In der Zerstreuung organisiert: Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur [1. Aufl.] 9783839401958

Massenkultur gilt ihren Kritikern als bloße Zerstreuung, die jedem emanzipatorischen Anspruch entsagt. Doch sie hält die

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German Pages 172 [170] Year 2015

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Inhalt
Vorwort
Einleitung: Strategische Anordnungen – Verdeckte Automatismen – Phantasmen des Begehrens. Eine gesellschaftstheoretisch angeleitete Lesart der Massenkultur
1. Das Phantasma der Masse. Von der bedrohlichen Materialität zum Medium sozialer Optimierung
›Masse‹ als Kampfbegriff. Kulturkritische Redeweisen
Die ›rohe Masse‹ als formbare Materie: Automat und gelehriger Körper
Die Massenseele (Le Bon)
Masse als Kulturfaktor (Freud)
»Masse und Macht«: Masse als ein Körper (Canetti)
Entsubjektivierung der Masse
Masse als ästhetisches Ornament und künstliche Anordnung (Kracauer)
Technische Apparaturen und Anordnungen (Benjamin)
Masse als Struktur und Funktionsbegriff
Normalisierung I: Die Internalisierung der Masse und der »außen-geleitete Mensch« (Riesman et al.)
Normalisierung II: Alle gleich, jeder anders. Masse als Medium normalisierender Optimierung
2. Das Phantasma der Massenkultur – Chiffre einer diskursiven Ökonomie
Verführerische Zerstreuung
Massenkultur als Chiffre einer diskursiven Ökonomie
»Immer mehr Gesellschaft«: Der historische Ort der Massenkultur
Gesellschaft als produktive Größe
Massenkultur – Einschreibung pauperisierter Schichten in die Gesellschaft
Kulturgefährdung durch technisch-zivilisatorischen Fortschritt
Die anwachsende Kraft der Gesellschaft im individualistischen Zeitalter
Exkurs: Der Einschluss des Menschen in den »Bann der Gesellschaft«
Zur Dynamik und Praxis der Massenkultur oder: Wie man aus Bildern Welten macht
Performativität, Ereignis-Individualität und Präsenz
3. Das Phantasmatische der Massenkultur: Mehr-Begehren
Ökonomie des Begehrens
Die ›Spiegelprothese‹ – Gründungsmatrix des Subjekts (Lacan)
Spie(ge)l des Begehrens
Der Kreislauf des Begehrens und seine phantasmatische Struktur
Massenkultur als Spiegel- und Projektionsfläche des Begehrens
Verräumlichung des Begehrens in der Warenästhetik
Regulierung und Normalisierung des Mehr-Begehrens
Schluss: Zur Immanenz der Massenkultur oder: Es gibt kein Außen
Literatur
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In der Zerstreuung organisiert: Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur [1. Aufl.]
 9783839401958

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In der Zerstreuung organisiert

2005-05-10 16-03-01 --- Projekt: T195.sozialtheorie.bublitz.massenkultur / Dokument: FAX ID 01fe83747565722|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 83747565850

Hannelore Bublitz ist Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn. Sie ist durch zahlreiche Publikationen zur poststrukturalistischen Gesellschafts- und Geschlechtertheorie hervorgetreten.

2005-05-10 16-03-02 --- Projekt: T195.sozialtheorie.bublitz.massenkultur / Dokument: FAX ID 01fe83747565722|(S.

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) T00_02 autor.p 83747565930

Hannelore Bublitz

In der Zerstreuung organisiert Phantasmen und Paradoxien der Massenkultur

2005-05-10 16-03-04 --- Projekt: T195.sozialtheorie.bublitz.massenkultur / Dokument: FAX ID 01fe83747565722|(S.

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) T00_03 innentitel.p 83747566082

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-195-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 83747566170

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Strategische Anordnungen – Verdeckte Automatismen – Phantasmen des Begehrens. Eine gesellschaftstheoretisch angeleitete Lesart der Massenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Das Phantasma der Masse. Von der bedrohlichen Materialität zum Medium sozialer Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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›Masse‹ als Kampfbegriff. Kulturkritische Redeweisen . . . . . . . . . . Die ›rohe Masse‹ als formbare Materie: Automat und gelehriger Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Massenseele (Le Bon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Masse als Kulturfaktor (Freud) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Masse und Macht«: Masse als ein Körper (Canetti) . . . . . . . . . . . Entsubjektivierung der Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Masse als ästhetisches Ornament und künstliche Anordnung (Kracauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technische Apparaturen und Anordnungen (Benjamin) . . . . . . . . Masse als Struktur und Funktionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normalisierung I: Die Internalisierung der Masse und der »außen-geleitete Mensch« (Riesman et al.) . . . . . . . . . . . . . Normalisierung II: Alle gleich, jeder anders. Masse als Medium normalisierender Optimierung . . . . . . . . . . . . . . .

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6) T00_05 inhalt.p 83747566290

2. Das Phantasma der Massenkultur – Chiffre einer diskursiven Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verführerische Zerstreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Massenkultur als Chiffre einer diskursiven Ökonomie . . . . . . . . . . . 67 »Immer mehr Gesellschaft«: Der historische Ort der Massenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Gesellschaft als produktive Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Massenkultur – Einschreibung pauperisierter Schichten in die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Kulturgefährdung durch technisch-zivilisatorischen Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Die anwachsende Kraft der Gesellschaft im individualistischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Exkurs: Der Einschluss des Menschen in den »Bann der Gesellschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Zur Dynamik und Praxis der Massenkultur oder: Wie man aus Bildern Welten macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Performativität, Ereignis-Individualität und Präsenz . . . . . . . . . . . . 112 3. Das Phantasmatische der Massenkultur: Mehr-Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ökonomie des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ›Spiegelprothese‹ – Gründungsmatrix des Subjekts (Lacan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spie(ge)l des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kreislauf des Begehrens und seine phantasmatische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Massenkultur als Spiegel- und Projektionsfläche des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verräumlichung des Begehrens in der Warenästhetik . . . . . . . . . . . . Regulierung und Normalisierung des Mehr-Begehrens . . . . . . . . . . .

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Schluss: Zur Immanenz der Massenkultur oder: Es gibt kein Außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort | 7

Vorwort

Als »Jack Johnson«, der erste schwarze Schwergewichtsweltmeister im Boxen, am 4. Juli 1910 erfolgreich seinen Titel verteidigt, kommt es zu blutigen Massenunruhen, die auf das ganze Land übergreifen. Sie werden zum massenkulturellen Ereignis. So auch am 4. April 1968, nach den Todesschüssen auf Martin Luther King. In beiden Fällen kündigt sich in den Reden das Ende der weißen Vorherrschaft an. Einmal ist es der Triumph der Schwarzen, das andere Mal fassungslose Trauer, die sich in Gewalt entlädt. Beide werden zu Helden einer Massenbewegung, der eine mit, der andere ohne Anspruch, für die Massen zu kämpfen. Die Massenbewegung, die sich im Zuge der Französischen Revolution aufgrund überteuerter Brotpreise gegen die Monarchie und ihren Luxus formiert, bedeutet das Ende der absolutistischen Herrschaft. Der König, der sinnbildlich den ›Körper der Nation‹ darstellt, wird abgelöst durch die Massen. Sie sind die Wegbereiter der Moderne. Wie eng der Zusammenhang von Modernisierung, Massenkultur und Individualisierung ist, werden die folgenden Überlegungen zeigen. Sie verdanken sich nicht zuletzt vielfältigen Diskussionszusammenhängen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang vor allem auf die Tagung »Theorie der Massenkultur«, die im März 2002 in Paderborn stattfand. Von den dort kritisch kommentierten Beiträgen gingen zahlreiche Anregungen aus.1 Dies gilt erst recht für den Workshop der Forschungsgruppe »Theorie der Massenkultur«, der im Juli 2004 am Max-Weber-Kolleg in Erfurt abgehalten wurde. Anregungen erhielt ich auch durch die Vorbereitungsgruppe eines Graduiertenkollegs zu »Ökonomien der Wahrnehmung, Ökono1 | Ein Bericht von Dierk Spreen über die zentralen Argumentationslinien der Tagung ist abgedruckt in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 4/2002: 66-76.

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8) T00_06 vorwort.p 83747566298

8 | Vorwort mien des Medialen« an der Universität Paderborn, deren Diskussionen insbesondere auf die spezifische Metaphorik und Dynamik des Ökonomiebegriffs im kulturwissenschaftlichen Kontext verwiesen. Darüber hinaus erinnere ich mich gerne an die angeregten Diskussionen im Rahmen meiner Vorlesung zu »Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur«, die ich im Sommersemester 2004 an der Universität Paderborn gehalten habe. Ich verbinde die Arbeit an diesem Buch außerdem mit einer Danksagung an meinen Mitarbeiter Dierk Spreen, dessen fachliche Kommentare und Hinweise das Buch zweifellos bereichern. Ebenso danke ich Pascal Mollet für seine Arbeit, die die Lesbarkeit des Textes verbesserte; seine Fragen bewegten mich mehr als einmal dazu, einen Punkt zu machen.

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Einleitung: Strategische Anordnungen – Verdeckte Automatismen – Phantasmen des Begehrens. Eine gesellschaftstheoretisch angeleitete Lesart der Massenkultur

»Fußball wie Rockmusik waren aus dem Radio gekommen und gingen über in den Körper als dessen wichtigste Stabilisatoren wie auch Umwälzer seiner Struktur. Als dritter kam das Kino hinzu. Auch ein technisches Medium. Niemand der Erwachsenen, die ich kannte […] hatte auch nur annähernd einen ähnlichen Anteil, wie diese Medien und die durch sie gestifteten Tätigkeiten« (Theweleit 2004b: 57; Hervorhebung durch die Autorin).

Massen sind eine Signatur der Moderne. Aus ihr erschließt sich die besondere Struktur ihrer kulturellen Formen. Spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert bestimmen ›die Massen‹ das Erscheinungsbild großstädtischer Wirklichkeiten: Als ›amorphe Masse‹, gleichsam unstrukturiert und damit unüberschaubar, bevölkern sie die urbanen Ballungszentren der modernen Metropole. In den modernen Produktionsstätten werden sie hingegen als überschaubares und effektiv angeordnetes ›Konglomerat von Arbeitskräften‹ sichtbar. Geordnet oder ungeordnet, als Kolonne der Massenheere wie als Menschenkolonne der Flüchtlingstrecks und Wanderbewegungen gehören ›die Massen‹ längst ins Bild der Geschichte (der Kriege). In Hollywood-Streifen wie ›Troja‹ oder ›Alexander‹ werden sie ›den Massen‹ vor Augen geführt. In der physisch massierten Einheit, als Massenbewegung militärisch und politisch organisiert, verkörpern sie die Kraft einer bedrohlichen Materialität. Aber zugleich stellen sie auch ein vom politischen Regime verfügbar ein-

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10 | In der Zerstreuung organisiert setzbares Menschenmaterial dar, das sich seiner im Sinne einer Funktion bemächtigt. Menschenmassen, die in Zeiten der Mangelwirtschaft vor Arbeitsämtern und Geschäften in der Schlange anstehen, um ihre Existenz zu sichern, gehören ins eher bedrückende Bild kollektiver Erinnerung. Demgegenüber signalisiert die zwanglos entstandene Masse derer, die vor den Eingängen der Museen oder Hörsäle in der Schlange stehen, um sich den Zugang zum Kunst- oder Bildungskanon der Jahrhunderte zu sichern, eher ein positives Bild, das für eine Erneuerung der Gesellschaft steht. Als soziale Konfiguration aber bildet ›die Masse‹ gleichsam die Markierung einer Gesellschaft, die der Destrukturierung der Klassengesellschaft und ihrer Standards durch ein Heer von pauperisierten Populationen dadurch begegnet, dass sie sie hineinzieht in die ›gute Gesellschaft‹. Nun gehören alle zur Masse. Masse bezeichnet daher in der Massengesellschaft eine auch für kulturkritische Distinktionsstrategien unhintergehbare gesellschaftliche Realität. Gegen die Unermüdlichkeit unausgesetzt vorgebrachter kulturpessimistischer Plädoyers für die Verachtung der Massen wie überhaupt alles Massenhaften wird Massenkultur daher im Folgenden als historischer Effekt unabweisbarer, umfassender Veränderungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten konzipiert. Mit ihnen hat sich Massenkultur im 20. Jahrhundert als gesellschaftliche Normalität etabliert. Sie steht nicht im Widerspruch zu Individualisierungsprozessen, sondern ist Ausdruck ihrer konsequenten Weiterentwicklung über den Entwurf moderner Individualität als Kennzeichen bürgerlicher Bildungskultur und Marktökonomie hinaus. Historisch fällt ›die Masse‹ bis ins 20. Jahrhundert als physisch sichtbarer Menschenauflauf, der die Plätze bevölkert, ins Auge. So wie die ›Zusammenrottung‹, die (Arbeiter-)Aufstände und die Barrikaden eher ein Signum des 19. und 20. Jahrhunderts sind, gehört die individuierte Masse derer, die sich, vereinzelt, als Konsumenten am Marktgeschehen beteiligen, eher ins Bild des 20. und 21. Jahrhunderts. Während sich dort ›die Massen‹ räumlich und zeitlich an einem Ort versammeln und zu einem kollektiven, körperähnlichen Gefüge verdichten, begegnen sie sich hier lediglich virtuell. Die Masse derer, die als Konsumenten durch die Warenhäuser oder Einkaufsstraßen strömen oder im Kino, als Publikum im Dunkeln abgeschirmt voreinander, einer Filmveranstaltung beiwohnen, aber auch die Masse derjenigen, die sich vor ihren privaten Programmempfängern ›verbarrikadieren‹ und in Netzwerken virtueller Kommunikation in Austausch treten, tritt nun vereinzelt in Erscheinung. Und dennoch konstituieren sich diese Einzelnen als Masse: Es entsteht das Gefühl gemeinschaftlichen Erlebens. Zwar erwirbt jeder Konsument als Einzelner die Ware, zwar sitzt jeder für sich allein vor seinem Bildschirm, aber gleichzeitig tun es alle. Alle sind Teil einer, wenn auch verstreuten Masse. Überschaubar ist ›die Masse‹ nun

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allenfalls als statistische Quote. Aus der ›Versammlungsmasse‹ wird die ›mediatisierte Masse‹ derer, die nicht mehr durch unmittelbar körperliche Interaktion, sondern durch Medien kommunizieren. Derart vereinzelt tritt ›die Masse‹ nicht mehr als kollektives Ensemble auf, sondern sie fungiert als ein Vielfaches von Individuen. Man ist jetzt Masse, ohne die Anderen zu sehen. Masse stellt sich nun virtuell in den eigenen vier Wänden, in der Teilhabe aller am Konsum und an den Programmen der Massenmedien her. Jeder trägt T-Shirts und Jeans, jeder schaltet sich jeder Zeit und an jedem möglichen Ort in Kommunikationsnetzwerke ein und wird dadurch Teil einer Masse. Diese existiert als Masse nicht mehr in ihrer physisch greifbaren Materialität, sondern nur noch imaginär, als Wahrnehmungsform der Anderen. Zur Masse zu gehören, bedeutet nun aber auch, sich von den Anderen zu unterscheiden und genau darin den anderen zu gleichen. »Alle gleich, jeder anders« (Karl Lagerfeld) steht für die Realisierung eines Gleichheitsanspruchs, den die Massenkultur in der fortwährenden Markierung von Differenz und Abgrenzung sichert. Individualität ist Ausdruck dieser Differenz. Sie sichert ›Distinktionsgewinne‹. Soziale Zugehörigkeit wird, gegenläufig zur normalisierenden Angleichung des Einzelnen an alle, durch Anderssein geregelt. Einem elaborierten System der ›feinen Unterschiede‹ (Bourdieu 1984) folgend, wird Individualität visuell sichtbar als Differenz von Zeichen kommuniziert. Diese werden, auf der Oberfläche käuflich verfügbarer Objekte, zu Stilmetaphern.1 Damit bilden die alltäglichsten Gegenstände Symbole, die, als Bruchstücke der eigenen Persönlichkeit, Aufschluss geben über das Unbewusste, das oft hinter Fassaden der Rationalität verborgen wird. Transportiert von Ikonen der Massenkultur sind sie unverkennbare ›Markenzeichen‹ eines ›Image‹, das von anderen unterscheidbar macht, aber auch Wiedererkennungswert hat und Reproduzierbarkeit garantiert. Das T-Shirt wird, als sportliches Zeichen der Unauffälligkeit, zum auffälligen Markenzeichen, wenn es von Giorgio Armani, immer in Schwarz, getragen wird. Der Hüftschwung von Elvis versetzt nicht nur Menschenmassen in Ekstase, sondern er ist das Markenzeichen eines Rock1 | Alltägliche Objekte werden erst durch den »Vollzug einer systematischen Manipulation von Zeichen« (Baudrillard 1991a: 244) zu ›Konsumobjekten‹, nicht als bloße Gegenstände oder materielle Erzeugnisse. Als solche sind sie bloße Objekte des Bedarfs, die der Bedürfnisbefriedigung dienen. Der Begriff ›Konsumobjekt‹ bezieht sich, so Baudrillard, auch nicht auf die Menge der konsumierten Objekte. Es ist vielmehr die »Verwandlung des Objekts in einen systematischen Status des Zeichens« (ebd.: 245), die ihm den Charakter eines Konsumobjekts geben. Damit tritt es in eine Beziehung zu allen übrigen Objektzeichen und wird konsumierbar in der Ähnlichkeit und Differenz zu anderen Zeichen.

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12 | In der Zerstreuung organisiert idols, das zur Ikone einer ganzen Generation und Gesellschaftsepoche wurde. Als Symbol einer für konservative Kreise furchterregenden Revolutionierung der gesamten Kultur, wird Elvis fortan nicht nur überall auf der Welt als US-Symbol erkannt wie die Freiheitsstatue, die kegelförmige Coca-Cola-Flasche oder der Schriftzug von McDonald’s. Er verkörpert, wie später Michael Jackson oder Madonna, eine Kultur, in deren Wertekanon sich individuelle Freiheiten nicht zuletzt über die Bewegungen eines – sexuell aufgeladenen – Körpers einschreiben. Stilmittel verbreiten sich über Film, Fernsehen und Internet, über Werbespots und Fankulturen. Dadurch werden sie zum Fundus der Individualisierung aller. Sie heben den Einzelnen aus der ›Masse‹ heraus, obgleich sie einem massenhaft produzierten Reservoir an technisch reproduzierbaren Bildern entnommen werden. Dabei wird das ehemals Extreme, Abweichende zur Normalität, die, schnelllebig, vom nächsten Extrem überholt wird. Diese Ausführungen zur zeichengesteuerten Individualisierung verweisen auf eine zweite Signatur der Moderne: das Individuum und sein Recht auf Selbstverwirklichung. Die Individualität eines selbstbestimmten Subjekts steht in der Moderne allein in der Verfügungsmacht des Individuums, das sich seiner im Miteinander mit anderen versichert. Aber dieses Miteinander versteht sich nicht mehr von selbst. Der Drang nach Selbstverwirklichung basiert nicht mehr auf der notwendigen Bindung an eine vorgegebene Ordnung, sondern auf der Freisetzung aus traditionellen Vergemeinschaftungsformen. Individualität muss daher als immer schon gefährdete verstanden werden, denn der Anspruch auf Individualität besteht nun für alle. Die Beziehung auf den Anderen ist durch die Möglichkeit der Kollision geprägt. Es bedarf der ständigen Koordination divergierender Ansprüche. Die Masse bildet gewissermaßen das Regulativ; sie sichert Anschlussmöglichkeiten des Individuums an die Gesellschaft. Gleichzeitig bildet sie die Folie, auf der partielle Differenzen des Individuums abgebildet werden. In den Diskursen des 19. Jahrhunderts, die sich bis ins 21. Jahrhundert fortsetzen, fungiert ›die Masse‹ jedoch unausgesetzt als Vergrößerungsund Brennglas des individualisierten Subjekts: In ihrem Fokus wird das Prekäre des Subjekts, seine Instabilität und Zerbrechlichkeit, aber auch seine ›geistige Überlegenheit‹ sichtbar. Die Triebenergien, die sich in ›der Masse‹ gleichsam Bahn zu brechen scheinen, stellen aus dieser Sicht eine Entfesselung unberechenbarer Kräfte und damit zugleich eine zumindest temporäre Gefährdung des Subjekts dar. Als Chiffre diskursiver Ökonomien steht die ›Masse‹ für das Unbewusste des Subjekts, das nun, der Verdrängung enthoben, Raum greift und die Kontrolle des Subjekts außer Kraft setzt. Sie repräsentiert die Außerkraftsetzung des Subjekts als freies und unabhängiges Individuum und der auf ihm gründenden herrschenden

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Strategische Anordnungen – Verdeckte Automatismen … | 13

Ordnung. Wo sie vorkommt, da löst sich, folgt man der Diskursstruktur, die Identität des einzelnen Subjekts auf. ›Masse‹ steht so gleichsam metaphorisch für formlosen Stoff und verfügbare Materie im Gegensatz zum formenden Prinzip des Geistes, das dem souveränen Subjekt zugeordnet wird und dieses nach Belieben prägen zu können glaubt. Folgt man den Konzepten der Massenpsychologie, dann signalisiert die ›Herrschaft der Massen‹ stets »eine Stufe der Auflösung« des kontrollierten Individuums und damit den Untergang der abendländischen Kultur, weil diese Triebkontrolle, Vernunft und Bildung voraussetzen. Diese aber seien »den sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich« (Le Bon 1973: 2f.). In ›der Masse‹ streife das Individuum, Körper an Körper, verdichtet zu einem körperlichen Ganzen und dem »Gesetz der seelischen Einheit« (ebd.: 10; Hervorhebung im Original; vgl. auch Canetti 1960) unterworfen, seine Individualität ab. Scheinbar ungeordnet und gestaltlos repräsentiert ›die Masse‹ aber nicht nur eine Zumutung für das gebildete, aufgeklärte Subjekt. Mit ihr verbindet sich zudem eine Kränkung. Diese erwächst aus der – psychoanalytischen – Erkenntnis, dass nicht das rationale Bewusstsein das menschliche Handeln steuert. Vielmehr sind verdeckt gehaltene Dinge wie die Energiegebilde und die Zeichensprache des Unbewussten einflussreich.2 Aber auch dieses Unbewusste unterliegt einer Ordnung. Sie wird in der Moderne technisch kodiert und symbolisch erschlossen. Damit kommt eine dritte Signatur der Moderne ins Spiel: die (Massen-)Medien. Es ist der medial konstruierte und gesteuerte Blick und mit ihm die Dominanz optischer Apparate, die die Massenkultur in ihrer Entstehung begleiten. Unter ihrer Wirkung wird Sichtbarkeit im Feld des Blicks – des Mediums, der anderen – zum Kriterium der Realität. Dabei fällt der erhellende Blick von außen auf das Innere, wodurch die Grenze von Außen und Innen transparent und das zuvor Unsichtbare sichtbar wird. Durch den Blick gewinnt das Subjekt Aufschluss über sich und seinen Körper – einzig – vom Ort des Anderen.3 Er konstituiert das Innere des 2 | Diese Zweiteilung des Subjekts in das Rationale und Irrationale kann nicht als Naturausstattung des Subjekts angenommen werden; es verdankt sich vielmehr einer Historie von Machtpraktiken und Konfrontationen, die das Subjekt durch Einführung von Unterscheidungen und Abgrenzungen als geteiltes Subjekt hervorbringt und sich über Aus- und Einschließungen in das Innere des Subjekts einlagern; vgl. Foucault 1987. 3 | In modernen Gesellschaften ist es zunächst der Körper, der ins Zentrum des Blicks gerät und zum anatomisch durchsichtigen ›Ding‹ wird. »Er ist leer und disponibel, seine Existenz muß erst bewiesen werden […] Er wird zum ›Körper des Subjekts‹ erst dadurch, daß er mit Bedeutung gefüllt wird« (Kutschmann 1986: 57).

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14 | In der Zerstreuung organisiert Subjekts. Der Andere wird zum Bestimmungsmoment des Selbst. Der Blick – des Mediums, des Betrachters, des Anderen – wird zum entscheidenden Werkzeug der Unterscheidungsarbeit von Selbst und Anderem. Er weist Bedeutungen zu und kodifiziert, was vorab keine Existenz hatte. So wird der Blick zum Medium der Selbstvergewisserung, aber er ist zugleich auch die Metapher, mit der diese als (Selbst-)Täuschung, als Verkennung des Subjekts entzifferbar ist. Zwar wird der Blick im ›Licht-Blick‹ der Vernunft zur wichtigsten Metapher für Aufklärung und Wahrheit; doch gerät er als Medium der unkontrollierten Sinneswahrnehmung in Verruf angesichts der möglichen Andersartigkeit von Wirklichkeit. Denn der bloße Augenschein täuscht; was evident zu sein scheint, könnte auch anders sein. Der Blick und das vom Auge verfertigte Bild werden in mehrfacher Hinsicht zur Quelle von Irrtümern und Misstrauen. Er blendet aus, was sich der Sichtbarkeit entzieht, er richtet sein Augenmerk auf das Bild, er begrenzt, was den Rahmen des Bildes überschreiten könnte. Der Blick spiegelt ein imaginäres Verhältnis der Subjekte zu sich, ihrem Körper und ihren realen Existenzbedingungen. Mehr noch: Er weckt ein rastloses Begehren, das einer Ökonomie unterliegt, zu umschreiben als das Begehren, anders zu sein und gerade dadurch sich selbst zu finden, zu umschreiben aber auch als Sehnsucht nach dem Anderen. Dann lässt sich die Verführung der Augen durch das Imaginäre nicht auf bloße Mystifikationen reduzieren, als Täuschungsmanöver abtun, denn dies setzt eine Wahrheit hinter den Bildern voraus. Was aber erschließt sich dem technisch angeleiteten Blick? Es ist der – technisch rekonstruierte – vollständig vergesellschaftete Mensch. Bis in sein Innerstes kann er nicht mehr als Naturwesen im Gegenüber zur Gesellschaft gedacht werden. Vielmehr ist er von Technologien durchdrungen und scheint gerade darin seiner ›Natur‹ zu entsprechen. Das heißt: »Natur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr ohne Natur begriffen werden« (Beck 1986: 107). Natur ist nicht mehr vorgegeben; sie gehört in der reflexiven Moderne als bereits in die Gesellschaft integrierte Natur zur »Innenausstattung der zivilisatorischen Welt« (ebd.). Das bezieht sich auch auf die ›Innenausstattung‹ des Subjekts; auch hier sind Technologien wirksam, die das Innere des Subjekts als gesellschaftlich Produziertes installieren. Dieser Zugang leitet die theoretische Perspektive der folgenden Ausführungen. Sie beziehen sich auf die technisch-medial verfasste Massenkultur und deren symbolisch konturierte Konstitution von Subjekten und schließen dabei an die metaphorische Betrachtung des Unbewussten als »psychischer Apparat« an. In seiner Schrift Die Traumdeutung (1899) definiert Sigmund Freud das Unbewusste als »psychischen Apparat« und konstruiert ihn im Vergleich mit optischen Apparaturen (vgl. Freud 1972: 512f.). Dabei ist der Begriff des

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›Apparats‹ zunächst lediglich eine Hilfskonstruktion, ein Gerüst zur ersten Annäherung an etwas Unbekanntes. Er ist als Metapher einer bestimmten Anordnung und Ordnung der unbewussten ›Seelenleistung‹ zu verstehen, die dazu dient, die Funktionsweise der ›Seele‹ zu entwirren. Als Modell rekonstruiert, lassen sich, auf der Basis eines in seine Einzelteile zerlegten Funktionszusammenhangs, die Einzelleistungen den einzelnen Bestandteilen eines Apparats zuordnen und zu einem seelischen Instrument zusammensetzen. Das Rätselhafte des Unbewussten, dessen Funktionieren bis dahin unbegreiflich und undurchschaubar ist, erscheint unter Berufung auf Projektionsmodelle der Psychophysik als innerpsychisch abgebildete optische Apparatur. Medientechnische Apparaturen liefern nun hypothetisch den Schaltplan eines ›psychischen Apparats‹. Seine Funktionsweise ist zwar unbewusst und nicht wahrnehmbar. Aber in Analogie zu optischen Instrumenten konstruiert, ist er als hochkomplexes Gebilde aus optischen Kanälen und Linsen beschreibbar, das auf verschiedenen Ebenen Wahrnehmungen und Halluzinationen hin- und herprojiziert. Alles, was durch das Raster der objektivierbaren Sinneswahrnehmungen fällt, hat hier, im ›psychischen Apparat‹ seinen Ort. Der Reflexvorgang des photographischen Apparats bildet das Vorbild aller psychischen Leistung und ist zugleich der Modus, über den sich Wahrnehmungen als »Erinnerungsspuren« in das Subjekt einschreiben (ebd.: 514). Schemabildungen und Ordnungskategorien im Subjekt kommen dann, im Bild des Apparats konstruiert, aufgrund von Projektionen medialer, technischer und kommunikativer Anordnungen zustande. Nicht zuletzt hat es den Anschein, als würde das Innere, der psychische Raum des Subjekts, selbst als Projektion medialer Anatomien aufgefasst. Die Apparaturen sind, als innere etabliert und topographisch dargestellt, als psychische Werkzeuge innerhalb einer psychischen Landschaft wirksam. Dieses Innere verdankt sich Operationen und Prozeduren, die die Errichtung eines psychischen Raums vorgegebenen Mechanismen unterstellt. Indem Freud die Metapher vom ›psychischen Apparat‹ ins Spiel bringt, legt er den Gedanken einer inneren, vorgegebenen Ordnung psychischer Vorgänge und deren Anordnung zur psychischen Disposition nahe. Über die Enttabuisierung der Denkfigur ›Seele‹ hinaus, geht es in diesem Denkmodell darum, diese als ›Apparat‹ im Sinne eines ›Automatismus‹ der Selbstorganisation zu entwerfen. Als psychisches Instrument, das selbstreproduktive Strukturen hervorbringt, befindet sich dieses Denkmodell im Gegensatz zur Auffassung, der Mensch sei durch seinen Willen gesteuert.4 4 | Im Grunde geht es dabei immer noch um die Frage, die schon La Mettrie im 18. Jahrhundert gestellt hat: Wie kann ein Mensch eine Maschine, die er nicht selbst gebaut hat, die er aber ist, nach seinem Willen lenken? Die Denkfigur vom Menschen als Maschine verweist nicht auf die technische Machbarkeit, sondern auf

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16 | In der Zerstreuung organisiert Zugleich öffnet Freud das Modell des Psychischen aber auch der Vorstellung seiner technisch-medialen Konstitution.5 Freuds Konzeption des Unbewussten als innerpsychisch abgebildete Apparatur kehrt in gewisser Weise bei dem französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan in seiner Neufassung im Modell der ›Spiegelprothese‹ und dem Konzept eines in imaginären, ›spiegelartigen Anordnungen‹ begründeten Subjekts wieder (Lacan 1996). Er geht im Anschluss an Freuds Theorie des Narzissmus von der orthopädischen Funktion prothetischer Apparaturen für die Subjektbildung aus: Der Mensch konstituiert sich demnach wesentlich dadurch, dass er die Gestalt des eigenen Körpers im Spiegel (des Anderen) erblickt. Dabei hat das Spiegelbild eine orthopädische Funktion: Es operiert gleichsam als Stütze des Selbstbilds und ist zugleich der Ort einer imaginären Spiegelung des Selbst. Diese Konstruktion stellt die Möglichkeit bereit, das Subjekt als Effekt sozio-technischer Apparaturen und deren Verlagerung ins Subjekt zu denken. Es stellt sich, auf das Feld des Sichtbaren bezogen, als ›Projektionsoberfläche‹ dar. Massenkultur kann dann gewissermaßen als diejenige ›prothetische Apparatur‹ aufgefasst werden, die dem Subjekt ständig neue idealisierte Objekte bereitstellt, in denen es sich – im Teufelskreis imaginärer Spiegelbeziehungen und eines phantasmatischen Begehrens, dem Idealbild zu genügen, gefangen –, unablässig spiegeln kann. Dem fiktiven Modell des psychischen Apparats folgend, bildet der von Freud angenommene photographische Projektionsvorgang einen wichtigen Anhaltspunkt für die ›automatische‹ Funktionsweise des Unbewussten. Aber es geht im Folgenden um eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf die Konstitution des Unbewussten in der Massenkultur. Fasst man die Szenarien ins Auge, in denen die Massenkultur dem Subjekt unverfügbare Regulative und Dispositive im Subjekt verankert, dann wird deutlich, dass sich die Spiegelungs- und Projektionsvorgänge hier komplexer gestalten, als von Freud entlang des innerpsychischen, mechanisch konzipierten Abbildungsgeschehens nachgezeichnet. Zudem ›reflektieren‹ sich gesellschaftlidie Natur des Menschen und seine Gesetzmäßigkeiten. La Mettrie vertritt eine materialistische Konzeption des Menschen; daher ist die Maschine alles andere als ein seelenloses Gebilde, sie bezeichnet vielmehr das Prinzip der Selbstbewegung des Körpers als materieller Einheit, dem auch die Seele unterliegt; vgl. La Mettrie 1994; vgl. auch Venus 2001. 5 | Diese Konzeption des Unbewussten als psychischer Apparat findet ihre Entsprechung in den Medien der Massenkultur. Mit ihren technischen Möglichkeiten der Überlagerung und Überblendung kommt sie der Funktionsweise des psychischen Apparats, die sich in den Mechanismen der Traumarbeit mit ihren Verschiebungen, Verdichtungen und Ersatzbildungen zeigt, sehr nahe.

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che Strukturen im Unbewussten des Subjekts nicht im Sinne eines photographischen Abbildungsgeschehens. Das Subjekt ist nicht bloßer Effekt oder Funktion der Gesellschaft; es bildet sich vielmehr in komplexen Austauschprozessen mit der Gesellschaft. Der Begriff des ›Apparats‹ impliziert daher im Feld massenkulturell gesteuerter, zirkulärer Vorgänge der Selbstkonstitution und -regulierung, über die spezifisch technische Medialität hinaus, die Anbindung von Technologien an spezifische, institutionell geregelte (Macht-)Beziehungen und zeichengesteuerte Zirkulationsprozesse. Diese werden in der Verschränkung von maschinellen Artefakten, technisch-medialen Vorgängen, sozialen Praktiken und Selbsttechnologien manifest. Was im psychoanalytischen Diskurs also lediglich als innerpsychisches Geschehen erscheint, ist – das hat Freud allerdings in seiner späteren Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur (1910) erkannt – auf den realen Einfluss von Kulturtechnologien zurückzuführen:6 Demnach sind unbewusst ablaufende Prozesse, wie Projektionen oder Wiederholungszwänge, das Ergebnis von Verdrängungsleistungen, die sich aufgrund des kulturell eingeforderten Aufschubs unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung einschleifen. Das Unbewusste des Subjekts, für das ja diskursiv auch die ›triebhafte Masse‹ steht, verdankt sich der Lokalisierung gesellschaftlicher Technologien im Subjekt. Es bildet nicht den Bereich des dem Sozialen vorgängigen ›Asozialen‹, das sich dem Zugriff der Sozialität entzieht, sondern den Ort, an dem sich das Soziale im Subjekt verankert (vgl. Butler 2001). Technologien sind in einem umfassenden Sinne Praktiken der Formung und Formierung, die in Kategorien der Funktion zu denken sind, wenngleich sie sich nicht auf eine im Voraus berechenbare Rationalität reduzieren lassen. Sie umfassen sowohl die technische Produktion oder Manipulation von Dingen als auch, bezogen auf Technologien von Zeichensystemen, die semantische und soziale Konstruktion von Bedeutung und Sinn. Bezogen auf die Herstellbarkeit und die Machbarkeit der Dinge durch technische Apparate und Verfahren befinden Technologien sich im Gegensatz zu jeder Art von organischer, natürlicher Ausstattung oder Gegebenheit. Technologien der Macht sind solche, die Macht über Körper und Seele des Individuums oder über die Bevölkerung ausüben. Sie prägen das Verhalten von In6 | In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1910) verweist er darauf, dass die Kulturarbeit dem Subjekt in – zu – hohem Maße Aufschub und Triebverzicht abverlangt. Diese Kulturleistungen fasst Freud im Begriff der Sublimierung, womit er hauptsächlich die künstlerische und intellektuelle Arbeit beschreibt. Er geht davon aus, dass es sich hierbei um von der Gesellschaft geforderte und geschätzte Tätigkeiten handelt, deren treibende Kraft die Sexualtriebe sind, die aber einer ›Ablenkung‹ auf neue, nicht sexuelle Objekte und einer sozialen Wertung unterliegen.

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18 | In der Zerstreuung organisiert dividuen und unterwerfen sie bestimmten Funktionen, machen das Subjekt also zum Objekt von Machtanordnungen. Sie sind unhintergehbar und übersteigen den Horizont jeder subjektiven, willentlichen Verfügbarkeit. Schließlich ist die moderne Gesellschaft und mit ihr das Individuum gekennzeichnet durch Technologien des Selbst, mit denen der Einzelne Operationen an sich selbst, seinem Körper, seiner ›Seele‹, seinem Denken oder seiner Existenzweise vornimmt, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass ein gewisser Zustand des Glücks oder der Vollkommenheit erreicht wird (Foucault 1993b: 26). Gemeint sind damit gleichsam handgreifliche Praktiken als Formen der Einwirkung auf sich selbst, die spezifische Haltungen zu sich in sozialen und technischen Umwelten erzeugen. Zwischen den verschiedenen Technologien besteht ein komplexes, ›erfinderisches‹ Zusammenspiel. Sie fügen sich zwar zu einem ›Regime‹ hochwirksamer ›Logiken‹ zusammen, ihre Wirkungen sind aber aufgrund der unüberschaubaren Pluralität der beteiligten Kräfte in gewisser Weise Zufallseffekte. Die Vielzahl von Machtwirkungen verdankt sich also nicht einem planvollen Willen, der sich in ihnen manifestiert; sie ist auch nicht angewiesen auf ihre anschauliche Verkörperung durch ›Machthaber‹, sondern sie ist Bestandteil des wirkmächtigen Arrangements von Dingen, Zeichen und Subjekten. Im Einsatz von technischen Geräten der Versorgung und des Transports, von ›Werkzeugen‹ der Einsperrung und Ausgrenzung, des Trainings und der erzieherischen Bearbeitung körperlicher und psychischer Haltungen funktionieren Machttechnologien zwar gleichsam ›technisch‹, aber sie überschreiten rein technische Funktionsabläufe. Macht ist insofern ›physisch‹ und ›materiell‹, sie verfertigt Dinge, Körper und Subjekte und stellt sie in eine spezifische Anordnung zueinander. Aber diese ›technische‹, produktive Seite der Macht sprengt die Grenzen des Physischen und Technischen. Sie stellt in ihrer Produktivität auf eine im Prinzip offene, bis ins Phantasmatische steigerbare Ökonomie ab. Sie erfasst das ganze Subjekt mit seinen Wunsch- und Begehrensökonomien (vgl. Gehring 2004: 120f.; vgl. auch Deleuze/Guattari 1992).7

7 | Der Begriff der Ökonomie kann hier nicht nur in einem konkret wirtschaftswissenschaftlichen Sinn auf ökonomische Austausch- und Verwertungsprozesse bezogen werden, sondern er bezieht sich auch auf Prozesse der Zirkulation von Zeichen und der Steuerung zirkulärer Austauschprozesse psychischer Energien. Im gesellschaftlichen Feld verortet, unterstellt er die Vorstellung kontingenter Kräfteverhältnisse, die nicht auf ein Formgesetz zurückgeführt werden können. Gleichzeitig impliziert er, dass es in den verstreuten und heterogenen Anordnungen und symbolischen Handlungen strategische Implikationen und Logiken gibt, die sich in den verschiedenen institutionellen und medialen Dimensionen wie auch in den sozialen

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Dabei operiert das Unbewusste des Subjekts als Grenzfläche, auf der verschiedene Ökonomien (der Waren, Zeichen, der Subjekte) oszillieren und virtuelle Bilder erzeugt werden. Hier spiegeln sich fiktionale Traumwelten in ästhetischen Bilderwelten, die mit ihren muskulösen Heroen und perfekt gestylten Superstars dem Begehren nach Vollkommenheit entsprechen. Indem Massenkultur die unbewussten Phantasmen in ihrer konfliktbeladenen Struktur im Konsumobjekt mobilisiert und freisetzt, werden diese zum Träger sich ständig erneuernder Konflikte des Unbewussten (Baudrillard 1991a: 238f.). Von hier aus wäre Massenkultur als Medium spezifischer Ökonomien zu rekonstruieren, deren Logik sich nicht auf die ökonomische Verwertungslogik der Warenökonomie reduzieren lässt, wie es die Kulturindustriethese nahe legt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Ökonomien hier gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen wirksam sind: Sie stellen sowohl auf den Austausch von Waren, die technische und symbolische Zirkulation von Zeichen als auch auf den Austausch triebökonomischer Kräfte ab. Ihre treibenden Kräfte manifestieren sich in der Verschaltung technischer und ökonomischer Prozesse mit der Produktion des Körperlich-Somatischen und Symbolischen. Hier greifen Waren-, Zeichen- und Triebökonomien, technische, semantische und soziale Prozesse, mithin auch ökonomischer, symbolischer und Lustgewinn ineinander. Massenkultur lässt sich so als regulierendes Medium spezifischer Technologien und Ökonomien, strategischer Anordnungen und Dispositionen fassen, die auf der Ebene der Zirkulation der Waren und der Zeichen, der kulturellen Macht und des subjektiven Begehrens angesiedelt sind. Es geht dabei um eine symbolisch kodierte Verschaltung von divergenten und heterogenen Materialitäten, technischen Medien, sozio-technischen und semantischen Operationen.8 Damit ist die Materialität einer Kultur angesprochen, die, ungeachtet der Eigendynamik semantischer und kultureller Prozesse, auf ein komplexes System materieller Anordnungen und Institutionen bezogen ist und nicht losgelöst davon betrachtet werden kann. Die Rekonstruktion historischer Dispositive der Massenkultur zielt auf

Mechanismen und individuellen Dispositionen als spezifische Rationalitäten und Funktionsweisen ausweisen. 8 | Diese Sichtweise verdankt sich sowohl dem diskursanalytisch informierten Konzept der in Diskursen begründeten Materialität von Kultur, wie auch der Auffassung, dass sich verschiedene Technologien auf verschiedenen Ebenen zu Kontrollmentalitäten der Gesellschaft und Dispositionen des Subjekts zusammenschließen; vgl. dazu u.a. Foucault 1993b: 24f.; Bublitz 2003b: 5f. sowie Lösch/Schrage/Spreen/ Stauff 2001: 14f.

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20 | In der Zerstreuung organisiert die Wirkmächtigkeit soziotechnischer Anordnungen.9 Gesellschaft wird damit selbst zum artifiziellen Raum, der sich in der performativen EreignisIndividualität massenkultureller Ereignisse konstituiert.10 Massenkultur wird zum Medium, über das sich Gesellschaft konstituiert. Hier werden strukturbildende Prozesse freigesetzt, die Regularitäten bilden und in den Dimensionen von Vergesellschaftung und Subjektivierung auf spezifische Ordnungsmuster verweisen, die in ihrer Entstehung dem Subjekt unverfügbar sind. Massenkultur bringt in ihrer spezifischen Erlebnisrationalität und Ereignisästhetik nicht nur massenwirksame Effekte hervor. Vielmehr bewirkt sie in der Unhintergehbarkeit apparativ gesteuerter, technisch-medialer Anordnungen und ihrer darin angelegten Überschreitung des Subjekts gerade dessen Konstitution. Damit gerät die Materialität der Machtpraktiken in den Blick, die im Zusammentreffen von Materialität und Ereignis machtförmige Prozesse der Vergesellschaftung mit individueller Selbstführung verzahnt (vgl. Foucault 1978a, 1987, 1999; Bublitz 1999b, 2001b, 2003a). Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein Subjekt, das seine vielfältigen Begierden einer übergeordneten Einheit der Vernunft unterordnet und sich einer in Abgrenzung zum Anderen befindlichen eigenen Souveränität verdankt. Im Mittelpunkt der Rekonstruktion historischer Dispositive der Massenkultur stehen daher die Verfahren, mit denen die Massenkultur Subjekte hervorbringt und im Innern des Subjekts symbolische Räume absteckt. Damit verbunden stellt sich die Frage, wie die Massenkultur sich an Funktionsweisen des psychischen Apparats anschließt und in das Spiel der Kräfte, der Energieumwandlungen und Objektbesetzungen einbezogen ist, die Subjektivierung bewirken. Und zum anderen, wie psychische Energien so

9 | Unter Dispositiven versteht man heterogene, netzwerkartig verwobene Ensembles aus materiellen, räumlich-architektonischen Arrangements, Diskursen, institutionalisierten Praxen, reglementierenden Entscheidungen, wissenschaftlichen Aussagen, Methoden, Techniken, Strategien, moralischen Lehrsätzen usw.; vgl. dazu Foucault 1978a: 119-125. 10 | Die ›Ereignis-Individualität‹ markiert die Veränderung von Sinn durch singuläre, massenmedial transportierte Ereignisse (wie das ›Ereignis‹ des 11. September 2001). Dabei tritt das Prinzip der ›Ereignis-Individualität‹ an die Stelle eines einheitlichen Prinzips, eines inneren ›Sinn-Kerns‹ von Ereignissen, die sich nicht auf ein allgemeines, womöglich teleologisches Strukturprinzip zurückführen lassen, sondern vielmehr individualisierte, von Seiten der Struktur nicht unbedingt vorhersehbare oder aus einer allgemeinen Regel ableitbare kontingente Ereignisse bezeichnen, die ebenfalls nicht vorhersehbare Wirkungen haben; vgl. dazu auch Bublitz 2003d: 49f. Zum Begriff des Performativen vgl. Anmerkung 12.

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mobilisiert, weitergeleitet und umgeformt werden, dass durch Einschreibung des kulturellen Unbewussten in den psychischen Apparat Dispositionen geschaffen werden, die das Subjekt, unausweichlich in den Blickrastern massenkultureller Ereignisse angeordnet, immer schon mit dem Blick der Masse der Anderen zusammenschließen. Es geht also darum, wie sich im Zusammenwirken unterschiedlicher Technologien die Materialität von technischen Apparaten mit der psychischen ›Materialität‹ des Subjekts verschränkt. Dabei wiederholt sich die Dominanz des Unbewussten im Vorgang der Einschreibung technisch-medialer Apparaturen ins Subjekt. Er entgleitet dem Blickfeld des Subjekts und entzieht sich der individuellen Wahrnehmung. Das Subjekt, das, wie Freud annimmt, sich selbst in seinen unbewussten Prozessen dunkel bleibt, wird gewissermaßen durch eine Gesellschaft ›erhellt‹, die sich über technische Apparaturen als Beobachtungsund Kontrollinstanz in der ›Innerlichkeit‹ des Subjekts installiert und damit zugleich symbolische Räume im Inneren des Subjekts absteckt. Die nach innen gewendete Beobachterperspektive wird zur Perspektive der Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung; sie schreibt sich unbewusst in die Wirklichkeitskonstruktion der Individuen ein. Das Unbewusste reflektiert jedoch nicht einfach die gesellschaftliche Wirklichkeit im Sinne einer Abbildung oder Widerspiegelung; Realität wird hier vielmehr unter Einbeziehung des Imaginären konstruiert. Denn im Unbewussten gibt es keine Realitätszeichen zur Unterscheidung von Wirklichkeit, Wahrheit und affektbesetzter Fiktion. Real (passiert) oder auf der Leinwand des Imaginären inszeniert macht hier keinen Unterschied. Im Gegenteil, das Inszenierte hat den Stellenwert eines realen Ereignisses.11 Das Unbewusste gestaltet sich, wie der Traum, als Bühne für performativ erzeugte Re- und Neu-Inszenierungen. Es fungiert als – selbstgeschaffener – ›Kunstraum‹ einer ständigen Neu(er)findung des Subjekts wie auch der Kultur. Massenkultur ist ein solcher phantasmatisch strukturierter ›Kunstraum‹. Für ihre Praxis ist das Performative konstitutiv.12 Dabei ist dieses

11 | An die Tatsächlichkeit des Realen kommt man ohnehin nie heran; das hat auch Freud in seiner Spurensuche des Verdrängten eingestanden. 12 | Der Begriff des Performativen steht, sprachtheoretisch begründet, für eine ständig wiederholende und zitierende Praxis. Performativität geschieht als fortwährende Versetzung und Verschiebung von Markierungen. Sie beschreibt Praktiken der De- und Re-Kontextualisierung, durch die Wirkungen erzeugt werden. Damit erhält das, was erzeugt wird, das Gewicht einer unumstößlichen Präsenz und Materialität. Dieses Gewicht steht im Gegensatz zur bloßen Skriptur, die sich über Wiederholun-

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22 | In der Zerstreuung organisiert sowohl bezogen auf die Wiederholbarkeit technischer Reproduktionen und deren Einschreibung ins Subjekt als auch auf die theatrale Aufführung von Wirklichkeiten. Mit Hilfe technologisch produzierter Bilder erzeugt sie Realitäten, die sie gleichzeitig mit synthetisch perfekt hergestellten Visualisierungen besetzt. Massenkultur bietet sich als Leinwand des Imaginären an, auf der verschiedene Wahrnehmungen und Bilder hin- und herprojiziert werden, zirkulieren und miteinander in Austausch treten. Und sie bringt beides zusammen: die technisch-mediale performative Erzeugung und die Inszenierung imaginärer Wirklichkeiten. Damit erfolgt der Eintritt der theatralen Inszenierung, der Performanz, in eine technische Struktur. Der technischen Funktionsweise entspricht eine performativ-theatrale Struktur des Unbewussten (des Subjekts, der Kultur), die, eingebunden in das Phantasma der unendlichen Wiederholbarkeit von Ereignissen, zugleich auf die technische und performative Überschreibung des bisher Dagewesenen abstellt. Auf beiden Ebenen, der technisch-medialen wie der performativen, geht es um Neuschöpfungen. Denn das Subjekt ist nicht bloße Repräsentation vorgegebener Kodierungen, sondern produktiver Teil eines performativen Geschehens, das eng verschränkt ist mit dem Medialen. Dieses Mediale lagert sich an ganze Wunschladungen und -territorien an, auf denen Wahrnehmungen hin- und herprojiziert werden. Das gesellschaftlich evozierte Begehren funktioniert nach einer Logik, die es in der Inszenierung der Realität mit ganzen Waren- und Zeichenuniversen in Verbindung bringt. Dabei unterliegt das Phantasma des Begehrens in seiner unendlichen Reproduktion einem Kreislauf, der der Zirkulation des Geldes und der Waren sowie der Performativität der Zeichenverschiebung nicht unähnlich ist. Es orientiert sich nicht an der Befriedigung, sondern an der Steigerung und performativen Erneuerung des Wünschbaren. Im Begehren verschränken sich Waren- und Zeichenökonomie und zwar so, dass die durch sie erzeugten Wunsch- und Begehrensökonomien, massenkulturell organisiert, immer wieder erneut zur Disposition stehen. Thema und Gegenstand dieses Buches ist eine gesellschaftstheoretisch angeleitete Lesart von Massenkultur. Der Begriff der Massenkultur bezeichnet mehr als ein ›Spektakel‹ der Zerstreuung und ›Masse‹ mehr und anderes als ein manipulierbares Objekt vorgegaukelter Scheinwelten.13 Im vorliegenden Buch soll gezeigt werden, dass im ›Spektakel‹ der Massenkultur, gen als Spur in das performativ Erzeugte einschreibt. Es behauptet sich in seiner Unumkehrbarkeit, kann also nicht mehr ungeschehen gemacht werden; vgl. dazu Butler 1995: 35f. und 1998 sowie Mersch 2002b: 13f. 13 | Zum Begriff des Spektakels vgl. Debord (1967, 1996), der von einer »Gesellschaft des Spektakels« spricht, in der Bilder- und Zeichenwelten regieren.

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über seinen Erlebnisgehalt hinaus, vielfältige Mechanismen wirksam sind, deren Wirkungen in der Verschränkung ökonomischer Imperative mit symbolischen Registern und Ökonomien des Subjekts begründet sind. Dass es auf diese Weise gewissermaßen als Dispositiv, nämlich als strategische Anordnung operiert, die soziale Ordnungsfunktionen übernimmt und Praktiken der individuellen Selbstregulierung sowohl veranlasst als auch begrenzt, gerät aus dem Blick, wenn die effektive Erlebnisinszenierung auf ihren Unterhaltungswert reduziert wird. Diese Ordnungsfunktion der Massenkultur ist sozusagen unspektakulär in das Spektakel der Massenkultur eingelassen.14 Damit bietet der Begriff der Massenkultur Anhaltspunkte für eine Gesellschaftsordnung, die sich nicht nur mit technologischen Vorstellungen von Raum und Zeit, von Körpern und Subjekten verbindet, sondern Aussagen über den Modus der Vergesellschaftung und Subjektivierung impliziert. Diese vergesellschaftenden und subjektivierenden Wirkungen bleiben unterbelichtet, wenn Massenkultur lediglich über Grundkategorien wie Zerstreuung, vorfabrizierte Gefühlsklischees und Flucht vor der Wirklichkeit bestimmt wird, die bis heute massenkulturelle und -mediale Diskurse durchziehen. Demgegenüber wird vorgeschlagen, Massenkultur als globalisierte Form des kulturellen und ökonomischen Austauschs zu lesen, die über mediale Anordnungen eines künstlich konstruierten Raums zugleich als Sozialtechnologie wirksam wird. Es geht darum, Massenkultur als denjenigen Ort zu analysieren, an dem Individuen geformt werden und ihre soziale Existenz gesteuert wird. Der Begriff der Massenkultur dient mithin als konzeptionelles Gerüst zum Verständnis von Vergesellschaftungsprozessen, in deren Rahmen sich individualisierte Subjekte formieren 14 | Hier weicht das Spektakuläre der Macht, das wir in der souveränen, zentralisierten Macht vorfinden, Machtmechanismen, die gleichsam als kapillares Gewebe in massenkulturell organisierte Gesellschaften eingelassen sind (vgl. Foucault 1978a, 1999). Während dort spektakulär und theatral aufgeführte Strafpraktiken im Mittelpunkt der Inkraftsetzung und Stabilisierung der Macht stehen, die den versehrten Körper des Souveräns als unversehrten wiederherstellen, besteht die Macht nun darin, dass die Individuen und ihr Körper unausweichlich den Blicken der Anderen ausgesetzt sind. Diese Macht selbst aber entzieht sich den Blicken der Individuen. Sie sind unausweichlich den Blicken einer Macht ausgesetzt, die verdeckt operiert. Im Blick der Anderen, auch der medialer Apparaturen, wird ihr Körper durchdrungen von einer – unsichtbaren – Macht, die ihn technisch ›zerteilt‹, in visuelle Fragmente zergliedert und diese, an ein künstliches Ideal angeglichen, nach Regeln anordnet, die ihn als künstliche Kraft zusammensetzen und ihn gleichzeitig dynamisch modularisieren. Der Körper als anatomisch durchsichtiges Ding wird zur Hülle einer medialen Anatomie, die im Ideal der unversehrten, perfekten Gestalt des Körpers das Relief der Macht des Subjekts erblickt.

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24 | In der Zerstreuung organisiert und die gleichzeitig, angeschlossen an gesellschaftlich evozierte Logiken des Begehrens, auf phantasmatische Begehrenshorizonte verweisen. Diese phantasmatische Struktur ist der entscheidende Mechanismus, mit der Massenkultur vergesellschaftet und subjektiviert. Massenkultur ist dann aber nicht bloßer Effekt von Ökonomie und Technik, sondern als strukturbildende und formierende Macht begründendes Medium von Gesellschaft und Subjektivitäten, denen sie eine Ordnung gibt und die sich als heterogene Vielzahl immer wieder neu schöpfen. Davon ausgehend, wird angenommen, dass Massenkultur die ›zerstreute Masse‹ keineswegs in einem Zustand tagträumerischer Geistesabwesenheit hält, sondern sie in die Gesellschaft hineinführt. Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass sie, im Verweis auf die technisch-medial gesteuerte Grenzenlosigkeit der Szenarien, mit denen sie Realität konstruiert, unbestreitbar ein künstlich (nicht: künstlerisch) hervorgerufenes »Fest der Simulakra«, der »Täuschungen« entfacht, das Wirkliches und Imaginäres ununterscheidbar werden lässt (Mersch 2002a: 21f.). Entgegen apokalyptischen (Untergangs-)Visionen, die die Eroberung der Realität durch die Vorherrschaft der Zeichen als »Agonie des Realen« und »Hyperrealität« (Baudrillard 1978a und 1978b, 1991b) apostrophieren, wird im Folgenden jedoch darauf abgehoben, dass das Verhältnis von Wirklichkeit und zeichenhaft produziertem Imaginärem in der Massenkultur einer grundlegenden Transformation unterliegt. Dieses Imaginäre verschreibt sich nicht der Imagination und Originalität eines Künstlersubjekts, sondern es geht aus der nahezu beliebigen technischen Verfügbarkeit von Bildern, Dokumenten, Musik und deren Zusammenfügen zu augenblickhaften Ereignissen hervor. Damit ist aber lediglich das – technisch-mediale – Bedingungsgefüge der Massenkultur bezeichnet. In der Konfrontation mit dem Auftauchen von Ereignissen werden jedoch Wirkungen erzielt, die über das bloß technisch-konstruktivistische Moment, das im Phantasma der schier unendlich wiederholbaren technischen Reproduktion und Manipulation seinen Ausdruck findet, hinausgehen: Im Augenblick des Auftauchens setzen Überschreitungen des Gewohnten und Grenzerfahrungen ein, die, indem sie Schock und Erschütterung oder Faszination und Attraktion durch das Ereignis hervorrufen, dem in der technischen Wiederholbarkeit performativ hervorgebrachten Ereignis das Gewicht einer unumstößlichen Präsenz verleihen.15 15 | So markiert das Auftreten eines Popstars unter Umständen die Einmaligkeit und Unumkehrbarkeit eines massenkulturellen Ereignisses, das in seiner Irritation kultureller Werte zugleich eine kulturelle Wende markieren kann. Ähnliches gilt für Ereignisse wie die des 11. September 2001 oder die Flutkatastrophe 2004/05 in

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Dem korrespondiert, dass auch das technisch (re-)produzierte Ereignis eine Aura erhält, die sich der Signatur des bloß Technischen, Machbaren entzieht. Es sind »Körper von Gewicht« (Butler 1995), Subjekte, die sich im Spiegel ihres Begehrens und seiner Objekte formieren, Realitäten, die individuell und gesellschaftlich von Belang sind, wenn es darum geht, das technisch Machbare und materiell Mögliche im Register einer Gesellschaft zu situieren, die in ihren Sozialverhältnissen über die Materialität der Produktionsverhältnisse, über den technischen und materiellen Verkehr hinausgehend, die Zirkulation verstreuter Ereignisse und symbolischer Zeichen umfasst. Der Titel In der Zerstreuung organisiert verweist darauf, dass Massenkultur, unauffällig in das Programm der Zerstreuung eingelassen, in die Register der sozialen Ordnung vordringt und Ökonomien organisiert, die nicht nur Waren, sondern auch – sozialisierte – Subjekte ›produzieren‹. Massenkultur zerstreut zwar in alle Winde, doch sie liest die verstreuten Kräfte wieder zusammen und sichert ihre Nutzbarmachung in den Kräftefeldern gesellschaftlicher Machtstrukturen. Gerade darin gewährleistet sie deren Freisetzung und individuelle Entfaltung. Indem sie Individuen in ein komplexes Spiel von Machtwirkungen und individuellen Freiheiten ›einschließt‹, ermöglicht sie denen, die dem Tatbestand der Vervielfältigung von Subjekt- und Lebensformen gewachsen sind, ein Verhältnis zu sich selbst und anderen auszubilden, das nicht mehr darauf abzielt, sich Konventionen bloß zu unterwerfen, sondern das sie für den kreativen Umgang mit der eigenen Existenz ausstattet. Als Vergesellschaftungsmodus verstanden, führt Massenkultur in eine soziale Wirklichkeit hinein, die, als dynamische Ordnungsmatrix, immer prekär und instabil bleibt. Ihr zentrales Merkmal ist, in der Zerstreuung – durch Unterhaltung – die verstreuten Individuen auf einen Nenner zu bringen und sie zu vervielfältigen. Dabei zerfällt Massenkultur keineswegs in die Heterogenität von Streuungsverhältnissen. Sie verweigert sich lediglich der Vorstellung einer normativ integrierten Totalität. Über statistisch begründete Verfahren der Streuung, die sich nicht zu einem einzigen System von Hierarchien und Differenzen oder einem einheitlichen, hegemonial geschlossenen Machtblock verdichten, reguliert sie, was sie in der Vielfalt heterogener Wirklichkeitskonstruktionen erst entfaltet, normalisiert sie, was sie allererst entgrenzt und freisetzt. Was sich in der Zerstreuung scheinbar ungeordnet artikuliert, ist mittels techniAsien. Hier zeigt sich allerdings, dass die irreversible apokalyptische Denormalisierung des kulturellen Selbstverständnisses – massenmedial nicht kommunizierbar – durch Normalisierungsstrategien wie Anti-Terrormaßnahmen, Spendenaufkommen, Frühwarnsysteme usw. aufgefangen wird; vgl. dazu Link 1997 und die verschiedenen Beiträge in der Zeitschrift KultuRRevolution.

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26 | In der Zerstreuung organisiert scher Apparaturen und sozialer Anordnungen längst in die Materialität gesellschaftlicher Ordnung überführt. Diesen Prozessen gilt das Interesse dieses Buches. Bezugsgröße der Massenkultur ist – neben der Gesamtheit derjenigen kulturellen Ereignisse, Praktiken und kulturellen Artefakte, die kollektive Sinnhorizonte, Verhaltens- und Lebensstile strukturieren – die tendenziell unbegrenzte Zugänglichkeit und Verfügbarkeit für virtuell alle. Mit der Einrichtung egalitärer Muster marktvermittelten Konsums etabliert sie, ungeachtet individuell eingeschränkter Ressourcen und sozial einschränkender Distinktionskalküle, für die Masse der Bevölkerung einen Horizont prinzipiell disponibler, verfügbarer Realitäten. Dabei bildet die »ungeheure Warensammlung« (Marx 1968) nicht nur den Horizont dessen, was prinzipiell – geldförmig geregelt – für jeden erwerbbar ist. Sie ist darüber hinaus Bestandteil einer Kulturökonomie, die in der Freisetzung des Kulturellen aus unverfügbaren Wertsphären – dem Religiösen, der Kunst, der Bildung – und in der Abkehr von einem normativen Kulturbegriff eine »ganze Lebensweise« (Williams 1972) manifestiert. Über die Zirkulation von Waren, Zeichen und Wunschökonomien ist Massenkultur als soziales Integrationsmedium wirksam. Als solches ist sie dann aber weder lediglich kulturelles Epiphänomen, abgeleitet aus der Sphäre des Ökonomischen, noch lediglich die Manifestation einer kapitalistischen »Kultur-Industrie« (vgl. Horkheimer/Adorno 1981 [1947]). Vielmehr kann der Begriff der Massenkultur im Sinne einer Kulturökonomie umgedeutet werden, deren ›Produktionsmittel‹ nicht nur in der ›Kultur-Industrie‹ zu finden sind, sondern in der Gesellschaft und in den Subjekten selbst zirkulieren. Diese Auffassung steht zweifellos in Opposition zu kulturkritischen Thesen einer monolithisch wirkenden Massenkultur, die eine völlige Vereinnahmung der Konsumenten durch die Kulturindustrie unterstellen, ganz abgesehen davon, dass die Manipulationsthese ausschließlich durch einen ökonomischen Diskurs strukturiert ist.16 Massenkultur dynamisiert die kulturelle Praxis durch die unangestrengte Synthese von neuen Medien, künstlerischem Anspruch und allgemeiner Akzeptanz auf der Höhe technischer Verfahren der Massenproduktion. Sie fügt das Ausdruckhafte des künstlerischen Duktus in den Rahmen belangloser Zeichen der Konsum- und Warenwelt und die Ästhetik des Performativen in die Ereignishaftigkeit medial inszenierter Wirklichkeiten ein.17 Sie lebt von der schöpferischen Kraft der Vielen, die 16 | Vgl. zur Spezifizierung dieser Kritik am Beispiel der Techno- und HipHop-Kultur auch Klein 1999; Klein/Friedrich 2004. 17 | Das Populäre der Massenkultur besteht also nicht lediglich darin, dass sie sich den banalen Dingen des gewöhnlichen Alltags zuwendet, sondern in den Verfahren, mit denen sie die redundanten Dinge des Alltags, der Reklame- und Kon-

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sich zwar aus global zirkulierenden Bilderwelten speist und sich ihrer als Stilmittel zur Konstruktion von ›Stilhoheiten‹ im Feld globalisierter Kulturen bedient, sie zugleich aber durch ihre Situierung in lokalen Feldern transformiert. Massenkultur situiert sich im Praktischen, Alltäglichen. Sie markiert den Eintritt des – ästhetischen – Ereignisses in den sozialen Raum und mit ihm der Medialität sinnlicher Erscheinungen in den Alltag. Hier dominiert nicht der mehr oder weniger geniale Künstler als Schöpfer von Werken, sondern der ›Regisseur‹ visueller, akustischer oder taktiler Erfahrung. Hier gibt es nicht Rezipienten, Zuhörer oder Zuschauer, sondern Beteiligte, ja, Komplizen eines Geschehens, in das alle verwickelt sind. Der »unbeteiligte Zuschauer« ist Teil dessen, was läuft, er ist »angeschlossener Akteur« (Theweleit 2004b: 128). Auch die Sprache jugendkultureller Szenen bildet das Ereignis- und Akteurhafte ab: In der Frage »Was geht (ab)?« geht es um das, was sich ereignet, was »los ist« und »anfällt«. Damit rückt nicht nur der Begriff der Kultur, sondern auch der Begriff der ›Masse‹ in ein neues Licht. Gegen die kulturkritische, polemische Besetzung des Massenbegriffs, der sich als Spur durch die zahllosen Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts zieht, wonach ›Masse‹, als subjektgefährdendes ›Menschenmaterial‹ apostrophiert, verhindert werden sollte, weist sich der Begriff der Masse an seiner Übertragung auf Gegenwärtiges aus. Er bezieht seine Berechtigung auf konzeptioneller Ebene nicht aus der Beschreibung einer materiell-physischen Existenzform, eines unterschiedslosen, uniformen Konglomerats, sondern aus der Beschreibung einer Kommunikations- und Wahrnehmungsform. Damit bezieht ›Masse‹ sich dann aber gerade nicht auf eine undifferenzierte Einheit, sondern auf eine Vielheit, die singuläre Differenzen freisetzt. So gesehen wäre der Begriff der Masse im Sinne einer vielfältig strukturierten Menge zu verstehen, die nicht im Gleichklang agiert, sondern in der die Einzelnen, angetrieben durch die Differenz, auf der Ebene des Ökonomischen, Kulturellen und Politischen in Beziehung zueinander treten. ›Masse‹ bildet so gewissermaßen den Bezugspunkt, den ›allgemeinen Anderen‹, an dem sich Individuen in zirkulären Prozessen der Selbststeuerung und der Normalisierung ausrichten. Sie steuert Prozesse der Individualisierung in der kommunikativen und reziproken Ausrichtung an anderen. Diese Prozesse unterliegen – angesichts einer Gesellschaft, die eher durch heterogene Gruppierungen und soziale Praktiken denn durch einen homogenen Block von Interessen, Bedürfnissen und Bewusstsein bestimmt ist – einer massenkulturell regulierten Normalisierungsdynamik. ›Masse‹ steht für das, was in gesellschaftlichen Austauschprozessen als »Supplement« (Derrida 1974) des Einzelnen gelten sumwelt, darstellt. Dabei integriert sie die ironisierenden Verfahren der Pop-Art in die Alltagskultur.

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28 | In der Zerstreuung organisiert kann. Sie ist das, worauf er sich bezieht, was ihn ergänzt, re-präsentiert, was sich dem Individuum hinzufügt. Hinzufügend oder stellvertretend bildet ›Masse‹ gleichsam Ergänzung und imaginäres Substitut des Individuums, das von diesem repräsentiert wird. Und gleichzeitig ist sie dasjenige Medium, durch das hindurch das Individuum sich selbst organisiert. Das Subjekt repräsentiert nun ›die Masse‹ und das Prinzip der Gesellschaft in sich. Masse bezeichnet das Medium, zu dem sich Individuen in Beziehung setzen. Immer mit dem Blick des ›verallgemeinerten Anderen‹ zusammengeschlossen, bildet das Individuum selbst zugleich die selbstregulative, verändernde Instanz und verändertes Objekt von (Selbst-)Normalisierungsprozessen. Die Masse bildet, in diesem Sinne gebraucht, ein Element zirkulärer Steuerungsprozesse des Individuums, die nicht vorgegebenen Strukturen folgen, sondern sich unablässig selbst modellieren. Nicht zuletzt stellt die mediale Bezugnahme auf die ›Masse‹ als Schnittmenge heterogener Bedürfnisse und Praktiken die Möglichkeit bereit, gesellschaftliche Gegenwart instantan zu vermitteln und damit allgemeine Anschlussfähigkeit zu sichern.18 Nicht nur aber realisiert sich in der Masse der abstrakt-anonyme, verallgemeinerte Andere, sondern über sie generiert sich Massenkultur als Realisierung, ja, Radikalisierung des individualisierten Subjekts. Sie setzt auf die freie Entfaltung sowohl individueller als auch technisch-medialer und ökonomischer Kräfte, die fortan einer Steigerungslogik unterliegen. Das »Zeitalter der Massen« aber, wie Le Bon es 1885 verächtlich genannt hat, ist zugleich das individualistische Zeitalter, in dem das Individuum freigesetzt wird aus einengenden Ordnungsstrukturen und zugleich einer Dynamik zunehmender Vergesellschaftung unterworfen ist. Diese Dynamik wird im Folgenden entfaltet. Zunächst zeigt sich, dass die diskursiven Beschreibungen der Masse diese als Phantasma konturieren, das imaginär bleibt und nicht greifbar ist. Verstanden als entindividualisiertes, irrationales Ensemble, gehört der Massenbegriff zum kulturkritischen Repertoire einer Gesellschaftsanalyse, die den Begriff der Masse in der Polarität zum Individuum situiert und in der Masse die Bedrohung des souveränen Individuums immer gleich mitdenkt. Im 1. Kapitel wird deutlich, wie sich die Vorstellung der Masse von dem sozial- und massenpsychologisch fundierten Konzept einer bedrohlichen Materialität zu dem eines Mediums individueller, zirkulärer Selbstkonstitution und Selbststeuerung sowie zu einem strukturell verankerten Instrument sozialer Ordnung wandelt. Auch Massenkultur kann als Phantasma entziffert werden. Es steht als 18 | Zum Radio als Medium, durch das ein In-Beziehung-Setzen auf ein allgemein Anderes technisch-medial möglich wird vgl. Schrage 2001.

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Chiffre einer diskursiven Ökonomie für die ›Gefährdung des Subjekts‹ durch ›Massenindividualismus‹ und technisch induzierte, ›imaginäre Wirklichkeitskonstruktion‹. Das 2. Kapitel sucht durch die Redeweisen über Massenkultur hindurch den historischen Ort der Massenkultur auf. Von hier aus wird die ›Gefährdung des Subjekts‹ als einzigartiges und autonomes gegengelesen. Der Zeitpunkt, zu dem die Gesellschaft eine produktive Größe wird und die pauperisierten Schichten in diese eingeschrieben werden, ist zugleich sowohl die Geburtsstunde des ›Massen-Individualismus‹ als auch des vereinzelten Subjekts. Es ist der Ort, an dem sich Individuen – (Zufalls-)Produkte marktförmiger Austauschprozesse und medial vermittelter Vergesellschaftungsprozesse – als gleiche gegenübertreten und sich gleichwohl, immer aufeinander bezogen, als konkurrierende begegnen. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht daher die historische Emergenz der Figur des individualisierten Subjekts, das sich zunehmender Vergesellschaftung und ›Vermassung‹ erst verdankt, zugleich aber im Faktum der Vereinzelung begründet ist. Massenkultur kann daher als Realisierung des individualistischen Zeitalters verstanden werden. Von hier aus lösen sich paradoxe Effekte wie das Individuum, das in der Masse zu verschwinden droht, auf. Die Dynamik der Massenkultur verweist vielmehr auf die Performativität subjektivierender Strategien. Das Phantasmatische der Massenkultur aber ist, so zeigt das 3. Kapitel, im Begehren begründet. Seine phantasmatische Struktur ist der entscheidende Mechanismus, mit der Massenkultur subjektiviert und vergesellschaftet. Nun unterliegt die Ordnung des Begehrens einer gesellschaftlich evozierten Fiktionalisierung ins Unmögliche. Ihren Maßstab liefert die Industrie mit ihrer schier grenzenlosen Entfesselung der Begierden. Für Émile Durkheim bezeichnet diese industriell angeleitete Entfachung der Begehrlichkeiten, »die sich durch nichts beschwichtigen lassen, da die angestrebten Ziele himmelweit über allem Erreichbaren liegen« (Durkheim 1973 [1897]: 293), einen Zustand der Anomie, der sich in modernen Gesellschaften ausbreite.19 Indem sich die »fieberhafte Betriebsamkeit« (ebd.: 292) aufgrund des unbegrenzten ökonomischen Hungers der Industrie aber auf das gesamte gesellschaftliche Terrain erstreckt, wird die Außerkraftsetzung gesellschaftlicher Normierung, die individuelle Wünsche zügelt, zum Normalzustand der Gesellschaft. Das ›Königreich der Dinge‹ aber, kultur- und konsumkritisch als verdinglichte Waren- und Konsumwelt mit Surrogatcharakter apostrophiert, 19 | Im fehlenden Verzicht auf die ›gesunde Disziplin‹ sieht Durkheim die Ursache für die Zunahme von Selbstmorden im gesellschaftlichen Maßstab, da die Gesellschaft keine normative Grundlage mehr für die Beschränkung des Einzelnen bereitstelle.

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30 | In der Zerstreuung organisiert bildet nicht nur das Material einer Ästhetisierung der Alltagswelt. Es wird zum Material einer schier schrankenlosen Verfügbarkeit und Subjektkonstruktion, zum Medium einer Selbstinszenierung des Individuums, das sich als gestaltbares Objekt begreift und sich in den idealisierten Objekten der Waren- und Medienkultur als ›authentisches‹ Selbst begegnet. Das ehemals religiöse Heilsversprechen wendet sich in ein säkulares Glücksversprechen, dessen Realisierung, wie jenes, in unerreichbare Ferne rückt und dennoch zum einem Faktor geworden ist, mit dem gerechnet wird. Der Schluss fasst noch einmal zusammen: Massenkultur ist eine globale Macht des ökonomischen und kulturellen Austauschs, die alles in sich einschließt und die kein Außen mehr kennt.

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1. Das Phantasma der Masse | 31

1. Das Phantasma der Masse. Von der bedrohlichen Materialität zum Medium sozialer Optimierung

»Es gibt […] keine Massen, es gibt nur Möglichkeiten, Menschen als Masse zu betrachten« (Williams 1972: 359). »Im übrigen will selten jemand einer aus der Masse sein; die Masse sind immer die anderen« (Adorno 1967c [1956]: 70)

›Masse‹ als Kampfbegriff. Kulturkritische Redeweisen Der Begriff der Masse lässt sich nur im Rückgriff auf diskursive Denkmuster erschließen. ›Masse‹ ist kein Faktum der sozialen Welt, dem bestimmte Eigenschaften oder Merkmale ›per se‹ anhaften. Masse verdankt sich vielmehr der Semantik einer Grenzziehung, die, in gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen eingebettet, auf soziale Konstruktionen und Zuschreibungen verweist. Ein Blick in die Geschichte massentheoretischer Konzepte zeigt, dass der Begriff der Masse auf einem dualistischen Fundament von Denkmodellen beruht, in die die kulturkritische, um nicht zu sagen, kulturkämpferische »Verachtung der Massen« (Sloterdijk 2000) eingeschrieben ist. Seine Karriere verweist auf Abgrenzungsstrategien einer geistig-kulturellen Aristokratie von der ›vulgären Masse‹. Sie erfüllen die Funktion der (Selbst-) Erhöhung eines Individuums, das sich der Masse nicht zugehörig fühlt und sich von der ›Masse‹ abhebt. Dem entspricht die Ratifizierung der Ohn-

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32 | In der Zerstreuung organisiert machtserklärung eines Individuums, das sich dem ›Sog der Masse‹ nicht entgegenstellt. Dieses Unfassbare der Masse bewegt sich im Widerspruch zum greifbaren Individuum, das Ordnungsstrukturen aufweist und geformt ist. Diese Strategien zeigen sich bereits auf der Ebene des Massenbegriffs selbst. Im Hebräischen wie im Griechischen ist das Wort ›mazza‹ zu finden, was soviel bedeutet wie Teig oder (Brot-)Klumpen, aber im eher poetischen Sinne auch Chaos. Diese etymologische Bedeutung von ›Masse‹ verweist auf die amorphe Struktur der Masse, aber zugleich auch auf den Vorgang des Knetens (mazein); alle Übersetzungen betonen die Formlosigkeit der ‹Masse› sowie deren Formbarkeit. In der Gleichsetzung mit unstrukturierter Menschenmasse erschließt sich das Janusgesicht des Massenbegriffs: Von Anfang an haftet der ›Masse‹ als dem ›Menschenmaterial‹ das Moment des Formlosen, in das alle Tiefenschichten des kulturellen Unbewussten wie in einer Deponie eingelagert sind, wie auch das der Formbarkeit an. Die ›rohe‹ Masse erscheint, wie träge und gestaltlose Materie, extrem formbar. Dabei finden physikalisch-naturwissenschaftliche Begriffe Eingang in die Diskurse, die den Massenbegriff letztlich auf den Gedanken der Inaktivität der Materie – im Gegensatz zur Aktivität des Geistes – zurückführen und dabei den philosophischen Gegensatz von Materie und Geist immer mitführen. Entgegen dieser Annahme einer der ›Masse‹ innewohnenden Tendenz zur Trägheit, weist sie sich in der räumlichen Ausdehnung und Verdichtung wie auch in der temporären Entladung als dynamische aus. Energetische Prozesse und deren Beschleunigung überwinden demnach nicht nur die Trägheit der Masse, sondern haben darüber hinaus in ihrer Dynamik unabsehbare Wirkungen. Das Bild der ›Masse‹ ist zweispältig: Ungestaltet und zugleich in höchstem Maße manipulierbar verkörpert sie, gerade wegen ihrer gemeinschaftsbildenden Funktion, das Irrationale moderner Gesellschaften. Eingeordnet in die Polaritäten der abendländischen Kulturtradition – von Materie und Geist, von Sinnlichkeit und Verstand, von Natur und Kultur, von Trieb und Vernunft – unterliegt ›die Masse‹ der kulturhistorischen Konnotation des Unzivilisierten. Ihr wird kulturzerstörerisches Handeln, das sich im Gegenüber zur kulturschöpferischen Elite selbstbestimmt handelnder Individuen befindet, zugeschrieben. Im begrifflichen Antagonismus von Individuum und Masse angesiedelt und im Gegensatz zu Individualität konstruiert, steht ›Masse‹ kulturkritisch nicht nur für die Deformation, sondern für den Verfall der Kultur. Auch wenn die binären Konstruktionen von Masse und Individuum unterschiedlicher Couleur sind, so sind kulturkritische Analysen der Masse doch insgesamt durch Polarisierungen und Einordnungen des Massenbegriffs in hierarchisierende Muster von Kultur und Verfall, Zivilisation und Barbarei,

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1. Das Phantasma der Masse | 33

Vernunft und Irrationalität gekennzeichnet. Wie das passive ›Wilde‹ und das ›Weibliche‹, die in den Diskursen der europäischen Moderne als das Fremde universalistischer Menschenbilder und Selbstkonstruktionen imaginiert und zu Repräsentationsfiguren ungehemmter, verführerischer Triebpotentiale stilisiert werden, wird die ›rohe Masse‹ am Gegenpol aufgeklärter Vernunft situiert. In deren ›Licht-Blick‹ erstrahlt das souveräne und autonome Individuum, während jene das ›Dumpfe‹, die dunkle Seite rationaler Subjekte und Gesellschaften repräsentiert. Als Metapher für irrationale, im Unbewussten liegende Triebkräfte entzieht sich der Begriff der ›Masse‹ dem rationalen Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit; er bildet ein vorgestelltes Szenarium, in dem sich die Paradoxien der Gesellschaft wie in einem Vexierbild realisieren. Dabei bildet der Begriff der ›Masse‹ gewissermaßen ein metaphysisches Pendant zur sichtbaren und physisch greifbaren Menge, die als solches imaginär bleibt, ein Phantasma, das nicht greifbar ist wie konkrete Individuen, sondern sich als spezifische psychische Qualität ausweist. Im Bild der Masse ist die Bedrohung des – bürgerlichen – Individuums immer schon mitgedacht; vernunftgeleitetes Handeln und die Existenz in der Masse schließen sich demnach aus. Angeleitet von den Erkenntnissen der Massenpsychologie grassiert die Angst vor der ›Masse‹, in der das Individuum »ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt« (Le Bon 1973: 15). In der psychologistischen Verkürzung der ›materiellen Gewalt‹ der ›Masse‹ auf eine triebdynamisch begründete Zügel- und Verantwortungslosigkeit wird die Macht der Masse eingeebnet auf Schwunderscheinungen der bewussten Persönlichkeit und damit nivelliert zum bloßen Gefühl (ebd.). Wie der psychische Apparat des Individuums auf Spannungsausgleich ausgerichtet, bildet ›die Masse‹ gleichsam das ›Überlaufgefäß‹ der Gesellschaft. In der Verdichtung der erregten Einzelnen zum Menschenauflauf, der, einem »Fleck« gleich, als »Menschenschwärze« in Erscheinung tritt, unterliegt sie dem Sog der Enthemmung und dem – gleichmacherischen – Willen zur Entladung (Canetti 1960: 13). Skandalös und phantasmatisch zugleich verkörpert ›Masse‹ den kollabierten Traum der Vernunft und deren Regression.1 In der ›Masse‹ verändert sich aber nicht nur das Individuum bis zur Unkenntlichkeit. Als »entdifferenziertes, von Nachahmungsflüssen und epidemischen Erregungen gesteuertes, […] präexplosives Etwas« (Sloterdijk 2000: 14) bildet ›die Masse‹ im Vokabular kulturpessimistischer Diskurse vielmehr einen Krankheitserreger, der nicht nur das geordnete Individuum, sondern die

1 | Die Psychoanalyse bricht dieses Muster in gewisser Weise auf; sie beschreibt die ›Masse‹ als Wirkung von Kräften, die vom ›Inneren‹ der Masse, der affektiven Struktur der Individuen, ausgeht.

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34 | In der Zerstreuung organisiert gesamte Kultur befällt, ihren ›Organismus‹ schwächt und sich als ›Kulturkrankheit‹ ausbreitet.

Die ›rohe Masse‹ als formbare Materie: Automat und gelehriger Körper Diese Zuschreibungen bilden die Folie kulturkritischer Schriften des 20. Jahrhunderts, wenn es darum geht, das Phänomen der ›Masse‹ zu beschreiben als eines, dessen Gesetze man kennen muss, um es zu lenken. Denn die Gesellschaft als ›Massenauflauf‹ ist nicht vorgesehen in einem Programm der Moderne, die auf das steuerbare, aber auch das sich autonom entfaltende Subjekt setzt. Mit dem Eintritt ›der Massen‹ in die Geschichte unterliegen diese den in die Moderne eingeschriebenen Signaturen, allen voran der Emanzipation des Menschen von Natur und der damit verbundenen Entfaltung des Subjekts. Was für das Individuum gilt, soll jetzt auch für die Masse gelten: Nicht länger bloßer Stoff und verfügbares Material, dem der formende Geist eine beliebige Form aufprägen zu können glaubte, geht es darum, auch die Masse als Subjekt zu entfalten (Sloterdijk 2000: 9f.), ein Unterfangen, das, so scheint es, von der Masse und ihren überschießenden Triebenergien, ihren Aktionen sabotiert wird. Gleichzeitig verkörpert ›die Masse‹ im 20. Jahrhundert jedoch in hohem Maße das, was man, analog dem individuellen Körper, fabriziert und medialen Anordnungen unterwirft. ›Masse‹ bildet das nahe Fremde moderner Gesellschaften, welche sich im »Regieren durch Individualisieren« (Foucault 1987: 246) etablieren. Die »Formbarkeit des Teiges« wird zum Element einer körperlichen Rhetorik, die darauf abstellt, die bedrohliche Materialität der ›Masse‹ zu lenken und ›die Masse‹, zu einem einheitlichen Block zusammengeschlossen, einem Körper gleich, anzuordnen. In der Formel des »gelehrigen Körpers«, in den sich die »rationalen Prozeduren zur Kontrolle oder Korrektur der Körpertätigkeiten« (Foucault 1976a: 174) als Techniken der Unterwerfung und Nutzbarmachung des individuellen Körpers einschreiben, zeigen sich die Register einer politischen Anatomie. Aber sie artikuliert sich nicht nur in den Verhaltenscodizes des individuellen Körpers. Auch die ›Masse‹, die sich wie ein Körper bewegt und zu einem kollektiven Körper wird, wird politisch und ökonomisch nutzbar gemacht. Nicht von ungefähr wird Disziplinierung als Medium der Individualisierung gegen die unkontrollierte Macht der Masse und ihre undifferenzierte Homogenität eingesetzt. Dann existiert diese, im ›Massenindividualismus‹ organisiert und der physischen Körpererfahrungen ihrer selbst enthoben, nur noch als Aggregatzustand einer »organisierten Verlassenheit« (Sloterdijk 2000: 17). Wenn Foucault davon ausgeht, dass der Körper ökonomisch nutzbar gemacht wird, so bezieht er sich hier auf den Körper des Individuums:

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1. Das Phantasma der Masse | 35 »Aus einem formlosen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, deren man bedarf; Schritt für Schritt hat man die Haltungen zurechtgerichtet, bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält und verfügbar macht und sich insgesamt bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt« (Foucault 1976a: 173).

Aber in ihm zeigt sich, was fortan auch für die Masse gilt. Die Beschreibung der »Idealfigur des Soldaten«, die, so Foucault, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Figur des bäuerlichen Produzenten vertreibt und sich im 19. Jahrhundert in der »levée en masse« manifestiert, liest sich wie die Beschreibung des Menschen als Maschine und zugleich als Modell der Macht, in das sich die Prozeduren zur Korrektur der Körpertätigkeiten einschreiben. Sie birgt in sich alle Bestimmungsmerkmale des disziplinarisch kontrollierten Individuums und seiner Unterwerfung unter »die Ökonomie und Effizienz der Bewegungen und ihrer inneren Organisation« (ebd.: 175). Hier geht es keineswegs lediglich darum, die sozialen Triebkräfte der Massenbildung zu untersuchen, sondern es dominieren »Antiagglomerationstaktiken« (ebd.: 173). Beschreibbar sind diese als Mechanismen der individualisierenden Kontrolle durch Vereinzelung, Fixierung der Besonderheiten des Einzelnen und dessen Einordnung in ein System von Unterschieden. Die »Macht der Norm« als Gesetz moderner Gesellschaften richtet sich demnach »gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen« (ebd.: 183), letztlich also gegen die unkontrollierte Ansammlung der »Massen« und ihre gefährliche Materialität. Mit der »Verhinderung der Vermassung« (Link 1997: 135) Hand in Hand gehen der Zwang zur Einhaltung einer Konformität und die Etablierung des standardisierten Verhaltens. Sie zielen auf Nutzbarmachung individueller Unterschiede, die aufeinander abgestimmt und gleichzeitig in ein System von Normalitätsgraden eingetragen werden (Foucault 1976a: 237f.). Bezieht sich der Begriff der ›Masse‹ hier zum einen auf Praktiken der gezielten Vereinzelung, die sich »gegen die unnütze und gefährliche Anhäufung« (ebd.: 183) der Individuen richtet, so sind auf der anderen Seite zugleich Prozesse der Massenproduktion, der Standardisierung und der Stereotypisierung angesprochen. Bereits hier geht es nicht nur um Phänomene einer »physisch massierten ›crowd‹« (Anders 1995: 84), die gemeinsam konsumiert. Vielmehr zeichnen sich darin Grundzüge einer Massengesellschaft ab, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass das »Massenprodukt nicht nur für die Masse, sondern en masse, nämlich in zahllosen Reproduktionsexemplaren für Millionen hergestellt« (ebd.: 84) wird. Anders hebt jedoch nicht nur, wie Benjamin, darauf ab, dass »es […] keine Originale mehr [gibt], sondern nur noch Kopien« (ebd.), die massenmedial »in breiter Streuung« verteilt werden und gleichsam technisch-medial hergestellte Ko-

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36 | In der Zerstreuung organisiert pien bilden. Zentral ist für ihn, dass sie virtuell von jedermann »innerhalb seiner vier Wände« (ebd.) konsumiert werden. In der Formel des »solistischen Massenkonsums« (ebd.: 79) wird die Kluft zwischen der Massenhaftigkeit der standardisiert erzeugten, identischen Produkte und der Privatheit ihres Konsums überdeutlich, die den Massencharakter der Ware überdeckt. Damit aber verschwindet auch die ›Masse‹ als greifbare. Massenmedial ihrer physischen Substanzialität beraubt, materialisiert sie sich mit Hilfe der Reproduktionstechniken der Medien im Einzelnen als spezifische Qualität des Individuums. Vermittelt über die Qualität der Massenhaftigkeit wird ›Masse‹ so zur atomisierenden und de-individualisierenden Qualität von Millionen Einzelner (vgl. ebd: 81). Damit werden zugleich illusionäre Formen von Privatheit und Individualität erzeugt. Die Produktion des Massen- und damit auch des Durchschnittsmenschen erscheint als paradoxer Effekt des Drangs nach Freiheit der Persönlichkeit und des Rechts auf Individualisierung. Sie erzeugt zugleich das »Solistentum« in der Masse (ebd.: 82). Dieses Motiv findet sich in den 1950er Jahren auch in Riesmans Gesellschaftsdiagnose der »einsamen Masse« (Riesman et al. 1958). Auf diesem Hintergrund erscheint Individualisierung dann nur noch als Effekt vorgegaukelter Scheinwelten, die eine gesellschaftliche Öffentlichkeit von »Eremiten« erzeugen. Aber gleichzeitig bleibt die Masse als bedrohliche Materialität, als zerstörerisches, wenn nicht gar inhumanes Gebilde virulent (Canetti 1960; Ortega y Gasset 1965). Denn in ihr zeigt sich die »Macht der Masse« (Canetti 1960). Sie verkörpert, indem sie körperliche Nähe und Vergemeinschaftung als zumindest temporäres Phänomen stiftet, ein Gegenbild zu individuellen Unterschieden und sozialen Hierarchien. Als gesellschaftliches Phänomen aber stellt der Begriff der ›Masse‹ lediglich auf soziohistorisch-strukturelle Phänomene urban konzentrierter Populationen im Zeitalter der industriellen Revolution ab. Hier geht es um die physisch konzentrierte Masse einer Population an einem Ort. Mit einer kulturkritischen Haltung versehen, werden diesen strukturellen Phänomenen dann sozialpsychologische Sachverhalte gegenübergestellt, die auf »eine allen gemeine Beschaffenheit, […] der Mensch, insofern er sich nicht von anderen Menschen abhebt, sondern einen generellen Typus in sich wiederholt« (Ortega y Gasset 1965: 73) abheben. Damit wird die psychische Ausrichtung an oder sogar die Gleichschaltung mit anderen, die zur Verringerung oder gar Ausschaltung individueller Selbstkontrolle führt, als Eigenschaft des Massenindividuums festgeschrieben, die sich im Gegensatz zur Besonderung des Individuellen befindet. »Masse ist jeder, der sich nicht selbst […] einen besonderen Wert beimisst, sondern

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1. Das Phantasma der Masse | 37 sich schlechtweg für Durchschnitt hält, und dem doch nicht schaudert, der sich in seiner Haut wohlfühlt, wenn er merkt, dass er ist wie alle« (ebd.: 74).

Auf eine Kurzformel gebracht: »Masse ist der Durchschnittsmensch« (ebd.: 73). Ob ›Masse‹, wie hier als Durchschnitt, oder durch das Gefühl unüberwindlicher Macht, der Verantwortungslosigkeit, der geistigen Übertragung und Beeinflussbarkeit definiert wird, immer hat der Begriff der ›Masse‹ den Beigeschmack des Vulgären und Unkultivierten. Bezogen auf Praktiken der unterhaltsamen Zerstreuung und – politischen – Artikulationsformen des (groß-)städtischen Spektrums einer pauperisierten Masse, bezeichnet ›Masse‹ jedoch zunächst nur die im Zuge von Demokratisierungsprozessen – politisch und rechtlich – gleichgestellten sozialen Unterschichten, die ihr wachsendes Einkommen für die Aneignung ehemals exklusiver Genüsse und Verhaltensformen nutzen und, wie zuvor nur die gesellschaftlichen Oberschichten, ästhetische Markierungen und Standards setzen. In diesem Kontext bildet ›Masse‹ jedoch »ein neues Wort für Mob, ein bezeichnendes Wort« (Williams 1972: 356), denn in ihm wird nicht nur die Bevölkerungskonzentration in den Städten, die physische Massierung, die durch die industrielle Produktion hervorgerufen wird oder die soziale ›Vermassung‹ als Bezeichnung einer gewissen Einheit angesprochen. ›Masse‹, das ist vielmehr der »Mob«, dem die traditionellen Charakteristika der »Leichtgläubigkeit, Unbeständigkeit, Gruppenvorteil, Primitivität des Geschmacks und der Gewohnheit« (ebd.: 357) zugeschrieben werden; der »Mob«, dem das unberechenbar Aufrührerische und Aufständische ebenso wie die durch Führer gelenkte Gefolgschaft anhaftet und von dem sich die bürgerliche Existenz absetzt, die sich ihres kulturellen Erbes sicher glaubt. Aus dieser Perspektive erweist sich der Begriff der Masse als überwiegend negativ besetzter Begriff. Seine Wertakzente sind fast durchweg die des Kulturfeindlichen, was u.a. auf seine Funktion als Instrument sozialer Distinktion derer hinweist, die sich nach dem Muster »die Masse sind immer die anderen« (Adorno 1967c [1956]: 70) von der ›Masse‹ absetzen und damit die in der modernen Gesellschaft verringerte Distanz traditioneller Oberschichten zur ›Masse‹ gesellschaftlicher Unterschichten wieder errichten. Im Massenbegriff verbergen sich eben jene Ressentiments bildungsbürgerlicher Eliten, die der kulturkritischen Einschätzung der Massenkultur als ›Verfallsstufe der Zivilisation‹ zugrunde liegen und am historischen Vorbild des vielseitig gebildeten Bürgers ausgerichtet sind. Zwar verweist der Begriff der ›Masse‹, als »Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart in Anspruch genommen« (ebd.: 70), zuallererst auf soziale Bedingungen. Er bezieht sich auf die moderne Gesellschaft als abstrakten und dynamischen

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38 | In der Zerstreuung organisiert Funktionszusammenhang, der mit seinen Unwägbarkeiten etwas Unfassbares und Ungreifbares, nämlich die ›Masse‹ als kollektives Phänomen und mit ihr paradoxe Effekte wie das Massenindividuum, das als Individuum in der Masse gleichsam zu verschwinden droht, hervorbringt. Aber in den Aussagen über den Zustand einer Gesellschaft, die als Paradoxien markiert sind, impliziert er, im Gegenüber zu einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus, katastrophische Szenarien über den Verfall einer Kultur, die den Menschen als rational und moralisch reflektierendes, emanzipatorisches Subjekt entwarf. Während dieses sich idealiter fragte »Wer bin ich?« und »Wie lebe ich das richtige Leben?«, steht die ›Masse‹ für unkontrollierte, expressive Ausdrucksformen, Gefühle und Körperlichkeit, die sich nicht mehr am reflektierten und diszipliniert-distanzierten Umgang mit diesen ausweisen, sondern sich einem unmittelbaren, expressiven Körperausdruck verschreiben. Der Massenbegriff gehört vor allem zum Vokabular zeitgenössischer Kulturkritik, die in ihrem Standardrepertoire auf die »gute« Gesellschaft als »Inbegriff derer, die dazugehören und am Gestus der sozialen Souveränität einander erkennen« (Adorno 1967a [1956]: 26) bezogen ist. Sie bildet die Folie des Massenbegriffs. Zugrunde gelegt wird ein normativer Begriff des Individuums, das sich als kultiviertes über das unbewusste Triebleben erhoben hat, während die unbewusste und ›rohe Masse‹ sich in einer Art ›Kollektivseele‹ verselbstständigt und der Dominanz des Triebhaften unterliegt.

Die Massenseele (Le Bon) Le Bon hypostasiert die unbewusste »Massenseele« geschichtsmetaphysisch zur kulturfeindlichen Kraft, deren Hauptmerkmale spezifische, das Individuum zersetzende psychische Qualitäten sind: »Schwinden der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat« (Le Bon 1973 [1885]: 17; Hervorhebung durch die Autorin).

Hier wird das Bild vom Menschen als ›Automat‹, das den willenlosen, nach vorgegebenem Programm funktionierenden Menschen repräsentiert, bemüht als eines, das es zu überwinden gilt. An seine Stelle tritt das Bild des durch sein Selbstbewusstsein und die Vernunft kontrollierten Subjekts. Diese Kontrolle wird, folgt man den massenpsychologischen Befunden Le

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Bons, aufgehoben, wenn es als »Glied einer Masse«, von dieser hypnotisiert, zum »Sklave[n] seiner unbewußten Kräfte« (ebd.: 16) wird. Obgleich Le Bon auf das temporäre Auftreten »gewisser Eigenschaften, wie Entsagung, Ergebenheit, Uneigennützigkeit, Selbstaufopferung« abhebt und darauf hinweist, dass »die Massen [...] oft eines sehr hohen Maßes von Sittlichkeit fähig [sind]« (ebd.: 35), bildet sie nicht nur den Inbegriff von Umsturz und Gewalt, sondern des Gefährlichen schlechthin. Der »Versittlichung des einzelnen durch die Masse« (ebd.: 37) stehen die »niedrigen Instinkte«, die »Mordtaten, Brandstiftungen und Verbrechen aller Art« (ebd.: 36f.), vor allem aber steht ihr die »unwiderstehliche Macht« (ebd.: 41) gegenüber, die beide, Instinkte und Macht, Ideen entwickeln, wenn sie Massenwirkung zeigen. Die ›Masse‹ steht im Gegensatz zum aufgeklärten Individuum; ihr Kapital ist die Einbildungskraft und mit ihr Bilderwelten und unkontrollierte Gefühle, das Theater der Ort, an dem die ›Phantasie der Massen‹ erregt wird. Diese Phantasie wird wiederum zur staatsbegründenden und staatstragenden Kraft, zur Stütze der Macht (vgl. ebd.: 44f.), wenn es der Macht gelingt, sich Zugang zu den Massen »in der Form eines packenden klaren Bildes, das frei ist von jedem Deutungszubehör« (ebd.: 45) zu verschaffen und durch einfache und klare Botschaften zu operieren: »einen großen Sieg, ein großes Wunder, ein großes Verbrechen, eine große Hoffnung« (ebd.), auf jeden Fall aber »ein packendes Bild« (ebd.: 46). Nur in scheinbarem Widerspruch zur »Sittlichkeit der Massen« steht daher die Auffassung: »Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren« (ebd.); denn ungeachtet oder gerade aufgrund ihrer altruistischen Merkmale ist sie anfällig für Verführung und Hingabe an ein starkes Regime. In der seelischen Vereinheitlichung betreibt die ›Masse‹ aber nicht nur die Uniformität des Individuums, sondern sie ist zuständig für den Verfall des Vernunftmäßigen, des logischen Urteilsvermögens, wenn nicht gar der gesamten Zivilisation. »Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar« (ebd.: 17).

So ist sich Le Bon sicher: »Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei« (ebd.: 5). Triebhaftigkeit und Reizbarkeit, Unfähigkeit oder Unwilligkeit zum logischen Denken, Mangel an kritischem Geist und Urteilsvermögen, sie bilden allesamt Merkmale des Massenhaften. So erscheint der ›Massenmensch‹ im Kontext der sich konstituierenden Massengesellschaft der Moderne als Spiegel einer großstädtischen Wirklichkeit, der alles in sich auf-

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40 | In der Zerstreuung organisiert nimmt und aktives und reflektiertes Handeln ausschließt, womit der Überschwang der leicht manipulierbaren Gefühle die Oberhand gewinnt. Die Masse wird so zum »Spielball aller äußeren«, zufälligen Reize, »deren unaufhörlichen Wechsel sie widerspiegelt« (ebd.: 19). Ihre Stimme ist, so lautet die Diagnose, nicht die Stimme der Vernunft, sondern die des Irrationalen. Von einer – imaginären – Macht geführt, unterliegt sie deren Verführungen und ist selbst da, wo sie revolutionären Parolen folgt, reaktionär und konservativ (aus-)gerichtet. Diese Einschätzung Le Bons wendet sich gegen die »proletarischen Massen«, wenn er davon ausgeht: »Übrigens würde man die Psychologie der Massen ganz mißverstehen, wenn man an die Vorherrschaft ihrer revolutionären Triebe glaubte. Nur ihre Gewalttaten täuschen uns über diesen Punkt. Die Ausbrüche der Empörung und Zerstörung sind immer nur von kurzer Dauer. Die Massen werden zu sehr vom Unterbewußten geleitet und sind also dem Einfluß uralter Vererbung zu sehr unterworfen, als daß sie nicht äußerst beharrend sein müssten. […] Die Geschichte der Völkerrevolutionen ist fast unverständlich, wenn man die von Grund aus beharrenden Triebkräfte der Massen verkennt. […] Die unaufhörliche Veränderbarkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz äußerliche Dinge. In Wahrheit haben sie nicht weiter erklärbare Beharrungsinstinkte und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen, einen unbewußten Abscheu vor allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen ändern könnten« (Le Bon 1973 [1885]: 34f.; Hervorhebung durch die Autorin).

Ihre politische Verfügbarkeit sichert die Illusion des sozialen Zusammenhalts, die die Vereinzelung und Ohnmacht des Einzelnen voraussetzt (vgl. Adorno 1967c [1956]: 77).

Masse als Kulturfaktor (Freud) Doch vereinigt die Gestalt der ›Masse‹ einerseits alle durchweg negativen Merkmale kulturfeindlicher Bestrebungen, so erscheint sie zugleich als Kraft, die in ihren Vergemeinschaftungsformen nicht nur temporäre Formen der ›Versittlichung‹ des Einzelnen durch die Masse stiftet, sondern entscheidenden Anteil an Vergesellschaftung, Kultur und Zivilisation hat. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bildet sie die zentrale Instanz, der sich nicht nur ein »soziales Gefühl«, sondern auch kultivierende Prozesse des Individuums verdanken. Freuds Auseinandersetzung mit Le Bons Untersuchung der Massenseele in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1967 [1921]) zeigt, dass die ›Masse‹ nicht auf ihre Suggestivkraft reduziert werden kann, sondern eine geradezu befreiende Kraft darstellt: Sie gestattet dem Individuum, »die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen« (ebd.: 13) und damit soziale Angst, den Kern der individuellen

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Gewissensbildung, zu überwinden.2 Freud kritisiert Le Bons Einschätzung, dass Massenphänomene Äußerungen eines nicht weiter zurückführbaren sozialen Triebs sind, dessen kulturerzeugenden Kern Le Bon zudem in der biologistisch-invariant vorgestellten »Rassenseele«, dem »Erbgut« eines Volkes vermutet. Er nimmt demgegenüber an, »daß der soziale Trieb kein ursprünglicher und unzerlegbarer sein mag, und daß die Anfänge seiner Bildung im engeren Kreis, wie etwa dem der Familie gefunden werden können« (ebd.: 10). In seiner »Morphologie der Massen« unterscheidet Freud flüchtige Massenbildungen von stabilen Vergesellschaftungsformen, die er wiederum in »natürliche Massenbildungen« (wie die Familie) und »künstliche Massen« (wie Kirche und Heer) differenziert, wobei er Letztere durch die Gefühlsbindungen des Einzelnen an einen Führer und an die anderen Massenindividuen charakterisiert. Massenbildung bezeichnet demnach ein Phänomen der Vergesellschaftung; »Masse ist kein primäres, sondern ein sekundäres Phänomen« (Adorno 1967c [1956]: 76). Über den Mechanismus der Identifizierung gestiftet, repräsentiert die ›Masse‹ beides: die anti-hierarchische, in der kollektiven Gefühlsbindung erzeugte Gleichstellung der Massenglieder und die in der Hingabe an ein im Führer verkörpertes Massenideal erfolgende Aufgabe der eigenen Persönlichkeit. »Menschen werden also nicht durch ihre bloße Quantität, sondern durch soziale Bedingungen zur Masse, zu denen Identifizierung mit dem Führer, oder mit Symbolen, und mit der Horde der in gleicher Abhängigkeit gebannten Mitmenschen ebenso gehört wie das autoritäre Verhalten des Führers und anderer Vaterfiguren« (Adorno 1967c [1956]: 76).

So konstatiert Freud im Rückgriff auf seine Theorie der Urhorde, dass ›die Masse‹, an die Selbstständigkeit und Willenskraft einer Führerfigur gebunden, »beherrscht werden wolle« und »im höchsten Grade autoritätssüchtig« (Freud 1967: 67) sei. Er erklärt dies aus ihrer triebhaften Struktur und deren Eigenart, der »Identifizierung und Einsetzung des Objekts an die Stelle des Ichideals« (ebd.: 69). Nach Freud gibt es daher gewissermaßen eine »Formel für die libidinöse Konstitution der Masse«: »Eine […] Masse ist eine Anzahl von Individuen, die dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (ebd.: 55). In der Hingabe an einen Führer oder eine Idee folgt sie ebenso wie in der Vorherrschaft des Unbewussten der »Regression zu einer primitiven Seelentätigkeit« (ebd.: 62). Freud erklärt die suggestive Kraft der 2 | Dieser Aspekt kehrt bei Walter Benjamin wieder; vgl. Benjamin 1974 [1936] und den Abschnitt ›Technische Apparaturen und Anordnungen‹ im 1. Kapitel dieses Bandes.

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42 | In der Zerstreuung organisiert Massenpropaganda mithin nicht aus einer den Menschen eingewurzelten ›Massenseele‹, sondern aus libidinösen Quellen, die eine Übertragung erotischer Abhängigkeiten und nicht erreichter Ichideale auf wirkliche oder imaginäre Führer bewirken. Motor dieser psychodynamischen Prozesse sind zielgehemmte, sublimierte Sexualstrebungen (ebd.: 54). Sie nehmen die Gestalt des Wunsches an, Anteil an einer Vielheit zu nehmen, können aber ebenso, da das Ich des Einzelnen nie vollständig von der Masse absorbiert wird, in »Selbständigkeit und Originalität« des Einzelnen münden (vgl. ebd.: 68). Erst die Zersetzung der Masse durch Lockerung oder Aufhebung ihrer libidinösen Struktur setzt nach Freud vielfach übersteigerte Selbstliebe und Fremdenhass frei. Was massenpsychologisch als zerstörerisches Element der Masse gilt, erklärt Freud also gerade aus der Auflösung der Massenbildung. Mit deren plötzlichem Ende würden aggressive Impulse wieder freigesetzt (vgl. Adorno 1967c [1956]: 75). In der Überwindung egoistischer Bestrebungen wirkt ›die Masse‹ daher nach Freud im Sinne einer Wendung vom Egoismus zum Altruismus als entscheidender Kulturfaktor (vgl. Freud 1967: 42).

»Masse und Macht«: Masse als ein Körper (Canetti) Folgt man den vorangegangenen Ausführungen, dann besteht die Macht der Masse weniger in der Konstitution eines Durchschnittsmenschen und eines für alle verbindlichen Standards, sondern in der Kraft ihrer Gefühlsbindung, die etwas Neuartiges, die Grenzen des Individuums Überschreitendes hervorbringt, nämlich Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Im kulturpessimistischen, massenpsychologisch inspirierten Diskurs überwiegt hingegen das Bild der Masse als von kollektiven Erregungen gesteuertes Etwas, das unkontrollierbare Triebdynamiken freisetzt. In der Annahme, die Individuen würden in ihren enthemmenden ›Sog‹ hineingezogen und unterlägen ihm, repräsentiert ›die Masse‹ dann das Skandalon einer Gesellschaft, in der die Masse als geordnete Öffentlichkeit des Publikums, nicht aber als erregter, explosiver Menschenauflauf, der alle individuellen und sozialen Unterschiede aufhebt, vorgesehen ist. Elias Canetti hebt in seiner 1960 veröffentlichten Schrift »Masse und Macht« – in durchaus ambivalenter Einschätzung – darauf ab, dass die ›Masse‹ nicht nur durch das permanent Grenzüberschreitende, den »Ausbruch der Masse«, sondern vor allem durch die Dichte und das Gleichheitserlebnis (Canetti 1960: 27f.) gekennzeichnet ist: »Nur alle zusammen können sich von ihren Distanzen befreien. Genau das ist es, was in der Masse geschieht. In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen

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1. Das Phantasma der Masse | 43 und alle fühlen sich gleich. In dieser Dichte, da kaum Platz zwischen ihnen ist, da Körper an Körper sich preßt, ist einer dem anderen so nahe wie sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblicks willen, da keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse« (ebd.: 13).

Die Einheit, die – schon bei Lesen – im Widerspruch zur immer wieder beklagten Formlosigkeit der Masse steht, stellt sich durch zirkuläre seelische ›Ansteckung‹ her, bei Canetti aber vor allem in der Bewegung und körperlichen Figuration, in der durch Zusammenschluss die Einzelnen als Glieder eines Körpers erscheinen: »Die Gleichwertigkeit der Teilnehmer verzweigt sich in die Gleichwertigkeit ihrer Glieder. Was immer an einem Menschen beweglich ist, gewinnt sein Eigenleben, jedes Bein, jeder Arm lebt wie für sich allein. Die einzelnen Glieder werden alle zur Deckung gebracht. Sie sind sich ganz nahe, oft ruhen sie aufeinander. Zu ihrer Gleichwertigkeit kommt so ihre Dichte hinzu, Dichte und Gleichheit werden ein und dasselbe. Schließlich tanzt vor einem ein einziges Geschöpf, mit fünfzig Köpfen, hundert Beinen und hundert Armen ausgestattet, die alle auf die gleiche Weise oder in einer Absicht agieren« (ebd.: 31).

Wurde die »Massenseele« bei Le Bon biologistisch auf eine invariante Triebkraft zurückgeführt, die im »Erbgut« der »Rasse« verankert sei und sich gleichsam als »Ansammlung von Erbmasse« als »Volksseele« konfiguriert (vgl. Franke 1985: 11) und hob auch Freud, ungeachtet seinem nachdrücklichen Hinweis auf die sozialen Wurzeln, zugleich auf die onto- und phylogenetisch verankerte Triebgrundlage der Massenbildung ab, so wird bei Canetti das eher phänomenologisch angeleitete Bild einer ›Masse‹ gezeichnet, die sich aufgrund der drängenden Dichte der Bewegungen und der seelischen ›Ansteckung‹ als körperlich-seelische Einheit herstellt. Ähnlich wie bei Freud erscheint sie als befreiende Kraft, die dem Individuum gestattet, die Verdrängung seiner unbewussten libidinösen Regungen abzuschütteln. Ja, mehr noch, sie verkörpert in gewisser Weise die romantische Vision vom demokratischen Subjekt, das sich der Abneigung des zivilisierten, bürgerlichen Individuums vor körperlicher Berührung entledigt und damit soziale Distanz überwindet. Das »Umschlagen der Berührungsfurcht« (ebd.) erfolgt durch die rhythmische Bewegung in einer Gemeinschaft von Gleichen. Deren Dichte baut mit einem neuen Körpergefühl nicht nur die Angst des vernunftgesteuerten Individuums ab, sondern bringt etwas qualitativ Neues, nämlich einen sozialen Körper hervor, der sich auch physisch materialisiert. Dabei wird ›die Masse‹ nicht zum bloßen Medium körperlicher Nähe und Berührung, sondern zum Inbegriff des

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44 | In der Zerstreuung organisiert Körperlichen schlechthin. Sie hebt beides auf: die Berührungsangst mit anderen sozialen Klassen und das Fremdwerden des eigenen Körpers. ›Masse‹ steht so für das Andere der Vernunft, für die proletarischen Massen ebenso wie die Wiederkehr des verdrängten Körpers, der sich nicht auf den Leib als anatomisch durchsichtiges Körperding reduzieren lässt, sondern vor allem Austauschprozesse – Stoffwechsel mit Natur, mit der eigenen Natur – impliziert. Der Zusammenbruch sozialer Hierarchien erfolgt auf der Ebene des Körperlichen, er wird durch bloßen Körperkontakt hergestellt und bewirkt durch Zusammenschluss der einzelnen Glieder die Verschmelzung des Verschiedenen zu einem Körper, zu einem gegenüber der sozialen Distanz visionär anmutenden Ganzen. Aber die Angst vor dem ›Fremden‹ bleibt; sie wird nur überwunden, indem das Fremde, der Körper des Anderen, jenseits aller sozialen Unterschiede, zum (Eigen-)Leiblichen wird: »Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. […] Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen ›bedrängt‹. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Fall sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann plötzlich alles wie innerhalb eines Körpers vor sich« (Canetti 1960: 12).

In Canettis Beschreibung der ›Masse‹ schwingt die Gewissensangst des bürgerlichen Individuums mit, das die ›Masse‹ als Legitimation, wenn nicht gar als letzten Grund für die Aufhebung sozialer Schranken preist, zugleich aber, fast möchte man sagen: beruhigt feststellt, dass sich die im Augenblick der Entladung manifestierende Gleichheit der Masse der Vielen einer »Grundillusion« verdankt: »Die Menschen, die sich plötzlich gleich fühlen, sind nicht wirklich und für immer gleich geworden. Sie kehren in ihre separaten Häuser zurück, sie legen sich in ihre Betten schlafen. Sie behalten ihren Besitz, sie geben ihren Namen nicht auf. Sie verstoßen ihre Angehörigen nicht« (ebd.: 13).

Gegen die massenpsychologisch informierte, negative Einschätzung einer die zivilisatorischen Errungenschaften gefährdenden Kraft der ›Masse‹, die der – despotischen – Führerfigur bedarf, wird bei Canetti das Bild einer temporär versammelten und räumlich angeordneten ›Masse‹ in Anschlag gebracht, in der es durch kollektive Erregung und Entladung zur situativen Angleichung der Menschen und zur Konfiguration differenter Körper in einer körperlich-seelischen Einheit kommt.

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Entsubjektivierung der Masse Masse als ästhetisches Ornament und künstliche Anordnung (Krakauer) Was bei Canetti geschildert wird, erinnert in gewisser Weise an die Beschreibung der Tiller-Girls, die bei Siegfried Krakauer in seinem Aufsatz Das Ornament der Masse, der erstmalig 1927 erscheint, als Ausdruck einer neuen Körperkultur in Erscheinung treten und gleichzeitig handelt es sich hier um etwas völlig anderes: »Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten […] ereignen sich […] in immer demselben dicht gefüllten Stadion Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit. […] Ein Blick auf die Leinwand belehrt, daß die Ornamente aus tausenden von Körpern bestehen« (Krakauer 1990: 57).

›Die Masse‹ als Träger des Ornaments verdichtet sich bei Krakauer nicht zu einer Einheit oder Gemeinschaft, sie verkörpert für ihn gerade nicht eine tiefer gehende seelische und körperliche Verschmelzung des Individuums mit der Masse. Im Gegenteil: Seine Ausführungen richten sich geradezu gegen eine kollektivistische oder technizistische Verklärung von Massenbewegungen. Im ›Ornament der Masse‹ erschließt sich für Krakauer vielmehr soziale Wirklichkeit; es wird zum aufschlussreichen Mittel von Gesellschaftsanalyse. Denn in ihm materialisiert sich ein »Kult des Formalen«. Es bildet das Symbol einer Gesellschaftsordnung, in der die ›Masse‹ einer ästhetischen Anordnung unterworfen wird. Und als solches repräsentiert das ›Ornament‹ die ästhetische Aufladung der Wirklichkeit mit abstrakten Zeichen und Symbolen. In den Blick gerät damit die Rationalität einer Gesellschaft, in der Natur nur insoweit bestehen kann, als sie sich ihrer instrumentellen Verfügbarkeit nicht verweigert. Die Formierung der Körper zur ästhetischen, räumlich-geometrischen Struktur zerlegt den Körper, seiner naturalen Basis beraubt, in Teile eines architektonischen Bauwerks, das, als ästhetisches, massenkulturelles Ereignis vom Stofflich-Organischen des Körpers wie von der Individualität ihres Trägers abstrahiert und damit einer Logik folgt, die den Körper in einem funktionalen Zusammenhang verortet. »Das von seinen Trägern abgelöste Ornament ist rational zu erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich

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46 | In der Zerstreuung organisiert finden; auch die Elementargebilde der Physik, Wellen und Spiralen, bezieht es mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organischer Formen und die Ausstrahlungen des seelischen Lebens. Die Tillergirls lassen sich nachträglich nicht mehr zu Menschen zusammensetzen, die Massenfreiübungen werden niemals von den ganz erhaltenen Körpern vorgenommen, deren Krümmungen sich dem rationalen Verständnis verweigern. Arme, Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Bestandstücke der Komposition« (ebd.: 59).

Krakauers Perspektive ist mit Blick auf die ›Masse‹ als Träger des Ornaments auf Phänomene gerichtet, die gerade in ihrer Unbewusstheit »einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden« (ebd.: 57) gewähren. In ihnen sieht er den Ausdruck einer Geschichtsepoche, der aus der »Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen«, aus den »unbeachteten Regungen«, so Krakauer programmatisch, »schlagender zu bestimmen« ist, als aus den Urteilen einer Epoche oder Gesellschaft über sich selbst. »Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegenwärtigen Gesamtsituation wider« (ebd.: 59); es ist »der ästhetische Reflex der vom herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität« (ebd.: 60). Im Massenornament sieht er den rationalen Ausdruck der Gesamtverfassung der Gesellschaft. Es verkörpert sozusagen die Logik der kapitalistischen Gesellschaft, die sich der technisch-ökonomisch organisierten Naturbeherrschung verdankt und damit natürlichen Organismen sprengt. Wie der kapitalistische Produktionsprozess, der nicht etwa auf den Besitz der Waren und ihren Konsum, sondern auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, bildet das Massenornament einen abstrakten Selbstzweck. Seine Gestaltungsprinzipien sind abstrakter Natur; sie folgen artifiziellen Ordnungsprinzipien wie der Produktionsprozess selbst. Dabei bilden die Individuen Bausteine eines dynamischen Ornaments, das sich zum geometrischen Muster konfiguriert. Als »Massenglieder« eingesetzt, »nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur« (ebd.: 58), die sich sozusagen oberhalb’ der Masse, »Flugbildern« gleich, den Blicken und dem Bewusstsein der Masse entzogen, nach geometrisch-artifiziellen Ordnungsprinzipien herstellt. Darin gleicht sie dem Produktionsprozess, der »im Verborgenen« abläuft: »Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der Fabrik« (ebd.: 60), die, arbeitsteilig in der Fabrik organisiert, eine Teilfunktion verrichten und das Ganze der Organisation aus dem Blick verlieren. Das Individuum ist in der Masse einer Beobachterperspektive ausgesetzt, die es selbst nicht einnehmen kann. Ebenso wie im Produktionsprozess verschwindet der Mensch im Stadion und in den »Palästen urbaner Zerstreuung« (Klein 1999) als organisches Wesen. Die »Ertüchtigung breitester Menschenmassen« erfolgt nach dem Muster der »Fabrikation von Arbeitermassen«. Wie diese eingespannt in

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eine vorgegebene Struktur, dient »der Mensch als Massenteilchen« (ebd.: 59) der Gewinnung einer sinn- und substanzentleerten Anordnung, die sich als »ästhetische Figur […] in der geometrisierten Abstraktion bestens in die Rationalität architektonischer Sachlichkeit einfügt« (Dröge/Müller 1995: 67). Das Ornament der Masse erzählt keine Geschichte mehr. Es ist nicht Sinnbild für etwas anderes, sondern der unmittelbare Ausdruck seiner selbst. Das heißt: Die artifizielle Anordnung der Masse entspricht dem standardisierten Prozess der Massenproduktion, deren Formprinzip auf die Massen selbst übertragen wird. Daher setzt sich das Wesen der modernen Gesellschaftsarchitektur bis in die machtarchitektonische Symbolik der Leiblichkeit durch. Sie reißt »die wie immer kultivierte natürliche Oberfläche« der Körper auf und setzt an ihre Stelle »die abstrakte Bezeichnung der Leiber« (Krakauer 1990: 65) und die »gegliederte Masse« (ebd.: 60). Krakauer sieht darin ein Formprinzip, das, »aus den Büros und Fabriken geholt« (ebd.), auf die ›Masse‹ als Ganzes übertragen wird. Wie das tayloristische Produktionssystem bringt das Massenornament ein funktionales Gesamtgefüge hervor, in dem die Massen selbst zum ästhetischen Ereignis werden. Indem die kalkulierende Vernunft den Körper in Einzelteile zerlegt und ihn, wie die Masse, entsprechend ihren Anforderungen modelliert, ordnet sie ihn, wie diese, zur Figur an, die vom Stofflich-Organischen des Körpers abstrahiert. Damit eröffnet die Zeichenrede, die sich vom natürlichen Körper ablöst, der unkontrollierten Natur aber erst recht Zugang zur Welt der Zeichen. Sie kann unter dem Deckmantel des rationalen Ausdrucks die abstrakten Zeichen »zur Darbietung ihrer selbst« (ebd.: 65) nutzen. Die »jedes ausdrücklichen Sinnes bare rationale Leerform des Kultes, die im Massenornament sich darstellt«, erweist sich, so Krakauer, als »Rückschlag in die Mythologie« (ebd.). Im Körperkult sieht Krakauer ein Hindernis für die Durchsetzungskraft einer Rationalität, die ihrem Anspruch gerecht würde und »aus dem Grunde des Menschen redet« (ebd.: 62). Denn: Der Formierung der Körper entspricht, über das Körperliche hinaus, die Formierung der psychischen Dispositionen der Massen. Hier zeigt sich im Grunde ein in den ritualisierten Körperkult gegossenes Triebregime: »Die körperliche Ertüchtigung beschlagnahmt die Kräfte, Produktion und gedankenloser Konsum der ornamentalen Figuren lenken von der Veränderung der geltenden Ordnung ab« (ebd.: 66). Aber auch in den »körperkulturellen Anstrengungen der rhythmischen Gymnastik«, die sich gegen die im Massenornament zum Zuge kommende Rationalität das Ziel setzen, »schmucke Seelengehalte auszudrücken«, sieht Krakauer lediglich eine Überhöhung des Körperlichen. Während das Massenornament die organische Verbindung sich bewegender Körper längst hinter sich lässt, ruft die rhythmische Choreogra-

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48 | In der Zerstreuung organisiert phie des Körpers mythologische Sinngehalte auf. Damit widerspricht sie jeder Rationalität. Diese wird nun selbst, das hatten auch Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1947) festgestellt, zum Mythos. Mit der Auffassung, die Ästhetik der ›Masse‹ sei letztlich der Reflex der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Abstraktion der organischen Ausstattung des Menschen, bewegt sich Krakauers Analyse also durchaus in der Tradition der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno). Während dort die beherrschende Funktion des Geistes über den Körper als Teil von Natur beklagt wird, gerät hier der Begriff der Körperkultur in den Verdacht, die bestehende Wirklichkeit zu festigen; eine Funktion, die sie in den historischen Zusammenhang der »römischen Zirkusspiele, die von den Machthabern gestiftet worden sind« (Krakauer 1990: 66) stellt. Gleichzeitig aber bezieht Krakauer in seiner Bewertung des ästhetischen »Wohlgefallen[s] an den ornamentalen Massenbewegungen« (ebd.: 60) – weit davon entfernt, diese als »Surrogat«, »ästhetische Barbarei« oder gar als »Massenverdummung« abzutun – Stellung gegen die erbaulichen, aber realitätsfremden Kunstveranstaltungen der »geistig gut Situierten«. Denn auch diese sind, so Krakauer, »ohne es wahrhaben zu wollen, der Anhang des herrschenden Wirtschaftssystems « (ebd.: 66). Dagegen sieht Krakauer im Massenornament den legitimen Ausdruck der gesellschaftlichen Realität. Er »steht seinem Realitätsgrad nach über den künstlerischen Produktionen, die abgelegte höhere Gefühle in vergangenen Formen nachzüchten« (ebd.: 60). Damit richtet sich Krakauer gegen eine Kritik der Massenkultur, die in der Unterhaltung der Massen lediglich die Zerstreuung und den Ausdruck einer allumfassenden Kulturindustrie und in der ›Masse‹ lediglich einen Repräsentanten »pseudoindividualisierten«, passiven Kulturkonsums standardisierter Massenprodukte zu entdecken vermag. Gegen die Auffassung ›der Masse‹ als anonymes, willenloses Gebilde ohne ästhetisches Ausdrucks- und Urteilsvermögen gerichtet, artikulieren sich Konstrukte, wie das von Krakauer, die den Begriff der ›Masse‹ nicht aus dem Gegensatz zum bürgerlichen Individuum entwickeln. Sie entgehen so der Stigmatisierung der Massen, indem sie den Begriff des Ästhetischen und der Kunst im Sinne der Realität der Massen umdeuten, wie dies bei Walter Benjamin der Fall ist.

Technische Apparaturen und Anordnungen (Benjamin) So problematisiert Walter Benjamin in seiner Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) die überkommene Gestalt des Kunstwerks, das, als Bestandteil eines kultischen, quasi-religiösen Rituals, mit der Aura des Einmaligen versehen werde und es immer als »ein Selbes und Identisches« (Benjamin 1974: 352) ausweise. Durch die

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massenhafte technische Reproduktion des Kunstwerks setze eine Erschütterung des Tradierten, ja, wie Benjamin unter Hinweis auf Film und Photographie apostrophiert, eine »Zertrümmerung der Aura« (ebd.: 355) des Kunstwerks ein. Diese »Liquidierung« des Auratischen weist, so Benjamin, auf eine umfassende Veränderung der Wahrnehmung und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen hin. Deren entscheidenden Grund sieht Benjamin in der »Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie« (ebd.), ihre entscheidenden Elemente bilden, so Benjamin, technische Apparaturen und Massenbewegungen. Während technische Apparaturen den Menschen in künstliche Reproduktionsanordnungen einfügen, sind Massenbewegungen, so Benjamin, bestimmt von dem Versuch, »die Dinge sich ›näherzubringen‹ und »des Gegenstands aus nächster Nähe […], in der Reproduktion, habhaft zu werden« (ebd.). In der Lust am Schauen und am Erleben entwickeln sich nach Benjamin Muster der Kollektivrezeption, die sich, im Bereich der Architektur, nicht auf das optische Moment der Kontemplation reduzieren lassen. Vielmehr stellen sie auf »taktische« Muster ab, die durch Gebrauch und Gewöhnung, durch »Rezeption in der Zerstreuung« gekennzeichnet sind. Im leidenschaftlichen Anliegen der Massen, das Einmalige des Kunstwerks zu überwinden, sieht Benjamin die »Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für das Gleichartige in der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt« (ebd.) und eben damit den Verfall der Aura des einzigartigen Kunstwerks bewirkt. In der Repräsentation des Menschen durch technische Apparaturen sieht Benjamin schließlich die Selbstentfremdung des Menschen im Sinne einer Verdinglichung auf die Spitze getrieben, denn nun befinde er sich nicht nur im Angesicht seiner für ihn befremdlichen Erscheinung im Spiegel, sondern sein technisches ›Spiegelbild‹ sei, von ihm ablösbar, transportabel geworden und ordne sich in einen produktiven Verwertungszusammenhang ein. Durch ein tiefes operatives Eindringen der Apparatur in die Wirklichkeit wird der Mensch nicht nur zum – ästhetisch und illusionär, weil apparativ hergestellten – Schauobjekt für sich selbst, sondern die Künstlichkeit der gesamten Anordnung selbst gerät aus dem Blick. Was als authentischer, »vom Fremdkörper der Apparatur« freier Aspekt der Wirklichkeit erscheint, ist eine illusionäre Wirklichkeit, die sich ihrer intensiven Durchdringung mit technischen Apparaturen und künstlichen (Aus-) Schnitten verdankt. Benjamin verdeutlicht dies am photographischen Apparat des Films: »Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Apparat und

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50 | In der Zerstreuung organisiert ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik« (ebd.: 373; Hervorhebungen im Original).

Mit Hilfe besonderer technischer Prozeduren werden aber nicht nur – zerstückelte – Bilder der Wirklichkeit produziert, die nach künstlichen Gesichtspunkten zu einem neuen Bild des Ganzen zusammengesetzt werden. Es werden völlig neue Strukturbildungen geschaffen, die – in künstlichen Bewegungsabläufen und gedehnten Raum- und Zeitvorstellungen – ein »Optisch-Unbewußtes« schaffen, das sich mit dem »Triebhaft-Unbewußten« zusammenschließt (ebd.: 376f.). So handelt es sich bei der Großaufnahme nicht bloß um eine Verdeutlichung dessen, was man »ohnehin«, wenn auch undeutlich, sieht; vielmehr tritt »an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter« (ebd.: 376). Ebenso wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungen zum Vorschein, sondern »sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen, sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken« (ebd.). Dabei verbindet sich das »Optisch-Unbewußte« mit dem »Triebhaft-Unbewußten«, das durch »die gewaltigen Mengen grotesken Geschehens, die im Film konsumiert werden« (ebd.: 377) gebannt wird. Über optische Apparate verankern sich psychotische Wahnvorstellungen, Halluzinationen und individuelle Wahrnehmungen von Träumenden in der kollektiven Wahrnehmung, werden aber, indem sie der Verdrängung enthoben werden, zugleich in ihrem (massen-)psychotischen Charakter entschärft. An dieser Stelle weist Benjamin der Technik eine doppelte Funktion zu: Zwar erzeuge sie gefährliche Spannungen in den Massen, die in Krisenzeiten den Charakter von Massenpsychosen annehmen können, gleichzeitig aber geht er davon aus, »daß diese selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch gewisse Filme geschaffen hat, in denen eine forcierte Entwicklung sadistischer Phantasien oder masochistischer Wahnvorstellungen deren natürliches oder gefährliches Reifen in den Massen verhindern kann« (ebd.; Hervorhebung im Original). In der Schöpfung »von Figuren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden Micky-Maus«, aber auch im kollektiven Gelächter, mit dem die Masse der Zuschauer das groteske Geschehen im Film begleitet, sieht Benjamin einen »heilsamen Ausbruch« von Massenpsychosen und »eine therapeutische Sprengung des Unbewussten« (ebd.: 377). Benjamin unterzieht den Begriff der Masse einer Neubestimmung, den er als Korrespondenzbegriff zu technischen Verfahren (der Photographie und Filmkunst), die von vornherein auf massenhafte Rezeption angelegt

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sind, entwickelt. Er nimmt an, dass die »zerstreute Masse«, im Gegensatz zum bürgerlichen Individuum, das sich in die Aura des Kunstwerks versenkt, sich nicht ins Kunstwerk, sondern dass sich dieses, vermittelt durch Techniken der Reproduktion, in die Masse versenkt. Dadurch entstehen neue, technisch induzierte Formen der Kollektivwahrnehmung, aber auch veränderte Formen der Darstellung. Indem sowohl Filmdarsteller als auch Politiker nun unmittelbar der technischen Aufnahmeapparatur, letztlich aber der unsichtbaren Masse gegenüberstehen, die die »Ausstellung« des politischen Darstellers kontrolliert und bewertet, wird die Masse zum Medium der Repräsentation – und der Auslese. Der Star muss sich, wie der Champion und der Diktator gleichermaßen, medienwirksam inszenieren, um bei der Masse anzukommen. Die revolutionären Chancen einer demokratischen Kontrolle des Darstellers durch die Massen werden allerdings durch die Verwertungsinteressen des Filmkapitals durchkreuzt, korrumpiert und zunichte gemacht. Im Starkult wird der Zauber der Persönlichkeit – künstlichen Apparaturen und Anordnungen unterworfen und der Kontrolle einer anonymen Masse von Betrachtern ausgeliefert – zum Warenzeichen, das, wie diese, ausgewechselt werden kann und Auslesekriterien unterliegt. In der filmischen Darstellung wird Leistungskontrolle zum Prinzip. Die Masse entscheidet als Kontrollorgan, das sich den Blicken der Darsteller entzieht, über die im Umfeld von Apparaturen künstlich erbrachte Leistung des einzelnen Subjekts. Diese wird, durch den Film »ausgestellt«, zum Bestandteil einer Testsituation, in der die Masse als formierte, mediale Anordnung eingesetzt und zum – unsichtbaren – Maßstab der Bewertung wird. »Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum, sondern vor einer Apparatur. Der Aufnahmeleiter steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchsleiter steht. Im Licht der Jupiterlampen zu spielen und gleichzeitig den Bedingungen des Mikrophons zu genügen, ist eine Testleistung ersten Ranges. Sich darstellen heißt, im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit behalten« (ebd.: 365).

Entscheidend ist der Begriff der »Apparatur« und die von ihr verfertigten Spiegelbilder. Die Apparatur ist aber nicht nur Medium der »Selbstentfremdung« des Darstellers. Sie bildet zugleich als Gegenüber den Spiegel seiner »Menschlichkeit«. An ihr ist das Massenpublikum interessiert, das in den Kontoren und Fabriken während der Dauer des Arbeitstages mit verdinglichenden Apparaturen konfrontiert ist: »Abends füllen dieselben Massen die Kinos, um zu erleben, wie der Filmdarsteller für sie Revanche nimmt, indem seine Menschlichkeit (oder was ihnen so erscheint) nicht nur der Apparatur gegenüber sich behauptet, sondern sie dem eigenen Triumph dienstbar macht« (ebd.). Der Entsubjektivierung des Menschen

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52 | In der Zerstreuung organisiert durch technische Apparaturen und Anordnungen, der die Darsteller vor der Kamera ausgesetzt sind, entspricht bei Benjamin also letztlich die Entsubjektivierung der Masse (als Publikum); sie wird in der – filmtechnischen und ökonomischen – Anordnung selbst zur (Beobachtungs- und Kontroll-) Apparatur, die eine anonyme Macht ausübt.3 Darüber hinaus aber wohnt der Masse in ihrer metaphorischen Gleichsetzung mit dem »Labyrinth der Stadt« eine phantasmatische Kraft inne, die auf ein Charakteristikum der Moderne verweist: Wie das Warenschöne gewährt die Masse zwar Zuflucht, aber kein Zuhause, bietet sie Anreize, aber keine Bindung. Die Masse, als das »neueste Rauschmittel der Vereinsamten«, bildet zugleich das »neueste Asyl des Geächteten« (Benjamin 1966: 751), das »alle Spuren des Einzelnen« verwischt. Die »einsame Masse« entpuppt sich als Scheinkollektiv, das die atomisierten Individuen der Großstädte zwar in sich aufnimmt, ihnen Obdach und Aufenthalt, aber keine soziale Heimat gewährt.

Masse als Struktur und Funktionsbegriff Normalisierung I: Die Internalisierung der Masse und der »außen-geleitete Mensch« (Riesman et al.) Was sich bei Benjamin ankündigt, die Masse als Kontrollagentur und Apparatur einer Beobachtungs(ober)fläche ebenso wie die »einsame Masse« als großstädtischer Fluchtpunkt, wird zwanzig Jahre später bei Riesman/Deney/Glazer in ihrer Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft der 1940er und 1950er Jahre vollends zur Folie, auf der sich innere Steuerungsmechanismen des »außen-geleiteten Charaktertyps« (»the other-directed character«) abbilden. Hier ist individuelles Verhalten nun unmittelbar verkoppelt mit Steuerungsoperationen, die sich am Anderen orientieren, deren Quelle zunächst außerhalb zu liegen scheint, durch Mechanismen der Sozialisation und ›Verinnerlichung‹ aber letztlich ins Individuum integriert werden. »Das gemeinsame Merkmal der außen-geleiteten Menschen besteht darin, daß das Verhalten des einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er per3 | Gleichzeitig aber wendet sich Benjamin gegen die »ästhetische Formierung« der proletarisierten Massen unter dem Faschismus und die Ästhetisierung von Massenbewegungen in der Ästhetisierung des Krieges. Er geht davon aus, dass hier die Selbstentfremdung der Menschheit jenen Grad erreicht, »der sie ihre eigene Vernichtung [als Mensch] als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt« (ebd.: 384).

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1. Das Phantasma der Masse | 53 sönlich kennt oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch hier ›verinnerlicht‹, und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von dem außen-geleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen empfangenen Signale. Indem der Mensch auf diese Weise ständig in engem Kontakt mit den anderen verbleibt, entwickelt er eine weitgehende Verhaltenskonformität, aber nicht wie der traditions-geleitete Mensch durch Zucht und vorgeschriebene Verhaltensregeln, sondern durch die außergewöhnliche Empfangs- und Folgebereitschaft, die er für die Handlungen und Wünsche der anderen aufbringt« (Riesman/Deney/Glazer 1958: 38; Hervorhebung im Original).

Konformität des Einzelnen wird demnach nicht durch äußeren Zwang gesichert. Vielmehr bilden die Handlungen und Wünsche ›der Anderen‹ die Quelle flexibler Steuerungsmechanismen des Einzelnen. Einzig der Vorgang der Steuerung selbst bildet das gleich bleibende Moment innerer Anpassungsvorgänge eines Subjekts, das mit den Anderen unmittelbar durch Steuerungs- und Rückkoppelungsprozesse verbunden ist. Verinnerlicht werden nicht fest vorgegebene, normative Verhaltensmuster, sondern es ist ›die Masse‹ als Medium, als ›Steuerungsapparatur‹ selbst, die zum Bestandteil der psychischen Landschaft des Individuums wird. Damit wird die Masse der Anderen zum funktionalen Medium der Innensteuerung des Einzelnen, der mit allen Sinnen auf Empfang eingestellt ist. Auf diese Weise emphatisch an den Anderen angeschlossen, funktioniert der Kontrollmechanismus des »außen-geleiteten Charakters«, der »in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause ist«, anders als beim innen-geleiteten Menschen, nicht »in der Art eines Kreiselkompasses«, der ihm die genauen Koordinaten seines Standortes anzeigt. Sein Steuerungsmechanismus funktioniert vielmehr, so Riesman/Deney/Glazer in Anlehnung an einen Vorschlag Karl Wittvogels, »wie eine Radar-Anlage« (ebd.: 41). Gesteuert durch eine »diffuse Angst« (ebd.), beschreibbar als die Angst, nicht dazuzugehören, herauszufallen aus dem sozialen Zusammenhang, verweist die Beschreibung des »außen-geleiteten Charakters« auf die Gefahr, sich außerhalb der etablierten Ordnung zu bewegen. Denn in einer Gesellschaft, in der die Ordnung selbst ebenso wie die soziale Zugehörigkeit disponibel geworden ist, »darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist« (Bauman 1992: 32; vgl. auch Horkheimer/Adorno 1981). Hier regiert das Unbehagen, »unversehens die provisorische, immer nur schwach beleuchtete Grenze der Normalität zu überschreiten und in die Zone der Anormalität hineinzugleiten« (Hark 1999: 66). An die Stelle »kulturell geprägter Einförmigkeit« und an die Stelle der Sicherheit einer vorgegebenen, individuell nur nachzuvollziehenden Ordnung, die jedem seinen Platz zuweist und die – wie beim »tradi-

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54 | In der Zerstreuung organisiert tions-geleiteten Charakter« – die Grenzen zwischen Bekannten und Fremden klar markiert, tritt daher beim »außen-geleiteten Charakter« ein »komplizierter Empfangsapparat«. Es ist eine sensible, aufnahmefähige Apparatur, die immer auf Empfang und immer auf die Anderen, auch diejenigen, die sich dem unmittelbaren Blick entziehen, ausgerichtet ist. Dieser Steuerungsvorgang ersetzt die Orientierung an verinnerlichten Leitbildern und Prinzipien, die beim »innen-geleiteten« Charaktertyp das Verhalten relativ unabhängig von der Anerkennung der anderen steuern. Was hier verinnerlicht wird, ist der auf den Anderen und am Anderen ausgerichtete Steuerungsmechanismus selbst: »Der außen-geleitete Mensch […] muß in der Lage sein, Signale von nah und fern zu empfangen, es gibt viele Sender und häufigen Programmwechsel. So ist es nicht erforderlich, einen Kodex von Verhaltensregeln, sondern jenes hoch-empfindliche Gerät, womit er diese Nachrichten empfangen und gelegentlich an ihrer Verbreitung teilnehmen kann, zu verinnerlichen« (ebd.).

Dabei transformiert sich auch das, was ehemals fremd erschien: Das Fremde wird, wenn auch nur oberflächlich, in Vertrautes umgewandelt, in Eigenes assimiliert. Gleichzeitig wird ›das Fremde‹ als ›Möglichkeit der Differenz‹ fortwährend erzeugt, aber nur, um in eine, wenn auch imaginäre Ordnung integriert zu werden. Nach dem Muster ›dabei sein ist alles!‹ kommt es darauf an, ›aufgenommen‹ zu werden in eine soziale Ordnung, deren Ordnungsgefüge weder fremd noch vertraut ist, sich nicht mehr zu einer Bedeutung der Welt zusammenfügt und sich daher auch nicht eindeutig erschließt. Es ist eine Ordnung, deren Konturen, zufällig auftretend, sich wieder verschieben und deren Grenzen beweglich sind. Aufgrund dieser Disponibilität der Ordnung selbst und der tendenziellen Grenzenlosigkeit des Handlungsraums ist es daher unausweichlich, sich den Anderen anzuschließen, mit dem Strom zu gehen. Denn in dieser neuen Welt bestimmt nicht der Einzelne, ›wo es langgeht‹, sondern die Anderen. Nur die ständige Anstrengung, so zu sein, wie alle anderen, ist der Garant für soziale Zugehörigkeit, die nicht vorgegeben und daher selbstverständlich ist, sondern allererst erworben werden muss. In seinem Roman Amerika beschreibt Kafka die Situation desjenigen, der »in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause ist« und für den in einer undurchschaubaren und unvorhersehbaren Welt, die in gewisser Weise unheimlich und surreal wirkt, alles darauf ankommt, »aufgenommen« zu werden. Dieses Vorhaben, das der Protagonist des Romans, Karl Rossmann, durch die verschiedenen Stationen seines Weges hindurch lange Zeit vergeblich verfolgt, immer darauf bedacht, die eigene Position mit

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der der Anderen abzugleichen und sich in einer ihm fremden Welt zu situieren, mündet schließlich in seiner Aufnahme in das »Naturtheater von Oklahoma«. Hier ist »jeder willkommen«, unabhängig von Herkunft und Werdegang, hier wird jeder gebraucht, jeder »an seinem Ort« (Kafka 1983: 223). Zwar scheitert Karl an den Formalitäten und wird, obwohl er ursprünglich Ingenieur werden wollte, aus Mangel an Legitimationspapieren erst als Schauspieler, dann als technischer Arbeiter aufgenommen. Aber, »dies wiederholte er sich immer wieder, es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf, sich überhaupt irgendwo dauerhaft festzuhalten« (ebd.: 236). In einer kontingenten Welt, in der die Ordnung selbst und die individuelle Position in ihr disponibel sind, kommt alles darauf an, sich flexibel zu verhalten und sich dort einzufinden, wo Positionen verteilt werden. Schließlich weicht die Angst, den Ort, der Individualität sichert, zu verfehlen. Dessen Koordinaten verändern sich zwar von Situation zu Situation, aber die Anderen liefern die Indikatoren für die eigene Individualität. »Karl wird zwar ›individualisiert‹ – für jede/n gibt es genau einen Ort« (Hark 1999: 67), aber diese Individualität ist nicht darauf ausgelegt, unverwechselbar, sondern letztlich ununterscheidbar von den Anderen, wie alle Anderen zu sein. Einer unter vielen sein, sein wie andere sind, darin besteht Normalität. Sie ist der Garant für soziale Zugehörigkeit. Nur wenn alle sich aneinander ausrichten, ist individuell und kollektiv ›Normalität‹ gesichert. Diese beruht nicht auf einer exklusiven Unterscheidung von Norm und Abweichung. »Es handelt sich vielmehr um eine ›weiche‹, gewissermaßen schwellenförmige Differenz«; das ›Normale‹ ist lediglich ein »Zustand eines homogenisierten Normalfeldes, das keine fundamentale Diskontinuität zwischen richtig/falsch, normal/abweichend kennt« (ebd.), das gleichwohl aber die Norm als imaginären Fluchtpunkt impliziert. In der beständigen Versicherung der eigenen Normalität konstituiert sich Abweichung nicht als wesensmäßige Verschiedenheit, sondern als nicht eindeutig vom Normalen unterscheidbare Abweichung individuellen Handelns innerhalb eines kontingenten Handlungsraums, dessen Grenzen flexibel sind, was die Unwägbarkeiten für den Einzelnen erhöht. Eingebunden in einen Kontext von Beobachtung und Selbstbeobachtung, konstituiert sich Normalität über ›die Masse‹ als Kontrollmedium. Der verallgemeinerte Andere (the generalized other) gilt als Maßstab eigenen Handelns. Das soziale Band wird durch eine individuierte Masse hergestellt. Sie bildet die Umwelt, die Sicherheit und Halt verspricht. Indem sie die Funktion ausübt, Steuerungsoperationen und Regulierungsvorgänge des Einzelnen zu initiieren, ist sie zuständig für die Angleichung des Individuums an einen Durchschnitt. Dieser wird, gewissermaßen statistisch untermauert, über die extremen Abweichungen und die Optimalwerte als Mittelwert aus beiden er-

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56 | In der Zerstreuung organisiert mittelt. Die Abweichung bezeichnet dann im Grunde die Bereiche, die zu weit vom Durchschnitt entfernt sind. Der Durchschnitt wird zur Normalität. Es ist die Reziprozität der Perspektiven, die Anderen immer im Blick zu haben und immer im Blick der Anderen zu sein, die gewährleistet, dass nicht nur der Einzelne sich nach den Anderen richtet, sondern sich dessen gewiss ist, auch von den Anderen gesehen zu werden. Hier wirkt soziale Macht als verdeckter Automatismus von Technologien, in deren Blick das Subjekt sich konstituiert als eines, dessen Begehren nicht nur darauf ausgerichtet ist, von den Anderen gesehen zu werden, sondern das sich im verallgemeinerten Anderen wieder erkennt und diesen zugleich als Steuerungsregulativ verinnerlicht hat. Dabei bildet die »einsame Masse« nicht mehr den illusionären Zufluchtsort und das Medium eines die – individualisierte – Wirklichkeit überschreitenden virtuellen Raums körperlicher und psychischer Erlebniswelten, sondern sie ist bereits das Medium von Steuerungsvorgängen, deren variable Elemente vereinzelte Individuen bilden. Damit verändert sich dann auch der Charakter der Masse von Grund auf: Es ist nicht mehr die temporär an einem Ort versammelte Masse, die sich im physischen Austausch von Körper zu Körper artikuliert. ›Die Masse‹ ist vielmehr, wie Krakauer schon 1927 feststellt, in ein Regime des Quantitativen eingetreten, das sie – in Korrespondenz zu ökonomischen Prozessen – den artifiziellen Ordnungsprinzipien einer warenproduzierenden Gesellschaft einfügt. Sie bildet selbst – in Korrespondenz zu technisch-medialen Apparaturen – eine sozio-technische Anordnung, die als anonyme Beobachtungs- und Kontrollapparatur des Individuums fungiert, wie bereits Benjamins Neubestimmung der Masse gezeigt hat. ›Masse‹ ist dann nicht mehr die »gefährliche Anhäufung« (Foucault 1976a: 183) als physische Versammlung an einem Ort, die den Skandal einer Gesellschaft, die auf die geordnete Masse des öffentlichen Publikums abstellt, repräsentiert. Sie konstituiert sich auch nicht mehr, wie bei Canetti, als – ekstatischer – Kollektivkörper. Vielmehr hat sie ihren Zustand als – organisierte – Vielheit grundlegend modifiziert: Die Masse stellt sich in der mediatisierten Gesellschaft als partikularisierte Masse individualisierter Einzelner dar. Sie erlebt sich »nicht mehr als aktuell versammelte Totalität, nicht mehr als konspiratives, zusammenströmendes und losbrechendes Kollektivlebewesen« (Sloterdijk 2000: 19), sondern in den Individuen, die immer schon in den massenkulturell und medial organisierten Blickrastern einer unsichtbaren Masse angeordnet sind. Die partikularisierte, nicht physisch versammelte Masse der Einzelnen, die sich nicht mehr an Körpererfahrungen ihrer selbst orientiert, die als ›Masse‹ kein »Eigenkörper- und kein Eigenraum-Gefühl« mehr besitzt, hat sich gewissermaßen von ihrer

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physischen Versammlung an einem Ort emanzipiert (vgl. ebd.: 17f.). An die Stelle von Körpererfahrungen ihrer selbst treten in der modernen Massenkultur, die durch Teilnahme ›der Masse‹ an Programmen von Massenmedien gekennzeichnet ist, massenmediale Symbole, Diskurse, Programme und Prominenzen, die jetzt stellvertretend den Platz des Kollektivkörpers einnehmen.4 An die Stelle des Führerkults tritt der Starkult der Unterhaltungsmassen. Im Starkult zeigt sich, so die kulturkritische These Sloterdijks, zwar einerseits die funktionale Kontinuität der Idealisierung und Projektion eines Ideals auf einen überhöhten Anderen. Gleichzeitig aber wird hier die vertikale Spannung (zwischen ›Führer‹ und ›Masse‹) umfunktioniert in die horizontale Spiegelung des Individuums im Massenideal. Im medialen Modus des Starkults findet die Heldenverehrung und -überhöhung, die sich auf Medienstars richtet, sozusagen ›auf gleicher Augenhöhe‹ statt: Die Stars – der Castingshows – bilden den idealisierten Kern und zugleich Substitut der Masse. Während das Individuum nun unausweichlich der Masse verhaftet ist, stellt sich diese, darauf verweist die naturwissenschaftliche Metaphorik Sloterdijks, nicht mehr als Stoff oder Materie dar, die, räumlich fixiert, feste Formen annimmt oder sich in zumindest temporären Zusammenballungen an körperlich erfahrbaren Gemeinschaftserfahrungen ›entzündet‹. Sie erscheint als ›Aggregatzustand‹, »dessen Partikel je für sich in eigenen Räumen oszillieren, mit jeweils eigenen Ladungen an Wunschkraft […] und jedes für sich vor den Programmempfängern ausharrend« (ebd.: 18). Folgt man dieser kulturkritisch ausgerichteten Analyse, dann ›verpufft‹ die ›verdichtete‹ Masse quasi im gasförmigen Zustand, in dem ›die Masse‹ selbst als solche unsichtbar wird. Die physisch massierte Masse löst sich auf in Ströme individualisierter Einzelner, die die Räume zeitweise durchqueren und durchstreifen, sich in ihnen aber nicht aufhalten und in ihnen verweilen. In diesen, für den überwachenden Blick vollständig transparenten Räumen ist jeder sichtbar. Einem anonymen Blick ausgesetzt, der sich vom Ort des Sehens nicht einsehen, sondern nur imaginär antizipieren lässt, richten sich die Individuen im Medium des Blicks auf sich selbst.5 Durch

4 | Sloterdijk spricht im Unterschied zu der »Auflauf- und Entladungsmasse«, die sich durch physische Versammlung und körperliche Nähe definiert, von »programmbezogener Masse«, wie sie sich im Zuge der radikalen medientechnologischen Umwälzung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert artikuliert. 5 | Wie sich der panoptische Blick im Kontext massenkulturell und -medial verdichteter Räume (groß-)städtischer Architekturen auf die im wahrsten Sinne des Wortes zerstreute Masse individualisierter Einzelner und deren Produktion als flexibler (Geschlechts-)Körper auswirkt, zeigt sich am Beispiel des Postdamer Platzes, der

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58 | In der Zerstreuung organisiert das Medium einer abstrakten ›Masse‹ gefiltert, werden die vereinzelten Individuen zu Voyeuren ihrer eigenen Existenz und unterliegen der reflexiv im Medium des Blicks auf ihr Inneres gerichteten (Selbst-)Kontrolle, die sich als ständige Selbstprüfung ausweist. Die »einsame Masse«, die Riesman et al. als sozialpsychologische Kategorie einführen, bildet in ihrer organisierten Vereinzelung den Rohstoff eines permanenten, medial gesteuerten Selbstexperiments, in dem es um Selbstführung geht. ›Die Masse‹ konstituiert sich als Vielheit einer Menge, bestehend aus Individuen mit Sehnsüchten, Begierden und Leidenschaften in ihrer unübersehbaren Vielzahl, die für den Einzelnen in ihrer Struktur anonym bleibt und allenfalls – als statistische Größe – Anhaltspunkte für »Normalität« bietet. Indem die Masse in eine Vielheit von Einzelnen zerfällt, wird sie aber, wo die Einzelnen physisch auf sich selbst stoßen, in anderer Weise zum Hindernis als dies in der bedrohlichen Materialität der physisch versammelten Masse kenntlich wurde; die Masse erscheint jetzt lediglich als Unterbrechung, als unfreiwilliger Stau individualisierter (Begehrens-)Ströme. Die partikularisierte Masse aber, als eine Art Kristallisation der Vielheit einer Menge, wird nun als vom Individuum immer schon antizipiertes Steuerungs- und Regulationsmedium von Subjektivierung wirksam. Sie wird zum inneren Maßstab, an dem sich das Individuum im individuellen Abgleich mit anderen, immer in unbewusster Kommunikation mit dem verallgemeinerten Anderen und in permanenter (Selbst-)Vergewisserung dessen, was ›angesagt‹ ist, ausrichtet. Dieser Maßstab bildet den ›Rohstoff‹ für die Konstitutionsprinzipien eines Subjekts, das sich den artifiziellen Ordnungsprinzipien der Massenkultur einfügt. Damit etabliert sich ein neuer Typ von Subjektivität: Nicht das Individuum ›verschwindet‹ dann im Sog der Masse, sondern die Masse ist in das Individuum eingelagert; sie bildet das funktionelle Medium für die Etablierung individueller Dispositionen, die sich einer durchgreifenden Dynamisierung, einer Praxis der normalisierenden Subjektivierung verdanken. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Individuen sich selbst in Normalitätsfeldern situieren, die eigene Position mit der imaginierten Position der Anderen vergleichen und sich selbst adjustieren. Die bindende Kraft sozialer Integration wird durch Ordnungsschemata gesichert, die das Subjekt überschreitend unmittelbar in es eingeschrieben sind und es über flexible Taktiken der »Selbst-Normalisierung« (vgl. Link 1997: 80) in marktförmig organisierte Anschlussfähigkeit umsetzt. Das Individuum formt sich nach der Masse, die wie eine technische Apparatur der Beobachtung und Steuerung als Architektur einer Geschlechterkonstruktion aufgefasst werden kann; vgl. dazu Bublitz/Spreen 2004.

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operiert. Gleichzeitig aber trägt das Individuum durch seine »Selbst-Adjustierung« in einem dynamischen Modell sich permanent verschiebender Normalitätszonen nicht nur zur Stabilisierung, sondern auch zur Verschiebung der Normalitätsmatrix bei. Damit verlagern sich aber auch die Mechanismen sozialer Kontrolle in das Individuum selbst. In einer Perspektive, die davon ausgeht, dass im Subjekt Dispositionen geschaffen werden, die das Subjekt vom Massenhaften her aufbauen, wird die Anordnung der Masse im polarisierten Gegenüber zum Individuum hinfällig. Nicht nur die Masse zerfällt in eine Vielheit, sondern auch das Subjekt als eines, das seine Wahrheit in sich hat und ihr folgt, wird seiner fundierenden Rolle enthoben und dezentriert. Die ›Authentizität‹ des Selbst erweist sich nicht nur schon ihrerseits als Effekt performativer, inszenatorischer Praktiken, sondern sie unterliegt zudem einer permanenten Vergewisserung dessen, was als ›echt‹ gilt (Butler 1991, 2001; Fischer-Lichte 2000, 2001). Sie kann nicht zurückgeführt werden auf einen ›wahren‹ Kern des Selbst, sondern ist Effekt einer ›theatralen‹ Inszenierung und ihrer Glaubwürdigkeit. ›Authentizität‹ und ›Echtheit‹ sind nicht der Gegenpol zur künstlich-theatralischen Inszenierung, sondern, was als authentisch gilt, ist immer schon in narrativen und performativen Strategien der Selbst(er)findung des Subjekts und im Gelingen des performativen Aktes begründet. Das bedeutet nicht nur, dass das Individuum sich – unter marktstrategischen Gesichtspunkten – immer schon im Spiegel eines verallgemeinerten Gegenübers wirksam zu inszenieren trachtet, sondern dass es selbst zu einem dauernden Beobachter seiner eigenen Inszenierungs- und Marketingstrategien wird, die der kontinuierlichen Bewertung und Kontrolle durch das sich selbst beobachtende Individuum sowie durch die Anderen unterworfen sind. Damit aber wird ›die Masse‹ der Anderen zum konstitutiven Medium der Individualisierung und sozialen Optimierung des Subjekts.

Normalisierung II: Alle gleich, jeder anders. Masse als Medium normalisierender Optimierung Geht es bei der Produktion von Individuen zunächst darum, sie an einer vorgegebenen Norm auszurichten und mit Hilfe institutioneller Praktiken in eine normativ integrierte Gesellschaft einzugliedern, so ändert sich dies bei der Ausweitung der Kontroll- und Regulierungsmechanismen auf die Gesamtgesellschaft. Sie beruhen auf einem weitläufigen Netzwerk von Dispositiven und Apparaten, die, über die strukturellen Orte sozialer Institutionen hinaus, die gesamte Gesellschaft durchziehen. Hier geht es nicht um gewaltförmige und normative, sondern um normalisierende Techniken zur Formierung der Körper und der Subjekte (Foucault 1993a und b).

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60 | In der Zerstreuung organisiert Die produktive Disziplin funktioniert nach dem Modus der Individualisierung. Sie verfertigt Individuen nach dem Muster einer »Mikrophysik der Macht« (Foucault 1976b), die sich auf den Körper als Zielscheibe richtet. Dabei wird der Körper zunächst nach Gesten, Haltungen, Bewegungen, Schnelligkeiten und Kräften zerlegt. Der mittels Parzellierung, Funktionalisierung und Klassifizierung zerlegte Körper wird kräftesteigernd zu einem neuen Kräftekörper wieder zusammengefügt. Es gelingt damit, das Individuum, vereinzelt und hierarchisch eingeordnet, als Element einer überwachten Masse einzusetzen (Foucault 1976a und b). Sein Körper wird zum Produktivitätszentrum der kapitalistischen Ökonomie. Ihrem Produktionszyklus werden die Individuen durch innere Disziplinierung und Umformung unterworfen. Die Errichtung eines geschlossenen Disziplinarraums verdankt sich dem Prinzip der Einzelüberwachung, der überschaubaren Gliederung räumlicher Positionen und der Eingliederung individueller Leistungen in mess- und kontrollierbare Zeiteinheiten. In der mechanisierenden Anpassung der Körper an die Funktionen der arbeitsteiligen Produktionsmaschine und in ihrer produktiven Durchdringung durch technische Formierungsregeln stellen die Kontrollmechanismen auf Sozialintegration durch Macht ab. Hier geht es um die mechanische Kombination von Kräften, die den ›Unterbau‹ einer kapitalistischen Ökonomie bilden (Foucault 1976a und b; Fink-Eitel 1980: 49). Foucault entwirft eine »Kartographie der Ordnung«, die sich in den Produktionsstätten des Anormalen und Normalen – dem Gefängnis, der Psychiatrie, der Klinik, den Fabriken, der Schule – materialisiert (Foucault 1973, 1976a und b). In sie werden die Randerscheinungen, Extremfälle und Ausnahmen integriert. In ihrem Zentrum steht die Etablierung einer sozialen Ordnung, deren »Außen«, künstlich hervorgebracht, die Abweichung bildet. Sie wird, differenziert und hierarchisiert, in das Feld der Normalität eingeschlossen (Foucault 2003). Während die Disziplinierung, einer relativ abgesteckten, geometrischen und quantitativen Logik folgend, die Verfertigung von Individuen auf deren Einschließung in Institutionen beschränkt, ändert sich dieser Mechanismus in Kontroll- und Normalisierungsgesellschaften grundlegend: Es geht um die vollständige Vergesellschaftung der Individuen. In der Ausweitung der Machtmechanismen auf das gesamte gesellschaftliche Terrain verbleiben dem Individuum keine Freiräume jenseits ihrer vollständigen Absorption in den Rhythmus produktiver Tätigkeiten. Sie werden vollständig ›verbraucht‹. Nichts entgeht mehr der Macht. Sie breitet sich im Bewusstsein der Individuen aus und bewirkt eine Homogenisierung des sozialen Raums. Im Gegensatz zur Statik der disziplinären Invasion der Macht in das Individuum, die auf den Widerstand des Individuums stieß, liegt der durchgängigen Vereinnahmung der Individuen eine Eigendynamik zugrunde. Sie zielt auf

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die Selbststeigerung und Optimierung des Lebens der Masse der Individuen ab. Die auf den »Durchschnittsmenschen« gegründete Normalisierung geht nicht – mehr – vom Individuum, sondern von der Masse aus. Die erfolgreiche ›Instandsetzung‹ der Individuen und ihre Konstitution als Disziplinarindividuen bereits vorausgesetzt, greifen diese nun selbst in die Überwachung ihres Selbst ein: Sie richten sich normalisierend an einem Durchschnitt aus. Damit werden Individuen zu Elementen eines Systems von Äquivalenten, das eine durch Disziplinierung konstitutierte Individualität ersetzt durch eine auf Selbst-Adjustierung an Durchschnittswerten basierende Population der Normalen. Die Frage bleibt, mit welchen – artifiziellen – Verfahren die allgemeine Normalisierungsmatrix begründet wird und wie entlang der statistisch begründeten Leitdifferenz von »Normalität« und »Abweichung« sozial erwünschte und verworfene Subjekte ermittelt und im Subjekt verankert werden. Foucault hat das Verfahren in seiner historischen Analyse der Normalisierungsmacht vorgeführt: Die Praxis der Normalisierung beruft sich auf die Ermittlung der spektakulären und der unauffälligen Abweichungen. Normalität konstituiert sich dann über eine Streuung und Homogenisierung der Abweichungen. Dies geschieht, indem heterogene Elemente in ein funktionales Verhältnis zueinander gesetzt und in ein Abweichungsfeld eingetragen werden, wo sie in das Innere eines homogenisierten Feldes integriert werden. Dadurch entsteht ein Differenzierungsraum, der ein Vergleichsfeld eröffnet, in das sowohl die extremen als auch die unauffälligen Auffälligkeiten eingeschrieben sind. Über die Abweichungen konstituiert sich ein Feld der Homogenität. Dieses Verfahren normalisiert das Feld der Abweichungen und stellt ihre äußere Abgrenzung von einem Normalitätsfeld her, und das, obwohl die Definition der Abweichung und die Grenze von Abweichung und Normalität kaum bestimmt werden können (vgl. Foucault 2003: 76f.). Das Problem ist, wie Jürgen Link feststellt, das der »Normalitätsgrenze« (Link 1997: 138); sie ist flexibel, nicht statisch. Normalität unterliegt der kontinuierlichen Variation. Dabei bilden Normalisierungspraktiken das Erzeugungsprinzip von Abweichungen und umgekehrt. Vorausgesetzt ist ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von ›Normalität‹ und ›Abweichung‹. Denn nur über die Orte des ›Anormalen‹ erschließt sich der Bereich des ›Normalen‹. Sie können gewissermaßen als ›Vergrößerungsglas‹ verstanden werden, durch das man das ›Normale‹ nicht nur besser betrachten, sondern überhaupt erst produzieren kann. Die Konstruktion der Abweichungen ist daher keineswegs ein Nebenprodukt der Normalisierungspraktiken, vielmehr kommt den ›Abweichungen‹ und ›Anomalien‹ eine konstitutive Rolle für die Produktion von Normalität zu; sie ermöglichen und begrenzen Normalität. Die Praxis der Normalisierung schließt daher notwendig die Produktion von Abweichungen ein. Aber sie

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62 | In der Zerstreuung organisiert integriert die Abweichungen in ein statistisches Feld der Streuung, in dem die verschiedenen Abweichungen in eine kommunikative Beziehung zueinander treten, die Abweichungen nach Kriterien marktförmiger Anschlussfähigkeit normalisiert und das Feld der Abweichungen homogenisiert wird. Streng genommen ist die Rede von der ›Abweichung‹ damit hinfällig. Die konstruktivistische Perspektive moderner Gesellschaften erfordert die ständige Neukonstruktion sozialer Ordnung und, aufgrund der ›Bodenlosigkeit‹ der Möglichkeiten, ständig neue Techniken der (Selbst-)Stabilisierung von Mensch und Gesellschaft. ›Der Mensch‹ verschwindet sozusagen in selbstoptimierenden Operationen (vgl. dazu ausführlich Bublitz 2001b: 94f.). Es geht dann nicht mehr um die Anpassung des Individuums an eine präetablierte und -stabilisierte, fixe Norm, nämlich darum, das Individuum in eine (Guß-)Form einzuschließen und seinen Begehrens- und Wunschökonomien von vorneherein disziplinär-moralische Grenzen zu setzen. Manipulatorisch-autoritäre Kontrollmechanismen werden in der Normalisierungsgesellschaft ebenso gegenstandslos wie mechanistische Konditionierungsmodelle der disziplinären Kontrolle des Individuums. Dem ›Zwang‹ zur Individualisierung entsprechend geht es nun vielmehr um die prinzipielle Offenheit und die tief greifende Dynamisierung individueller und kollektiver Erfahrungshorizonte, mit dem Ziel der sozialen Integration dessen, was im Bereich des Möglichen liegt. Die ›Masse‹ aber verliert, in den Blickrastern massenkultureller Ereignisse angeordnet, ihre bedrohliche Materialität als amorphe Masse und wird zum flexiblen Medium von Ordnung und Macht. Sie bildet das Medium einer sozialen Normalisierungsmacht. Diese begnügt sich nicht damit, die individuelle Erfahrung einem bloßen Gesetz, der Norm, zu unterwerfen, sie zu verbieten oder zu unterdrücken. Vielmehr greift sie in die individuelle Erfahrung selbst ein und wirkt, diese indirekt lenkend, auf die Handlungen des Einzelnen ein. Sie verändert, indem sie, anders als das Gewaltverhältnis, das zwingt, bricht und zerstört, produktiv verfährt. Dies tut sie, indem sie das Subjekt des Handelns bis zuletzt anerkennt und ihm ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen und Erfindungen eröffnet. »Fremdführung im Sinne von statistischen Vorgaben und Wissensformen sowie Selbstpraktiken im Sinne von Modalitäten des Verhältnisses zu sich selbst, in denen Techniken der Selbstpflege, -gestaltung und -disziplinierung ihre Wirkung entfalten, werden in ein Geflecht wechselseitiger Durchdringungen gesetzt, so dass Macht und Freiheit nicht als entgegengesetzte, sondern als wechselseitige, miteinander verwobene Elemente dargestellt werden« (Reuter 2002: 205f.).

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Damit bleibt das Wissen um Normalität nicht nur den Orten institutionalisierter Funktionsstätten verhaftet, sondern es schreibt sich in die Wirklichkeitskonstruktion der Individuen ein. Normalität arbeitet als Kontrollinstanz im Einzelnen selbst, um von dort aus den eigenen und fremden Tätigkeitsbereich zu überwachen und zu kontrollieren. Damit findet die soziale Konstruktion des Abweichenden nicht nur an den Rändern der eigenen Kultur im Gegenüber zur fremden Kultur statt. Sie ist im Bewusstsein des Subjekts verankert, das in einen permanenten Dialog mit sich selbst tritt. Das Subjekt wird zum Kontrollmedium und -material seiner selbst. Aber im Blick auf sich selbst ist das Subjekt immer mit dem Blick der Anderen zusammengeschlossen. In dieser ›entsubjektivierten‹ Anordnung ist die ›Masse‹ aber nicht mehr als massenpsychologisches Phänomen beschreibbar, das auf die Polarität von Individuum und Masse verweist. Mit ›Masse‹ ist nun vielmehr ein Phänomen bezeichnet, das als soziales und individuelles Steuerungsmedium fungiert. Massenkulturell angeordnet, wird die ›Masse‹ zum Medium einer Ordnungsmacht, die sich selbst als in den Subjekten oszillierender ›Apparat‹ konfiguriert.

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2. Das Phantasma der Massenkultur – Chiffre einer diskursiven Ökonomie

»Das Selbstmitleid, die sentimentalen Lügen, die künstlichen Verwicklungen sind weitgehend Folgen einer verzerrten, undurchdachten oder einfach dummen Literatur« (Marai 2004: 155). »Im Fernsehen lief ein Walt-Disney-Programm, und die Lisbons sahen es sich mit der Widerspruchslosigkeit von Leuten an, die harmlose Unterhaltung gewöhnt sind« (Eugenides 2004: 86).

Verführerische Zerstreuung Lange Zeit wurde das Lesen von Romanen als Ablenkung und Zerstreuung behandelt. Es galt als bloßer Zeitvertreib und damit als Inbegriff der Zeitvergeudung. Das aber ist in einer Gesellschaft, deren Wohlstand auf der Formel ›Zeit ist Geld‹ gründet, nicht nur Frevel, sondern Geldverschwendung.1 Zeit sollte, wie Geld, gespart, vor allem aber als Kapital ökonomisch eingesetzt und verausgabt werden. Erst die Vorstellung von der Trieb- und Produktivkraft einer Zeitökonomie, wonach Zeit, als gebündelte eingesetzt, nutz- und gewinnbringend den Takt der Arbeit und das Tempo 1 | In der mittelalterlichen Gesellschaft, die sich auf eine göttliche Ordnung berief, galt Zeit als göttliches Gut, das sorgsam verwaltet und arbeitsam ausgefüllt, für ein jenseitiges Leben qualifizierte. Hier unterlag die Zeit jedoch nicht der linearen Verausgabung, sondern war eingebettet in einen zyklisch wiederkehrenden Rhythmus von Arbeitsaufgaben; vgl. dazu Hohn 1984.

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66 | In der Zerstreuung organisiert des Marktes bestimmt, bringt die Auffassung hervor, die Zeit der Muße sei eine der ›Ablenkung‹ und ›Zerstreuung‹. Die Romanlektüre lenkte aber nicht nur von der ökonomischen Wirklichkeit ab, sondern machte den Einzelnen für ein tätiges Leben in der Gesellschaft unbrauchbar, ja letztlich sogar untauglich. Insbesondere eine Literaturgattung, deren Ideal die romantische Entgrenzung, die Idealisierung der Helden und die gefühlsstarke Maßlosigkeit war, stand im Verdacht, anfällig zu machen für Sentimentalitäten, die im Modell des disziplinierten Selbst nicht vorgesehen waren und dieses gefährdeten. Sie setzte jene Empfindsamkeit und Einbildungskraft frei, durch welche die – immer fragile – Mäßigung und emotionale Gleichförmigkeit, die das bürgerliche Subjekt auszeichneten, aufs Spiel gesetzt wurden. Diesen Eigenschaften aber verdankte das kontrollierte bürgerliche Subjekt, dass es sich als nützliches Glied der Gesellschaft erwies. Die Gefahr bestand also darin, dass es seinen emotionalen Halt verlor und damit unproduktiv wurde. Wenn aber die Romanlektüre schon allein dadurch verführerisch wirkt, dass sie durch emotionale ›Aufladung‹ eine Bewegtheit im Innern des Subjekts produziert, die, »außer manchen […] Verstimmungen des Gemütes«, zur Folge hat, »dass es die Zerstreuung habituell macht« (Kant 1983 [1798]: 139), also zum gewohnheitsmäßigen Zeitvertreib wird, dann ist damit nicht nur das einzelne Subjekt, sondern die gesamte Gesellschaft gefährdet. Immanuel Kant behandelt in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) die Zerstreuung unter der Rubrik »Gemütsschwächen im Erkenntnisvermögen« (1983: 134f.). Er hebt darauf ab, dass die Romanlektüre, ungeachtet des Wirklichkeitsbezugs der Charaktere und der Systematik der Darstellung, dem Gemüt während des Lesens Abschweifungen mit einzuschieben gestatte, die notwendigerweise den systematischen Gedankengang zerstören. Damit aber stört die Zerstreuung durch Unterhaltungsliteratur nicht nur die vorgegebene Ordnung des Denkens, sondern auch die strikte Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine geordnete Außen- und Innenwelt des Subjekts. Das aber wirkt sich wiederum nachteilig auf einen rationalen, ›unverstellten‹ Selbst- und Wirklichkeitsbezug aus. Die Abschweifung bedroht jedoch nicht nur die routinisierte, mentale Gleichförmigkeit des bürgerlichen Subjekts, das sich seiner maßvollen Verfasstheit durch Verkörperung moralischer Maxime versichert. Sie gestattet dem Leser darüber hinaus, Rückschlüsse auf die eigene Lebenssituation zu ziehen, was zu unberechenbaren Formen des Selbstmitleids oder exzessiven Gefühlsausbrüchen verleitet. Beide Aspekte gefährden das Modell einer modernen, domestizierten Subjektivität, die, ungeachtet ihrer Dynamik und Mobilität, an der Bändigung überschwänglicher Gefühle und der maßvollen biographischen Selbstexploration nach den Kriterien eines allgemeinen, vernünf-

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2. Das Phantasma der Massenkultur | 67

tigen Bildungsprozesses ausgerichtet ist (vgl. Reckwitz 2004: 163f.).2 Das Bedürfnis nach Zerstreuung widerspricht also einer dem Anspruch nach ›anti-exzessiven‹ bürgerlichen Moral. Sie ist gegen die ›maßlosen‹, ›künstlich-unnatürlichen‹ und ›nutzlosen‹ Bestrebungen innerhalb des Subjekts gerichtet. Während sie die Moderatheit der Denk- und Körperbewegungen als Voraussetzung des stetigen Charakters, die ›natürliche Unverstelltheit‹ und die Nützlichkeit des Subjekts für die Gesellschaft prämiert, verwirft sie die ›maßlosen‹ Körper- und Gemütsbewegungen und ›haltlosen‹ ästhetischen Imaginationen und diskreditiert sie als gefährliche Ab-, ja, Ausschweifung (ebd.: 167).

Massenkultur als Chiffre einer diskursiven Ökonomie Besonders der Einwand, dass die Zerstreuung die ›Unverstelltheit‹ des Wirklichkeitsbezugs unterläuft, wird immer wieder gegen die Massenkultur vorgebracht, mit deren Durchbruch zum kulturellen Mainstream sich die Probleme eines authentischen Subjekts und Realitätsbezugs verschärft haben. Dabei rücken die Massenmedien in jene Diskursstelle ein, die vorher etwa die Romane mit ihrer verführerischen Romantisierung und ›Weltfremdheit‹ besetzten. Bedingt durch Verfahren der technischen Reproduktion und Simulation kommt es, so eine weit verbreitete Auffassung, »zu unentwirrbaren Durchmischungen realer Realität und fiktionaler Realität« (Luhmann 2004 [1995]: 148). Dadurch aber wird nicht zuletzt die Grenze 2 | Dieses Modell wird an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durch das Modell einer romantischen, ästhetisch-expressiven Subjektivität konterkariert, das darauf abzielt, das »›kreative‹ Subjekt, das versucht, eine Vielfalt von Erlebens-, Wahrnehmungs- und Gefühlsformen in sich hervorzurufen« (Reckwitz 2004: 157), zu erproben. Reckwitz kontrastiert daher zwei leitende, konkurrierende Subjektcodes der Moderne, die das Subjekt konträr modellieren: zum einen das in der bürgerlichen Kulturtradition stehende Subjektmodell, wonach das Subjekt, durch soziale Disziplinierung hervorgebracht, auf die Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit sowohl körperlicher als auch mentaler Bewegungen abstellt. Dieses Modell findet sich in der Tradition modernitätstheoretischer Ansätze sowohl bei Max Weber (1964), Norbert Elias (1990) wie auch in der genealogischen Rekonstruktion der Disziplinargesellschaft bei Michel Foucault (1976a). Zum anderen beruft sich Reckwitz auf ein in der Tradition ästhetischer (Gegen-)Bewegungen stehendes Subjektmodell, das sich eher am Modell des Künstlers, der ästhetischen Einbildungskraft und der Dynamik der ›Bewegtheit‹ orientiert (vgl. Reckwitz 2004: 158). Es ist die Frage, ob es sich, wie Reckwitz annimmt, um zwei verschiedene Subjektmodelle handelt oder um verschiedene Aspekte ein und desselben bürgerlichen Subjektmodells, das in der Selbstinszenierung der bürgerlichen Gesellschaft auseinander fällt.

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68 | In der Zerstreuung organisiert zwischen Authentizität und Künstlichkeit der Erfahrung ständig unterlaufen. Realität und Individualität konstituieren sich demnach im Kontext eines subjektiv nicht mehr kontrollierbaren Anschauungswissens, das die Massenmedien bereitstellen. Dessen Bezug auf das Selbst wird, ungeachtet gleichzeitig medial erzeugter Ungewissheiten und Irritationen, in der Art von »So-ist-es«-Erlebnissen medial gleich mit angeboten. In der trübsinnigen Wiederholung des Banalen und der Festschreibung dessen, was ist, liegt mithin ihr »erbarmungsloser Realismus« (Demuth 2004: 55). Indem sie »die Dinge schlicht, die Verhältnisse simpel, die wachsenden sozialen Härten volkstümlich« mache und »die Gesellschaft über simpelste, obszönste, skandalisierte Einheiten integriert« (ebd.: 56), bewege sich Massenkultur als Medienkultur in einem »Zirkel der Weltbestätigung« (ebd.: 57). Damit sei sie als »wichtigste kulturelle Praxis der Differenzverleugnung wirksam« (ebd.) und stabilisiere moderne Massengesellschaften über ökonomische Unterschiede und Binnendifferenzierungen hinweg. Gleichzeitig wird den Massenmedien attestiert, dass sie zu Medien der Daseinssteigerung, aber auch der nachhaltigen Verdrängung der Wirklichkeit geworden sind. Dadurch, dass sie, überall verfügbar, den Eindruck unmittelbarer Teilnahme am Weltgeschehen erwecken, sorgen sie dafür, dass der Wirklichkeitshorizont sich erweitert. Durch Modulation der Atmosphäre und Stimmung, aber auch in der Mobilisierung einer Körperlichkeit gehen sie über die Realität hinaus. Massenkultur bewegt sich demnach in einem Dilemma, oszillierend zwischen bloßer Reproduktion der Realität und Realitätsverlust. Es sind vor allem zwei Konzepte, auf deren Um- und Neukodierung sich die Befürchtungen konzentrieren, die sich in medienkritischen Diskursen, vor allem seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, herauskristallisieren lassen: das Konzept der Wirklichkeit und das Konzept der Individualität (vgl. Schneider 2001: 315f.). Schon in der Kritik an der Romanlektüre ist die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit, die einem authentischen Wirklichkeitsbezug gegenübergestellt wird, ein gängiger Topos (Luhmann 2004: 147). Dieser Topos gehört in Folge zum Repertoire einer Kulturkritik, die sich über weite Strecken als Technik- und Medienkritik entziffern lässt, hinter der sich jedoch mehr als die Angst vor der Ausbreitung technischer Medien verbirgt. So geht es zwar zum einen um eine Kritik an den Medien, denen, als technisch-symbolischen Dispositiven, eine wirkmächtige, strukturbildende Kraft der Erzeugung von Wirklichkeiten zugeschrieben wird. Indem ein mediales Konstrukt von der Wirklichkeit für die Wirklichkeit selbst ausgegeben werde – was dazu führe, dass Bild und Wirklichkeit sich immer mehr vermischen würden –, werde ihre Differenz medial stillgestellt.3 Auffällig ist hier, dass das »Gütesiegel der Authentizität« (der 3 | Dabei bildet die Rolle bildgebender Verfahren keineswegs ein Problem der

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Wirklichkeit, des Subjekts, der Face-to-face-Interaktion) erst in dem Augenblick ein immer stärkeres Gewicht erhält, in dem Strategien der Authentifizierung nicht mehr von Prozessen der zunehmenden Medialisierung abzulösen sind (Schneider 2001: 321f.). Zum anderen aber greifen kulturkritische Diskurse zu Massengesellschaft und Massenmedien auf Argumentationsmuster zurück, die sich auf die Gefährdung des Subjekts und seines Anspruchs auf Unverwechselbarkeit und Authentizität beziehen. Im Fokus dieser Argumentation steht der ›Absolutismus‹ einer Wirklichkeit, in der ›die Masse‹ uneingeschränkt zu regieren scheint. Bezeichnet ist damit ein Regime, das sich der Logik des ›Massenindividualismus‹ verschreibt. Dabei hebt dieser Begriff, den Werner Sombart in seiner Schrift »Der proletarische Sozialismus« (1924) zur Kennzeichnung »der Wesenseigentümlichkeit der völlig unterschiedlosen Masse des Proletariats« (ebd.: 103) verwendet, in seiner Nivellierungstendenz zunächst auf den Grundzug des Egalitarismus ab.4 Darüber hinaus aber haftet ihm ein Ressentiment an, das sich gegen die unteren Schichten und das Schreckgespenst der Idee einer kollektivistischen Lebensgestaltung, vor allem aber gegen die Vorstellung, ein belangloses Glied einer riesigen Produktions- und Konsummaschinerie zu sein, richtet. Diese Sorge um das Subjekt zieht sich wie ein roter Faden durch Einschätzungen der Massenkultur. Sie erscheint als moralisches Dilemma der Moderne, in der der Mensch, zunehmender Vergesellschaftung und dem nivellierenden Druck massiver institutionalisierter Formen der Freizeitgestaltung ausgesetzt, in seiner geistigen und moralischen Verfassung gefährdet erscheint. In seiner Standortbestimmung der Massenkultur kontrastiert Leo Löwenthal durch Konstruktion eines fiktiven philosophischen Dialogs zwei historische Positionen, die dieses Dilemma veranschaulichen: Auf der einen Seite die positive Haltung von Montaigne, der schon im 16. Jahrhundert, nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Kultur, die Zerstreuung als Ausweg aus den Spannungen einer nachfeudalen, glaubenslosen Welt vorschlug, »da Vielfalt immer tröstet, befreit und ablenkt« (Montaigne 1953, Massenkultur des 20. Jahrhunderts; vielmehr ist die technische Spiegelung und Implementierung von Mensch und Wirklichkeit ein Problem der Neuzeit, die in der Tradition der Mechanisierung des abendländischen Weltbildes seit der Renaissance steht. Zu den anthropologischen Konsequenzen technikhistorischer Metaphern und medialer Anatomien von Mensch und Wirklichkeit vgl. den Band von Keck/Pethes 2001. 4 | Demnach verwirklicht sich das bürgerliche Ideal des Gleichheitsanspruchs, das sich auf politische Rechte bezog, jenseits der politischen Sphäre als GleichheitsKonsumideologie.

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70 | In der Zerstreuung organisiert zit. n. Löwenthal 1980: 11). Auf der anderen Seite die skeptische Position Blaise Pascals, der ein Jahrhundert später, als sich bereits eine bürgerliche Kultur entwickelt hat, vor der völligen Unterwerfung des Menschen unter rest- und rastloses Tätigsein auch in Zeiten der Muße warnt: »Man belastet die Menschen schon von ihrer Kindheit an mit der Sorge um ihre Ehre, um ihren Besitz, ihre Freunde und weiter um den Besitz und die Ehre ihrer Freunde. Man überhäuft sie mit Beschäftigungen […]. So schafft man ihnen Aufgaben und Geschäfte, die sie den geschlagenen Tag quälen. – […] Nichts wäre nötig, als ihnen all diese Sorgen abzunehmen, denn dann werden sie sich selbst sehen, sie werden darüber nachdenken, was sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen; und deshalb kann man sie nie zu viel beschäftigen und ablenken. Darum rät man den Menschen, nachdem man sie so auf Beschäftigung eingestellt, wenn sie Zeit zur Muße haben, sie zu benutzen, um sich zu zerstreuen, zu spielen und immer restlos beschäftigt zu sein. Wie hohl und voll Tand ist doch das Herz des Menschen!« (Pascal zit. n. Löwenthal 1980: 12).

Während also einerseits betont wird, dass der Mensch in der angespannten Situation der Moderne ein Recht auf Ablenkung und Zerstreuung habe, um der Zerstörung durch Einsamkeit und Isolierung zu entgehen, wird andererseits aus Sorge um die geistige und moralische Verfassung des Menschen auf die Gefahren der Zerstreuung hingewiesen, da sie, als Ausgeburt der Frustration des Menschen, »nur zum ewigen Unheil führen könne« (Löwenthal 1980: 12): »Wenn ich mir mitunter vornahm, die vielfältigen Aufregungen der Menschen zu beobachten […], so fand ich, daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich, daß sie unfähig sind, in Ruhe in ihrem Zimmer zu bleiben. […] Sie haben einen geheimen Trieb, der sie treibt, außer Haus Zerstreuungen und Beschäftigungen zu suchen, was der Mahnung ihres währenden Elends entstammt« (Pascal zit. n. Löwenthal 1980: 12f.).

Bildet die Zerstreuung für die einen den Gegenpart zur Ökonomie, so ist sie für die anderen die Fortsetzung der hektischen Aktivität, mit der das ökonomische und industrielle Prinzip sich als unentwegte Betriebsamkeit in der Gesellschaft ausbreitet. Rastlosigkeit und das Streben nach Glück bilden demnach – auf dem Hintergrund des schwindenden Einflusses der Religion und einer zunehmend von Zwängen und Pflichten befreiten Zeit – das soziale Hauptproblem einer zunehmenden Vergesellschaftung des Individuums in der Moderne, in der das ›einsame Subjekt‹ dem Vakuum, das die Religion hinterlässt, durch Zerstreuung und Unterhaltung zu entfliehen versucht.

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Einsamkeit und Zerstreuung sind aber Begriffe, die auf ein Drittes, nämlich auf kulturelle Veränderungen und mit ihnen auf ein ›Mehr‹ an Gesellschaft verweisen. Mit der »Entzauberung der Welt« (Max Weber 1964) durch zunehmende Rationalisierung weiter Lebensbereiche konstituiert sich Gesellschaft als derjenige Funktionszusammenhang, in dessen Rahmen die Individuen durch einen marktförmigen Mechanismus in Austausch miteinander treten. Massenkonsum und Massenkultur sind Ausdruck dieser marktvermittelten Ökonomie und sie sind zugleich die ›Gabe‹, über die sich die Präsenz der Massen, denen am Markt nur die Verausgabung ihrer bloßen Arbeitskraft bleibt, in die Gesellschaft einschreibt. Dem entspricht für das bürgerliche Individuum eine methodische, prinzipiengeleitete Lebensführung und eine utilitaristische, am wirtschaftlichen Nutzen und am eigenen Vorteil ausgerichtete Lebenshaltung, die in der Etablierung eines Bereichs der Intimität und der Geselligkeit, des Konsums und der Zerstreuung ihr Gegenüber findet. Mit dem »Massenindividualismus« aber kündigt sich für verfallstheoretische Diskurse die ›Gewaltherrschaft der Masse‹ als »zusammenhanglosem, amorphen Bevölkerungshaufen« an, »die aller Gliederung bar, vom Geist, das heißt von Gott verlassen, eine tote Menge von lauter Einsen bilden« (Sombart 1924: 99). Hier geht es um eine Vergesellschaftungsform individualisierter Einzelner, die nicht mehr in den Zusammenhang bürgerlicher Vergemeinschaftungs- und Gesellungsformen überführt wird. Durch eine entpolitisierte Konsum- und Medienöffentlichkeit wird das Ideal des sich seines Selbst bewussten, autonomen Individuums, das sich zudem von anderen unterschieden weiß, vom unterschiedlosen, unmittelbar miteinander verkehrenden ›Massenindividuum‹ aufgezehrt. Denkfigur ist eine ›kultivierte Ursprünglichkeit‹ im Umgang mit sich selbst und anderen, der eine im ›Massenindividualismus‹ eingeebnete Form von Individualität gegenübergestellt wird. Es geht dabei, folgt man der kulturkritischen Argumentation, nicht primär um Phänomene der physischen Massierung der Individuen und ihre in sozialen Bewegungen organisierte, bedrohliche Materialität. Im Vordergrund stehen vielmehr die ›geistlose‹ Zusammenballung und die als regressiv eingestufte Uniformität der Massenkristallisation, der die Standardisierung eines ›Massengeschmacks‹ entspricht. War Geschmack zu haben bis dahin ein Privileg vermögender und gebildeter Schichten, so sind es jetzt alle, die in den Genuss kommen, auszuwählen, was ihnen gefällt und was nicht. Geschmack zu haben wird zu einem endemischen Phänomen mit Verfallserscheinungen. Der ›Massengeschmack‹ bezieht sich in seinen gleichmacherischen Tendenzen, so wird angenommen, nicht mehr auf die Dinge in ihrer stofflichen Materialität und Nützlichkeit. Was hier zählt, sind Ästhetik und Design der

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72 | In der Zerstreuung organisiert Dinge und ihre symbolische Bedeutung im Kontext sozialer Abgrenzungsund Anerkennungsprozesse. Damit kommt seitens der kulturkritischen Argumentation die Kritik der Verdinglichung und des ›Warenfetischismus‹ ins Spiel. Im Verweis auf die Unverfügbarkeit einer Welt warenförmig produzierter Dinge, von denen angenommen wird, dass sie den Individuen fremd gegenüber stehen und sich nicht mehr in ihrer Materialität erschließen, wird auf den Surrogatcharakter einer künstlichen Konsum- und Warenwelt abgehoben, die ›die Masse‹ durch den schönen Schein, die schillernde Aufmachung der Waren blendet. Die Herausbildung einer Warenwelt gilt daher nicht als bloße Versachlichung der Wirklichkeit, sondern als ›Verdinglichung‹ und ›Ersatzbildung‹. Die Vorherrschaft der Bedeutungen, festgemacht an der Kultivierung warenästhetischer Oberflächen, erscheint daher als typische Wahrnehmungsform einer kapitalistisch organisierten Waren- und Konsumgesellschaft, in der nicht nur die Wahrnehmung der Dinge verkümmert, sondern auch die Dinge selbst sich verändern. Aus dieser Sicht firmiert das ›Massen- und Dinghafte‹ der Massenkultur als kulturelle ›Verfallserscheinung‹ gegenüber einem gewissermaßen ›ursprünglichen‹ Zustand einer ›natürlichen‹ Kultur. Unterstellt wird, dass hier die stoffliche Materialität der Dinge noch auf ihren unmittelbaren Gebrauchswert und ihre Nützlichkeit verweist und das Individuum sich ihrer jenseits imaginierter Bedeutungen bemächtigt.5 In kulturkritischer Perspektive markiert der Begriff der »Kulturindustrie« (Horkheimer/Adorno 1981 [1947]), als Formel für die Verschränkung von kapitalistischer Ökonomie und Kultur, die Auflösung einer am bürgerlichen autonomen Individuum orientierten Kultur. Ausgemacht scheint deren Überführung in den monolithischen Block einer am Eskapismus und an der Trivialität des profanen Lebens orientierten Unterhaltungskultur, in der die Wünsche gleichförmig zugerichteter, wenn auch partikularisierter

5 | Die Rhetorik etablierter kulturkritischer Diskurse rekurriert mithin auf eine Dichotomie von Nützlichkeit und ästhetischer Aufladung der Dinge, von utilitaristisch und hedonistisch ausgerichtetem Konsum. Zugleich greift sie auf historische Zustände zurück, in denen der Objekt- und Selbstbezug jeweils unterschiedlichen Logiken zu folgen scheint. Unterstellt wird auch hier die mögliche Unverstelltheit des Selbst- und Weltbezugs sowie der ausschließlich über die materielle Beschaffenheit der Dinge gestiftete Objektbezug, der sich auf deren Gebrauchswert und Nützlichkeit, nicht aber auf deren symbolischen und imaginativen Wert bezieht, wie dies im Konsum der Warenkultur der Fall ist. Dagegen lässt sich vorbringen, dass auch in Gesellschaften mit extrem geringem Sachbesitz die Nützlichkeit der Dinge keineswegs Vorrang gegenüber deren ästhetischer Aufladung hat; vgl. dazu Hahn 2004.

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›Massen‹ durch das »Monster Kulturindustrie« (Eco) monetarisiert werden.6 Der Begriff der »Kulturindustrie« steht mithin nicht nur für die industrielle Produktionsweise einer Kultur, deren wesentliches Merkmal das kapitalistische Prinzip der Marktökonomie bildet. Mit der ökonomischen Verwertung des Kulturellen steht er vor allem für dessen Entwertung als schöpferische, ästhetische Kraft. Impliziert ist mit der Kommerzialisierung technisch-medial und ästhetisch produzierter Universen von Kultur-Waren die Reduktion des Kulturellen auf Erlebnis und Genuss und die Integration des Warenkonsums in vorgeformte Gesellschaftsbilder. Damit steht der Begriff der Kulturindustrie für die Gefährdung des Projekts der Aufklärung, das den Menschen als vernunftbegabten voraussetzt. Dieses wird allerdings selbst schon in der Instrumentalisierung des Wissens für die technologische Verfügung über Natur und Mensch korrumpiert und verkommt bereits im Ansatz zum Herrschaftsinstrument, da sie die Dinge gewaltsam zu verändern trachtet (vgl. van Reijen 2004: 110). Kulturindustrie stellt sich so letztlich als Realisierung einer instrumentellen Vernunft dar, die die künstlerische Gestaltung und deren emanzipatorische Kraft zu bloßen Waren herabwürdigt und durch Vermarktung entwertet, wenn nicht gar zerstört. Aus dieser Perspektive verkommt auch das Individuum zum Vollzugsorgan einer kapitalistischen Ökonomie, in der es selbst zum Ding ›mutiert‹. Berechenbar und austauschbar wie eine Ware, verselbstständigt sich das Denken zum automatischen Prozess. Zerstreuung, Unterhaltung und Amüsement erweisen sich dann als ›Stahlbad‹ für den Einzelnen innerhalb seiner produktiven Kapitalisierung und ideologischen Gleichschaltung (Horkheimer/Adorno 1981 [1947]). Die in kulturkritischen Diskursen vorgebrachten Argumente lassen sich auf die Frage zuspitzen, wie sich das Subjekt angesichts des »Massenindividualismus« retten lässt (Schneider 2001: 318). Folgt man dieser Argumentation, dann droht das Subjekt, das sich seiner in der Autonomie des Denkens und einer Struktur der Selbstbeziehung versichert, in der Standardisierung und damit in der Egalisierung des Massenindividuums, wenn nicht darüber hinaus in der Massenkonformität zu verschwinden. Hierzu

6 | Der Begriff der Kulturindustrie hebt darauf ab, dass der Träger dieser Kultur das Gesamtsystem kapitalistischer Warenproduktion ist. Er ersetzt den in der Dialektik der Aufklärung ursprünglich vorgesehenen Begriff der Massenindustrie, der das Missverständnis hervorruft, es handle sich dabei um eine von den Massen hervorgebrachte Kultur. Im Begriff der Kulturindustrie wird hingegen hervorgehoben, dass es sich dabei um eine an Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Warenproduktion orientierte, relativ klassenunabhängige Kultur handelt, die die Gesamtheit der Bevölkerungen westlicher Industriestaaten einschließt.

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74 | In der Zerstreuung organisiert gehört dann auch der Verlust der Autonomie, derer sich der Mensch als Subjekt möglicher Objekte versichert und denen er sich in der Autonomie seines Denkens überlegen fühlt.7 Die in verfallstheoretischen Diagnosen artikulierte Sorge um das Subjekt zehrt von humanistischen Prämissen, die das Subjekt zum normativen Angelpunkt der Gesellschaft erheben und es als geschichtsträchtiges Subjekt in ein – teleologisches – Modell von Geschichte und Gesellschaft einsetzen, das an individuelle Bildungsanstrengungen und selbstgesteuerte Affektregulierung gebunden ist. Die Folie dieser kulturkritischen Analysen bilden Annahmen über die Natur des Menschen sowie über das Zivilisationsprojekt der Moderne. Aus ihnen werden in intellektuellen Endzeitszenarien nicht nur die Marginalisierung und die Erosion einer privilegierten Sinnlichkeit und Ästhetik – der Museen und Ausstellungen – durch die Warenästhetik der Kaufhäuser und die Unterhaltungsindustrie der Medien abgeleitet, sondern der Verfall von Kultur überhaupt beklagt. Kultur wird hier in Verbindung gebracht mit dem Sinn für das Höhere und das Schöne, vor allem aber mit Selbstbildung. Sie findet in der Einsamkeit eines als solches zunächst »leeren Subjekts« (Hegel) statt, ist aber vermittelt über die Geselligkeit mit anderen. Im Rückgriff auf einen eingeschränkten, humanistischen Kulturbegriff, der, auf der Folie eines kulturellen Fortschrittsmodells abgebildet, den normativen Maßstab abgibt, wird die »Fallhöhe« des zivilisatorischen Niedergangs im Bezug auf eine profane Gegenwartskultur, die sich nicht der – geistigen und ästhetisch-künstlerischen – Selbstvervollkommung des Menschen jenseits des Alltäglichen verschreibt, gleich mit angegeben. In der Flüchtigkeit einer auf Zerstreuung ausgerichteten effektiven Erlebnisrationalität, in der die »Kulissen des Glücks« als »Projektionsflächen für Gefühle, Wünsche und Phantasien« (Schulze 2000: 11) allgegenwärtig und alltäglich geworden sind, verflüchtigen sich so die Hoffnungen einer Kultursemantik, die auf die Stimme der Vernunft und des Geistes setzt. Im »kollektiven Glücksdiskurs« (Schulze 2000, 2003) gerinnt Kultur demnach zur Manipulation konsumierender Individuen, deren Bewusstseinsdeformation zum Massenschicksal apostrophiert wird (Horkheimer/Adorno (1981 [1947]). Massenkultur steht so als Szenario von Unterhaltung und Vergnügen, aber auch hedonistischem Konsum, für die Entfesselung derjenigen Kräfte, die mit ihren ›unwiderstehlichen Lockungen‹ das Gegenteil von Disziplin und Selbstzwang signalisieren. Ihr werden Vielfalt der Ablenkungen und Hingabe an das Unwiederbringliche des Augenblicks zuge7 | Die hier zugrunde gelegte Subjektkonzeption entspricht dem Ideal einer idealistischen Subjekttheorie, dessen Realisierung an materielle Bedingungen gebunden sind, die, den Interessen des aufsteigenden Bürgertums verpflichtet, als allgemein-menschliche ausgegeben werden.

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schrieben. Sie repräsentiert, wie der kontemplative Kunstgenuss bürgerlicher Kultur, den bloßen Gegenpol zum Zwangscharakter von Arbeit und Vernunft. Als Inbegriff bloßer Zerstreuung, die in der Bereitstellung vorsätzlich hergestellten »Schunds« und in der Vervielfältigung vorfabrizierter Denk- und Gefühlsklischees die »zerstreute Masse« in einem Zustand tagträumerischer Geistesabwesenheit hält, bildet sie den Gegenpol bürgerlicher Hochkultur. Allerdings bleiben Disziplinierung und Selbstzwang von beidem, bürgerlicher Kultur und Massenkultur, unberührt.8 Eine dem humanistischen Ideal verbundene Kultur, die sich der Überschreitung des Gewöhnlichen versichert, kommt hier, so scheint es, an ihr kulturindustriell produziertes Ende. Sie erscheint unvereinbar mit dem Geschäft einer Massenkultur, die, im Materialismus befangen, das Sein aus dem Haben materieller Gegenstände ableitet.9 Damit aber fällt zugleich das Bollwerk gegen die Flut des ›niedrigen Materialismus‹ und ›des Vulgären‹. Aber genau diese Einbruchstelle, die für kultur- und zivilisationskritische Diagnosen den Überschwang eines sinnentleerten, hedonistischen Massentreibens markiert, verweist auf die integrative Kraft der Massenkultur. Sie hebt die Abgrenzungsbestrebungen einer bildungsbürgerlichen Elite von der Masse in einer klassenübergreifenden kulturellen Praxis auf. Mit der Steigerung der ästhetischen Wirklichkeitsauffassung wird die Differenz einer an normativen Maßstäben orientierten, anspruchsvollen Hoch- und 8 | Im »Kulturindustrie«-Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno (1981 [1947]) steht die homerische Erzählung von den Irrfahrten des Odysseus als »Grundtext der europäischen Zivilisation« (ebd.: 61) allegorisch für den Zwangscharakter aufklärerischer Vernunft: Sie markiert den defizitären Status eines Konzepts von Subjektivität, die als entsagende bereits im Akt ihrer Entstehung zerstört wird, insofern das Selbst, das sich immerzu nur bezwingt, sich selbst verfehlt. Vorgeführt wird hier das disziplinierte Subjekt, das sich noch im Kunstgenuss seiner Herrschaft über Natur versichert. 9 | Die großbürgerliche Variante dieses Materialismus findet sich allerdings bei den Vertretern der kritischen Theorie zuhauf; sie unterscheidet sich allenfalls in der Zuordnung des hedonistischen Moments des Lebens, des erlesenen Geschmacks, zu einer gehobenen sozialen Klassenposition. So bezeugt Max Horkheimer in seinen Schriften die Bedeutung – der Genussfähigkeit – der großbürgerlichen Familie für den Fortbestand der Kultur: »Die ›späten‹ Bürger […] sind genußfähig, ihr Materialismus ist ganz ehrlich, sie schmähen das gute Leben nicht. Sie verstehen etwas vom Feuer guten Weins und vom Reiz einer gepflegten Frau, sie lieben die italienische Landschaft und die Küsten Frankreichs und haben die Sicherheit und den Überblick, den nur eine lange Zugehörigkeit zur Klasse verleiht« (Horkheimer 1987, zit. n. van Reijen 2004: 105).

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76 | In der Zerstreuung organisiert Elitenkultur und einer kulturkritisch als Kitsch apostrophierten Populärkultur außer Kraft gesetzt.10 Deren sichtbarster Ausdruck ist »die überbordende Produktion von Zeichen und bildhaften Bedeutungen in der Konsumkultur, speziell in den elektronischen Massenmedien« (Dröge/Müller 1995: 11). Das Konzept der Massenkultur löst ein Kulturkonzept ab, das sich dem humanistischen Projekt der Selbstentfaltung und Vervollkommnung des Menschen verschrieben hat – und treibt es gleichzeitig voran. Perfektabilität zeigt sich nun auf der Oberflächenstruktur der technisch-medialen und ästhetischen Anordnung der Waren, der Körper und der Subjekte. Vorherrschend ist, auch und gerade in der Selbstinszenierung, das Ideal der Warenästhetik (Haug 1973 [1971]), das sinnstiftend wird. Damit aber wird die hegelsche Bestimmung von Arbeit als »gehemmter Begierde«, der kulturkritisch die Position eines »enthemmten Konsumismus« gegenübergestellt wird, ebenso obsolet wie die Trennung einer an ästhetischen Werken orientierten »legitimen« Kultur von einer »illegitimen« unästhetischen Kultur der »Massen« außer Kraft gesetzt wird (Bourdieu 1984). Die in die Hierarchie kultureller Praktiken eingeschriebene Distinktionsfunktion von Kultur befindet sich nun auf der Ebene der Massenkultur selbst. Sie ist gegenläufig zum Grundzug der Massenkultur, der Verschiebung, wenn nicht gar Umkehrung des Verhältnisses von stilbildender Elite und Masse. Dieses Verhältnis wird durch den verstärkten Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu Konsumgütern und die massenmediale Teilhabe an der kulturindustriellen Produktion, durch anti-hierarchische Formen der Begehrensartikulation und deren egalisierende Effekte abgelöst, die als Demokratisierung von Kultur Eingang in die Debatte über Massenkultur gefunden haben (vgl. Maase 1997). Damit aber erfährt das Konzept von Kultur selbst eine Veränderung: Kultur, verstanden als »Summe der verfügbaren Beschreibungen, mittels derer Gesellschaften ihre gemeinsamen Erfahrungen sinnhaft erfahren und ausdrücken […] nimmt die frühere Betonung von ›Ideen‹ auf, unterzieht sie aber einer gründlichen Umarbeitung. Das Konzept von ›Kultur‹ wird selbst demokratisiert und gesellschaftlich reflektiert. Es besteht nicht länger aus der Summe des ›Besten, was je gedacht und geschrieben wur10 | Diese Position kennzeichnet, neben historischen Untersuchungen zur Massenkultur wie denen von Dröge/Müller (1995), Maase (1997) und Eco (1984), vor allem den angloamerikanischen Ansatz der Cultural Studies, in deren Zentrum der Begriff der Populärkultur steht, der kritisch sowohl gegen den normativen Kulturbegriff als auch gegen das Konzept einer einheitlichen und monolithischen Massenkultur gerichtet ist.

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2. Das Phantasma der Massenkultur | 77 de‹, als der Höhepunkt einer entwickelten Zivilisation – das Ideal von Perfektion, nach dem in der früheren Bedeutung alle strebten. Sogar die ›Kunst‹ – der in der früheren Auffassung eine privilegierte Position als Maßstab für die höchsten Werte der Zivilisation zugewiesen wurde – wird nun neu definiert als nur eine spezielle Form eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses: das ›Geben‹ und ›Nehmen‹ von Bedeutungen und die langsame Entwicklung ›gemeinsamer‹ Bedeutungen – einer gemeinsamen Kultur: ›Kultur‹, in diesem speziellen Sinn, ist etwas ›Gewöhnliches‹« (Hall 1999: 17).

In dieser Auffassung von Kultur ist kein Platz für die Unterscheidung von Hoch- und Massenkultur. Kultur ist zu einem eigenständigen System kultureller Äußerungen und kulturellen Lebens, zu einer umfassenden Form kultureller Kommunikation geworden: »Wenn sogar das höchste, kultivierteste an Beschreibungen, das in Werken der Literatur dargeboten wird, ebenso ›Teil des allgemeinen Prozesses ist, der Traditionen und Institutionen schafft, durch die die Bedeutungen, die für die Gemeinschaft wertvoll sind, geteilt und aktiv verwendet werden‹, dann gibt es auch keine Möglichkeit, diesen Prozess von den anderen Praktiken des historischen Prozesses zu trennen, zu diskriminieren und abzugrenzen« (ebd.: 17).

Ein Kulturkonzept, das auf Kultur, verstanden als »ganze Lebensweise« bezogen wird, ist nicht zuletzt gegen krude Versionen eines ökonomischen Determinismus im Sinne des Basis-Überbau-Schemas gerichtet, wonach das ›Reich der Ideen‹ und Bedeutungen, einem kulturellen Überbau zugeschrieben, durch die ökonomische Basis der Gesellschaft bestimmt wird. Es zielt vielmehr darauf ab, die Sphäre der Kunst eben nicht von der Sphäre der Produktion, der Ökonomie, der Politik und der verschiedenen Lebensformen zu trennen, sondern die gesellschaftlichen Praktiken und die »Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise« (ebd.: 19) zu untersuchen. Es geht also nicht mehr darum, bestimmte Bereiche der gesellschaftlichen Kommunikation hervorzuheben, ihnen Priorität einzuräumen und andere beiseite zu schieben oder sie mit Dingen außerhalb ihrer selbst zu vergleichen: »Die Unterscheidungen zwischen Praktiken werden dadurch überwunden, dass sie als verschiedenartige Formen von Praxis […] betrachtet werden. Die zugrunde liegenden Muster […] sind die charakteristischen Formen ihrer Organisation, die ihnen allen zugrunde liegen und die daher in ihnen allen nachgezeichnet werden können« (ebd.: 19f.).

Kultur wird hier nicht auf ideell-imaginative und künstlerisch-ästhetische

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78 | In der Zerstreuung organisiert Phänomene eingeengt, sondern von der bloß ästhetischen Dimension – der Dinge – in die Ebene der kulturellen Praktiken verschoben. Sie dient als analytisches Konzept, das den begrifflichen und sprachlichen Rahmen, innerhalb dessen Gesellschaften ihre Existenzbedingungen klassifizieren, zu rekonstruieren erlaubt. Gesellschaft stellt sich diesem Ansatz zufolge über das Gesamt bedeutungsstiftender Praktiken her. Das heißt dann aber auch: Die soziale Welt wird nicht lediglich kulturell repräsentiert, sondern sie wird durch kulturelle Bedeutungspraktiken erst konstituiert und produziert. Poststrukturalistisch angeleitete Kulturtheorien gehen von einer ›agonalen‹, heterogenen Struktur moderner Kultur aus, die als in sich fragiles Gebilde von Kulturkonflikten, -kämpfen und Brüchen durchzogen ist und, ungeachtet der temporären Etablierung kultureller Hegemonien, immer wieder zur Disposition steht. Zentral ist dann nicht nur die Differenz verschiedener Versionen kultureller Modernität selbst, sondern auch die unterschiedlicher Subjektformen, in denen sich kulturelle Praktiken manifestieren. Das Subjekt bewegt sich demnach mit seinen Aneignungsvorgängen und Erfahrungen im Rahmen konkurrierender Formen der Kodierung und Dekodierung kultureller Praktiken. Es ist in andauernde kulturelle Kämpfe um Bedeutung und um den Wert kultureller Traditionen, die es in spezifische diskursive Räume von Erfahrung und Identität verweisen, verstrickt.11 In der diskursiven Positionierung des Subjekts und der Intertextualität der Kulturpraktiken ist die Freiheit des Subjekts als Produzent und Konsument 11 | Mit dieser Position ist eine wesentliche Differenz zwischen dem kulturalistischen und dem strukturalistischen Paradigma der angloamerikanischen Kulturtheorie bezeichnet. So hebt Stuart Hall darauf ab, dass strukturalistische Positionen die Bedeutung der dem Subjekt vorgängigen (Sprach-)Strukturen betonen, die das Subjekt ›sprechen‹, es also durch Akte der Bezeichnung erst hervorbringen. Widerständige Erfahrungen und Praktiken werden hier durch determinierende Strukturen gleichsam durchgestrichen, aber damit werden diese zugleich auch verkürzt auf eine ihnen innewohnende strukturale Logik. Stuart Hall verweist auf die Verkürzungen beider Ansätze: Während der kulturalistischen Position ein naiver Humanismus zugrunde liegt, der die Subjekte als voluntaristisch Handelnde konzipiert und damit auf die radikale Partikularität der Praktiken abstellt (vgl. Williams 1972; Willis 1979 u.a.), hebt die strukturalistische Variante lediglich darauf ab, dass die soziale Wirklichkeit wie eine Maschine mit selbst hervorgebrachten Abläufen funktioniert. Dennoch verweist diese, so Hall, stärker als kulturalistische Positionen auf die Komplexität der Wirklichkeit, deren Einheit durch ihre Differenz und Heterogenität hindurch, als mannigfaltiges Ensemble konstituiert wird. In der Dezentrierung der Erfahrung des Subjekts und dessen Wiedereinsetzung in die Struktur lässt sich, so Hall, schließlich eine Position umreißen, die um die Begriffe Sprache, Diskurs, Wissen und Subjekt angeordnet ist (vgl. Hall 1999).

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begründet. Die Einbettung kultureller Formen in spezifische historische und soziale Kontexte und der Verweis auf andere ›Texte‹ ermöglichen kreative Lesarten des Subjekts.12 Produkten der Massenkultur kommen durchaus kreative, auf subjektive Autonomie verweisende Rezeptionsweisen (nicht nur -möglichkeiten) zu, in denen das bürgerlich-humanistische Konzept des Subjekts im Spiel gehalten wird. Dabei wird der Deutungsspielraum des Subjekts durch die kulturellen Kontexte, die einschränkende oder aufschließende Wirkung ausüben, bestimmt. Im Vordergrund dieses kulturtheoretischen Ansatzes stehen die Ausweichbewegungen widerständiger Subjekte, die an den Kontrollpunkten dominanter Kultur, trotz vorübergehender Zustimmung, Widerstandspunkte bilden. Die Vielfalt der Vereinnahmungsstrategien und ihrer kreativen Beantwortung durch Widerstandsstrategien bilden den eigentlichen Fokus der angloamerikanischen Kulturtheorie.13 Zu Recht wird auf die Vielfalt von Machtverhältnissen und die Polysemie kultureller Bedeutungen abgehoben, woraus sich keineswegs auf massenkulturelle Allmachtsphantasien schließen lässt, die einseitig aus dem Blickwinkel der Manipulation der Massen betrachtet werden können. Verkannt wird jedoch, dass das – widerständige – Spiel der Zeichen längst zum Repertoire einer multioptionalen Massenkultur gehört, die Differenz an der Oberfläche der Zeichen und Symbole kommuniziert und damit widerständige Praktiken als grundsätzliche Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft einordnet (vgl. Sottong/Müller 1998). Dagegen verkennen ideologiekritische und manipulationstheoretische Ansätze, bei denen die zum Befund erhobene Überwältigung der Konsumenten durch die Produkte der Kulturindustrie bereits im Forschungsansatz angelegt ist, die umfassende Neukodierung gesellschaftlicher Wirklichkeit durch die Massenkultur. Indem diese lediglich auf kulturelle Auflösungserscheinungen, auf den Verfall moralischer Werte und das Verschwinden des schöpferischen Subjekts in einer manipulierten Wirklichkeit verweisen, geraten kollektive Ordnungsmuster und Szenarien aus dem 12 | Hörning verweist zurecht darauf, dass die materielle Objektwelt in sozialen und kulturellen Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion mitmischt; »naive Kulturansätze übersehen das; sie machen die Sachwelt in einseitiger Weise zu bloßen Objekten der Deutung, der Symbolisierung, der sozialen Konstruktion und vergessen dabei, daß nicht alles von der Interpretation des Subjekts abhängt« (Hörning 1997: 43f.). 13 | So bilden subkulturelle Stile als Mittel der Artikulation kultureller Kämpfe kreative Gegenentwürfe zur Hegemonialkultur und imaginäre Lösungen der ihr innewohnenden Widersprüche (vgl. u.a. Hebdige 1979 und 1999; Willis 1979; Clarke et al. 1979; Fiske 1999).

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80 | In der Zerstreuung organisiert Blick, die auf die systematische Neukonstitution aller Wirklichkeitsbereiche wie auch des Subjekts in einem expandierten Möglichkeitsraum abstellen (Makropoulos 2003: 158). Aus ihr ergibt sich eine Art »Gestaltungsimperativ« der Selbstführung (Schulze 2000: 32). Subjektivität bildet sich nun nicht mehr als feste und dauerhafte Form, als Identität heraus, sondern unterliegt fließenden sozialen Prozessen ihrer Erzeugung und Auflösung. Dieser hybriden, modulierenden Produktionsweise von Subjektivitäten und der Verflüssigung der Subjektivitätsform entspricht die Unbegrenztheit des Produktionsortes, die in ihrer Unbestimmtheit nicht mehr auf einen Ort beschränkt ist, sondern andauernd und überall stattfindet. Die Frage, was Massenkultur zu einem spezifisch modernen Phänomen macht, wird aus dieser Perspektive mit Blick auf Technisierung in einem übergreifenden Sinne – nicht beschränkt auf technisch-mediale Vorgänge und maschinelle Artefakte, sondern als Realitäts- und Selbstverhältnis, das sich paradigmatisch an Sozialtechnologien moderner Vergesellschaftungsprozesse aufweisen lässt – beantwortet (Makropoulos 2003: 159f.). Dieses Konzept überschreitet nicht nur alle Versuche, Massenkultur auf eine kulturelle Sparte der Unterhaltungs- und Freizeitkultur festzulegen oder sie als Gegenüber zur Kunst in die Tradition einer Eliten-, Volks- oder Popularkultur einzureihen, womit auch außer Frage steht, sie als kulturelles Epiphänomen zu betrachten. Ebenso wenig geht es darum, das Spezifische der Massenkultur lediglich in der Bedeutung der Medien und Technologien zu sehen, die der Massenkommunikation eine spezifische diskursive Form auferlegen. Ungeachtet der Frage, ob Massenkultur durch eine innere Ökonomie der Medien bestimmt wird, die ähnlich strukturiert ist wie ökonomische Prozesse (vgl. Winkler 2004), geht es hier um einen gesellschaftstheoretischen Ansatz, der auf die historisch-systematische Funktion von Massenkultur für die Konstitution und Integration moderner Gesellschaften abstellt und sie in ihrer positiven Bedeutung für demokratische Gesellschaften als gesellschaftliche Normalität einführt. Von der Etablierung der Massenkultur als gesellschaftlicher Normalität unbeirrt schreiben sich jedoch kulturkritische und -pessimistische Positionen, die für den ›gehobenen Anspruch‹ streiten, unter Rückgriff auf Diskursfiguren des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts fort. Ihr Hintergrundverständnis bildet die Vorstellung eines Subjekts, das sich, als Maß aller Dinge, als das unterschiedslos Menschliche eigen- und einzigartiger Individuen setzt und sich, so Sloterdijk, nur im Verzicht auf die »alltägliche Bestialisierung des Menschen in den Medien enthemmender Unterhaltung«, in der »Abstinenz von der Massenkultur« (Sloterdijk 1999: 18f.) realisieren lässt. Mit dem polemischen Gestus intellektuellen Ressentiments und im

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Vertrauen auf einen obsoleten kulturellen Wertekanon wird Massenkultur aus verfallstheoretischer Perspektive als nur mehr defizitär beschrieben.14 Das ›Projekt des schönen Lebens‹ und die massenmedial extensiv betriebene Inszenierung singulären Glücks erscheinen im Fadenkreuz kulturkritischer Diagnosen wortgewaltig als Kult des Trivialen und als Inbegriff des Vulgären schlechthin. In der »totalitäre[n] Extension des ›Alle‹« (Demuth 2004: 54) sei das Vulgäre zum »unangefochtenen Konsum- und Kulturstil«, ja, zur »sozioästhetischen Leitkultur« (ebd.: 56) westlicher Gesellschaftstypen geworden. Was sich aufgrund dieser ›Extension‹ als kulturelle Praxis etabliert, repräsentiert demnach eine manipulative Strategie, durch die sich das Triviale, in einfach verständlichen Formeln dem Glücksanspruch der großen Zahl gewidmet, Bahn bricht. Insbesondere die Massenmedien erscheinen in diesem Kontext als »ausgeklügelte Spiegelkabinette des Vulgären« (ebd.: 55). In bildhafter Sprache, die sich vor allem religiöser Metaphern bedient, ist vom »medialen Gott« und der »unerschütterlichen Glaubensgemeinde« (ebd.: 56) der Millionen Zuschauer die Rede, die sich selbst durch ein Höchstmaß an Entsetzlichem nicht beeindrucken ließen. Vielmehr söhnten sie sich mit einer tendenziell auf Unsicherheit basierenden neoliberalen Wirklichkeit aus, die die Selbstvermarktung als ganze Person einfordert, da sie ihnen als unausweichliche, dennoch aber individuell gestaltbare präsentiert werde. Medienkultur erwecke über Erlösungsformeln den Eindruck, der individuelle Traum vom Menschsein ließe sich jenseits des funktionalen Optimums verwirklichen. Das ›Erbauliche‹, sozusagen der menschliche Faktor, wird demnach in die Logik des Vulgären integriert und von dieser für die Erlösung »vom Stress des menschlichen Optimums« (ebd.: 57) funktionalisiert. Hierzu gehört die ganze Bandbreite medial veranstalteter Praktiken der Selbstenthüllung. 14 | Hier sind auch jene Plädoyers für die Verachtung der Massen anzusiedeln, die auf deren Entpolitisierung als partikularisierte Masse abheben (Sloterdijk 2000). Sie bewegen sich auf den Spuren der in die Moderne eingeschriebenen Signaturen eines vernünftig handelnden, geschichtsträchtigen und politisch aktiven Subjekts, das hier auf die Masse übertragen wird. Indem die Masse nicht mehr nur als formbares Material, sondern selbst als historisches Subjekt mit revolutionärem, gesellschaftsveränderndem Auftrag konstruiert wird, wird ein politisches Ideal in Anschlag gebracht, dem die individuierte Masse in der Massenkultur offensichtlich nicht nachkommt. Denn die Einschreibung jeglichen – politischen – Erwartungshorizonts in das ›Subjekt‹ Masse scheitert, so Sloterdijk, am demokratischen Impetus der Massenkultur: Hier zerbricht die ›Umwertung aller Werte‹ an der Maxime der Massenkultur, nämlich daran, dass die Massen sich selbst, aber auch ihren möglichen Führern, im Starkult auf gleicher Augenhöhe begegnen, Gleichheit also bereits verwirklicht ist.

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82 | In der Zerstreuung organisiert Vielleicht drückt sich in all dem, neben der voyeuristischen Lust am Sehen und Gesehenwerden, wirklich der Wunsch nach Zivilisations- und Subjektentlastung aus. Aber möglicherweise manifestiert sich in der medial inszenierten öffentlichen Praxis der Selbstoffenbarung eher eine »gewisse performative Produktion des Subjekts« (Butler 2003: 119), die immer schon im medialen Fokus eines anonymen, wenn auch interaktiv eingeschalteten Publikums stattfindet. Dann nämlich realisiert sich in der öffentlichen Manifestation des Selbst eine gesellschaftliche Beziehung auf das Subjekt, das sich in der permanenten öffentlichen Selbstdemonstration und -prüfung als solches erst ausweist. Die Geständnispraktiken und Bekenntnisrituale erscheinen dann weniger als erzwungene Praxis im Dienste einer medialen Ordnungsmacht, denn als veränderte Praxis der Selbstkonstitution. Die Authentizität des Subjekts wäre, so gesehen, ein Effekt medialer Anordnungen. Indem sie das Subjekt einer permanenten Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle unterstellen, erzeugen sie, was sie scheinbar korrumpieren, individualisieren sie, während sie gleichzeitig vervielfältigen. Mediale Dispositive wirken mithin als Individualisierungsdispositive, die in der Einbindung des Individuums in globale Strukturen eine Vielfalt singulärer Differenzen freisetzen. Bemerkenswert an den aktuellen Strategien, mit der Massenkultur reflektiert wird, ist der polarisierende Duktus und der zum Teil grotesk anmutende Jargon. Er verweist darauf, dass dieser Kritik selbst ein Mythos zugrunde liegt. Wenn sich die neue ›Religion des Wunderbaren‹ kulturkritisch als »verträglichste Form der modernen Degradierung des Menschen, seiner metaphysischen Erniedrigung, wenn nicht seiner Selbstverachtung« (Demuth 2004: 57) entpuppt, dann wird hier zweifellos vorausgesetzt, was mediale Anatomien der Medienkultur als bloß Inszeniertes bereitzustellen scheinen: die Authentizität des Menschlichen. Zugleich wird in der Beobachterperspektive Bezug genommen auf ein Subjekt, das in Anspruch nimmt, für ›den Menschen‹ zu sprechen. Das verweist auf eine Subjektkonzeption, die davon ausgeht, dass sich das Subjekt in ständiger, mühsamer Selbstreflexion über wechselnde ZeitRäume hinweg als Identisches, d.h. als dauerhafte und kohärente, stabile und begrenzte Subjektivitätsform ausbildet. Ein derart konzipiertes Subjekt versichert sich seiner Identität im vernünftigen Diskurs, in der Geselligkeit mit anderen, im öffentlichen Austausch publikumsbezogener, privatautonomer Subjekte (Habermas 1968). Diese historisch entstandene Figur des Subjekts wird zur überhistorischen stilisiert. Sie ist Bestandteil eines Mythos, der sich nicht an der Historizität der beschriebenen Phänomene ausweist, sondern ihnen jede Geschichte entzieht und diese stillstellt. Er erfüllt die legitimatorische Funktion der fraglosen Selbstbegründung: Was sich als

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Produkt der Geschichte auszuweisen hätte, wird zum essentiellen Typus, mit dem Zweck, »die Welt unbeweglich zu machen« und der Forderung, »daß alle Menschen sich in dem ewigen – und doch datierten – Bild erkennen, das man eines Tages von ihnen gemacht hat, als ob es für alle Zeiten sein müsste« (Barthes 1964: 147). Die kulturkritisch aktualisierte Semantik des Subjekts impliziert ein Plädoyer für Autonomie und Emanzipation und damit gegen Heteronomie und Manipulation. Der Subjektbegriff bildet dann quasi die ›Erlösungsformel‹, mit der sich Individuen als gleichartige, aber dennoch als freie, autonome und einzigartige Individuen beschreiben lassen. Er trägt dem Desiderat Rechnung, Individuen, ungeachtet ihrer medialen Vervielfältigung, dennoch als Individuen zu beschreiben, die sich mit der Zumutung von Originalität, Einzigartigkeit und der Echtheit der Selbstsinngebung konfrontiert sehen. Die aber können sie, wie Luhmann annimmt, in modernen Gesellschaften nur durch Kopieren von Individualitätsmustern einlösen. Das wiederum setzt laufend aktivierte Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung voraus (Luhmann 1997: 1018). In der Perspektive einer »kritischen Theorie der Popkultur« (Behrens 2003) verschiebt sich die Kritik an der Massenkultur dann von einem elitären Kultur- und kulturschöpferischen Subjektbegriff hin zum politischen Anspruch, an dem ›Popkultur‹ gemessen wird. Hier wird zwar konzediert, dass Massenkultur für eine kulturelle Totalität und nicht mehr für den Gegenpol, den bloßen niedrigen und niederen Abhub der wahrhaft kultivierten Hochkultur steht (ebd.: 189). Aber gleichzeitig gerinnt die kulturelle Totalität der Massenkultur dann wieder zur ausschließlich ökonomisch bestimmten Totalität der einen Logik, nämlich der kapitalistischen Verwertungslogik.15 In einer lediglich recycelten Version der Kulturindustrie-These wird mit viel verbalem Krawall das Primat des Ökonomischen bemüht, um noch einmal deutlich zu machen, dass Kultur endgültig in Reklame übergehe und vom ›Spaß am Widerstand‹ (Willis 1979) nun wirklich nicht mehr die Rede sein könne. Demnach wird jede Form von Widerstand gegen die ›herrschende Kapitallogik‹ von dieser mit dem Gestus des freien Konsums und mit zu Sinnbeliebigkeiten verflüchtigten Deutungsmustern vollständig vereinnahmt. Massenkultur gerinnt aus dieser Sicht, als solche der Totalität einer globalen Kulturindustrie überantwortet, wortgewaltig zur »Diktatur der Angepassten«, die lediglich Massenkonformität erzeuge.16 15 | Diese Position steht zweifellos im Widerspruch zur Annahme der Eigenständigkeit kultureller Macht, die davon ausgeht, dass Zeichenprozesse eigenständigen Regeln folgen, die ausschließlich von der Verwertungsseite ökonomischer Prozesse her nicht erschlossen werden können (vgl. Baudrillard 1978a und b, 1991b). 16 | Zwar wird vom Autor konzediert, dass das einem Song der Gruppe ›Blum-

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84 | In der Zerstreuung organisiert Subjektivität wird demnach, entgegen vermeintlich individualistischer, nonkonformistischer Lebensstile, durch das Uniforme und Militärische als Modisches einer Popkultur regiert (Behrens 2003: 51f.). Das vielschichtige Feld von Bedeutungsüberlagerungen erscheint als Durchkapitalisierung sämtlicher Lebensbereiche. Damit aber geht das spielerische, heterogene Element der Massenkultur ganz im Bild einer straff geführten Logik, nach der auch marschierende Massen dirigiert werden, auf. Mit Blick auf die »Universalisierung der Warenlogik, die alle Kultur rückstandslos verwertet«, wird davon ausgegangen, dass gerade sie es erlaubt, »die Konsumenten nicht länger in uniformierten Massen zusammenzuschweißen«, sondern Konsumenteninteressen in vollständig inkompatiblen Gruppen zu organisieren (ebd.: 191). Damit aber verschwindet die Vielschichtigkeit und -deutigkeit massenkultureller Praktiken im homogenen Deutungsmuster einer deterministischen Kapitallogik. Dann ist wieder alles ganz einfach: Die ökonomische Basis bestimmt den kulturellen Überbau. Schließlich wird der Massenkultur attestiert, dass sie, wie Horkheimer und Adorno bereits im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung feststellten, keineswegs eine von den Massen hervorgebrachte Kultur sei, sondern sich dem System der kapitalistischen Warenproduktion verdanke und die Masse sich in dem Maße in Singularitäten und Randzonen verflüchtige, »wie gleichzeitig die Kultur sich in der ökonomischen Verwertungssphäre als Ware universalisiert« (ebd.: 190f.). Was die Masse auch noch in ihrer Auflösung in partikularisierte Singularitäten regiert, ist auch hier wieder das Regime der Ökonomie, das in seiner Totalität dafür verantwortlich sei, dass nun auch der Begriff Massenkultur endgültig verabschiedet werden kann. Massenphänomene besitzen in ihrer Besonderheit, so wird angeführt, keine Massencharakteristika mehr, hinterlassen also weder Spuren im kulturellen Gedächtnis noch lassen sie wie auch immer geartete Rückschlüsse auf Massenstrukturen und Massenpublikum zu. »Die hysterische Masse [?!] verschwindet in der Belanglosigkeit wie zuvor das Individuum in der Masse« (ebd.: 190). Ganz abgesehen davon, dass hier massenpsychologische Forschungsergebnisse, aus der Verallgemeinerung indifeld‹ entliehene Bild der »Diktatur der Angepassten« »etwas großkotzig« und ein »überzeichnetes Extrem« (Behrens 2003: 16) sei, weil dadurch neoliberale Spielarten der Demokratie unzulässig mit Faschismus gleichgesetzt würden. Gleichwohl wird darauf abgehoben, dass »es alarmierende Strukturähnlichkeiten zwischen der […] Bereitschaft der Menschen, am faschistischen Terror« und das heißt ja wohl, am organisierten Massenmord »aktiv teilzunehmen und der gegenwärtigen Formation des allgemeinen Bewusstseins« (ebd.: 17) gibt. Diese werden in eins gesetzt mit totalitären Strukturen, die als »Ausdruck eines immanent widersprüchlichen Gesamtzusammenhangs kapitalistischer Vergesellschaftung« (ebd.) verstanden werden.

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vidualpsychologischer Vorgänge gewonnen, als das faktisch Gegebene erscheinen17, verschwindet in dieser wieder aufbereiteten KulturindustrieThese nicht nur das Individuum in der Masse, sondern die Masse selbst und damit auch die Massenkultur, obgleich diese sich doch zu keinem Zeitpunkt auf die Masse bezog! Während Horkheimer und Adorno das Konzept bürgerlicher Subjektivität und das Geschäft der Kulturindustrie einer kritischen Analyse unterzogen, weil ihrer Auffassung nach das eine puren Zwang, das andere ausnahmslos kommerziellen Schund produziere, mit dem die Massen ideologisch manipuliert würden, wird in kulturkritischen Gegenwartsanalysen der totalisierende Gestus ihrer geschichtsphilosophisch angelegten Gesellschaftskritik lediglich mimetisch wiederholt, ohne sie zu historisieren.18 Ihre Historisierung aber zwänge zu dem Versuch, die scheinbar ökonomisch determinierte Totalität der Massenkultur in ihrer immanenten Heterogenität auf unterschiedliche, nicht ohne weiteres synthetisierbare, historisch spezifische Komplexe von Praktiken herunterzubrechen (Reckwitz 2004: 162). Stattdessen erscheinen diese in der »kritischen Theorie der Popkultur« lediglich als Kulminationspunkt und Endstadium der »realkapitalistischen Krisenlogik« einer expansiven Kulturindustrie und als »Ästhetisierung der Katastrophe« (Behrens 2003: 173).

»Immer mehr Gesellschaft«: Der historische Ort der Massenkultur Sicherlich kann man diese Diskursstrategien als Versuch, etwas zu retten, dessen Verlust längst bekannt ist, werten und mit Blick auf die zunehmende Diskrepanz zwischen Semantik (des Subjekts) und Realität »dem ›intellektuellen Schrotthandel‹ zurechnen« (Luhmann 1997: 1096; Schneider 2001: 329). Doch die Rhetorik kultur- und medienkritischer Diskurse verweist, über Retrospektiven bürgerlicher Selbstinszenierung und Recyclings entsprechender Ideen hinaus, in der immer wieder artikulierten Sorge um 17 | Demgegenüber steht bei Adorno die Aufklärung des Individuums über das, was es zur Masse zieht, auf dem Programm, da die Masse der Manipulation zugänglich ist und ihr, im Führerprinzip, aber auch und nicht weniger in massenpsychologischen Befunden, unterliegt; vgl. ders. 1956. 18 | Horkheimer und Adorno bezogen in der Dialektik der Aufklärung beides auf die der Dialektik der Aufklärung innewohnende Widersprüchlichkeit, die Sinnlichkeit, als das Irrationale denunziert, abspaltet von der Vernunft, um es andererseits, wie im Nationalsozialismus, aber auch in der modernen Massenkultur nach amerikanischem Muster, umso geballter zu (re-)produzieren.

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86 | In der Zerstreuung organisiert das Subjekt auf etwas anderes: Ihre Spur führt zu den spezifischen historischen Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen der Massenkultur, die dieser vorherhgehen, immer im Spiel sind und auf deren Basis sich die historischen Muster erschließen lassen, die sich – stillschweigend – in der Massenkultur manifestieren. Unterstellt wird, dass die Art und Weise, wie das, was als kulturelle Wirklichkeit interpretiert wird, vorweg einer impliziten ›Logik‹ gehorcht, die nicht statisch, sondern historisch wandelbar ist. Diese ›Logik‹ fungiert jedoch keineswegs im Sinne einer deterministischen ›Basis‹ aller Interpretationen und kulturellen Erfahrungen. Die historischen und kulturellen Muster, die gleichsam ein allen empirisch kommunizierten Wahrnehmungen und Erfahrungen vorgeordnetes »Netz einer Erfahrungs-Form der Dinge« (Gehring 2004: 39) bezeichnen, bilden also keineswegs in sich abgeschlossene, ›logische‹ Strukturmuster, die sich, etwa im Sinne der einen (Kapitalverwertungs-)Logik, auf ein durchgängiges Muster reduzieren ließen und damit die historischen (Ent-)Faltungen diskursiver Strukturen vorab festlegten. Vielmehr handelt es sich um spezifische, historisch situierte und wandelbare, unabgeschlossene und offene Strukturen, die, instabil und beweglich, in machtstrategischen Kämpfen gegeneinander antreten (Bublitz 1999b: 222f.). Auf diesem Hintergrund handelt es sich mithin bei der Rede über das Subjekt, das stellvertretend auf den Generalnenner ›des Menschen‹ gebracht wird, nicht um die Thematisierung dessen, was als das allgemeine Wesen des Menschen, sein elementarer, überhistorischer Kern erscheint, »sondern ganz einfach um ein historisches Apriori, das seit dem neunzehnten Jahrhundert als fast evidenter Boden für unser Denken dient« (Foucault 1971: 413) und das als Wirkung eines ›drängenden Rationalismus‹ im Kontext der Etablierung der Industriegesellschaft innerhalb der Ordnung des Wissens rekonstruiert werden kann. Es geht dabei um die Entfaltung eines historischen Musters, ein historisches Ereignis in einer Serie von Subjektivitätsformen, das von Anfang an mit Ökonomie und Technik, mit der Vermarktung des Subjekts in Tauschbeziehungen und seiner technischen Kodierung verzahnt ist. Die Vorstellung eines mit sich selbst identischen Subjekts, um dessen Gefährdung kulturkritische Diskurse wie um einen archimedischen Punkt kreisen und dessen Verlust bis in Gegenwartsanalysen beklagt wird, verdankt sich mithin einer historischen Konstellation, in der die Konstitution des Menschen als gesellschaftliches Individuum immer schon an Perspektiven von ökonomischer und technischer Effektivität ausgerichtet ist, wodurch das Phantom eines sich selbst durchsichtigen Subjekts als solches fragwürdig und die Idee eines in sich selbst autonomen Subjekts unglaubwürdig wird. Der hier vorgenommene Rückgang an den ›Geburtsort‹ der Massenkul-

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tur speist sich aus der Verweigerung gegenüber einer Position, die Massenkultur als Auflösungsmedium originärer Subjektqualitäten, wie Willensautonomie und individuelle Freiheit, entziffert. Vielmehr wird Massenkultur in der historischen Analyse geradezu als das entscheidende Medium von Subjektivierung sichtbar. Die konkrete Gestalt des Individuums in der Massenkultur verdankt sich einer Gesellschaftsform, in der seine ›Vermassung‹ nicht nur die Bedingung, sondern paradoxerweise auch den Vollzug seiner Individualisierung und Vereinzelung bildet. Es ist die bürgerliche Gesellschaft, in der sich die Massenkultur etabliert. Daher ist diese auch nicht die Antithese zur bürgerlichen Gesellschaft und mit ihr zu einem Subjekt, das durch Gegensätze wie Autonomie und Abhängigkeit, Eigeninteresse und Allgemeinwohl, Gleichförmigkeit und emotionale Bewegtheit, disziplinierte Arbeitsethik und ästhetische Genussfähigkeit tyrannisiert wird. Im Gegenteil, sie ist die Realisierung, wenn nicht gar Radikalisierung dieser Gegensätze, die sich im Subjekt zu einer fragilen, heterogen strukturierten Subjektform verbinden. Hier etablieren sich Subjektelemente, die den Reiz des Neuen mit der Möglichkeit, sich selbst zu verändern, kombinieren. Damit verknüpfen sich – exzessive – Konsumpraktiken, die in der Massenkultur ein zentrales Feld von Subjektivitäts- und Identitätsbildung ebenso wie von Normalitäts- und Statussicherung bilden, mit Schlüsseldispositionen der permanenten Selbstbeobachtung und -kontrolle. Sie nehmen in veränderter, radikalisierter Form das auf, was das aktive Unternehmerideal des bürgerlichen Selbst auszeichnete: Das »unternehmerische Selbst« (Ulrich Bröckling 2000) der Massenkultur betreibt seine Selbstpräsentation als Arbeitnehmer und Konsument. Es nutzt seine Arbeitskraft zur Selbstoptimierung, mit der es sich kalkulierend den jeweiligen Erfordernissen des Arbeitsmarktes anpasst und es nutzt die Attraktivität ästhetischer Konsumobjekte zur momentorientierten, situativen Stilisierung seines Selbst, das seinerseits zur semiotischen Projektionsfläche anderer wird. Auf beiden Ebenen geht es um die Abwägung und Realisierung von »Gewinn«: Selbstoptimierung auf dem Arbeitsmarkt verspricht neben finanziellem Gewinn Statuszuwachs; auf der Ebene des Konsums ist es, neben dem ästhetischen ›Gewinn‹ durch ein Anders-, Mehrund Besser-Genießen, der soziale Eindruck, der bei anderen hinterlassen wird und der das Subjekt zu einem attraktiven Objekt macht, das in der Wahl durch andere bevorzugt wird (vgl. Reckwitz 2004; Bourdieu 1984). Massenkultur betreibt beides: Sie orientiert sich an der Marktökonomie und an der Kommerzialisierung materieller Güter wie Nahrung, Kleidung, technische Gegenstände und immaterieller kultureller Güter wie Filme, Reisen, Musik, medialen Kulturangeboten. Aber sie muss sich immer auch vom Marktprinzip abgrenzen und unterscheiden. Hier steht der Aspekt ästhetischer Genüsse und subjektiven Erlebens im Vordergrund.

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88 | In der Zerstreuung organisiert Gingen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung noch davon aus, dass die Vernunft die Humanität zerstört, die sie historisch ermöglicht hat, so zeigte sich darin, dass es gerade der Machtanspruch dieser ›humanitären‹ Vernunft ist, der ringsherum alles zum Objekt macht und der das viel beschworene autonome und authentische Subjekt zur Parodie seiner selbst werden lässt. Sie nahmen an, dass mit der sich immer weiter durchsetzenden Rationalisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens ›der Mensch‹ aufhöre, das Subjekt seiner selbst zu sein. Angetrieben vom rücksichtslosen Streben nach Selbsterhaltung und technischer Selbstvervollkommung gestalte sich die Selbstbezogenheit rein instrumentell und technisch. In einer Gesellschaft weltweiten Tauschs, in der die Industrie erwartbar die ganze Welt zum Kunden hat, werde der Einzelne auf den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt hin ausgerichtet; er unterliege dem Zwang der Verinnerlichung industriell gesetzter Maßstäbe. Vollbringe er die Disziplinierung zum nützlichen Produzenten und Konsumenten und die erforderlichen Anpassungsleistungen nicht an sich selbst, gehe er zugrunde. Das Subjekt, das sich gezwungen sehe, seine Individualität zu inszenieren, werde zum Inbegriff einer Logik des Tauschs, in der alle Subjekte zugleich als Objekte und damit universell austauschbar erscheinen. Der Maßstab der spezifischen Praxis der Massenkultur scheint so, als Element einer marktförmig organisierten Gesellschaft, in der Nützlichkeit für die Gesellschaft und der Sicherung ihrer Machtverhältnisse zu liegen. Indem sie aber über die fabrikmäßige, technische und kommerzielle Produktion von Gegenständen hinaus Subjekte ›produziert‹, sorgt sie zugleich dafür, dass die Subjekte sich selbst produzieren. Dieser Prozess, in dem Subjekte sich immer wieder neu (er)finden, an ihrer Attraktivität und Wirkung arbeiten, schließt sich zweifellos mit der Marktökonomie zusammen. In ihm werden die Subjekte, wie Leo Löwenthal annimmt, durch künstliche Wiederbelebung religiöser Gehalte qua Unterhaltung in Einklang mit den Erfordernissen der Gesellschaft gebracht (Löwenthal 1980: 14f.). Zugleich aber wird dem Subjekt ein Spielfeld eröffnet, auf dem es sich wechselnder Sinnvorräte zur Gestaltung des eigenen Lebens und variabler Sinnzuschreibungen zur eigenen Person bedienen kann. Den Verlust des Subjekts im gesellschaftlichen ›Verblendungszusammenhang‹ der Marktökonomie, die es zum Agenten des Warentauschs herabwürdigt, zu beklagen, ist eine Sache. Eine andere ist es, sich darüber klar zu werden, dass sich schon in der Konstruktion einer autonomen, sich selbst bewussten Identität der Wille einer Macht manifestiert, der im ausschließlichen Rekurs auf die Ordnungsfunktion der – technisch-instrumentell verfahrenden – Vernunft das mit sich identische, wahre Subjekt im Kern verfehlt. Was sich jedoch aus der Perspektive der ›kritischen Theorie der Gesellschaft‹ als Verschwinden des authentischen Subjekts in der Öko-

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nomie und als industrielle Vernichtung ›des Menschen‹ darstellt, erweist sich in der historischen Rekonstruktion geradezu als dessen Herstellung in einem Ensemble von Strukturen, das ihn erst möglich macht und »die er zwar denken und beschreiben kann, deren souveränes Bewußtsein er jedoch nicht ist« (Foucault 1978b: 16). Es ist dieses Projekt der strukturellen, dem individuellen Subjekt nicht verfügbaren Hervorbringung ›des Menschen‹, das Massenkultur in der Entfaltung eines ökonomischen, technischen und ästhetischen Raumes, innerhalb dessen Individualisierungsprozesse vor sich gehen, auf spezifische Weise realisiert. Eingebettet in den Kontext zunehmender Vergesellschaftung und Individualisierung ist der historische Ort der Massenkultur der einer zunehmenden Existenzsteigerung, nicht bloßer Existenzerhaltung, konkurrenzfähiger Individuen.

Gesellschaft als produktive Größe In der Steigerung der technisch-medialen, symbolischen und ökonomischen Kräfte der Gesellschaft liegen die Bedingungen dafür, dass die Gesellschaft eine produktive Größe wird und von Individualität im modernen Sinne die Rede sein kann. Massenkultur etabliert sich im Zeitalter des Individualismus, in dem es zugleich darum geht, »die Produktivkräfte, die im gesellschaftlichen Feld verstreut sind, nach Kriterien technischer und ökonomischer Effizienz zu regulieren und zu organisieren« (Spreen 1998a: 147). Dabei geht es zunächst darum, die menschliche Arbeitskraft in Übereinstimmung zu bringen mit der Verbesserung der technischen Werkzeuge. Im Zusammenschluss von Arbeitskraft und Maschine zur lebenden Arbeitsmaschine und im Bestreben, alle gesellschaftlichen Produktivkräfte als Glieder eines gesellschaftlichen Disziplinarapparats in einen möglichst lückenlosen Funktionszusammenhang der Staats- und Gesellschaftsmaschine einzupassen, zeigt sich eine umfassende Machttechnologie. Sie trägt das Prinzip der umfassenden Rationalisierung in alle Dinge und Vorgänge, in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche hinein und koordiniert diese auf der Grundlage wechselseitigen Austauschs. Es ist ein Programm, das im Rahmen des Industriezeitalters zunächst über die ingenieursmäßige, exakte – Berechnung derjenigen Kräfte, die, wie die Lokomotiven und Fabriken, Mobilität und Produktivität garantieren, in der nahtlosen Zurichtung der Arbeitskräfte auf die Vorgaben der Maschine ein optimales Passungssystem etabliert. Aber indem es spielerische, ästhetische Elemente der Kunst, die sich nun als Spiegel, nicht als Antithese der Konsum- und Warenwelt versteht, mit Massenproduktion und – dereguliertem – Massenkonsum versöhnt, geht es über die nüchterne ökonomische Rechenhaftigkeit hinaus.

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90 | In der Zerstreuung organisiert Die Vervollkommnung des Menschen, die der Idee nach auf gemeinschaftlicher Vervollkommnung aller beruht, realisiert sich auf der Basis einer technisch-medialen, auf der Ebene von Kommunikation und Massenkonsum organisierten Menschenführung und im freien – der wirtschaftsliberalen Vorstellung vom Markt nach in sich selbst funktionierenden – Tausch, der als produktives Gefüge den allgemeinen Wohlstand steigern soll. Gesellschaftliche Produktivität muss jedoch in einem umfassenden Sinne verstanden werden; sie erschöpft sich keineswegs in einer Kulturökonomie des Geldes. Massenkultur verweist auf das Problem der Neuordnung einer Gesellschaft, die noch im 18. Jahrhundert einen »Gefahrenbereich« bezeichnet und als ein »undurchschaubares Gewimmel einander aufhebender oder sich unvorhersehbar verstärkender Kräfte« (ebd.: 145) erscheint, die der ordnenden Hand des Souveräns bedürfen und eben nicht als produktives soziales Gefüge betrachtet werden.

Massenkultur – Einschreibung pauperisierter Schichten in die Gesellschaft Eine besondere Gefahr bildet im 19. Jahrhundert der Pauperismus der städtischen ›undisziplinierten‹ Klassen, dessen Ursachen nicht in einer ökonomischen Struktur der Ungleichheit, sondern in einer moralischen Disposition, der angeborenen »Schuld der Armen« verortet werden, die als soziale Gefahr für die Gesellschaft erscheint: »Der Pauperismus ist das Spektrum des Mobs, ein kollektives und hauptsächlich städtisches Phänomen, eine Population, die im Inneren der Bevölkerung diese bedroht, die Gefühle von Flüssigkeit und Unbestimmtheit hervorruft« (Lemke 1997: 210).

Es ist diese ständig virulente Gefahr der Auflösung der sozialen Bande und des Rückfalls in die Natur, die vor allem in den unteren sozialen Klassen, aber nicht nur dort, präsent ist. Gleichzeitig soll die Armut und mit ihr die Schuldzuweisung keineswegs verschwinden, denn sie ist Voraussetzung für die Produktion des gesellschaftlichen Wohlstands. Sie soll vielmehr so kanalisiert werden, dass sie eingepasst wird in ein soziales Regime, das unter optimaler Ausnutzung aller Ressourcen (des Arbeits-Körpers) Produktivität auf Dauer stellt und größtmöglichen gesellschaftlichen Reichtum erzeugt. Im Mittelpunkt steht daher die Schaffung eines – bürgerlichen – Subjekts, das sich als produktives, ökonomisches Subjekt zugleich seiner Verantwortung für die Gesellschaft und seiner politischen Pflicht bewusst ist. Massenkultur kann daher zu diesem Zeitpunkt als Projekt der Einschreibung der pauperisierten Schichten, vor allem der Arbeiterklasse, in

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eine Kultur des Fortschritts und einen entsprechenden Sozialkörper verstanden werden, ohne dass damit zugleich die Klassenspaltung der Gesellschaft aufgehoben werden sollte. Im Gegenteil: Die Formierung von Klassen gehörte geradezu zum Programm einer Strategie, die sich in der Bekämpfung des Pauperismus nicht gegen die Armut als Stigma der Ungleichheit, sondern gegen einen Komplex von unberechenbaren Verhaltensweisen richtet, die in der »Verteidigung der Gesellschaft« (Foucault 1999) gegen die ›asozialen Elemente‹ der Bevölkerung ›ausgemerzt‹ werden sollen. Es handelt sich also vor allem um die soziale Anpassung derjenigen – pauperisierten – Schichten an die soziale Ordnung, die sich mit ihren Formen der Lebensführung nicht in das Projekt einer Sozialisierung einpassen (vgl. ebd.). Dies geschieht bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massenkulturell organisiert, u.a. über populäre Lesestoffe, Volksbücher und Heftromane ebenso wie durch organisierte Freizeitunternehmungen (Schenda 1977; Galle 1998). Es entstehen ganze Freizeit- und Vergnügungszentren, an denen sich schon keimhaft die Entwicklungen der Massenkultur des 20. Jahrhunderts ablesen lassen. Insbesondere Sportveranstaltungen sollen das »kraftbetonte Massengetümmel« pauperisierter Schichten zivilisieren und veredeln und die Volksgesundheit heben (Maase 1997: 82). Historisch ist dies die gesellschaftspolitische Funktion der Massenkultur. Massenkultur macht die Gefährdung des disziplinierten bürgerlichen Subjekts durch den technischen Fortschritt und den exzessiven, unberechenbaren ›Abenteuerkapitalismus‹, der die Domestizierung des Subjekts durch die bürgerliche Moral und die vermittelnde, sozialisierende Funktion der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft durchkreuzt, augen- und sinnfällig.

Kulturgefährdung durch technisch-zivilisatorischen Fortschritt Ende des 19. Jahrhunderts wird die Gefährdung der – bürgerlichen – Gesellschaft dann vollends offensichtlich: In der Kulturkrisensemantik der Jahrhundertwende, die sich als Kulturkampf und -pessimismus in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft einschreibt, erscheint der technische Fortschritt als Gefährdung der kulturellen (Höher-)Entwicklung.19 19 | Das reflexive Wissen um die Krisenhaftigkeit der Moderne, für das in der Kulturkrisensemantik um 1900 die Metapher der ›Feminisierung der Kultur‹ herhalten muss (vgl. Bublitz 1998b und 2000a), greift historisch weit zurück auf die ›Querelles des Anciens et des Modernes‹ (vgl. dazu Raulet 1986). Kern der ›Querelles des Anciens et des Modernes‹ war der Gegensatz zwischen den Vertretern einer göttli-

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92 | In der Zerstreuung organisiert Die Überreizung der Nerven- und Denktätigkeit durch technische Mobilität und massierte Urbanität erscheint als allgemeine Gefahr, der nun auch die ›kultivierten Klassen‹ unter dem Druck einer Zivilisation ausgesetzt sind, die, als Kulturgefährdung gelesen, den ›sozialen Körper‹ gefährdet. Von allen möglichen ›Krankheiten‹ befallen wird ihm nicht die Natur, sondern die ›raffinierte Kultur‹ gefährlich, die ihn schwächt. Die Konstitution eines homogenen Gesellschaftskörpers erscheint als Problem der Etablierung eines sozialen Raums, der die kulturelle Hegemonie der bürgerlichen Kultur sichern soll. Sie scheint von innen, durch die unberechenbaren Bewegungen des Marktes, der Arbeitskräfte, durch die Mobilisierung von Kräften im Innern des bürgerlichen, ökonomisch aktiven Subjekts, aber auch durch ein kulturelles Außen außereuropäischer Kulturen, auf das zudem Phantasmen aus dem Innern bürgerlicher Kultur und Subjektivität projiziert werden, gefährdet. Die Gesellschaft stellt sich nun dar als »gesellschaftliches Tohuwabohu« in dem »kein Staat, keine soziale Konstanz, kein festes Aggregat mehr existieren, sondern lauter soziale Atome« (Stein 1899: 227f.; zit. n. Seier 2000). Die Gesellschaft zerfällt, soziale Ordnung löst sich auf. Dabei wird die Kultur zum Dauerthema, das in die zahllosen, heterogenen Diskurse interveniert. Die Kulturfrage erscheint als diejenige, die alle anderen, so auch die soziale Frage, in sich begreift, denn das, was einerseits ›gepriesen‹ wird, der kulturelle Fortschritt, scheint durch die Technisierung und Rationalisierung und die soziale Fragmentierung der Gesellschaft gleichzeitig bedroht. Was sich im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse zunehmend als soziales Problem herausstellt, ist die Koordination der gesellschaftlichen Austauschbeziehungen und des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Basis individueller Freiheit unter Bedingungen kultureller Modernität. In den Reinheitsvorstellungen vielgestaltiger Hygienediskurse stößt die Sozialdisziplinierung des – individuellen – Körpers an ihre Grenzen. Hier zeigt sich die ›Anschlussfähigkeit‹ hygienischer Körperkonzepte in ihrer Ausrichtung an einer ›hygienisch‹ konstruierten Subjektivität an Konzepte von Fortpflanzung, Bevölkerungspolitik und Sexualität, an Konzepte der

chen Ordnung und denen einer aufgeklärten Fortschrittsposition. Es war Fontenelle, der schon mit seiner Histoire des oracles (1687) gewagt hatte, Grundüberzeugungen des Christentums zu erschüttern und der mit seiner Schrift Digression sur les Anciens et les modernes (1688; dt. 1955) die lineare, mechanische Fortschrittsidee an die Stelle einer zyklischen Geschichtsauffassung setzte und damit die Idee des Fortschritts propagiert hat. Seine an Descartes orientierten Entretiens sur la pluralité des mondes wurden zum Vorbild popularisierender Darstellungen naturwissenschaftlicher Theorien in der Aufklärung.

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tayloristischen, sozialdarwinistisch inspirierten Arbeitskräfteökonomie und schließlich an die von ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht (vgl. Bublitz 1999a und 2000a). Schließlich wird das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und des Individuums zu sich selbst neu überdacht. Massenkulturell organisiert sollte der von der Zivilisation ›deformierte‹ Körper um die Jahrhundertwende, z.B. über Nackt- und Freikörperkultur, wieder in einen ›natürlichen‹ Zustand versetzt werden. Rythmische Gymnastik löst die nach Kommando ausgeführten Turnübungen ab, die als typischer »Massenzwang und Drill«, als eine »ins Körperliche umgesetzte Grammatikstunde« (Möhring 2002: 154). erscheinen. Schönheitsnormen materialisieren sich, massenkulturell und -medial transportiert, am, im und durch den Körper. Dem diätetisch zugerichteten, enthaltsamen Körper steht der lustvoll konsumierende Körper zur Seite. Der Hygienediskurs liefert zweifellos einen wichtigen Beitrag zum Entwurf moderner Individualisierungskonzepte. Dabei verbindet sich die »Sorge um sich« (Foucault 1989 [1986]) und seinen Körper mit kollektiv ausgerichteten Maßnahmen der (Sozial- und Rasse-)Hygiene, denen es gelingt, den individuellen Körper mit einem kollektiven (Volks- und Gesellschafts-)Körper zu überblenden. Es geht darum, beide wirkmächtig zu individualisieren (vgl. Sarasin 2001). In der virulenten Kulturkritik der Jahrhundertwende artikulieren sich Konzepte der Neuordnung von Kultur, Mensch und Gesellschaft, die sich aus einer tiefen Verunsicherung gesellschaftstragender, bürgerlicher Schichten speisen und deren Selbstvergewisserung dienen. Aus ihnen geht ein völlig neuartiges Konzept der Verschränkung des biologischen Körpers des Einzelnen und des sozialen (Gesellschafts-)Körpers, des Biologischen und des Sozialen hervor, in der die Sorge um die individuelle Sexualität und Sexualmoral eng verwoben ist mit der Sorge um Fortpflanzung, Vererbung, Rasse und Geschlecht (vgl. Bublitz 2000a: 236f; vgl. auch Stoff 2002). Dabei erfolgt die Parallelisierung von Individual- und Kollektivkörper keineswegs metaphorisch, sondern sie zeitigt unmittelbar physische Konsequenzen: Am individuellen wie am kollektiven Körper werden Kulturkrankheiten bekämpft und rassenhygienische Konzepte exekutiert. Bevölkerung und Individuum werden nach einer analogen, körperfundierten Matrix organisiert; der biologische Körper wird zur sozialen Ressource des Gesellschaftskörpers, der, obgleich sozial konstituiert, biologisch gedacht wird (vgl. Bublitz 2000a: 315f.). Durch den Ausgriff sozialer Konstruktionen auf den biologischen Körper werden beide Körperformen nahezu deckungsgleich bzw. so untrennbar miteinander verbunden, dass sie eigentlich nicht mehr unabhängig voneinander denkbar sind. Der Machteffekt dieser Konstruktion liegt in der biologischen Verortung und Potenzierung sozialer Konzepte. Nicht nur der individuelle Körper ist in diesem Sinne konstitutiv für den

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94 | In der Zerstreuung organisiert sozialen Gesellschaftskörper, sondern auch Klasse, Rasse und Geschlecht sind als unhintergehbare Konzepte moderner Körpervorstellungen in jeder Faser des Gesellschaftskörpers präsent (vgl. Ellerbrock 2004: 67f.). Im Rahmen der Massenkultur findet gleichsam ein epistemischer Wechsel des Körperkonzepts statt: Der Körper untersteht nun dem Primat eines ökonomischen und sexuellen, lustvollen Konsumismus. Als Ort, an dem sich Variationen individualisierter Lust, sexueller Praktiken und Identitäten versammeln, wird er als produktiver (Geschlechts-)Körper gleichermaßen zum Symbol einer leistungsfähigen Lebenskraft und, analog dem Warenkonsum, zum Ort einer sammel-, ja, ›akkumulierbaren‹ Lustempfindung. Hier realisiert sich gewissermaßen die Individualisierung und Demokratisierung des Begehrens auf Körperebene. Gleichzeitig unterliegt auch das körperliche Begehren als Zeichen geschlechtlich-sexueller Leistungskraft der Normalisierung: ›Normale‹ Formen einer individuellen und kollektiven Lustkurve unterwerfen den begehrenden modernen Körper nicht nur der Anforderung individueller Spitzenleistungen, sondern er wird zum flexiblen Instrument der Leistungssteigerung nicht nur im ökonomischen Bereich, sondern auch auf der Ebene der Sexual- und Begehrensökonomie (vgl. Stoff 2002). Umfragen im Bereich der Sexualökonomie, wie der Kinsey-Report Mitte des 20. Jahrhunderts, aber auch die massenmedial wirksame Verbreitung von Aufklärungskampagnen und libertinären Vorstellungen, wie etwa der von Oswalt Kolle, zeigen die Bedeutung normalisierten Wissens im Bereich einer am universellen Recht auf Lustbefriedigung orientierten Sexualität. Gegen den Degenerationsdiskurs, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den schrankenlosen und ›unproduktiven‹ sexuellen Konsum als pathologisches Zeichen interpretierte, setzt sich im 20. Jahrhundert die konsumistische Sexualauffassung durch, die die sexuelle und generative Verantwortung in die Selbstkontrolle des Individuums verlegt. Am und im Körper manifestieren sich, nicht zuletzt mittels einer wirkmächtig inszenierten, individualisierenden Körperpolitik, die Hygienevorstellungen einer Gesellschaft, die auf den gesunden, sexuell leistungsfähigen Individualkörper setzt, der gleichzeitig produktivistisch eingebunden wird in die – fortpflanzungsabhängige – Reproduktion des Sozial- und Gesellschaftskörpers. Hier zeigt sich, dass die Gesellschaft, nicht nur vermöge des Tauschverhältnisses, produktiv wird und individualisierte Subjekte erzeugt. Gleichzeitig aber füllt Massenkultur das Vakuum, das die prekäre Lage der Religion hinterlässt; sie tut dies, indem sie funkelnde, ausgeschmückte und bewegliche Bilder an die Stelle eintöniger, starrer und unbeweglicher Ornamente setzt. Sie füllt die Leere, die an die Stelle religiöser Vorstellungen tritt, die aber erst recht von der industriellen, bürokratisch durchrationalisierten Gesellschaft produziert wird, mit ästhetischen, technisch-medial

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transportierten Mitteln. Indem sie religiöse Inhalte in veränderter Form transportiert und durch kommerzialisierte Bilder ersetzt, deckt sie Sinnstiftungsbedürfnisse und ökonomische Interessen zugleich ab.20 Das religiöse Regime wird abgelöst durch das der Massenkultur, die, eingebettet in die Geschichte des Fortschritts und der Geschwindigkeit, die Gesellschaft und das Subjekt in eine Dynamik der Bewegung versetzt und die Vorstellung des technisch Machbaren forciert. »Jahrhundertelang waren die religiösen Orden Meister der Disziplin, sie waren die Spezialisten der Zeit, die großen Techniker des Rhythmus und der regelmäßigen Tätigkeiten« (Foucault 1976a: 192). Mit der Beschleunigung durch Transportmittel, Kommunikations- und Bildmedien transformiert die Massenkultur nicht nur Raum-Zeit-Relationen, Wahrnehmungs- und Gedächtnisformen, sondern allen voran das Subjekt, das sich, eingebunden in eine Steigerungslogik, in seiner Verinnerlichung des Beschleunigungsprinzips auch in seiner Selbstgestaltung und -inszenierung der technischen Realisierung der Perfektabilitätsidee verschreibt. Subjektive und gesellschaftliche Realitäten sind über symbolische und technische realitätsgenerierende Medien vermittelt. Sie konstituieren eine neue Logik der Vergesellschaftung, deren Sinn darin liegt, die Beziehungen zwischen den Menschen und deren Selbstbezug technisch zu kodieren. Dabei werden technische Medien im Sinne eines konstituierenden Dispositivs zu formierenden Strukturbildnern des Subjekts. Medien erlauben, so verstanden, nicht die sekundäre Vermittlung zwischen zwei primären Gegebenheiten, in diesem Fall dem des Individuums und der Gesellschaft, die als solche bereits vorgegeben sein müssen, sondern sie bringen in der ›Vermittlung‹ das jeweils Vermittelte eigens erst zum Vorschein. Das bedeutet, dass sie dieses erst sichtbar in eine bestimmte Anordnung stellen, es strukturieren und konfigurieren. Medien sind dann nicht lediglich kontingente Hilfsmittel, sind aber auch nicht deterministisch, unabhängig von kulturellen Diskursen und Prozessen wirksam. Es handelt sich bei ihnen um technisch-symbolische Dispositive, die, indem sie Inhalten und Akten der Kommunikation eine kontingente Form auferlegen, einer ›inneren Ökonomie‹ folgen und sich gleichzeitig mit der ökonomischen Seite kultureller Austauschprozesse verbinden (vgl. Winkler 20 | Um nur ein Beispiel zu nennen: Schon in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich die amerikanische Vorstellung von Santa Claus Lichtjahre vom heiligen Sankt Nikolaus, dem Bischof von Myra, entfernt. Im roten Mantel mit Pelzkragen standen 1840 die Weihnachtsmänner vor den New Yorker Geschäften. Für kommerzielle Zwecke eigneten sie sich wesentlich besser als ein katholischer Heiliger oder das – unsichtbare – Christkind. Schließlich perfektionierte die Coca-ColaWerbung ab 1931 das Aussehen des alten Mannes mit roten Pausbacken, Bauch und Bart.

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96 | In der Zerstreuung organisiert 2004). Massenkultur etabliert sich mithin als Kunst des »technischen Zeitalters«, die, wie Horkheimer und Adorno in kulturkritischer Akzentuierung feststellen, »alles mit Ähnlichkeit [schlägt]« (Horkheimer/Adorno 1981 [1947]: 144). So zeigt sich in der Produktion serieller Wiederholungen und in der Vervielfältigung immaterieller Zeichen letztlich die Zirkulation des Geldes als Universalsignifikant, ohne dass ein metaphysisches, alles durchdringendes und hervorbringendes Subjekt namens ›Kapital‹ angenommen werden müsste. Aber dass »in diesem Vorgang seriell-›identische‹ Exemplare entstehen, wird hierbei keineswegs angestrebt, sondern allenfalls in Kauf genommen« (Winkler 2004: 31). Die Wiederholung von Vorgängen und deren Standardisierung hat in der Strategie, auf die Menge zu setzen und das Einzelexemplar weitgehend zu negieren, ökonomische Effekte, die umgekehrt die »kulturindustrielle« Produktion vorantreiben. Als Element der Gesellschaft von höchster Bedeutung liegt ihr Maßstab im Übergriff der Logik der Ökonomie auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche, die der Technik Macht über die Gesellschaft auf der Grundlage ökonomischer Rationalität verleiht. Struktureffekt dieser Produktion ist es, das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst sowie ihre Koordination, ihre Zu- und Zusammenordnung technisch zu regeln. Aber technische Medialität ist hier nicht verengt auf den Einsatz technischer Medien, sondern bezieht in einem weiten Sinne den Austausch des Symbolischen mit ein. Die Austauschbeziehungen, die die ›Gesellschaft‹ ausmachen, umfassen mehr als das technisch-mediale, materielle und ökonomische Register. Gesellschaft begreift die Zirkulation, den symbolischen Verkehr von Zeichen mit ein, der sich zunächst als eigene symbolische Sphäre in der Gesellschaft installiert, bevor er sich auf das gesamte gesellschaftliche Terrain ausbreitet und bis in die Subjektstrukturen vordringt. In der Errichtung symbolischer Räume, auch im Subjekt, bildet die Zirkulation der Zeichen die Schnittstelle, über die der Anschluss des Individuums an den gesellschaftlichen Prozess erfolgt. Zugleich fällt von hier der Blick auf das Grundproblem einer Gesellschaft, die das Individuum, in der Ausweitung des Ökonomischen als umfassenden Prinzips sozialer Praxis, einer Art permanentem ökonomischem Tribunal aussetzt, das, ohne Rücksicht auf persönliches Glück, fortwährend Rechenschaft über sich und sein Handeln ablegen muss. Indem es die eigenen Sehnsüchte und Triebe, deren ungewisse Folgen abschätzend, diszipliniert und in einer andauernden Anstrengung auf das ungestörte Funktionieren einer durch egoistische Interessen gefährdeten, heiklen Gesellschaft achtet, ist das Individuum dem zunehmenden ›Zwangszusammenhang‹ einer Gesellschaft ausgesetzt, die als materielle Anordnung die Individualisierung des Subjekts allererst ermöglicht. Hier knüpft Foucaults Frage nach der Konstitution von Subjekten als Produkten von Macht, die ihr Funktionieren allererst

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ermöglicht, an: Die Stunde, zu der das Individuum in die Gesellschaft eintritt, ist die seiner inneren Disziplin, die in Techniken seiner Formierung überführt wird und dabei einer Eigendynamik unterliegt, die die Individuen zur Selbstführung und -steigerung befähigt (vgl. Foucault 1976a, 1977, 1987, 1999; Fink-Eitel 1980).

Die anwachsende Kraft der Gesellschaft im individualistischen Zeitalter Die »Geburt der Gesellschaft«, die das Individuum durch das ökonomische Tauschverhältnis der Gesellschaft unterstellt, verdankt sich nicht dem Sozialen als überhistorischer Basisqualität oder der bloßen Idee der Gemeinschaft, sondern sie vollzieht sich unter historischen, technisch-medialen und ökonomischen Bedingungen, aus dem das Soziale erst hervorgeht (Spreen 1998a: 12f. und 175f.).21 Vergesellschaftungsprozesse sind nicht mehr abgeleitet aus Natur oder Religion, sondern aus technisch-medialen und ökonomischen Austauschbeziehungen. Die Dynamik der Gesellschaft realisiert sich darin, dass »die Vergesellschaftung des Individuums tendenziell anwächst; daß es also, grob gesprochen, immer mehr ›Gesellschaft‹ in der Welt gibt« (Adorno 1967 [1956]: 2), begründet in der zunehmenden Größe des sozialen Aggregats, der Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und ihren Einheiten, zunehmender innerer Differenzierung und Arbeitsteilung, in der steigenden marktförmigen Verflechtung und sozialen Integration der Gesellschaft. Zunehmende Differenzierung und Integration bilden das »Grundgesetz der Vergesellschaftung« (ebd.: 33). Dabei liegt das quantitative Moment des Vergesellschaftungsvorgangs sowohl in der »Bildung einer größeren Masse als auch 21 | Damit ist die Auflösung des Sozialen als überdeterminierte, feste Struktur und als tautologische Begründungsfigur der Gesellschaft verbunden. Das Soziale wird vielmehr als diskursives Verhältnis und kommunikative Operation von Anschlussmodulen gedacht. Die moderne Gesellschaft konstituiert sich demnach als das Nicht-Gegebene in einem Kräftefeld historischer Diskursformationen, in dem Ensembles diskursiver Ereignisse kursieren, die gegenseitig anschlussfähig sind. In genealogisch-historischer Perspektive erscheint Gesellschaft als dezentrierte, rhizomartige Vernetzung von Diskursen und polykontexturalen Strukturen (vgl. dazu auch Bublitz 2001b: 87f.). Erst durch die Position in einem Gewebe von Differenzbeziehungen und -strukturen, die nicht in einem Fundament gründen, konstituiert sich Gesellschaft durch strategische Vorkehrungen als imaginärer, einheitlicher Gesellschaftskörper auf der Basis umkämpfter, diskursiver Positionen und instabiler Differenzbeziehungen; vgl. für die strategisch-diskursive Konstitution des Gesellschaftskörpers um 1900 Bublitz et al. 2000.

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98 | In der Zerstreuung organisiert in dem Fortschreiten einer solchen Masse zu jenem inneren Zusammenhang, der auf dichterer Aneinanderlagerung der einzelnen Teile beruht«, während das qualitative Moment sich auf die Zunahme innerer, differenzierter Strukturen bezieht, »um das kombinierte Leben einer ausgedehnteren Masse möglich zu machen« (ebd.).22 Das »individualistische Zeitalter« (Adorno 1967 [1956]: 42) verweist daher auf die anwachsende Kraft einer Gesellschaft, in der der Markt die Austauschbeziehungen der Individuen regelt, in der sich die Individuen, eingebunden in einen Austausch von Waren- und Geldströmen, als Konkurrenten um Marktpositionen begegnen, in der individuell zu sein heißt, sich direkt zum Markt, also ökonomisch und das heißt auch, sich rücksichtslos gegen andere, zu verhalten. ›Einsam‹ zu sein bezeichnet nun einen Zustand, in dem sich niemand uneigennützig um den Anderen kümmert. Es ist eine Gesellschaft, die auf einer ›Theorie der Vereinzelung‹ beruht und die sowohl der sich entwickelnden Produktivität einer kapitalistischen Kultur als auch der Verwirklichung demokratischer Grundsätze, des Gleichheitsanspruchs gleicher Einzelner entspricht, die als Einzelne frei sein, einzeln über ihren Körper, ihre Fähigkeiten und ihr Eigentum verfügen können sollten (vgl. Claessens/Claessens 1979: 122f.). Die Form(ierung) des Individuums und die Gestalt seiner Individualität sind daher von Anfang an das Ergebnis marktförmiger Vergesellschaftung. Bezeichnet ist damit die soziale Emergenz des modernen Individuums, dessen Individualisierung sich einer konkurrenzförmig verfassten Gesellschaft verdankt. Sie setzt mit der ›Inthronisierung‹ des Konkurrenzprinzips auf die freie Entfaltung sowohl individuell-unternehmerischer als auch technischer und ökonomischer Kräfte zur Steigerung von Produktivität und Leistung und bindet die Etablierung einer sozialen Ordnung an deren integratives Zusammenwirken. Das Individuum, dessen Geburtsurkunde im 17./18. Jahrhundert ausgestellt wird, ist nun einem anonymen Marktmechanismus ausgesetzt, der es im gleichen Augenblick, in dem der Markt es als freies und unabhängiges (Wirtschafts-)Subjekt behandelt und es als solches individualisiert, auf der Grundlage gegenseitiger Abhängigkeit und Anerkennung in die Gesellschaft hineinzieht. Die Freisetzung des Individuums aus einem System feudaler Abhängigkeiten und einengenden Traditionen, aus der vorgegebe22 | Obgleich Adorno der Spencer’schen These einer anwachsenden gesellschaftlichen Integration zustimmt, kritisiert er, dass es mit dem Differenzierungsbegriff »wesentlich problematischer bestellt sei«, da dieser die mit fortschreitender Arbeitsteilung gegebene »Beseitigung der Differenzierung« durch Angleichung arbeitsteiliger Vorgänge vernachlässige, der im Übrigen auch »subjekt-anthropologisch eine Tendenz zur Abnahme der Differenzierung, zu Regression und Primitivismus« entspreche (Adorno 1967 [1956]: 34).

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nen Ordnung einer Gesellschaft, die auf Abstammung und ständischen Privilegien beruhte und in der kollektive Regulierungen für die Anerkennung des Individuums als autonomes, freies und gleiches keinen Freiraum ließen, bedingt zugleich einen Zuwachs an wechselseitiger Verflechtung der Individuen. Daraus ergibt sich die folgenreiche Paradoxie: »Je mehr das Individuum erstarkt, desto mehr nimmt zugleich auch vermöge des Tauschverhältnisses, in dem es sich formt, die Kraft der Gesellschaft zu. Beides sind Wechselbegriffe« (Adorno 1967 [1956]: 42). Individualisierung und Vergesellschaftung erscheinen so als wechselseitiges Bedingungsgefüge. Als »vom ersten Tage an auf Gesellschaft bezogenes und eben daher in sich selbst einsames Wesen« (ebd.: 47), entspricht die Form des Individuums einer Gesellschaft, die durch ökonomische Marktbeziehungen gestiftet und etabliert wird. Das Individuum ist mithin keine Naturkategorie; es ist nicht die Antithese zur Gesellschaft. Mit »Individuum« ist nicht das biologische Einzelwesen gemeint, sondern ein sich von bloßen Naturverhältnissen gerade emanzipierendes Wesen. Sein »Selbstbewusstsein« verdankt sich der Beziehung auf andere, von denen es sich unterscheidet: »Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch« (Marx). In der bürgerlichen Gesellschaft konstituiert sich das Individuum auf der Grundlage von Besitzindividualismus und Konkurrenzprinzipien. Hier treffen, streng genommen, nicht Individuen aufeinander, die sich zudem an ihrem gegenseitigen Glück orientieren, sondern Waren- und Geldströme, die von Individuen gesteuert werden. Das individualisierte Subjekt verdankt sich also objektiv vollzogenen Prozessen, die das Individuum zum Repräsentanten der Gesellschaft machen, es in gesellschaftlichen Austauschbeziehungen auf ihm unverfügbare Mechanismen von (Markt-)Beziehungen zurückführen und es auf dieser Basis vergesellschaften. Diese Mechanismen wachsen mit der Größe des ›Aggregats‹ Gesellschaft, in der das Glück des Einzelnen einem überindividuellen, höheren Prinzip untergeordnet und gleichzeitig auf dem »Faktum gestiegener Eigenleistungen des Subjekts« (Honneth 2002: 142) begründet wird. Das Glück des Einzelnen verschränkt sich nun mit dem ›Glück der großen Zahl‹, das, letztlich im Individuum selbst und seinen individuellen Anlagen begründet, auf ein mit Verantwortungsbewusstsein und Unternehmungsgeist ausgestattetes Individuum zurückgeführt wird. Als Konkurrenten sozialisiert, stehen sich die Individuen als formal gleichgestellte, aber vereinzelte gegenüber, die sich in der individuellen Durchsetzung und Entfaltung ihrer Interessen und Fähigkeiten einig sind. Aus diesen Prozessen resultiert der objektive Tatbestand einer immer stärkeren Konzentration auf bloß eigene, von anderen unabhängige Interessen und eine Steigerung zwischenmenschlicher Indifferenz, dem die Tendenz zur Vereinzelung des individuellen Subjekts im

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100 | In der Zerstreuung organisiert wachsenden Geflecht anonymisierter Sozialkontakte und das subjektive Gefühl steigender Vereinsamung und erlittener sozialer Isolation korrespondiert (ebd.: 143). Insofern Prozesse der Subjektivierung und Individualisierung unausweichlich in den Kontext zunehmender Vergesellschaftung eingebettet werden, sind sie ihrem unvereinbaren Gegensatz zur Gesellschaft enthoben und als immer schon gesellschaftlich vermittelte gefasst. »Damit aber wird der Begriff des Individuums als der letzten sozialen Einheit fragwürdig« (Adorno 1967 [1956]: 42). Das Subjekt verschwindet nicht in der Gesellschaft, sondern geht aus ihr erst hervor. Gesellschaft und Individuum bilden einen wechselseitigen Konstitutionszusammenhang. Das gilt auch und insbesondere für die Massengesellschaft: Hier bildet die Masse der Anderen das Gegenüber, auf das sich der Einzelne bezieht. Das Paradox: »Je weniger Individuen, desto mehr Individualismus« (ebd.: 48) hat hier seine volle Berechtigung. Die Masse bildet die Voraussetzung von Differenzierungs- und Individualisierungsprozessen des einzelnen Individuums. Das Subjekt verschwindet mithin nicht in der Masse, sondern diese ist geradezu die Bedingung seiner Individualisierung. Erst im Zuge der Massenkultur bildet sich das Subjekt als individualisiertes heraus. Mit dieser Auffassung des Individuums als gesellschaftlich Produziertes, die noch die singuläre Bedeutung eines jeden Einzelnen vom Zusammenhang der Gesellschaft her versteht, wird aber nicht nur das Dogma der Unhintergehbarkeit des Individuums in Zweifel gezogen, sondern auch ein – romantisches – Modell von bloßer Individualität überwunden, wonach diese ihre Einheit, ihr Selbstbewusstsein, ohne jede soziale Einschränkung nur aus sich selbst gewinnt und jeder Einzelne wesentlich aus sich heraus das geworden ist, was er ist (Adorno 1967 [1956]: 40f.).

Exkurs: Der Einschluss des Menschen in den »Bann der Gesellschaft« Hier ist auch die Konzeption eines souveränen Individuums anzusiedeln, das nicht, wie noch bei Kant, als ein »für die Gesellschaft bestimmtes Wesen« entworfen wird und dem die Neigung, »sich zu vergesellschaften« zugeschrieben und die Notwendigkeit unterstellt wird, »ein Glied irgendeiner bürgerlichen Gesellschaft zu sein« (ebd.: 44), sondern das sich, wie bei Nietzsche, nur aus sich selbst als autonomes, übersittliches Individuum konstituiert. Folgt man Nietzsches kulturkritischen Schriften, dann artikuliert sich in der zunehmenden Vergesellschaftung der Wille einer funktionalen Macht, die dem Subjekt den Sinn einer bestimmten Funktion aufprägt, eine Funktion, die sich dem Einschluss des Subjekts »in den Bann

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der Gesellschaft« (Nietzsche 1999: 322) verdankt. Es handelt sich um eine gesellschaftlich ausgeübte Form der Macht, die dazu übergeht, das Individuum nicht primär äußeren Zwängen zu unterwerfen, die also das Mittel direkter Repression hinter sich lässt, sondern sich im Innern des Subjekts als Struktur und symbolischer Raum installiert. Diese psychische Struktur stellt, so Nietzsche in seiner, die Psychoanalyse antizipierenden, kritischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Gesellschaftsdiskursen, jene »tiefe Erkrankung« dar, der der Mensch »unter dem Druck einer Veränderung verfällt«, die ›Gesellschaft‹ heißt und die ihn einschließt in eine Wendung, in der das Subjekt sich (gegen sich) selbst richtet (Nietzsche 1999: 321f.).23 Während bei Nietzsche die Kritik an einer Gesellschaft artikuliert wird, die das Subjekt machtförmigen, standardisierten Anordnungen unterwirft, ein Vorgang, den er im übrigen als spezifisch christlich-abendländisches Prinzip der Vergesellschaftung des Menschen denunziert und der sich als Denkfigur in Foucaults Begriff der Pastoral- und Disziplinarmacht wiederfindet, wird diese Kultur- und Gesellschaftskritik von Butler in ihrer Schrift »Psyche der Macht« (2001) subjekttheoretisch gewendet. Hier stellt sich die nietzscheanische ›Tragödie‹ des Subjekts als tropologische Inaugurierung eines Subjekts dar, das sozusagen von der Gesellschaft mit einem ›Innenleben‹ ausgestattet, über einen ›Hoheitsbereich‹ verfügt, in dem es ›Eigen-Sinn‹ produziert. Die Errichtung einer psychischen Landschaft im Subjekt wird nun zum Gründungsmoment eines Subjekts, dessen Einsetzung durch die Gesellschaft soziale Macht dorthin transportiert, wo die psychoanalytische Theorie das Psychische als ontologisch gegebene Substanz des Subjekts voraussetzt. Der Bereich des Unbewussten ist dem Subjekt dann gerade aufgrund der sozialen Regeln, nach denen der psychische Apparat installiert wird, unverfügbar und nicht, weil er sich dem Sozialen entzieht. Das Subjekt entsteht als epistemische Gestalt mit ›Innenwelt‹ also erst durch den ›Kulturapparat‹ der Gesellschaft, durch Einschreibung medialer ›Apparaturen‹ und sozialer Technologien in das Subjekt. Diese gehen dem Subjekt voraus; sie liefern die sozialen Kategorien der Subjektwerdung. Der Prozess der Subjektivierung, der das »leidenschaftliche Verhaftetsein« (Butler 2001: 11) an Unterwerfung und Unterordnung impliziert, ist damit nicht abzulösen von der machtförmigen Konstitution des Subjekts durch die Gesellschaft, die ihm »erst seine schiere Daseinsbedingung und die Richtung seines Begehrens gibt« (ebd.: 9f.). Bildung und Formierung des Subjekts als Individuum erscheinen, subjekttheoretisch gefasst, als pa23 | Die »Selbstmarter« erscheint bei Nietzsche gleichsam als (»Blut-«)Spur einer Gesellschaft, die am Leitfaden des Leibes erfahren wird und sich in ihn eingraviert. Am Leib entlang ist Geschichte dann gewissermaßen genealogisch als Körpergeschichte rekonstruierbar; vgl. Bublitz 2002a.

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102 | In der Zerstreuung organisiert radoxer Vorgang, der das Subjekt in der freien Verfügung über sein Begehren, seinen Körper und seine Fähigkeiten zugleich institutionellen Praktiken und Technologien unterordnet. Dies ist auch und gerade dann der Fall, wenn diese Praktiken und Technologien flexiblen Veränderungen unterliegen und vom Subjekt aufgrund ihrer Unabgeschlossenheit im Sinne eigener Selbst(er)findungsprozesse performativen Verschiebungen unterzogen werden. Aber: Die Gesellschaft ist zugleich auch diejenige Macht, die im Subjekt produktiv für die Belange des Subjekts wird. Indem sich die (symbolische) Macht (der Sprache), der das Individuum seine Subjektivierung verdankt, als psychisches Regulativ in das Subjekt einlagert und sich in der psychischen Topographie niederschlägt, ›verschwindet‹ sie in der psychischen Struktur sprach- und handlungsmächtiger Individuen und wird zum Element widerstreitender Beziehungen, in denen sie sich, gleichsam selbstsubversiv, zersetzt. Macht wirkt dann nicht einseitig auf ein Subjekt ein, sondern wird zum Medium der Reflexivität, zum Gestaltungsraum des Subjekts. Während im psychoanalytischen Diskurs durch die Errichtung einer psychischen Instanz – des Über-Ich, des moralischen Gewissens – die Wirkungen der Macht verstärkt werden, unter deren Druck Erlebnisse ins Unbewusste verdrängt und damit vom Symbolischen abgespalten werden, kehrt sich Macht, so Butler, im Vorgang ihrer psychischen Einrichtung um und wird zur Bedingung der Möglichkeit eines Subjektentwurfs, in dem Freiheit als Wirkung von Macht erscheint.24 Dies setzt allerdings voraus, dass Macht selbst nicht als gewaltförmige, sondern als in strategischen Kräfteverhältnissen begründete gesehen wird, deren Gestalt sich immer wieder verändert und kontingente Effekte hervorbringt. Mit einer solchen Machtkonzeption ist nicht nur jeder Annahme einer vorgesellschaftlichen Existenz des Subjekts der Boden entzogen, sondern hier weicht die Zentralperspektive einer Macht, die auf übergeordnete Wissenslenkung, Naturund Affektbeherrschung abstellt und eindeutig lokalisierbar ist, einer Perspektive, in der Macht als dezentriertes Kräfteverhältnis und als dynamische Technik zur Formierung der Körper und der Subjekte in den Blick gerät.25

24 | Allerdings geht auch Butler davon aus, dass das von der Macht Verworfene vom Subjekt inkorporiert und gleichsam als Verlust in das Subjekt eingeschrieben wird. Im Anschluss an Freud formuliert sie die Auffassung, dass der unaussprechliche Verlust eines Objekts in der Melancholie des Subjekts – aber auch der ganzen Gesellschaft – seinen Ausdruck findet, der sich der Macht der Sprache als eines Zeichenzusammenhanges gerade dadurch entzieht, dass er unbewusst ist und es oft auch bleibt; vgl. Butler 1991, 1995. 25 | Die zentralisierende Strukturleistung der Macht ist nur die Oberfläche, unterhalb derer ihr wirklicher Bedingungszusammenhang, die Mikrophysik der Macht

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Macht ist demnach ubiquitär und »omniversell« (Hardt/Negri 2002).Sie ist immer schon da und überall. Als entindividualisierte, übersubjektive soziale Macht, als historisches Verhältnis, nicht als Ding oder Substanz, als Struktur oder Eigentum, wirkt sie nicht primär unterdrückend, sondern produktiv. Sie materialisiert sich in den Subjekten und ihren Körpern, die sie in der – wenn auch standardisierten – Kombination frei flottierender Elemente vermarktet. Sie produziert Wissen, gesellschaftliche Wirklichkeiten und deren mögliche Andersartigkeit, kontingente, unvorhersehbare und wandelbare Ordnungen der Dinge, ebenso wie historisch veränderbare Subjekte und deren Begehren, auch das Begehren, anders zu sein und gerade dadurch sich selbst zu finden. Ihrer Substanz- und Formlosigkeit korrespondiert ihr Ereignischarakter; sie verändert ihre Gestalt entsprechend den historischen Konfrontationen (vgl. Foucault 1978a und b; Fink-Eitel 1980).26 Sie ist nicht das, wogegen Individuen sich wehren, sondern streng genommen das, was sie zu dem macht, was sie sind: soziale Subjekte. Dies geschieht performativ, indem sprachlich beschreibbare Handlungen wiederholt auf ein Subjekt einwirken, es konstituieren und darin zugleich, produktiv wirkend, unabsehbare Resultate produzieren.27 Nur in einer solchen Auffassung von Macht wird diese zum Werkzeug, das sich nicht primär gegen das Subjekt richtet, sondern sich, begründet in der Instabilität und in der Performativität von Macht, in den Dienst des Subjekts stellt. In der Wendung, die soziale Macht als das Subjekt ins Leben rufende im Subjekt selbst nimmt, wird sie zur eigenständigen Macht des Subjekts, die es als subversive Strategie gegen unerträgliche Zumutungen der Gesellschaft wenden kann.28 (vgl. Foucault 1976b), das dezentralisierte Netzwerk bis in feinste Verzweigungen hinein wirksam wird (vgl. auch Fink-Eitel 1980: 55). 26 | Der Krieg dient bei Foucault als Metapher der Zivilordnung; er geht davon aus, dass der Krieg als andauernde soziale Beziehung den Grund aller Machtverhältnisse moderner Gesellschaften bildet, der Mensch und Gesellschaft Teilungspraktiken unterwirft vgl. Foucault 1978a: 70f., 1986: 10f., 1999. 27 | Zur produktiven Macht performativer Handlungen und deren materialisierenden Wirkungen, in denen sich Physisches und Diskursives im Körper und Subjekt verschränken, vgl. Butlers Theorie der Performativität in: Butler 1991: 190f., 1995: 21f.; vgl. zur Politik des Performativen auch Butler 1998 sowie Bublitz 2002b: 17f. und 92f. Butler geht davon aus, dass in der »Fehlaneignung« performativer Handlungen, denen normative Muster eingeschrieben sind, immer die Chance zu deren Bedeutungsverschiebung und damit zur subversiven Identitätspolitik angelegt ist. 28 | Judith Butler verweist auf Strategien, mit denen hegemonialen Normen begegnet werden kann, um eine lebbare Welt für nonkonformistische Geschlechtermodelle zu schaffen; vgl. Bublitz 2002b: 131f.

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104 | In der Zerstreuung organisiert Die Wirksamkeit dieser Strategie darf allerdings angesichts der Multioptionalität massenkulturell organisierter Wirklichkeiten bezweifelt werden. Denn die Analyse sozio-semiotischer Tendenzen einer profanen Gegenwartskultur verweist darauf, dass diese das Eigengewicht des Kulturellen in der Vielfalt von Zeichenordnungen und Bilderwelten verwaltet. Gesellschaftlich produzierte Vielfalt wird zum Normalfall einer Massenkultur, die sich nicht mehr mit der Produktion des Durchschnittsmenschen und seiner Abweichung abgibt, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft mit der kontrollierten Herstellung von Differenz, auch und gerade in ihrer extremsten Varianz, befasst ist. Da Butler aber Paradigmen gesellschaftlicher Subjektentwürfe zitiert, die sie für politisch wirksam, weil hegemonial hält, entgeht ihr die Offenheit aller Subjektentwürfe, die in der Vielfalt von Subjektbegriffen, die sie unterschlägt, ohnehin schon vorgesehen sind. Das sprachtheoretisch konzipierte ›Refugium‹ des Subjekts, von dem Butler ausgeht, ist im Zeitalter diversifizierter Zeichenuniversen längst gesellschaftlich besetzt und massenkulturell organisiert. Hier greifen Grenzziehungen von Norm und Abweichung nicht mehr, wie sie noch für Disziplinargesellschaften charakteristisch waren. Dann repräsentiert Massenkultur aber auch nicht die Gewaltförmigkeit einer kulturellen Zwangsmatrix, von der Butler ausgeht, sie funktioniert auch nicht als Hegemonialkultur im Sinne eines Machtblocks, sondern sie operiert als zirkulierende, die Körper und Subjekte durchdringende Macht, die überall in der Gesellschaft Felder errichtet, auf denen Spielarten des Sozialen erzeugt und getestet werden. Ihre Funktionsweise ist nicht beschreibbar als gewaltförmige Sozialität, die immer nur dort aufgebrochen werden kann, wo Abweichungen von hegemonialen Normen Verwerfungen und Ausgrenzungen mit sich bringen. Sie operiert vielmehr im Sinne fließender Prozesse und Kontrollkreisläufe, die gerade an den ›Bruchstellen‹ ihre sozialintegrative Kraft entwickeln.29 Massenkulturell plausibler als Butlers Modell ist daher, dass die Abweichungen Elemente von Normalisierungsfeldern bilden, denen bereits die Verschiebung von Normalitätszonen innewohnen, wie Normalisierungstheoreme annehmen.

29 | Bei Butler sind die Brüche als Abweichungen von der Norm immer schon Ansatzpunkte subversiver Strategien; sie bleibt dem Modell der normativen Integration verhaftet, das Foucault historisch als das der Disziplinarmacht entwirft. Das Modell der produktiven Macht ist jedoch nicht durch Ausschluss und ›Liquidierung‹, sondern durch doppelte Negation (des Ausschlusses und des Abweichenden), also durch Integration des – zuvor – Ausgeschlossenen und dessen Umformung, kurz, durch transformierende Normalisierung gekennzeichnet.

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Zur Dynamik und Praxis der Massenkultur oder wie man aus Bildern Welten macht »[…] um weitermachen zu können, verhalten wir uns so, als ob alles, was wir sehen, real wäre« (Umberto Eco 2004).

Massenkultur ist angeordnet um ein zugleich differenziertes und homogenes und eben darin im Konsum egalitäres Warenuniversum. Nichts am Konsum ist neu – außer ›dass die Massen nun integriert sind in den – exzessiven – Konsum‹, der bis dahin kulturellen Eliten vorbehalten war. Dem Prinzip der konsumgesteuerten Ungeduld unterworfen, überdies der technisch-medialen und körperlich inszenierten Visualisierung des Konsums ausgesetzt, wirken sie mit an der Sichtbarmachung gesellschaftlichen Wohlstands, die zugleich die Realität fortbestehender Ungleichheiten unsichtbar macht oder zumindest verdeckt. Den Kernbereich dieser Kultur bilden Industriewaren. Sie stellen gewissermaßen die materielle Grundlage der kulturellen Form der Massenkultur, die sich in der Industrialisierung der Kultur erfüllt. Massenkultur konstruiert und realisiert in der Herstellung künstlicher Welten zwar technische Entwürfe. Aber indem sie dies tut, bricht sie zugleich die instrumentelle Kälte der Moderne, die in der durchgreifenden Rationalisierung der Gesellschaft begründet ist, auf. Denn sie integriert ein zentrales Konstitutionselement bürgerlicher Kulturauffassung, die Autonomie der Kunst und des Ästhetischen, in ökonomische und soziale Prozesse. Ästhetische Entwürfe sind Bestandteil alltagsweltlicher Lebenserfahrung. Damit macht sie die Freisetzung bürgerlicher Kunst aus sozialen Bindungen und deren Verselbstständigung in einem eigenständigen kulturellen Bereich, in dem sich, aus lebenspraktischen Bezügen herausgelöst, eigene Formgesetzlichkeiten des Wahrnehmungs- und Gestaltungsvermögens herausbilden, gewissermaßen rückgängig. Zwar emanzipiert sie sich, wie die autonome, bürgerliche Kunst, von traditionellen, repräsentativen Bezügen und begreift die ästhetische Repräsentation nicht als Abbildungsgeschehen, sondern als Konstruktions- und Darstellungsmodus von Realitäten. Aber indem sie Kunst und Ästhetik in ökonomische Verwertungszusammenhänge und lebenspraktische Vollzüge einbindet und sie an technische Zirkulationsmedien anschließt, stürzt Massenkultur die gültigen Kategorien des etablierten Kulturverständnisses um, das an Autonomie und Kontinuität orientiert ist. Damit tritt sie gänzlich aus dem Gefüge eines Kulturbegriffs heraus, der an die Kategorie des Werks und der Form, der Originalität der Gestaltung und mithin des Autors als Quelle gebunden ist. Massenkultur etabliert eine Kulturökonomie, in deren Zentrum die Ästhetik der Bilder und deren technische Vervielfältigung steht. Mit Hilfe

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106 | In der Zerstreuung organisiert technisch generierter ästhetischer Verfahren vereinigt sie Kunst und Konsum werbewirksam in der Warenästhetik. Sie schreibt nicht nur Produkte und Markennamen, sondern auch – unerfüllbare – Emotionen und Sehnsüchte in die Tiefenstruktur massenkulturell erzeugter Wirklichkeit ein. Denn wer wird je, wie der Salonlöwe der »Puschkin«-Werbung, in Begleitung eines Eisbären auf einer meeresumtosten Klippe stehen, sich, wie der muskelgestählte, männliche Körper der »Cool-Water«-Werbung, von einem Felsen ins tief blaue Wasser stürzen oder, wie der Cowboy der »Marlboro«Werbung, mit der Zigarette in der Hand auf dem Rücken eines Pferdes durch die ›wilde Prärie‹ reiten? Hier wird die Sehnsucht nach unbändiger Freiheit, ungebändigter Natur und körperlicher Perfektion und Schönheit ästhetisch aufbereitet. Neben der industriell erzeugten, kommerziell verbreiteten und konsumtiv angeeigneten Warenkultur ist es daher vor allem deren Aufladung mit symbolischen Formen und deren Besetzung mit symbolischen Funktionen, die das materielle System der Massenkultur kennzeichnen. In der Ästhetisierung der Gegenstände des täglichen Gebrauchs ist begründet, dass Warenkörper nicht nur realen und funktionellen, sondern auch und vor allem einen symbolischen Gebrauchswert haben. Ästhetisierung meint hier jedoch nicht die bloß künstliche Verpuppung von Waren, die der Verkaufsförderung dienen. Sie bezeichnet vielmehr einen sachlichen Imperativ, der bei den Konsumenten das Bedürfnis nach Ästhetisierung gleich mitproduziert. Ästhetische Entwürfe bilden das Medium kultureller Selbstdeutung, individuellen Ausdrucks, gruppenspezifischer (Lebens-)Stile und Identitäten. Die Universalisierung des Ästhetischen zum durchgreifenden Prinzip massenkultureller Produktion und Konsumtion kann als immanente Tendenz dieses Kulturtyps verstanden werden (vgl. Dröge/Müller 1995: 30). Aber Universalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Homogenisierung. Massenkultur kann als heterogenes Spektrum ökonomischer, technischer und ästhetischer Praktiken verstanden werden. Was sich der einen ›Logik des Kapitalismus‹ zu verdanken scheint, ist alles andere als gleichförmig oder gar ›gleichgeschaltet‹. Massenkultur konstruiert und produziert nicht nur eine den Gesetzen des Marktes und des modischen Wechsels folgende stilistische Vielfalt von Zeichen und Symbolen. Sie verweist explizit auf Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse, die sich u.a. in biographischen Konstruktionen, in individuellen und gruppenspezifischen Lebensstilen manifestieren. Gerade darin aber besteht ihre sozialintegrative Funktion. »Erst im Zuge massenkultureller Integration wird Differenzierung, z.B. eine ästhetisch-inszenatorische Individualisierung, eine bedeutungsvolle und womöglich auch

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2. Das Phantasma der Massenkultur | 107 individuell befriedigende Strategie und eine differenzerzeugende kulturelle Handlung von wiederum umfassend konsensierter Rationalität« (Dröge/Müller 1995: 31).

Massenkultur erzeugt soziale Integration durch Individualisierung. In der Erzeugung von immer neuen Märkten produziert sie zugleich die Diversifizierung und Streuung von Selbstbildern. Diese sind verkoppelt mit medialen Zeichen sowie mit der Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien. Massenkultur funktioniert nicht primär über Ver- und Gebote, sondern über die Macht, selbstorientierte Subjekte zu einem bestimmten Handeln zu bewegen, nämlich dazu, die Grenzen des eigenen Ich zu überschreiten und das eigene Ich jeden Tag und in jeder Situation neu zu erschaffen. Dem über Märkte erschlossenen, technisch erzeugten und ökonomisch organisierten Streben nach ›gemachten‹ Welten entspricht die Faszination für individuell ›gemachte‹ Wirklichkeiten: Was zählt ist, dass man etwas aus sich macht. Diese Haltung verbindet sich mit einer Wertschätzung für alles, was als ›authentisch‹ ankommt. Das Authentische hat nichts zu tun mit »echt« im Sinne von »ursprünglich« oder »natürlich«, sondern das Authentische ist das, was überzeugend und glaubwürdig inszeniert ist. Gleichzeitig produziert Massenkultur Individualitätsmuster unter Rückgriff auf kommerzialisierte Botschaften. Individualität wird als ›Markenzeichen‹ sozusagen am Markt und in seiner Marktförmigkeit erobert. Sie ist Standard und wird zum ›Massenschicksal‹.30 Angeboten und verkauft werden markenspezifische Lebenswelten und -stile und die zugehörige Ereignisqualität. Sie ist die Basis einer Sozialität, die auf der Ausrichtung des Lebens an einer gesteigerten Selbstverantwortung aufruht. Ohne Rekurs auf unterschiedliche kulturelle (Bildungs-)Traditionen setzt Massenkultur Wiedererkennungs- und Identifikationsmöglichkeiten, aber auch Abgrenzungsbestrebungen frei. Es ist die »Doppelnatur« der Stars, einerseits übernatürlich wirkende Eigenschaften wie Schönheit oder ungewöhnliche Charakterzüge zu verkörpern und andererseits als Idol in ein »Ensemble von Wirklichkeitsfragmenten eingebettet« zu sein, also einer gewissen Tendenz zur »Vermenschlichung« zu unterliegen, die sie zu Identifikationsmodellen erhebt (Morin 1971, zit. n. Spreen 1998b: 16). Sie bieten sich zudem als Aufstiegsmodelle jenseits der Mühen harter Arbeit und Bildungsanstrengungen an und repräsentieren unbegrenzte Freiheit. »Der Mann, der Amerika in Brand setzte, war über 1,90 Meter groß, muskulös, schamlos, außergewöhnlich intelligent, elegant: ein Dandy des Rings von der ebenmäßigen 30 | Eine weitergehende Frage wäre, ob dies nicht auch schon für die bürgerliche Individualität und Identität galt.

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108 | In der Zerstreuung organisiert Schönheit, die gewöhnlich in die Albträume weißer Rassisten über ihre sexuelle Minderwertigkeit verbannt wird. Auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten spielte er mit seinen Gegnern, trieb sie lachend und spottend vor sich her, rief die Runde für den Knock-out in die Menge (und lag fast nie falsch), warf seinen Geliebten Kusshände zu. […] In den sieben Jahren seiner Titelherrschaft schlug er mühelos und ohne nennenswertes Training jeden Gegner. […] Johnson liebte Opern, nicht Rag Time, verschlang Bücher, am liebsten Romane von Alexandre Dumas. Seine Maßanzüge, gern getragen mit Bowler oder Borsalino, die Diamanten für seine Frauen waren legendär wie sein goldblitzendes Lachen […]« (DIE WELT 20.1.05: 27; Hervorhebung durch die Autorin).31

Mit der Schlagzeile ›Vom Sklavensohn zum Weltstar‹ ist ein möglicher Weg in die Zukunft vorgezeichnet. So wird Arthur John »Jack« Johnson, geboren 1878 als Sohn ehemaliger Sklaven, der 1908 Schwergewichtsweltmeister im Boxen wird und 1910 seinen Titel verteidigt, zu einem einmaligen und unwiderrufbaren Ereignis, das Möglichkeitshorizonte eröffnet. Im Starkult gerät die Konkurrenz idealisierter Gestalten von Körperund Individualitätsmodellen, die als mögliche und daher zukünftige erscheinen und der ›wirklichen‹ Welt in den Blick. Hier realisiert sich ein ›mediales Dispositiv‹, das die Menschen mit dem Imaginären verbindet. Die Identifikation mit einem durch und durch konstruierten Modell lässt sich als eine Art ›Science Fiction‹, nämlich als Vorgriff auf die Zukunft begreifen. Das Modell stellt immer etwas positiv Herstellbares, etwas zukünftig Mögliches dar, das man nicht ist, aber sein möchte. Es ist, wie im Prinzip der Film und vergleichbare Medien, in die Medienzeit eingehüllt, immer schon mehr als die Realität (vgl. Spreen 1998b: 18). Im massenmedial inszenierten Ereignis des Stars kommt Individualität zum Ausdruck und wird millionenfach vervielfältigt32: Die Kandidaten der Casting-Shows rekrutieren sich aus der Masse und sind deren Substitut. Dabei werden Einzelne in prominente ›Stars‹ umgewidmet und verschwinden wieder in der Masse. Differenzierung und marktförmige Standardisierung der Individuen bilden einen Vorgang. Über ihre Inklusion in marktund machtförmige Prozesse der Regulierung werden Differenzen kontrollierbar. ›Normalität‹ wird dadurch gewährleistet, dass der Möglichkeitsraum 31 | Miles Davis widmet dem legendären Star »Jack Johnson« ein Album. Auf dem Cover wird er mit seiner Vorliebe für große und schnelle Autos, für Frauen – »viele und die meisten von ihnen weiß«, teure Zigarren und Champagner präsentiert, alles Dinge, die »kein schwarzer Mann haben sollte«. Johnson ist ein Symbol für die Freiheit der Schwarzen – und ein Liebling der Frauen. 32 | Zum Star- und Personenkult der Massenkultur vgl. auch Ruchatz 2001.

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individueller und kollektiver Erfahrung nicht nur entfesselt, sondern zugleich kommunikativ anschlussfähig gemacht, also sozial integriert wird. Der Entgrenzung des Individuums aus vorgegebenen, festen Lebensformen durch die ›freie‹, situativ wechselnde Wahl von Lebensformen entspricht seine soziale und marktförmige Einbindung. Massenkultur produziert also, neben der Freigabe des kommunikativen Geschehens, soziale Anschlussmöglichkeiten und -fähigkeiten. Sie richtet sich am Populären aus und integriert das Unpopuläre auf der Ebene allgemeiner Standards. Aus einem Reservoir des massenhaft Produzierten bietet sie Anschlussmöglichkeiten des Einzelnen an die Gesellschaft und an globalisierte Weltmärkte. Das impliziert eine mediale ›Raumrevolution‹, also die Erweiterung und Entgrenzung von Erfahrungsräumen durch technische Herstellung räumlicher Mobilität und medientechnisch gestützte, raum- und körperenthobene Kommunikation. Ferner die von ökonomischen Kriterien geleitete markt- und effizienzförmige Gestaltung nicht nur produktiver Austauschprozesse, sondern auch kultureller Ding- und Sozialbeziehungen. Dabei geht es um die Ausrichtung des individuellen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen, das sich im Modus der Karriere und Attraktivität als ebenso riskantes wie optimierungsfähiges Unternehmen gestaltet (vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000). Dem entspricht auf der Ebene ästhetischer Technologien eine Zeichen- und Bedeutungspolitik der Bild- und Warenästhetik. Sie emanzipiert sich von vorgegebenen, für alle gleichermaßen verbindlichen Sinn- und Bedeutungshorizonten und nutzt die Individuen gleichsam als experimentelle Oberflächen einer Zeichenökonomie, welche die Vervielfältigung und Differenzierung von Selbstbildern mit der Diversifizierung ganzer Zeichenuniversen verschaltet. Und schließlich entspricht dem eine Ökonomie des Subjekts, die in der Entfesselung und Fiktionalisierung des Begehrens individuelle Wunsch- und Begehrenshorizonte freisetzt und ins Offene phantasmatischer Inszenierungen und zukünftiger Realisierungen verlängert. Damit wären aber nur die individualisierenden Strategien der Massenkultur bezeichnet. Sie entwickelt aber ebenso regulative Mechanismen der Integration anomischer Tendenzen und Widerstandspotentiale, indem sie diese in einem komplexen kommunikativen Management nach Kriterien marktförmiger Anschlussfähigkeit normalisiert. Sie betreibt also mit der Entregelung geschlossener Begehrens- und Erfahrungshorizonte zugleich deren sozialintegrative Regulierung (vgl. Makropoulos 2003: 166f.). Den deregulativen, individualisierenden einerseits und den regulativen, sozialintegrativen Mechanismen der Massenkultur andererseits entspricht die optimierende ›Modulation‹ der Individuen als transformierbare Elemente von Datenmassen. Sie setzt, im Rahmen statistisch-mathematischer Konfigurationen als Stichproben hergestellt, das Individuum unausgesetzt Test-

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110 | In der Zerstreuung organisiert situationen aus und führt es seiner disponiblen Vermarktung zu. Beispiele sind etwa die in den Medien verbreiteten Fragebögen zu Job- oder Partnerschaftsbörsen, die die optimale Selbst-Vermarktung abfragen, sie über ein ›Zuviel‹ oder ›Zuwenig‹ messen, in eine Häufigkeitsverteilung eintragen und an einem über die Abweichungen errechneten – fiktiven – Durchschnitt ausrichten. Dabei verschränken sich Individualisierungstechniken mit Normalisierungsverfahren im Subjekt. Massenkultur organisiert am und im Subjekt, was diesem zuvor äußerlich war. Hier verbinden sich mediale Anordnungen mit performativen Formen des Selbstmanagements, in denen das Individuum zum ›Unternehmer‹ seiner selbst wird und sich tief greifenden technisch-medialen und ökononomisch effizienten ›Modulationen‹ unterwirft. Techniken der Selbstführung übernehmen die Rolle regulierender Prinzipien, die, wie die Disziplinierung und deren kulturelles Amalgam, der disziplinierte Körper, nicht länger gebunden sind an vorgegebene Normierungen, sondern flexiblen Normalisierungsvorgängen angeschlossen sind. Das Subjekt wird selbst zum Ort und Medium sozialer Regulierungsprozesse. In sie sind performative Prozesse der Ästhetisierung und Stilisierung eingeschrieben, in denen das Subjekt sich selbst verändert und eine individuelle Wahl trifft.33 Wenn Massenkultur sich als Medium der Realisierung von unbegrenzten Möglichkeiten und Begehrenshorizonten zugleich der Fabrikation sozialer Sicherheit verschreibt und diese, ungeachtet der entfesselnden Kräfte, zur semantischen Leitidee avanciert, dann ist damit nicht lediglich eine subjektive Gewissheit, sondern eine gesellschaftliche Objektivität gemeint, die sich zu »Dispositiven der Sicherheit« steigert (Lemke 1997: 183f.; vgl. auch Makropoulos 1997: 33f.). Damit wird nicht nur versucht, »die Reihe von zufälligen Ereignissen, die in einer lebendigen Masse vorkommen können, zu kontrollieren« (Foucault 1993a: 64), sondern auch die Kontingenz heterogener Ereignisse zu kompensieren und auszugleichen. Sicherheit wird damit zur »sozialkonstitutiven Normalform« der Begrenzung von Kontingenz. Als solches ist Massenkultur dann aber nicht bloßes Resultat kultureller Transformationsprozesse in der Moderne, sondern eines der konstituierenden Elemente moderner Vergesellschaftung. Denn mit den Prozessen der Technisierung und Medialisierung, der Ökonomisierung und Ästhetisierung verbindet sich – über die Aspekte der maschinellen Erzeugung, der kommerziellen Verbreitung und ästhetischen Aufmachung der Kulturwa33 | Aus der individuellen Ästhetisierung wird erst dann ein gesellschaftlicher Vorgang der Subjektivierung, wenn sie sich als Norm(alität) auf die ganze Gesellschaft ausdehnt. Das ist beim Ästhetizismus als massenkulturellem Medium der Selbstinszenierung und -stilisierung der Fall.

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ren hinaus – die Etablierung einer neuartigen, die Realität strukturierenden Matrix. Deren wesentliches Moment ist nicht nur die umfassende Neustrukturierung sozialer Wirklichkeiten durch die im Rahmen einer »artifiziellen Gesellschaft« (Popitz 1995) technisch forcierte Versachlichung der Welt, sondern die potentiell schrankenlose, auf Dauer gestellte Überbietung des jeweils erreichten Zustandes, die Perfektionierung des Menschen eingeschlossen.34 Massenkultur etabliert insofern ein »prinzipiell konstruktivistisches Realitätsverhältnis im Kreuzungsfeld technisierter, ökonomisierter und ästhetisierter Wirklichkeiten« (Makropoulos 2003: 156), als sie die fraglose, selbstverständliche Realität als jeweils (sozial-)technisch zu überbietende, manipulier- und veränderbare darbietet und dieses Projekt, ökonomisch angeleitet, in der ästhetischen Inszenierung von Wirklichkeiten umsetzt. Diese Momente der technisch-medialen, konstruktiven und ästhetischen Überbietung, die, an ökonomischen Effizienz- und Optimierungsstrategien ausgerichtet, alles bisher Dagewesene ›in den Schatten stellen‹, wird in der Massenkultur zweifellos zu einem Modus lebensweltlicher Erfahrung. Die Konsumobjekte nehmen, wie die sie konsumierenden Subjekte, Momente des Artifiziellen an; sie sind, als potentielle Träger von ›Attraktivität‹, Vermittler von ästhetisch erzeugten Bedeutungen, Stilen und Selbstbildern, die in ihrer situativen Orientierung kontingent und austauschbar sind (vgl. Reckwitz 2004: 177). Aber womöglich ist dieses Moment des Konstruktivistischen und Artifiziellen, permanent Grenzüberschreitenden nicht das einzige, womöglich gar das entscheidende Moment. Vom technisch-artifiziellen und konstruktivistischen Aspekt her allein lässt sich die Spezifik der Massenkultur nicht erschließen, wenn nicht die technische Verfertigung der Kulturwelt als einziger Grundzug der Massenkultur herhalten soll. Massenkultur verdankt sich einer Praxis, die in der Struktur einer bloß künstlichen Technizität und Medialität nicht aufgeht. Körper- und Subjektformen sind ebenso wie Bewegungsmuster, Mimiken und Körperhaltungen materiale Funktionsweisen und Formen von Performativität. Sie implizieren Authentifizierungsstrategien und Handlungsvollzüge. Indem Massenkultur aber, als Vergesellschaftungsmodus verstanden, einem ihr vorgängigen Apriori des Medialen und Technischen unterstellt wird, das ihr, unabhängig von diskursiven Strategien, »das Siegel einer durchgängigen Konstruktivität aufprägt« und ihre Dynamik »mit dem alleinigen Maß eines Herstellens, Machens oder Verfügens« (Mersch 2002b: 59) versieht, wird ein Souveränitätsphantasma der Medien und der Technik 34 | Zur Kontingenz und durchgreifenden Positivierung artifizieller Wirklichkeiten sowie zur sozialen Realisierung konstruktivistischer Dispositionen im Rahmen der Massenkultur vgl. Makropoulos 2003, 2004.

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112 | In der Zerstreuung organisiert aufgerufen, in dem Medialität mit einer Abrichtung zu »Machenschaften« zusammenfällt. Eine solche Position ist, wie übrigens die Technik- und Medienkritik auch, einer Struktur von Medialität als Technizität und Machtsetzung verfallen, die das Nicht-Mach- oder -Kontrollierbare, woran Technik sich bricht, verdrängt. Das aber bedeutet, dass Kultur sich, nur noch Effekt der technischen Optimierung von Machbarem, selbst der Apparatur annähert, von der sie verschlungen wird (ebd.: 58f.). ›Real‹ wäre demnach, was technisch reproduzierbar ist und sich einer künstlichen, arbiträren Anordnung der Zeichen verdankt. ›Das Reale‹ scheint sich in dem Maße in der unendlichen Wiederholbarkeit technischer Reproduktion und Simulation zu verflüchtigen, wie sich Materialitäten durch technische Verfahren der Aufzeichnung in den Spuren des Performativen, in der Immaterialität binärer Codes verlieren. Sie gestatten, jegliche Materialität abzustreifen. Dabei wird das Ereignis in dem Maße, in dem es sich als medial darstell- oder inszenierbares und das heißt, technisch zugerichtetes zeigt, als solches hinfällig. Das realitätserzeugende, in seiner Gegenwärtigkeit unhintergehbare Moment der Massenkultur erschließt sich jedoch, ungeachtet von Medialität und Konstruktivismus, erst durch Einführung von Dimensionen, die dem Realen als Kategorie einer Herstellungspraxis Rechnung tragen, in der das Reale – und damit auch ›Authentizität‹ – performativ erzeugt und bestätigt wird.

Performativität, Ereignis-Individualität und Präsenz Massenkultur ist in ihrer Ereignishaftigkeit und Performativität mit Präsenzen verbunden, die dem performativ Hervorgebrachten das Gewicht einer unumstößlichen Anwesenheit und Gegenwart verleihen und über Materialität im Sinne einer Oberfläche, die sich über Skripturen herstellt, hinausgehen. Denn: Eingebunden in das Phantasma der unendlichen Wiederholbarkeit medialer Ereignisse, die Souveränität über das Material suggeriert, indem sie alles in ein Gespinst manipulierbarer Texturen und Oberflächen verwandelt, zeigt sich in der Ereignishaftigkeit des Geschehens gleichwohl die Präsenz und Materialität der Zeichen, der Körper und der Subjekte, die im medialen Ereignis nicht aufgeht. Zweifellos gründet Massenkultur im Sich-Zeigen, in der Präsenz und in der Forcierung des Evidenten. In medialen Ereignissen erhält das Sichtbare, offen zutage Liegende Gewicht und Bedeutung, ja, es wird als Wirkliches erzeugt. Dies geschieht auf mehreren Ebenen: Es verdankt sich zum einen der Macht der Bilder, die performativ und wirkmächtig sind. Denn das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit, Medialität und Authentizität unterliegt in

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der Massenkultur selbst einer Transformation. Die bildliche Inszenierung der Wirklichkeit verlagert die Unterscheidung von wirklich und unwirklich, von echt und unecht in die Bilderwelt selbst hinein. Was als real gilt, ist im Bild selbst auffindbar und nicht in Opposition zum Bild zu verhandeln. Die Bilderwelt produziert nicht Schein, sondern Authentizität. Als bildliche Inszenierungen des Authentischen sind Bilder repräsentativ; sie repräsentieren Stile. Und sie sind performativ, indem sie Wirklichkeiten produzieren. Bilder erscheinen als Beleg für die reale Existenz der Ereignisse, die sie abzubilden vorgeben. »Mit der Medialisierung des Sozialen hat ein Prozess eingesetzt, der das Verhältnis zwischen Bild und Realität transformiert. Bilder repräsentieren Wirklichkeit weniger als dass sie diese herstellen. Erst was in den Bildmedien auftaucht, gilt als existent und glaubwürdig. Bilder machen Wirklichkeit, sie sind performativ« (Klein/Friedrich 2004: 128). Zum anderen rekurriert diese Wirkmächtigkeit der bildhaft inszenierten Realität auf eine abgeleitete Kraft performativ erzeugter Bilder und Handlungen. Denn diese beziehen sich unweigerlich auf eine symbolische Matrix, die sie performativ zitieren und dabei verschieben, möglicherweise auch durchbrechen. Der Begriff des Performativen verbindet sich mit dem des Zitats und der Wiederholung bereits kodierter, wiederholbarer Äußerungen und Spielregeln. Jeder performative (Sprech-)Akt, jedes performative Handeln ist ein Zitat aus dem Reservoir kulturell vorgegebener Kodierungen; es hat diese verschiebende Wirkung. Durch ständige zitatförmige Wiederholung werden Wirkungen produziert, die kontingent, also nicht vorhersehund berechenbar sind. Denn in der ständig wiederholenden und zitierenden kulturellen Praxis, die auf bereits bestehende Modelle und Kodierungen rekurriert, werden diese zugleich immer auch verfehlt; ihr Zitieren erfolgt in jeweils veränderten Kontexten und verschiebt damit die kulturellen Bedeutungen. Die Konstitution und Aneignung kultureller Formen impliziert demnach sowohl die Fortschreibung als auch die ›Verfehlung‹ – und damit die Verschiebung – vorhandener globalisierter Diskurse. Sie überschreiten das handelnde Subjekt, werden aber von diesem aktualisiert und im performativen Handeln des Subjekts, das sich auf einen tradierten Normenkodex bezieht, durch ihn kodiert ist und diesen zitiert, zugleich verschoben. Während Judith Butler von Sinnverschiebungen in der performativen Wiederholung von Normen ausgeht, bedarf die Bedeutungsverschiebung nach Mersch eines Anlasses, der selbst nicht Sprache, sondern Erscheinendes ist; das Sichzeigende ist eine Störung im gewohnten Code. Es ist (sinn-)konstitutiv, insofern es Anlass zur Produktion neuer Bedeutungen ist. Hier meint ›Sich-Zeigen‹ dann auch nicht authentisch wirkende Bilder. Vielmehr geht Mersch von der Unverfügbarkeit dessen aus, was aufgrund einer Ereignis-Singularität erscheint und Präsenz beansprucht (vgl. Mersch 2002b).

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114 | In der Zerstreuung organisiert Die mediale Inszenierung grenzüberschreitender Ereignis-Individualitäten greift auf kulturell vorgegebene Vorstellungen zurück, mit denen sie spielt, die sie durchbricht und die ihnen dennoch in ihrem Bezug auf die kulturelle Matrix, in die Modelle von Subjektivität, Körper, Geschlecht und Wirklichkeit eingeschrieben sind, verhaftet bleibt. So kann ›Lara Croft‹ als digital konstruierter, grenzüberschreitender Geschlechtskörper nur wahrgenommen werden, insofern die Anspielungen auf das, was in die kulturelle, symbolische Ordnung als weiblicher oder männlicher Körper eingeschrieben ist, in der Grenzüberschreitung bereits vorausgesetzt ist und daher implizit auch mitgesehen und mitgedacht wird. Auch der digital aufbereitete, athletisch gestylte Körper von ›Lara Croft‹ ist, ausgestattet mit einem neuen ›sex appeal‹, in seiner medialen Repräsentation ein evident geschlechtlich markierter Körper. Er verstärkt den Eindruck eines weiblichen Körpers, der auf einer neuen sexuellen Attraktivität beruht und überschreitet ihn zugleich (vgl. dazu auch Balsamo 1996). Typisierung und Aufsprengung von Typisierungen gehören zum narrativen Muster der Massenkultur. Ihr Kennzeichen sind vielschichtige mediale Überschreibungen und grenzüberschreitende Praktiken, mit denen sie kulturelle Stereotypen dekonstruiert, sie zugleich aber durchaus verfestigt und verstärkt. Medienbilder werden jedoch erst wirklich, indem sie, eingebettet in Alltagskontexte, wiederholt, ›nachgeahmt‹ und auf diese Weise ständig aktualisiert und erneuert werden; hier nehmen sie in den Inszenierungen des Selbst, in körperlichen Haltungen und Gesten ästhetische Form und materielle Gestalt an. Was real ist, ist im Gelingen des performativen Akts begründet. Es kommt zu einer permanenten Vergewisserung dessen, was als ›echt‹ und ›authentisch‹ gilt. Der Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Inszenierung kommt zentrale Bedeutung zu (Klein/Friedrich 2004). Das konstruktivistische, mittels ästhetischer Strategien umgesetzte Paradigma der Massenkultur gewinnt seine Wirkmächtigkeit also erst durch die Kraft performativer Akte. Diese Performativität, mit der globale Diskurse und Bilder aufgerufen, materialisiert und inkorporiert, aber dabei immer auch verschoben werden, ist konstitutiv für die Praxis der Massenkultur und die durch sie produzierten Subjekte. Performativität und Materialisierung sind mithin Elemente, die dem konstruktivistisch-artifiziellen Moment der Massenkultur erst Wirkung verleihen. Erst durch sie materialisieren sich Vorstellungen und Bilder der Wirklichkeit und werden als – subjektive – Realität körperlich und subjektiv erfahrbar. Damit werden sie, körperlich habitualisiert, zu Dispositionen des Subjekts. Aber genau an dieser Stelle zeigt sich, dass die Performativität in der bloßen Umsetzung technisch-konstruktivistischer Skripte nicht aufgeht. Sie erschöpft sich nicht in der unendlichen Reproduktion des technisch Vorgefertigten oder im Paradigma einer

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»zutiefst ökonomisch« verfahrenden kommunikativen Normalisierung (Makropoulos 2003: 162). Selbst- und Körperinszenierungen gehen über die bloße Kultivierung von Oberflächen hinaus. Sie sind nicht nur Darstellungsformen medialer Vorgaben oder individueller Positionen in sozialen Feldern, soziale Muster, über die spezifische Normen reproduziert, aber auch erneuert und verändert werden, sondern wirklichkeitserzeugende Praktiken, die mediale Einschreibungen überschreiten. Denn ein wesentlicher Aspekt der durch mediale Schreibvorgänge hervorgebrachten Präsenz – des Körpers, des Subjekts, der Wirklichkeit – ist, dass im performativen Akt der Verkörperung und ›Einverleibung‹ medial produzierter Bilder etwas in Erscheinung tritt, das über die medialen Schreibvorgänge technisch-medialer Apparaturen hinausgeht. ›In-Erscheinung‹ treten sie als ›Störungen‹ medial konstruierter Bilderwelten, die in ihrer Ereignis-Individualität unhintergehbar sind, also nicht mehr ungeschehen gemacht werden können.35 In der Einschreibung technisch produzierter Signaturen in die Körper und Subjekte konstituiert sich eine gleichsam kulturell produzierte Unverfügbarkeit, die in der ihr eigenen Materialität und Schwere mediale Vor-Bilder überschreitet. Real ist demnach nicht das äquivalent Reproduzierbare, sondern das, was sich ihm widersetzt. Das Reale – des Körpers, des Subjekts, der Wirklichkeit – sträubt sich gegen die Allmacht technisch applizierter Bilder und induzierter Vorstellungen. Körper bestehen nicht nur aus Ideen, sondern sie unterliegen ebenso Erfahrungen und Erinnerungen, die in Fleisch und Blut übergegangen sind. Es muss immer irgendeine Form der Verkörperung, der Materialisierung von Bildern geben, damit diese wirkmächtig sind. Sie beruhen auf einem materiellen Träger, der sich selbst unaufhörlich verändert und nicht in einem bloß formalen Muster, das sich exakt reproduzieren lässt, aufgeht. Der Körper ist nicht bloßer Effekt exzessiven (Medien-)Konsums oder medialer Applikationsfolien; er hat, auch als kulturell produzierter Körper, ein Eigen-Gewicht, das mediale (Vor-)Bilder sprengt. Insofern in ihn und seine Morphologie Erfahrungen, Affekte und Emotionen eingeschrieben sind, die z.T. laut- und sprachlos und damit unentzifferbar bleiben, entzieht er sich dem Rahmen medialer Körperbilder. Idealisierte Körperbilder sind subjektiv nicht oder nur um den Preis der Installation des Körpers als technologi-

35 | Auf diese Weise verändern sie alles und dienen unter Umständen dennoch der erneuten Festigung von Klischees. So etwa, wenn schwarze Basketball-Stars der NBA zwar einerseits aus ihrem ›Schattendasein‹ heraustreten, gleichzeitig aber selbst mit der Parole ›white men can’t jump‹ die Auffassung vertreten, Schwarzen läge die körperliche Sprungkraft im Blut und damit die diskursstrategische Position des schwarzen athletischen Körpers verfestigen; vgl. dazu Bublitz 1999c.

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116 | In der Zerstreuung organisiert sche Apparatur einholbar. Der reale Körper bildet nicht nur ein Attribut seiner technisch-medialen Repräsentation. Massenkultur bildet zwar Produktionseinheiten von Mensch und Technologie, Verkoppelungen von organischen Körpern mit technischen Übertragungsmedien, die nicht nur die Körperlichkeit umstrukturieren und Körpergrenzen durchlässig machen. Aber sie schafft eine neue Präsenz des Körperlichen mit einer ihr eigenen Materialität. Dabei erhält der Körper nicht nur in seiner medialen, unendlich wiederholbaren Performanz und digital aufbereiteten Kontur Präsenz, sondern immer auch als realer Körper Gewicht. In ihm materialisieren sich zwar mediale Symbole und Bilder, aber zugleich durchbricht der reale Körper die vorgegebenen Schemata auf je spezifische Weise. An den Bruchstellen medialer und realer Körper wird eine Differenz sichtbar, die aus der Unverfügbarkeit zwar kulturell kodierter, aber real in Erscheinung tretender Körper resultiert. Das Faktum einer normalisierenden Verschiebung von Normen, die bloße Funktionsstellen in einem Spektrum von Normalitätszonen bilden und der Selbstadjustierung dienen, verweist nicht nur auf den performativen Fluss des Ganzen, sondern immer auch auf eine veränderte Form der Präsenz des Körpers und der Subjekte. Praktiken, die, wie etwa der magersüchtige Körper, diesen – und damit auch das Selbst – ›zum Verschwinden bringen‹ oder ihn, wie der esssüchtige, fettleibige Körper, bis zur Unkenntlichkeit ›aufblähen‹, sind zwar eingebunden in das Regime einer Zeichenordnung, die die Option, ›aus dem Rahmen zu fallen‹ oder ›die Fassung zu verlieren‹ bereits im Rahmen der Repräsentation verwalten. So gesehen bringt die Matrix der Repräsentation genau jene ›Abweichungen‹ hervor, die die Normalität dessen, was repräsentiert wird, bestätigen. Aber zugleich zeigt sich eine Präsenz des Körpers und des Selbst, die auf den Eigen-Sinn und Selbstbemächtigung zumindest verweisen. In der Performativität und Ereignis-Individualität inszenierter Wirklichkeiten begründet, verschreibt Massenkultur sich daher nicht nur der Vervielfältigung unbezwingbarer Singularitäten, der ununterbrochenen Alternierung von Markierungen und der schier unendlichen Wiederholbarkeit von Einschreibungsvorgängen technischer Strukturen. Sie entzieht Körperliches und Subjektives, im Zusammenspiel von Performativität und Performanz, im Bezeichnen und im Vollzug des Bezeichneten sowie seiner Verkörperung der unausweichlichen Präsenz ausgesetzt, seiner Degradierung zur beschlossenen, bloßen Funktion. Damit geht Massenkultur weit über das hinaus, was ihr in immer neuen Variationen so lange schon nachgesagt wird.36 Massenkultur hält die 36 | Vgl. Philosophisches Quartett im ZDF vom 15.2.04: ›Macht Demokratie dumm?‹ Mit dem Satz »Ein Video-Clip von Christina Aguilera zerstört in fünf Minu-

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»zerstreute Masse« nicht in einem unwirklichen Zustand und sie ist, wie auch die Unterhaltung, keineswegs irreal. Vielmehr konstruiert, erzeugt und verdoppelt sie Realitäten. Indem sie gewissermaßen »doppelseitige Objekte« voraussetzt, die den Übergang von Wirklichkeit und Fiktion, von Fiktionalität und Faktizität unkenntlich werden lassen und »das Kreuzen der Grenzen ermöglichen« (Luhmann 2004 [1995]: 98f.), schreibt sie die Welt der Imagination, das Phantasma in Realitätskonstruktionen ein. Das Imaginäre befindet sich dann sozusagen unsichtbar auf der ›Innenseite‹ dieser doppelseitigen Objekte. Fiktion und Realität existieren gleichzeitig. Massenkultur liefert Realitätsmodelle und regelt, zumindest auf der Seite der Subjekte, Inklusion und Exklusion.37 In der Zerstreuung durch Unterhaltung ermöglicht sie eine Selbstverortung in der dargestellten Wirklichkeit.

ten die Bildungsarbeit von fünf Jahren« (Sloterdijk) wurde hier allerdings eher dem klassischen Kultur- und Bildungsbegriff ein Armutszeugnis ausgestellt als der Massen- und Medienkultur. Worauf das hier Angesprochene, übrigens medienwirksam inszeniert, abzielt, ist, ungeachtet der Tatsache, dass es maßlos überzogen erscheint, zweifellos die Performativität der Massenkultur, die sich, in der Ereignishaftigkeit inszenierter Wirklichkeiten begründet, mit der Wirkmächtigkeit technisch-artifiziell produzierter Bilderwelten und der unausweichlichen Präsenz des Körperlichen dem Vorrang des Denkens und der Schrift als Reflexionsinstrumenten entzieht. 37 | Sie tut dies nicht mehr in der Form des bürgerlichen Bildungsromans oder des bürgerlichen Dramas, die, gebunden an einen typisierten Gefühlsaufwand und als Vollzug präformierter Anlagen des Subjekts, nicht-verbürgerlichte Schichten (des Adels und der Unterschichten) aus den Reflexionsinstrumenten des klassischen Bildungsbegriffs ausschlossen, sondern als Inklusion aller, mit Ausnahme derer, die sich an der Unterhaltung nicht beteiligen; vgl. dazu auch Luhmann 2004 [1995]: 116.

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3. Das Phantasmatische der Massenkultur | 119

3. Das Phantasmatische der Massenkultur: Mehr-Begehren

Ökonomie des Begehrens »Mr. Wayne, der Protagonist der Geschichte, sucht den geheimnisvollen, alten Tompkins auf, der allein in einer Hütte in einem verlassenen Teil einer Stadt lebt, die nur mehr aus Ruinen und verrottendem Abfall besteht. Es wird erzählt, daß Tompkins mit Hilfe einer speziellen Droge Menschen in eine parallele Zeitdimension versetzen könne, wo in einer Art Parallel-Leben all ihre Wünsche in Erfüllung gehen – dafür müssen sie ihm ihre wertvollsten materiellen Besitztümer geben. Nachdem er Tompkins gefunden hat, beginnt Wayne ein Gespräch mit ihm. Tompkins behauptet, daß diese Erfahrung die meisten seiner Klienten vollkommen befriedige, d.h., daß sie sich hinterher nicht betrogen fühlten. Wayne zögert jedoch noch, und Tompkins rät ihm, sich Zeit zu lassen und es sich zu überlegen, bevor er seinen Entschluß faßt. – Auf dem Nachhauseweg denkt Wayne darüber nach; zu Hause warten seine Frau und sein Sohn, und bald sieht er sich in den alltäglichen Freuden und Problemen des Familienlebens gefangen. Beinahe täglich sagt er sich, daß er den alten Tompkins nochmals aufsuchen und sich die Erfüllung seiner Wünsche gönnen wird, aber immer gibt es etwas zu tun, Familienangelegenheiten, die ihn ablenken und ihn den Besuch aufschieben lassen. Zuerst muß er seine Frau zu einer Geburtstagsfeier begleiten; dann hat sein Sohn Probleme in der Schule; im Sommer, hat er ihm versprochen, wird er mit ihm segeln gehen; der Herbst bringt neue Ablenkung … So vergeht das Jahr, und Wayne findet keine Zeit, den Entschluß zu fassen, obwohl in seinem Hinterkopf ständig der Gedanke schwebt, daß er Tompkins früher oder später doch aufsuchen wird. Auf diese Weise vergeht die Zeit, bis … bis er plötzlich in der Hütte neben Tompkins aufwacht, der ihn freundlich fragt: ›Nun, wie geht es Ihnen jetzt? Sind Sie zufrieden?‹ Verlegen und verwirrt murmelt Wayne: ›Ja, ja, natürlich‹. Er gibt ihm all seine weltlichen Besitztümer (ein rostiges Messer, eine alte Dose und einige

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120 | In der Zerstreuung organisiert ähnliche Kleinigkeiten) und verabschiedet sich rasch. Er eilt zwischen den verfallenden Ruinen davon, um nicht zu spät zu seiner abendlichen Kartoffel-Ration zu kommen, und erreicht den unterirdischen Unterschlupf vor Einbruch der Dunkelheit, wenn die Ratten aus ihren Löchern kommen und die Herrschaft über die vom Atomkrieg verwüstete Stadt übernehmen. Hier handelt es sich natürlich um eine post-katastrophische Science-fiction-Geschichte, die den Alltag nach dem Atomkrieg oder einem ähnlichen Ereignis beschreibt, das zur Zerstörung unserer Zivilisation führte. Aber der Aspekt, der uns dabei interessiert, ist die Falle, in die der Leser unweigerlich tappt, die Falle, auf der die ganze Wirkung der Geschichte basiert und in der das eigentliche Paradox des Begehrens besteht: Wir halten für einen Aufschub der ›Sache selbst‹, was bereits die ›Sache selbst‹ ist; wir halten für das Suchen und die Unentschlossenheit, die dem Begehren eigen sind, was bereits die Realisierung des Begehrens ist« (Zizek 2000: 15f.). ^ ^

Im Folgenden wird Massenkultur als das Medium der Subjektivierung beschrieben, deren gesellschaftliche Funktion es ist, individualisierte Subjekte in normalisierte Arten der Realitätswahrnehmung und des Selbstaufbaus einzuüben. Diese Normalisierung von Wahrnehmung und Selbstaufbau macht die Erwartungen und Sichtweisen individuierter Subjekte zugleich sozial und kommunikativ anschlussfähig, d.h., sie vergesellschaftet. Unterstellt wird damit die psychische, prozessuale Selbstreferenz einer das subjektive Handeln steuernden Macht. Massenkultur fügt individualisierte Subjekte und ihre divergierenden Bedürfnisse und Interessen nicht ins soziale Spiel ein, indem sie die Subjekte unter traditionelle Normen zwingt, sondern durch normalisierende Regulation ihres Begehrens. Das bedeutet, dass sich im Subjekt Normalisierungsvorgänge als diesem unverfügbare, in ihrer Entkoppelung von normativen Vorgaben flexible Dispositionen der Selbstregulierung verselbstständigen. Im Modus einer ökonomisch und technisch-medial gesteuerten Zirkulation von Waren- und Zeichenökonomien, die die dynamischen Koordinaten des subjektiven Begehrens festlegen, ordnet sie dieses im Rahmen einer sozialintegrativen Matrix an. In der performativen, normalisierenden Regulierung des Begehrens tritt die Normalität als funktionale Integration individualisierter Lebensformen an die Stelle vorgegebener fixer Normen. An die Stelle festgeschriebener individueller Dispositionen treten regulierte psychische Energien und Begehrensstrukturen. Vor diesem Hintergrund erscheint Massenkultur nicht als aus der Ökonomie abgeleitetes Sekundärphänomen einer ›Kulturindustrie‹, sondern ihr kommt ein wesentlich zentralerer Stellenwert zu: Sie ist das funktionelle Medium von Vergesellschaftung, das im Sinne einer permanenten Überschreitung und Überbietung des Gegenwärtigen das gesamte Gefüge des Möglichen und Unmöglichen in den Normalzustand einer massenkul-

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turell organisierten Gesellschaft integriert. Sie generiert, über die Entregelung und normalisierende Regulierung des Begehrens, neue Subjektivitätsformen. Die Etablierung einer sozialen Ordnung der Gesellschaft erfolgt dabei in einem ins Kulturelle ausgedehnten Modus ›ökonomischer‹ Effizienz und in Modi technisch-medialer Anschlüsse. Dem entspricht die sozialtechnologische Optimierung der Individuen, deren Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft über Mechanismen der normalisierenden Regulierung des Begehrens immer wieder neu hergestellt wird. Das bedeutet: Massenkultur schafft nicht normativ gesetzte, feste Bindungen, sondern komplexe Anschlussnetzwerke. Sie stellt technisch basierte Realitätsverhältnisse her und führt die Individuen in diese ein. Gleichzeitig verweist sie gerade darin – im Rückgriff auf Steigerungsimperative der Waren-, Zeichen- und Begehrensökonomie – auf phantasmatische Begehrenshorizonte. Damit sind Prozesse angesprochen, die, obgleich sie unter ökonomischen Gesichtspunkten gefasst werden können, einer Verschiebung und Veränderung des Ökonomiebegriffs unterliegen. Denn innerhalb der Gesellschaft und des Subjekts sind auf verschiedenen Ebenen vielfältige Mechanismen wirksam, die als ›ökonomische‹ beschrieben werden können, dabei aber einer eher metaphorischen Verwendung des ›Ökonomischen‹ gleichkommen. Der Ökonomiebegriff muss hier in einem umfassenden und mehrdeutigen Sinne verstanden werden. Beschrieben sind mit dem Ökonomischen nicht nur Prozesse der Warenproduktion und -zirkulation, die eingebunden sind in ökonomische Verwertungs- und Zirkulationsprozesse von Kapital- und Finanzströmen, deren Muster der Tauschakt bildet. Massenkultur operiert nicht einfach im Sinne einer Marktökonomie, die die unterschiedlichen Bedürfnisse in Beziehung zueinander setzt und sie, scheinbar wie von ›unsichtbarer Hand‹ durch den Markt gelenkt, ausgleicht. Sie operiert vielmehr als kulturelle Ökonomie, die zwar die ökonomische und technisch-mediale Zirkulation von (Kultur-)Waren sichert, aber durch ein massenkulturell gesteuertes Begehren ein Orientierungsgefüge etabliert, das über den Konsum soziale Integration herstellt. Die Attraktion von Kulturgütern, die sich im Konsum manifestiert und die Normalität ihres Gebrauchs – nicht die sich in ihr ausdrückenden ›inneren Werte‹ oder ein substantieller Gehalt, nicht ein von vornherein emphatisches oder authentisches Verhältnis zu ihnen – sichern die Anschlussfähigkeit des Einzelnen an eine massenkulturell organisierte Öffentlichkeit. Es geht darum, zu wissen, was andere kaufen oder zu wissen, dass andere das Gleiche wissen (Schrage 2004). Unter diesem Aspekt geht es nicht vorrangig um Strategien der Differenz, sondern um Anschlüsse an den ›Massengeschmack‹, die gleichwohl individuelle Differenz erlauben, ja – partiell – sogar einfordern. Über ›rankings‹, Bestseller- oder Hitlisten, aber auch über Ordnungs-

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122 | In der Zerstreuung organisiert kategorien wie ›Kult‹ entwickeln sich, als Effekt zirkulärer Prozesse, »Taxonomien des Populären« (Adelmann 2004). Sie unterliegen einer prozessualen Ökonomie der Wahrnehmung und der Selbstverortung. Auf dieser Basis konstituiert Massenkultur eine Begehrensökonomie, die auf einem sich selbst optimierenden Nutzenkalkül begehrender Subjekte beruht. Vorausgesetzt wird hier, dass die Konsumenten sich in ihrem Begehren, sich selbst regulierend, aneinander ausrichten. An der Schnittstelle der Verschränkung eines massenkulturell organisierten Glücks-Versprechens mit einem industriell evozierten und individuell verkörperten Glücks-Begehren artikuliert sich eine politische Ökonomie des Begehrens. Die Koordinaten seiner Produktion und Kodierung werden, der subjektiven Einbildungskraft vorgängig, massenkulturell hergestellt. Sie verhindern im Sinne einer sich selbstverwertenden Ökonomie das Verschwinden des Begehrens. Dieser Mechanismus wird durch Steigerungsimperative erhöht, die, nicht zuletzt durch die Diversifizierung eines Zeichenkosmos, einem permanenten Verfallsdatum unterliegen. Massenkultur verschreibt sich, als Plattform eines phantasmatischen Glücks, zugleich einer phantasmatischen Struktur von Subjektivierungsvorgängen. Das Phantasma ist ein vorgestelltes Szenarium, das auf die Erfüllung – letztlich unbewusster – Wünsche (in der Phantasie) abstellt und sich immer wieder reproduziert.1 Die ›Erfüllung‹ des Begehrens liegt in der Reproduktion des Begehrens selbst. In der unendlichen Reproduktion des Begehrens auf immer erweiterter Stufenleiter wird dieses Phantasma, massenkulturell organisiert, immer wieder inszeniert. Dies geschieht, indem die Massenkultur auf permanente Anschlussfähigkeit des subjektiven Begehrens an das Erreichbare abstellt und gleichzeitig die Unlebbarkeit eines grenzenlosen Begehrens in sich einschließt. Das heißt: Massenkultur ist mit ihren Technologien in das Spiel der Kräfte, der Energieumwandlungen und (Objekt-)Be-

1 | Der Begriff des Phantasmas verweist notwendig auf den Gegensatz von Imagination/Phantasie und Realität. Er unterstellt eine illusionäre Befriedigung in der Innenwelt des Subjekts, der das unablässig eingeforderte Realitätsprinzip einer Außenwelt gegenübergestellt wird. Dann aber wäre das Phantasma (gleichbedeutend mit Phantasie, Imagination) nur eine Täuschung und als solches ein entstelltes Derivat – der Erinnerung an zufällige, reale Ereignisse –, dem keine Eigenrealität zukommt. Es wäre dann nur dazu bestimmt, die Realität, auch die der zugrunde liegenden Triebdynamik zu verschleiern. Demgegenüber wird diese Grenzziehung zwischen Imagination/Bild und Realität im Kontext der Massenkultur gerade aufgehoben, worauf schon hingewiesen wurde. An dieser Stelle sei auf die Existenz unbewusster kultureller Schemata hingewiesen, die das individuelle Erleben transzendieren und dieses formieren.

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setzungen einbezogen, die Subjektivierung im Sinne einer Form von Sozialisierung bewirken. Die kulturelle Strukturierung des individuellen Begehrens (über den Konsum) ist daher nicht bloß ein abgeleitetes Phänomen der Ökonomie des Warentauschs und der Warenzirkulation auf dem Markt. Über die Ebene der Warenzirkulation hinaus gibt es in medialen Netzwerken des symbolischen Verkehrs die Zirkulation technischer Energien und zeichengesteuerter Kommunikation, die zwar mit der Warenökonomie verbunden sind, aber keineswegs mit ihr zusammenfallen. Sie haben strukturbildende Funktion für den Aufbau des Subjekts, seinen Körper und sein Begehren. Das Ökonomische ist als begriffliches Werkzeug zugleich Bestandteil der Betrachtung psychischer Vorgänge im Subjekt: Hier geht es um die Zirkulation von Trieb- und Besetzungsenergien, die zwischen den psychischen Instanzen des ›psychischen Apparats‹ und begehrten Objekten hin- und herzirkulieren. Die Vorstellung ist, dass psychische Vorgänge in der Zirkulation von (Trieb-)Energien bestehen und einer spezifischen Triebökonomie – der Abfuhr, des Spannungsausgleichs – unterliegen. Der ›psychische Apparat‹ empfängt Erregungen von außen oder innen, die gleichsam eine ›Arbeitsanforderung‹ darstellen; das Funktionieren des Apparats lässt sich in ökonomischen Ausdrücken wie Besetzung eines (Liebes-)Objekts mit Triebenergie beschreiben. Die ökonomische Betrachtungsweise besteht daher vor allem in der Berücksichtigung der Dynamik, der das psychische Geschehen unterliegt. Im Zentrum stehen Kräftebeziehungen und spezifische Konflikte zwischen den verschiedenen psychischen Instanzen des Bewussten und Unbewussten bzw. des Es/Ich/Über-Ich. Sie unterliegen je spezifischen Modalitäten der Energieumsetzung. Im Phänomen der Verdichtung oder Verschiebung von Triebenergien kommt der ökonomische Aspekt, der den Besetzungen von vornherein anhaftet, zum Ausdruck: Bei der Verdichtung vertritt eine einzige Vorstellung mehrere Assoziationsketten, an deren Kreuzungspunkt sie sich befindet. An sie gebunden, häufen sich Energiebesetzungen in ihr an, die sich zu symbolischen Schemabildungen verdichten. Quantitatives schlägt also in eine besondere Qualität um. Demgegenüber löst sich bei der Verschiebung der Akzent, die Bedeutung oder die Intensität einer Vorstellung von der ursprünglichen ab und geht auf andere über. Der hier skizzierte Ansatz rekurriert auf die Rekonstruktion derjenigen Prozesse, die das Unbewusste des Subjekts als Grenzfläche einsetzen, auf der verschiedene Ökonomien (der Waren, der Zeichen, des Begehrens) ineinander verschränkt sind. Verfahren der technischen Reproduktion und zeichengeregelten Kodierung, Prozesse der Zirkulation von Finanz- und Warenströmen und Dynamiken der zirkulären (Re-)Produktion des Begehrens greifen ineinander.

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124 | In der Zerstreuung organisiert Massenkultur schließt diese Verfahren mit Funktionsweisen des psychischen Apparats zusammen, indem psychische Energien mobilisiert, umgeformt und Dispositionen geschaffen werden, die das Subjekt vom Massenhaften her aufbauen. In dieser Perspektive wird die polarisierende Vorstellung der ›Masse‹ als Gegenüber des ›Individuums‹ obsolet. Daher repräsentiert ›die Masse‹ im individualistischen Zeitalter nicht das Gegenüber, sondern den konstitutiven Bezugspunkt von Individualisierung. Das Subjekt konstituiert sich als eines, das ›die Masse‹ im Selbstbezug immer schon implementiert. Die Strukturbildung des Subjekts erfolgt im konstitutiven Verwiesensein auf die Masse als Vielheit der Anderen und im Verweis auf das massenhaft Produzierte, das sich als Reservoir für die Anschlussfähigkeit des Subjekts darbietet. In den Objekten des Konsums verknüpfen sich Objekt-/Warenwelt und subjektives Begehren auf phantasmatische Weise: Indem die Industrie dem Subjekt ständig neue idealisierte Objekte bereitstellt, in denen es sich unablässig spiegeln kann und denen es sich, auf der Ebene des Imaginären situiert, gewissermaßen ›selbstlos‹ unterwirft, verweist die an das Medium des Marktes angeschlossene kulturelle Ökonomie der Massenkultur auf phantasmatisch konstruierte Begehrenshorizonte. Dabei wird auch die warenästhetische Oberfläche zum Spiegel des Subjekts. Sie wird zum phantasmatischen Raum, der angefüllt ist mit dem Begehren, sich des eigenen Mangels zu entledigen. Darin fungiert er gleichzeitig als eine Art Leinwand für die Projektion eines ständigen ›Mehr-Begehrens‹. Dieses wird zudem durch die in der Warenökonomie strukturell angelegte Produktion einer Ökonomie des Mangels und des fortwährenden Konsums angereizt. Die in die Warenökonomie eingeschriebene Steigerungslogik des Begehrens stellt ab auf eine im Prinzip offene, bis ins Phantastische steigerbare Ökonomie. Diese Steigerungslogik des Begehrens kann weder als Ausdruck von Lebensenergien noch als ein natürlicher Mechanismus des Menschen verstanden werden. Sie verdankt sich in ihrer schier unbegrenzten Produktivität vielmehr Ökonomien, die das Begehren der Individuen prägen und es bestimmten Funktionen unterwerfen. Vorausgesetzt ist hier allerdings die prinzipielle Offenheit eines begehrenden Subjekts. Der Kernpunkt der Psychoanalyse ist, dass das Begehren nicht etwas ist, das vorab existiert, sondern etwas, das, anders als der einfache Trieb nach Bedürfnisbefriedigung, konstruiert und gelernt werden muss. Das Phantasma als Ort des subjektiven Begehrens ist letztlich nicht begründbar. Seine Rolle besteht darin, dem Begehren des Subjekts Koordinaten zu setzen, seine Objekte zu spezifizieren und die Position zu bestimmen, die das Subjekt in dieser imaginären Szenerie einnimmt. Nur durch das Phantasma konstituiert sich das Subjekt als begehrend.

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Die Setzung des Begehrens erfolgt, nach der psychoanalytischen Theorie, durch die Präsenz des Anderen. Dessen Präsenz – die, indem sie über unmittelbare Bedürfnisbefriedigung hinausgeht, die Gestalt der Gabe annimmt – produziert erst das Begehren. In das Spiel der zirkulierenden Energien und unbewussten (Objekt-)Besetzungen einbezogen, präsentiert Massenkultur in der ereignishaften Präsenz von Bildern und Objekten die Gabe(n), mit der sie das Begehren in eine – funktionelle – Dynamik versetzt. Hier verdichten sich die begehrten Objekte zu Kreuzungspunkten von ganzen Assoziationsketten. Ökonomisch gesehen sind die mit Imaginationen und Ikonographien versehenen Objekte der Massenkultur also nicht nur mit ästhetischen Zeichen, sondern mit (Trieb-)Energien besetzt, die sich aus verschiedenen Assoziationsketten speisen und das Objekt, neben seiner manifesten Bedeutung, mit latenten Bedeutungen ausstatten. Zugleich produziert sie die ›Gabe‹ als Ausdruck eines prinzipiell Unerreichbaren: Die Ware versagt die restlose Befriedigung der an sie gebundenen Wunschökonomien. Damit schreibt sie das Begehren fort. Es müssen neue und andere Waren her. Über die Zirkulation von Wunsch- und Zeichenökonomien und die subjektive Wahrnehmung imaginärer (Wunsch- und Selbst-)Bilder unterwirft sie das Begehren einem Phantasma. Aber genau darin besteht ja die Logik des Begehrens; es unterliegt dem Teufelskreis seiner unendlichen Reproduktion, den es immer wieder inszeniert. Subjektivierung im Medium der Massenkultur verweist daher auf eine – massenkulturell erzeugte – Begehrensökonomie, die sich, in Spiegelverhältnissen eines warenästhetisch organisierten Begehrens angeordnet, strukturell einer ›Politik der Verfehlung‹ (der Befriedigung des Begehrens) verschreibt. So bleibt sowohl der Versuch, sich seiner Subjektivität im Spiegel des Anderen zu vergewissern, als auch sein Begehren im Schein der Warenästhetik zu befriedigen, imaginär. Diese Paradoxie der ›Verfehlung‹ aber ist der entscheidende Mechanismus, mit der Massenkultur Individuen vergesellschaftet und subjektiviert. Sie ist nicht an der Befriedigung, sondern an der performativen Reproduktion des Begehrens der Subjekte, das sich in der Zirkulation von Finanz- und Warenströmen artikuliert, ausgerichtet. Man könnte auch sagen, sie ist an der Aufrechterhaltung des Möglichen in Form des Unerreichbaren orientiert.

Die ›Spiegelprothese‹ – Gründungsmatrix des Subjekts (Lacan) Die Metapher ›Spiegelprothese‹, die Jaques Lacan im Konzept eines in spiegelartigen Anordnungen begründeten Subjekts aufgreift, bildet den

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126 | In der Zerstreuung organisiert Anknüpfungspunkt einer theoretischen Perspektive auf das Subjekt, die davon ausgeht, dass sich dieses durch soziotechnische Generierung konstituiert. Jaques Lacan geht im Anschluss an Freud von der orthopädischen Funktion der Spiegelprothese aus: Der Mensch konstituiert sich demnach als Subjekt wesentlich dadurch, dass er die Gestalt des eigenen Leibes im Spiegel erblickt. Diese Gestalt tritt an die Stelle des chaotischen Körpers, der in einzelne Glieder und Sinnesorgane zerfällt. Sie wird exzentrisch, an einem anderen Ort, als Körpereinheit gesehen. In der glorifizierenden Geste des Spiegels (des Anderen) reflektiert sich der »zerstückelte Körper« als ganzer, unversehrter, idealisierter Körper.2 Das Spiegelbild hat gleichsam eine »orthopädische Funktion« (Lacan 1996: 67); es operiert als ›prothetische Apparatur‹, über die der zunächst immer nur partiell wahrgenommene, in einzelne Glieder und Sinnesorgane ›zerstückelte‹ Körper vervollkommnet wird. Es scheint, so Lacan in seiner Schrift Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1996 [1949]), die Schwelle der sichtbaren Welt zu sein, in der die »Gestalt« als »totale Form des Körpers« bildnerische Wirkungen auf das entstehende Subjekt ausübt (Lacan 1996: 64). Ort der motorischen Unruhe und der unkoordinierten Bewegungen, signalisiert der organische Körper, dass beim Menschen von Anfang an etwas in ›Unordnung‹ ist. Es ist die Imago des »zerstückelten Körpers«, der sich zunächst noch in motorischer Ohnmacht und Abhängigkeit von äußeren Zuwendungen befindet und dessen Begehren auf Partialzonen und -objekte gerichtet ist. Er verweist »durch die Zeichen von Unbehagen und motorischer Inkoordination« auf einen Riss, eine »ursprüngliche Zwietracht« (ebd.: 66) in der Einbettung des Menschen in seine Umwelt. Gleichzeitig ist er dasjenige Medium, über den sich Ordnung und Struktur des Subjekts herstellen. In der jubilatorischen Aufnahme seines Spiegelbildes, in dem die Form seines Körpers nur als Gestalt in einem Außerhalb gegeben ist, ist die symbolische Matrix für die Bildung des Ich-Ideals begründet. Das Spiegelstadium bildet Lacan zufolge gewissermaßen die Gründungsmatrix für das vom Subjekt errichtete Verhältnis zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, aus dem eine unüberschreitbare Konfiguration hervorgeht (vgl. Dosse 1996: 149). Die Spiegelerfahrung ist die exemplarische Situation, »kraft der das Subjekt in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt« (ebd.). Das »Standbild« des Körperbildes, das als erstarrtes Relief im Gegensatz zur Bewegungsfülle des realen Körpers steht, symbolisiert die Präsenz des Subjekts. Sein Eintritt in die symbolische Ordnung geschieht also zu2 | Letztlich spiegelt sich im idealisierten Körper also das Begehren des Anderen, etwa das Begehren der Mutter, ein perfektes, schönes Kind zu haben, das sich im Kind als Eindruck seiner Vollkommenheit spiegelt.

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nächst über das Bild des Körpers. Er ist das Medium der Trennung von Innen und Außen, der Unterscheidung von Selbst und Anderem. Von ihm geht die Gewissheit aus, dass das Subjekt (fort-)existiert. Das Verhältnis zum eigenen Körper bildet den unhintergehbaren Bezugspunkt einer Subjektbildung, die sich als unabschließbares Projekt gestaltet. Dabei ist der Körper als primärer Ort der Subjektbildung nicht das authentische Zentrum, sondern als Körperbild eine – immer unvollständige – Konstruktion, über die das Subjekt Zugang zu sich und seinem Körper findet. Damit bildet der Spiegel den Ort einer verzerrten, idealisierten, illusionären und unerreichbaren Wahrnehmung des eigenen Körpers, des eigenen Selbst. Die Formulierung Lacans, »Ich ist ein anderer«, verweist darauf, dass das Bild des Körpers/des Subjekts dem Subjekt aufgrund der Präexistenz des Mediums und des Blicks vorausgeht und dass der Blick auf das Spiegelbild des eigenen Körpers vom Ort des Anderen fällt. Der Blick wird zum wichtigsten Medium, die eigene Unvollständigkeit und Unvollkommenheit zu verdekken, ja, er wird zum Existenzmedium von Körper und Subjekt schlechthin. Der Ort des Anderen wird zum primären Medium, über das sich das Subjekt seiner – zumindest imaginären – Existenz versichert. Der Ort des Sehens als dem des Subjekts fällt nicht mit dem des Blicks, der vom Ort des Anderen auf das Subjekt fällt, zusammen. Vielmehr ist von einer Differenz auszugehen. Während das Subjekt sich immer nur von einem Punkt aus sieht, ist es in seiner Existenz von überall her erblickt. Die primäre Erfahrung des Subjekts erfolgt durch ein Außen; das Subjekt ist also zunächst im Außen lokalisiert. Das Bild, das sich dem entstehenden Subjekt spiegelt, ist das des Betrachters, der zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und seinem Bild unterscheidet. Das Subjekt weiß zunächst nicht um die Trennung von Ich und Anderem. Bevor das Subjekt ist, ist also das Bild des Subjekts, das sich im Blick als Spiegel des Anderen bildet. Der Blick auf das Subjekt erfolgt vom Ort des Anderen aus. Das vom Subjekt unterschiedene Andere bildet den Ort der symbolischen Ordnung, von dem aus der Blick auf das Subjekt fällt und von dem aus es bezeichnet wird. Unausweichlich geschieht die Produktion wirklicher Körper und Subjekte durch ihre Aufnahme in die symbolische Ordnung der Repräsentation. Sie sind nur in ihrer symbolischen Markierung präsent. Die Konstitution des Subjekts erfolgt über den Blick des Dritten, des verallgemeinerten Anderen der symbolischen Ordnung. In ihm spiegeln sich Körper und Subjekt als Idealbild. Blick, Sichtbarkeit, Spiegelung und Spiegelbild bilden Elemente der Konstitution von Körper und Subjekt. Aber die Aufnahme der Körper und Subjekte in die symbolische Ordnung der Repräsentation ist mit Idealisierungen, verwoben mit dem – gesellschaftlich evozierten – Begehren, einen perfekten Körper zu haben, verbunden. Der gespiegelte Körper bildet, ebenso wie das Subjekt, immer nur Projektionen des in medialen Apparatu-

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128 | In der Zerstreuung organisiert ren Gespiegelten. Im Blick dieser ›Apparaturen‹ konstituiert sich das Körpersubjekt, unter dem Eindruck seiner Einheit und Vollkommenheit, als perfekte Idealkonstruktion. Sie bildet die Kopie einer Kopie, deren Original nicht existiert. Körper und Subjekt bilden so die Signifikanten für die Apparatur und sie repräsentieren zugleich auch deren Produkt, das Bild. Für das Subjekt ergibt sich daraus, dass es sich, über ›Trugbilder‹ seiner räumlichen Identifizierung im Spiegelbild, auf Phantasmen der Spiegelung gründet. Ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, mündet es in einer Form, »die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden« (Lacan 1996: 67). Dabei tritt das unvollständige Bild des eigenen Körpers in den Hintergrund (des idealisierten Bildes vom perfekten Körper). Es bleibt jedoch erhalten und durchquert die (Angst-)Träume und Halluzinationen eines von Desintegration bedrohten Individuums. Es findet sich wieder in Bildern »losgelöster Glieder« und »bewaffneter Organe« und ist greifbar im organischen Körper selbst, »an den Bruchlinien nämlich, welche die fantasmatische Anatomie umreißen und die offenbar werden in Spaltungs- und Krampfsymptomen« (ebd.). Die äußerliche Gestalt des Körpers ist also ständig zerfallsbedroht; lebendig erfahrene, reale Leiblichkeit bleibt gefährdet. Aus ihr konstituiert sich das Phantasma des zerstückelten Körpers, dem durch imaginäre Vorstellungen einer Ganzheit begegnet wird. Für Lacan ist das Subjekt der Sitz der Täuschungen. Begründet in »spiegelartigen Anordnungen«, generiert sich das Subjekt der Spiegelerfahrung auf einer imaginären Basis, der Illusion eines Bildes, das als Selbstbildnis fungiert. Bevor das Subjekt (= das Eine) ist, ist das Bild (= der Andere). In der Spiegelverhaftung übernimmt das Spiegelbild die führende Rolle; es ist der Garant der Existenz, der Einheit und Dauerhaftigkeit des sich bildenden Subjekts. Das Wissen über die eigene Existenz ist unweigerlich gebunden an das Begehren des Anderen. Die Frage »Wer bin ich?« stellt sich als Frage »Wie sieht der Andere mich?« Der Blick des Anderen, ein Spiegel seines Begehrens, wird zum entscheidenden Mechanismus der Subjektbildung. Hier zeichnet sich ab, dass das authentische und mit sich identische Subjekt, Effekt sozio-psychischer Übereinkünfte, auf einer ›Einbildung‹ basiert. Seine Nicht-Identität und Fiktionalität als authentische Einheit ist angelegt in seinem Versuch, so zu werden, wie es von anderen gesehen wird. Das Subjekt selbst ist daher das erste Verlustobjekt, dem es ständig auf der Spur ist. Es ist sich über seine Repräsentation (im Spiegel, in der symbolischen Ordnung) immer nur als Trugbild zugänglich. Wenn Lacans Modell des Spiegelstadiums von einer originären Verkennung des Subjekts im Feld des Blicks ausgeht, dann wird vorausgesetzt, dass das Subjekt keine unmittelbare, authentische Erfahrung – von sich und seinem

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Körper – hat. Es wird sich erst durch Spiegelung und objektivierende Verortung in der symbolischen Matrix der Sprache zugänglich. Aber gleichzeitig konstituiert es sich durch den Eintritt in die symbolische Ordnung der Repräsentation immer durch ›Verfehlung‹. Körper und Subjekt sind demnach immer nur als Zeichen innerhalb einer Zeichenkette, niemals absolut außerhalb eines Systems von Differenzen präsent. Da das Subjekt unweigerlich in Repräsentationsvorgänge eingelassen ist, unterliegt es dem Phantasma seiner Repräsentation, die nicht Abbild eines Realen, sondern Spiegelbild einer Zeichenordnung ist. Es ist nicht als ›Rohgestein‹, als authentisch Erfahrenes, sondern immer nur kulturell vermittelt zu haben. Bezeichnet ist damit ein ständiger Prozess der Formulierung und Reformulierung von Bedeutung im Rahmen einer symbolischen Ordnung, der zugleich verkennende, imaginäre Formen der Selbstwahrnehmung erzeugt. Die Spiegelprothese erscheint so als Gründungsmatrix eines Subjekts, das sich selbst, auf dem Terrain imaginärer Spiegelverhältnisse hervorgebracht, unaufhörlich nachfolgt. Sie dient als Metapher für die Begründung des Subjekts auf dem Terrain imaginärer Spiegelvorgänge. Das Spiegelstadium wird zum einenden Prinzip. Zugleich wird in der permanenten Nicht-Befriedigung des Begehrens, eins zu sein mit dem gespiegelten Bild, die endlose Bewegung, sich im Blick des Anderen zu finden, in Gang gesetzt. Die visuell antizipierte Einheit, die sich in der Bespiegelung zeigt, verweist auf ein spannungsgeladenes Drama, das immer ein Begehren hervorruft, nämlich das Begehren, dem Bild (als Ideal-Ich) zu entsprechen. Vor dem Spiegelbild glaubt das Subjekt, sich selbst zu sehen, bis es merkt, dass eine andere Dimension, die Dimension des Anderen, der Blick eines – unsichtbaren – Dritten, diesen Eindruck durchkreuzt. Das heißt: Die Erfahrung des Subjekts ist gebunden an die Dimension (des Blicks) des Anderen; es ist der Blick, der spricht und der Auskunft gibt über das Subjekt. Das Subjekt wird selbst zum Symbol, dessen Botschaft es in den (Augen der) Anderen zu entziffern sucht. Die Spiegelmetapher steht dafür, dass die ›Leere‹ des Subjekts und seines Körpers durch – imaginäre – Spiegelbilder verdeckt wird. Das bedeutet: Das Subjekt unterliegt dem Phantasma seiner Repräsentation im Spiegelbild einer gesellschaftlich zirkulierenden Zeichenordnung und im Spiegel des Begehrens des Anderen. Es konstituiert sich demnach im Fokus des – medial konstruierten – Blicks immer schon im Spiegel eines verallgemeinerten Anderen, dessen Perspektive es in die einer gesteigerten Selbstbeobachtung übersetzt. Im Blick auf sich selbst mit dem – alles durchdringenden panoptischen – Blick der Medien, der Anderen, zusammengeschlossen, erweist sich sein nach innen gewendeter Blick als der auf das Individuum gerichtete, imaginierte Blick der Anderen. Der nach innen gewendete Blick, der das Medium und den Anderen als Beobachter bloß imaginiert, wird

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130 | In der Zerstreuung organisiert zum Bestandteil seiner inneren Disposition. Von diesem imaginären Anderen wird es fortan verfolgt, ihm folgt es in seiner fundamentalen NichtIdentität und Fiktionalität beständig nach. Aber das Subjekt wird nicht nur zu einem dauernden Beobachter der Wirksamkeit seiner Handlungsstrategien und Interaktionen, sondern es ergeben sich folgenreiche soziale Konsequenzen: Der nach innen gewendete Blick der Anderen unterwirft das Individuum nicht nur einer Dynamisierung seiner Erfahrungs- und Begehrenshorizonte, sondern damit zugleich ihrer Normalisierung, ihrer Angleichung an die Vielzahl. Damit verschieben sich aber auch die Grenzen des Subjekts, dessen Transparenz im Feld des Blicks nun zur Bedingung seiner individuellen und sozialen Existenz wird. Es konstituiert sich, einer ständigen, unsichtbaren und unkalkulierbaren Beobachtung durch andere ausgesetzt, als eines, das sich in medialen (Versuchs-)Anordnungen als ›authentisches‹ konstruiert, produziert und präsentiert. Das Imaginäre des in spiegelartigen Anordnungen begründeten Subjekts kehrt wieder auf der Ebene phantasmatisch konstruierter Begehrenshorizonte. Subjektbildung geschieht im Horizont eines phantasmatischen Begehrens. Das Begehren entfaltet sich im imaginären Blick der Masse, die aus einer Vielheit individualisierter Einzelner besteht. Als vom Einzelnen immer schon antizipiertes Medium bildet die Masse individuierter Anderer gleichsam den Spiegel, in dem das Subjekt die Koordinaten seines Begehrens vorfindet.

Spie(ge)l des Begehrens Das Begehren ist von Anfang an unweigerlich in das Spiel von Befriedigung und Versagen, in die Erfahrung eines Mangels eingebunden. In seinem 1895 verfassten Entwurf einer Psychologie geht Freud davon aus, dass der psychische Apparat primär das Verlangen nach Spannungsausgleich hat. Im Bestreben, sich reizlos zu halten, erfolgt eine vollständige Abfuhr von Außenreizen. Gestört wird der psychische Gleichgewichtszustand durch endogene Reize, Erregungen und Körperbedürfnisse, die nur mit Hilfeleistungen von außen bewältigt werden können. Das ist der Beginn einer intersubjektiven Verständigung, die auf dem Hintergrund einer ursprünglichen Mangelsituation des Menschen die Entstehung des Psychischen bewirken. Lacan bezeichnet diese anfängliche Hilflosigkeit des Menschen als Mangel an »präformierten Wegen«: »Der Mensch geht von überhaupt nichts aus. Er muß lernen, daß das Holz brennt und dass er sich nicht in die Tiefe stürzen darf« (Lacan 1991: 146). Im Angewiesen sein auf eine »spezifische Aktion«, die vom Anderen aus erfolgt (etwa: Nahrungszu-

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fuhr) macht das Individuum die Erfahrung eines Befriedigungserlebnisses, das als affektiv besetztes Erinnerungsbild im Gedächtnis haften bleibt. Tritt wieder ein Bedürfnis auf, so ruft sie eine psychische Erregung hervor, die das Erinnerungsbild besetzt und danach strebt, das erste Befriedigungserlebnis in der Wahrnehmung zu suchen. Auf diese Weise stellt sich ein unbewusster Sinnzusammenhang zwischen Bedürfnis und Wunsch/Begehren3 her. Seine genetische Wurzel hat das Begehren im psychoanalytischen Diskurs also in der primären Abhängigkeit des Subjekts. Im Gegensatz zum Bedürfnis, das, aus einem Zustand innerer Spannung entstanden, seine Befriedigung in einer spezifischen Aktion, die das adäquate Objekt beschafft, findet und damit verschwindet, ist das unbewusste Begehren unlösbar mit Erinnerungsspuren an eine Bedürfnisbefriedigung verknüpft. Entscheidendes Bewegungsmoment des Begehrens ist daher die Wiederherstellung des Befriedigungserlebnisses, die sich in der Dimension des Begehrens fortan in den Körper des Individuums einschreibt. Hier zeigt sich die Bedeutung des Begriffs des Realen bei Lacan: Das Reale ist nicht identisch mit der Realität; im Realen fallen vielmehr Innen und Außen, Ich und Anderer, omnipotentes Erleben und Lust(-prinzip) zusammen. Das Reale ist der Prototyp der Wunscherfüllung, der Erfüllung des Begehrens (in der Phantasie). Es steht aber auch als Ausgangspunkt für alle jene Omnipotenz und Perfektion verheißenden Trugbilder und Verlockungen, die im Spiegelstadium existieren und den Mangel des Subjekts, dem es von Anfang an unterliegt, vergessen machen. Richtet sich also das Bedürfnis auf ein spezifisches Objekt (etwa Nahrung) und befriedigt es sich daran, so richtet sich das Begehren an ein Objekt in der Phantasie. Es ist nicht auf das Bedürfnis zu reduzieren. Das reale Objekt ist unwesentlich für das Begehren. Denn in seinem Ursprung ist es nicht Verlangen nach einer Beziehung zu einem realen Objekt, sondern es bezieht sich auf das Wiedererscheinen der Wahrnehmung (die Wahrnehmungsidentität), die mit dem Wunschobjekt verbunden ist; darin besteht die Wunscherfüllung. Das Begehren strebt danach, sich zu erfüllen, indem es die an die ersten Befriedigungserlebnisse geknüpften Zeichen wieder herstellt. Es findet seine ›Erfüllung‹ in der halluzinatorischen Reproduktion der Wahrnehmungen, die zum Zeichen, zum Erinnerungsbild dieser Wahrnehmungen geworden sind. Die Anordnung der Zeichen korreliert mit dem Wunsch, der an unzerstörbare – infantile – Zeichen gebunden ist. Ein wesentliches Kriterium des Begehrens ist daher sein unmittelbares Verhältnis zur Imagination und Illusion; gerade darin aber ist es konstitutiv für die Beziehung zur Realität. 3 | Dem Begriff des Wunsches bei Freud entspricht der des Begehrens (désir) bei Lacan.

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132 | In der Zerstreuung organisiert Wie ist das gemeint? Realitätserfahrung stellt sich nach Freud und Lacan in der Spannung von Allmachtsphantasien und Mangel- bzw. Verlusterfahrungen (z.B. Abwesenheit des hilfreichen Anderen) her. Die Phantasie bildet den Ort der Vermittlung zwischen Wunsch und Realität; sie befähigt das Subjekt, die Wunscherfüllung in der Vorstellung festzuhalten. Damit lernt das begehrende Subjekt, das Begehren zu ertragen, nicht, indem es lediglich an seiner Präsenz festhält, sondern indem es, über den Umweg der Vorstellungskraft, seine Repräsentation in der Phantasie gewährleistet – und darum auch weiß. Lust- und Realitätsprinzip sind hier miteinander verbunden. Der gegenwärtig erfahrene Mangel tritt in eine Zeitdimension vergangener Wunscherfüllung; er knüpft sich an Erinnerungsbilder von Erfüllungserlebnissen. In seiner Abhängigkeit von Hilfeleistungen des Anderen bleibt das Begehren unausweichlich eingebettet in die Spannung von Erregung und Erregungsverminderung, von Befriedigung und Versagung und damit in die Intersubjektivität der Verständigung. In der Beziehung zum Anderen aber kreuzen und überlagern sich Bedürfnis und Begehren. Hier schlägt das Bedürfnis um in die Unersättlichkeit des Begehrens, in den Anspruch an den Anderen. Denn der Andere gewährt nicht nur bloße Bedürfnisbefriedigung (etwa Sättigung), sondern zugleich sein Dasein, seine Präsenz als Antwort auf ein Verlangen. Seine Präsenz nimmt daher die Gestalt einer Gabe an und ist mehr als bloße Bedürfnisbefriedigung. Es ist die beruhigende oder bedrohende Präsenz wie auch Zu- oder Abwendung des Anderen, die als Gabe das Begehren weckt. Mit dieser Gabe gewährt der Andere zugleich weniger als dauerhafte Bedürfnisbefriedigung, nämlich Versagung des Befriedigungsobjekts und Abwesenheit (vgl. Pagel 1999: 61). Aber das Begehren ist strukturell nicht nur in das Spiel von Präsenz und Absenz (des Anderen) eingebunden, sondern ist Ausdruck eines Unerreichbaren. Denn auch die Präsenz des Anderen kann dem Subjekt ›nicht alles‹ geben; er bleibt im Kern intransparent und unerreichbar. Deswegen kann ›etwas‹ zum Objekt des Begehrens werden. Es sind Partialobjekte, wie die Mutterbrust, der Blick, die Stimme, um die herum die Phantasmen kreisen und zu Symbolen des Begehrens werden. In der Artikulation der Bedürfnisse und der durch sie gesetzten Abhängigkeit vom Anderen ist der Gegenstand des Begehrens an die Beziehung zum Anderen gebunden (der Befriedigung und Präsenz gewährt oder entzieht). Nur was sich in der Intersubjektivität der Beziehung zum Anderen – als Gegenstand des Begehrens – artikulieren kann und als Begehren entschlüsselt wird, wird als Erinnerungsbild ins Gedächtnis (des Körpers) eingeschrieben; was verdrängt wird, verschwindet.4 Die Intersubjektivität der 4 | Françoise Dolto, Lacan-Schülerin, macht darauf aufmerksam, dass die frühkindliche Entwicklung des Begehrens abhängig ist vom Blick- und Körperkon-

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Bedürfnisbefriedigung und Zuwendung gestaltet sich daher wesentlich als Machtbeziehung. In ihr erwächst dem Anderen die komplementäre Aufgabe, aber auch die Macht, zu erfüllen, was man selbst nicht hat/ist. Damit aber ist das Subjekt empfänglich für die Spiegelungen und Täuschungen, die sich aus der Beziehung zum Anderen ergeben. Nur, was sich im Anderen zeigt, wird zum Gegenstand des Begehrens. Dinge, die mit der Präsenz des Anderen verbunden werden, dienen als Erinnerungshilfe für die Zeit der Abwesenheit des Anderen und als Objekte für die Bewältigung seiner Abwesenheit. Sie werden zum Symbol der Präsenz des Anderen und dessen Repräsentanz (als ›Objekt a‹) im Inneren des Subjekts. Damit verliert das Objekt seinen Dingcharakter und erhält symbolische Bedeutung, ja, es wird zum Fetisch, der das Begehren aufrechterhält. Dieser Aspekt wird besonders deutlich, wenn das Objekt (in »Fort«-»Da«-Spielen) zum Spiel-Zeug wird. Doch auch hier kommt, wie im Spiegelstadium, ein imaginäres Moment ins Spiel: In einer »triumphalen Übung« (Lacan 1996) wird das Objekt, vom Subjekt spielerisch besetzt, seinerseits zum Verschwinden gebracht. Damit nimmt das symbolische Objekt die Stelle des Anderen ein. Es erhält den Status eines – geliebten – Objekts, das an Stelle des abwesenden Anderen nun selbst versteckt werden oder ›herbeigezaubert‹ werden kann. Das Spiel des Begehrens erhält ›spekularen‹ Charakter, indem nicht nur das Verschwinden und Wiederkommen der geliebten Person spielerisch vollzogen und bewältigt werden kann; vielmehr erwächst nun dem spielerisch handelnden Subjekt selbst eine imaginäre Machtposition: An- und Abwesenheit (des Anderen, des Objekts) liegen nun in seiner Hand, »das Spiel wird selbst zur Handlung« (Pagel 1999: 64). Gleichzeitig aber überschreitet das Spiel die bloße Bewältigung von Verlust und Mangel. Im Imaginären des Begehrens begründet, bleibt das Subjekt nicht in der Polarität von Anderem oder Eigenem gefangen, sondern es öffnet sich in die Intersubjektivität von Anderem und Selbst. Im Verzicht auf ein greifbares Objekt takt, vom Imitieren kindlicher Laute, von der sprachlichen Begleitung von Handlungen. Das Begehren ist demnach elementar in der Intersubjektivität, in der Interaktion und Kommunikation mit anderen begründet und damit unmittelbar mit der Sprachentwicklung verwoben. Vielfältige und differenzierte Kommunikation über die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung hinaus und deren Aufschub, die zur Imagination der Bedürfnisbefriedigung in der Vorstellung führt, sind daher unabdingbare Wurzel des Begehrens. Sie spricht vom »langen Libidokreislauf«, der für die kreative Entfaltung des Begehrens wesentlich sei, weil er zwischen die Artikulation eines Bedürfnisses und dessen Befriedigung den Austausch, die Kommunikation und den Erfindungsreichtum setze; wird das Begehren rasch – und nur materiell – befriedigt, gibt es nichts, »woran sich die Phantasie in der gemeinsamen Vorfreude auf die Kommunikation entzünden könnte« (Dolto 1996: 365).

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134 | In der Zerstreuung organisiert greift das Subjekt zur Sprache und positioniert sich in der symbolischen Ordnung als sprachlich gefasstes.5 Dabei konstituiert der ›Tod‹ des Dings das Objekt im Subjekt als Symbol und verewigt das Begehren im Subjekt. Das Begehren manifestiert sich in der Kluft zwischen verweigerter Bedürfnisbefriedigung und dem an den Anderen gerichteten Anspruch auf totale Präsenz als Differenz. Die Abwesenheit des primären Befriedigungserlebnisses überführt den Wunsch in das Feld des Begehrens. Der Aufschub der Befriedigung (des Begehrens) wird zur Sache selbst, zur Bewegung, in der sich das Begehren immer wieder manifestiert. »Anders als das Bedürfnis, das sich am Objekt stillt und zu sich selbst zurückkehrt, umkreist das Begehren das Objekt, lädt es mit Bedeutung auf, speist das Verbotene mit Verheißungen und läßt den Mangel dort neu entstehen, wo er eben überwunden schien« (Pagel 1999: 67). Das begehrenswerte Objekt sättigt das Begehren nicht, sondern vertieft es. Es nährt das Begehren mit neuem Hunger – und befriedigt es gerade darin, dass es das Begehren aufrechterhält. Das Objekt als real existierendes Ding ist nicht alles. Auch das Objekt entzieht sich dem vollständigen Begehren. Kein Objekt kann das Begehren stillen, denn damit würde nicht nur das Begehren, sondern auch das begehrende Subjekt selbst zum Verschwinden gebracht. Hier aber liegt die Tücke des Begehrens: Immer wieder hervorgebracht, verweist es auf die Vervielfältigung der Wünsche. Das Imaginäre der psychoanalytischen Konzeption des Spiegelstadiums kehrt also in gewisser Weise auf der Ebene phantasmatisch konstruierter Begehrenshorizonte wieder. Nahm das Subjekt sich dort – an das Andere, an kulturell kodierte Bilder gebunden – als unzulänglich wahr und war es sich – als authentisches Subjekt – letztlich unerreichbar, so spiegelt sich das Begehren unablässig in der halluzinatorischen Reproduktion von Wunschobjekten und verfehlt seine Befriedigung. An eine spezifische Anordnung unzerstörbarer Zeichen gebunden, die als

5 | Lacan dokumentiert die dialektische Entfaltung des Begehrens anhand eines Kinderspiels, das Freud in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips (1924) anführt und das dieser als Bewältigung der Abwesenheit und des Verlusts der geliebten Mutter interpretiert. Lacans Interpretation des »Fort«-»Da«-Spiels mit der Holzspule, die immer wieder zum Verschwinden gebracht und wieder herangeholt wird, setzt allerdings anders an als Freud: Indem das Kind das Verschwinden und Wiederauftauchen des Objekts mit sprachlichen Lauten begleitet, steht im Vordergrund seiner Interpretation weniger das Beherrschen der Situation anhand des Objekts, das als »Objekt klein a« vom Subjekt sowohl abgelöst als auch bewahrt wird, als vielmehr die sprachliche Konstitution des Subjekts, die in das Spiel von Verschwinden und Wiederkommen des Objekts eingelassen ist; vgl. Freud 1940: 11f.; Lacan 1990: 165f.; vgl. Pagel 1999: 65.

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›Erinnerungsspuren‹ in die Wahrnehmung eingeschrieben sind, realisiert und reproduziert es sich unablässig im Mangelzustand. Dabei wird der Blick zum Grund des Begehrens, zu dem, was das Begehren antreibt. Er verführt und bindet das Begehren an die Lust des Auges und die Dominanz des Schauens. Im Imaginären des ›Augen-Blicks‹ und in der phantasmatischen Besetzung des Raums aber ist das Begehren unweigerlich an die ›Verfehlung‹ des Subjekts geknüpft. Diese ›Verfehlung‹ ist jedoch nicht nur im Imaginären des Begehrens, sondern auch in der Logik des Symbolischen, im symbolischen Mangel (des Anderen) und im Verlust an Unmittelbarkeit, den die Existenz der Sprache für das Subjekt bedeutet, begründet. Denn das sprechende Subjekt ist sich über die symbolische Funktion der Sprache immer nur unzureichend zugänglich; »etwas entgeht immer dem bewussten Ich, es ist nicht da, wo es zu sein glaubt« (Lipowatz 2004: 147; vgl. auch Widmer 1997 und 2004). Auch das Reale als »Grenzerfahrung von Genießen und Leiden«, als Ort, an dem die Erfahrung dominiert, dass es unmöglich ist, »›alles‹ zu sein und ›alles‹ zu haben« (Lipowatz 2004: 148), ist zuständig für diese Verfehlung. Sie drückt sich unter anderem in der Repräsentanz des Anderen im Inneren des Subjekts aus. Die Unerreichbarkeit des realen Dings und die Unerträglichkeit, dass das Innere des Subjekts immer nur über ein Anderes, ein Außen erreichbar ist, führen zur phantasmatischen Struktur des Begehrens.

Der Kreislauf des Begehrens und seine phantasmatische Struktur Das Begehren bezieht sich nicht auf ein spezifisches Objekt, an dem es sich stillt, auch nicht primär auf den Anderen als Objekt der Begierde, an dem es Befriedigung findet. Es ist vielmehr eingebunden in ein Spiel, das in der Vorstellungskraft wurzelt. Hier, in der Phantasie, liegen die Wurzeln des Begehrens. Objekte werden also zu Objekten des Begehrens durch die Einbildungskraft, wodurch sie dem Fluss der Zeit unterliegen und zugleich räumlich inszeniert und angeordnet werden. Dabei wird das Objekt des Begehrens zum Spiel-Zeug, welches das Begehren symbolisiert, es wach hält und es kreativ entwickelt. Es fungiert als Gedächtnis des Körpers, als Erinnerungsbild des Subjekts. Mit seiner Hilfe überbrückt das Begehren in der Präsenz des Objekts nicht nur die Abwesenheit des Anderen, sondern es vergegenwärtigt auch vergangene Gefühle und Gedanken. Genau darin besteht die Rolle des Phantasmas: Es bildet nichts anderes als ein vorgestelltes Szenarium, in dem alle Objekte, Handlungen und Personen der Phantasie unterworfen sind. Es inszeniert einen Schauplatz, an welchem dem Begehren des Subjekts Koordinaten gesetzt, die Objekte der

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136 | In der Zerstreuung organisiert Begierde spezifiziert und angeordnet werden und die Position bestimmt wird, die das begehrende Subjekt in seiner Szenerie einnimmt. Dadurch unterliegt das Begehren einer phantasmatischen Struktur. Sie stellt nicht auf die Befriedigung des Begehrens ab, sondern setzt allererst seine Realisierung ins Bild. Diese verweist weniger darauf, dass sich das Begehren erfüllt und befriedigt wird, als vielmehr darauf, dass die Objekte so angeordnet werden, dass sie sich der Befriedigung des Begehrens gerade entziehen und ein unablässiges Verlangen nach mehr, ein Mehr-Begehren erzeugen. Darin besteht sozusagen das Paradox des Begehrens, das in seiner phantasmatischen Struktur begründet ist. Bildet das Phantasma die Art und Weise, wie das Begehren konstruiert wird, so bildet die Zirkularität des Begehrens den Modus seiner Funktionsweise; seine – unendliche – Reproduktion wird durch den Teufelskreis des Mehr-Begehrens gewährleistet. Er soll das Verschwinden des Begehrens und das Erleiden seines Verschwindens (und damit nicht zuletzt auch des begehrenden Subjekts) verhindern. Dieser Kreislauf ist dem Begehren selbst eingeschrieben. Diese Vorgänge verweisen auf zwei wesentliche Merkmale des Begehrens: zum einen den Schematismus der Phantasie und zum anderen die Intersubjektivität des Begehrens. Zum Schematismus der Phantasie: Nur durch das Phantasma konstituiert sich das Subjekt als begehrend. Das Begehren ist nicht etwas, das vorab existiert, sondern etwas, das konstruiert werden muss. Dies geschieht in der Phantasie. »Sie stellt ein Schema zur Verfügung, nach dem bestimmte positive Objekte der Realität als Objekte des Begehrens fungieren können« (Zizek 1999: 20), diese sind von der imaginierten Szenerie nicht ablösbar. Zizek hebt auf den ›Schematismus der Einbildungskraft‹ ab, wenn er davon ausgeht, dass es nicht darum geht, das Objekt selbst oder die Bedürfnisbefriedigung zu phantasieren, sondern die Auswahl des Objekts in der Phantasie zu begründen: ^ ^

^ ^

»Um es mit simplifizierenden Worten zu sagen: Phantasie meint nicht, daß, wenn ich einen Erdbeerkuchen will und tatsächlich keinen bekommen kann, ich darüber phantasiere, einen zu essen; das Problem ist eher, woher weiß ich, daß ich in erster Linie einen Erdbeerkuchen wollte? Das ist es, was mir die Phantasie sagt« (ebd.; Hervorhebung im Original).

Ein zweites Merkmal ist der intersubjektive Charakter des Begehrens und der Phantasie. Die Objekte, die Koordinaten sowie die Rolle des Subjekts in dem phantasmatischen Szenario sind in der Intersubjektivität des Begehrens begründet, gesellschaftlich produziert. Dieser Sachverhalt verweist auf

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die Dezentrierung des Subjekts, auf das Subjekt als »Teil eines opaken Netzwerks, dessen Bedeutung und Logik sich meiner Kontrolle entzieht« (ebd.: 23). Da es keine universelle Formel oder Matrix für die Beziehung zu einem Objekt gibt, ›erfindet‹ jedes Subjekt seine eigene Formel. Wenn überhaupt, ist sie begründet in der Intersubjektivität als dem Ort, an dem sich die Einbildungskraft und das Subjekt bilden; es ist die Beziehung zum Anderen, zum Außen, zur symbolischen Ordnung der Gesellschaft, in der das Begehren angereizt und zugleich begrenzt wird. Das Phantasma als inszeniertes Szenarium des Begehrens ist in der radikalen Intersubjektivität der Phantasie und des Subjekts verankert. Deutlich wird das im Rückgriff auf das von Freud berichtete Beispiel seiner kleinen Tochter, die über das Essen eines Erdbeerkuchens phantasiert. »Das entscheidende Merkmal ist, daß das kleine Mädchen bemerkte, nachdem es gierig einen Erdbeerkuchen gegessen hatte, wie tief ihre Eltern von diesem Spektakel befriedigt waren, das heißt, sie beim völligen Genießen zu sehen – worum es also in einer Phantasie vom Essen eines Erdbeerkuchens wirklich geht, ist ihr Versuch, eine solche Identität zu formen (diejenige, die es vollkommen genießt, einen Kuchen zu essen, den sie von ihren Eltern bekommen hatte), die ihre Eltern befriedigen würde, auf das sie sie zum Objekt ihres Begehrens machten« (ebd.: 24).

Wichtig ist der Hinweis, dass es hier weniger um die direkte halluzinatorische Befriedigung eines Wunsches geht, sondern um die Dimension der Intersubjektivität. Die ursprüngliche Frage des Begehrens lautet also nicht: »Was will ich?«, sondern »Was wollen andere von mir? Was sehen sie in mir? Was bin ich für die anderen?« (ebd.: 22). Das so ausgebildete Begehren ist also der Versuch einer Antwort auf die Frage »Was will die Gesellschaft von mir?«. Es geht darum, »die Bedeutung der unklaren Ereignisse, zu deren Teilnahme ich gezwungen bin, aufzustöbern« (ebd.: 23). Das phantasmatisch im Inneren des Subjekts errichtete Objekt des Begehrens erfüllt mithin den Zweck, »daß ich mich selbst als ›wertvoll für das Begehren des Anderen‹ wahrnehme« (ebd.: 22). In dieser Intersubjektivität ist das Begehren »eingebettet in ein komplexes Netzwerk von Beziehungen, es dient als eine Art Katalysator und Schlachtfeld für die Begehren derjenigen um ihn herum« (ebd.: 22f.). Die Schwierigkeit besteht darin, präzise zu ermessen, was für ein Objekt das begehrende Subjekt für die anderen ist. Die Phantasie bereitet eine Antwort auf die Frage, »Was ist das Begehren des Anderen?« vor. Hier zählt das Objekt der Phantasie als Einsatz im intersubjektiven Kampf

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138 | In der Zerstreuung organisiert um Anerkennung und Liebe. Das Begehren, das sich in der Phantasie ›realisiert‹, das dort inszeniert und aufgeführt wird, ist aus dieser Perspektive nicht das eigene des Subjekts, sondern das Begehren des Anderen. Auch auf der Ebene der Begierde findet sich das Subjekt also im Spiegel des Anderen. Gleichzeitig sieht es im Anderen nicht diesen, sondern sich selbst im Anderen. Wie im Spiegelstadium lässt sich die Begierde nach Anerkennung durch den Anderen nicht befriedigen, da dem »Tun des Einen« dasselbe »Tun des Anderen« entspricht, also auch der Andere nur sich selbst im Anderen sieht. Sowohl Lacans Theorie des Spiegelstadiums als auch sein für die Konstitution des Subjekts zentraler Begriff des Begehrens greifen auf die Hegel’sche Bestimmung des Selbstbewusstseins zurück. Hegel vertritt in der Phänomenologie des Geistes (1807) die Auffassung, dass die Begierde nach Anerkennung der Selbstständigkeit des Anderen widerspricht, da die Begierde ihre Wahrheit nur in sich selbst hat und den Gegenstand des Begehrens in seiner Selbstständigkeit aufhebt (Hegel 1970: 143f.). »Indem sich aber die ›Begierde‹ des einen auf die ›Begierde‹ des anderen richtet und somit zur Begierde nach der Begierde des anderen wird, kann diese Beziehung nur brüchig bleiben, da jeder versucht, das Anderssein des anderen aufzuheben, um sich selbst zu gewinnen« (Pagel 1999: 26f.).

Geht es zum einen um die phantasmatische Konstruktion des Begehrens, die an die unerfüllbare, performative Reproduktion des Begehrens gebunden bleibt, so unterliegt andererseits jeglicher Versuch, das Begehren nach wechselseitiger Anerkennung in der Intersubjektivität der Anerkennung zu realisieren, einer Verfehlung. Auf beiden Ebenen unterliegt das Subjekt einer phantasmatischen Struktur, in der sich das Begehren unablässig (re-) produziert. Mit ihr wird aber auch der Mangel als Voraussetzung des Begehrens immer wieder neu hervorgebracht. In diesen Phantasmen und ihrer zirkulären Struktur ist die Konstitution des Subjekts begründet: An der unablässigen Reproduktion des Begehrens, nicht an dessen Befriedigung orientiert, konstituiert sich ein Begehrenssubjekt, das den Gegenstand des Begehrens vollständig konsumiert, im Anderen immer nur sich selbst sieht und ihn damit als selbstständiges Objekt aufhebt. Das Objekt taucht als Gegenstand des Begehrens gewissermaßen »aus dem Nichts« auf. Es wird vom Begehren selbst, »mit einem vom Begehren getragenen, durchdrungenen und ›verzerrten‹ Blick« (Zizek 2000: 27; Hervorhebungen im Original) postuliert. Wo für den nüchternen, unbeteiligten Blick nichts anderes als ein triviales, alltägliches Objekt zu sehen ist, konstruiert das Phantasma ein faszinierendes Objekt, »das nur mit dem durch das Be^ ^

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gehren ›verzerrten‹ Blick wahrgenommen werden kann, ein Objekt, das für einen objektiven Blick nicht existiert« (ebd.). Das heißt: Das Objekt des Begehrens ist immer ein von einem anteilnehmenden Blick erzeugtes Objekt. Es verkörpert eine ›verzerrte‹ Realität, die objektiv, ›an sich‹, außerhalb des Begehrens nicht existiert. Dieses durch das Begehren selbst erzeugte ›Mehr‹ des Objekts speist sich aus der Einbildungskraft. Sie produziert das begehrte Objekt aus der inneren Vorstellung und macht aus Objekten einen phantasmatischen Raum. Wie dieser als eine Art Leinwand für die Projektion von Begehren fungiert, lässt sich am Beispiel der Geschichte Black House von Patricia Highsmith verdeutlichen: Hier wird ein verfallenes, altes Gebäude in einer amerikanischen Kleinstadt zum geheimnisvollen »schwarzen Haus«, zum Schauplatz, der mit nostalgischen Erinnerungen angefüllt ist und an dem sich das Begehren der Männer, die abends in der Kneipe sitzen und über die Abenteuer ihrer Jugend reden, artikuliert. Das »schwarze Haus« ist der mystische Ort, an dem ihre Jugenderinnerungen zusammenlaufen und der für sie gerade darin real ist, dass er unnahbar bleibt und sich der Realität widersetzt. Jeder Versuch, das »schwarze Haus« als alte Ruine zu entlarven, in der »nichts« ist, endet damit, das Eindringen der Realität in das Phantasma des Begehrens zu verhindern; so fällt auch der ›Eindringling‹, der die Idylle des phantasmatischen Raums auf eine alltägliche, gewöhnliche Realität reduzieren will, der phantasmatischen Anordnung des Begehrens zum Opfer (vgl. ebd.: 20). Es ist diese Differenz zwischen der Realität und dem Realen als dem Schauplatz eines phantasmatischen Raums, der das »schwarze Haus« zum verbotenen Terrain macht, in das die Männer ihr nostalgisches Begehren projizieren. Als leerer Raum bietet er eine Projektionsfläche, in die sich das erinnerte Begehren einschreibt und unentwegt ein »Mehr-Genießen« produziert. Durch Aufrechterhaltung des Phantasmas wird das Begehren sozusagen vor seinem ›Verschwinden‹ in der Realität bewahrt und der Genuss, den es verspricht, noch gesteigert. Auf dieser Ebene erzeugt sich das Mehr-Begehren gewissermaßen aus der Überschussproduktion der Phantasie, die das, was für den objektiven Blick nicht existiert, real erfahrbar macht. Immer sind es gewöhnliche Objekte, alltägliche Orte, die zum Feld der Träume werden. In diesem Vorgang erhält das Objekt Fetischcharakter. Die Faszination, die es ausübt, ist nicht seine unmittelbare Eigenschaft, sondern es ist die ›Antwort des Realen‹, die dem Objekt einen Platz im libidinösen Raum des Subjekts zuweist. Jedes Objekt kann aufgrund der Illusion, die Faszination gehe vom Objekt als solchem aus, diesen Platz einnehmen; es erweist sich als austauschbar. Das Begehren wechselt ja, im Gegensatz zum Triebbedürfnis, von einem Objekt zum anderen; »es ist nie auf das gerich-

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tet, was sein Objekt zu sein scheint, es ›will‹ immer ›etwas anderes‹« (Zizek 2000: 41). Vorausgesetzt ist aber, dass der arbriträre Charakter (der Bedeutung) des Objekts für das Subjekt im Verborgenen bleibt, denn darin besteht gerade der Charakter der »fetischistischen Inversion«: Die Subjekte tun so, als hafte dem Objekt selbst an, was in Wirklichkeit Effekt eines symbolischen Rituals, einer performativen Kraft ist. Dieser Sachverhalt aber verweist auf die Kontingenz der symbolischen Ordnung selbst; sie ist löchrig und enthält Leerstellen. Das Reale füllt den Ort der Leere aus, der in der symbolischen Ordnung klafft (ebd.: 54f.).

Massenkultur als Spiegel- und Projektionsfläche des Begehrens »Meinen letzten freien Tag verbrachte ich in verschiedenen Reisebüros. Ich mochte die Urlaubskataloge, ihre Abstraktion, ihre Art, Orte aus der ganzen Welt auf eine begrenzte Sequenz von Tarifen und möglichem Glück zu reduzieren; mir gefiel vor allem das Sternchensystem, um die Größe des Glücks anzuzeigen, die man berechtigterweise erwarten durfte« (Houllebecq 2002: 21; Hervorhebung durch die Autorin)

Verräumlichung des Begehrens in der Warenästhetik Massenkultur stellt sich als globale Warenkultur, als eine Art Weltausstellung des Warenreichtums kapitalistischer Gesellschaften dar.6 Mit der Ware stellt sie ein gesellschaftlich produziertes Objekt bereit, das als ›Antwort des Realen‹ in Frage kommt, wenn es darum geht, den ›Lückentext‹ der symbolischen Ordnung zu erweitern. Die Ware erfüllt die Funktion, als vom Begehren postuliertes Objekt einen Platz im libidinösen Raum des Subjekts einzunehmen. Im doppelten Sinne Inbegriff eines ökonomischen Mehrwerts, nämlich Träger des Tauschwerts und Materialisierung einer libidinösen Ökonomie des Mehr-Begehrens zu sein, verkörpert sie jene paradoxe Macht, die die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt: Die unwiderstehliche Macht, die von ihr ausgeht, erscheint nicht als gesellschaftlich produziertes 6 | »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform« (Marx 1968: 49). Worauf Marx abhebt, ist der verschleiernde Fetischcharakter der Ware, der die Bedeutung gesellschaftlicher Arbeit verbirgt.

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Verhältnis, als kalkulierter Schein warenästhetischer Oberflächen, die zugleich als Projektionsflächen unerfüllter Wünsche fungieren, sondern als Eigenschaft der Sache selbst. Denn die präparierte Oberfläche der Ware bildet »das eigentliche Gesicht« (Haug 1973 [1971]: 61) der Ware, das der Konsument anstelle der stofflichen Beschaffenheit des Warenkörpers zu Gesicht bekommt. In den ästhetischen Reiz der Ware ist die Verführung bereits eingeschrieben; hier schließt sich die Überschussproduktion der Warenkultur mit der Überschussproduktion der Phantasie zusammen. Im Dienste der Tauschwertrealisierung wird die Warenästhetik, das Gebrauchswertversprechen der Ware, einerseits zum Instrument für den Geldzweck. Darüber hinaus aber dient das Warenschöne der Realisierung einer sich selbst verwertenden Begehrensökonomie. Sie ist auf ›Mehr-Genießen‹ aus. Damit wird die Warenästhetik zum Köder für ein vom Begehren erzeugtes ›Mehr‹ des Objekts, zum phantasmatischen Raum des Begehrens. Massenkultur produziert so nicht nur Waren, sondern sie bildet eine sozioökonomische Formation, in die das Begehren nach mehr eingeschrieben ist. Warenhäuser – und ihre neueren Varianten, Einkaufsgalerien und shopping malls – sind die Museen der Massenkultur. Ihre Ausstellungsflächen präsentieren, im Blick der anonymen Masse angeordnet, ästhetische Warenkörper. Damit sind sie zugleich, wie die ausgestellten Waren, Projektionsflächen eines massenkulturell regulierten Begehrens. Die Ware wird mit ihrer ästhetischen Oberfläche selbst zum Spiegelbild eines phantasmatischen Begehrens(subjekts), zum phantasmatischen Raum, der angefüllt ist mit dem Begehren, sich des eigenen Mangels zu entledigen. Sie dient als eine Art Leinwand für die Projektion eines ständigen ›Mehr-Begehrens‹. Gleichzeitig ist das Begehren im Spiegel der Masse (der Anderen) angeordnet. In ihm spiegelt sich das Begehren nach Anerkennung. In der Ware verschränkt sich beides: die imaginäre Spiegelung des Begehrens im Objekt (der Phantasie) und die in der Intersubjektivität begründete Begierde nach Anerkennung. Dann aber befindet sich das Subjekt nicht mehr nur in der Intersubjektivität von Ich und Anderem, sondern konstituiert sich im Spiegel des ›toten Dings‹, das zum symbolischen Gegenüber wird und den Anderen repräsentiert. Diesen Mechanismus der Spiegelung im ›Ding‹ zeigt der Film Cast away (dt: Verschollen) auf exemplarische Weise. Chuck Noland, Mitarbeiter bei der internationalen Spedition FedEx, landet nach einem Flugzeugabsturz auf einer entlegenen Insel. Er entwickelt Überlebensstrategien. Aus einem angeschwemmten FedEx-Paket packt er einen Volleyball der Marke ›Wilson‹ aus. In der langen Zeit seines einsamen Inseldaseins (ca. vier Jahre) wird der Volleyball zum Gegenüber. Noland stattet ihn mit einem Gesicht aus. Damit erfüllt der Volleyball der Marke ›Wilson‹ eine symbolische

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142 | In der Zerstreuung organisiert Funktion. Der Produktname wird zum Eigennamen; Noland nennt ihn Wilson. Er spricht mit ihm, beruhigt sich an ihm in seiner Verzweiflung. Schließlich wird Wilson, auf der Fahrt mit dem selbst gebauten Floß, zur Gallionsfigur und zum Gefährten, der am Ende untergeht. Die Ware wird zum Objekt des Begehrens in der Phantasie und zum Repräsentanten der Intersubjektivität mit dem Anderen. Damit sichert das Ding, das konsumiert wird, ›Identität‹. Sie ist angeschlossen an Warenoberflächen und konstituiert sich über den ästhetischen Spiegelkörper der Ware. Das Begehren ist also nicht mehr primär an die Intersubjektivität von Ich und Anderem gebunden, sondern was das Subjekt und sein Begehren ist, wird gesellschaftlich warenförmig produziert. Es konstituiert sich in der Ökonomisierung der Dinge selbst als ökonomisches Ding. Im ›Verschwinden‹ der Objekte durch deren Konsum und deren unablässiger Wiederbeschaffung konstituiert sich das Subjekt selbst als ›verschwindendes‹ und fluides Subjekt. Die Dinge müssen zum Verschwinden gebracht werden, nicht nur, damit neue an ihre Stelle treten können, sondern damit das Subjekt sich immer wieder als begehrendes hervorbringen kann. Reguliert wird das Begehren durch seine Verräumlichung in der Warenästhetik. Sie bringt ganze Wunschterritorien ans Licht der Oberfläche der Ware (vgl. Haug 1973 [1971]: 64). In den ausgestellten Objekten, Sinnbilder des gesellschaftlichen Warenreichtums, der sich an den bis zum Rand gefüllten Auslagen, am diversifizierten Warensortiment ablesen lässt, verkörpern sich Begehrensströme, die sich mit Finanz- und Kommunikationsströmen zusammenschließen. Im Warenkörper verschränkt sich die Ökonomie der Warenzirkulation mit ganzen Zeichenuniversen (der Warenästhetik) und Ökonomien des Begehrens. Warenhäuser bilden so einen phantasmatischen Raum, in dem die Ströme der individualisierten Masse von Konsumenten einem regulierten Begehren folgen. Zunächst manifestiert sich die Lebensqualität einer Bevölkerung in der Quantifizierung des (Waren-)Begehrens; die Größe des Warenangebots gilt als Index für die Lebensressourcen kapitalistischer Gesellschaften. In der warenökonomischen Quantifizierung des Begehrens wird die Größe und Intensität der zu erwartenden Bedürfnisbefriedigung und des damit verbundenen Glücks signifiziert. Waren haben so Zeichencharakter; sie sind numerische Zeichen des Glücks, die schier unbegrenzte Begehrenshorizonte zu eröffnen scheinen, zugleich aber das Wünschenswerte drastisch einschränken auf das käuflich Realisierbare und alles andere wort- und bilderlos aus dem Ausstellungskatalog des Käuflichen verbannen. Als Ausstellungsorte massenindustriell produzierter Objekte bilden Warenhäuser das Signum einer Massenkultur, deren wichtigste Kulturleistung in der technischen Vervielfältigung von industriell fabrizierten,

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ästhetischen Objekten zu bestehen scheint. In einen massenhaft organisierten Konsum- und Rezeptionszusammenhang eingebettet, weisen sich die Objekte der Massenkultur durch Popularität aus, ein Merkmal, das zugleich als untrügliches Zeichen ihrer Trivialität herhalten muss. Aber in der Trivialität erweisen sich ihre Objekte als »vertracktes Ding« (Marx 1968: 85); denn im unspektakulär Alltäglichen der Massenkultur schließen sich Austauschprozesse zusammen, die über den Warencharakter der Kulturobjekte hinausgehen. In ihnen binden sich Prozesse der Warenzirkulation an das Symbolische von Zeichen- und Kommunikationsprozessen, die auf der Ebene subjektiver Begehrens- und Wunschökonomien wirksam sind. Auf der Grundlage ihrer seriellen Produktion endlos reproduzier- und austauschbar geworden, produziert Massenkultur in industrieller Fließbandproduktion Objekte, die, ›aus dem Nichts kommend‹, als Symbole einer profanen Gegenwartskultur Kulturgeschichte machen. Das zeigt sich an der Geschichte der Cola-Dose und des Sony-Walkman ebenso wie an Sexsymbolen der Filmindustrie (Brigit Bardot, Marilyn Monroe) oder Ikonen der Popkultur (Elvis, Madonna). Damit aber verweist die Geschichte dieser Kult(ur)objekte auf eine spezifische Lesart der kulturindustriellen Produktionsweise: Die Waren, die sie produziert, schließen sich auf der Oberfläche der Ware mit Zeichenökonomien zusammen und werden zu Signifikanten einer spezifischen Erlebnis- und Lebensqualität. In der Verknüpfung technischer, ökonomischer und ästhetischer Paradigmen verankern sich die Waren als Kulturobjekte im Begehren. Warenhäuser sind daher, als ›Tempel der Kauflust‹, keineswegs beschränkt auf die Ausstellung von Warenansammlungen, deren ökonomisch gewinnbringender Tausch im Vordergrund steht. Was hier ökonomisch verwaltet und ästhetisch zur Schau gestellt wird, ist die Lust und das Begehren, zu konsumieren. Was hier ›angebetet‹ wird, sind käufliche Objekte der Begierde, die in ihrer schillernden Aufmachung vielfältige Wunschökonomien aktualisieren und abrufen. Als (Einkaufs-)Galerien, in denen sich die Warenästhetik und mit ihr die phantasmatische Struktur des Begehrens verräumlicht, sind Warenhäuser daher zugleich Paläste der Sinnlichkeit, in denen das Kapital regiert, in die aber auch triebökonomisches ›Kapital‹ und seine Dynamiken eingelagert sind. Die ausgestellten Waren knüpfen ihre Daseinsberechtigung, und dies keineswegs nur bei den Konsumenten, an eine Ökonomie des Begehrens und des Lustgewinns. Zwar sind die ausgestellten Waren Konsumartikel, die sich vor allem durch ihre praktische Nützlichkeit rechtfertigen. Zugleich aber haftet ihnen eine Aura des Vielversprechenden, Verheißungsvollen, um nicht zu sagen, des Sakralen an. Diesen Sachverhalt übersieht Walter Benjamin, wenn er davon ausgeht, dass der magisch-religiöse Kultwert des Kunstwerk(s) im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hinter dem Ausstellungswert verschwindet (vgl. Benjamin 1974), dabei aber ver-

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144 | In der Zerstreuung organisiert kennt, dass das Auratische in der massenhaft produzierten und ausgestellten Warenwelt in veränderter Form wiederkehrt. Denn nun bilden Industrieprodukte das Äquivalent des Kunstwerks, das sich gleichsam im Bild der massenhaft produzierten Ware und ihrer »Tendenz zur Überwindung des Einmaligen« (ebd.: 355) spiegelt. Im Kult des säkularisierten Rituals, sich die Dinge des Alltags zu Eigen zu machen, transformieren sich die Waren in magische Objekte. In sie schreiben sich nicht nur profane Mythen des Alltags ein (vgl. Barthes 1964: 76), sondern sie bilden im ›Warenschönen‹ zugleich das sichtbare, gewissermaßen apparative Spiegelbild des Begehrens konsumierender Subjekte. Dieses existiert zwar von diesen ablösbar und ist dennoch unausweichlich mit ihnen verschränkt. Warenhäuser sind daher, ebenso wie Versandhaus- und Urlaubskataloge, nicht nur Repräsentationsformen eines schier unbegrenzten Warensortiments, sondern sie repräsentieren ein ebenso grenzenloses Begehren, womit Dynamiken des Unbewussten ins Spiel kommen.7 Das Begehren, das hier produziert und zur Schau gestellt wird, richtet sich auf das ästhetische Gebrauchswertversprechen und den Erlebnisgehalt materieller und immaterieller Kulturgüter. Dabei kommt den Waren ein ›Mehr-Wert‹ zu, der sich im Kult(ur)wert der Objekte manifestiert und sich mit Wunschund Begehrensökonomien verknüpft. Sie repräsentieren ein symbolisches und soziales Surplus: Hier geht es um Selbstbilder und Formen der Selbstrepräsentation in sozialen Handlungskontexten ebenso wie um soziale Anerkennung und soziale Zugehörigkeiten. Begehrenswert zu sein, dabei zu sein, dazu zu gehören und sozial anerkannt werden, bildet so gleichsam den immateriellen, symbolischen Tauschwert industrieller Produkte, der sich in Selbst- und Körperbildern des Individuums und seinen sozialen Beziehungen niederschlägt. Diese immaterielle Dimension materieller Objekte findet ihre Entsprechung in der Dimension phantasmatisch konstruierter Begehrenshorizonte. In der Verschränkung von Waren-mit Begehrensökonomien artikulieren und manifestieren sich Szenarien, die in der Anordnung von Waren zugleich die von Körpern und Subjekten bereitstellen. Massenkultur organisiert also mit der Warenökonomie – und den ihr inhärenten Steigerungsimperativen ökonomischer Verwertungslogiken und technologischer Innovationsdynamiken – zugleich Szenarien des Begehrens. Dies gilt nicht nur für das Versprechen, das die Waren-Ästhetik (vgl. Haug 1973 [1971]) kultiviert, sondern auch für die Produkte einer Unterhal-

7 | Repräsentation meint hier nicht lediglich ein Abbild oder eine Vorstellung, sondern eine Verkörperung und dingliche Realisierung eines Begehrens, das auf Kodierungskonventionen und darin zugleich auf massenkulturell erzeugte Konstruktionsmodi des begehrten Objekts und des Begehrens selbst rekurriert.

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tungsindustrie, die, in medialen Projektionen, idealisierte Lebensentwürfe (von prominenten Stars) vorführt. Auf dieser Ebene angesiedelt, bezeichnet Massenkultur den Schauplatz der Realisierung eines kollektiven Glücksbegehrens, dem eine ins Unendliche gesteigerte, spezifische »Erlebnisrationalität« entspricht (vgl. Schulze 2000; 2003). Sie rekurriert im Bezug auf das Begehren des Subjekts nach Selbstdarstellung und -vergewisserung auf einen »kollektiven Glücksdiskurs« (Schulze 2000). In der effektiven Erlebnisinszenierung produziert sie mediale Anatomien von anschlussfähigen Menschenbildern, die das Selbstverständnis von Menschen in einer massenmedialen Umwelt nachhaltig transformieren. Damit öffnet sich Massenkultur der Ausweitung und Steigerung des Möglichkeitsraums, woraus sie nicht zuletzt ihre soziale Bindungskraft bezieht. Sie begegnet der Unvorhersehbarkeit des Alltags durch immer neue Glücks-Szenarien, sichert aber gerade in der Propagierung von Enklaven des Glücks die prinzipielle Unberechenbarkeit von Lebens- und Selbstverhältnissen. Durch ein gesellschaftlich erzeugtes ›Mehr-Begehren‹ und ›Mehr-Genießen‹ erzeugt sie den ›Mangel‹ von Konsumwelten, den sie in warenökonomisch durchgestylten Werbefeldzügen ästhetisch anreizt und ökonomisch verwaltet. In der warenästhetischen Kultivierung von Oberflächen verschreibt sich Massenkultur der forcierten Beschleunigung der Zirkulation von Zeichen. Über deren Einschreibung in Warenoberflächen werden zugleich Folien für Subjektkonstruktionen erstellt, die das Subjekt sowohl erzeugen als auch gleichzeitig korrumpieren. Dabei fungieren die warenästhetischen Oberflächen zugleich als Zeichen der Individualität. Hier geht es darum, im Rückgriff auf Objekte der Zirkulation von Waren und Zeichen Individualität und soziale Anerkennung zu sichern. Auf dieser Ebene angesiedelt, bietet der Begriff der Massenkultur Anhaltspunkte für eine Gesellschaftsordnung, die sich mit soziotechnischen Anordnungen der Körper und Subjekte und Steigerungsimperativen des Begehrens verbindet. Durch die in der Warenökonomie strukturell angelegte Produktion einer Ökonomie des Mangels, in die das Begehren nach Mehr eingebaut ist, wird fortwährender Konsum angereizt. Aber die expansive Steigerung der Produktion, die den Mangel aufheben soll, vergrößert ihn stattdessen. Hier begegnen ökonomische Mechanismen der Kapitalverwertung und -akkumulation Steigerungsimperativen des Begehrens, in die der Mangel eingeschrieben ist. In der Überschussproduktion der Warenkultur, die in der scheinbaren Befriedigung des Begehrens nur den Abgrund seines Unbefriedigtseins vertieft, kann der zirkuläre Kreislauf des Begehrens sich frei entfalten.

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Regulierung und Normalisierung des Mehr-Begehrens Die Ware präsentiert sich als das das Genießen verkörpernde Ding, als »Attraktor« einer libidinösen Ökonomie, der das Subjekt immer wieder in ein »chaotisches Oszillieren« (Zizek 2000: 66) von Waren-, Begehrens- und Zeichenökonomien stürzt und es unweigerlich einem permanenten Mehr-Genießen und Mehr-Begehren aussetzt. Sie erfüllt die Funktion, dem Verschwinden des Begehrens dadurch zu entgehen, dass sie, indem sie Befriedigung vorenthält, den Mangel als Grund des Begehrens aufrechterhält. In der Ware ist die Befriedigung des Begehrens durchgestrichen; sie folgt der Logik des Konsums im Sinne eines Verbrauchs, den das Begehren an sich selbst verübt. Er führt nicht das Verschwinden, sondern die Erneuerung und Steigerung des Begehrens herbei. Dabei ist die Verführung durch die ›maßlose Gier‹ in das Begehren selbst eingeschrieben. Es ist auf das Gesetz des Mangels und die Norm der Lust bezogen, wie es im Märchen vom Fischer und seiner Frau Ilsebill sinnfällig wird: ^ ^

»Im Märchen vom Fischer und seiner Frau sind es genau sechs Wünsche, an denen beispielhaft einige Wunschgesetze durchgespielt werden. Nachdem der Fischer den von ihm gefangenen sprechenden Butt das Leben schenkt, weil es sich in Wirklichkeit um einen verwunschenen Prinzen handelt, sieht sich seine Frau berechtigt, sich als Gegengabe vom Butt etwas wünschen zu können. Sechsmal überbringt der Fischer die Wünsche seiner Frau an den Butt, nicht ohne jedes Mal zu betonen: ›Myne Frau, de Ilsebil,/Will nich so, as ik wol will.‹ Die Frau wünscht zu haben bzw. zu sein: Hütte, Schloß, König, Kaiser, Papst, Gott. Schon nach dem zweiten Wunsch bemerkt der Fischer: ›Ach, Frau […] de Hütt is jo good noog, wat wähl wy in’n Slott waanen. […] de Butt hett uns eerst de Hütt gewen, ik mag nu nich all wedder kamen, den Butt muchd er vördreten.‹ Ihm wird das Herz schwerer bei jedem Gang, und als er den Wunsch, König zu sein, überbringt, weiß er: ›Dat is nich recht uni s nich recht.‹ Aber der Butt erfüllt noch weiterhin alle Wünsche. Als seine Frau vom Butt zum Papst gemacht werden will, formuliert er einen gewichtigen Einwand: ›Paabst kannst du nich warden, Paabst is man eenmal in der Kristenhait, dat kann he doch nich maken.‹ Während auch dieser Wunsch noch befriedigt wird, führt der nächste statt zur Erfüllung zurück in die Ausgangssituation: zum Leben im ›Pißputt‹« (Karpenstein-Eßbach/Eßbach 1999: 109f.).8

Hier wird die ›Maßlosigkeit‹ des Begehrens als Motor einer Sequenz von

8 | Übertragen auf die Produktion eines Mehr-Begehrens durch die Massenkultur bedeutet dies: Überschuldung der Konsumenten und Rückfall auf das Existenznotwendige.

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Wünschen und als Dynamik des Begehrens offensichtlich: Zerstörerisch und selbstsüchtig zugleich, erzeugt sich in der Befriedigung wieder die Begierde, ein Prozess, der sich ins Unendliche steigert und fortschreibt. Im Märchen vom Fischer und seiner Frau Ilsebill scheitert die Fortschreibung der Wünsche ins Unendliche an der Moralisierung – und der durch sie gesetzten Regulierung – der Maßlosigkeit. Hier tritt die Bekräftigung von Normen des rechten Maßes der Grenzenlosigkeit der Wünsche gegenüber. Moralisiert wird hier aber nicht nur die Maßlosigkeit des Begehrens, sondern auch die Steigerung der Wünsche vom ›Haben‹ zum ›Sein‹: Dem Wunsch nach Dingen folgen Wünsche nach Positionen und das, was begehrt wird, wird immer exzeptioneller (vgl. ebd.: 110). Dieses Moment der Überschreitung von Grenzen ist der Dynamik des Begehrens in der Waren- und Konsumkultur eingeschrieben; es treibt den Konsum voran. Gleichzeitig kommt hier die Regulierung des Begehrens ins Spiel: Das Problem der Mäßigung des Begehrens wird zum Fokus einer Selbstbefragung des Subjekts, die im Prinzip unabschließbar ist und, anders als die Orientierung an normativ vorgegebenen Regeln, ein fragiles Instrumentarium zur Bestimmung des ›richtigen‹ Maßes darstellt. Sie orientiert sich am Horizont des ›durchschnittlichen‹ Begehrens derer, denen man sich zurechnet. Hier richtet sich die Regulation des Begehrens am Verhalten der Anderen aus, die ebenfalls begehren und mit deren Begehren sich der Einzelne vergleicht. Als vom Einzelnen immer schon antizipiertes Medium bildet ›die Masse‹ den Spiegel, in dem das Subjekt sein Begehren anordnet. Damit wird das Verhältnis zum Begehren der Anderen zum Kriterium für das Maß des eigenen Begehrens. Das Regulativ kommt dadurch zustande, dass das Begehren sich nicht auf das Exzeptionelle, sondern auf das Durchschnittliche richtet. Diese Praxis der Normalisierung des Begehrens verweist jedoch immer auf die Extreme, da es sich als Durchschnitt nur durch die Extreme und im Spannungsfeld zu diesen konstituiert. Das Begehren selbst durchkreuzt allerdings jede Regulation des Begehrens; es folgt der Logik des Konsums und den Marktgesetzen. »Es ist der Tausch selber, in dem die Angst vor dem Wunschverlust zurückgedrängt wird« (ebd.: 116). Der Logik des Konsums entspricht die Logik der Entwertung der Wunscherfüllung durch das begehrte Objekt: »Das begehrte Objekt verliert in dem Augenblick, in dem der Wunsch nach ihm erfüllt wurde, seine Aufladung mit der Energie des Begehrens. Wovon das Märchen erzählt, das ist die Entwertung des erfüllten Wunsches, der von einem Begehren, das sich fortsetzen will, dahingerafft wird« (ebd.: 115).

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148 | In der Zerstreuung organisiert Gleichzeitig wird die Entwertung durch das Mehr-Begehren wieder aufgehoben, das der Suspension des Begehrens durch die Vervielfältigung der Wünsche begegnet. Der über den Markt vermittelte Konsum steigert auf diese Weise nicht nur das Begehren, sondern auch den Mangel; er lässt sich als »Institutionalisierung eines Umgangs mit der Angst vor dem Verlust des Begehrens interpretieren« (ebd.). Verwertungsökonomie und libidinöse Ökonomie greifen hier unmittelbar ineinander; die über den Markt geregelte Ökonomie der Ver- und Entwertung stellt das Begehren auf Dauer. Sie überführt die der Logik des Konsums innewohnende Logik der Entwertung in einen Marktmechanismus, der das Begehren, in eine Sequenz von Tauschbeziehungen eingebettet, davor bewahrt, sich zu erschöpfen. Der Tausch sorgt dafür, dass die Entwertung in erneute Verwertung übergeht. Solange es Tauschobjekte gibt, ist das Begehren gesichert. Die Zirkulation der Waren auf dem Markt verhindert den Tod des Begehrens; »deshalb darf man im Markt die Verdrängung des Todes aus dem Begehren sehen« (ebd.: 116). Im Konsumismus der Massenkultur reproduzieren sich daher sowohl der Mangel als auch das Begehren ständig aufs Neue. In der Sprache der massenkulturell organisierten Konsumgesellschaft werden Wunschdynamiken an Strategien des Begehrens gebunden, indem immer neue Erfahrungen des Mangels produziert und diese ökonomisch verwertbar gemacht werden. »Es wird ein Begehren strukturiert, das beständig darauf abzielt, sich zu vervollständigen und zu vereinheitlichen; ein Begehren, das abzielt auf das ›Haben-Wollen‹ um ›Sein‹ zu können« (Rosenfeld 1984: 113, zit. n. Pagel 1999: 68). Das Selbst konstituiert sich auf der Grundlage eines in die ästhetische Oberfläche eingeschriebenen Warenversprechens, das, als Phantasma konstruiert, die Funktion des Spiegels übernimmt. In den Trugbildern der Warenästhetik gefangen, spiegelt sich das Selbst unablässig in einer Vielzahl warenästhetischer Oberflächen. Dabei unterliegt die Spiegelung des Selbst in der Ware, wie die Spiegelung des Selbst im Anderen (in der symbolischen Ordnung, der Sprache) und die Dialektik der intersubjektiven Anerkennung, einer Täuschung. An die Stelle des perfekten Spiegel-Körpers und des Ideal-Ich, die über den Blick des Anderen vermittelt sind und sich ihrer Existenz im Anderen versichern, tritt nun ein konstruiertes Modell(körpersubjekt). ›Real ist‹, was technisch reproduzierbar ist und sich einer künstlichen Anordnung von Zeichen verdankt. Das Reale ist dann nicht das, was sich – der Realität einer symbolischen Ordnung – widersetzt und sie umschreibt, sondern das äquivalent Reproduzierbare. Freuds Konstruktion des Unbewussten des Subjekts als Projektionsoberfläche medialer Anatomien und Lacans Konzept eines in spiegelartigen Anordnungen begründeten Begehrenssubjekts stellen die Möglichkeit be-

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reit, Massenkultur als diejenige ›prothetische Apparatur‹ und mediale Anordnung zu fassen, die dem Subjekt ständig neue idealisierte Objekte bereitstellt, in denen es sich unablässig spiegeln kann. Auf der Ebene des Imaginären situiert, unterwirft es sich dem Warenangebot gewissermaßen »selbstlos«. In ihm spiegelt es sich, im Teufelskreis phantasmatisch konstruierter Begehrenshorizonte und imaginärer Spiegelbeziehungen gefangen. Hier wartet ein ganzes Spiegelkabinett omnipotenter Helden darauf, dem Subjekt mediale Anatomien des perfekten Körpersubjekts vorzuspiegeln, die ihm als Projektionsfolien dienen und kontinuierlich Vollkommenheit verheißen. Zugleich geht damit eine Sequenzierung des Körpers in seine visuellen Bestandteile einher: Er wird in perfektionierten Werbefeldzügen verkaufsstrategisch wieder in einen ›zerstückelten‹, mangelhaften Körper verwandelt, in Körperelemente fragmentiert, die auf immer neue Mängel hinweisen und der kontinuierlichen Perfektionierung bedürfen: Der ›Waschbrettbauch‹, die mit Kollagen aufgespritzten Lippen, SilikonBrüste und andere Implantate sind Beispiele für die technische Optimierung des Körpers, die ihn nach künstlichen Regeln neu zusammensetzt und anordnet. Er wird durch Diäten, Fitnesstraining, Bodybuildung, plastische Chirurgie und Schönheitsoperationen so lange geformt, bis er den Idealen entspricht, die in medialen Körperbildern vorgegeben werden. Der Wiedereinführung des ›zerstückelten Körpers‹ entspricht seine visuelle Anordnung zum ›reinen‹ Bild, die ihn der technischen Optimierung und der Angleichung an ein künstliches Ideal unterwirft. Hierbei handelt es sich um die vollständige Angleichung der Körper und der Subjekte an ein künstliches Ideal, das die Stelle des realen Körpers und des subjektiven Erfahrungsraums vollständig besetzt. Diese werden aus dem Bild ausgeblendet und mit Hilfe technischer Apparaturen und Anordnungen ausgeschaltet. Solche Ideale sind subjektiv nicht oder nur durch Installation des Körpers als technischer Apparatur im Innern des Subjekts einholbar. Massenkultur bietet so Projektionsflächen, in denen sich das Begehren nach perfekter Körperlichkeit und idealisierten Selbstbildern spiegelt. Sie gilt insofern als Plattform eines phantasmatischen Glücks-Versprechens, als sie den Schauplatz eines Szenarios bildet, an dem das Begehren die Bedingungen seiner Realisierung arrangiert. Das Phantasmatische des Begehrens ist in das Glücks-Versprechen und -Begehren der Massenkultur eingeschrieben. Ungreifbar und imaginär bildet es dennoch eine feste Größe, mit der der Einzelne rechnet. Dabei unterliegt die massenkulturell organisierte Warenökonomie in der Ökonomisierung der Dinge und ihrem Verwertungsprozess selbst einer phantasmatischen Struktur. Indem sie auf das Imaginäre der Befriedigung des Begehrens abhebt und sich damit zugleich mit dem Modus der Begehrensproduktion zusammenschließt, realisiert sich der Warenwert in der

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150 | In der Zerstreuung organisiert Reproduktion des Begehrens selbst. Ver- und Entwertung der Ware und Realisierung des Begehrens gewährleisten die unendliche Zirkulation der Waren und des Begehrens. Angewiesen auf seine halluzinatorische Reproduktion beruht die Realisierung des Begehrens auf einem – ständig wiedererzeugten – Zustand des Mangels. Von hier aus geht es, wie im MonopolySpiel, wieder zurück auf ›Los‹. Die Koordinaten der Evozierung des Begehrens und seiner Objekte werden, ebenso wie der performativ hervorgerufene Mangel, massenkulturell produziert, durch die Gesellschaft bereitgestellt.

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Schluss: Zur Immanenz der Massenkultur oder: Es gibt kein Außen

Wenn die Moderne als Krise verstanden werden kann, in deren Zentrum der Konflikt zwischen konstruktiv-schöpferischen Kräften, des ihnen immanenten Begehrens auf der einen und sie übergreifenden Ordnungsmächten auf der anderen Seite steht, kann Massenkultur als Chiffre der Moderne gelesen werden, die in den Kern dieses Konflikts vorstößt: Sie bildet das Medium, das sich sowohl der heterogenen Ordnung des Begehrens als auch der integrativen Ordnung des Sozialen verschreibt. Dabei rekurriert sie auf die Selbstkonstituierung formal freier Subjekte. Indem sie diese gewissermaßen als geordnete ›Totalität‹ einer Streuung im Zaum hält, generiert Massenkultur – im Rekurs auf ein differentielles und heterogenes Feld von sich überkreuzenden Ökonomien – soziale Ordnung über strategische, zugleich aber kontingente Kräfteverhältnisse. In der Entfesselung produktiver Kräfte bindet Massenkultur diese zugleich an integrative Ordnungsprinzipien. Diese können überall in der Gesellschaft nachgewiesen werden. Massenkultur operiert nicht nach dem Muster eines imperialen, territorialen Zentrums der Macht, auch wenn der ›Dollarimperialismus‹ den Eindruck erweckt, als etabliere sich mit der Massenkultur weltweit ein imperialistisches Regime, das ein Territorium nach dem anderen erobert und in den Marktmechanismus (des Weltmarkts) hineinzieht. Massenkultur bleibt selbst als Machtform imaginär, nicht greifbar. Als globale Macht des ökonomischen und kulturellen Austauschs ist sie durch grenzüberschreitende, Vermittlungen außer Kraft setzende Aktivitäten gekennzeichnet. Die Legitimation dieser Macht geschieht nicht durch vermittelnde Momente der Mediatisierung, sondern wird unmittelbar, durch die Vielfalt der Produktion von Waren, Zeichen, Kommunikation durchgesetzt. Machtausübung geschieht durch Rückkoppelungssysteme, in

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152 | In der Zerstreuung organisiert denen jegliche Art der Vermittlung absorbiert wird. Die globalisierende und extrem individualisierende Macht und die Subjektivitäten verkehren und kommunizieren unvermittelt miteinander. Ihre treibenden Kräfte sind die Verschaltung der Produktion von Waren mit der Produktion des Körperlichen und des Symbolischen. Es geht um die Verschaltung der Produktion einer ›Innerlichkeit‹ mit Finanzströmen, mit ganzen Zeichenuniversen, mit Netzwerken der Information und Kommunikation. »Die großen Industrieund Finanzmärkte produzieren entsprechend nicht nur Waren, sondern auch Subjektivitäten« (Hardt/Negri 2002: 40). Massenkultur artikuliert so die Paradoxien einer Macht, »die jedes Moment gesellschaftlichen Lebens vereinheitlicht, in sich selbst einschließt und so die Fähigkeit verliert, zwischen auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräften tatsächlich zu vermitteln, während sich im gleichen Augenblick ein neuer Kontext eröffnet, ein neues Milieu mit einem Maximum an Pluralität und der Unbezwingbarkeit der Singularitäten – ein Milieu des Ereignisses« (ebd.) entfaltet. Deren Ereignishaftigkeit erweckt den Eindruck gesamtgesellschaftlicher Differenziertheit und verstellt damit den Blick auf Vereinheitlichungstendenzen. Im Fehlen eines festen Bezugsrahmens, auf den sich Singularitäten und extreme Grenzwerte beziehen könnten, verweist Massenkultur auf Transformationen von Machtkonfigurationen. Massenkultur bildet die Performanz einer Macht, die den sozialen Raum in seiner Totalität und das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit vollständig umfasst. Sie operiert in der Immanenz einer globalisierten Macht, die kein Außen kennt. Sie hat keinen anderen Maßstab als sich selbst. Dabei geht der externe Standpunkt, das Außen der Macht verloren. Der Modus der exklusiven Unterscheidung von Außen und Innen wird fragwürdig. Subjektivitäten konstituieren sich demnach nicht durch ein Außen, das auf ein subjektives Innen wirkt.1 Es sind nicht die in Institutionen eingesperrten Individuen der Disziplinargesellschaft, deren Disziplinierung im abgesteckten Raum der Körperdisziplin erfolgte. Die Bindung des Individuums an die Gesellschaft erfolgt jedoch auch nicht als seine vollständige Integration in eine geschlossene Sozialordnung, sondern als strukturell von normativen Vorgaben entkoppelte Freisetzung und Individualisierung des Subjekts. Durch zunehmende Überführung von Fremdzwang in Mechanismen der Selbstführung werden im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen sukzessive individuelle Dispositio1 | Damit wird aber nicht nur die Differenz von Innen und Außen und die Grenzziehung zwischen beiden außer Kraft gesetzt, sondern die Welt des Inneren als »menschlichem Hoheitsbereich« (Musil 1994: 1200) verdankt sich unweigerlich seiner sozialen Formierung. Nicht zuletzt fällt damit auch die Manipulationsthese, die Horkheimer und Adorno in ihrer Kulturindustrieanalyse vertreten.

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nen freigesetzt, die soziale Integration, gebunden an die Disponibilität und allgemeine Zugänglichkeit der Waren, aufgrund flexibler Selbsttechnologien gewährleistet.2 Zugleich sind diese experimentellen ›Selbstfindungsprozesse‹ eingebunden in gesellschaftliche Prozesse der Deregulierung und Flexibilisierung, die den Subjekten eine dauerhafte Form der Introspektion abfordern und das lebenspraktisch angestrebte Ideal der Selbstverwirklichung zur individuell geforderten Produktivkraft ummünzen.3 Massenkultur betreibt den vollständigen ›Verbrauch‹, aber damit auch die Konstituierung der Individuen im Rhythmus ihrer produktiven und konsumtiven Tätigkeiten. Sie wirkt als »omniverselle«, allgegenwärtige Kultur der Gegenwart, was bedeutet, dass die Macht, dem gesellschaftlichen Feld immanent, nicht äußerlich ist (vgl. Hardt/Negri 2002). Es ist jedoch nicht der Gestus einer totalitären Macht, der sich in der Massenkultur artikuliert und manifestiert. Die Macht ist hier vielmehr auf die Körper und Köpfe der Menschen verteilt. Massenkultur folgt ebenso wenig einer universellen Logik wie sie sich als totalitäres Regime beschreiben lässt. Es gibt kein allgemeines Prinzip und kein Zentrum, von dem die Macht ausgeht. Hier geht es nicht mehr um die Etablierung eines geschlossenen Disziplinarraums, sondern um Techniken zur Formierung der Körper und der Subjekte, die in den ephemersten Bereichen der Gesellschaft wirksam sind und die den Körper und das Bewusstsein der Individuen vollständig durchdringen (vgl. ebd.: 37f.)4. Zur Disposition stehen nicht mehr lediglich die Optimierung 2 | Im 20. Jahrhundert vollzieht sich dann vollends die Ablösung der Vorschriftsstrukturen, wie sie für die Fabrik des 19. Jahrhunderts und ihre Befehlsstruktur kennzeichnend war und deren Umstellung zu mehr Kooperation und Eigenverantwortung, insgesamt zu einer Angestelltenkultur zumindest avancierter Angestellter. 3 | Vgl. zu den paradoxen Strukturen dieser Individualisierungsprozesse historisch auch Castel 2000; Beck 1986 sowie zu den Paradoxien einer gesellschaftlich organisierten Selbstverwirklichung auch Honneth 2002. 4 | Hardt/Negri heben in ihrer Analyse einer globalisierten, netzwerkartig organisierten Macht – im Rückgriff auf Foucaults Begriff der Disziplinar- und Biomacht und den Begriff der Kontrollgesellschaft (vgl. Deleuze 1993) – darauf ab, dass sich hier ein neues, unvermitteltes und umfassendes Verhältnis von Macht und Subjektivitäten andeutet, in das Sozialität einbezogen ist. Dabei unterliegt der Konstitutionsprozess der Gesellschaft einer Entwicklungsdynamik, die sowohl das Bewusstsein und die Körper der Bevölkerung als auch die gesamten sozialen Beziehungen erfasst. Die Frage der gesellschaftlichen Reproduktion wird hier, mit Foucault, innerhalb der materiellen Grundstruktur situiert, die nicht nur ökonomisch, sondern ebenso kulturell, körperlich und subjektiv bestimmt wird; vgl. Hardt/Negri 2002: 37f. Der hier vorgenommene Bezug auf Hardt/Negri sieht allerdings ab von ihrer Annahme eines Be-

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154 | In der Zerstreuung organisiert von Arbeitsabläufen und die Herstellung eines Arbeitskörpers. Hier geht es vielmehr um die vollständige Einbeziehung des ehemals Individuellen, Organischen und Affektiven in den ökonomischen Wertschöpfungsprozess. In dieser Optimierung des Menschen zeigt sich, dass dessen individueller Kern ebenso unauffindbar bleibt wie seine Selbstfindung – durch Selbstoptimierung der fortwährenden Modulation und kontinuierlichen Bewertung durch andere unterworfen – unerreichbar ist. Das heißt aber nichts anderes, als dass die interaktive Kompetenz und das interaktionelle Profil des Einzelnen der Kontrolle aller unterliegt, gleichzeitig aber jeder Einzelne diese Kontrolle ausübt. Dabei zeigt sich das Profil einer Gesellschaft, die weniger nach dem Muster des sozialen Panoptikums, also einer für die Einhaltung von Normen instrumentalisierten Überwachungs- und Disziplinargesellschaft, als vielmehr als das einer generalisierten, sozialen Kontrollgesellschaft funktioniert (vgl. Deleuze 1993). Diese ist weniger durch Einschließungen als vielmehr durch sich selbst verformende Veränderungen und unerschöpfliche Differenzierungen charakterisiert. Sie modelliert sich unablässig selbst; Modulation ist ihr Prinzip. Dabei hat »die Härte der Strafe, der Regulationsmodus der Einschließungsgesellschaften, […] der Flüssigkeit der Autorisierung Platz gemacht. Diese members-only-Gesellschaft reguliert sich nach dem Pattern der Kontrolle« (Papilloud 2000: 237). Hier werden Kommunikationskompetenzen und Formen der Selbstrepräsentation nach Maßstäben bewertet, die laufend einer Modifikation unterworfen sind. Es handelt sich um ein Regime, in der die sozio-kulturellen Verhältnisse durch Generalisierung ökonomischer Merkmale völlig von diesen durchdrungen sind. Bezeichnet ist damit gewissermaßen eine »artifizielle Gesellschaft« (ebd.: 240f.), in der sich der soziale Austausch von einer wechselseitigen, persönlichen Reziprozität in eine zunehmend funktional zerstreute Interaktion verschiebt und das Subjekt zum Beobachter seiner eigenen (Selbst-) Marketingstrategien wird.5 Das Soziale bestimmt sich demnach über reaktive Konkurrenzfähigkeit und produziert zuvorderst rentable Beziehungsformen, innerhalb derer allein das Recht beansprucht werden kann, Zugang zur Gesellschaft zu bekommen oder ›drinnen‹ zu bleiben (vgl. ebd.: 242). Vergesellschaftung wird nun nicht mehr über den Subjekttypus der nach freiungsautomatismus, den sie in der Selbstorganisation der ›multitude‹ (der Menge) und implizit in der gesellschaftlichen Bewegung des Kapitals verorten. 5 | Die »artifizielle Gesellschaft« lässt sich darüber hinaus durch den Modus der Aufnahme und Inklusion des (In-)»Dividuums« (Deleuze 1993) in die Gesellschaft charakterisieren, nämlich den der »reaktive(n) Anerkennung der singulären Transaktion«, die einer Logik des in-put/out-put entspricht: »In der artifiziellen Gesellschaft versucht man alles, um ›drin‹ zu bleiben, auch auf die Gefahr hin, auf die elementaren Reflexe des Überlebens reduziert zu werden« (Papilloud: 241).

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innen gewendeten Reflexivität gestiftet, sondern über den ›außen-geleiteten‹, kommunikativen Typus, dessen ›Inneres‹ durch das ›Außen‹ der Sozialität gebildet wird. Die ›artifizielle Gesellschaft‹ bringt mithin neue Formen der Kodierung des Subjekts hervor: Beziehungen zwischen Menschen werden durch Technik kodiert und auf Marketingstrategien begründet. Über Formen der Scoring-Kontrolle, der Prozentsätze und Quoten sowie Formen medialer Kontrolle wird die Anschlussfähigkeit des Einzelnen an Modalstrukturen getestet und klassifiziert (vgl. ebd.: 238f.). Dabei ist das Einzelne immer in einen Kommunikationszusammenhang von Modalstrukturen integriert, es ist nicht möglich, sich der Anschlussfähigkeit zu entziehen. Diese Herstellung modaler Strukturen der Anschlussfähigkeit ist das integrative Moment der Massenkultur. Damit aber werden Kategorien des klassischen – soziologischen – Denkens im Zeitalter einer massenkulturell und nicht zuletzt massenmedial erzeugten Globalisierung kultureller Macht von Informations- und Kommunikationsströmen obsolet. Territoriale Grenzziehungen greifen angesichts der massenmedial kommunizierten Erweiterung individueller Lebenswelten und sozialer Räume nicht mehr oder zu kurz. Individuum und Gesellschaft begegnen sich nicht länger als zwei getrennte Entitäten, die der vermittelnden Instanzen bedürfen. Vielmehr wird die Gegenüberstellung des autonomen Subjekts als Ort der Freiheit und der Gesellschaft als ärgerlicher Tatsache angesichts der Wirkungen einer globalisierten Macht entkräftet, die sich den Individuen als subjektkonstituierende Macht auferlegt. Von einer »Kolonialisierung der Lebenswelt«, wie sie Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns konstatiert (vgl. Habermas 1981), kann dann nicht mehr die Rede sein. Kommunikationsindustrien organisieren nicht nur die Produktion, sondern auch deren immanente Rechtfertigung: »Macht organisiert, indem sie produziert; indem sie produziert, spricht sie, und teilt sich als Autorität mit. Sprache, indem sie kommuniziert, produziert Waren und vor allem Subjektivitäten, setzt sie in Beziehung, gibt ihnen Ordnung« (Hardt/Negri 2002: 47). Es handelt sich um einen Vorgang, in dem die Lebenswelt direkt und unvermittelt angeschlossen ist an systemisch operierende Technologien, in dem die ›soziale Maschine‹, Apparaturen und Funktionszusammenhänge, gemeinsam mit den Subjekten und Objekten, die sie produzieren, die Welt als künstliche zivile Ordnung erst herstellen, in die sie zugleich einführen. Massenkultur ist eine solche technologische Apparatur. Damit setzt Massenkultur als Regime einer Gegenwartskultur den soziologischen Begriff der Vergesellschaftung, wie er noch für das 19./20. Jahrhundert galt, außer Kraft. Ging es dort noch um die Vergesellschaftung eines von Natur aus als ›asozial‹ entworfenen Subjekts, das durch Disziplin und Moral sozialisiert wird (vgl. Durkeim 1973), so ist diese Gegenüberstel-

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156 | In der Zerstreuung organisiert lung von Natur und Gesellschaft im Register einer Gesellschaft, die alles, auch Natur, vollständig umfasst, suspendiert. Mit ihm fällt auch die Unterscheidung und Abgrenzung des begrenzten Raums einer zivilen Gesellschaftsordnung von äußeren Naturräumen wie auch von einem als Fortwirken der Natur verstandenen Unbewussten im Innern des Subjekts, das zugleich als das ›Außen‹ des menschlichen Geistes, der Vernunft und des Bewusstseins gilt. Mit dem Einbruch dieser Unterscheidung fällt die Souveränität des Subjekts, die zwischen der natürlichen Ordnung der Triebe und der gesellschaftlichen Ordnung der Vernunft vermittelt. Natur kann nicht mehr als Äußeres und das heißt, als ursprünglich und unabhängig von der künstlichen zivilen Ordnung verstandene gedacht werden. An die Stelle der modernen Dialektik von Innen und Außen in der Zivilisierung von Natur tritt ein Spiel der Gradunterschiede und Intensitäten. In der hybriden Verschränkung von Physischem mit Technologien, von Natürlichkeit und Künstlichkeit konstituieren und bewegen sich Körper und Subjekte im Fokus von Überwachungs- und Kontrolltechnologien, die ihnen eine höhere Komplexität der Zusammensetzung von Organisch-Physischem und Künstlich-Technischem verleihen. Es bilden sich komplexe Interaktionen zwischen Körpern, Subjekten, ihren Ausdrucks- und Stilformen auf der einen und Technologien auf der anderen Seite. Dadurch entstehen hybride Einheiten, die weder vollkommen technologisch noch organisch sind. Diese hybriden Konstruktionen strukturieren die Vorstellungen von Körpern als materiellen Einheiten und diskursiven Prozessen neu. Sie verweisen auf die Mehrdimensionalität und Mehrdeutigkeit von subjektiven Identitäten und Selbstverhältnissen. Interessant ist dann nicht so sehr ihre ›konstruierte Natur‹, sondern vielmehr die Kontingenz ihres hybriden Entwurfs. In ihn schreibt sich, ungeachtet technologischer Konstruktionen und vielschichtiger Überschreitungen, ›Natur‹ immer wieder erneut als kulturelles Zeichen ein (vgl. Balsamo 1996). Die flächendeckend operierende mediale Anordnung und Verbreitung künstlicher Wirklichkeiten und (Selbst-)Technologien ebnet aber auch das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit ein. Privates und Öffentliches lässt sich in dem Maße nicht mehr unterscheiden, wie sich die Unterscheidung von Innen und Außen auflöst.6 Gemäß der liberalen Tradition be6 | Diese grundlegende Transformation der Gesellschaft entgeht Sennett, wenn er davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit unter einer »Tyrannei der Intimität« zerfällt; außer Betracht bleibt hier, dass die Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ebenso wie die Herausbildung eines Bereichs der Intimität und der subjektiven Innerlichkeit sich historisch im Kontext gesellschaftlicher Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse entwickeln, kontingent sind und selbst je-

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trachtet das moderne Individuum, das in seinen privaten Räumen zu Hause ist, die Öffentlichkeit als sein Außen. Hier artikuliert sich individuelles Handeln sichtbar für andere. In der Massenkultur werden öffentliche Räume zunehmend privatisiert. Öffentliche Interaktion wird zugunsten überwachter Bewegungs- und regulierter Kapital- und Informationsströme eingeschränkt. Aber die Kontrollkreisläufe der Gesellschaft haben sich nicht nur über das gesamte ›intim-öffentliche‹ Terrain ausgebreitet, sondern ins Subjekt verlagert. Dabei kehrt sich das Verhältnis von Überwachung und Selbstkontrolle um. Während zunächst der Blick der Anderen/der Medien zum Bestandteil der inneren Verfasstheit des Subjekts, seiner inneren Ordnung und Disposition geworden ist, transformiert sich der nach innen gewendete Blick, der den Beobachter bloß imaginiert, zu sozialen Maßstäben. Die Umkehrung besteht darin, dass die sozialen Kontroll- und Überwachungsstrategien nun mediale Effekte einer gesteigerten Selbstbeobachtung sind.

weils historischen Transformationen unterliegen. Seine Sichtweise setzt das Modell der bürgerlichen, von einem Bereich des Privaten getrennten Öffentlichkeit normativ als Maßstab zur Gegenwartsdiagnostik; vgl. Sennett 1983; vgl. zur Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit auch Habermas 1968 und zur Individualisierung und Kodierung von Intimität Luhmann 1994.

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Ruth Mayer, Brigitte Weingart (Hg.) VIRUS! Mutationen einer Metapher (Cultural Studies 5, hrsg. von Rainer Winter) 2004, 318 Seiten, kart., 26,00 €, ISBN: 3-89942-193-0

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Jannis Androutsopoulos (Hg.) HipHop Globale Kultur – lokale Praktiken (Cultural Studies 3, hrsg. von Rainer Winter) 2003, 338 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-114-0

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2005-05-10 16-03-16 --- Projekt: T195.sozialtheorie.bublitz.massenkultur / Dokument: FAX ID 01fe83747565722|(S. 170

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