats, das bis in die 1950er Jahre die Filmproduktion – und auch bis in die 1990er die Fernsehformate – dominierte8, ist dem ökonomischen Geschick und monopolistischen Praktiken von George Eastman und Thomas Edison zu verdanken. Beim Vergleich von Buch- und Filmproduktion anhand ihrer Formate ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten. Mit der Wahl von 35mm-Film und 1.33:1-Format ist z.B. die Größe dessen, was der Zuschauer im Kino sieht, noch nicht festgelegt. Die Proportionen sind zwar vorgegeben, aber die Größe der Leinwand bzw. die Entfernung von Projektor und Leinwand können einen deutlichen Unterschied machen.9 Das heißt, dass die Rezeptionssituation im Kino weniger normiert ist. Außerdem wäre zu hinterfragen, ob Format und Satzspiegel beim Film nicht zusammenfallen – in gewisser Weise ist die Filmseite ja immer bis zum Rand vollgeschrieben. Das heißt aber nicht, dass die Funktion, die der Satz für das Buch hat, entfällt, sondern sie wird anders aufgeteilt, so dass diese Funktion auch vom Format übernommen wird. Genette schreibt zum Satz: »Der Satz, das heißt die Wahl der Schrift und des Satzspiegels, ist natürlich derjenige Vorgang, durch den ein Text die Gestalt eines Buches annimmt« (ebd.: 38ff.; folgende Zitate ebd.). Satz und Format sorgen für die »Materialisierung des Textes«. Es mag kleinlich erscheinen, aber genau das ist der Punkt, der mich hier interessiert. Für Genette ist der Text eine imaginäre Größe – er spricht von der »konstitutiven Idealität des Werks«, während das Buch eine fassbare Einheit konstituiert. Und der Paratext ist »jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird […]« (ebd.: 10).

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Zur Interaktion von Kino und

An anderer Stelle wird diese Konzeption der Text/ParatextRelation noch einmal formuliert:

Fernsehen

»Der Text ist unwandelbar und als solcher außerstande, sich an die Veränderungen seines Publikums in Raum und Zeit anzupassen. Der flexiblere, wendigere, immer überleitende, weil transitive Paratext ist gewissermaßen ein Instrument der Anpassung« (ebd.: 389).

Der Text als solcher verändert sich nicht, was sich verändert, ist der Paratext. Wenn nun eine Breitwandproduktion wie Spartacus im Fernsehen als Pan-and-Scan-Version gezeigt wird, heißt das, dass der Text derselbe geblieben ist und nur der Paratext, d.h. das Format, sich verändert hat? Genette würde das sicher nicht behaupten, da die Funktionalität des Paratextes – seine dienende Funktion im Sinne der Autorintention – hier nur eingeschränkt gilt. Außerdem würde Genette wahrscheinlich anführen, dass der Film kein Text ist. Genau das scheint er nahe zu legen, wenn er von der Übertragung des Paratext-Begriffes auf Bereiche jenseits der Literatur spricht. »Denn falls man einräumt, daß sich der Begriff [Paratext] auf Bereiche ausdehnen läßt, in denen das Werk nicht aus einem Text besteht, so liegt es auf der Hand, daß andere oder sogar alle Künste eine Entsprechung unseres Paratextes besitzen […]« (ebd.: 387f.).10

Wie konzipiert man als Filmwissenschaftler den Film als Text? Wenn man z.B. die Ausführungen von Christian Metz nimmt, so scheint es eine gewisse Übereinstimmung zu geben, was die »Unwandelbarkeit« des Textes betrifft: »Wenn ein Forscher einen Film als Filmtext nimmt, kann er daher sicher sein, daß die äußeren Konturen seines Textes, seine materielle Ausdehnung von anderen als ihm festgesetzt worden sind und seiner Untersuchungsabsicht vorausgehen« (Metz 1973: 137).

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Doch hier handelt es sich nur um eine oberflächliche Ähnlichkeit. Metz setzt die Einheitlichkeit des Textes als Gegenstand voraus. Die Konstruktion des Forschers bezieht sich nur auf das, was er aus dem Text in seiner Analyse macht.11 Diese Gewissheit kann

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man mit dem Paratext-Begriff hinterfragen. Man muss sich dann aber von dem entfernen, was Genette vorgibt. Denn Genette will die Grenze von Text und Paratext keineswegs gefährden: »Der Paratext ist eine Übergangszone zwischen Text und Außer-Text, und man muß der Versuchung widerstehen, diese Zone zu vergrößern, indem man ihre Ränder untergräbt« (Genette 1989: 388). Mir geht es darum, gerade die Ränder in Frage zu stellen – und damit auch die Unterscheidbarkeit von Text und Paratext. Jaques Derrida hat auf die Schwierigkeit des Ablösens der Parerga hingewiesen: »Nicht weil sie [die Parerga] sich ablösen, sondern weil sie sich schwieriger ablösen und vor allem weil ohne sie, ohne ihre Quasi-Ablösung, der innerliche Mangel des Werks zum Vorschein käme […]. Was sie zu Parerga macht, ist nicht einfach ihre überflüssige Äußerlichkeit, es ist das interne strukturelle Band, das sie mit dem Mangel im Innern des Ergon zusammenschweißt. Und dieser Mangel ist damit konstitutiv für die Einheit selbst des Ergon« (Derrida 1992: 80).

Diese Logik lässt sich auch auf Paratexte anwenden – wenn man überhaupt Paratexte und Parerga unterscheiden will. Hier geht es zwar um Werke, aber die sind wohl strukturell deckungsgleich mit dem, was Genette unter Text versteht.12 Der Film-Frame bietet sich dafür in besonderer Weise an,13 weil sich die Frage des Rahmens im Film auf besondere Weise stellt, denn im Film nimmt der Rahmen, d.h. der frame (= das Einzelbild), den ganzen Bildraum ein: »Now it is particularly significant that the term ›frame‹ in the cinema itself encapsulates the inside/outside paradox. For what usually refers to the outside border, as in painting, here also names the inside, or some undefined combination of inside and outside« (Brunette/Wills 1989: 103).

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Zur Interaktion von Kino und

Wer meint, dass es sich hier um Wortklauberei handelt, dem möchte ich im Folgenden anhand von Filmvarianten ein paar har-

Fernsehen

te Fakten vorsetzen. Man stelle sich also auf den Standpunkt von Metz – oder auch von Genette, das macht im Grunde keinen Unterschied. Der Text sei also vorgegeben. Was macht man dann im folgenden Fall, den Joseph Garncarz beschrieben hat? »Vor allem zwischen 1914 und 1928 war die Montage verschiedener Fassungen eines Films mit nacheinander aufgenommenen Einstellungen einer einzigen Kamera bzw. mit von mehreren Kameras gleichzeitig aufgenommenen Einstellungen üblich […]. Beide Praktiken waren bei der internationalen Vermarktung eines Films notwendig, da man für eine große Kopienzahl mehrere Negative braucht, aber erst seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre […] Duplikate von Negativen ohne Qualitätsverlust herstellen kann« (Garncarz 1992: 16). 14

Diese Form der Variation lässt natürlich einige Fragen aufkommen. Handelt es sich noch um denselben Text? Welche Fassung ist das Original? Dieses Beispiel zeigt, dass es durchaus Filme gibt, wo sich die Einheit des Films als Konstruktion herausstellt. Wer nun meint, das wäre ein Einzelfall, der sei auf den folgenden Fall verwiesen: »It is interesting to note that those first two Todd-AO productions were also photographed in 35mm anamorphic. Dual camera setups were used on both films [Oklahoma! (USA, Fred Zinnemann, 1955) und Around the world in 80 days (USA, Michael Anderson, 1956)]. This was done for two reasons […]. A 35 mm print was necessary in order to show the film in those cities that had no Todd-AO house. Secondly, and most importantly, a suitable optical printer had not yet been constructed that could render a faultless 35mm anamorphic print from the original 65mm negative« (Carr/ Hayes 1988: 168).

Hiermit sind wir wieder beim Breitwandfilm angekommen, dessen Geschichte und Verflechtung mit dem Fernsehen ich kurz darstellen möchte.

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Widescreen versus TV Die Geschichte des Breitwandfilms wird meistens damit begonnen, dass auf das Fernsehen hingewiesen wird. Das Kino musste

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sich gegen die Bedrohung zur Wehr setzen, die vom Fernsehen ausging. Auch wenn andere Faktoren für die Krise Hollywoods Anfang der 1950er Jahre angeführt werden, der Hinweis auf das Fernsehen bleibt selten aus.15 »Economic factors can help explain the timing of the reintroduction of widescreen »By a strange coincidence, and stereophonic systems. […] between 1950 and 1952, film production companies were feeling severe losses in earnings, partly due to the competition of television. Most producers believed that some novelty was needed to recapture the audience«

American currency is almost exactly the same shape as

(Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 359). CinemaScope; both having

Den Anstoß für die Wiederbelebung des Breitwandfilms16 gab u.a. der Erfolg eines unabhängigen Kino-Unternehmens mit Na- an approximate ratio of men Cinerama. Interessant ist, dass Cinerama nicht wie üblich Geschichten erzählte, sondern allein durch das spektakuläre width to height of 2.35 to Format die Zuschauer in seinen Bann schlug.17 John Belton meint sogar, dass der Erfolg von Cinerama für den Verfall des al-

1« (Belton 1992: 223).

ten Academy-Formats verantwortlich ist: »Its [Cinerama’s] success made obsolete the traditional 1.33/7:1 aspect ratio, which was now identified with television« (Belton 1992: 116). Auch wenn er hier wohl übertreibt, löste Cinerama doch eine Welle der Differenzierung aus. James Spellerbergs Einschätzung ist in dieser Hinsicht realistischer, wenn er auf CinemaScope Bezug nehmend schreibt: »Scope helped reshape film for the diminished market through a strong differentiation from both television and the conventional Academy format film« (Spellerberg 1985: 29). CinemaScope war in dieser Hinsicht sicherlich von Cinerama inspiriert. Der Unterschied bestand darin, dass hinter CinemaScope ein großes Hollywoodstudio – das zu jener Zeit jedoch in finanzielle Nöte geraten war, mit CinemaScope alles auf eine Karte setzte

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Zur Interaktion von Kino und

und gewann – stand, was die Art und Weise der Nutzung des Formats bestimmte.

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»Unlike Cinerama, which was left free by the travelogue format to exploit the effect of engulfment and to present itself as pure spectacle, CinemaScope’s participation effect remained regulated by the conventions of narrative, which sought to hold the wide-screen format’s spectacular qualities in check. CinemaScope enhanced the movie-going experience but carefully avoided foregrounding itself as a process, as did Cine[sic! ra]ma and 3-D« (ebd.: 196f).

CinemaScope versuchte also den Balanceakt zwischen Spektakel und Narration. Die Mittel des Mediums wurden dabei zunächst, wenn es mit der Geschichte zu vereinbaren war, genutzt. »One dominant strategy involved the placing of figures in various positions across the full width of the frame. Darryl Zanuck, head of production at Fox, repeatedly stressed that in order to take advantage of the new widescreen format directors should stage action to emphasize its width« (ebd.: 198).

Solche extremen Positionierungen findet man in vielen frühen Breitwandfilmen. Über die Ästhetik der Breitwandfilme ist viel geschrieben worden,18 viel Kritik gab es zunächst wegen technischer Mängel, aber auch aus ästhetischen Gründen. Es fanden sich natürlich auch Anhänger des neuen Formats. Im Sinne von Bazin, der ein Befürworter der neuen Technik war, schreibt Belton: »[…] the system of suture (in Circlevision, Cinerama, Todd-AO, and CinemaScope, at least) remains less pronounced than that in traditional films: takes tend to be longer, the viewer’s ability to exhaust the details contained within them tends to be reduced, and shot/reverse shot editing patterns tend to give way to ›theatrical‹, single-perspective (that is, unedited) modes of dramatic presentation« (ebd.: 197).

Wenn es jedoch tatsächlich zu einer Verlängerung der Einstellungszeit gekommen ist – was u.a. Barry Salt bezweifelt19 –, so

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lag es wohl zunächst an der Schwierigkeit, mit der neuen Apparatur Großaufnahmen zu machen. Mit dem Erfolg von CinemaScope – alle Studios mit Ausnahme von Paramount drehten nun Filme dieses Formats – wurde

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nun das, was nicht in ›Scope‹ gedreht war, für die Kinoaufführung uninteressant, also kam das Fernsehen ins Spiel. »Although Fox did not actually sell off its backlog of old features until November 1956, after RKO, Warners, Columbia, and M-G-M had released their older features to TV, the economic viability of films made in the old Academy format was clearly put in jeopardy by the widescreen revolution« (ebd.: 116).

Die Studios hatten sich zunächst geweigert, ihre Filmbibliotheken für Fernsehzwecke auszubeuten. Michelle Hilmes gibt hierfür drei Gründe an: »Three main reasons have been given for the failure of the studio films to appear on the air before 1955: 1) the studios’ desire to protect their relationship with exhibitors, who objected strongly to TV competition; 2) interest in alternative means of exhibition such as theater and subscription television; and 3) the inability or unwillingness of the networks to pay an appropriate price for quality films« (Hilmes 1990: 157). 20

Interessant ist, dass Hilmes keineswegs die Furcht vor der Konkurrenz, die das Fernsehen sein könnte, als Grund anführt. Nur mittelbar spielt dies eine Rolle bei der Beziehung der Studios zu den Kinos. Die Kinos waren zwar wichtig für die Studios, gehörten ihnen aber seit dem Paramount-Decree nicht mehr.21 Das eigene Engagement im Fernsehen wurde durch Anti-Kartell-Urteile verhindert. So blieb zuletzt nur die Frage des Geldes. Die Lage änderte sich, u.a. als die Networks auf das Magazine-Format umstellten. RKO, finanziell schwer angeschlagen, verkaufte seine Filme zuerst. Die anderen zogen nach. Paramount harrte von den großen Studios am längsten aus und machte den Fehler, seinen Bestand von Filmen vor 1948 – bei den Filmen danach waren

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Verhandlungen mit den Gewerkschaften notwendig, dies wurde erst später geregelt – zu verkaufen anstatt sie zu vermieten:

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»The initial monies were substantial – fifty million dollars. But in the long run the buyer, MCA, then a talent agency, collected far more, so much that MCA would later turn around and purchase an ailing studio of its own, Universal, and join the ranks of the Hollywood major studios« (Gomery 1992: 249). 22

Die Preise für Filme stiegen rasant in die Höhe; der Grund dafür war, dass sie – im Gegensatz zu den Fernsehproduktionen – schon am Markt getestet waren.23 Damit war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Breitwandfilme im Fernsehen auftauchten. Wie oben erwähnt, wurde dabei das von der Filmindustrie selbst entwickelte Verfahren des Pannens und Scannens eingesetzt. Für Belton war dies der Anfang vom Ende der Breitwandfilme. »Wide-screen cinema started to ›think thin‹, denying its own width. Wide-screen began to pull in its expansiveness, to restrict the extremity of its compositions in order to accommodate itself to a new subsidiary market – the sale of motion pictures to television. In 1962, the American Society of Cinematographers issued a series of recommendations to its members, advising them to compose their wide-screen images for TV’s ›safe action area‹. Camera manufacturers began to produce viewfinders that indicated this area with a dotted line, and cinematographers began to protect their compositions for TV by keeping essential narrative and/or aesthetic elements within this frame-within-a-frame« (Belton 1990: 206).

Steve Neale hat von dieser Hypothese ausgehend verschiedene Filme gesichtet im Hinblick auf ihre Widescreen-Komposition. Er optiert, was die Datierung einer tatsächlichen Auswirkung der »safe-action-area« angeht, recht vorsichtig und sieht eine neue Ästhetik erst im Laufe der 1970er Jahre anbrechen.24 Das deckt sich auch mit den Sichtungen, die ich selbst bis jetzt vorgenommen habe. Eine Strategie, wie man mit dem Raum umgeht, hat er

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anhand von zwei Beispielen ausgemacht. Wenn der Raum nicht einfach ungenutzt brachliegen soll, so bietet es sich an, bestimmte Motive dort zu platzieren. In Chinatown (USA 1974, Roman Polanski) wird immer wieder Wasser in verschiedensten Formen in

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die Bildkomposition eingebaut, das in der Pan-and-Scan-Version verschwindet. Ähnlich verhält es sich auch bei Blade Runner (USA 1982, Ridley Scott). »Here the edges of the widescreen film are frequently filled with images and objects relating to the film’s concern with simulacra of one kind or another – toys, models, mannequins, photographs and so on. Once again these images and objects often disappear when the film is panned and scanned; once again, though, the configurations in which the principal characters and their actions have been placed remain intact« (Neale 1998: 135).

Dies lässt sich tatsächlich leicht beobachten, wenn man die Fassungen vergleicht. Der Bildraum außerhalb der safe-action-area wird auf diese Weise zu einer arabesken Randzone, die entbehrlich aber nicht semantisch leer bleibt. Eine weitere Form der Bildkomposition ist die Platzierung von Schauspielern an den Rändern des Breitwandfilms. »Instead of locating the characters at or near the centre of the widescreen frame, they are located at or near one of its edges. In addition, in cross-cutting between set-ups of each of the characters in turn, one will usually be located on the extreme left-hand side of the frame and the other on the right« (ebd. 1998: 135).

Die dabei erreichte Asymmetrie, die beim Schuss/Gegenschuss einem Tennismatch ähnelt, geht in der Pan-and-Scan-Version verloren.25 Außerdem spricht er vom »the over-the-disposableshoulder shot« (ebd.: 135). Ob diese Art des Kadrierens tatsächlich eine neue Bildstrategie ist, erscheint mir fraglich, da sie in zu vielen älteren Filmen schon Verwendung fand. Neale weist auf ein Verfahren hin, das mir im Kontext der

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Frage, was denn der Filmtext ist, interessant erscheint. Einige Breitwandfilme wurden nicht durch eine anamorphotische Linse

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gefilmt. Zu Breitwandfilmen wurden sie, indem man bei der Projektion im Kino den oberen und unteren Rand des Bildes verdeckte. Gefilmt wurde also mehr, als dann im Kino gezeigt wurde. »Composing shots for VistaVision was thus in many ways comparable to composing shots for all subsequent non-anamorphic widescreen formats (all of which involve masking the top and the bottom of the frame), and in some ways comparable to composing shots for anamorphic cinema projection and for subsequent television screenings« (ebd.: 139).

Wenn diese Filme nun im Fernsehen gezeigt wurden, war mehr zu sehen als im Kino. Einer ähnlichen Schwierigkeit sahen sich aber viele Kameraleute von Anfang an ausgesetzt, weil die Filmtheater teilweise stark hinsichtlich der Größe der Leinwand variierten. Belton überliefert einen merkwürdigen Befund: »Harry Cohn initiated a policy of releasing Columbia’s 3-D films in both 3-D and 2-D versions and instructed his cinematographers, even when filming in CinemaScope, to compose widescreen shots so that theaters could project them in a variety of aspect ratios« (Belton 1992: 127).

Dem entspricht, was Adam Duncan Harris zur Komposition von Vorspanntafeln schreibt: »Until the late 1960s, a title sequence was generally bright, lustrous, and screenfilling. The title also had to be centered and extended to the edges of the ›safe lettering‹ zone« (Harris 2000: 87).

Für die opulenten Breitwandfilme sollten auch opulente Titel hergestellt werden. Dabei sollte die Schrift, die entsprechend groß sein sollte, eine bestimmte Zone nicht überschreiten, die »›safe lettering‹ zone«. Diese Zone gab es, weil manche Kinos nicht das gesamte Bild präsentieren konnten.

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In dieser Hinsicht ist es also nicht nur die Pan-and-ScanVersion – und damit das Fernsehen –, die das Bild beschneidet. Die Pan-and-Scan-Versionen sind in gewisser Hinsicht Lektüren des Films, die dem Fernsehzuschauer angeboten werden.26

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Dabei werden natürlich Entscheidungen getroffen, über das, was wesentlich bzw. entbehrlich ist. »And the original intentions of the director are, more often than not, reduced to the lowest common denominator of the pan-and-scan industry, whose codes and conventions tend to be fairly basic; scanners are primarily concerned with keeping whoever is speaking in frame and with trying to be as unobtrusive as possible« (Belton 1992: 220).

Hier wird mit der Autorintention argumentiert, die de facto im Rahmen des Studiosystems leicht anderen – meist ökonomischen – Interessen geopfert wurde.27 Außerdem ist das Hollywoodsystem immer darauf aus gewesen, den Sprecher im Bild zu halten, und gerade die Kontinuitätsmontage ist darauf angelegt, möglichst unauffällig zu funktionieren.28 Natürlich wird die Aktion fokussiert, denn Hollywood produziert eben Handlungsfilme.29 Und das ist in gewisser Hinsicht die Voraussetzung für das Pan-and-Scan-Verfahren. Denn dieses Verfahren baut auf bestimmte Konventionen des Erzählkinos. So profitiert es von dem, was man Offscreen nennt. »Offscreen space, therefore, is fundamentally bound to onscreen space because it only exists in relation to onscreen space. The offscreen may be defined as the collection of elements (characters, settings etc.) that, while not being included in the image itself, are nonetheless connected to that visible space in an imaginary fashion for the spectator« (Aumont u.a. 1992: 13).

Und die Rede vom Offscreen macht nur Sinn im Hinblick auf einen imaginären diegetischen Raum.30 Dieser ungezeigte Raum kann jederzeit zum Bildraum werden. Ob nun bestimmte Handreichungen die Bildgrenze überschreiten. Oder ob es Blicke sind,

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die einen Wechsel des Ausschnitts motivieren. Wenn ein Charakter ins Off blickt, öffnet er den Erzählraum. Das ist die Chance,

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den Ausschnitt zu ändern. Eine Pan-and-Scan-Version von Cinerama-Spektakeln kann man sich deshalb auch nur schwer vorstellen. Anmerkungen 1 Siehe zu continuity-editing und dem klassischen Hollywoodsystem Bordwell/Staiger/Thompson 1985: S. 50-59; Beller 2000: 13-20. 2 »Indeed back in the 1960s, as Hollywood studios tested their films to video transfer, letterbox prints were made to check the total quality of a widescreen movie’s negative or master positive before it was transferred to video« (Gomery 1992: 260). 3 »Single fixed-position scanning often resulted in unintentional avant-garde minimalism in films that exploited the extreme edges of the frame« (Belton 1992: 219). Siehe zu weiteren Panand-Scan-»Skandalen« auch Kerbel 1977. 4 Siehe dazu Carr/Hayes 1988: 157-163. Zum 70mmFilm auch S. 164-195. Das Filmen auf 70mm ist dem Erfolg der Todd-AO-Produktionen zu verdanken, die in den 1950ern erstmals wieder 70mm einsetzten. Es gab aber schon in den späten 1920ern Versuche, ein 70mm-Format einzuführen. Vgl. Belton 1992: S. 52-68. 5 Vgl. dazu Branigans Definition von Kamera: »I will define camera not as a real, profilmic object (which leads to misunderstanding about viewer’s access to reality) but as construct of the reader – a reading hypothesis which seeks to make intelligible the spaces of the film. Space, in turn, is defined by the placement and displacement of frame lines. The frame is stressed because it is the measure and logic of the simultaneity of textual elements« (Branigan 1984: 53). 6 »Even though CinemaScope remained associated with classical narrative films, it introduced a level of visual spectacle

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that often threatened to overwhelm the narrative. This threat could be contained only by a shift in terms of the kinds of films that were made – a shift to historical spectacle – which functioned to naturalize pictorial spectacle« (Belton 1992: 194).

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7 Siehe hierzu und zum Folgenden Belton 1992: S. 15-24. 8 Das neue Fernsehformat orientiert sich an keinem üblichen Kinofilmformat: »The proposed aspect ratio for HDTV is 16:9 (1.77:1), which conforms to no theatrical widescreen format and appears to be a compromise of sorts between the European widescreen standard of 1.66:1 and the American (nonanamorphic) widescreen of 1.85:1« (Belton 1992: 227). 9 Für die Größe der Leinwand gab es natürlich Durchschnittswerte: »During the years 1952-1955 the screen aspect ratio changed from the traditional 1.33/7:1 to various widescreen formats, which ranged from 1.66:1 (Vista Vision) to 2.77:1 (Cinerama), and the size of the screen dramatically expanded from average 20 x 16 feet to an optimum (in large downtown theaters) of 64 x 24« (Belton 1992: 185). 10 In der folgenden Aufzählung nennt er den »Vorspann im Kino«. 11 »Das Systematische (= das Nicht-Textuelle) wird durch seinen idealen, durch die Analyse konstruierten Charakter definiert; das System hat keine materielle Existenz, es ist nichts anderes als eine Logik, ein Kohärenzprinzip; es besteht in der Verständlichkeit des Textes: in dem, was man vermuten muß, damit der Text verstehbar wird. […] Das Textuelle (= das Nicht-Systematische) ist dadurch definiert, daß es aus einer manifesten Entfaltung, einem ›konkreten‹ Gegenstand besteht, der dem Eingriff des Forschers vorausgeht […]« (Metz 1973: 82). 12 Vgl. die folgenden Äußerungen in Genette 1989: 9: »Dieser Text [das literarische Werk] präsentiert sich jedoch selten nackt …«. Fast wie eine Replik darauf lesen sich Derridas Äußerungen: »Man macht aus der Kunst im allgemeinen einen Gegenstand, an dem man angeblich einen inneren Sinn, das Invariante, und eine Vielzahl äußerer Variationen unterscheidet, durch die

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hindurch, gleichsam wie durch Schleier, man den wahren, vollen, ursprünglichen Sinn zu sehen oder wiederherzustellen versuchte:

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als einen einzigen, nackten« (Derrida 1992: 38). 13 Was nicht heißen soll, dass sich diese Fragen im Kontext von Literatur oder bildender Kunst nicht stellen lassen. 14 Siehe auch zu den Problemen der Rekonstruktion dieser Filme Garncarz 1992: 27. 15 Siehe dazu Balio 1990a: S. 3-40. 16 »In almost every respect, widescreen cinema was technically feasible at least two decades before its acceptance« (Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 358). 17 »Cinerama sold itself through appeals to neither content nor form but to audience involvement« (Belton 1990: 193). 18 Siehe u.a. Belach/Jacobsen 1993. 19 »It is commonly supposed that the introduction of CinemaScope suddenly increased the lengths of the shots in films that used the process, but in fact the effect was quite small« (Salt 1992: 246). 20 Siehe dazu auch Gomery 1992: S. 247-262; Lafferty 1990: S. 235-256. 21 Was Anlass zu Verschwörungstheorien gab: »[…] some speculation existed in 1952 that one force behind the Justice Department suit against the major studios for withholding 16mm films from TV was the studios themselves in an attempt to ›release their features to TV under court order to avoid boycott by theatrical exhibitors‹ […]« (Hilmes 1990: 157). 22 Siehe auch Hilmes 1990: 162f. 23 »[…] theatrical movies represented a different species of network programming. Their attractiveness derived from knowledge concerning their value in the theatrical premarket. Hence, the risk and uncertainty were significantly lowered for all parties concerned […]. Because of this, unexpected price wars occurred as each network sought to outbid its rivals for the best pictures« (Litman 1990: 137).

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24 »Although I cannot as yet answer either question, my impression, based partly on the evidence of films like Patton, is that compositional practices began to change, not in the 1960s, but during the course of the 1970s – a period of initial recession,

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and of considerable aesthetic and industrial readjustment« (Neale 1998: 134). 25 Vgl. im Gegensatz dazu die Versionen von Spartacus (Bilder 4 und 5), wo genau das Gegenteil eintritt. 26 »In effect, panned-and-scanned versions of widescreen films constitute secondary rereadings of them, often by a sensibility that is completely different from that of the original filmmaker« (Belton 1992: 220). 27 Einen Unterschied machen Filme, die von den Regisseuren auch produziert wurden, was in den 1950er Jahren häufiger wurde. Siehe dazu Balio 1990b: S. 165-183. 28 Siehe Brinckmann 1997: 288: »Geschnitten wird nach der Logik des Geschehens, unaufdringlich funktional und daher transparent«. 29 Es gibt natürlich auch das Starsystem, das sogar post mortem funktioniert. Siehe für eine Entscheidung bei einem Pan-and-Scan-Verfahren für East of Eden: »The scanner’s privileged selection of Dean here and in countless dialogue sequences which favor the actor elsewhere is, in part, a response to the subsequent importance that Dean and the cult that grew up around him after his death had in the rereading of his widescreen work for television audiences« (Belton 1992: 222). 30 »[…] all this reflection upon film space (and the adjoining definitions of onscreen and offscreen) only make sense, after all, with regard to what we call the ›narrative representational‹ cinema« (Aumont u.a 1992: 15).

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Zur Interaktion von Kino und

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Selektives Sehen im Kamerafokus. Peter Campus’ »Double Vision« Christian Spies

Der Blick durch und mit der Kamera ähnelt in weiten Teilen der selektiven Wahrnehmung von sichtbarer Realität, die im begrenzten Gesichtsfeld des menschlichen Sehens gründet. Entsprechend dem Auge wird im Fokus des Objektivs ebenfalls ein Teilfeld aus dem sichtbaren Erfahrungsraum gewählt, der im Kamerasucher direkt oder indirekt auf der lichtempfindlichen Fläche verfügbar gemacht und in eine operationalisierbare Form von Sichtbarkeit übertragen wird. So zumindest könnte man immer noch versucht sein, das Wesen einer kameratechnisch vermittelten Sichtbarkeit zu charakterisieren. Weiterhin würde damit jedoch die Kamera als das mechanisierte Modell des menschlichen Auges gelten, das am Paradigma der camera obscura etabliert worden war1 und auf dem auch die gesamte Tradition begründet ist, kameratechnisch und fotografisch vermittelte Sichtbarkeit als eine verobjektivierte Form des Sehens zu begreifen. Doch obwohl dieses idealisierte Modell eigentlich – wie Jonathan Crary eindrucksvoll nachgezeichnet hat – schon vor der Entwicklung von Foto- und Filmkamera in Frage gestellt und seitdem im Hinblick auf ein subjektiviertes Sehen relativiert ist (Crary 1996: 75ff.), soll nachvollzogen werden, wie es in den Debatten um die

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Selektives Sehen

unterschiedlichen Entwicklungsstadien der technischen Bildmedien weiterhin äußerst präsent bleibt. Dabei gilt es, die vermeint-

im Kamerafokus

liche Analogie von Sichtbarkeitsselektion in Auge und Kamera einmal mehr zu problematisieren; insbesondere ihre Bedeutung, die sie nicht zuletzt auch als Antriebsfaktor für die Weiterentwicklung von technischen Bildverfahren hatte. Anschließend soll am Beispiel eines Künstlervideos von Peter Campus, das sich dezidiert im Kontext dieser Debatten verortet, die vermeintlich banale Analogie von Auge und Kamera als notwendige Instanz für die Konturierung der unterschiedlichen Selektionsweisen von Sichtbarkeit vorgestellt werden. Etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts steht den universellen Sehmodellen, deren Geltung seit der Renaissance unangefochten gewesen war, das Wissen um ein immer auch vom einzelnen Betrachter gestaltetes, subjektives Sehen gegenüber. Jetzt wird die camera obscura in ihrem idealisierten Verständnis als technischer Fortsatz des Körpers zunehmend in Zweifel gestellt. Ebenso gilt auch das Auge nicht mehr als eine universell verfügbare und in sich selbst transparente Apparatur, dessen selektive Wahrnehmung auf die Regeln optischer Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden konnte, sondern dessen bis dato angenommene Transparenz war zunehmend zugunsten einer, wie Gottfried Boehm schreibt, »spezifischen Luzidität« (Boehm 1999: 297) aufgegeben worden, mit der dem Auge eine Beteiligung am Erkenntnisvorgang zukam. Der im Sehen vermittelte Sichtbarkeitsausschnitt musste somit nicht mehr im Hinblick auf eine beschränkte und folglich defizitäre Aufnahmekapazität charakterisiert werden. Vielmehr konnte er jetzt, obwohl ihm jede Bedeutung als normgebende Instanz abhanden gekommen zu sein schien, als eine je individuelle Selektionsleistung gelten, die der anscheinend neutrale, kameratechnisch vermittelte Sichtbarkeitsausschnitt vermissen lassen musste. Schon in dieser Tradition also, die von Crary als die »Modernisierung« des Sehens im 19. Jahrhundert charakterisiert wird oder die in anderen Zusammenhängen auch als die Entdeckung

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der »Geschichtlichkeit des Auges« gilt, kommen dem Sehen und der durch das technische Modell der Kamera vermittelten Sichtbarkeit unterschiedliche Stellenwerte zu. Während das Sehen als aktive, individuell gestaltete und damit nicht zuletzt auch histo-

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risch wandelbare Sinnesleistung nobilitiert wird, muss hingegen der Kamerafokus als mangelhafte, d.h. bloß ausschnitthafte und mechanisch determinierte Vermittlung von Sichtbarkeit gelten. Entsprechend muss dieser dann auch die vorausgegangene philosophische Kritik am Sehen seinerseits wieder unter veränderten Vorzeichen beerben, indem die in der platonischen Tradition verankerte Privilegierung des Logos gegenüber der individuellen Sinnesleistung des Auges eine Revision erfährt. Damit steht auch die aufklärerische Illusion einer neutralen »basisgebenden Visualität« (ebd.: 277) unter dem Stichwort der camera obscura zur Disposition. Denn sie droht, die neu privilegierte Heterogenität einer dynamischen Selektion von Sichtbarkeit, die auch vorher schon als Bedingung für die Möglichkeit einer differenzierten Bildlichkeit gegolten hatte,2 wieder zu gefährden. Sowohl unter den Bedingungen einer Subjektivierung des Sehens als auch im Hinblick auf seine Geschichtlichkeit kommt deshalb die Ungültigkeit einer vorschnellen Analogie zwischen menschlichem Sehen und Kamerasehen deutlich zum Ausdruck – und das noch bevor sich die vermeintliche Deckungsgleichheit von Auge und Kamera im selektiven Kamerasehen in der bekannten und zweifellos einflussreicheren Form als Fotografie überhaupt erst durchgesetzt hatte. I. Arretierung von Sichtbarkeitsselektion Allerdings war damit die idealisierte Annahme einer verobjektivierten Einheitsperspektive, die in der technischen und anscheinend neutralen Selektionsleistung der Kamera begründet liegt, keineswegs endgültig außer Kraft gesetzt. Vielmehr schien die Vorstellung eines universell apparativen Verfügbarmachens von Sichtbarkeitsausschnitten, nachdem sie in der ersten Hälfte des

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19. Jahrhunderts schon einmal zugunsten des individuellen Auges für obsolet erklärt worden war, weiterhin nur auf Abruf ge-

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standen zu haben, um kurze Zeit später, unter leicht veränderten Bedingungen, neu belebt zu werden. Seit das Sehmodell der camera obscura in der Fotografie der Maßgabe einer zunehmenden Illusionssteigerung entgegenkommt und seit vor allem auch die permanente Fixierung ihres Sichtbarkeitsausschnitts in der fotografischen Schicht schrittweise möglich wird, scheint die vorausgegangene Differenzierung zwischen dem mechanisch vermittelten Kamerablick und der Sichtbarkeitsselektion im Sehen wieder aufgehoben zu werden – und vielleicht gar unter umgekehrten Vorzeichen neu etabliert zu werden. Auch wenn etwa Konrad Fiedler schon 1887 die Vorstellung für vollkommen abwegig hält, »daß die Photographie [ein; C.S.] Gesichtsbild in der untrüglichsten Weise liefere«3, vermittelt die Euphorie, die mit der Entwicklung der fotografischen Verfahren einhergeht, einen vollkommen anderen Eindruck. Hier ist offensichtlich, wie das Sehen und der Kamerablick miteinander zu einer »merkwürdigen fotografischen Gestalt des Sehens« (Busch 1998: 393) verschränkt wurden und damit jene Tendenz einhergeht, der Kamera darüber hinaus ein der Sichtbarkeitsselektion des Auges noch überlegenes Potential universeller Sichtbarkeitsgestaltung zuzumessen. Wenn beispielsweise Joseph Louis Gay-Lussac 1839 in seiner berühmten Rede vor dem französischen Senat dem neu entwickelten Verfahren der Fotografie gegenüber der Malerei euphorisch eine bislang »unerreichte Vollkommenheit zumißt, mit der sie der Natur selbst gleichkomme«4, dann schließt er damit scheinbar nahtlos an die Bewunderungen an, die die camera obscura schon etwa 200 Jahre vorher ausgelöst hatten, wenn Constantijn Huygens in der Bewunderung einer camera obscura Cornelius Drebbels schreibt: »denn dies [das Abbild in der camera obscura; C.S.] ist das Leben selbst oder etwas noch höheres, wenn wir ein Wort dafür finden könnten.«5 Gay-Lussac impliziert wieder eine deutliche Deckungsgleichheit von fotografischem

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Blick und menschlichem Sehen. Denn nur im Abgleich mit den unmittelbaren Seherfahrungen kann er dem Blick durch den Kamerafokus eine Abbildtreue einräumen, die ihn von den traditionellen Bildverfahren abhebt. Während dort gesehene Sichtbarkeit

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immer mehr oder weniger als eine medial vermittelte verstanden worden war und folglich deren Ausschnitt primär als eine bewusst gestaltete Flächenkomposition galt, scheint dagegen die Sichtbarkeitsvermittlung in der Fotografie eine unmittelbare, dem Auge vergleichbare zu sein. Nur so konnte sich die Rede von ihrer medialen Transparenz und ihrer »Affinität zur ungestellten Realität« (Kracauer 1973: 45) etablieren. Der äußerst rigiden Selektion von Sichtbarkeit im Kamerafokus, obwohl sie eigentlich als ein maßgeblicher Parameter fotografischer Medialisierung und als Differenzkriterium zum dynamisch begrenzten Gesichtsfeld nur allzu offensichtlich ist, konnte dabei nur bedingt Beachtung geschenkt werden. Denn entgegen dem etwa 180˚ betragenden Blickwinkel beider Augen mit unscharfer Begrenzung und der extremen Variabilität des menschlichen Sehens, die in der Augen- und Körperbewegung gründet, bürgt ja gerade der starre fotografische, d.h. ausschnittschaffende Blick für seine Überzeugungskraft. Und die Differenz der Sichtbarkeitsselektion zwischen Kamera und Auge garantiert – im paradoxen Sinne6 – auch ihre vermeintliche Verwandtschaft. Erst indem die selektive Wahrnehmung, die im begrenzten Blickfeld des Menschen gründet, entgegen der Bewegungsdynamik des menschlichen Sehens stillgestellt und scharf umgrenzt wird, ist eine fotografische Visualisierung im und als Bild möglich und damit allererst eine Sichtbarkeitsgestaltung, die für die besondere Charakterisierung des fotografischen Blickens ausschlaggebend ist: Eine arretierte Sichtbarkeitsselektion im Flächenbild, die in der Diskussion um die camera obscura vermisst worden war.7 Hier trifft das aktiv selektierende Sehen (wieder) auf eine permanent organisierte oder eine, wie Konrad Fiedler schreibt, »entwickelte Sichtbarkeit« (vgl. Fiedler 1999: 206). Und obwohl sie auf diese Weise den traditionellen Bildformen, von

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denen sie sich eigentlich abzuheben schien, erneut ähnlicher ist, wurden damit immer wieder pessimistische Vermutungen über

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eine spezifische Dominanz der fotografischen Abbildung gegenüber der Synthesisleistung des Auges verbunden; etwa wenn Bernd Busch formuliert: »Der der Zweckrationalität unterstellte Gesichtssinn richtet sich fortan auf die Eindeutigkeit einer bereits geordneten Sichtbarkeit« (Busch 1998: 232). Allein darin scheint aber die tatsächliche Analogie zwischen dem Sehen und dem fotografischen Blicken begründet: Ebenso wie einerseits aktive Selektion von Sichtbarkeit das menschliche Sehen als notwendige Voraussetzung mit gestaltet, wie »jedes Sehen, gerade wenn es gelingt, ein Übersehen« (Boehm 1999: 284) ist, so erlaubt andererseits auch nur das um so deutlichere Übersehen im fotografischen Ausschnitt dessen überzeugende visuelle Prägnanz. »Im Grunde kann auf photographischem Wege doch nur etwas hergestellt werden, was eben keine Gesichtsvorstellung ist«, so wieder Fiedler bereits 1887, »sondern wovon wir uns erst eine Gesichtsvorstellung bilden müssen« (Fiedler 1999: 206). Andernfalls hätte jeder Versuch, die Fotografie in ihrer Bildfähigkeit auch gegenüber den traditionellen Bildmedien zu nobilitieren, schon im Ansatz beendet sein müssen. Ebenso wäre die hier anvisierte Diskussion der Blickselektion in den nachfolgenden technischen Bildmedien und um die bildkünstlerische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Modi von Blickselektion in Peter Campus’ Videoarbeiten jeder Bedeutung enthoben. Deshalb muss darin ebenfalls eine Grundvoraussetzung für die vermeintliche Entsprechung von fotografischer Visualisierung zur Blickselektion im Auge angenommen werden: Jede in sich markante fotografische Arretierung von Sichtbarkeit durchläuft immer auch erneut wieder den Prozess einer dynamischen Blickselektion. Gerade also der rigide fotografische Ausschnitt – darunter müssen hier die Begrenzung als Feld ebenso wie die enge temporale Begrenzung der fotografischen Momentaufnahme verstanden werden – bürgt schließlich nur deshalb für seine Prä-

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gnanz, indem er grundsätzlich auch einer Aktualisierung im Fokus des Auges bedarf. Speziell bezogen auf die temporale Selektion von Sichtbarkeit sind die Momentaufnahmen Eadweard Muybridges ein über-

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aus markantes Beispiel dafür. Hier wird im kameratechnisch und fotochemisch fixierten Moment die scheinbar unzureichende Selektionsleistung des Auges, seine Trägheit also, überwunden, und es werden neue, vormals nicht bekannte Momente von Sichtbarkeit offengelegt. Jedoch ebenfalls nur, indem sie dem menschlichen Auge wieder innerhalb der Grenzen seiner Sehkapazitäten verfügbar gemacht werden. Etwa, indem die einzelnen Momentaufnahmen des galoppierenden Pferdes, dessen Bewegung dort jeweils vollkommen stillgestellt erscheint, ihrerseits wieder in der dynamischen Blickselektion wahrgenommen werden müssen. Damit wird der scheinbar stillgestellte Moment im Bildsehen wieder in eine neue Prozessualität überführt, die dann noch einmal im Nacheinander der Einzelaufnahmen eine Steigerung erfährt. Hier kommt die Notwendigkeit eines selektiven Sehens des menschlichen Auges, mit der ein Wahrnehmen allererst möglich ist, direkt zusammen mit der rigiden Selektionsleistung des fotografischen Blicks, die ihrerseits fotografische Sichtbarkeit im Bild überhaupt erst möglich macht. Nur so entsteht letztlich die bestechende Überzeugungskraft des fotografischen Ausschnitts in seiner zweifachen Selektionsleistung: Einerseits durch das fotografische Ausschneiden und bildliche Arretieren von Sichtbarkeit und andererseits die damit verbundene neue Verfügbarkeit für die dynamische Selektionsleistung des Auges. II. Dynamisierung von Sichtbarkeitsselektion Freilich erfährt diese Konstellation im Zuge der Weiterentwicklung der technischen Bildverfahren im Anschluss an die Fotografie – allen voran natürlich das filmische Bewegtbild – gleich weitere Um- und Neuformulierungen. Die letztlich doch noch trenn-

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scharf zu konturierenden Verfahren der Blickselektion zwischen Fotokamera und Auge scheinen nun wieder miteinander ver-

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schränkt zu werden. Über ihre spezifische Analogiestruktur hinaus, mit der sie die fotografische Abbildung beerben, sind die filmischen Bilder jetzt auch noch durch das andere, in ihrer spezifischen Bewegungsstruktur begründete Analogiepotential zusätzlich bestimmt.8 Allein schon auf der apparativen Ebene wird hier, vollkommen abgesehen von den Verfahren filmischer Montage, der fotografische Ausschnitt wieder redynamisiert. Dementsprechend scheint wieder eine Selektion aus dem kontinuierlichen, realen Sichtbarkeitsraum vorzuliegen, die der Maßgabe einer dynamischen Sichtbarkeitsselektion erneut näher kommt. Damit könnte man der Annahme Joachim Paechs zustimmen, wenn dieser schreibt: »Aus heutiger Sicht ist das filmische Verfahren der Koppelung von Bildern, der in ihnen angehaltenen Bewegung, mit einer mechanischen, ihnen äußerlichen Bewegung, ein Zwischenschritt in der Entwicklung von Verfahren zur Visualisierung von Bewegung jenseits des Paradoxes der ›Bilder angehaltener Bewegung‹.« (Paech, 1999, 35-36) Schon die frühe Kritik am filmischen Bild weist darauf hin, wie diese Entgrenzung des statischen Feldes fotografischer Blickselektion und seine Erweiterung im Sinne einer Redynamisierung auch wieder zur Beschränkung wurde. Denn gleichzeitig ist damit notwendigerweise auch ein Verlust jener Prägnanz verbunden, die das fixierte fotografische Blickfeld dem sehenden Auge vermittelt hatte. Jetzt bedeutet die dynamische Eigenbewegung des Films – ganz im Sinne eines Kameraauges, das in Konkurrenz zum menschlichen Auge steht – schon von sich aus eine scheinbar variable Blickselektion, wobei die Blickselektion des Auges schon im Bild autoritativ festgelegt ist. Deshalb kann die konkrete Bewegung der Bildelemente im Film schließlich auch wieder eine neue Arretierung bedeuten. Nun allerdings nicht des Bildes im Sinne einer rigiden Blickselektion, sondern – wie von der Kritik am filmischen Bild immer wieder betont – scheint damit vielmehr eine Arretierung des menschlichen Auges einherzugehen.

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Dem stehen dann all jene Strategien gegenüber, die diesen scheinbar kontinuierlichen Bewegungsimpuls des filmischen Bildes, der auf seiner technischen Ebene begründet ist, ihrerseits erneut bildlich engagieren. Schon die früh formulierten Theorien

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filmischer Montage und all jene später beschriebenen »Momente des Stillstands« implizieren bekanntlich solche filmischen Bilder, die sich bewusst in der Interferenz mit der Sichtbarkeitsselektion des Auges artikulieren und ihm damit wieder eine aktive Selektionsleistung abverlangen.9 So wird auch mit diesen ebenfalls nur bruchstückhaften Bemerkungen zur Frage des selektiven Kamerasehens im filmischen Bewegtbild ebenfalls wieder deutlich, dass die Relation zur spezifischen Form des menschlichen Sehens unabdingbar ist.10 Der Fokus der Kamera konnte ebenso wenig der banalen Vorstellung entsprechen, nach der hier das Modell des menschlichen Auges gespiegelt werde, wie das auch vom fotografischen Sichtbarkeitsausschnitt immer wieder angenommen worden war. Gleichzeitig kann er aber trotzdem auch nicht unabhängig von diesem je individuellen Sehmodell verstanden werden. Denn fotografisch und filmisch vermittelte Sichtbarkeit finden immer allein im Sehvollzug Beachtung. Sie werden damit grundsätzlich an die Geschichtlichkeit und Selektionsleistung des Auges gekoppelt. III. Simulation von Sichtbarkeitsselektion Daran ändert auch der abermals anschließende Entwicklungsschritt elektronisch vermittelter und zunehmend universell codierter Bildformen wenig, obgleich hier mit dem technologischen Fortschritt ein radikaler Einschnitt in den Entwicklungsstrang aufeinander aufbauender Bildkonzeptionen verbunden wird. Dort sind noch einmal markante Strategien für eine dem menschlichen Sehen angenäherte technische Sichtbarkeitsvermittlung offensichtlich, die sich von den vorausgegangenen nicht alleine durch ihre mögliche Loslösung von der Kamera unterscheiden.

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Selektives Sehen

Vielmehr scheinen die neuen Bildverfahren primär aufgrund ihrer mathematischen Verfasstheit grundsätzlich verschieden, womit

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die Struktur des fotografischen Ausschnitts im Unterschied zu seiner mechanischen Dynamisierung im filmischen Bild noch einmal radikalen Veränderungen unterworfen ist. Denn jetzt, da die datentechnisch codierte Sichtbarkeit – zumindest potentiell11 – von dem selektiven Fokus der Kamera gelöst ist, erscheint sie auf ganz andersartige Weise entgrenzt. D.h., sie ist zumindest potentiell kontinuierlich, soweit es in der mathematischen Matrix angelegt ist, und sie birgt damit eine Vielfalt von Sichtbarkeitsformen, deren Grenzen nur in den Beschränkungen des Datenmaterials formuliert sind. Jetzt ist nicht mehr die Metapher des Fensters bestimmend, durch dessen begrenzte Öffnung man sichtbare Realität ausschnitthaft erfassen kann, sondern die der Türe, durch die man in die virtuelle Sichtbarkeit eintreten und dort wieder selbst unter der Maßgabe der aktiven Blickselektion wahrnehmen kann. Folglich scheint hier die eigene Negation als Bild immer schon nahe zu liegen, indem das kontinuierliche Datenmaterial in der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar in ein selektives Sichtbarkeitsfeld übertragen zu werden scheint und damit der Zwischenschritt einer widerständigen Medialisierung ausgeschaltet bleibt (Grau 2001: 167ff). Allerdings wird dabei meist konsequent übersehen, dass auch diese potentiell kontinuierlichen und mehrdimensionalen mathematischen »Datenräume« immer ebenfalls ihrer Präsentation als Projektion oder als Monitorbild bedürfen, um überhaupt sichtbar wahrgenommen werden zu können; dass also hier ebenfalls die ausschnittschaffende Sichtbarmachung eine notwendige Voraussetzung darstellt. Auf ihrer phänomenologischen Ebene betrachtet, schließen sie trotzdem wieder an die Sichtbarkeitsformen von Fotografie, Film und auch dem Video als unmittelbar vorausgegangenes elektronisches Bildmedium an. Im Unterschied also zu ihrem »object space«, jenem auf numerischer Ebene konturierten Datenraum, in dem ihre radikale Verschiedenheit begründet scheint, wird immer erst der »image space« als ein

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sichtbar gemachter Ausschnitt aus diesem Datenmaterial für eine visuelle Wahrnehmung verfügbar.12 Aber gerade auch dabei sind wieder Strategien zur Illusionssteigerung der selektiven Sichtbarkeit zu erwähnen. Abermals geht

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es vor allem darum, auch diesen sichtbaren »image space« selbst zu dynamisieren und damit der tendenziell defizitären Transformation des kontinuierlichen Datenraums in einen Sichtbarkeitsausschnitt zu entgegnen. Entsprechend der aktiven Leistung des Auges wird er deshalb so gestaltet, dass eine schon an sich dynamische Sichtbarkeitsselektion gegeben ist. Sie ist im Unterschied zum Film, bei dem eine festgelegte Bewegungsstruktur vorgegeben ist, jetzt auch in Realzeit wandelbar und scheint damit der Aktivität des Auges nochmals angenähert. Denn es ist technisch möglich, den Bildausschnitt analog zur Augen- und Körperbewegung des Betrachters zu variieren und damit einen Sichtbarkeitssauschnitt zu simulieren, der dem Auge einen individuell gestalteten Blick in den potentiellen Sichtbarkeitsraum des Datenmaterials vortäuscht. Nur findet dabei auch die bekannte Kritik am dynamisierten filmischen Bild, das Auge in Untätigkeit zu versetzen, auch gleich wieder ihre Entsprechung. Hier ist das Auge nochmals stärker auf den präsentierten Bildausschnitt fixiert. Deshalb ist es äußerst bezeichnend, dass die markantesten Illusionen datentechnisch simulierter Bilder etwa mit Head Mounted Displays erzielt werden, bei denen das Bild in nächster Nähe zum Auge vollständig in dessen Blickfeld einbeschrieben werden kann und damit faktisch jede Möglichkeit der aktiven Blickselektion ausgeschlossen ist. In diesem Zusammenhang erreicht dann auch eine weitere technische Entwicklung endlich ein ausgereiftes Stadium, die im Zusammenhang der Illusionssteigerung von technisch vermittelter Sichtbarkeit und deren Annäherung an das tatsächliche Sehen schon seit den Frühformen der Fotografie verfolgt worden war: Die stereoskopische Bildprojektion als Entsprechung zum binokularen Sehen. In allen Entwicklungsstadien der technischen Visualisierungsverfahren hatte die Aufnahme und Präsentation

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mit einem Okular stets eine grundsätzliche Differenz zur Sichtbarkeitsselektion des menschlichen Auges bedeutet. Denn wäh-

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rend dort das binokulare Sehen für eine tiefenräumliche Wahrnehmung ausschlaggebend ist, bringen demgegenüber die übliche Foto- oder Filmaufnahme ebenso wie auch die üblichen numerischen Visualisierungsverfahren eine Verankerung aller Sichtbarkeitswerte in der Fläche mit sich. Nur die normierte zentralperspektivische Konstruktion illusioniert eine entsprechende Tiefenräumlichkeit. Doch obwohl sie als Garant für eine universell nachvollziehbare Abbildung von Wirklichkeit durchgesetzt worden war, galt es schon früh, diesem immer noch widerständigen Illusionsdefizit zu begegnen. Jonathan Crary beschreibt die Ursprünge des fotografischen Stereoskops bereits im 19. Jahrhundert (Crary 1996: 122). Es sei vor allem in den 1820er und 1830er Jahren in enger Verbindung mit der Erforschung des subjektiven Sehens zu verorten und müsse dabei als eine apparative Entsprechung für den sehenden Körper gelten, der seitdem als binokular sehender verstanden wurde. Mit der neuen Technik schien neben der Naturähnlichkeit eine im Vergleich zur einfachen Fotografie noch enorm gesteigerte Unmittelbarkeit gegeben, eine – wie Crary schreibt – »scheinbare Greifbarkeit« (ebd.: 128). War die exakte Abbildung dort in der Schicht verschlossen, so wird sie in der stereoskopischen Präsentation für die Begehrlichkeit der Wahrnehmung geöffnet (vgl. Busch 1998: 291). Damit scheint die Übereinstimmung von sichtbarem Realitätseindruck und der technischen Vermittlung auf eine bis dato unerreichte Ebene gelangt zu sein. Der fotografische Sichtbarkeitsausschnitt konnte nun auch noch der Funktionsweise der tiefenräumlichen Sehaktivität entsprechen. Ebenfalls wird aber hier bereits deutlich, was sich dann in der avancierteren stereoskopischen Projektionstechnik digitaler Bilder einmal mehr zeigen wird: dass für die Zielsetzung des Illusionseindrucks sowohl die aktive Selektionsleistung des Auges stillgestellt sein muss und gleichzeitig eine gegenüber der rigiden

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fotografischen Sichtbarkeitsselektion noch gesteigerte Fokussierung vonnöten ist, die Rosalind Krauss als eine »Art Tunnelperspektive« (Krauss 2000: 180) beschreibt. Auch die stereoskopische Visualisierung sei flächig organisiert und nur ein »zu einer

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höheren Potenz erhobener perspektivischer Raum« (Krauss 2000: 180). Sie muss sich jedoch von den konventionell illusionären Flächenbildern, die am Paradigma der Zentralperspektive homogen, im Sinne einer relationalen Struktur orientiert sind, deutlich unterscheiden. Denn hier ergibt sich der Eindruck von Dreidimensionalität, so wieder Crary, gerade »nicht, wenn unser Blick über das Bild schweift und das gesamte Sehfeld wahrnimmt, sondern nur als punktuelle Erfahrung an ganz bestimmten Abschnitten« (Crary 1996: 130). Bilder, die nach den Regeln der Zentralperspektive durch stark fluchtende Linien und Größenunterschiede konstruiert sind, bleiben in der stereoskopischen Präsentation weitgehend ohne die gewünschte Wirkung. Hier ist vielmehr die Differenz der optischen Achsen zwischen den beiden gleichzeitig sichtbaren Bildern ausschlaggebend, was sich insbesondere dann einstellt, wenn in einzelnen Teilen, vorzugsweise im Vorder- oder Mittelgrund, die räumliche Kontrastierung von zwei differenten Elementen abgezeichnet ist. Stereoskopische Illusion ist dann am eindrucksvollsten, wenn also ein sichtbares Ganzes in einzelne, nicht kohärente Einheiten aufgelöst ist und die vermeintliche Entsprechung zum tiefenräumlichen Sehen immer nur an der einzeln fokussierten Bildeinheit erschlossen wird.13 Vom Betrachter fordert dies entsprechend eine körperliche Nähe zum Bild und seine Unbeweglichkeit, weil der intendierte Effekt des binokularen Sehens wieder nur dann möglich ist, wenn die dynamische Blickselektion des Auges entsprechend kanalisiert ist. In diesem Sinne liegt es dann auch nahe, dass der stereoskopischen Bildpräsentation, nachdem sie in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts allmählich außer Gebrauch gekommen war und im Kontext der verschiedenen Bildtechniken im Lauf des 20. Jahrhunderts nur ein Schattendasein geführt hatte, im Zusam-

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Selektives Sehen

menhang der elektronischen und digital codierten Visualisierungsverfahren wieder eine verstärkte Bedeutung zukommt. Jetzt

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erlauben die neuen technischen Optionen einen sehr viel überzeugenderen Einsatz dieser Visualisierungstechnik als in Fotografie und Film, wo deren normierte zentralperspektivische Gestaltungsmodelle letztlich immer noch bedeutsamer gewesen waren als die stereoskopische Illusion samt ihrer apparativen Voraussetzungen. Mit der vollständigen Manipulierbarkeit der elektronisch codierten Bilder ist es nun einerseits möglich, sie direkt entsprechend einer intendierten Bildwahrnehmung zu modifizieren oder zu gestalten und damit jene »Brüche« und mangelnde bildliche Einheit, die die stereoskopische Bildpräsentation vormals bedeutet hatte, von vornherein mit einzurechnen. Andererseits ist durch die neuartigen Präsentationsformen, wie etwa das schon genannte Head Mounted Display, eine äußerst präzise Zurichtung des visuellen Materials auf die intendierte Sichtbarkeit nötig. Hier wird darauf abgezielt, das Sehen vollständig zu kanalisieren und die Illusion einer natürlichen Blickselektion dadurch zu erreichen, indem jede aktive Blickselektion des Auges auf ein Minimum reduziert wird.14 Nochmals wird also hier deutlich, dass mit der technisch vermittelten Sichtbarkeit durch spezielle Verfahren unbedingt eine täuschende Annäherung an die selektive Wahrnehmung des Auges möglich scheint. In dem Augenblick jedoch, in dem die subjektive Sehaktivität und die Notwendigkeit einer Sichtbarkeitsselektion für Wahrnehmungsprozesse Berücksichtigung finden, muss nicht allein der Differenz von Sichtbarkeitsselektion im Kamerafokus zu derjenigen im menschlichen Sehen Beachtung geschenkt werden, sondern vielmehr der Interferenz zwischen beiden, auf deren Basis erst die spezifische Potentialität einer technisch vermittelten Sichtbarkeit im Sinne ihrer Bildlichkeit zum Ausdruck kommen kann.

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IV. Peter Campus – »Double Vision« Als besonders anschauliches Beispiel für diese Interferenz unterschiedlicher Selektionsweisen von Sichtbarkeit soll im Folgenden

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Peter Campus’ frühes Videoband »Double Vision« zur Diskussion stehen. In dem markanten Beispiel der performativ analytischen Videokunst von 1971 führt Peter Campus den ständigen Abgleich von spezifischen Kamerablicken, von videobildlicher ebenso aber auch von fotografischer und filmischer Natur, mit dem Blickmodell des menschlichen Sehens vor. In diesem Sinne ist »Double Vision« dann auch nicht allein als eine originäre Auseinandersetzung mit den medialen Bedingungen der noch jungen Videotechnik zu verstehen. Ebenso kann oder muss es – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auch als ein visueller Diskurs begriffen werden, in dem Auge und Bild, jeweils unter den Bedingungen bildtechnischer Entwicklungsschritte, miteinander in Abgleich gestellt werden, und der dabei bisweilen auch durchaus bis an die Ausgangspunkte der modernen Debatte um das Sehen und seine Relation zu den anderen Sinnen der menschlichen Wahrnehmung zurückverweist. Entsprechend ist »Double Vision« deshalb ebenso exemplarisch für einen Schwerpunkt der US-amerikanischen Kunst der 1960er und frühen 1970er Jahre. Dort stand im Rahmen der Neuorientierung nach dem ausdifferenzierten Modernismus der 1950er Jahre auch das Sehen des künstlerischen Bildes neu zur Debatte. Nach dem Primat des rein Optischen und einem in diesem Sinne zugerichteten Bildsehen interessierte jetzt wieder zunehmend eine Pluralität des Sehens, für die Campus’ Bilddiskurs über die Vielstimmigkeit, die sich zwischen Sichtbarkeit und Sehen ergibt, exemplarisch sein kann.15

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Selektives Sehen im Kamerafokus

V. »Double Vision« als Modell des binokularen Sehens Das augenscheinlichste Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Sehen gilt in »Double Vision« – wie der Titel des Videos bereits nahe legt – der Entsprechung von technischen Visualisierungsverfahren zum binokularen menschlichen Sehen. Durchweg knüpft das Video bewusst an die gesamte Tradition an, in der das scheinbare Illusionsdefizit von fotografischen, filmischen und elektronischen Bildern, das sich dort noch gegenüber der aktiven Selektionsleistung des vertrauten Sehens abzeichnet, durch stereoskopische Präsentationsverfahren kompensiert wird. Jedoch zeigt das Videoband deutlich, dass Campus den eigentlichen Telos dieser Entwicklungstradition, die ständige Illusionssteigerung, die gerade mit den elektronischen Bildverfahren nochmals einen entscheidenden Entwicklungsschritt erleben sollte, hier vielmehr bewusst konterkariert und primär an den Bedingungen und Grenzen einer Simulation des binokularen Sehens interessiert ist. In seinem New Yorker Loft nimmt Campus entsprechend dem Modell der binokularen Wahrnehmung mit zwei Augen jeweils synchron mit zwei Videokameras zwei Bewegtbildsequenzen auf. Diese werden in einem weiteren Schritt, ebenfalls dem Modell des menschlichen Sehens folgend, wieder miteinander zu einer Bildsequenz zusammengefügt. Beide Videosignale werden in einem elektronischen Mischverfahren zu einem Signal verbunden. Im Bild erscheinen dadurch zwei transparente, übereinander gelagerte Ebenen, etwa in der Form von fotografischen Doppelbelichtungen oder Sandwichverfahren, die sich in den sieben Einzelteilen des Bandes jeweils durch eine unterschiedliche Deckungsungleichheit auszeichnen,16 worin natürlich einerseits nochmals eine Entsprechung zum binokularen Sehen und vor allem zu den bekannten Verfahren der stereoskopischen Bildprojektion besteht. Dort wird bekanntlich erst in der Differenz zwischen den beiden Bildern, die getrennt voneinander mit je einem Auge wahrgenommen werden, die Illusion einer tatsächlichen Raumtiefe erfahrbar. In »Double Vision« jedoch ist hier der entscheidende

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Kontrast zum binokularen Sehen und ebenfalls zur gesamten Tradition der illusionssteigernden stereoskopischen Verfahren formuliert. Einerseits schließt es zwar mit den Strategien der Bildverdoppelung deutlich daran an, andererseits verweigert es

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aber jeden damit verbundenen illusionistischen Effekt. Denn ebensowenig wie eine notwendige Trennung der beiden Bildsequenzen für die Wahrnehmung mit je nur einem Auge überhaupt gewährleistet ist, erweist sich auch die Deckungsungleichheit dazwischen durchweg als gezielter Illusionsbruch. Die beiden Kameras, mit denen die Bildsequenzen aufgenommen wurden, haben etwa unterschiedliche Brennweiten, überkreuzte oder teils völlig voneinander getrennte Fokusbereiche, gegenläufige Blickrichtungen, unterschiedlich große Bildfelder etc. Jeweils wird damit wieder die Spezifik eines selektiven und monokular organisierten Kamerablicks den Erwartungen an eine perfekte binokulare Illusion und der dynamischen Sichtbarkeitsselektion entgegengestellt. Gerade indem hier also genau diejenige avancierte Bedingung der technischen Visualisierung gestört scheint, die eigentlich die Illusion eines dem Auge entsprechenden Sichtbarkeitssausschnitts garantieren sollte, geht damit eine um so umfangreichere Verunsicherung des Illusionspotentials technischer Visualisierung einher. Denn jetzt bürgt auch nicht mehr der fotografische Ausschnitt oder die filmische Bewegung für die vermeintliche Ähnlichkeit mit dem vertrauten Sehen, sondern damit scheinen unterschiedliche Formen von Sichtbarkeitsselektion in Auge und Kamera in einen direkten Abgleich gestellt. VI. Sieben Blickdialoge Schon im ersten von insgesamt sieben deutlich voneinander getrennten und jeweils einzeln betitelten Teilen von »Double Vision« (Abb. 1) scheint für den Betrachter jede Fokussierung eines Sichtbarkeitsausschnitts und entsprechend jede mögliche Fixierung verunsichert. Unter dem Titel »Copilia« sieht er sich hier

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Selektives Sehen

weitgehend willkürlich anmutenden, zumindest aber wenig nachvollziehbaren, horizontalen Kameraschwenks durch einen Raum

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gegenüber. Sie gleichen den ausfedernden Bewegungen eines schwingenden Pendels, lassen aber jeden Rhythmus oder Regelmäßigkeit vermissen. Einerseits betreffen diese Schwankungen synchron beide Bildsequenzen, andererseits löst sich das Gesamtbild in zwei Einzelteile auf, die horizontal gegenläufige Bewegungen zeigen. Dabei werden entweder zwei identische Ausschnitte gegeneinander verschoben, was zu einer Verdoppelung von Bildelementen führt, oder zwei unabhängige Bildteile übereinander gelagert und gegeneinander verschoben, womit jeweils eine collageartige Irritation der Raumansicht einhergeht. Abbildung 1: »Copilia«

Jede konstante Fokussierung und jegliche Fixierung des gezeigten Raums bleibt dabei für den Betrachter ausgeschlossen. Scheint es in einzelnen Momenten zwar immer wieder möglich, der Bewegungssequenz eines Bildausschnitts zu folgen und damit auch den präsentierten Raum zu rekonstruieren, so wird dies

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umgehend durch eine Umkehrung der Bildbewegung und durch das Verschieben der beiden Bildebenen gegeneinander konterkariert. Nicht einmal die beiden Kamerapositionen und die genaue Kameraführung sind durchgehend rekonstruierbar. Es lässt sich

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nur vermuten, dass zwei etwa identische Kameras vom gleichen Körper synchron im Raum bewegt werden und dabei zusätzlich ihre Fokusbereiche noch unabhängig gegeneinander verschoben sind. Ständig wird dies noch in der eigentümlichen Collagierung der Bildsequenzen verunklärt. Letztlich verweist das sichtbare Videobild damit immer wieder zurück auf sich selbst, d.h. auf das bewegte Relationsgefüge im Sichtbarkeitsausschnitt auf der Monitorfläche. Im Kontext der Debatte um ein spezifisches Kamera- und Bildsehen scheint diese erste Sequenz von »Double Vision« fast unmittelbar an eine ihrer frühen Wegmarken anzuschließen; jenen historischen Übergang nämlich, der laut Peter Bexte den Weg von der »Kunst […] zurück zur Philosophie der Wahrnehmung« (Bexte 1999: 82) markiert. In Campus’ Video wird mit der permanent anhaltenden Verunsicherung von Seherwartungen, der anscheinend vollkommen willkürlichen Fokussierung und der ständigen Verschiebung der beiden Fokusbereiche zueinander ein Blickdispositiv vorgeführt, das sich auf überraschende Weise in demjenigen wiederfindet, an dem bereits damals die spezifische Konstitution des sehenden Auges diskutiert worden war. Gemeint ist der Blinde, der als Illustration aus Descartes »Dioptrique« bekannt ist: ein Blinder, der als Ersatz für seine Augen zwei Stäbe in den Händen hält und damit tastend seine Umwelt wahrnimmt, wobei die Spitzen der Stäbe nur schwerlich die Sichtbarkeitsausschnitte des jeweiligen Auges ersetzen. Descartes hatte sich des »Geometers« nur als Beispiel für die von ihm vorausgesetzte geometrische Verfasstheit von Wahrnehmung bedient. Unabhängig davon hatte sich die Illustration jedoch danach verselbständigt. Sie war ein eigenständiges Modell für eine gesamte ikonographische Tradition geworden, in der schließlich das tastende,

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gleichfalls suchende »Sehen« als Reflexionsmaßstab über die spezifische Wahrnehmung des Auges etabliert worden war17

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(Abb. 2). Abbildung 2: Illustration aus René Descartes, Dioptrique, in: Discours de la méthode, Paris 1724

Freilich ist in »Double Vision« kein Blinder zu sehen, und auch das Tasten wird nicht direkt thematisiert. Dennoch legt die erste Sequenz des Videobandes gerade dieses Dispositiv des verhinderten Sehens nur allzu nahe. Jetzt sind es nur nicht mehr zwei Stäbe, die der Blinde als Augenersatz in beiden Händen hält, sondern jetzt scheint der Blinde derjenige zu sein, der zwei Videokameras suchend um sich herum durch den Raum führt. Doch diese können ebenfalls kein identischer Ersatz sein, wie die übermit-

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telten Bilder zeigen. Hier wird nicht, wie im aktiven Sehen, konkret fokussiert und sehend etwas fixiert. Die beschriebenen unsicheren, ständig bewegten und gegeneinander verschobenen Sichtbarkeitsausschnitte scheinen, gerade im Gegensatz zu ihrer

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vermeintlichen Neutralität als Auge, vielmehr auf das Suchen des Blinden zu verweisen, der mit seinen beiden Stäben unsicher tastend und immer wieder neu prüfend seine räumliche Umwelt zu erschließen sucht und dabei vollkommen anderen Orientierungspunkten folgen muss. In den weiteren Teilen von »Double Vision«, die hier nur bruchstückhaft angesprochen werden können, scheint es, als habe der Blinde – um der Metapher weiterhin zu folgen – seine Sehfähigkeit wieder teilweise zurückerhalten. So als seien die beiden Spitzen der Stäbe, jetzt sehr viel gezielter, gleichfalls wieder unter der Kontrolle eines sehenden Auges eingesetzt. Die Bildsequenzen der beiden Videokameras zeigen nunmehr eine zunehmend konkretisierte Bildgestaltung; weniger die generelle Verunsicherung von Seherfahrung. Nun scheint es stärker darum zu gehen, gezielt provozierte Wahrnehmungserwartungen zu irritieren. Raumansichten werden zunehmend greifbar fokussiert und können in den Kamerabewegungen nachvollzogen werden. Ebenso sind auch die beiden übereinander gelagerten Bildsequenzen jetzt bewusster im Hinblick auf gezielte Raum- und Flächengestaltungsmerkmale im Bild ausgerichtet. So etwa in der zweiten »Disparity« (Abb. 3) betitelten Sequenz. Nun sind die Kamerabewegungen durch den Raum und die Bewegungswechsel deutlich verlangsamt. Raumansichten werden in einzelnen Kamerabewegungen erschlossen. Gleichzeitig folgen sie markanten Richtungsvektoren im Raum, wie etwa den offen liegenden Rohrleitungen, den Kanten zwischen Wänden und Decke oder den Raumecken. Mehrfach werden einzelne Bereiche, wie etwa die Fensteröffnungen, genauer fokussiert und auch die Bewegungswechsel scheinen jetzt zunehmend an der Logik der filmischen Raumwahrnehmung orientiert. Hinzu kommt, ebenfalls im Gegensatz zum ersten Teil, dass die beiden Bildse-

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Abbildung 3: »Disparity«

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quenzen jetzt fast durchgehend deckungsgleich sind, sie zeigen keine gegenläufigen Bewegungen mehr und jeweils einen fast identischen Bildausschnitt. Nur im Verlauf einzelner Kamerabewegungen werden – dafür aber um so gezielter – geringe Differenzen zwischen den beiden übereinander gelagerten Bildern sichtbar, insbesondere immer dann, wenn in den horizontalen, kreisförmigen Kamerabewegungen vertikale oder diagonale Linienelemente leicht gegeneinander verschoben sind, indem hier der jeweilige Abstand zwischen Kamera und Objekt durch eine Achsenverschiebung variiert. Besonders auffallend sind hier die Verdoppelungen der vertikalen und diagonalen Linienelemente im Bild. In dieser Sequenz wird die angesprochene Nähe zur stereoskopischen Bildpräsentation sicherlich am deutlichsten provoziert. Jetzt scheint neben der fast vollständigen Deckungsgleichheit nur noch der apparative Zusatz zu fehlen, mit dem die beiden Bildsequenzen jeweils für ein Auge zugerichtet werden. Jedoch bleibt trotz oder gerade auch wegen dieser vergleichsweise

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geringen Verschiedenheit (»Disparity«) der Bilder die Verunsicherung der Seherwartungen erhalten. Ähnlich etwa zu den fotografischen Bildern, die als Stereoprojektion konzipiert sind und die »normal« betrachtet einen eher ungewöhnlichen, d.h. inhomoge-

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nen Eindruck machen (Crary 1996: 130), wird auch hier die Seherfahrung des Befremdlichen konsequent provoziert. Blickt man etwa auf die gezielten Verdoppelungen und Verschiebungen der Vertikallinien zueinander, so behauptet sich dabei wieder die Eigenständigkeit der bewegten Flächengestaltung entgegen den Erwartungen einer homogenen Raumpräsentation im Bewegtbild. Im dritten Teil »Convergence« (Abb. 4) ist das Bildmodell der ersten beiden Sequenzen wieder deutlich variiert. Beide Kameras stehen horizontal und eng nebeneinander, sowie fest an einem Standpunkt. Sie weisen zentral in die Tiefe des sichtbaren Raums hinein und sind so positioniert, dass sich ihre Fokusbereiche einander überkreuzen. Im sichtbaren Raum schreitet eine männliche Person (Campus selbst) immer wieder frontal auf die Kameras zu und nach einer 180˚-Drehung wieder in die Raumtiefe zurück. Dies zeigt sich im Bild einerseits durch die jeweilige Verkürzung oder Verlängerung ihrer Körpervertikalen; hinzu kommt andererseits, die durch die überkreuzten Fokusbereiche der Kameras hervorgerufene Verschiebung oder Verdoppelung der Körpersilhouette auf der horizontalen Bildachse. Schreitet der Körper eine Linie durch die überkreuzten Fokusbereiche der beiden Kameras ab, so bedeutet dies in den übereinander gelagerten Bildern die ständige Verschiebung der beiden halbtransparenten Köpersilhouetten horizontal zueinander. Befindet sich die Person im oder nahe am Schnittpunkt der beiden Blickwinkel der Kamera, so liegen die Bilder weitgehend deckungsgleich, entfernt sie sich davon, verschieben sie sich gegeneinander zum rechten und linken Bildrand.

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Abbildung 4: »Convergence«

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Dazu kommt als weiteres Gestaltungselement das beständige Variieren der beiden überkreuzten Fokusbereiche. Immer wieder in dem Augenblick, in dem die Person vor den Kameras angelangt ist, verändert sich erneut deren Position zueinander, so dass damit ebenfalls wieder eine beständige Variation des Aufnahme- und Blickdispositivs einhergeht und jeder Konkretion durch den Betrachter zuvorkommt. Der sechste Teil »Fusion« (Abb. 5) schließt an die beschriebene dritte Sequenz an. Wieder folgt der Blick den Kameras in die Raumtiefe hinein, wo ebenfalls eine Person vor- und zurückschreitet. Jetzt stehen die beiden Kameras jedoch nicht mehr nebeneinander, sondern an beiden Raumenden einander diagonal gegenüber. Das Schreiten zeichnet sich also nicht mehr als sichtbare Kontraktionen und Expansionen auf der vertikalen und horizontalen Bildachse ab, sondern die Person scheint in ihrer Bewegungsabfolge beständig eine X- oder eine V-Form innerhalb des Bildschirmrahmens zu markieren. Während sie von der einen Kamera diagonal in die Raumtiefe schreitend gezeigt wird, nimmt die andere sie gleichzeitig näher kommend in diagonal umge-

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kehrter Richtung auf. Und entsprechend der ebenfalls wieder mehrfach variierten Kamerapositionen zueinander, wird auch der Schnittpunkt der beiden abgeschrittenen Linien sowohl durch seine Lage innerhalb der Bildfläche als auch in Bezug auf die zeit-

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liche Abfolge ständig verändert. Abbildung 5: »Fusion«

Zusätzlich zeigt sich auch unabhängig von der schreitenden Person wieder das Interesse an der präzisen Flächengestaltung. Denn erneut sind die beiden Kamerapositionen zueinander an markanten Linienelementen des Raums ausgerichtet. Sowohl die Diagonale, die sich jeweils zwischen dem dunklen Boden und der hellen Wand abzeichnet, wie auch die Vertikalen der Raumecken, werden mehrmals bewusst zueinander kontrastiert oder deckungsgleich ausgerichtet. Im vierten Teil »Fovea« (Abb. 6) wird vor allem die bisher bekannte, vollformatige Überlagerung von zwei Bildsequenzen verändert. Jetzt zeigt die Bildsequenz einer Kamera, ähnlich etwa zu Teil 1 und 2, anhaltend dynamische Blicke in den Raum. Das Bild der anderen Kamera dagegen zeigt feststehend eine aufrecht

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stehende, nur wenig bewegte Person. Letzteres ist nur noch kleinformatig als runde Vignette zentral in das andere, vollformatige

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Monitorbild hineinmontiert. D.h. im Bildzentrum des Monitors, dem ausgezeichneten Blickpunkt für den Betrachter, befindet sich jetzt die ruhig stehende Person, um sie herum der mit der anderen Kamera aufgenommene Raum. Abbildung 6: »Fovea«

Das synthetisierte Bild lässt sich hier als Auseinandersetzung mit der üblichen Darstellungsstruktur von Figur und Raum lesen. Diese wird hier insofern durchbrochen, als beides nicht, wie eigentlich erwartet, tatsächlich miteinander verbunden ist (Person steht im Raum), sondern indem die beiden unabhängigen Ausschnitte im Sichtbarkeitsfeld des Bildschirms zusammengefügt werden und damit wieder für das Auge als Relationsgefüge wahrnehmbar sind. Auch dies wäre schließlich wieder auf die Metapher von den beiden Stäben des Blinden übertragbar, die ebenfalls beide voneinander unabhängig, nur extrem punktuelle Wahrnehmung erlauben. Und auch dort müssen die beiden Fokuspunkte im Prozess der Wahrnehmung immer notwendigerweise

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miteinander in Relation gesetzt werden und erlauben erst dann die intendierte Orientierung. Im fünften und einmal mehr im siebten und letzten Teil, »Impulse« und »Inside the Radius«, (Abb. 7 und 8) weisen sich dann

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im übertragenden Sinne die beiden »Stäbe« genauer durch die spezifischen Bedingungen des elektronischen Visualisierungsmediums aus. Jetzt nutzt Campus solche Verfahren, die allein die elektronische Videotechnik bietet und die nicht wie vorher etwa auch mit traditionellen fotografischen und filmischen Verfahren, wie Doppelbelichtung und Sandwichverfahren, möglich gewesen wären. Der fünfte Teil zeigt anknüpfend an die zweite Sequenz wieder langsame Kamerabewegungen durch den Raum, die ebenfalls an dessen markanten Richtungswerten orientiert sind. Abermals sind einzelne Elemente, etwa das Fenster mit den davor stehenden Blumentöpfen fokussiert. Jedoch scheinen die Differenzen zwischen den beiden einzelnen Bildsequenzen, zumindest was die gestörte Wiedererkennbarkeit des Raums angeht, jetzt nochmals verringert. Auffallend ist eine etwas oberhalb der Bildmitte sich befindende hell leuchtende, waagerechte Linie, die rechts und links jeweils eine Stufe nach unten aufweist. Ebenfalls verteilt über die gesamte Bildfläche ist ein schwaches, regelmäßiges Raster aus Quadratformen zu sehen, das zusammen mit der Waagerechten, die im Verlauf der Sequenz mehrfach an einigen Stellen Schwingungen zeigt, als ein Diagramm erkennbar ist. Hier wurde das elektronische Videosignal der einen Bildsequenz graphisch auf einem Oszillographen sichtbar gemacht, welches gleichzeitig von einer zweiten Kamera wieder abgefilmt und im üblichen Verfahren mit der ersten Bildsequenz zusammen gemischt wurde. Dabei wird also das eine Bildsignal in zwei verschiedenen Präsentationsmodi gleichzeitig zum Ausdruck gebracht: Einerseits in der üblichen Zurichtung als wiedererkennbare Monitorabbildung und andererseits als Darstellung des elektronischen Signals, womit natürlich umgehend die Frage nach dem normierten Präsentationsmodus gestellt werden muss. Die eine Darstellung entspricht vollständig den Erwartungen nach

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Abbildung 7: »Impulse«

im Kamerafokus

Abbildung 8: »Inside the Radius«

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Ähnlichkeit zum Sichtbarkeitsausschnitt des menschlichen Auges, die andere dagegen verwandelt das identische Signal in eine vollkommen davon verschiedene Sichtbarkeitsform, die jedoch ihrerseits den Schwingungen des elektronischen Signals ent-

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spricht. Damit wird letztlich noch einmal die grundlegende Differenz zwischen gesehener und technisch vermittelter Sichtbarkeit präsentiert. Analog zur stereoskopischen Präsentationsweise, die schon bei der geringsten Störung ihres korrekten Präsentationsmodus als Illusionsgarant nutzlos wird, bedeutet auch die Störung des normierten Präsentationsmodus im elektronischen Bild immer auch die Besonderung als spezifisch bildlicher Ausdruck. Und daran scheint sich auch in der letzten Sequenz nur graduell etwas zu ändern. Dort wird das Bild der einen Kamera nicht mehr radikal verfremdet als Diagramm neu visualisiert, sondern es wird innerhalb derjenigen der anderen Kamera wieder als Monitorbild sichtbar gemacht. Innerhalb des einen Monitorblicks in den Raum ist der zweite Monitor sowohl als Objekt sichtbar und gleichzeitig stellt er ein eigenständiges Sichtbarkeitsfeld für einen weiteren Blick in eben denselben Raum dar. Ganz im Sinne der langen Darstellungstradition ineinander geschachtelter Bilder wird damit natürlich unausweichlich die gesamte Diskussionstradition um das Illusionspotential des Bildes als Sichtbarkeitsausschnitt aufgegriffen. Auch hier wird noch einmal die Schwerpunktsetzung von Campus’ Video deutlich, insbesondere auch in der Steigerung, die der Künstler mit den einzelnen Sequenzen beabsichtigt hat: »The tape begins with an uncoordinated two-camera image and works its way up to an eye-brain model«. Der Blick durch und mit der Kamera wird jetzt noch einmal auch in der Spezifik des elektronischen Bildes in seiner gesamten Potentialität vor Augen geführt. Gerade in dem Vergleich zu Descartes Blindem ist das Video durchgehend als eine beißende Kritik an der vermeintlichen Illusion des technisch vermittelten Sichtbarkeitsausschnitts zu verstehen. Denn entsprechend der altbekannten Vorstellung, die schon von der camera obscura vermittelt worden war, ein »tech-

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nischer Fortsatz des Körpers« (Busch 1998: 104) zu sein, wird die Kamera jetzt wieder – nun unter den Bedingungen der avancier-

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ten Technik – als vermeintliche Entsprechung zum Sichtbarkeitsausschnitt des Auges vorgeführt, nur um dabei noch deutlicher auch ihr Defizit dazu offen zu legen. Dabei ist ein didaktischer Impetus im Sinne des »McLuhanesque media talk« (Antin 1986: 147), der im frühen Künstlervideo der 60er und frühen 70er Jahre überhaupt eine Konstante bildet, nicht zu übersehen. Trotzdem, und das konnte in diesem Zusammenhang immer nur in Ansätzen ausgeführt werden, artikuliert sich diese nicht zu leugnende Bildkritik in »Double Vision« gleichzeitig auch in ihrem beständigen Übergang in eine gestaltete Sichtbarkeit im technischen Medium. Sie bedeutet dann als bewusst medial vermittelte Sichtbarkeitsselektion nicht allein einen Kommentar über ihre Relation zum sehenden Auge, sondern tritt mit dessen Fähigkeit zur Sichtbarkeitsselektion in ein aktives Differenzverhältnis, d.h. in einen Dialog zwischen Auge und Bild. Anmerkungen 1 Bernd Busch geht in seiner Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie davon aus, dass Giovanni Battista della Porta, der meist auch als Erfinder der camera obscura gilt, in seiner 1558 veröffentlichten Schrift Magia Naturalis erstmals die Analogie von menschlichem Gesichtssinn und der Visualisierung in der camera obscura behauptet habe. Vgl. Busch 1989: 103. 2 Peter Bexte hat gezeigt, wie bereits im 17. Jahrhundert die Vorstellung eines zu reiner Transparenz gelangten Blicks im Sinne der Idealvorstellung der camera obscura nicht nur das Auge vollkommen als optischen Apparat begreifen musste, sondern wie damit auch schon das »Ende der Kunst in ihrem sogenannten ›goldenen Zeitalter‹« verbunden sein musste. Wenn die camera obscura zu einer Form sich natürlich herstellender Malerei fähig sei, dann, so schon die zeitgenössische Kritik, habe sich künstle-

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rische Bildproduktion qua Malerei damit erübrigt. Vgl. Bexte 1999: 25. 3 Fiedler schreibt: »Nun ist klar, dass, wenn ich einen Gegenstand [fotografisch; C.S.] abforme, ich damit zwar einen zwei-

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ten tastbaren und auch sichtbaren Gegenstand, keineswegs aber einen Ausdruck des Gesichtsbildes herstelle.« Vgl. Fiedler 1999: 206. 4 Zitiert nach Eder 1979: 312. 5 Zitiert nach Bexte 1999: 25. 6 Joachim Paech beschreibt dieses Paradox der Fotografie in Bezug auf deren Potential der Bewegungsdarstellung folgendermaßen: »Mit der Beschleunigung der Verschlußgeschwindigkeit (oder durch das Blitzlicht) wurde der apparative Blick zum chirurgischen Einschnitt in das Wahrnehmungskontinuum, an dessen Stelle ein Bild der Bewegung entstand, das deren radikale Abwesenheit (auch als symbolisierbare Spur) manifestierte, d.h. man musste Bewegung anhalten, um sie zumindest als abwesende im Bild festhalten zu können« (Paech, 1999: 35). 7 Arago schreibt 1839 über die Defizite der camera obscura gegenüber den neuen fotografischen Verfahren: »Alle Welt hat diese Bilder bewundert und nur bedauert, dass sie sich nicht festhalten lassen.« (zit. nach Busch 1989: 206). 8 Durchaus begründet spricht Raymond Bellour in diesem Zusammenhang auch von der »Doppel-Helix« filmischer Bilder, in denen zwei Analogiestrukturen miteinander verschränkt seien. Zum einen habe die fotografische Analogie einer technisierten Abbildung weiter Bestand und zum anderen komme das der Bewegung eigene Potential von Analogiebildung hinzu, das in ständiger Interferenz zur fotografischen Analogie steht. Vgl. Bellour, 1999: 89ff. 9 Stellvertretend sei hier etwa Andre Bazin genannt, der auf die Vielfalt der unterschiedlichen historischen Ausprägungen einer »kinematographischen Sprache« hingewiesen hat. Vgl. Bazin 1975; oder auch Bellour 1990.

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10 Für eine weitere Diskussion vgl. Wees 1980. 11 Trotz der nicht mehr notwendigen Bindung der numeri-

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schen Bilder an die Kamera, bleibt dieses Aufnahmedispositiv weiterhin von enormer Bedeutung. Auch in digitalen Bildern reicht die Maßgabe fotorealistischer Bildgestaltung teilweise so weit, auch die Aufnahmebedingungen der Kamera (etwa Verzerrungen oder spezielle Farbverschiebungen) mit zu simulieren. 12 Für diese Unterscheidung zwischen »object space« und »image space« vgl. Mitchell 1992, insb. Kap. 6 und 7. 13 Crary weist deshalb darauf hin, dass im Unterschied zu den zentralperspektivisch organisierten Bildern, in denen die leeren Bildteile als Kontrastelemente für tiefenräumliche Illusion dienen, die stereoskopischen Bilder üblicherweise eine große Fülle von Gegenständen zeigen, »mit Nippes überladene Interieurs, mit Skulpturen vollgestellte Museumsräume oder Stadtansichten«, die genau jene Voraussetzung für die punktuell organisierte Illusionswahrnehmung im Stereoskop waren. (129) 14 Natürlich ist zu erwähnen, dass stereoskopische Projektionstechniken und Head Mounted Displays anfangs vor allem im Rahmen spezieller Anwendungsbereiche, insbesondere in der Militärtechnik, Verwendung gefunden haben und dabei nicht allein die Illusion, sondern immer wieder auch die Komplexitätsreduktion von Sichtbarkeitsausschnitten bedeutsam war. 15 Zu den veränderten Bedingungen und Erwartungen an das Sehen im Anschluß an den Modernismus vgl. Dobbe 2003: 123ff. 16 Dieser Analyse liegt die siebenteilige Version von »Double Vision« mit einer Gesamtdauer von 14:45 min zugrunde. 17 Für die Bildtradition, die sich an Decartes »Geometer« anschließt vgl. Bexte 1999: Kap. IV und V.

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Selektives Sehen

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»Vermutlich kennen Sie das Gefühl: Nicht Sie selbst steuern Ihr Leben, sondern andere, die eine bestimmte Rolle in Ihrem Leben spielen […] Wenn Sie aber mit dem Ernst des Lebens einmal einen trinken gehen und dabei ganz ehrlich zu sich selbst sind, dann müssen Sie anerkennen: Sie haben es sich ausgesucht! Sie haben die Situation, in der Sie sich jetzt befinden, ausgesucht – wie immer Sie es auch drehen und wenden. Sie haben gewählt« (Sprenger 2002: 11).

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Die Hypostasierung der Wahl in

Natürlich bleibt es nicht bei der schieren Aufforderung zu entscheiden. Es bleibt auch nicht bei dem Hinweis, doch zu sehen,

Ratgeberbüchern

dass und wie man bereits entschieden hat: »Das Problem ist: Die meisten Menschen haben vergessen, dass sie wählen« (Sprenger 2002: 24). Ganz im Gegenteil, Lebenshilferatgeber erkennen durchaus an: »Freiheit, Autonomie und Selbstverantwortung sind uns nicht einfach gegeben, sind nicht einfach da; sie müssen erlernt und immer wieder neu erarbeitet werden« (ebd.: 15f.). Es handelt sich deshalb um ein Genre präskriptiver Art, das Wissen anbietet, um auf sich zu reflektieren, und Techniken, um zu entscheiden und das Entschiedene zu erreichen. Unzählige Bücher, Broschüren, Seminare, Coaching-Briefe stehen dazu mit Rat und Tat zur Seite. Natürlich können Sie auch Anweisungen per Video erhalten oder das Internet konsultieren – Angebote zum Zeit- und Selbstmanagement gibt es zuhauf, ihr Versprechen ist unwiderstehlich: Veränderungen sind möglich, Sie müssen es nur wollen! Dem Willen, Ihrem Willen, werden dabei zwei verschiedene Aufgaben angetragen: Erstens ist er Initiator für alle Maßnahmen, sich zu rationalisieren. Am Anfang des Selbstmanagements steht immer der Appell ›Ich will effizienter werden, mehr Zeit haben!‹ und zweitens ist der Wille ein wichtiges Vehikel und daher Gegenstand all dieser Maßnahmen: Im Fortgang der Bemühungen muss stets erforscht werden, was Sie wirklich wollen. Denn: Nur was Sie wirklich wollen, tun Sie! (vgl. ebd.: 71). Doch wie lernt man zu wollen und zu wählen? Da hilft wohl nur eine Entscheidung zur Paradoxie: Ich muss das Wollen wollen und das Wählen wählen. Invisibilisiert wird dieser Schritt durch das Zauberwort Selbstmanagement, die aktuelle Formel für Selbstdisziplin. Auch hier lässt das Ratgeberbuch keinerlei Zweifel aufkommen: »Ohne Selbst-Disziplin ist kein Problem lösbar. […] Ich muss mich selbst für Disziplin entscheiden, ich muss sie für mich wählen« (ebd.: 184). Paradoxie des Entscheidens: Die folgende Studie möchte zeigen, dass und wie das Genre der Ratgeberliteratur an der Formulierung und Prozeduralisierung dieses Paradox beteiligt ist.

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Sie möchte überdies die These belegen, dass Lebenshilferatgeber Mikrotechniken sind, mit denen Individuen sich als ›Entscheider‹ subjektivieren und auf diese Weise selbst reg(ul)ieren – damit sind Lebenshilferatgeber zugleich, ganz im Sinne moderner

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governmentality studies, Regierungstechniken. Indem das Selbstmanagement qua Lebenshilferatgeber verspricht, seine Zeit, sein Leben, sich selbst endlich ›in den Griff zu bekommen‹, wirkt es zugleich individualisierend und normalisierend. Kurz: Das Geheimnis des Erfolges eines auf den ersten Blick unscheinbaren Genres beruht auf der Paradoxie der Entscheidung. Lebenshilferatgeber (ko-)produzieren und prozeduralisieren es. Das Ratgeben in der Moderne Dass wir mehr Rat zu brauchen scheinen, ist verschiedenen Autoren aufgefallen und hat auch schon zu entsprechenden Charakterisierungen der dazugehörigen Gesellschaft geführt: Man beobachtete die Psychiatrisierung (Castel et al. 1982) oder die Therapeutisierung der Gesellschaft (Maasen 1998). Und für Peter Fuchs steht fest: »Wir leben in einer Beratungsgesellschaft: Beratende Professionen, Praktiken und Institutionen durchsetzen immer weitere Bereiche der Gesellschaft. Da das Mehr an Beratung offenkundig nicht zu einem Weniger an Beratungsbedarf führt, scheint es sich dabei um einen sich selbstverstärkenden Prozeß zu handeln« (Fuchs 1994a: 13f.).

Die Frage ist: Was befördert diese Beratungsspirale? Der Systemtheoretiker antwortet darauf, dass mit der Entstehung der funktional differenzierten Gesellschaft eine neuartige Beobachtungskomplexität entstanden ist. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts kann »alles, was kommuniziert werden kann […], in einen Horizont unendlich vieler (nicht antizipierbarer) Beobachtungsmöglichkeiten« einrücken (Fuchs 1994b: 71). Es gibt keine privilegierte Beobachtung mehr (Fuchs 1994b: 73). Alle Sinndimensionen sind kontin-

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gent geworden: sachlich, zeitlich, sozial. Alles könnte so oder auch anders sein, gleich passieren, später oder auch nie. Will

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man jedoch handlungsfähig bleiben – sei es individuell oder kollektiv – bedarf es der Gegensteuerung, um diese wilde Kontingenz zumindest fallweise und temporär in Schranken zu halten. Beratung ist aus dieser Sicht eine Lösung des Problems, die Dauerunsicherheiten moderner Kommunikationen und Interaktionen wenigstens befristet zu sichern. Therapien, Beratungen, Gutachten, Mediationen etc. ändern zwar nichts an der fundamentalen Kontingenz aller Sinndimensionen, sie helfen uns nur, trotzdem fallweise Verständigungen herzustellen und befristete Vereinbarungen zu treffen. Übersetzt man die Problematik der Kontingenz auf die Ebene der Person, sprechen wir über das Thema des modernen Individualismus. Beratung – und speziell: Ratgeberliteratur – reagiert auf spezifische Identitätsanforderungen der Moderne. Sie bringt ›Individuen‹ hervor (1), die konfligierende Rollenanforderungen koordinieren und integrieren (2), und leistet so Kontingenzmanagement (3). (1) Der moderne Individualismus der Person ist nicht nur eine kontingente ›bürgerliche‹ Ideologie, sondern er ist selbst sozialstrukturell generiert. Genauer: Die Person mit einer komplexen Individualität ist ein funktionales Erfordernis komplexer Gesellschaften, und dies ganz im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften. Vormoderne, stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften stellen ihre Ordnung primär über die Zuweisung ihrer Mitglieder zu höheren oder niederen Ständen her; über den Stand regeln sich auch weitestgehend die Handlungsoptionen von Personen. Demgegenüber haben moderne Gesellschaften ihren Differenzierungsmodus geändert. Sie organisieren sich vornehmlich über funktional spezifisch organisierte Bereiche wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, die sich primär über ihren je spezifischen Code regulieren: Wirtschaft über Geld, Politik über Macht, Wissenschaft über Wahrheit. Personen in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften leben in, mit und zwi-

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schen diesen Funktionsbereichen. Damit ändert sich auch die soziale Identität der Personen. Sie wird in allen Dimensionen komplexer. Das heißt, die Person nimmt mehr Rollen ein, diese Rollen sind verschiedenartiger, zwischen den Rollen bestehen mehr und

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verschiedenartigere Interdependenzen, die Rollen und ihre Interdependenzen ändern sich rascher (vgl. Schimank 2002a: 28). Was sind die Folgen? Aus der funktionalen Differenzierung resultiert einerseits eine gewisse Unabhängigkeit der Rollen, die eine Person einnehmen kann: Berufliche und familiale Rollen artikulieren sich in getrennten Funktionssystemen (z.B. zeigen sich patriarchalische Familienstrukturen in Familien, deren Haushaltsvorstände abhängige Arbeiter oder selbständige Galeriebesitzer sind). Doch andererseits kann es auch zu neuartigen Abhängigkeiten kommen: Wirtschaftliche Rezession kann sich für beide Familienväter auf das Familienleben niederschlagen. Dies macht das Ratgeberbuch für alle Inhaberinnen von verschiedenartigen Rollen interessant. Es erläutert die Abhängigkeit der Person von ihren Rollen und den Rollenerwartungen sowie die typischen Konflikte, die sich aus den sich überlagernden Rollen ergeben. Abhängigkeiten haben zwar einen durchaus erheblichen, aber keinen determinierenden Einfluss auf individuelle Handlungsmöglichkeiten. Genau damit eröffnen sie Unbestimmtheit, also den Raum, in dem Entscheidungen nicht nur notwendig, sondern überhaupt möglich sind und selbst individualisierende Wirkung haben. Entsprechend werden diese Abhängigkeiten oft sogar positiv bewertet (z.B. als Aufgaben, denen man sich stellen kann oder als Krisen, an denen man wachsen kann). (2) Was aber genau macht den Individualismus in funktional differenzierten Gesellschaften notwendig? Es ist die Koordination und Integration der verschiedenen Rollendarstellungen innerhalb und zwischen Rollen in derselben sozialen Identität: Der Vielzahl möglicher Koordinations- und Integrationsprobleme können soziale Regelungen nicht en detail begegnen. Hier ist vielmehr das Interaktionsgeschick der Person gefragt. Individualismus, diese komplexere Ich-Identität der Person, folgt also direkt aus der Integra-

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tionsfunktion personaler für soziale Systeme (vgl. Schimank 2002a: 33). Komplexere Sozialsysteme bedürfen komplexerer

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personaler Systeme. Allerdings stellt die Ausdifferenzierung der Sinnwelten die Person vor Probleme der Reintegrationen, der Übergänge und Vermittlungen, der Code-Wechsel, der intersystemischen und intermedialen Kompatibilitäten. Wie kann sich das ›hinreichende Geschick für Übergänge‹, aber auch das Gespür und der Respekt vor Inkompatibilitäten entwickeln (vgl. Helmstetter 1999: 158)? Für diese Aufgabe bedarf die Person nicht nur eines erhöhten Maßes an Einzigartigkeit, sondern auch an Selbstbestimmung. »Dafür, dass die Person ihre durch die soziale Differenzierung hervorgebrachte Einzigartigkeit akzeptiert und kultiviert, was beim erreichten Stand der gesellschaftlichen Differenzierung funktional erforderlich ist, ist eine erweiterte Selbstbestimmung der Person Voraussetzung. So erklärt sich, warum eine individualistische Identität in funktional differenzierten Gesellschaften zum einen sozial erforderlich ist und zum anderen als persönlich erstrebenswert gilt« (Schimank 2002a: 35).

Das Individuum, das Produkt funktionaler Differenzierung und zugleich Endverbraucher ihrer Konsequenzen ist, wird deshalb regulierungs- und beratungsbedürftig, was seinen Umgang mit anderen Menschen, mit Statusunterschieden, Normen, Interaktionsmustern, Rollen, Situationen oder aus gesellschaftlicher Warte formuliert: die Sozialintegration betrifft (vgl. Helmstetter 1999: 152). Dabei sind beide Bestimmungsstücke der Individualität, Einzigartigkeit und Selbstbestimmung, weder romantisch noch ontologisierend misszuverstehen. Aus soziologischer Sicht sind ihre determinierenden Aspekte relevant. Es geht um die alltägliche Handlungsrelevanz der Einzigartigkeit und Selbstbestimmung einer Person. Ausschlaggebend ist, ob und inwieweit die »Subjektivität […] des anderen als Entscheidungsprinzip« (Luhmann

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1975a: 103) unterstellt werden muss, um dessen Erwartungen korrekt erwarten zu können. Auch hier leisten Ratgeber wertvolle Hilfe: Sie lehren den Leser, eigenes und fremdes Verhalten unter dem Aspekt der ent-

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schiedenen Handlung zu lesen – das, was man tut, wollte man auch. Das Getane zeigt a posteriori das Gewollte. Ratgeber verfolgen gewissermaßen aus pädagogischem Interesse das Prinzip einer Rückwärts-Determination: Schau dir an, was du tust, dann weißt du, was du angesichts konfligierender Umstände gewollt hast, mehr noch: Du erkennst, wer du bist. Individualität wird damit (auch) eine Frage der Zurechnungsökonomie: Individualität ist die attributive Kurzform für die komplexe Interaktion von Situationen und Entscheidungsoptionen. (3) Doch die Vielfalt und Kombination von Rollen führt nolens volens zur Vervielfältigung der Ich-Identitäten: Die funktional differenzierte Gesellschaft forciert die Andersheit und Einzigartigkeit eines Jeden und bewertet beides – hier in geradezu romantischer Manier – ausgesprochen positiv. Doch dies hat Kosten, die sich in der Steigerung personaler Komplexitätsbewältigung ausdrücken. Ratgeber fungieren in diesem Sinne als Hilfestellungen beim Komplexitätsmanagement. Komplexitätsmanagement besteht in sachlicher Hinsicht darin, sich mit inkrementalistischem Stückwerkhandeln zufrieden zu geben, statt ein Problem endgültig und radikal aus der Welt zu schaffen (vgl. Lindblohm 1959). In sozialer Hinsicht geht es um ein opportunistisches Agieren im positiven Sinne (vgl. Luhmann 1975b): Die Person sollte sich nicht auf eine Seite festlegen, sondern Standpunkte erkennen und flexibel zu Handlungsstrategien arrondieren. In zeitlicher Hinsicht erfordert Komplexitätsmanagement geschickten Umgang mit Terminen und Fristen, das Handlungen verbindlich macht, ohne Zukünfte damit irreversibel festzulegen. »Selbstbestimmt anders als andere zu sein: Das wird in der modernen Gesellschaft von jedem erwartet« (Schimank 2002a:

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36). Natürlich gibt es auch Konformismen: Moden, Routinen, Konventionen – ihnen kommt die Funktion der Entlastung der mit

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dem Individualisierungsgebot überforderten Person zu. Ratgeber spielen in diesem Zusammenhang eine Doppelrolle. Einerseits gehören sie zu den Konventionalisierungshilfen: Sie statten uns mit Reflexionstechniken und Entscheidungstechniken aus, uns gleichförmig zu Einzigartigen zu machen. Im gleichen Zuge aber tragen sie dazu bei, den Aufwand an Identitätsbehauptung in die Höhe zu schrauben (und diese Dynamik zur Regel zu erklären). Der Umgang mit Erwartungen und Erwartungserwartungen verlangt immer sophistiziertere Techniken der Selbstherstellung und -darstellung. Der Zusammenhang lautet: Personen mit ihren komplexer und flexibler werdenden Ich-Identitäten übernehmen auch den zunehmenden Aufwand an Feinregulierung sozialer Ordnung. Dies geschieht im Modus entscheidungsbasierten Komplexitätsmanagements. Neben den Topoi der gesellschaftlichen Differenzierung und der (damit verbundenen) Individualisierung ist auch die ›Optionssteigerung‹ ein Moment, das den Kurswert von Beratung in die Höhe schnellen lässt: Die kulturelle Selbstbeschreibung der Moderne war stets von einer erheblichen Ambivalenz geprägt: hier die Gestaltbarkeit der Welt, dort die fundamentale Verunsicherung gegenüber dem Gestaltungszwang ohne Anleitung. »Sobald das, was in der Welt geschieht, auch innerweltlich eindeutig zurechenbar ist, taucht die Möglichkeit fundamentalen Scheiterns am Horizont auf. Die Ordnung der Welt ist von nun an ein steigerbarer Sachverhalt – sie kann auch verfehlt werden. […] Die innerweltliche Zurechnung von Entscheidungen auf Entscheider erfordert es, die kontingenten Folgen in einer weitgehend enttraditionalisierten Kultur auch innerweltlich zu tragen. Mit anderen Worten: Handeln wird riskant« (Nassehi 1999: 82).

Dies gilt auch für den Mikrokosmos individueller Handlungen. Ratgeber weisen uns nicht nur auf die Möglichkeit und Notwendigkeit von (stets provisorischen und riskanten) Entscheidungen

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hin; sie üben uns auch darin ein, Provisorium und Riskanz zu prozessieren. Dies geschieht über Meta-Entscheidungen: Visionen, Ziele, Zwischenziele.

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Ziele: Provisorische Verständigungen über Zukünftiges Wie können wir in Bezug auf die Zukunft, die noch gar nicht greifbar ist, etwas Bestimmtes wollen, gar ›richtig‹ entscheiden? Luhmann reformuliert dies, und zwar als Frage danach, wie sich eigentlich die Zukunft in der Gegenwart präsentiert. Und eine solche Frage kann nicht unabhängig von der Gesellschaft beantwortet werden, in der sie formuliert wird. Es ist dies unsere (post-) moderne, westliche Gesellschaft, die uns extrem unsichere Zukunftsperspektiven beschert. In ihr werden jedoch zugleich Remedien entwickelt, um der Zukunft, so unsicher sie sei, gleichwohl ins Auge zu sehen. Sicher scheinen zunächst nur zwei Dinge zu sein: Erstens, dass wir nicht sicher sein können, ob irgendetwas von dem, das wir als vergangen erinnern, in der Zukunft so bleiben wird, wie es war. Zweitens wissen wir, dass viel von dem, was in künftigen Gegenwarten der Fall sein wird, von Entscheidungen abhängt, die wir jetzt zu treffen haben. »Und beides hängt offenbar zusammen: die Entscheidungsabhängigkeit künftiger Zustände und der Bruch der Seinskontinuität von Vergangenheit und Zukunft. Denn entscheiden kann man nur, wenn und soweit nicht feststeht, was geschehen wird« (Luhmann 1992: 136). Luhmann geht es in seinem Artikel »Die Beschreibung der Zukunft« um eine Theoretisierung der gesteigerten Risikowahrnehmung in unserer Gesellschaft. Es geht vor allem um die Frage, wie wir unter der Bedingung von Unsicherheit und komplexer Zusammenhänge Entscheidungen treffen können. Während sich seine Überlegungen v.a. auf politische Entscheidungen beziehen, lassen sie sich gleichwohl verallgemeinern. Mit Bezug auf Lebenshilferatgeber ergeben sich aus Luhmanns Perspektive nämlich auch Anhaltspunkte für die Rahmenbedingungen und die Rol-

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le je individueller zukunftsgestaltender Entscheidungen. Diese Rahmenbedingungen beruhen auf der Unterscheidung einer

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sachlichen (1), einer zeitlichen (2) und einer sozialen Sinndimension (3): (1) In der Sachdimension fällt auf, dass die Referenz aller Zeichenverwendung, allen Sprachgebrauchs, aller Informationsverarbeitung unterdessen zum Problem geworden ist. Realität wird zwar nicht geleugnet, kann jedoch nur über Zeichen verstanden werden, die ggf. durch weitere Zeichen interpretiert werden. Zeigt die Realität fallweise Widerstand gegen den gewählten Zeichengebrauch, etwa durch die in der Soziologie bekannten ›unerwarteten Nebenfolgen‹ oder durch ›Krisen‹, so gilt es, das Zeichensystem zu wechseln – das heißt: einen anderen Zugang zur Realität zu finden. Von dieser epistemologischen Trennung zwischen Zeichen und Realität macht die Ratgeberliteratur ganz leidenschaftslos Gebrauch: Der Ratgeber, ganz gleich welcher Couleur, ermuntert beispielsweise, doch ›anders zu denken‹ (etwa: positiv!). Immer wieder beschwört er uns: Entwickeln Sie eine Vision! Differenzieren Sie Ziele und Zwischenziele! Genau damit hält der Ratgeber uns dazu an, ein selbstermutigendes, realitätsgestaltendes Zeichensystem zu wählen. Hilft es nicht, so versuche man es erneut oder wähle eine andere Strategie und, hilft auch das nicht, überdenke man Vision und Zwischenziele auf Machbarkeit und Kompatibilität. Kurz: Zeichen und Realität werden im Diskurs der Ratgeber in einen stets und ausschließlich pragmatischen Zusammenhang gebracht. Die Zeichensysteme verhalten sich in Bezug auf die eigene gewünschte zukünftige Realität entschieden instrumentell. (2) In der Sozialdimension findet eine Verschiebung im Bereich der Autorität statt: Auf wen oder was können sich (politische oder aber biografische) Entscheidungen unter der Bedingung von Unsicherheit beziehen? Die Autorität, die sich noch umstandslos und ausschließlich auf Macht und/oder Wissen (v.a. wissenschaftliches Wissen) gründete, weicht zunehmend einer funktio-

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nal äquivalenten, aber autoritätsreduzierten Praxis. Luhmann nennt diese Praxis eine ›Politik der Verständigungen‹: In einschlägigen Praktiken kollektiver Akteure, z.B. ›runden Tischen‹, geht es nicht länger um das Entscheiden auf Grundlage gültigen Wissens,

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sondern um das Aushandeln von Provisorien, auf die man sich eine Zeit lang berufen kann. Im sozialen Kontext, etwa bei Tarifauseinandersetzungen, besagen diese Aushandlungen weder Konsens, noch bilden sie vernünftige oder auch nur richtige Problemlösungen. Was sie allerdings erreichen, ist: Sie fixieren bis auf weiteres aussichtsreiche Handlungsoptionen angesichts ungewisser Zukünfte (vgl. Luhmann 1992: 139). Auch dort, wo diese Aushandlungen, wie im Selbstmanagement, individuell und im monologischen Diskurs geschehen (Auf welches Ziel soll ich mich festlegen? Was sind meine Prioritäten?), haben (Selbst-)Verständigungen einen großen Vorteil gegenüber der Berufung auf Autorität: Sie können nicht diskreditiert werden, sie müssen nur immer wieder neu ausgehandelt werden. Ich kann also nicht den Autor eines Selbstmanagementratgebers beschuldigen, weil er mich auf ein bestimmtes, unerreichbares Ziel festlegt. Er leitet mich ja nur an, meine Ziele selbst zu finden und ihnen nur solange zu folgen, bis innere oder äußere Umstände eine Re-Orientierung verlangen. Und dies ist sicher: Der Wert der Verständigungen (oder hier: der Vereinbarungen mit sich selbst) nimmt tendenziell ab; schon bald ist eine Überprüfung ihrer Geltung erforderlich. Auch die Autorinnen der Ratgeber verhalten sich entsprechend. Ihre Ratschläge sind zwar autoritativ, insofern sie eine Prozedur der Selbstreflexion und des Selbstmanagements vorschlagen. Die konkrete Ausgestaltung in der Selbstanwendung legen sie jedoch explizit in die Verantwortung des Ratsuchenden: Ihm wird deshalb empfohlen, seine Ziele sorgfältig zu bestimmen, sie immer wieder auf ihre Geltung zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu entscheiden. (3) Luhmann betont, dass für die Verarbeitung von Ungewissheit die Zeitdimension entscheidend ist. Auf der Zeitachse wird die Gegenwart auf eine Zukunft bezogen, die nur noch im

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Die Hypostasierung der Wahl in

Modus des mehr oder weniger Wahrscheinlichen bzw. Unwahrscheinlichen gegeben ist. Gegenwärtige Zukunft und zukünftige

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Gegenwarten schließen zwar Prognosen nicht aus (etwa mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnungen), doch »ihr Wert liegt nicht in der Sicherheit, die sie gewähren, sondern in der raschen und spezifischen Anpassung an eine Realität, die anders ausfällt, als man erwartet hatte« (ebd. 1992: 140). Genau darauf bereiten auch Ratgeber vor: Sie leiten dazu an, Zukünfte über commitments mit sich selbst provisorisch zu gestalten. Damit sind sie Anleitungen zur begleitenden Selbstanpassung an die erwartbaren Kontingenzen der Realität. Visionen, Ziele, Zwischenziele kommen nicht von ungefähr im Plural vor. Der Plural ist das Ergebnis einer Entwicklung, in der Entscheidungen im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft nicht mehr über die Ausbildung einer stabilen Identität, sondern im Modus flexibler Selbstgestaltung getroffen werden – immer in Anpassung an sich unerwartet ändernde Umstände. Gewissermaßen passend zu dieser ›Anpassungslogik‹ entwickelt sich nicht nur die aktuelle Figur des flexiblen, sich selbst managenden Selbst, sondern auch die moderne Figur des Experten, der nicht länger, zumindest nicht in erster Linie, Identitätsprobleme lösen hilft (wie noch im therapeutischen Diskurs), sondern Verfahrensfragen der Selbstgestaltung vorschlägt: Die Festlegung und Überprüfung von Zielen gehört dabei zu den wichtigsten Techniken. Schließlich ist die Literaturgattung selbst provisorisch: Mit immer neuen Titeln und neu gefassten Prinzipien bietet sie immer neue Selbstgestaltungsangebote – das Verfallsdatum der Ratschläge übersieht man leicht im Boom der Neuerscheinungen. All dies: Die instrumentelle und stets provisorische Nutzung von Selbstgestaltungsangeboten im Modus der Vereinbarung mit sich selbst, die Prozeduralisierung der Selbstverständigungen, die neue Figur des Experten und schließlich die boomende Literatur der Selbsttechniken lassen individuelle Ziele als provisorische Verständigungen über Zukünftiges in unserer postmodernen Gesellschaft erscheinen. Obwohl individuell gehandhabt, beschränkt

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sich die Rolle von Entscheidungen nicht auf die Koordination des eigenen Lebens: Die Prozedur der Zielvereinbarung mit sich selbst wird eine Erwartung, die wir auch an andere und die andere an uns richten – sie wird zur Norm in einer hochindividualisier-

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ten und damit sozial hoch koordinationsbedürftigen Gesellschaft. Die Normierung wird allerdings von einem Inhalt (Werde Millionär!) auf eine Prozedur verlagert (Was immer du willst, mach dir klar, wie du es erreichst und ob du immer noch auf dem richtigen Weg bist und ob das Ziel immer noch der aktuellen Lebenssituation entspricht …). Die hohe Autonomie in Sachentscheidungen verbindet sich mit Heteronomie durch die Disziplinierung des Entscheidungsmodus. Dass die Techniken der Entscheidungsfindung vielfältig sind und selbst (autonom!) gewählt werden müssen, verdeckt diesen Tatbestand. Ratgeber beteiligen sich damit an dem, was Armin Nassehi die »Kultur der Eindeutigkeit« nennt: »Nicht mehr Bestimmung der Gegenwart durch eine traditionale, bekannte Vergangenheit, sondern Bestimmung einer unbekannten Zukunft durch eine Gegenwart, die – um mit Jürgen Habermas zu sprechen – ›ihre Normativität aus sich selber schöpfen‹ muss und dies […] nur um den Preis der inneren Ruhelosigkeit und des fortgesetzten Versuchs, sich selbst festzustellen – also: eine Kultur der Eindeutigkeit. Das moderne Steigerungsverhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit hat das kulturelle Bedürfnis nach Sicherheit im Horizont von Unsicherheit hervorgebracht. Es kompensiert und simuliert gewissermaßen das, was strukturfunktionalistisch als funktionale Notwendigkeit, als Bedingung der Möglichkeit des Sozialen schlechthin ausgegeben wird, aber doch nur eine regulative Idee ist« (Nassehi 1999: 91).

Heute, so scheint es, liegt die Möglichkeit des Sozialen eher in den verbindlich werdenden Prozeduren des Wählen-Könnens, ja, des Wählen-Müssens. Ratgeber sind in diesem Sinne Technologien der Eindeutigkeit. Das gewaltige Inventar an Reflexionswissen und Techniken der entscheidungsbasierten Selbsteffektivierung macht sie zu Planungs- und Sicherungsmaschinerien. Mit ihrer gesellschaftlichen Verbreitung und Bedeutung wächst auch

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Die Hypostasierung der Wahl in

ihre eigene Komplexität; dabei ändern sich Gegenstände und Ziele des Ratgebens. Eine Skizze zur Ratgeberliteratur in drei Etap-

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pen (bürgerliche Anstands- und Manierenbücher, Willens- und Erfolgsratgeber, Zeit- und Selbstmanagementratgeber) illustriert die zunehmende Umstellung des Ratgebens von Regelwissen auf die Entscheidungsfähigkeit des Individuums, die schließlich auf Dauer gestellt wird. Ratgeberliteratur Bürgerliche Anstands- und Manierenbücher (ab 1780) Ratgeber sind kein neues Phänomen. Höfische Fürstenspiegel, Prinzenerziehungsbücher, barocke Complimentierbücher, Hausväterliteratur, Weltweisheits-Traktate werden durch bürgerliche Ratgeberliteratur (am bekanntesten: »Über den Umgang mit Menschen« von Freiherr von Knigge 1788) abgelöst. Diese Ratgeber sind ›Kinder der Aufklärung‹, dem Geiste und dem historischen Sinne nach: Der größte Verkaufserfolg des Verlegers Georg Joachim Göschen war ein Ratgeber. Er erschien 1787 unter dem Titel »Not- und Hilfsbüchlein für Bauersleute«. Autor ist der Pädagoge Rudolf Zacharias Becker, dem es am Herzen liegt, »den vornehmsten leiblichen und geistigen Nöten des Landmannes abzuhelfen«. Dazu breitet er auf ca. 800 Seiten moralische Grundsätze aus, gibt ›praktische Winke‹, sucht dem Aberglauben entgegenzutreten, erläutert Wiederbelebungsversuche an erhängten, erfrorenen und vom Blitz getroffenen Personen, und lehrt, das ist unserem Themenkreis schon sehr nahe, eine sog. ›Lebensordnung‹ für Gesunde, Kranke und Genesende (vgl. Güntner 2001). Horst-Volker Krumrey hat für den Zeitraum von 1870 bis 1970 ca. 600 Anstands-, Manieren- und Etikette-Bücher ausgemacht, schätzt ihre wahre Zahl aber eher auf 700-800. Einige Bücher haben erstaunliche Auflagenzahlen erreicht und ihre mentalitätsgeschichtliche Dimension ist nicht zu unterschätzen: Sie waren flächendeckend verbreitet; sie stellten eine »depravier-

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te Form von Diätetik und Ethik dar und zugleich eine Policey im alten Sinn der Sittenaufsicht in Staat und Gemeinde« (Grimms Wörterbuch). »Eine seit dem 15. Jahrhundert und auf alle Lebensäußerungen übergreifende Sozialdisziplinierung bestimmt

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durch ihre Ordnungen, durch Ständebücher und berufsständische Beschreibungen feste Normen für den ganzen Tagesverlauf« (Bonfatti nach Helmstetter 1999: 165). In Michel Foucaults Bemerkungen zu den antiken Ursprüngen der Diätetik findet sich der Satz, »dass die ›Diät‹ als Lebensregel, als Lebensweise eine fundamentale Kategorie ist, in der die menschliche Lebensführung gedacht werden kann; sie charakterisiert die Weise, in der man seine Existenz führt, und ermöglicht es, die Lebensführung mit Regeln auszustatten: eine Problematisierung des Verhaltens im Hinblick auf eine Natur, die man zu bewahren und der man sich anzupassen hat. Die Diät ist eine ganze Lebenskunst« (Foucault 1989: 131).

Die modernen Ratgeber, so kommentiert es Rudolf Helmstetter, nehmen eine zentrale Verschiebung gegenüber der antiken Diätetik vor: Die Problematisierung des Verhaltens geschieht nicht mehr, oder nicht mehr vorrangig, im ›Hinblick auf Natur‹, sondern im ›Hinblick auf Gesellschaft‹ (vgl. Helmstetter 1999: 165). Dies artikuliert sich über die Vermittlung von Wissen über soziale Regeln. Im 19. Jahrhundert befassen sich damit nicht nur direkte, sondern auch indirekte Formen der Ratgeberliteratur, z.B. die »Gedankenharmonie aus Goethe und Schiller: Lebens- und Weisheitssprüche aus deren Werken« (Gottschall 1875). Diese Formen vermitteln zwischen der elaborierten Semantik der Hochkultur und der Alltagskommunikation, zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Manierenbücher dehnen das Sag- und Regelbare aus: »Auch ›ungeschriebene Gesetze‹ können nun aufgeschrieben […] werden: dadurch erweitert sich der Radius ihrer Verbreitung und Geltung(sansprüche), die interaktio-

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Die Hypostasierung der Wahl in

nale Kommunikation wird eingebettet in schriftliche, gedruckte Unter- und Überbauten, Formeln und Formulare. Man könnte die Evolution der Gattung solcher enseig-

Ratgeberbüchern

nements und adhortationes einer buchförmigen ›Ethica complementoria‹ als Entwicklung vom ›Complementierbuch‹ zum ›Komplementärbuch‹ beschreiben. Die Beratung der Interaktionsordnung nimmt zunehmend die Ordnung und Logik der Kommunikation in Anspruch« (Helmstetter 1999: 166).

Verbreitungsgrad und Konjunkturen der Manierenbücher indizieren beschleunigten sozialen Wandel und zunehmende (vor allem vertikale) soziale Mobilität, aber auch eine allgemeine Modernisierung der Umgangsformen und eine Divergenz von häuslichem und öffentlichem Verhalten. Es handelt sich um Gebrauchsliteratur, die vom richtigen Sitz der Kleidung bis zur Sitzhaltung bei Tisch alles vermittelt, was der Mensch wissen muss, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Das gefürchtete Gegenbild ist die Blamage. Nicht zuletzt anhand ihrer Gliederung nach sozialen Situationen und Konstellationen zeigen die Manierenbücher ihren Zuschnitt auf das Alltäglich-Praktische. Sie sind vor-soziologische Gesellschaftslehren. Nur eine Entscheidung ist zu treffen: die Regeln zu kennen und sich daran zu halten (vgl. ebd.: 168). Doch wohlgemerkt, diese Literatur ist statisch und kanonisch, nicht dynamisch und entscheidungsorientiert. Diese Umstellung ergibt sich erst mit der steigenden Komplexität und Kontingenz der Gesellschaft. Zwei Exkurse in Ratgeberliteraturen des frühen resp. späten 20. Jahrhunderts zeigen, wie sich allmählich eine willensbasierte, entscheidungsfördernde Façon des Ratgebens formiert. Willensschulen und Erfolgsratgeber der zwanziger Jahre Die Vorläufer heutiger Selbstmanagement-Manuale hießen in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts explizit ›Willensschulen‹. Sie halten den Willen für eine formbare, aber auch formungsbedürftige Instanz: Sie sind psychologisch fundiert und ihr Stil ähnelt gelegentlich dem Beichtmanual: Martin Faßbender etwa (»Wollen – eine königliche Kunst«) ist selbstverständlich der Ansicht, dass

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eine Anleitung zur Selbsterziehung »im Modus der natürlichen Willensbildung und der christlichen Askese« zu geschehen habe (Faßbender 1922: 221). Wenn man »ein Großer« werden will, helfen deshalb auch die Ignatischen Exercitien. Die basale Ein-

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sicht lautet: »Wenn du willst, so kannst du alles; nur musst du wollen können« – und schon der Autor dieser Formel, der Psychologe Lindworsky bemerkt, dass dies nicht einfach sei und nur darum fänden »die vielen Schriften über die Kunst des Wollens eine so weite Verbreitung« (Lindworsky 1922: 1). Einschlägige Titel lauten: »Die Gymnastik des Willens« (Gerling 1920), »Die Feldherrnkunst des Lebens« (Sartorius 1929), »Kraft und Tat: Wegweiser zu Wille, Gesundheit, Kraft« (Helmel 1928). Ins Zentrum ihrer Ausführungen und Ausbildungsbemühungen setzen die Willensschulen die Willenskraft. Lindworsky unterscheidet dabei die äußerliche Durchführung des schon gefassten Vorsatzes von der Entschlussfassung selbst. An der Entschlussfassung offenbart sich der Charakter: Der Willensstarke kann sich zu schwierigen Taten und bitterem Leiden entschließen, wo der Schwache mutlos die Hände in den Schoss legt. »Und die gleiche Willensstärke macht sich bei der Durchführung eines einmal gefassten Entschlusses geltend, sooft ihm neue Hindernisse in den Weg treten« (Lindworsky 1927: 56). Beides gilt es zu üben – so liest es sich auch in der präfaschistisch gefärbten Willensschule »Kraft und Tat« von Heinrich Helmel: »Der Wille will trainiert, geübt sein, so er uns mit vollster Entfaltung erfreuen soll« (Helmel 1928: 10). Helmel empfiehlt dazu Stimmungsübungen, Charakter- und Führungsübungen, Willens- und Konzentrationsübungen. Besonders die »Willensprägung gibt Kraftbewußtsein, sie macht ungeahnte Kraft frei; wer da übt, dem wird gegeben« (Helmel 1928: 115). Die zur gleichen Zeit populären Erfolgsratgeber setzen v.a. auf die Kenntnis der biologischen Zusammenhänge menschlicher Tätigkeit. Daraus ›bauen‹ sie ihre Arbeitsmethoden und ›gestalten sie rationell‹. Das Buch »Sich selbst rationalisieren. Lebenserfolg ist erlernbar« von Gustav Grossmann (1927) wurde der Prototyp

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dieser Literaturgattung – es erschien zuletzt im Jahre 1993. Damit erreichte sein »Rationalisierungsimperium« (Rieger 2003) 28

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Auflagen und ist selbst eindrücklicher Beleg für den Erfolg der Erfolgsratgeber. Die Ziele seiner Arbeitsmethoden sind die Steigerung der Arbeitsfähigkeit, die Veredelung der persönlichen Kräfte und Fähigkeiten, beruflicher Aufstieg, kurz: individuelles Lebensglück. Doch solcher Erfolg ist keine Glückssache: »Heute ist der persönliche Erfolg die Wirkung einer planmäßigen Erfolgsverarbeitung, die jedermann möglich ist« (Grossmann 1927: 10). Dazu setze man Arbeitsmittel wie den ›Wieplan‹ oder das ›Glückstagebuch‹ dauerhaft in allen Belangen der Lebensorganisation ein und beachte »die Diätetik des Körpers und der Seele, den Schlaf, die Spurenelemente, das Verhältnis von Wille und Physiologie auf der Grundlage jodgesättigter Nahrung […]« (ebd.: 132). Mit Blick auf das gesellschaftlich akkreditierte (und selbst nicht zur Wahl stehende) Ziel des beruflichen Erfolgs arbeiten Willensschulen und Erfolgsratgeber nun nicht mehr an Regelwissen in Bezug auf sozial akzeptables Verhalten, sondern an der Fähigkeit, sich individuell für das Ziel des beruflichen Erfolgs zu entscheiden und an der Zielerreichung auch gegen Widerstand zu arbeiten. Die prozeduralisierenden Methoden der Ratgeber, Selbsterziehung, planvolles, aufwandsgemäßes Handeln, Selbstbegeisterung und Ausdauer, scheinen indessen auf ein zentrales Paradox hinzuweisen. Wie kann Wille überhaupt entstehen? Dazu empfehlen sie eben die Bearbeitung von Widerständen: Es gilt, immer neuen Hindernissen mit immer neuen Willensentschlüssen entgegenzutreten (vgl. Lindworsky 1922). Der Widerstand ist nicht mehr das Zeichen sozial verbindlicher Regeln, sondern dient der Erprobung des Willens. Hier gilt es, sich willensstark zu zeigen und zu entscheiden. Und nur so lassen sich die hier gefürchteten Gegenbilder, die Willensschwäche und die Nervosität, wirksam besiegen.

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Das Zeit- und Selbstmanagement (1990er) Mit einem harten Schnitt wechseln wir in die 1990er Jahre. Vereinzelt ist noch vom ›Willenstraining‹ die Rede, überwiegend aber

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vom Selbstmanagement, vom life-work balancing oder self-marketing. Die Ratgeber richten sich unterdessen an alle: an Männer, Frauen, Kinder (»Chaos ade. Selbstmanagement für Kids«), Studierende oder Apotheker. Selbstbeobachtung und -verpflichtung bleiben zentrale Techniken der Selbst- und Handlungskontrolle, diversifizieren sich jedoch beständig weiter: Fragebögen, PsychoTests, Checklisten, Entspannungsübungen sowie die ›Dressur des inneren Schweinehundes‹ gehören heute zum Repertoire der Übungen. Sie kümmern sich um alle Belange: das ›bestmögliche Denken‹, die ›Akupressur für die Gefühle‹, die ›Fitness des Körpers‹. Denn so ›werden Sie unwiderstehlich‹ und haben ›privaten und geschäftlichen Erfolg‹. Dabei schließen sie alles ein, was dem Erfolg dienlich sein könnte: Nota bene: Spaß haben und Zeit verschwenden sind erlaubt, jedoch Teil der Techniken – alles wird in den Dienst der Aufgabe gestellt, seine Zeit und damit sich selbst effizient zu managen. Doch neben diesen Ausweitungen des Diskurses der 1920er Jahre gibt es mindestens drei Unterschiede: Der erste betrifft die Autorisierung der Ratgeber: Zwar wird auch in den Neunzigern auf Wissenschaft Bezug genommen, natürlich auf Psychologie, Physiologie, rezent auch auf die Neurowissenschaften, doch greift man heute durchaus auch zu anderen Wissensformen. Die Autoren, nicht länger nur Wissenschaftler, sondern auch Unternehmensberater oder Journalisten, bemühen Hinweise aus »den heiligen Schriften aller größeren Religionen, den gesprochenen und geschriebenen Worten von Philosophen, Wissenschaftlern, Königen, Bauern und Heiligen aus allen Weltgegenden und Zeitaltern« (vgl. Covey et al. 1999: 46f). Ein zweiter Unterschied ist: Das wahre, stets mit sich selbst identische Selbst hat heute ausgedient. Das flexible, sich oft widerstreitenden Ansprüchen ausgesetzt sehende Selbst (vgl. Schimank 2002) funktioniert am bes-

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ten in einem ebenso flexiblen, selbstorganisierenden Modus. Drittens haben Entscheidungen ihr primäres Telos, das des berufli-

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chen Erfolgs (aus dem das Lebensglück allenfalls folgen konnte), verloren. »Das 1x1 des Life-Leadership«, das »Ich-Marketing« oder der »Praxiskurs Selbst-Coaching« machen überdeutlich: »Du kannst, was du willst« – nur, so hört man von ferne Lindworsky, »musst du wollen können!« Der Wille strebt indessen nicht mehr nur einem Ziel entgegen (Erfolg!), sondern richtet sich auf die Realisierung und flexible Koordination konfligierender Rollenanforderungen (Erfolg! Und Glück! Und Freizeit! Und Gesundheit! Und Familie! Und …). Auch die Ziele selbst sind nun Gegenstand stets provisorischer Entscheidungen. Aus all dem folgt: Mehr denn je scheint der Wille gefragt. Er ist gefordert, wenn es um Entscheidungen unter komplexen Bedingungen und unter Unsicherheit geht – mithin um Leben in unserer (post-)modernen Zeit. Die Techniken der Selbstbeobachtung und -veränderung stellen sich entsprechend auf ›Prinzipien‹ um. Ratgeber feiern etwa das ›Eisenhower-Prinzip‹ oder das ›Macchiavelli-Prinzip‹ und betonen, dass die Befolgung von bewährten Prinzipien dazu diene, die Effektivität eines Lebensentwurfs zu erhöhen. Wählen Sie ein Prinzip und passen Sie es lediglich situationsspezifisch an. Einmal gewählt, stehen zwar Entscheidungen, Ziele oder Visionen, aber das Prinzip selbst nicht mehr zur Disposition. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Willensentscheidung: Denn »der freie Wille […] gibt uns die Macht, […] prinzipiengetreu zu handeln, statt je nach Lust und Laune zu reagieren« (Covey et al. 1999: 53). Dazu bedarf es selbstverständlich des Trainings. Das so genannte Integritätskonto gibt Auskunft über den Trainingserfolg: Uns und anderen Versprechen einzuhalten etwa, gilt als »Einzahlung«, Ziele nicht zu erreichen, als »Abhebungen, die uns schmerzen«: Umsichtige Kontoführung ist also geboten. Die wechselnden Salden über die Zeit sprechen eine klare Sprache: Freiheit, Autonomie und Selbstverantwortung müssen erlernt und immer wieder neu erarbeitet werden. Ob Willensschule oder Selbstmanagement: Der Wille wird als

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entscheidende Schaltstelle des Individuums eingesetzt. Die Ordnung des Diskurses, die die Ratgeber der Neunziger informiert, ist die der effizienten Organisation des ›flexiblen Selbst‹, das verschiedenen Anforderungen und Ambitionen gerecht werden will,

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seine Verausgabungen und Einsätze notiert, trainiert, kontrolliert und seine Handlungen (auch die Handlung namens Entscheidung) über Meta-Entscheidungen (Ziele) reguliert. Dies spricht nicht gegen Richard Sennetts Beobachtung, wonach zur Subjektivität dieser flexiblen Charaktere gehört, dass zumindest die Erfolgreichen unter ihnen den Verlust an sozialen Bindungen und Einbettungen, Bindungsfähigkeit und Sinnperspektive weder vermissten, noch darunter litten, also einem Zustand ›fröhlicher Entfremdung‹ frönten (vgl. Sennett 1998). Sie stellen gewissermaßen nur den Extremfall, die Virtuosen der Flexibilität dar; die Wenigen, die sozial, ökonomisch und psychisch dazu in der Lage und nicht etwa dazu verdammt sind. Nicht sie sind das Gegenbild der Flexibilität, das wir seit den Neunzigern fürchten müssen. Nein, das Fürchten lehrt uns der Selbstmanagement-Guru Lothar J. Seiwert mit der Schlüsselfrage: Wollen wir etwa ohne Entscheidungskriterien für unser Handeln leben und »wie ein Stück Kork in der Brandung hin und her geworfen werden?«. Auch dafür gibt es bereits Sozialfiguren, nämlich etwa diejenigen, die an der ›Fatigue d’être soi‹ (Ehrenberg 1998) leiden. Die kurze Skizze zeigt: Ratlosigkeit aber auch das Ratgeben sind unauflöslich mit dem Prozess der Modernisierung verwoben. Beide sind Vehikel und Folge der Differenzierung und Konkurrenz von Rollenanforderungen, aber auch der Differenzierung und Konkurrenz von zunehmenden Handlungsoptionen. Dabei wächst zugleich die Disproportion zwischen Erwartungen und Enttäuschungen. Dieser ›Enttäuschungsquotient‹ (Luhmann) wird nur mehr durch biografischen Inkrementalismus handhabbar (vgl. Schimank 2002b): Die Person erlebt ihre Biografie als chronisches Provisorium. Entsprechend flexibel gibt sie einmal entschiedene Selbstfestlegungen auch wieder auf, wenn diese sich

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als nicht länger haltbar erweisen. Individualität wird zum ›mutable self‹ (Zurcher 1981), zur ›Bastelidentität‹ (Hitzler/Honer 1994).

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Derartig inkrementalistisch verlaufende Prozesse gewinnen ihre prozessuale Einheit daraus, dass diese immer wieder in Form bestimmter Negationen auf sich selbst als problembehaftete reagieren: Sich jeweils situativ aufdrängende Probleme werden abgearbeitet, um damit neue Probleme zu erzeugen, die wiederum abgearbeitet werden, um damit neue Probleme zu erzeugen, die wiederum abgearbeitet werden… Inkrementalistische Prozesse sind Prozesse iterativer Problemverschiebung (vgl. Schimank 2002c). Die zugrunde liegenden Paradoxa lassen sich nicht auflösen, deshalb prozessieren sie als Probleme. Das Subjekt erfährt sich als Gerundivum (Bröckling 2002b); das Entscheiden wird dabei zur zentralen Operation. Lebenshilferatgeber sprechen das Individuum als Entscheider an, der zwischen Alternativen wählen oder tragfähige Kompromisse bilden muss. Sollen wir diesen oder jenen Beruf wählen; zum Workout gehen, obwohl wir der Freundin schon lange eine Einladung zum Essen schuldig sind und übermorgen der überfällige Artikel eingereicht werden muss? Die Folgen, die sich aus den Entscheidungen ergeben, können wieder nur über Entscheidungen prozessiert werden. Das Spezifische an der Handlung des Typs Entscheidung ist, so auch die Ratgeber, die Schwierigkeit der Wahl, die Entscheidung unter Unsicherheit, das Fehlen von Routine oder Programmierung (vgl. Luhmann 2000: 124). Auch hier helfen Ratgeber – nicht durch normative Vorgaben oder inhaltliche Präferenzen, sondern durch Beobachtungsanleitungen. »Entscheidungen sind Beobachtungen. Sie beobachten mit Hilfe von Unterscheidungen, die wir Alternativen genannt hatten. Die Form ›Alternative‹ ist also diejenige Form, die eine Beobachtung zu einer Entscheidung macht. Die Entscheidung bezeichnet diejenige Alternative, die sie präferiert. Das […] ist die spezifische Art ihres (autopoetischen) Operierens. Deshalb ist vermutlich die Klärung der Alternativenlage sehr viel wichtiger (und schneller zu haben) als die Ausleuchtung aller Folgen einer bestimmten Operation« (ebd.: 132).

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In der Tat, genau so gehen Ratgeber vor: Sie leiten das Individuum an, seine Alternativen zu klären, abzuwägen, Präferenzen auszubilden, die es vor sich und anderen kommunikativ vertreten kann. An dieser Stelle übernehme ich Luhmanns Analogisierung

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einer Überlegung von Serres: Der Entscheider ist der Parasit seines Entscheidens (vgl. ebd.: 137). Er profitiert davon, dass der Entscheidung eine Alternative zugrunde liegt, über die sich kommunizieren lässt. Ratgeber bieten dazu die Semantik des Wählens und des Präferierens, des Entscheidens und des ›Entscheider-Seins‹ und sie üben uns in diese Semantik ein. Uns alle. Ratgeber als gouvernementale Technologien In der Terminologie Michel Foucaults formuliert, handelt es sich beim Selbstmanagement um Selbst-Technologien. Selbst-Technologien sind Praktiken, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder an seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt« (Foucault 1993: 26).

Zugegeben, die Ratgeberliteratur zielt i.d.R. nur auf mundane Ziele: Power-Thinking, Wellness, Anti-Aging. Gleichwohl geben die Ratgeber in der Tat demjenigen, der dies will, konkrete Anleitungen dazu. Diese Anleitungen richten sich auf ein Selbst, und zwar mit je unterschiedlichen Schwerpunkten auf seine Seele, sein Denken, sein Verhalten oder auf die ganze Existenzweise. Diese Selbst-Technologie namens Lebenshilferatgeber erzeugt wollende, wählende, entscheidende Selbste gewissermaßen in einer Doppelbewegung von Individualisierung und Normalisierung. Auf der einen Seite betonen alle Ratgeber den ganz individuellen Weg zum glücklichen, effizienten Selbst, auf der anderen Seite normieren sie die Prozedur, machen das effiziente

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Selbst zum Gegenstand von intersubjektiv nachvollziehbaren Prozeduren. Der erstaunliche Erfolg der Ratgeberliteratur in allen

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ihren Varianten zeigt, dass es sich bei deren Anwendung nicht nur um vereinzelte Idiosynkrasien, sondern um eine kulturelle Praktik, um Selbst-Kultur, handelt. Diese Kultur, so auch Luhmann, »begreift sich zwar als Kultur von Individuen, aber das impliziert auch, dass Individuen sich entsprechend disziplinieren müssen. Darauf wird man […] auch kaum gänzlich verzichten können, soll soziale Ordnung und reziproke Erwartbarkeit möglich bleiben« (Luhmann 1992: 199). Individualisierung und Normalisierung sind mithin die zwei Seiten der Medaille ›Lebenshilferatgeber‹. Sie bilden dabei Ensembles aus Verstehensformen, Zurichtungsstrategien und SelbstTechnologien, die aus Menschen Subjekte und mit denen sie sich selbst zu Subjekten machen: Es sind Vehikel der Selbstführung und der Fremdführung. Für diesen Zusammenhang hat Foucault den Neologismus Gouvernementalität geprägt (Foucault 2000). Als Leitbild heutiger Subjektivierungsformen identifizieren die gouvernementality studies das enterprising self, den Unternehmer seiner selbst (Miller/Rose 1995). Der Jargon der ›Innerlichkeit‹, den noch der therapeutische Diskurs mit seiner Suche nach dem eigentlichen, dem wahren Selbst pflegte, wird nun auf den Jargon der ›Ökonomisierung‹ umgestellt. Die Führung des Selbst durch sich selbst wird umstandslos mit dem Führen eines Unternehmens gleichgesetzt: Das enterprising self managt sich durch ›Intrapreneurship‹, das Selbstmanagement beruht auf bargaining zwischen allen Mitgliedern eines ›inneren Teams‹. »Weil das ›Ich‹, anders als ein wirkliches Unternehmen, sich seine Mitarbeiter weder aussuchen, noch sie bei unbefriedigender Leistung kurzerhand entlassen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die heterogenen Elemente miteinander zu versöhnen« (Bröckling 2002a). So müssen etwa der ›innere Aufschieber‹ oder der ›innere Verwirrer‹ zu Teammitgliedern gemacht werden (vgl. Senftleben 2002). Kurz: Identität ist in diesem Modell eine Corporate Identity, die

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Selbstverständigung funktioniert im Modus des Projektmanagements. Das zentrale Organisationsprinzip: Das commitment sich selbst gegenüber. Der aufdringliche Kontraktualismus moderner Selbstmanagementtechniken (vgl. Bröckling 2002a) ist aus die-

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ser Sicht nur die aktuellste Version des klassischen ›Willensentschlusses‹. Das alte Paradox, das Wollen zu wollen, wird ersetzt und multipliziert durch neue Paradoxien: Entfalten Sie sich, motivieren Sie sich, entscheiden Sie sich! In jedem Ansporn zum Mehr steckt schon das Verdikt des Zuwenig (vgl. ebd.). Die Arbeit an sich kennt kein Ende. »Der Blick auf das Selbst entspricht dem eines […] internalisierten Personalchefs. Identität gilt ihm als eine Art psychosoziales Kapital – durch psychotechnische Innovation maximierbar, kumulierbar und in andere Kapitalien (Bildung, Einkommen, Attraktivität) einzuwechseln« (Kliche 2001: 119). Mit dem Begriff der Gouvernementalität, der die Verbindung abstrakter politischer Rationalität mit den Mikrotechniken des Alltags formuliert (Lemke 1997: 2000), werden Lebenshilferatgeber als (selbst-)beratend orientierte Mikrotechniken sichtbar, mit denen Subjekte sich selbst reg(ul)ieren. Sie sind nicht nur je individuelle Techniken zur Koordination und Integration komplexer werdender Rollenanforderungen (vgl. Schimank 2002), sondern auch Instrumente zur Stabilisierung von Erwartungserwartungen, also: Regierungstechniken. Die gouvernementale Perspektive erlaubt jedoch nicht nur die Deskription, sondern auch die Kritik von Regierungstechniken: Was die (selbst-)beratende Variante betrifft, so fällt erstens auf, dass Führung auf diese Weise zu einem erheblichen Anteil ins Individuum verlagert wird. Zweitens fällt dies als ein besonders effizientes Verfahren auf, und zwar deshalb, weil es als Versprechen auf ›Befreiung‹ daherkommt. Das Selbstmanagement qua Lebenshilferatgeber verspricht ja immerhin, seine Zeit, sein Leben, sich selbst endlich ›in den Griff zu bekommen‹. Mit diesem Versprechen reg(ul)iert es uns alle. Ein auf den ersten Blick unscheinbares Genre wird hier zum rezenten Beispiel einer gouvernementalen Technologie. Es gibt natürlich auch Kritiken, die vor allem die Zwangswir-

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kungen dieser Technologien monieren: Manfred F. Moldaschl etwa beschreibt diese Entwicklung in neomarxistischer Diktion als

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›innere Landnahme‹ (Lutz 1989): Die aktuellen Ratgeber tragen dazu bei, den (noch) nicht nach ökonomisch-rationalen Kalkülen funktionierenden ›traditionellen Sektor‹ der Subjektivität zu modernisieren. Was bislang nach Gebrauchswertkriterien beurteilt und getan wurde, in Familie, Lebenswelt, Lebenslauf und Arbeit, kann und muss nun im Modus ›ursprünglicher Akkumulation‹ selbst immer stärker nach den Kriterien der Einträglichkeit und Verkäuflichkeit, der employability und der erzielbaren compliance behandelt werden. Die Durchsetzung gelingt umso schneller, je bruchloser diese Rationalität in den verschiedenen Lebenswelten erfahren wird (vgl. Moldaschl 2002: 17f). Nicht selten kleidet sich diese Kritik in ein Lamento: »Wofür stehen Ratgeber, wenn nicht dafür, dass sich Ideologien der Machbarkeit in den umgrenzten Bezirk des Individuellen verlagert haben?« (Güntner 2001). Auf abstrakte Weise vermittelten sie »die Beherrschung des Repertoires relevanter Dimensionen zur Selbstbeschreibung, die Kenntnis der Normen, die angemessenen Verhaltensstrategien zur Inszenierung angemessener Authentizität, die erfolgversprechenden Muster zur Diskursivierung eigenen Erlebens und Verhaltens, die akzeptablen Techniken zur Verbindung eigener Bedürfnisse und gesellschaftlicher Erwartungen. Sie setzen der Maschinerie panoptischer Selbst-Kontrollen neue Prismen ein« (Kliche 2001: 123).

Aus der Perspektive beratender Gouvernementalität allerdings lesen wir diese Strategien der Landnahme, diese ›Machbarkeiten‹ und Inszenierungen nicht nur als Einschränkung und Zwang, sondern in paradoxaler Manier als Exerzitien bzw. Technologien der Freiheit. In diesen Technologien der Freiheit werden wählende Selbste hervorgebracht. Dazu Thomas Osborne: »Unter neoliberalen Bedingungen gerät die Freiheit selbst zu einer Technologie. […] Dies bedeutet, dass Freiheit einmal mehr eine Frage der Netzwerke der Freiheit ist, in die unsere Existenz eingebunden ist. Dies ist natürlich keine absolute Freiheit,

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was auch immer diese sein könnte, aber es sind Netzwerke des Vertrauens, des Risikos, der Wahl [meine Hervorh., SM]. Netzwerke, die uns einladen [und anleiten!], die Unwägbarkeiten unseres Lebens durch Unternehmertum und Akte des freien Willens zu überwinden. […] [Die so verstandene] Freiheit hat ihren Preis: kontinuierli-

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che Beobachtung. Wo immer Freiheit in unserem neoliberalen Zeitalter auftaucht, gibt es Beobachtung, Audit, Regulierung der Normen. Mit anderen Worten: Formen der Freiheit, die uns in das ganze Kontinuum akzeptabler Formen der (Selbst-)Führung […] einbinden« (Osborne 2001: 15).

Angesichts dieser spannungsreichen Netzwerke selbst-stiftender und selbst-disziplinierender Techniken, durch die Selbste etwas wollen und entscheiden, sich aber auch wehren können und leiden müssen (vgl. Honneth 2002: 154), fällt es schwer, mit Taylor von einer ›Trivialisierung der Selbstfindung‹ zu sprechen. Es handelt sich wohl eher um eine prekäre Balance zwischen Autonomie und Heteronomie (vgl. z.B. Weber 1988/1920), zwischen Ermächtigung und Disziplinierung. Klaus Günther macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich diese nur in dem Maße zugunsten der Ermächtigung verschieben kann, »indem die Individuen und die Gesellschaft sich über das Konzept einer verantwortlichen Person verständigen können, das dem Imperativ der Eigenverantwortung zugrunde liegt. Bereits Kierkegaard hatte darauf hingewiesen, dass das Selbst erst dann frei und selbstverantwortlich wählen kann, wenn es sich als dieses wählende Selbst selbst gewählt hat« (Günther 2002: 137f). Der eingangs zitierte Ratgeberautor Reinhard K. Sprenger sieht dies anscheinend ähnlich, wenn auch freiheitstechnologisch gewendet: »Wir brauchen heute eine aktivere, selbstverantwortlichere Einstellung, bei der Jobsuche wie bei allen Fragen der Lebensführung und des Selbstbildes. In dieser Gesellschaft von morgen wird ein erheblich höheres Maß an Eigeninitiative nötig sein. Gewinnen wird nur, wer gelernt hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, wer gelernt hat, das Leben für sich zu entscheiden« (Sprenger 2002: 212).

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Die Paradoxie der Anrufung: Entscheiden Sie! verlangt nicht wenig vom Leser. Diese Entscheidung für die Entscheidung bedarf wohl

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deshalb eines besonderen Appells. So fügt Sprenger vorsichtshalber hinzu: Nur Mut! Für die anregende Kritik danke ich Barbara Sutter, Stefanie Duttweiler, Mario Kaiser und Oliver Lieven. Literatur Bröckling, Ulrich (2002a): »Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter. Subjektivierungsprogramme und Geschlechter-Konstruktionen in Erfolgsratgebern«. Leviathan 2, S. 176-194. Bröckling, Ulrich (2002b): »Jeder könnte, aber nicht alle können. Konturen des unternehmerischen Selbst«. Mittelweg 36/ 4, S. 6-25. Covey, Stephen R./Merill, A. Roger/Merill, Rebecca R. (1999): Der Weg zum Wesentlichen. Zeitmanagement in der vierten Generation, Frankfurt/Main, New York: Campus. Faßbender, Martin (1922/1911): Wollen – eine königliche Kunst. Gedanken über Ziel und Methode der Willensbildung und Selbsterziehung, Freiburg: Herder. Ehrenberg, Alain (1998): Fatigue d’être soi. Dépression et societé, Paris: Odile Jacob. Foucault, Michel et al. (1993): Technologien des Selbst, Frankfurt/Main: S. Fischer. Foucault, Michel (2000): Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 41-67. Fuchs, Peter (1994a): »Die Form beratender Kommunikation – Zur Struktur einer kommunikativen Gattung«. In: Peter Fuchs/Eckart Pankoke (Hrsg.), Beratungsgesellschaft, Schwerte: Katholische Akademie, S. 13-25.

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Fuchs, Peter (1994b): »Und wer berät die Gesellschaft? Gesellschaftstheorie und Beratungsphänomen in soziologischer Sicht«. In: Peter Fuchs/Eckart Pankoke (Hrsg.), Beratungsgesellschaft, Schwerte: Katholische Akademie, S. 67-77.

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2003-11-03 10-10-01 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236038807202|(S. 242

) vakat 242.p 36038807466

Die Autorinnen und Autoren

N a t a l i e B i n c z e k , wiss. Assistentin im Fach Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Publikationen u.a. Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, München 2000; Eigentlich könnte alles auch anders sein, hrsg. mit Peter Zimmermann, Köln 1998; »… sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder.« Anschlüsse an Chris Marker, hrsg. mit Martin Rass, Würzburg 1999. A l e x a n d e r B ö h n k e, Mitarbeiter des Projekts »Formen des Vorspanns im Hollywoodfilm und im westeuropäischen Autorenfilm seit 1950« des Siegener Forschungskollegs »Medienumbrüche«. Er schreibt seine Dissertation zu Paratexten des Films. T o r s t e n H a h n , wiss. Assistent an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen: Fluchtlinien des Politischen, Köln/Weimar 2003; Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, hrsg. mit Jutta Person und Nicolas Pethes, Frankfurt a.M./New York 2002; Medienkultur der 60er Jahre, hrsg. mit Christina Bartz und Irmela Schneider, Wiesbaden 2003.

2003-11-03 10-10-02 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236038807202|(S. 243-245) T99_01 mum.paradoxien.autoren.p 36038807474

Die Autorinnen

N i k l a s L u h m a n n ( 1 9 2 7 – 1 9 9 8 ) , Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld (1968-1993). Hauptwerke: Soziale Syste-

und Autoren

me. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984; Gesellschaftsstruktur und Semantik, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1980, 1981, 1989, 1995; Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997. S a b i n e M a a s e n , Professorin für Science Studies an der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsforschung (z.B. inter- und transdiziplinäre Wissensdynamiken, Verwissenschaftlichung des Alltags); Wissenssoziologie (z.B. Therapeutisierung, Beratung, Selbstthematisierung, Gouvernementalität); Diskurs- und Metaphernanalyse. Neuere Arbeiten: Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt 1998; Science Studies. Probing the Dynamics of Scientific Knowledge, hrsg. mit Matthias Winterhager, Bielefeld 2001; Voluntary Action. On Brains, Minds, and Sociality, hrsg. mit Wolfgang Prinz und Gerhard Roth, Oxford 2003. H e l m u t S c h a n z e , Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der TH Aachen (1972). Lehrt seit 1987 an der Universität Siegen, 1992-2000 Sprecher des dortigen DFG-Sonderforschungsbereiches »Bildschirmmedien«. Zahlreiche Publikationen zur deutschen Literaturgeschichte vom 18.-20. Jahrhundert, zur Rhetorik und Rhetorikgeschichte, zur Mediengeschichte und -theorie sowie zur Kulturinformatik; zuletzt Handbuch der Mediengeschichte, als Hg., Stuttgart 2001; Medienwertung, hrsg. mit Sibylle Bolik, München 2001; Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002. J e n s S c h r ö t e r arbeitet derzeit im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 »Medienumbrüche«, Siegen. Zahlreiche Publikationen zu Mediengeschichte, Medientheorie und Philosophie, u.a.: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, erscheint Anfang 2004 im transcript Verlag; zusammen mit Im-

2003-11-03 10-10-02 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236038807202|(S. 243-245) T99_01 mum.paradoxien.autoren.p 36038807474

manuel Chi und Susanne Düchting Hg. von Ephemer_Tempo-

Die Autorinnen

rär_Provisorisch. Essen: Klartext 2002. und Autoren

G r e g o r S c h w e r i n g, wiss. Mitarbeiter am DFG-Forschungs-

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kolleg 615 »Medienumbrüche« an der Universität Siegen, Redakteur der Zeitschrift Navigationen. Buchveröffentlichungen: Benjamin – Lacan; vom Diskurs des Anderen, Wien 1998; Big Brother. Beobachtungen, hrsg. mit Friedrich Balke und Urs Stäheli, Bielefeld 2000; Ästhetische Positionen nach Adorno, hrsg. mit Carsten Zelle, München 2002. Literatur- und medienwissenschaftliche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelbänden. C h r i s t i a n S p i e s , Stipendiat des Graduiertenkollegs »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, wiss. Mitarbeiter im Teilprojekt »Virtualisierung von Skulptur« des Forschungskollegs »Medienumbrüche« an der Universität Siegen; Arbeitsschwerpunkte: Bildtheorie und Bildgeschichte der Moderne und der technischen Medien, arbeitet derzeit an einer Dissertation zur Bildlichkeit und Zeit im amerikanischen Tafel- und Videobild.

2003-11-03 10-10-03 --- Projekt: transcript.mum.schwering.paradoxien / Dokument: FAX ID 016236038807202|(S. 243-245) T99_01 mum.paradoxien.autoren.p 36038807474

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