Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst: Nationale und internationale Perspektiven [1. Aufl.] 9783839409633

Auch 30 Jahre nach den blutigen Ereignissen des »Deutschen Herbstes« hat das Phänomen RAF seine politische Brisanz nicht

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German Pages 232 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung: „Terrorismus“ als soziale Konstruktion
I. Internationale Aspekte der RAF-Rezeption
Herbst in Holland. Die RAF in den Niederlanden 1970-1980
Die Bekämpfung politischer Gewalt: Versuch eines internationalen Strukturvergleichs
Vis ludens
Mensch oder Schwein? Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin auf Besuch in Hamburg und Paris
Die RAF im Lichte von 9/11. Ein Vergleich
„Polizei und Justiz drehen völlig durch.“ Die Rote Armee Fraktion in den niederländischen Medien
II. Der „Deutsche Herbst“ als Kommunikationsereignis
Terrorismus und Kommunikation: Forschungsstand und -perspektiven zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre
Verändern oder Sterben: Imperative der Revolte
Pentagramm hinter deutscher Maschinenpistole unter Russisch Brot. Zur Semiosphäre der Erinnerung an die Rote Armee Fraktion
Isolation oder Isolationsfolter. Die Auseinandersetzung um die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge
Die unfreiwillige Selbstbespiegelung einer lernenden Demokratie. Heinrich Böll als Intellektueller zu Beginn der Terrorismusdiskussion
Gesellschaftsformierungen. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren
III. Zeitzeugenberichte
Täter- versus Opferdiskurs: Eine andere Geschichte des deutschen Terrorismus?
Recht auf Klärung. Reflexionen eines Betroffenen
Straftaten müssen aufgeklärt werden. Reflexionen eines deutschen Staatsanwaltes
Was bleibt von der RAF? Reflexionen eines niederländischen Rechtsanwalts
Zu den Autoren
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Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst: Nationale und internationale Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839409633

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Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst

H i s t o i r e | Band 2

2008-08-07 14-05-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029a186012842992|(S.

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2008-08-07 14-05-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029a186012842992|(S.

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Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven

2008-08-07 14-05-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029a186012842992|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Robert van Willigenburg, Driemond, Niederlande Lektorat & Satz: Nicole Colin, Laura Hofmann, Krystian Lada, Joachim Umlauf Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-963-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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I N H AL T

Einleitung: „Terrorismus“ als soziale Konstruktion NICOLE COLIN, BEATRICE DE GRAAF, JACCO PEKELDER, JOACHIM UMLAUF

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I. Internationale Aspekte der RAF-Rezeption Herbst in Holland. Die RAF in den Niederlanden 1970-1980 JACCO PEKELDER Die Bekämpfung politischer Gewalt: Versuch eines internationalen Strukturvergleichs BEATRICE DE GRAAF Vis ludens INGRID GILCHER-HOLTEY Mensch oder Schwein? Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin auf Besuch in Hamburg und Paris NICOLE COLIN Die RAF im Lichte von 9/11. Ein Vergleich BOB DE GRAAFF „Polizei und Justiz drehen völlig durch.“ Die Rote Armee Fraktion in den niederländischen Medien JANNEKE MARTENS

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II. Der „Deutsche Herbst“ als Kommunikationsereignis Terrorismus und Kommunikation: Forschungsstand und -perspektiven zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre KLAUS WEINHAUER

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Verändern oder Sterben: Imperative der Revolte KLAUS-MICHAEL BOGDAL Pentagramm hinter deutscher Maschinenpistole unter Russisch Brot. Zur Semiosphäre der Erinnerung an die Rote Armee Fraktion ROLF SACHSSE Isolation oder Isolationsfolter. Die Auseinandersetzung um die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge MARTIN JANDER Die unfreiwillige Selbstbespiegelung einer lernenden Demokratie. Heinrich Böll als Intellektueller zu Beginn der Terrorismusdiskussion ANGELIKA IBRÜGGER Gesellschaftsformierungen. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren HANNO BALZ

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III. Zeitzeugenberichte Täter- versus Opferdiskurs: Eine andere Geschichte des deutschen Terrorismus? NICOLE COLIN Recht auf Klärung. Reflexionen eines Betroffenen MICHAEL BUBACK

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Straftaten müssen aufgeklärt werden. Reflexionen eines deutschen Staatsanwaltes JOACHIM LAMPE

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Was bleibt von der RAF? Reflexionen eines niederländischen Rechtsanwalts WILLEM VAN BENNEKOM

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Zu den Autoren

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Einleitung: „Terrorismus“ als soziale Kons truktion NICOLE COLIN, BEATRICE DE GRAAF, JACCO PEKELDER, JOACHIM UMLAUF Im Südosten der Stadt Amsterdam befindet sich der so genannte Bijlmerbajes, der „Bijlmer-Knast“1, eine große Strafanstalt, die 1978 eröffnet wurde: sechs 14-stöckige Hochhäuser mit vergitterten Fenstern, umschlossen von einer hohen Gefängnismauer und einem breiten Wassergraben. Auf der Mauer steht ein Spruch, der wahrscheinlich schon vor vielen Jahren dort aufgesprüht wurde, aber immer noch gut lesbar ist: „New Stammheim. Leve de RAF. Solidair“ (Neu Stammheim. Es lebe die RAF. Solidarisch).2 Das Bild zeigt deutlich, dass die Konfrontation der Roten Armee Fraktion mit dem westdeutschen Staat auch über die Grenzen Wellen geschlagen hat. Offenbar gab es außerhalb Deutschlands Menschen, die, wie viele innerhalb der radikalen Linken in der Bundesrepublik, mit der RAF – ihren Mitgliedern oder ihrem Programm, vielleicht sogar mit ihren Methoden – sympathisierten. Die Solidaritätsbewegung, die sich in der Bundesrepublik relativ rasch nach der berüchtigten Mai-Offensive der RAF und der ihr folgenden Verhaftungswelle im Juni 1972 in den Anti-Folter-Komitees und ihren Publikationen, Teach-ins, Sit-ins und sonstigen Kundgebungen manifestierte, hatte auch ausländische Ableger.

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Der Name stammt vom angrenzenden Hochhausviertel Bijlmermeer, das Anfang der 1970er Jahre gebaut wurde. Die offizielle Bezeichnung des Gefängnisses ist Penitentiaire Inrichting Over-Amstel („Strafvollzugsanstalt Over-Amstel“). Vgl. das Umschlagfoto der Publikation. 7

COLIN, DE GRAAF, PEKELDER, UMLAUF

Die Analyse dieser Tatsache ermöglicht einerseits eine „Internationalisierung“ der historischen Darstellung der Roten Armee Fraktion sowie andererseits eine stärkere Berücksichtigung ihrer Rezeption in der Bevölkerung – von „Sympathisanten“ über Opfer und Angehörige bis zu „neutralen“ Zuschauern. Bisher fand diese Perspektive in wissenschaftlichen Publikationen über den deutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre kaum Berücksichtigung. So lag im Gegenteil bis vor kurzem der Schwerpunkt der Geschichtsforschung der RAF fast ausschließlich auf der Gruppe selber und ihrer unmittelbaren Konfrontation mit dem Staat. Der Grund dafür ist im verständlichen Wunsch zu suchen, die politischen und gesellschaftlichen Ursachen des bundesdeutschen Linksterrorismus zu entschlüsseln. Ein herausragendes Beispiel eines solchen Versuchs lieferte das vom Bundesinnenministerium unterstützte interdisziplinäre Forschungsprojekt „Analysen zum Terrorismus“, an dem sich Politologen, Soziologen, Psychologen und Philosophen beteiligten. In den vier Teilprojekten, die zwischen 1981 und 1984 in fünf Bänden publiziert wurden, ging es vordringlich darum, die ideologischen Hintergründe, die Gruppendynamik in den terroristischen Organisationen und die Interaktionsprozesse mit dem Staat zu erforschen.3 Die Ergebnisse des Projektes, die teilweise immer noch sehr aufschlussreich sind, spiegeln letztlich jedoch vor allem das Bedürfnis der damals Regierenden politische und gesellschaftliche Instrumente zu finden, mit denen sich in Zukunft solche gewalttätigen Protestformen und Terroranschläge verhindern lassen könnten. Dieser utilitaristische Ansatz prägte auch die sich in den folgenden Jahren anschließende Forschung, als mit einiger Scheu die ersten Zeithistoriker wagten, sich dem Thema zu nähern. Noch immer lag der Akzent deutlich auf der Erforschung der Entstehungsgründe des Terrorismus, wobei zumeist die persönlichen und ideologischen Hintergründe der Akteure im Mittelpunkt standen und gesellschaftliche Kontexte eher vernachlässigt wurden. Zudem blieb die Forschung lange Zeit politisch ausgerichtet, was in der Zeit, in der die Kommandos der RAF weiterhin

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Vgl. Iring Fetscher, Günter Rohrmoser: Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Bd. 1, Opladen 1981; Herbert Jäger, Gerhard Schmidtchen, Lieselotte Süllwold: Lebenslaufanalysen. Analysen zum Terrorismus, Bd. 2, Opladen 1981; Wanda von Baeyer-Katte, Dieter Claessens, Hubert Feger, Friedhelm Neidhardt: Gruppenprozesse. Analysen zum Terrorismus, Bd. 3, Opladen 1982; Ulrich Matz, Gerhard Schmidtchen: Gewalt und Legitimität. Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/1, Opladen 1983; Frits Sack, Heinz Steinert: Protest und Reaktion. Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, Opladen 1984.

„TERRORISMUS“ ALS SOZIALE KONSTRUKTION

aktiv waren und Anschläge verübten, vielleicht auch unumgänglich war.4 Die starke Konzentration der Forschung auf die Entstehungsphase tendiert aber zu einer Unterschätzung bestimmter wesentlicher Merkmale des Phänomens, das gemeinhin als „Terrorismus“ beschrieben wird.5 So werden die gesellschaftlichen und politischen Reaktionen durch diesen Ansatz in den Hintergrund gedrängt, obwohl diese ebenso konstitutiv für den Terrorismus sind wie die Gewaltbereitschaft bestimmter radikaler gesellschaftlicher Minderheiten. Erst durch bestimmte in den Medien verbreitete Informationen und Reaktionen können Gewalttaten oder Gewaltandrohungen im eigentlichen Sinne des Wortes als „terroristisch“ bezeichnet werden, denn der Terrorismus nährt sich maßgeblich auch aus einer spezifischen Angst in der Bevölkerung. Anders formuliert ist der Terrorismus als solcher kein selbständig greifbares Phänomen, sondern eine soziale Konstruktion, die erst durch einen Kommunikationsprozess zwischen den „Terroristen“ und dem Rest der Gesellschaft entsteht. Das bedeutet auch, dass man (politische) Gewalttaten oder Gewaltandrohungen, die natürlich ganz konkrete Tatsachen darstellen, nicht per se mit dem Terrorismus gleichsetzen sollte. Zwar bildet die Gewalt den Ausgangspunkt, als Phänomen eigentlich fass- und begreifbar wird der Terrorismus jedoch erst in dem Moment, indem sich das von der Gewalt provozierte Gefühl der Angst und Unsicherheit tatsächlich in der Gesellschaft manifestiert. In diesem Sinne nehmen die durch die Medien vermittelten und zeitweise sogar inszenierten Wechselwirkungen zwischen den Terroristen und den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Opfer, Sympathisanten etc.) einen konkreten Einfluss auf die jeweilige Ausformung des „Terrorismus“.6

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Es gibt hierzu mittlerweile verschiedene historiographische Übersichtsartikel, so u. a. Klaus Weinhauer, Jörg Requate: Einleitung: Die Herausforderung des „Linksterrorismus“, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, HeinzGerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M., New York 2006, S. 9-32; Wolfgang Kraushaar: Einleitung. Zur Topologie des Terrorismus, in: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 1361; Jacco Pekelder, Historisering van de RAF. Geschiedschrijving over dertig jaar links Duits terrorisme, 1968-1998, in: Tijdschrift voor Geschiedenis, Jg. 119, 2/2006, S. 196-217. Zur Begriffsgeschichte vgl. u. a.: Rudolf Walther: Terror, Terrorismus, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Studienausgabe, Bd. 6, Stuttgart 2004, S. 323-444. Vgl. Alex P. Schmid, Janny de Graaf: Violence as communication. Insurgent terrorism and the western news media, London, Beverly Hills 1982. 9

COLIN, DE GRAAF, PEKELDER, UMLAUF

Seit Mitte der 1990er Jahre ist ein Zuwachs an wissenschaftlichen Publikationen zu verzeichnen, die den kulturellen Hintergründen und medialen Prozessen größere Aufmerksamkeit widmen, u. a. weil sie generell auf intensiveren und breiteren Archivstudien basieren. Bemerkenswert ist hier die Rolle einiger so genannter 68er, die sich um eine (selbst)kritische historische Aufarbeitung der Protestbewegung und ihrer Folgen bemühen, wie Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung oder der Frankfurter Publizist Gerd Koenen. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen steht erneut die Frage nach den Verbindungen zwischen dem Linksterrorismus der 1970er Jahre und der 68erBewegung sowie die Bedeutung der deutschen Vergangenheitsbewältigung für die Entstehung linker Gewalt.7 In diese Forschungslinie stellt sich auch der Zeithistoriker Götz Aly, mit seiner pamphletartigen Abrechnung mit der Studentenbewegung, auch wenn er die RAF nur am Rande behandelt.8 Derartige Ansätze bleiben jedoch stark auf die Suche nach den Ursachen fixiert und stellen sogar noch stärker Personen und Ideen in den Vordergrund als frühere Studien. Vielversprechender sind hier die Arbeiten einer Reihe meist jüngerer Wissenschaftler, die den Terrorismus in den Kontext der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte stellen. Ihre Studien stützen sich auf die oben bereits skizzierte theoretische Einsicht, dass der Terrorismus eine Art systematische Gewalt darstellt und sich nur verstehen lässt, wenn die gesellschaftlichen und politischen Reaktionen sowie die Rolle der Medien berücksichtigt werden. Der Historiker Klaus Weinhauer spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit einer triadischen Betrachtung des Phänomens „Terrorismus“, die sich nicht allein mit den Tätern und den Opfern, sondern auch mit den Umstehenden, den bystanders, beschäftigt. Der Terrorismus ist, seiner Meinung nach, primär als Kommunikationsstrategie zu begreifen, wodurch die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Zuständen und den terroristischen Gewaltakten in den Mittelpunkt gerückt werden.9

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Kraushaars Hauptwerk zur RAF ist der von ihm herausgegebene Sammelband: Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006. Er hat noch zahlreiche andere Studien zum Thema publiziert. Gerd Koenen veröffentlichte auch mehrmals zum Thema, von besonderer Bedeutung ist aber seine Monographie: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003. Götz Aly: UnserKampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. Frankfurta.M.2008. Klaus Weinhauer: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 44, 2004, S. 219-242; Jacco Pekelder: Inleiding. Politiek en geweld in de Duitse geschiedenis, in: Ders., Frits

„TERRORISMUS“ ALS SOZIALE KONSTRUKTION

Allgemein kann konstatiert werden, dass in den neuesten Untersuchungen über die RAF individuellen und gesellschaftlichen Ursachen eine geringere, kulturell-medialen Faktoren sowie Bewusstwerdungsprozessen hingegen eine weit größere Bedeutung beigemessen werden. Außerdem ist eine Erweiterung der Perspektive zu beobachten: So sind die jüngeren Forscher deutlich mehr interessiert an der Entwicklung des Terrorismus nach den ersten Anschlägen sowie an dem Verlauf und der Dynamik der dahinter liegenden gesellschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Prozesse. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr ausschließlich auf die eigentlichen terroristischen Gruppen, sondern auch auf ihr weiteres Umfeld, die westdeutsche radikale Linke, das PostAPO-Milieu, wenn man so will, und insbesondere die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die terroristischen Anschläge sowie ihre mediale Verbreitung. Damit rückt endlich die Rezeption des Terrorismus in Politik, Medien und Kunst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, eine Perspektive, die dem Wesen des Phänomens durchaus gerecht wird. Eine weitere positive Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass der Blick der Forscher nun auch über die nationalen Grenzen gelenkt wird und sei es nur, um einen Vergleich zwischen den Reaktionen in der Bundesrepublik und anderen Ländern anzustellen. Die wissenschaftlichen Beiträge des vorliegenden Bandes versuchen die Möglichkeiten dieses innovativen Ansatzes interdisziplinär zu explorieren. Im ersten Teil des Buches stehen vor allem internationale Aspekte der RAF-Rezeption und der Geschichte des deutschen Linksterrorismus im Zentrum. Thematisiert wird hier u. a. die niederländische Rezeption der Roten Armee Fraktion als Beispiel für das Entstehen von Sympathisanten-Netzwerken außerhalb der Bundesrepublik sowie für die Darstellung der RAF in ausländischen Medien. In einem internationalen Vergleich der Terrorismusbekämpfung werden deutsche, amerikanische und niederländische Vorgehensweisen gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer Effizienz untersucht. Darüber hinaus wird an zwei sehr weit auseinander liegenden Beispielen – den spielerischen Provokationen der 68er-Bewegung in den USA sowie den Attentaten der heutigen islamistischen Gewalttäter – der Frage nachgegangen, inwiefern sich der Linksterrorismus der 1970er Jahre von anderen Formen gewalttätiger oder gewaltbereiter gesellschaftlicher Widerstandsbewegungen unterscheidet. Berücksichtigung finden des Weiteren auch internationale Rezeptionsweisen in künstlerisch-ästhetischer Perspektive – im Besonderen

Boterman (Hg.): Politiek geweld in Duitsland. Denkbeelden en debatten, Amsterdam 2005, S. 9-29. 11

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hinsichtlich der Verarbeitung der Geschichte der RAF im deutschen und französischen Theater. Im zweiten Teil wird der „Deutsche Herbst“ dann als Kommunikationsereignis im öffentlichen Raum der Bundesrepublik der 1970er Jahre untersucht. Neben einer Darstellung der besonderen Bedeutung dieses Ansatzes im Kontext der gegenwärtigen Forschungssituation, geht es auch um die Bedeutung von Revolte, Gewalt und Terrorismus als symbolische Gesten sowie die Rezeption der Bildkultur der RAF. Drei Beiträge widmen sich schließlich den verschiedenen Debatten um den Terrorismus in der deutschen Öffentlichkeit, wobei zwei Aspekte im Vordergrund stehen: einerseits der Kampf gegen die „Isolationsfolter“, in dem der Solidarisierungsreflex der radikalen Linken von der RAF instrumentalisiert wurde, andererseits die „Sympathisantendebatte“, in der Intellektuelle, die versuchten die Motive des Terrorismus verständlich zu machen und als Gewaltphänomen zu relativieren, mit massiven politischen und gesellschaftlichen Repressionen konfrontiert wurden. Gezeigt wird, dass beide Debatten nicht nur für die linke Bewegung, sondern auch für die etablierte Gesellschaft in der Bundesrepublik der 1970er Jahre als Schlüsselmomente ihrer Identitätsfindung bezeichnet werden können. Im dritten Teil kommen, nach einer wissenschaftlichen Reflexion über Opfer- und Täterdiskurse, auch einige Zeitzeugen zu Wort. Damit berücksichtigt dieses Buch eine bisher noch nicht erwähnte Entwicklung der letzten Jahre. Während die Debatte über die Geschichte des bundesdeutschen Linksterrorismus von Anfang an sehr deutlich von ehemaligen Mitgliedern der terroristischen Organisationen sowie ihren Angehörigen, Unterstützern und Sympathisanten mitbestimmt wurde,10 richtet sich das Interesse seit Kurzem auf andere Kategorien von Beteiligten. Wo sich früher fast nur der ehemalige Innenminister Gerhart Baum (FDP) zu öffentlichen Stellungnahmen bewegen ließ, treten heutzutage viele andere ehemalige Vertreter der Staatsmacht in Erscheinung, wobei 10 In einigen dieser Publikationen dominieren zwar noch immer die alten Kampfparolen, aber es gibt auch eine Reihe selbstreflexiver Analysen, die für die wissenschaftliche Forschung von großem Wert sein können, vgl. z. B. Karl-Heinz Dellwo: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel, Hamburg 2007 und Angelika Holderberg (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen über ihre Vergangenheit. Mit Beiträgen u. a. von Monika Berberich, Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts, Roland Mayer, Ella Rollnik, Irene Rosenkötter sowie Volker Friedrich, Angelika Holderberg und Lothar Verstappen. Mit einem Vorwort von David Becker, Gießen 2007. 12

„TERRORISMUS“ ALS SOZIALE KONSTRUKTION

sich dies erfreulicherweise nicht nur auf die führenden Funktionsträger beschränkt. Beispiele hierfür geben der Stammheimer Anstaltswärter Horst Bubeck,11 dessen Erinnerungen publiziert wurden, und der ehemalige Beamte des Bundeskriminalamtes Alfred Klaus, der in verschiedenen Dokumentarfilmen zu sehen ist. Auch die Angehörigen von Opfern der RAF-Anschläge melden sich in letzter Zeit verstärkt zu Wort. Dies begann mit dem Dokumentarfilm „Black Box BRD“,12 in dem die Witwe des 1989 ermordeten Deutsche Bank-Vorstandssprechers Alfred Herrhausen eine wichtige Rolle spielt. Öffentlich virulent wurde die Diskussion über die Opfer in der Kontroverse im Vorfeld der Ausstellung der Berliner KunstWerke zum „Mythos RAF“ (2005)13 und erreichte einen vorläufigen Höhepunkt mit den Auseinandersetzungen um die mögliche Begnadigung von Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und anderen inhaftierten RAF-Mitgliedern im Frühjahr 2007. Kurz darauf erschien eine erste Sammlung von Interviews mit Verwandten von RAFOpfern.14 Die Herausgeber sind erfreut, dass sich verschiedene Zeitzeugen bereit gefunden haben, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen: der frühere Bundesanwalt Joachim Lampe, der Rechtsanwalt und Richter Willem van Bennekom sowie Michael Buback, Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback. Dank schulden wir dem Duitsland Instituut Amsterdam, dem Goethe-Institut Niederlande, der Universität Bielefeld (Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum“) und dem Centre for Terrorism and Counterterrorism der Universiteit Leiden, Campus Den Haag sowie ganz besonders Laura Hofmann und Krystian Lada, die bei der Drucklegung dieses Bandes wesentlich mitgewirkt haben.

11 Vgl. Kurt Oesterle: Stammheim. Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck, Tübingen 2003. 12 Andres Veiel: Black Box BRD, Deutschland 2001. 13 „Mythos RAF“ war der Arbeitstitel. Vgl. Klaus Biesenbach (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung, 2 Bde., Berlin, Göttingen 2005. 14 Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München, Zürich 2007. 13

I. I NTERNATION ALE A SPEKTE RAF-R EZEPTION

DER

Herbst in Holla nd. Die R AF in den Nie derla nde n 19 70-19 80 JACCO PEKELDER In diesem Beitrag wird die Kampagne zur Unterstützung der in deutschen und niederländischen Gefängnissen inhaftierten RAF-Mitglieder rekonstruiert. Verschiedene Motive spielten bei dieser niederländischen Sympathie für die RAF eine Rolle, insbesondere anti-(west)deutsche Gefühle und die Sorge um den Rechtsstaat. Mancher niederländische RAF-Sympathisant hegte aber auch ein für die 1970er Jahre typisches, generelles Misstrauen allen westlichen, kapitalistischen Staaten gegenüber.

Mitten im „Deutschen Herbst“ 1977 gerieten auch die Niederlande unerwartet in die Konfrontation zwischen dem linken deutschen Terrorismus und der Bundesrepublik hinein. Innerhalb von etwa zwei Monaten vollzog sich eine Reihe von Schießereien zwischen deutschen Mitgliedern der Roten Armee Fraktion und niederländischen Polizisten. So wurde am 22. September 1977 in Utrecht das RAF-Mitglied Knut Folkerts verhaftet; nur sechs Wochen später, am 10. November 1977 konnten dann, nach einer weiteren Schießerei in Amsterdam, Christof Wackernagel und Gert Schneider festgenommen werden. Die traurige Bilanz: Neben Verletzten auf beiden Seiten gab es auch einen Toten, den Utrechter Polizisten Arie Kranenburg. Knut Folkerts hatte ihn in Bauch und Lunge getroffen. Damit saßen drei Mitglieder der RAF in niederländischer Haft. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach einer gewissen Zeit an die Bundesrepublik ausgeliefert werden würden, war hoch und schließlich, Mitte Oktober 1978, geschah dies dann auch. In dem Jahr zwischen ihrer Verhaftung und ihrer Auslieferung entwickelte sich in den Niederlanden eine Solidaritätskampagne für die drei inhaftierten RAF-Mitglieder, die von ihren niederländischen Anwälten 17

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gemeinsam mit verschiedenen so genannten Vertrauensärzten und einigen Dutzend linksradikalen Aktivisten initiiert wurde. Man protestierte gegen die Haftsituation der drei Gefangenen, gegen die Prozessführung seitens der niederländischen Justiz und gegen die anstehende Auslieferung. Die niederländische Solidaritätskampagne ist insofern bemerkenswert, als es merkwürdig erscheint, wenn sich Bürger für Ausländer engagieren, die in dem Lande, wo sie zu Gast sind, Gewaltverbrechen an der einheimischen Bevölkerung verüben. Wer waren diese Niederländer und wodurch war ihre Solidarität mit den in den Niederlanden inhaftierten RAF-Mitgliedern motiviert? Gab es hier vielleicht eine bereits bestehende „Sympathie für die RAF“1? Es ist möglich, dass das Engagement der niederländischen Unterstützer vor allem der Sorge um das Wohl der Gefangenen und dem Erhalt des (niederländischen und westdeutschen) Rechtsstaates geschuldet war. Vorstellbar ist aber auch, dass sich ihre Sympathie auf eine ideologische Affinität zur Roten Armee Fraktion und vielleicht sogar die Befürwortung der Gewaltmethoden des deutschen Linksterrorismus stützte. Unübersehbar sind außerdem die Parallelen zu der Solidaritätskampagne, die die RAF-Anwälte und die so genannten Anti-Folter-Komitees in der Bundesrepublik bereits 1972/ 1973 gestartet hatten. Eine genauere Analyse dieser Übereinstimmungen ist allein darum schon interessant, weil in der Geschichtsschreibung der RAF, die mittlerweile eine kleine Bibliothek füllt, das Thema der ausländischen (nicht-deutschen) Unterstützung der Solidaritätsbewegung nahezu unbehandelt geblieben ist.2 Eine Untersuchung über das Entstehen und die

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Obwohl der Autor sich bewusst ist, dass diese Ausdrücke in den frühen 1970er Jahren als politische Kampfbegriffe verstanden wurden, hat er sich dennoch dafür entschieden von „RAF-Sympathisanten“ und von „Sympathie für die RAF“ zu reden, da es bisher an anderen Sammelbegriffen für die beschriebenen Phänomene fehlt. Mit beiden Begriffen wird aber eine ganze Skala an Sympathiebekundungen beschrieben, von denen nur die extremsten tatsächlich eine Akzeptanz, Unterstützung oder gar Übernahme der Ideologie und Gewaltmethoden der RAF beinhalteten. Vgl. Stefan Spiller: Der Sympathisant als Staatsfeind. Die Mescalero-Affäre, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 1227-1250. Vgl. Jacco Pekelder: Historisering van de RAF. Geschiedschrijving over dertig jaar links Duits terrorisme, 1968-1998, in: Tijdschrift voor Geschiedenis, Jg. 119 (2006), Nr. 2, S. 196-217; Bundesministerium des Innern (Hg.): Analysen zum Terrorismus, 4 Bde., Opladen 1981-1984; Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, Erweiterte und aktualisierte Ausgabe, München 1998; Butz Peters: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004; Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen

HERBST IN HOLLAND

Entwicklung dieser Solidaritätsbewegung könnte auch zu neuen Erkenntnissen über die Bedeutung jener Bewegung in der Konfrontation zwischen der RAF und der Bundesrepublik führen. Wahrscheinlich würde die RAF-Historiographie sogar sehr von einer solch erfrischenden transnationalen Perspektive profitieren. Eine Befreiung des Themas aus der (west)deutschen Nabelschau, die in vielen Arbeiten zum deutschen Linksterrorismus noch immer unübersehbar ist, und seine Eingliederung in den gesamteuropäischen historischen Kontext der 1970er Jahre als eine Epoche der sozialkulturellen Wende (u. a. was die Beziehung zwischen Staat und Bürger angeht) wäre vorstellbar. Für einen solchen wünschenswerten Perspektivwechsel möchte der vorliegende Artikel erste Ansätze liefern. Die Grundlage des Beitrags bildet eine ausführliche Studie von historischen Quellen aus verschiedenen niederländischen und deutschen Archiven, die Ende 2007 in Form einer Monographie publiziert wurde.3 Eine zentrale Bedeutung hatte dabei das äußerst informative Archiv der niederländischen Rechtsanwältin Josephine Dubois, die sich von 1978 bis in die 1980er Jahre hinein gemeinsam mit Kollegen wie Pieter Herman Bakker Schut und Willem van Bennekom, der an anderer Stelle in diesem Band noch zu Wort kommen wird, und einer Gruppe von Vertrauensärzten für Folkerts, Wackernagel und Schneider engagiert hat.4 Zum ersten Mal konnte so ausführlich mit Akten aus einem niederländischen Anwaltsarchiv gearbeitet werden. Zusätzlich wurde eine Reihe von Interviews mit Zeitzeugen geführt, unter ihnen nicht nur Anwälte, Ärzte und Aktivisten, sondern auch der Amsterdamer Polizist Herman van Hoogen und das RAF-Mitglied Knut Folkerts.

Kontext: Die niederländisch-deutschen Beziehungen Die Rezeption der RAF in den niederländischen Medien, die für die Entwicklung des niederländischen Sympathisantennetzwerkes ungemein wichtig war, wird bereits von Janneke Martens im vorliegenden Band ausführlich behandelt. Auffallend in der niederländischen Berichterstat-

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in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M., New York 2006 sowie Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF, Hamburg 2006. Jacco Pekelder: Sympathie voor de RAF. De Rote Armee Fraktion in Nederland, 1970-1980, Amsterdam 2007. Mittlerweile befindet sich dieses Archiv im Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte, IISG, Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland. 19

JACCO PEKELDER

tung über die RAF war das große Maß an Verständnis, das der Entscheidung der Terroristen zur Waffengewalt überzugehen in breiten Teilen der niederländischen Öffentlichkeit entgegen gebracht wurde. Mit Ausnahme der in den 1970er Jahren relativ bedeutungslosen Gruppe konservativer Journalisten nahm die niederländische Presse die Warnungen der RAF vor einer bevorstehenden faschistischen Machtübernahme in Deutschland durchaus ernst. Ihrer Einschätzung nach gab es in der Bundesrepublik wirklich solche Tendenzen. Hinzu kam, dass viele niederländische Journalisten die von der RAF und ihren Anwälten gegen den westdeutschen Staat erhobenen Vorwürfe, die inhaftierten Mitglieder würden auf systematische Weise gefoltert, um sie psychisch und physisch zu vernichten, reproduzierten ohne sie zu hinterfragen oder eigene Recherchen anzustellen. Die RAF wurde in vielen niederländischen Reportagen und Kommentaren einfach als der von vorn herein dem übermächtigen Staat unterlegene Gegner betrachtet. Hinter solchen niederländischen Kommentaren verbarg sich ein Subtext, in dem die Behandlung der inhaftierten RAF-Mitglieder exemplarisch mit der historisch immer schon schwachen Position der (radikalen) Linken in Deutschland gleichgesetzt wurde. In diesem Sinne waren die niederländischen Kommentare Teil einer intensiven, politisch und psychologisch schwierigen Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Nachbarstaat. Die wachsende wirtschaftliche und politische Macht der Bundesrepublik innerhalb Europas und die westdeutschen innenpolitischen Entwicklungen wurden in den Niederlanden skeptisch und mit einiger Unsicherheit betrachtet.5 Nicht umsonst hatten relativ viele, meist politisch links stehende Niederländer am Ende der 1960er Jahren das Werben der DDR um internationale Anerkennung gerne unterstützt. So lange es zwei Deutschlands gäbe, könne dieses Land nicht noch einmal ganz Europa unter seinen Stiefeln zertreten, meinten sie.6 Mehr als 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gärte in den Niederlanden – vor allem bei den Linken, aber auch auf der rechten Seite – immer noch ein heimliches Misstrauen den (West-)Deutschen und ihrer politischen Kultur gegenüber. Auch die Maßnahmen der Bundesregierung gegen die RAF und ihre (angeblichen) Sympathisanten in radikallinken Kreisen wurden von niederländischen Beobachtern an der Messlatte des demokratischen Bewusstseins und der in der Bundesrepublik angeblich ausgebliebenen Abrechnung mit der Nazizeit gemessen.

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Vgl. Friso Wielenga: Vom Feind zum Partner. Die Niederlande und Deutschland seit 1945, Münster 2000. Vgl. Jacco Pekelder: Die Niederlande und die DDR. Bildformung und Beziehungen, 1949-1989, Münster 2002.

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An f ä n g e i n d e r An t i p s yc h i a t r i e In diesem meinungspolitischen Klima der ersten Hälfte der 1970er Jahre begannen einige Niederländer schon früh sich des Themas des westdeutschen Umgangs mit linksterroristischen Gruppierungen wie der RAF anzunehmen. Einer dieser ersten RAF-Sympathisanten war der Psychiater Sjef Teuns (geboren 1926). Im August 1973 publizierte er in der 32. Ausgabe des linksintellektuellen Magazins Kursbuch, das speziell dem Thema „Folter in der BRD. Zur Situation der Politischen Gefangenen“ gewidmet war, einen bemerkenswerten Artikel mit dem Titel „Isolation/ Sensorische Deprivation: die programmierte Folter“. Laut Teuns war die strenge Isolationshaft der RAF-Gefangenen in schalldichten Zellen in so genannten „toten Trakten“ mit einem totalen sinnlichen Reizentzug (sensorische Deprivation) gleichzusetzen. Der Psychiater meinte sogar, auf Dauer würde diese „Folter“ die Inhaftierten psychisch und körperlich zerstören. Dass ein ausländischer Wissenschaftler die Haftsituation der RAF-Mitglieder in solcher Weise beschrieb und hierfür den wissenschaftlichen Begriff der „sensorischen Deprivation“ benutzte, unterstützte die Glaubwürdigkeit des Foltervorwurfs gegen die Justiz des westdeutschen Staates und war insofern auch von großer Bedeutung für die Solidaritätskampagne für die RAF. Der Artikel fand viele Leser, auch außerhalb Deutschlands. 1974 wurde er in französischer Sprache in der von Jean-Paul Sartre herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes nachgedruckt.7 Teuns’ Engagement für die RAF war teilweise auf seine starke Politisierung am Ende der 1960er Jahren zurückzuführen. Nach seiner Ausbildung zum Nervenarzt hatte Teuns sich zu einem international anerkannten Kinderpsychiater mit fortschrittlichen Ideen über das Fach entwickelt. Zwischen 1969 und 1972 verlor er infolge eines Arbeitskonflikts aber seinen Posten als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Leiden und Direktor des dortigen medizinisch-pädagogischen Büros. Teuns schloss sich in dieser Zeit der Bewegung einer „kritischen Psychiatrie“ (auch „Antipsychiatrie“ genannt) an, einer neuen, politisch motivierten Fachrichtung, in derer Sicht die „Krankheit“ der Geisteskranken allein eine Konsequenz der strukturellen Mängel der westlichen Gesellschaft darstellt. Nach seiner Entlassung orientierte sich Teuns in Richtung einer universitären Zukunft in Deutschland. Er hielt als Gast7

Sjef Teuns: Isolation/Sensorische Deprivation: die programmierte Folter, in: Kursbuch, Nr. 32, August 1973, S. 118-126, und ders.: La torture par privation sensorielle, in: Les temps modernes, Jg. 29, Nr. 332, März 1974, S. 1618-1624. 21

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dozent Vorlesungen in Hamburg, wo er in linken politischen Zirkeln über die RAF und andere deutsche Themen diskutierte.8 In den Niederlanden war Teuns mittlerweile aktives Mitglied des Bond voor Wetenschappelijke Arbeiders (BWA) geworden. Dieser „Bund wissenschaftlicher Arbeiter“ hatte sich 1969 als Zusammenschluss jüngerer linker Akademiker gegründet, deren Ziel es war, die radikalen Ideen der Studentenbewegung in die universitäre Berufspraxis zu überführen, da sie der Auffassung waren, die Wissenschaft müsse dem gesellschaftlichen Fortschritt dienstbar gemacht werden. Der BWA war relativ erfolgreich: Von Anfang an hatte der Bund etwa 600 Mitglieder aus dem akademischen und medizinischen Bereich und besaß in einigen Universitäten einen entsprechend großen politischen Einfluss.9 Im BWA gab es verschiedene, auf bestimmte Themen spezialisierte Arbeitsgruppen und in einer dieser Gruppen, die sich speziell mit der Frage der sozialen Fürsorge (Welzijnszorg) beschäftigte, spielte Teuns eine prominente Rolle.10 Wahrscheinlich beeinflusst von Teuns’ deutschen Kontakten wurde die Aufmerksamkeit dieser BWA-Arbeitsgruppe in die Richtung des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) gelenkt. Das SPK war eine antipsychiatrische Initiative um den Heidelberger Psychiater Wolfgang Huber mit politischen Ideen, die denen der RAF verwandt waren. Nach einer Schießerei in Heidelberg wurden Huber und andere SPKler verhaftet. 1972 gründete Teuns mit einigen anderen BWAMitgliedern das Solidariteitscomité SPK, das unter anderem regelmäßig 8

A.J. Heerma van Voss: De geschiedenis van de gekkenbeweging. Belangenbehartiging voor en door psychiatrische patiënten (1965-1978), in: Maandblad Geestelijke Volksgezondheid, Jg. 33, 1978, Nr. 6, S. 398-428, hier: S. 404-406; Joost Vijselaar: Zonder Curium; het Medisch Opvoedkundig Bureau als spil van de Leidse kinderpsychiatrie en kinderpsychiatrie, in: Judith Broers u. a.: Curium 1955-1995. Bladzijden uit de geschiedenis van de Nederlandse kinder- en jeugdpsychiatrie, Nr. 18, 1995, S. 101-125 und Gemma Blok: Baas in eigen brein. Antipsychiatrie in Nederland, 1965-1985, Amsterdam 2004, S. 9-16 und 234. 9 Leo Molenaar: „Wij kunnen het niet langer aan de politici overlaten.“ De geschiedenis van het Verbond van Wetenschappelijke Onderzoekers, 1946-1980, Delft 1994, S. 240-243 und Briefe, ohne Datum, von Peter Cohen und Wouter Smeulers, in: BWA-Archiv im IISG, Nr. 4 (1ste congres jan. 1970) und Martin Ruyter: Ooit chemici bij Shell zien staken? Bond voor Wetenschappelijke Arbeiders opgericht, in: De Volkskrant, 25.11.1969. Vgl. Leo Molenaar: Waar blijft de nieuwe BWA?, in: Hypothese, Januar 1997 und ders.: Waar blijven de kritische academici?, in: Wetenschap, Technologie & Samenleving, 1997, S. 80-82 sowie http:// www.leomolenaar.nl/htmlBWA.html [9.6.2008]. 10 „Lijst van kontaktmensen per werkgroep“ und Informationsblatt über den BWA, in: BWA-Archiv, Nr. 3 (Ledenlijsten) und 17 (Documentatie [etc.]). 22

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im Info-Bulletin über die SPK publizierte und Geld sammelte für die juristische Unterstützung der SPK. Im November 1972, während des Prozesses gegen den SPK-Führer Huber und andere Mitglieder, beteiligten sich zwanzig BWA-Aktivisten in Heidelberg an einem großen SPKTeach-in mit insgesamt 1 300 Teilnehmern. Im BWA-Bulletin zeigte Teuns sich beeindruckt von den Hungerstreiks, mit denen die inhaftierten SPKler im Gefängnis ihren „Widerstand“ fortsetzten. „Es zeigt klar“, schrieb Teuns, „wie das SPK […] noch immer zielstrebig die AntiRepression verteidigt und die Repression der psychiatrischen Methoden bekämpft.“11 Nach der Urteilsverkündung im SPK-Prozess – Teuns nannte die Urteile „faschistisch“12 – steigerte sich die Aufmerksamkeit für die Entwicklungen in Westdeutschland weiter. 1973 formierten einige BWAler ein Aktionskomitee patiënten en gevangenen, nachdem bekannt geworden war, dass im Südosten der Stadt Amsterdam eine große und moderne Haftanstalt mit u. a. einer psychiatrischen Abteilung gebaut werden sollte, die spätere Bijlmerbajes, der „Bijlmer-Knast“ (benannt nach dem benachbarten Amsterdamer Vorstadtviertel Bijlmermeer). Einem Bericht über eine Protestversammlung des BWA im Jahr 1973 zufolge unterschieden sich derartige moderne „Supergefängnisse […] kaum von den [ehemaligen] Konzentrationslagern [...] in Deutschland, nur dass sie technisch viel ausgeklügelter und (noch) für eine kleinere Gruppe Inhaftierter berechnet [waren]“.13 Teuns und andere Personen, die auf BWA -Versammlungen über die Modernisierung des Haftsystems sprachen, suggerierten, dass die neue Amsterdamer Anstalt künftig als Konzentrationslager benutzt werden könnte, falls es den Machthabern notwendig erschien, Linksradikale zu unterdrücken. Für Teuns war der Amsterdamer Gefängnisbau Teil einer „tiefgreifenden Strukturänderung […] im Gefängniswesen“ in Westeuropa, die dazu diente, die politische Kontrolle über die Bürger zu perfektionieren.14

11 Gemma Blok: Baas in eigen brein, S. 20-21 und „Aus der Krankheit eine Waffe machen!“ Wo aus Psychiatrie-Patienten Revolutionäre werden sollten – das Sozialistische Patientenkollektiv SPK (1970/71), http://mathphys .fsk.uni-heidelberg.de/ruprecht1.html [9.6.2008] und Sjef Teuns: Staatsgeweld en repressie, in: BWA-ledenbrief [BWA-Mitgliederbrief], Jg. 4, 5/1972, S. 22-24. 12 Sjef Teuns: S.P.K.: een fascistisch vonnis, in: BWA-ledenbrief, Jg. 5, 5/1973. 13 N.N.: Martelingen van politieke gevangenen in Duitse gevangenissen [Folter an politischen Häftlingen in deutschen Gefängnissen], 5.6.1973 mit einem Bericht über das Teach-in der Anti-Folter-Komitees in Frankfurt a. M. im Mai 1973. (Der Autor dankt Herrn Teuns für die Kopie.) 14 Sjef Teuns: Gevangenisaktie, in: BWA-ledenbrief, Jg. 5, 8/1973, S. 22-24. 23

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Aus diesem Gedanken heraus stürzte sich das Aktionskomitee energisch in die Zusammenarbeit mit den westdeutschen Anti-FolterKomitees. Bereits Ende 1972 äußerte Teuns in Hamburg öffentlich seine Empörung über die Isolationshaft der Gefangenen der RAF und im Mai 1973 nahm eine BWA-Delegation teil an einem Teach-in der AntiFolter-Komitees in Frankfurt. Dort hielt Teuns seine Rede über sensorische Deprivation, die kurz darauf in einem Bulletin der Roten Hilfe publiziert wurde und auch der Kern seines einflussreichen KursbuchBeitrags wurde.15 Inzwischen knüpften Teuns und andere BWAler Kontakte zu Gleichgesinnten in Italien, der Schweiz und Belgien. Dazu lenkten sie die Aufmerksamkeit von amnesty international auf das Schicksal der westdeutschen „politischen Gefangenen“. Auf einer großen amnestyKonferenz über physische und psychische Schäden von Haft und Folter, die im Oktober 1973 in Oslo stattfand, hielt Teuns erneut seinen inzwischen erprobten Vortrag über sensorische Deprivation.16

Au g u s t i n u n d B a k k e r S c h u t Ab Frühjahr 1974 ging aus dem BWA, angeführt von Inge Spruit (Jahrgang 1944), einer Studentin von Teuns, das Aktiekomitee Andere Koers (AAK), das „Aktionskomitee für einen anderen Weg“, hervor. Es handelte sich um eine Kampagne zur Unterstützung von zwei jungen deutschen Männern, die aus dem SPK-Milieu stammten und von den Niederlanden nach Westdeutschland ausgeliefert worden waren. Das Komitee protestierte nicht nur gegen ihre Auslieferung, sondern rief auch die niederländische Öffentlichkeit und Politik zu Protesten gegen den westdeutschen Umgang mit den RAF-Gefangenen auf. Große Resonanz scheinen diese Aktionen nicht gehabt zu haben. Die Situation änderte sich erst während des dritten kollektiven Hungerstreiks der inhaftierten RAF-Mitglieder im Herbst 1974, als das Schicksal des in der Bundesrepublik einsitzenden niederländischen RAF-Mitglieds Ronald Augustin, dessen Verhaftung ein Jahr zuvor kaum Aufsehen erregt hatte, der breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Das AAK organisierte im Herbst 1974 zusammen mit Augustins Mutter und Schwester, die ein eigenes Komitee Anti Duitse Terreur (KADT), ein „Komitee gegen den deutschen Terror“, gegründet hatten, eine Kampagne von Vorlesungen, Kundgebungen und medienwirksa15 Sjef Teuns: Gevangenisaktie und vgl. Gerd Koenen: Camera Silens. Das Phantasma der „Vernichtungshaft“, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF, S. 994-1010. 16 Sjef Teuns: Gevangenisaktie. 24

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men Ereignissen als Protest gegen den Umgang mit Augustin und anderen Gefangenen der RAF. Eine wesentliche Änderung der Haftsituation konnte diese Kampagne nicht erreichen und die niederländische Regierung distanzierte sich weitgehend von der Kritik an der Bundesrepublik. Ein kleiner Erfolg war aber, dass eine Delegation von niederländischen Experten, unter denen sich auch der Anwalt Willem van Bennekom befand, mit Zustimmung der westdeutschen Behörden die Lage Augustins vor Ort im Gefängnis in Hannover geprüft hatten und in ihrem Bericht erhebliche Bedenken gegen das Haftsystem äußerten. Augustin nutzte das kaum, aber immerhin unterstützte der Bericht in den Niederlanden die Argumente der Solidaritätskampagne für die RAF.17 Während des Prozesses in Bückeburg (Niedersachsen) im Frühjahr 1975 wurde Augustin in den Niederlanden so zu einer cause célèbre. Alle Zeitungen sowie Radio und Fernsehen berichteten ausführlich über die Verhandlungen. Zwar brachte man dem Angeklagten nicht unbedingt Verständnis entgegen, aber die an die bundesdeutschen Behörden adressierten Vorwürfe der RAF bekamen auf diese Weise eine Bühne. Eine wichtige Rolle dabei spielte Augustins Anwalt Pieter Herman Bakker Schut (1941-2007), der kurz zuvor bereits Kontakte zu RAF-Anwälten geknüpft hatte, durch diese Affäre aber zum ersten Mal in einen RAFProzess verwickelt wurde. In vielen niederländischen Medien wurde er als engagierter Verteidiger seines Mandanten dargestellt, teilweise auch als Sprachrohr und Propagandist der RAF. In einem Interview mit der bedeutenden niederländischen Zeitung Algemeen Dagblad nannte Bakker Schut seinen Mandanten, der aufgrund seiner unvermittelten Wutausbrüche im Gerichtssaal einen verwirrten Eindruck hinterlassen hatte, einen „völlig ernstzunehmenden politischen Kämpfer“. Das politisch-gesellschaftliche Klima in Westdeutschland sei Bakker Schut zufolge vom Autoritätsglauben beherrscht: Man würde dort immer nur eine Meinung und eine Autorität akzeptieren. Dieser Geist sei, so der Anwalt, auch im westdeutschen Strafrecht überall zu spüren. Die hysterische Jagd auf Extremisten, die Verleumdung derer Anwälte, die Einschüchterung der Zeitungen sowie der Rundfunk- und Fernsehanstalten: In allem zeige sich, dass der Rechtsstaat der Bundesrepublik nur noch eine Fassade sei. Augustins „jahrelange Isolation“ konnte man, dem Anwalt zufolge, „einfach als eine Art der Folter bewerten“. Wenn es 17 Vgl. den Bericht der Delegation: „Verslag van enkele bevindingen van een groep van 5 Nederlanders, die zich van 4-6 november 1974 op de hoogte hebben gesteld van de omstandigheden waaronder de Nederlanders Ronald Augustin te Hannover wordt gedetineerd“, Amsterdam, November 1974, in: Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland im IISG, Inv. Nr. 59-61. 25

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„vielleicht auch nicht beabsichtigt war, so ist [diese Folter] doch wie von selbst aus dem westdeutschen System hervorgekommen.“ Gerade dies fand Bakker Schut „gespenstisch“, da man hier, wie er explizit sagte, an die NS-Zeit erinnert werde. Vor diesem Hintergrund schien es ihm auch verständlich, dass die RAF zu Gewalttaten übergegangen war. „Manchmal ist es eben unmöglich, eine Gesellschaft auf friedliche Weise zu ändern“, erklärte der Anwalt der Zeitung.18 Es war das Verdienst von Bakker Schut, dass bereits am 14. Dezember 1974 in Utrecht, wo er an der Universität am Institut für Strafrecht als Dozent arbeitete, auf Drängen der deutschen RAF-Anwälte und ihrer Mandanten, ein Comité International de Défense des Prisonniers Politiques en Europe gegründet wurde.19 Zu den Mitgliedern dieses Komitees, das oft auch als Internationales Verteidigungskomitee (IVK) bezeichnet wird, zählten verschiedene Strafverteidiger und Ärzte aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Italien. Obwohl sie in der Gründungserklärung in allgemeinen Sätzen ihre Besorgtheit „über die Entwicklungen neuere Formen der Repression in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik“ äußerten, war klar, dass die Mitglieder des Komitees sich vor allem für die Gefangenen der RAF engagieren wollten. Vom Ausland aus wollten sie sicherstellen, dass die Gefangenen auch tatsächlich die juristische und medizinische Betreuung bekämen, auf die sie einen Anspruch hätten. Sie beriefen sich dabei auf die europäische Menschenrechtskonvention, insbesondere auf den Artikel 3: „No one shall be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment or punishment.“20 Das Sekretariat führte anfänglich Inge Spruit aus dem AAK, aber 1975 zog das IVK-Büro in die Anwaltspraxis des Stuttgarter RAF-Anwalts Klaus Croissant, womit klar wurde, dass das internationale Komitee vor allem ein Instrument der RAF-Verteidiger war.21

N e t z w e r k n i e d e r l ä n d i s c h e r S ym p a t h i s a n t e n Während des Prozesses gegen Augustin, der am 24. April 1975 mit seiner Verurteilung zu sechs Jahren Haft – u. a. wegen seiner Mitgliedschaft 18 Wim Hoffmann: Augustin: Een serieus politiek strijder. Mr. Bakker Schut kritiseert atmosfeer in West-Duitsland, in: Algemeen Dagblad, 8.3.1975. 19 Telefonische Mitteilung von Pieter Herman Bakker Schut mittels seiner Anwaltspraxis, 17.7.2007. 20 Pressebericht, 14.12.1974, von Inge Spruit im Namen der Anwälte und Ärzte, in: Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland im IISG, Inv. Nr. 19. 21 Ebd. und Pieter Herman Bakker Schut: Politieke justitie in de Bondsrepubliek Duitsland, in: Nederlands Juristenblad, 15.2.1975, S. 203-212. 26

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in der RAF – endete,22 bereitete Bakker Schut die Gründung eines niederländischen Ablegers des IVK vor, der schließlich am 19. April 1975, erneut in Utrecht, gegründet wurde. In diesem Medisch-Juridisch Comité voor Politieke Gevangenen (MJC), dem „Medizinischjuristischen Komitee für politische Gefangene“, sammelten sich Ärzte, an erster Stelle aus den Reihen des BWA und des Medisch Comité Nederland-Vietnam (einem Komitee niederländischer Ärzte zur Unterstützung der Vietnamesen), und Juristen, die Bakker Schut über verschiedene Kanäle kontaktiert hatte. Ziel des Komitees war „das Sammeln und Verbreiten von Informationen, das Beeinflussen der öffentlichen Meinung, das Sammeln von Geld, das Entsenden von Anwälten, Vertrauensärzten, Beobachtern usw. in die Bundesrepublik; alles in erster Instanz auf die politischen Gefangenen in Westdeutschland bezogen, später vielleicht auszuweiten auf z. B. Irland“.23 An der eigentlichen Gründungsveranstaltung nahmen etwa 40 Personen teil, eine Woche später hatten sich laut MJC bereits 100 Mitglieder angemeldet. Mit der Gründung im April 1975 war das MJC rechtzeitig zur Stelle als am 21. Mai 1975, nach einer Vorbereitungszeit von fast drei Jahren, in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen die führenden Mitglieder der RAF begann. In den zwei Jahren, in denen sich dieser Prozess zu einem regelrechten Justizdrama entwickelte, organisierte das niederländische Komitee verschiedene Aktivitäten, in der die Behandlung der RAFGefangenen im westdeutschen Strafsystem und ihre vermeintliche Vorverurteilung – als Anzeichen für eine Refaschisierung West-Deutschlands – an den Pranger gestellt wurden. Gleich im Sommer 1975 wurde die erste Publikation herausgegeben, ein Buch mit dem Titel „Recht voor de RAF. De Duitse angst en hoe een staat zijn regels en wetten aanpast“ (Recht für die RAF. Die deutsche Angst und wie ein Staat seine Regeln und Gesetze verändert). Es wurde in einer Auflage von 1 500 Exemplaren von dem linken Herausgeber Rob van Gennep (Amsterdam) verbreitet.24 Redakteur und wahrscheinlich auch Autor des Buches war Rudi van Meurs, Journalist des linksorientierten Wochenmagazins Vrij Nederland, der oft über die RAF schrieb. Eine Annonce deutete darauf, 22 ANP-persberichten [Presseberichte der Allgemeinen Niederländischen Presseagentur], 24.4.1975, in: Collectie Willem de Haan im IISG, Inv.Nr. 3 und N.N.: Rechter over persoonlijkheid. Ronald Augustin: „Geen killer maar een kleine dwaas“ [Richter über Persönlichkeit. Ronald Augustin: Kein Killer aber ein kleiner Spinner], in: Het Parool, 24.4.1975. 23 Rundbrief, 9.3.1975, unterzeichnet u. a. von Bakker Schut, Willem van Bennekom und Teuns, in: Collectie Rote Armee Fraktion in Niederland im IISG, Inv. Nr. 19. 24 Protokoll des MJCs, 22.9.1975, in: Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland im IISG, Inv. Nr. 19. 27

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dass Vrij Nederland die Publikation auch finanziell unterstützt hatte. Die öffentliche Parteinahme eines großen Presseorgans in einer solch heiklen Angelegenheit wie der RAF war typisch für das Verhalten der Journalisten und das politische Klima der 1970er Jahre in den Niederlanden. Van Meurs’ Buch erschien am Vorabend einer großen Veranstaltung des MJCs, „Rechtsstaat en Staatsterreur“ (Rechtsstaat und Staatsterror), im Amsterdamer Hotel Krasnapolsky am 3. Oktober 1975.25 Organisiert wurde sie von einer kleinen Gruppe von dreizehn Aktivisten, dem so genannten Kernkomitee des insgesamt 200 Mitglieder zählenden MJC, zu dem u. a. Bakker Schut, Van Meurs und Monique Augustin (die Schwester Ronald Augustins) gehörten. Nicht zuletzt aufgrund des energischen Auftretens der Gruppe wurde die Demonstration ausführlich im Radio und Fernsehen behandelt und kann als erster Höhepunkt der MJCTätigkeit gelten.26 Ab 1976 fing das Medisch-Juridisch Comité auch mit der Ausgabe von vierteljährlichen Informationsbulletins an. Hin und wieder wurden auch andere Länder behandelt, aber überwiegend schrieb man über die RAF, ihre Anwälte und die politische und juristische Lage in Westdeutschland. Mehrere Hefte dienten auch einfach als Podium für übersetzte Texte der RAF-Mitglieder oder ihrer Anwälte, wie z. B. die dritte Ausgabe, in der „De laatste teksten van Ulrike Meinhof“ publiziert wurden. Andere Bulletins boten etwas originellere Themen, wie die Nummer 7 (Mai 1977) über politische Psychiatrie. Das MJC war mittlerweile die Sammelstelle für niederländische RAF-Sympathisanten geworden und das blieb so bis zu ihrer Auflösung am Ende der 1970er Jahre. Obwohl das MJC sehr viel Verständnis für den bewaffneten Kampf in der Bundesrepublik zeigte, waren ihre Aktionen selbst immer gewaltfrei. Es gab in den Niederlanden aber auch einige Dutzend linksradikale Aktivisten, die vom Kampf der RAF begeistert waren und mit der Idee spielten, ebenfalls zur Waffe zu greifen. In erster Instanz hatten sich solche Aktivisten vor allem in der Rode Jeugd, der „Roten Jugend“, gesammelt, aber diese Organisation löste sich März 1974 auf, als der Druck von Polizei und Sicherheitsdiensten zu groß wurde. Nach einiger Zeit trafen sich die militanten Aktivisten wieder in der schon früher von Linksliberalen gegründeten Rode Hulp (RH), der „Roten Hilfe“, die sie in eine 25 1976 wurden die sieben Vorträge in einer Ausgabe des MJC zusammengestellt: Rechtsstaat en staatsterreur (u. a. in der Bibliothek des IISGs einzusehen). Vgl. De Baader-Meinhofgroep. Een documentaire, Groningen 1975. 26 Protokoll MJC, 22.9.1975, in: Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland im IISG, Inv. Nr. 19. Zur Demonstration vgl.: ANP-Persbericht, 3.10.1975, in: Collection Willem de Haan, IISG, Inv.Nr. 6. 28

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Organisation zur Unterstützung von bewaffneten Kämpfern im In- und Ausland umfunktionierten.27 Damit trieben sie jedoch den alten Kern an Mitgliedern aus der RH, die wiederum in das MJC eintraten.28 Nach einigen Verhaftungen im Ausland, kurz nach dem Aufenthalt von Mitgliedern der RH im Sommer 1976 in einem Guerillatrainingslager im Jemen, löste sich die Organisation schließlich auf. Den damit freigewordenen Platz nahm sofort die Rood Verzetsfront (RVF), die „Rote Widerstandsfront“, ein, die in der Unterstützung der RAF und ihrem Flirt mit der Gewalt noch weiter ging. Zwei bewaffnete Mitglieder überfielen im Juni 1979 am helllichten Tag sogar das Rathaus von Groningen, wo sie u. a. einige Reisepässe erbeuteten. Erst nach stundenlanger Verfolgung konnte die Polizei sie ergreifen. Trotz dieser Aufsehen erregenden Geschichte ist bisher nicht geklärt worden, in wieweit die neue Rode Hulp und die RVF der RAF tatsächlich Hilfe geleistet haben. Den Erinnerungen eines ehemaligen Mitarbeiters des niederländischen Sicherheitsdienstes BVD zufolge, organisierten Aktivisten der RH für die RAF einige sichere Zufluchtsorte in den Niederlanden und transportierten „manchmal Waffen und Sprengstoff über die Grenze“29. Auch der Journalist Antoine Verbij, der für ein Buch über die niederländische radikale Linke in den 1970er Jahren viele Zeitzeugen befragte, berichtet, dass die RH „Menschen, die auf der Flucht vor der deutschen Polizei waren, Unterkunft [bot]“.30

Heißer Herbst Bewiesen ist jedenfalls, dass es in den Niederlanden im Laufe der 1970er Jahre ein gut organisiertes Netzwerk von RAF-Sympathisanten gab. Teils initiiert von Anwälten, die in westdeutschen Strafprozessen gegen RAF-Mitglieder tätig geworden waren, wurde mit dem MJC, in

27 Antoine Verbij: Tien rode jaren. Links radicalisme in Nederland, 19701980, Amsterdam 2005, S. 135-137. 28 Ebd., S. 135-136 und Boudewijn Chorus: Verantwoording, in: Interview met de RAF. Teksten van & over de RAF, Groningen 1975, Nr. 4, S. 5-6 und Agitprop, in: HP, 9.8.1975. 29 RAF-Mitglieder betrachteten die Niederlande einige Zeit als einen sicheren Fluchtort und in der Tat haben die niederländischen Behörden es vorgezogen, sie beobachten, statt hart verfolgen zu lassen. Von dieser Politik konnte die RAF profitieren. Vgl: Frits Hoekstra: In dienst van de BVD. Spionage en contraspionage in Nederland, Amsterdam 2004, S. 65-76. 30 Antoine Verbij: Tien rode jaren, S. 137-143 und Centrale Recherche Inlichtendienst [Zentrale Kriminalpolizeilicher Informationsdienst, CRI] (Hg.): Journaal Berichtgeving Terrorisme, Nr. 97-07. 29

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dem sich Juristen, Ärzte und andere Wissenschaftler sowie Journalisten zusammengeschlossen hatten, eine Aktionsplattform geschaffen, um die in bundesrepublikanischen Haftanstalten einsitzenden Gefangenen der RAF vom Ausland aus zu unterstützen. Darüber hinaus gab es einige militante Aktivisten, die bereit waren, ihrer Empörung und Wut über die Behandlung der inhaftierten RAF-Mitglieder mit gezielten Gewalttaten Ausdruck zu verleihen. Bald sollte sich zeigen, dass diese Kombination auch bei einer ähnlichen Situation in den Niederlanden von Nutzen sein würde: als nämlich im Herbst 1977 innerhalb kurzer Zeit drei RAFMitglieder, Knut Folkerts, Christof Wackernagel und Gert Schneider, in niederländischer Haft landeten. Gegen Folkerts wurde sofort ein Verfahren wegen Mordes an einem Polizisten eingeleitet. Der Prozess fand bereits im Dezember 1977 statt und endete mit seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe von zwanzig Jahren. Schon bald stellte die Bundesrepublik bei der niederländischen Regierung für alle drei Terroristen Auslieferungsanträge, gegen die sie sich mit allen juristischen Mitteln zu wehren versuchten. Obwohl die Sympathie für die RAF in den Niederlanden nach den Schießereien in Utrecht und Amsterdam deutlich zurückging, wurde das MJC-Netzwerk direkt aktiv. Schon an dem Tag nach der Schießerei in Utrecht suchte Bakker Schut von sich aus Kontakt zu Folkerts, der in einer extrem gesicherten Kaserne der Militärpolizei am Rande der Stadt Utrecht untergebracht war.31 In der Folgezeit organisierte Bakker Schut mit einem von ihm engagierten zweiten Anwalt, Arnoud Willems (geboren 1946) und gemeinsam mit dem MJC die Verteidigung der drei inhaftierten RAF-Mitglieder, die über das, was bisher in der niederländischen Rechtspraxis üblich war, weit hinausging. Schon in seinen ersten Äußerungen der Presse gegenüber, eröffnete Bakker Schut den Angriff auf die niederländischen Behörden mit einer Anklage gegen die Behandlung seines Mandanten durch die Polizei. Damit übernahm er von Anfang an die Strategie einer politischen Verteidigung, die auch von den deutschen RAF-Anwälten verfolgt wurde. Der niederländische Staat, so die Argumentation Bakker Schuts, betrachte Folkerts offenbar als Kriegsgefangenen, denn sonst hätte man ihn wohl kaum in einer Militärkaserne untergebracht. Aufbauend auf diesem Vorwurf, protestierte der Anwalt dagegen, dass der Staat seinen Mandanten nicht gemäß der Genfer Kriegsrechtskonvention behandle. Damit importierte er eine Argumentation, die 1976 in Deutschland von Axel Azzola, einem Anwalt von Ulrike

31 N.N.: Zoekactie naar leden RAF nu centraal geleid, in: NRC Handelsblad, 24.9.1977. 30

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Meinhof, vor Gericht vertreten worden war.32 Auch Folkerts selber beteiligte sich an dieser politischen Verteidigungsstrategie. Er schrieb über seine Haftsituation in den ersten Monaten einen Bericht, der Anfang 1978 auf Niederländisch übersetzt in einem MJC-Informationsbulletin publiziert wurde und u. a. linke Niederländer für die Unterstützung der inhaftierten RAF-Mitglieder mobilisieren sollte.33 Auch dies glich der Strategie der RAF in Deutschland, die u. a. mit Texten, die Ulrike Meinhof „im Knast“ geschrieben hatte, um Sympathie und Unterstützung warb. Auch im Prozess verfolgten Folkerts’ Anwälte, wie es von ihrem Klienten gewünscht wurde, weiter eine politische Verteidigungsstrategie. Der eine Anwalt, Arnoud Willems, konzentrierte sich weitgehend auf eine Skizzierung der politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik, die er auf eine Stufe mit Nazideutschland stellte, um so die Notwendigkeit des Widerstands der RAF verständlich zu machen; der andere Anwalt, Bakker Schut, betonte erneut, dass sich die RAF im Kriegszustand mit dem westdeutschen Staat befände.34 Aus dem Urteil lässt sich schließen, dass die ungewöhnliche Strategie der Verteidigung die Richter offenbar irritierte, nicht einmal wegen des politischen Tons der Verteidigung an sich, sondern weil sie der Meinung waren, dass damit den Interessen des Beschuldigten geschadet würde.35 Die diversen Verfahren bezüglich der Auslieferungsanträge verliefen ähnlich. Begleitet wurden die Gerichtssitzungen mit Bulletins und Demonstrationen, bei denen sich militante RAF-Sympathisanten der RVF manchmal sogar Prügeleien mit der Polizei lieferten. Als die erste Reihe von Gerichtsverfahren aus ihrer Sicht ohne positives Ergebnis blieb, gingen die Gefangenen selbst zur Aktion über. Am 1. Februar 1978 begannen sie einen Hungerstreik aus Protest gegen die ihrer Meinung nach „unmenschlichen Haftbedingungen“.36 Schon seit Wochen hatten sie bei den Direk-

32 Ebd. 33 Bericht van Knut Folkerts over de behandeling en detentiesituatie van september ’77 – januari ’78, in: Medisch-Juridisch Comité voor Politieke Gevangenen (Hg.): Nederland naar Duits model, Bulletin, Nr. 12, S. 5-9. 34 Medisch-Juridisch Comité voor Politieke Gevangenen (Hg.): De zaak Folkerts, Bulletin, Nr. 9 und Interview des Verfassers mit Arnoud Willems, Amsterdam, 22.6. und 3.7.2006. 35 Urteil des Utrechter Landgerichts, 20.12.1977, Anhang zum Brief, 23.3.1978, Bundesminister der Justiz, Bonn-Bad Godesberg, an den Generalbundesanwalt, Karlsruhe, in: Archiv-Dubois-Brinkmann in der Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland im IISG, Inv.Nr. 19. 36 N.N.: de solidariteit van de mensen wortelt in de opstand. Hongerstakingsverklaring, 1.2.1978, in: Medisch-Juridisch Comité voor Politieke Gevangenen: Informatie van het MJC ten aanzien van het verzoek van de 31

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toren der Haftanstalten in Den Haag und Maastricht, wo sie untergebracht waren, Erleichterungen der Haftbedingungen beantragt. So störte sie die ständige Beleuchtung in ihren Zellen – die die Direktoren, die natürlich die Berichte aus Stammheim kannten, wegen der Suizidgefahr angeordnet hatten – und die völlige Isolation, die Kontaktsperre untereinander und zu den anderen Gefangenen. Unter Berufung auf die außerordentliche Sicherheitslage gaben die beiden Direktoren, unterstützt oder möglicherweise auch angewiesen vom Justizministerium, aber nicht nach. War Zwangsernährung in der Bundesrepublik eine übliche Methode um einen Hungerstreikenden, für den der Staat die Fürsorgepflicht hat, am Leben zu erhalten, wies der Ärzteverband in den Niederlanden dieses Mittel zurück, weil man hier die Selbstbestimmung der Gefangenen als wichtiger erachtete.37 Trotzdem fürchteten die Gefangenen und ihre Anwälte staatliches Einschreiten. Zudem waren sie auf der Suche nach Wegen, um für den Hungerstreik mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Darum formierten die Anwälte schon Mitte Februar eine Unterstützergruppe mit fünf Medizinern, die sich als „Vertrauensärzte“ um die Gesundheit der Hungerstreikenden kümmern sollten. Es handelte sich in der Mehrzahl um linksliberale Persönlichkeiten, die nicht nur als Allgemeinmediziner oder Psychiater, sondern auch als Dozenten an Universitäten tätig waren. Einer von ihnen verfasste während der Affäre einen Bericht, der die Aktionen der Unterstützergruppe genau dokumentierte.38 Anfänglich verweigerten die Gefängnisdirektoren den Vertrauensärzten den Zugang zu den Gefangenen. Über den Präsidenten des Maastrichter Landgerichts schafften die Anwälte es aber diesen Zugang einzuklagen. Kurz danach, Anfang März 1978, meldeten sich die Ärzte zum ersten Mal in der niederländischen Öffentlichkeit mit einer Presseerklärung, in der sie behaupteten, dass die Haftsituation der RAFGefangenen der gängigen, von amnesty international verwendeten Definition von Isolationshaft entsprach. Die Isolation war in ihren Augen eine „unakzeptable Form der Inhaftierung, die nach relativ kurzer Zeit die Bondsrepubliek tot uitlevering van Knut Folkerts, Gert Schneider, Christoph [sic!] Wackernagel, Bulletin, Nr. 11. 37 Vgl. Jan de Cler: Hongerstaking gezien vanuit de hoek van de gestichtsarts, in: Proces. Maandblad voor berechting en reclassering, Jg. 58, 9/1979, S. 213-214 [Spezialheft über das Thema Hungerstreik]. 38 Dieser Bericht („Voortgangsrapportage“) befindet sich im Archiv der Anwältin Dubois in der Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland, IISG, Inv.Nr. 22 und 23. Auf Grundlage dieses Berichts hat der betreffende Psychiater später ein Buch über seine Erfahrungen in der Unterstützergruppe geschrieben: Frank van Ree: Vrijheidsstrijd, verzet, terrorisme. Verslag van een vertrouwensarts, Lisse 2000. 32

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geistigen und körperlichen Funktionen negativ beeinflussen könnte“. Erste Zeichen hiervon hätten sie, so die Vertrauensärzte, bei den Gefangenen auch bereits diagnostiziert. Schon in wenigen Tagen könnten nicht wieder gut zu machende Schäden entstehen. Dass die Gefangenen zu extremen Protestmethoden übergingen, wäre daher verständlich. Die Ärzte: „Der Hungerstreik ist das einzige Mittel, das den Dreien noch geblieben ist, um diese unmenschlichen Maßnahmen zu bekämpfen.“39 Mitte März, als der Hungerstreik bereits in die sechste Woche ging, organisierten die Anwälte und Ärzte eine öffentliche Protestversammlung in Amsterdam, die verschiedentlich in den Medien aufgegriffen wurde und auch zu Fragen im Parlament Anlass gab. Zum ersten Mal meldete sich am nachfolgenden Tag auch die Regierung in der Öffentlichkeit, als die Staatssekretärin im Justizministerium, Bert Haars, die parlamentarische Justizkommission über die Affäre informierte. Sie präsentierte unter anderem eine lange Liste mit Anwalts- und Familienbesuchen der Gefangenen, um den Vorwurf der Isolationshaft ins Lächerliche zu ziehen.40 Trotz dieser öffentlichen Auseinandersetzungen kam es am 17. März zu einem Gespräch zwischen der Unterstützergruppe und der Staatssekretärin, in dem die Parteien zu einem Kompromiss gelangten, der es den Gefangenen erlaubte, ihren Hungerstreik ohne Prestigeverlust zu beenden. Zwar wollte die Staatssekretärin eine Zusammenlegung der drei Gefangenen nicht gestatten, aber sie stellte regelmäßige Begegnungen und einige andere Verbesserungen der Haftsituation in Aussicht.41 Obwohl es in den folgenden Monaten in der Tat zu diesen Treffen kam, blieb die Unzufriedenheit der Gefangenen groß, die der Meinung waren, die Gefängnisleitung setze die Neuregelung nur in minimaler Weise um. Außerhalb der Gefängnisse wurden immer wieder Proteste organisiert und vereinzelt gab es auch militante Aktionen, wie die Besetzung des Amtsitzes des Ministerpräsidenten in Den Haag und ein vereiteltes Attentat mit Brandsätzen auf die Amsterdamer Filiale der AllianzVersicherungsgesellschaft. Nach Monaten öffentlicher Auseinandersetzungen und Gerichtsverfahren beendeten die Vertrauensärzte am 6. Oktober 1978 ihre Tätigkeit mit einer öffentlichen Protesterklärung, in der sie behaupteten, sie fühlten sich vom Justizministerium missbraucht.42 39 Pieter Taffijn: De RAF in Nederland, Unveröffentlichter Bericht des Unterstützerkomitees, in: Archiv-Dubois-Brinkmann in der Collectie Rote Armee Fraktion in Nederland im IISG, Inv.Nr. 27. 40 Ebd. 41 Ebd. und Interview des Verfassers mit Josephine Dubois-Brinkmann, Maastricht, 3.5.2006. 42 Pieter Taffijn: De RAF in Nederland. 33

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Kurz darauf, am 13. Oktober 1978, begannen Wackernagel und Schneider einen zweiten Hungerstreik. Am Vorabend hatte die Staatssekretärin in einer geschlossenen Kommissionssitzung im Parlament angekündigt, dass sie die drei Gefangenen bald in die Bundesrepublik ausliefern würde. Jetzt schritt die Staatssekretärin blitzschnell zur Tat. Noch am selben Abend wurden die beiden Hungerstreikenden in einem Helikopter nach Deutschland geflogen, wo man sie der Justiz übergab. Vier Tage später wurde auch Folkerts, der mittlerweile ebenfalls in den Hungerstreik getreten war, nach Deutschland ausgeliefert.43 Damit war die verwickelte Affäre um die RAF-Gefangenen in den Niederlanden, nach etwas mehr als einem Jahr, beendet. Die niederländische Sympathie für die RAF verflog.

Fazit Am Anfang dieses Beitrags stand die Frage, wie weit die niederländische Sympathie für die RAF ging. Es ist deutlich geworden, dass nur ein Teil der Sympathisanten sich der Ideologie der RAF verpflichtet fühlte. Obwohl die Mehrzahl politisch links stand, lehnte sie wesentliche Elemente der Ideologie und die Gewaltmethoden der RAF ab. Ihr Engagement beruhte vor allem auf der Einschätzung, dass die RAF-Gefangenen gegen den westdeutschen und später auch den niederländischen Staat in Schutz genommen werden müssten. Auf diese Weise würde man letztlich auch den Rechtsstaat verteidigen, was vielen in einer Zeit der europaweiten Terrorismusbekämpfung äußerst notwendig erschien. Daneben spielten auch anti-(west)deutsche Gefühle eine große Rolle. Der Umgang mit der RAF in der Bundesrepublik wurde als Zeichen für die Kontinuität faschistischer Strukturen gedeutet, gegen die man sich wehren müsse. Das Beispiel des Bond voor Wetenschappelijke Arbeiders und seines prominenten Mitglieds Sjef Teuns zeigt aber auch, dass die meisten RAF-Sympathisanten ein eher allgemeines Misstrauen gegen den Staat als Eckpfeiler und Instrument des kapitalistischen Systems hegten. Sie kritisierten auch die niederländischen Machtstrukturen und waren der Ansicht, dass die Ereignisse in der Bundesrepublik nur ein Beispiel einer allgemeinen europäischen Tendenz sei, sich hin zu einem autoritären, kapitalistischen Orwellschen Kontrollstaat zu entwickeln. Diese Befürchtung spricht auch aus dem Begleitwort zu Teuns’ Artikel im Kursbuch 32. Darin schrieb das BWA-Solidaritätskomitee, dass seine Solida43 Ebd. 34

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rität kein karitatives Unterfangen sei, sondern auch den eigenen Interessen diene. „Wir betrachten es als unsere Aufgabe, die Forderung der politischen Gefangenen mit unseren Mitteln zu unterstützen, durchzusetzen – jetzt, wo wir’s noch können, bevor wir selbst Gefangene sind.“44 Die niederländische Sympathie für die RAF war nicht nur ein Ausbruch antideutscher Ressentiments. Sie war auch Ausdruck des gesamteuropäischen (radikal) linken Weltbilds der 1970er Jahren.

44 Sjef Teuns: Isolation/Sensorische Deprivation, S. 119. 35

Die Bekämpfung politischer Gew alt: Versuch eines internationalen Struktur vergleichs BEATRICE DE GRAAF Mithilfe eines strukturellen Vergleichs zwischen der Bekämpfung des Terrorismus in den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren wird die Entstehung terroristischer Bewegungen sowie die Wechselwirkung zwischen diesen und den Sicherheitsbehörden analysiert. Es wird gezeigt, dass geheimdienstliche Methoden sowie Reintegrationsangebote eine wichtige Rolle bei der nachhaltigen Untergrabung terroristischer Gruppen spielten.

In diesem Aufsatz wird versucht, die Bekämpfung von politischer Gewalt1 und Terrorismus2 in den 1970er Jahren in drei westlichen Demokratien aus internationaler Perspektive zu analysieren. In der Literatur wird, aus Gründen der Vollständigkeit und der Stringenz, der Fokus zumeist auf die jeweilige nationale Geschichte gelegt und selten versucht, einen Vergleich auf internationaler Ebene zu ziehen.3 Das ist insofern 1 2

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Politische Gewalt meint hier „collective attacks within a political community against a political regime“, vgl. Ted Gurr: Why Men Rebel, Princeton 1970, S. 3-4. Terrorismus wird als eine Ausbreitung dieser Definition verstanden, in dem Sinne, dass derartige Aktionen über ihre direkten Opfer hinaus eine Wirkung (Angst, Einschüchterung) auf einen größeren Teil der Gesellschaft haben und eine Mobilisierung von Anhängern bezwecken; vgl. Alex P. Schmid, Albert J. Jongman u. a.: Political Terrorism. A New Guide to Actors, Authors, Concepts, Data Bases, Theories and Literature, New Brunswick, New York 1988. So wird auch in den von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Bänden zwar ausführlich auf unterschiedliche terroristische Bewegungen in mehreren Ländern eingegangen, ein Vergleich bleibt jedoch aus. Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006.

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verständlich, als es sich meist um recht unterschiedliche und länderspezifische Bewegungen und deren Bekämpfung handelt. Da es trotz aller Unterschiede jedoch auch immer auffällige Übereinstimmungen gibt, möchte ich hier das Wagnis eingehen, drei unterschiedliche Staaten im gleichen Zeitabschnitt neben einander zu stellen und strukturell zu vergleichen, in welcher Art und Weise politische Gewalt sozialrevolutionärer (und ethnisch-revolutionärer) Bewegungen4 entstand und bekämpft wurde. Das bedeutet, dass auf die Einzelaspekte der Entwicklung und Bekämpfung des Terrorismus nicht eingegangen werden kann. Im Mittelpunkt steht nicht in erster Linie die Aufarbeitung chronologischer Ereignisstränge, sondern deren Einordnung in ein Vergleichsmodell, mit dem Ziel Verbindungslinien oder Differenzen aufzudecken. Ausgegangen wird hierbei im Wesentlichen von dem von Donatella della Porta in den 1990er Jahren entwickelten Modell, in dem sie versucht das Phänomen Terrorismus auf Makro, Meso- und Mikroebene zu analysieren. Auch wenn Sebastian Scheerer eine ähnliche Dreiteilung bereits 1988 als Ausgangspunkt für seine Erklärung der „sozialrevolutionären Gewalt“ in der BRD genommen hatte,5 überzeugt Della Portas Entwurf jedoch insofern, als er ein explizites Plädoyer für eine zeitgeschichtliche Herangehensweise mit einer internationalen Vergleichskomponente impliziert. Della Porta konzentriert sich vor allem auf die Entstehung von politischer Gewalt und ihrer Bekämpfung durch den Staat, wobei systemische, organisatorische und individuelle Perspektiven – mit anderen Worten Umweltbedingungen, Gruppendynamiken und individuelle Motivationen – berücksichtigt werden.6 Diesem Prinzip folgend soll die Geschichte des Terrorismus und der Terrorismusbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland den Fallstudien aus den Niederlanden und den Vereinigten Staaten gegenüber gestellt werden, 4

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Der Begriff sozialrevolutionäre Gewalt wird auf Gruppen bezogen, die aus der linken Protestbewegungen der 1960er Jahre hervorgingen oder daraus ihre Argumente bezogen. Mit ethnischrevolutionär werden hier die südmolukkischen Jugendlichen (Vrije Zuidmolukse Jongeren) bezeichnet, die ihr Gewaltrepertoire sowie ihren Proteststil in bewusster Analogie zu den palästinensischen und südamerikanischen Befreiungsbewegungen entwickelten. So wollten sie sich wie diese an ihrer ehemaligen Kolonialregierung, d. h. der niederländischen Regierung, rächen und setzten sich gleichzeitig für eine nachträgliche Unabhängigkeitserklärung der südmolukkischen Insel ein. Sebastian Scheerer: Deutschland: Die ausgebürgerte Linke, in: Henner Hess, Martin Moerings, Dieter Paas, Sebastian Scheerer Heinz Steinert: Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988, Bd. 1, S. 193-429. Donatella della Porta: Social Movement and Political Violence. A Comparative analysis of Italy and Germany, Cambridge 1995 (2006). 37

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um auf der Makro-, Meso- und Mikroebene einen tieferen Einblick in das Zusammenspiel der beiden Positionen – Staat und terroristische Gruppen – zu erhalten. In allen drei Ländern machten sich Gruppen bemerkbar, die unter Anwendung von Gewalt das existierende System radikal verändern, umwerfen oder in Frage stellen wollten. Die Niederlande werden als Gegenbeispiel für das frühzeitige Abflauen einer Welle des sozialrevolutionären Terrorismus herangezogen, die Vereinigten Staaten als Beispiel für den repressiven Einsatz von Polizei und Sicherheitsdiensten.

1. Makroebene Della Portas Erklärungsmodell entsprechend bestimmen sich die Bedingungen auf der Makroebene, d. h. auf der Ebene des politischen Systems als Ganzem, durch die Interaktion zwischen politisch gewalttätigen Gruppen und dem Staat auf der einen sowie den öffentlichen Druck auf den Staat auf der anderen Seite. Anders als manchmal angenommen, werden hier keine politischen oder wirtschaftlichen Konflikte als root causes für die Entstehung von Terrorismus angegeben.7 Es geht vielmehr um die „relative Deprivation“, d. h. gegenseitige Glaubwürdigkeitskrisen und Delegitimationsstrategien auf beiden Seiten. Das wird vor allem deutlich, wenn auf die Interaktion zwischen Protest und Polizei, den öffentlichen Druck auf die Sicherheitsbehörden sowie den „nationalen Stil“ der Konfliktüberwindung näher eingegangen wird.8

1.1 Die Interaktion zwischen Protest und Polizei 1966-1970 In der Bundesrepublik Deutschland benutzten der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) sowie später auch K-Gruppen, Spontis und sonstige radikale Gruppierungen bestimmte Formen des Protestes, die manchmal in Gewalt eskalierten. Zwar kam es nur in wenigen Fällen zu tatsächlichen Gewaltausbrüchen auf den Straßen – die tragische Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Wachtmeister Karlheinz Kuras am 2. Juni 1967 während der Protestdemonstrationen gegen den Besuch des Schahs von Persien blieb eine Ausnahme –, den7 8 38

Vgl. Tore Bjørgo (Hg.): Root Causes of Terrorism; Myths, Reality and Ways Forward, London 2005. Vgl. das Schema „Political opportunities for violence“ (Donatella della Porta: Social Movements, S. 189).

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noch erhielt die polizeiliche und juristische Form der Repression einen zunehmend hohen symbolischen Stellenwert.9 So lässt sich ein Prozess der rhetorischen Eskalation feststellen, wobei auf beiden Seiten die Angst vor einem Einbruch der demokratischen Grundordnung und Renazifizierung hochgespielt wurde. Der Polizeiapparat, der eher auf kommunistisch angeführte Aufstände als auf die gut organisierte Gewalt kleiner Gruppen vorbereitet war, schlug zwar nicht so brutal zu wie in Italien, griff aber dennoch manchmal sehr hart durch. Die prinzipielle Gewaltbereitschaft der Polizei ermöglichte es der Studentenbewegung Ohnesorg als Opfer staatlicher Repression darzustellen und zum Märtyrer zu stilisieren. Der hierauf fußende Renazifizierungs-Mythos entzog dem Staat in den Augen neuer Aktivisten jede Legitimation. Auf diese Weise wurde von Mitgliedern und Sympathisanten der RAF mithilfe einer Symbolpolitik ein Unrecht-Deutungsrahmen geschaffen, der das Vorgehen der bundesdeutschen Behörden als absolut willkürlich erschienen ließ.10 Anders als in der Bundesrepublik gab es in den Vereinigten Staaten direkte Kausalzusammenhänge zwischen der politischen Gewalt und den wirtschaftlichen und sozialen Konflikten. So stellte die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung und der Krieg in Vietnam konkretes Unrecht dar, obwohl es auch hier einer Symbolpolitik bedurfte, um tatsächlich zu einem entgrenzten Diskurs zu kommen. Stärker als in der BRD, wo der Staat nur punktuell Überreaktionen zeigte, waren die Proteste in den Ghettos und der Studentenbewegung mit dem geschlossenen Widerstand und der repressiven Gewaltbereitschaft der politischen Eliten konfrontiert. Vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges besaßen Aufrüstung und Mobilmachung nationale Symbolkraft und die Kritik an der Regierung wurde nicht selten als moralisches Verbrechen und Landesverrat denunziert.11 Produkt dieser Polarisierung war eine Eskalation: Der brutale Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften mündete oft in gewalttätige Ausschreitungen. Die Polizeieinheiten wurden instruiert, die Black Panther Party for Self-Defense (BBP, gegründet 1967) und die AntiVietnam-Gruppen rücksichtslos zu bekämpfen, da diese bewaffnet und gefährlich seien. Die Kent state shootings am 4. Mai 1970, bei dem die 9

Wolfgang Kraushaar: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: Karin Wieland, Jan Philipp Reemtsma (Hg.): Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005. 10 Vgl. Donatella della Porta: Social Movements, S. 191. 11 Jeremy Varon: Bringing the war home. The Weather Underground, the Red Army Faction, and revolutionary violence in the Sixties and Seventies, Berkeley, Los Angeles, London 2004; Dan Berger: Outlaws of America: The Weather Underground and the Politics of Solidarity, Edinburgh, Oakland, West Virginia 2006. 39

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Soldaten der Ohio National Guard vier unbewaffnete Studenten während einer nicht-gewalttätigen Kundgebung erschossen und neun weitere schwer verletzten,12 die Ermordung der BBP-Mitglieder Mark Clark und Fred Hampton am 4. Dezember 1969 durch die Chicagoer Polizei und das FBI sowie offensive Übergriffe auf Schwarze in den Ghettos zeigten, dass die Gewaltschwelle auf Seiten der Behörden weitaus niedriger war als in der BRD.13 In den Niederlanden reagierte die Polizei anfänglich gleichfalls mit gewaltsamen Einsatz auf Demonstrationen von Studenten, so genannten Provo’s und sonstigen anarchistischen Gruppen, da ihre Protestaktionen und Happenings nicht als eine berechtigte Infragestellung der bestehenden Strukturen verstanden wurden, sondern als mutwillige Störung der öffentlichen Ordnung.14 Der Polizeieinsatz wurde am Anfang nicht zentral gelenkt. Jedem Kommandanten der 25 regionalen Polizeibehörden war es überlassen, angemessene Formen des Umgangs mit dem Protest zu finden. Dies führte beispielsweise dazu, dass das Vorgehen von Polizei und Geheimdienst gegen die so genannte Rode Jeugd („Rote Jugend“) – ein 1967 gegründetes Netzwerk von Maoisten, die Attentate gegen symbolisch aufgeladene Gebäude verübten – in Eindhoven weitaus unerbittlicher war als in Amsterdam, wo sich der Polizeikommandant entschied, demonstrierende Studenten mit Polizeibussen aus der Stadt zu fahren und dort in die Natur zu entlassen.15 Nach einigen Ausschreitungen 1966 und 1967 wich das reaktive und manchmal auch repressive Auftreten der lokalen Polizisten jedoch bald überall einer vorbeugenden und proaktiven Strategie der Isolierung und der Integration der Proteste in die legalen, demokratischen Möglichkeiten von Opposi-

12 Report of the President’s Commission on Campus Unrest („Scranton Commission“), Washington D.C. 1970. 13 Vgl. Ward Churchill, Jim Vander Wall: Agents of Repression: The FBI’s Secret Wars Against the Black Panther Party and the American Indian Movement, Boulder CO 1988; vgl. auch Jill Nelson (Hg.): Police Brutality. An Anthology, New York, London 2000. 14 Vgl. Niek Pas: Imaazje! De verbeelding van Provo 1965-1967, Amsterdam 2003. 15 Zur Geschichte der niederländischen sozialrevolutionären Protestbewegungen in den 1960er und 70er Jahren vgl. Doeko Bosscher: De dood van een metselaar en het begin van de jaren, Groningen 1992; James Kennedy: Nieuw Babylon in aanbouw. Nederland in de jaren zestig, Amsterdam 1999; Eric van Staalduinen: De Rode Jeugd 1966-1974: Een sociale beweging en haar ontwikkeling. Van Provo-adept tot de Nederlandse Rote Armee Fraktion, Magisterarbeit, Universität von Rotterdam 1996; Frans Dekkers, Daan Dijksman: ’n Hollandse stadsguerilla: Terugblik op de Rode Jeugd, Amsterdam 1988. 40

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tion.16 Denn anders als für die sozialliberale Koalition in der Bundesrepublik war das Thema der „Inneren Sicherheit“ für die niederländischen Sozialdemokraten kein Mittel, die Durchsetzungsfähigkeit der Staatsmacht unter Beweis zu stellen.17 Hinzu kam, dass die Mitglieder der Rode Jeugd selber zugaben, Schwierigkeiten zu haben einen UnrechtDeutungsrahmen zu etablieren, da das politische Klima einfach zu liberal war.

1.2 Öffentlicher Druck auf die Sicherheitskräfte Eine wichtige Rolle hinsichtlich der Reaktionen des Staates auf die Proteste spielte auch der öffentliche Druck, der auf die Regierungen ausgeübt wurde.18 Terroristische Attentate gefährden die gesellschaftliche Ordnung und schüren in überproportionaler Weise die Ängste der Bevölkerung vor Destabilisierung. Das Auftreten der APO-Aktivisten und Spontis sowie die ersten RAF-Attentate in der BRD (1970-1972) verstärkten das öffentliche Bedürfnis nach „Gesetz und Ordnung“, was die politischen Eliten aus dem konservativen Lager veranlasste, auf hartes Durchgreifen zu drängen. Umgekehrt verstärkten sich gleichzeitig auf der anderen Seite des politischen Spektrums Forderungen nach einem liberaleren Umgang mit Bürgerprotest in der Gesellschaft.19 Der Sprachgebrauch radikalisierte sich, die Meinungen polarisierten sich und die „Kriegserklärung“ der RAF an die Gesellschaft wurde somit Realität. In

16 Vgl. J. Cuperus, R. Klijnsma: Onderhandelen of bestormen. Het beleid van de overheid inzake terroristische akties, Groningen 1980; P. Klerks: Terreurbestrijding in Nederland 1970-1988, Amsterdam 1989; R. Janse: Fighting terrorism in the Netherlands. A historical Perspective, Utrecht Law Review (2005), Nr. 1, S. 55-67; C. Fijnaut: Politiek geweld en de politiële bestrijding hiervan in Nederland, Tijdschrift voor de Politie (1989), Jg. 51, Nr. 11, S. 501-507. 17 Pieter Bootsma, Willem Breedveld: De verbeelding aan de macht. Het Kabinet-Den Uyl 1973-1977, Den Haag 1999, S. 226-227; für die BRD vgl. Stephan Scheiper: Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/ 1970er Jahren, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M., New York 2006, S. 188-216. 18 Vgl. Alex P. Schmid, J. de Graaf: Violence as communication. In-surgent terrorism and the Western news media, London, Beverly Hills 1982. 19 Innenminister Gerhart Baum (1978-1982) versuchte unmittelbar nach seinem Amtsantritt das aufgeheizte politische Klima zu dämpfen. Vgl. Gerhart Baum, Horst Mahler: „Wir brauchen mehr Gelassenheit“, Der Spiegel, 53/1979, S. 34-49. 41

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den Medien wurden bürgerkriegsähnliche Szenarien ausgemalt und eine moral panic machte sich breit.20 In den Vereinigten Staaten hingegen begann die Regierung unter Richard Nixon ab 1969 gemeinsam mit dem langjährigen Leiter des FBI, J. Edgar Hoover, gezielt die Öffentlichkeit gegen die radikalen Studenten und militanten Black Power-Gruppen aufzubringen.21 FBI und CIA erhielten im Rahmen des so genannten Huston Plans den Auftrag, Beweise für die Fernsteuerung der Gruppen durch Moskau, Havanna, Hanoi oder sogar den Nahen Osten zu erbringen.22 Vor allem das FBI nahm den Auftrag gern entgegen, da er sich nahtlos in sein bereits angelaufenes COINTELPRO-Programm einfügte, das unter Präsident J. F. Kennedy eingeleitet worden war, unter Nixon seinen Höhepunkt erreichte und dessen Ziel in der decomposition, der Zersetzung von linksradikalen und schwarzen Aktivistengruppen, aber auch von sogenannten white hate groups wie dem Ku Klux Klan, lag.23 Im Vergleich hierzu war der Mangel an zentraler Koordinierung in Sachen Terrorismusbekämpfung in den Niederlanden in den 1970er Jahren unmittelbar mit der relativen Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit dem Terrorismus und der Terrorismusbekämpfung gegenüber verbunden. Verfassungsschutz und Polizei konnten im Schatten der öffentlichen Meinung ihre eigenen Ziele verfolgen, d. h. kommunistische Agenten und Informanten aus dem Osten ausfindig machen und aufdecken, da die Spionageabwehr für den Verfassungsschutz Priorität besaß. Für die Polizei waren hingegen die regulären Aufgaben der Kriminalitätsbekämpfung vorrangig. Auch die Bevölkerung interessierte sich nicht für Terro-

20 Vgl. Hanno Balz: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte um die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a. M. 2008. 21 Vgl. Memorandum Bud Krogh (persönlicher Referent des Präsidenten im Weißen Haus) an The Attorney General: „Black Panthers“, 28.1.1970; Akte „Black Panthers“, Nixon, White House Files, SMOF, Ehrlichman, Box 15. National Archives, Washington. 22 Vgl. Brief J. Edgar Hoover an John Ehrlichman (persönlicher Referent des Präsidenten), 7.1.1970. Akte „Black Panthers“, Nixon, White House Files, SMOF, Ehrlichman, Box 15, NA, Washington; „Huston Operation“, in: US Senate Committee on Foreign Relations: Activities of the Central Intelligence Agency in Foreign Countries and in the United States, 22.1.1975, Washington 1975, S. 18-20. 23 Foreign Involvement of the Weather Underground, Bd. 2, CNSS, Record No. 117, Box 171, National Security Archives, Washington. Vgl. Curtis J. Austin: Up against the Wall. Violence in the Making and Unmaking of the Black Panther Party, Fayetteville 2006; Ward Churchill, Jim Vander Wall: Agents of Repression. The FBI’s secret wars against the Black Panther Party and the American Indian Movement, Cambridge 1988. 42

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rismus und von der Regierung wurde er erst 1973 thematisiert.24 Das hing keinesfalls mit einem Mangel an Anschlägen zusammen. 19701972 verübte die Rode Jeugd mehr als 60 kleine und sogar einige größere Sprengstoffattentate (gegen Banken, Polizeiautos, Versicherungsfirmen, Regierungsgebäude etc.), wobei allerdings, wie durch ein Wunder, nur Sachschäden entstanden. Am 6. Februar 1972 sprengten zudem palästinensische Terroristen des El-Fatah Kommandos zwei Gaswerke der niederländischen Erdgasgesellschaft Gasunie in Ommen und Ravenstein und verübten mehrere kleinere Attentate; später waren auch IRAMitglieder in den Niederlanden aktiv.25 Die gewalttätigen Aktionen südmolukkischer Jugendlicher, die die niederländische Regierung als ehemalige Kolonialmacht zwingen wollten, sich für die Gründung einer autonomen Republik der Südmolukken in Indonesien einzusetzen, forderten 14 Todesopfer zwischen 1970 und 1978 (inklusive 6 aus ihren eigenen Reihen).26 Nichtsdestotrotz hielt sich die öffentliche Reaktion in Grenzen. Selbst nach einer zweiten Zugentführung sowie der Besetzung einer Grundschule mit 105 Kindern im Jahr 1977 gaben 27 % der Niederländer an, die Aktion nachvollziehen zu können.27 Die geringe Aufmerksamkeit gegenüber der Terrorismusbekämpfung zeigt sich u. a. auch darin, dass trotz mehrerer Tote in den 1970er Jahren die Verfassungsschutzbehörde kaum vergrößert wurde, während sich der Personalstand des Bundeskriminalamts verdreifachte. Der niederländische Verfassungsschutz selber war bestrebt, keine Aufmerksamkeit auf ihre Antiterrorismusaktivitäten zu lenken oder gar um öffentliche Unterstützung dafür zu werben. Im Gegenteil wurden viele vereitelte terroristische Anschläge, wie zum Beispiel die versuchten Entführungen von Königin Juliana, von Minister-Präsident Joop den Uyl und, im Jahr 1978, von Minister-Präsident Dries Van Agt strikt geheim gehalten.28 Nach der ersten Zugentführung durch südmolukkische Ju-

24 Vgl. Dick Engelen: Frontdienst. De BVD in de Koude Oorlog, Amsterdam 2007, S. 157-160. 25 Siem Eikelenboom: Niet bang om te sterven. Dertig jaar terrorisme in Nederland, Amsterdam 2007, S. 88-170; De Volkskrant, 16.9.1993 und 5.10.1993; vgl. auch Antoine Verbij: Tien rode jaren. Links radicalisme in Nederland, 1970-1980, Amsterdam 2005. 26 Peter Bootsma: De Molukse acties. Treinkapingen en gijzelingen 19701978, Amsterdam 2000; Gijzeling ambassadeur van Indonesië, RA 1970/054-I. Archiv des Justizministeriums, Den Haag, Niederlande. 27 NIPO Bericht, Nr. 1852; vgl. Alex P. Schmid, J.F.A. de Graaf, F. Bovenkerk, L.M. Bovenkerk-Teerink, L. Brunt: Zuidmoluks terrorisme, de media en de publieke opinie, Amsterdam 1982, S. 61. 28 Frits Hoekstra: In dienst van de BVD. Spionage en contraspionage in Nederland, Amsterdam 2004, S. 73. 43

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gendliche im Dezember 1975 schlug der Chef des Verfassungsschutzes A. Kuipers dem Innenminister W.F. De Gaay Fortman lediglich die Versetzung von fünf zusätzlichen Mitarbeitern (mit einer Option auf zwei weitere zu einem späteren Zeitpunkt) in die zuständige Abteilung vor.29 Frits Hoekstra, ein ehemaliger BVD-Mitarbeiter, erklärte dieses Vorgehen später, nicht ohne nationalen Berufsstolz: „Die Geheimhaltung all dieser Vorhaben stand im extremen Kontrast zur Praxis der westdeutschen Kollegen. Die Pläne der Roten Armee Fraktion, die bei einer Hausdurchsuchung bei Siegfried Haag gefunden worden waren, wurden in der Presse ‚zum Zweck der Mobilisierung der öffentlichen Meinung‘, wie es hieß, breit ausgewalzt. Die Hetze, die Psychose und die spezielle ‚Stammheim‘-Behandlung der Terroristen haben sicherlich keinen positiven Effekt auf die westdeutsche Gesellschaft in dieser Periode erzielt. [...] Eine Veröffentlichung der Pläne unserer Stadtguerillas, die dem Dienst bekannt geworden waren, wie Mordanschläge und Entführungen von Mitgliedern des Königlichen Hauses, hätte auch hier Effekte erzielt, obwohl wahrscheinlich weniger ausgeprägt als bei den östlichen Nachbarn. Geheimhaltung hat jedoch zweifelsohne zu einer ausgewogeneren und nicht von der Tagespolitik beeinflussten Bearbeitung des Phänomens beigetragen.“30

1 . 3 N a t i o n a l e r S t i l d e r K o n f l i k t ü b e rw i n d u n g Neben den genannten Aspekten wird der Verlauf des Terrorismus auch von einem nationalen Stil der Konfliktüberwindung beeinflusst, der sich sowohl aus der institutionellen Infrastruktur von Sicherheitsbehörden, Gesetzen und sonstigen exekutiven Befugnissen sowie einem informellen kulturellen Bestand an gesellschaftlichen Werten, Bräuchen und Feindbildern zusammensetzt.31 In der jungen Demokratie der BRD war die formale Struktur – Justizapparat, Gesetze, Verfassungsrechte – gut ausgebildet. Das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“ erlaubte die Marginalisierung der radikalen Opposition. Dies zeigte sich in den so genannten Berufsverboten, dem „Radikalenerlass“, und dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Hierzu gab es in den Niederlanden kaum Parallelen. Das Fehlen einer konsolidierten Demokratie beeinflusste den Deutungsrahmen, den die Eliten benutzten, um die Gefahren des Protestes

29 Dick Engelen: Frontdienst, S. 180. 30 Frits Hoekstra: In dienst van de BVD. Spionage en contraspionage in Nederland, Amsterdam 2004, S. 73 (Übers. der Verf.). 31 Vgl. Donatella della Porta: Social Movements, S. 193. 44

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und des Terrorismus unter dem Stichwort „NS-Vergangenheit“ zu definieren.32 Einen nationalen Stil der Konfliktbewältigung zwischen radikaler Opposition und Staatsmacht gab es in den Vereinigten Staaten noch viel weniger, da ein solcher überhaupt erst einmal das Eingeständnis eines Konfliktes voraussetzen würde, das wiederum den patriotischen Konsens gefährdet hätte und daher nicht vorgesehen war. Die systemische Opposition wurde entsprechend als sedition, revolution oder Umsturzbande definiert und auf gleiche Stufe mit den frühen Formen des Aufstandes gegen den zentralen Staat im 19. Jahrhundert gestellt. Revolutionärer Protest wurde sofort als Bedrohung der nationalen Sicherheit definiert. Einen autonomen vom Kriminalamt getrennten Verfassungsschutz gab (und gibt) es in den Vereinigten Staaten zudem nicht. Das FBI kombinierte geheimdienstliche, polizeiliche und ermittlungstechnische Befugnisse in einem Apparat und konnte direkt vom Präsidenten beauftragt werden. Neue Gesetze waren kaum notwendig, allerdings wurde auf föderaler Ebene den amerikanischen Staaten 1968 mit dem „antiriot bill“ als Teil des Civil Rights Act ein zusätzliches Instrument in die Hand gegeben, um Aktivisten zu verfolgen. Führende Mitglieder der SDS (Abbie Hoffman, Rennie Davis, Jerry Rubin, Tom Hayden und David Dellinger) sowie BBP-Wortführer Bobby Seale wurden aufgrund dieses Gesetzes für das merkwürdige Verbrechen einer „conspiracy to travel interstate with the intent to incite, organize, promote, encourage, participate in, and carry out a riot“ angeklagt.33 In den Niederlanden war bis 1972 von einer einheitlichen nationalen Strategie zur Bekämpfung von politischer Gewalt und Terrorismus nicht die Rede. Außerdem gab es keine Gesetze, die politische Gewalt als solche oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellten.34 Einerseits fehlte im Vergleich zu der BRD oder den Vereinigten Staaten der Deutungsrahmen eines Bürgerkrieges wie in Amerika oder eines aufkommenden Faschismus wie in Westdeutschland, anderer32 Klaus Weinhauer, Jörg Requate: Einleitung: Die Herausforderung des „Linksterrorismus“, in: Klaus Weinhauer u. a. (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik, S. 9-32, hier: S. 11f. 33 John Wiener: Conspiracy in the streets. The Extraordinary Trial of the Chicago Eight, New York, London 2006, S. 14-21. 34 Vgl. der so genannte „Terreurbrief“: Brief van de Minister-President, in: Rijksbegroting voor het dienstjaar 1973. Hoofdstuk IV – Justitie, Ministerium für Allgemeine Angelegenheiten, 12.000, Nr. 11; Alex Schmid: Countering terrorism in the Netherlands, in: Alex Schmid, Ronald Crelinsten (Hg.): Western Responses to Terrorism, London 1993, S. 8083; Coen van Harten: Antiterreurbestrijding in Nederland een papierentijger, in: Elseviers Magazine (1977), Nr. 40, S. 24. 45

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seits gab es, anders als in den USA oder der BRD, bereits erprobte Strukturen zur Integration von Minderheiten. Erst nach der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen 1972 in München entwickelte die niederländische Regierung eine Strategie zur Terrorismusbekämpfung. Ziel war dabei, die offene Gesellschaft nicht zu gefährden und die Stigmatisierung des „Terrorismus“ zu vermeiden, solange es keine bewusst herbeigeführten Todesopfer gab. Im Mittelpunkt stand die gesellschaftliche Reintegration der protest- und gewaltbereiten Minderheiten.35 Einige Mitglieder der Rode Jeugd, die zwischen 1974-1976 aus dem gewalttätigen Aktivismus ausscheiden wollten, fanden Unterschlupf in der kleinen, 1957 gegründeten Pazifistischen Sozialen Partei (PSP) oder engagierten sich in der Kommunalpolitik.36 Für die südmolukkischen Jugendlichen dauerte es bis 1978, bis sie neue Möglichkeiten fanden, ihren territorialen Unabhängigkeitskampf in Sozial-, Jugend- und Empowerment-Arbeit zu transformieren.37

2. Mesoebene Hier geht es darum zu erklären, wie sich auf dem Boden von (subjektiven) politischen Unrechtsvorstellungen innerhalb breiter Protestbewegungen radikale Gruppen ausdifferenzierten. Welche externen Organisationsdynamiken förderten die Entstehung solcher radikalen Gruppen und wie fanden sie in den sozialen Herkunftsbewegungen die Ressourcen und Motivationen für politische Gewalt? Und welche interne Dynamiken spielten eine Rolle, sobald diese Gruppen erste Aktionen ausführten, Mitglieder in den Untergrund abtauchen ließen und sich logistisch, personal und finanziell auf den Beinen halten mussten?

2 . 1 E x t e r n e O r g a n i s a t i o n s d yn a m i k e n Unter externen Organisationsdynamiken werden Faktoren verstanden, die die Dynamik von terroristischen Gruppen von außen beeinflussen. Dazu werden spezifische Ressourcen oder Bedingungen gerechnet, die 35 Paul Abels: „Je wilt niet geloven dat zoiets in Nederland kan!“, in: Beatrice de Graaf, Isabelle Duyvesteyn (Hg.): Terroristen en hun bestrijders, vroeger en nu, Amsterdam 2006, S. 121-128; vgl. auch der so genannte „Terreurbrief“. 36 Vgl. NRC Handelsblad, 17.11.1978; De Volkskrant, 1.2.1994. 37 Henk Smeets, Fridus Steijlen: In Nederland gebleven. De geschiedenis van de Molukkers 1951-2006, Amsterdam 2006, S. 241-280. 46

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zur Entstehung und Konsolidierung einer gewalttätigen Gruppe innerhalb größerer sozialer Bewegungen beitragen, beispielsweise ideologisch untermauerte Forderungen nach radikalen Veränderungen oder die Anwesenheit gewaltbereiter Subkulturen.38 Im Falle der RAF und der Bewegung 2. Juni konnten ihre Mitglieder Bezug nehmen auf radikale Texte aus der Studentenbewegung sowie auf Jugendgruppen in Berlin und Frankfurt, für die Drogenmissbrauch, Kleinkriminalität und (noch spontane und ungeplante) gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei bereits gang und gäbe waren.39 Schon früh war für diese Subkulturen Gewalt ein zusammenbindender und identitätsstiftender Faktor. Als die terroristischen Gruppen aber anfingen, gezielt mit gewalttätigen Strategien zu experimentieren und sich mehr und mehr radikalisierten, isolierten sie sich zunehmend von dem Umfeld, mit dem sie vorher Sprache, Argumente und Weltbilder geteilt hatten. Gefangen in ihrer eigenen Konstruktion der Wirklichkeit und ihrem Selbstverständnis als militärische Opposition zum Staat, verloren sie die letzten Bezüge zur Realität der Außenwelt. Von diesem Moment an dominierten vor allem die internen Organisationsdynamiken.40 Auch in der Illegalität gab es jedoch noch Formen externer Beeinflussung. Diese gingen jedoch nicht von den radikalen Gruppen aus, sondern von den Sicherheitsdiensten der beiden deutschen Republiken. So hat das Ministerium für Staatssicherheit der DDR die zweite und dritte Generation der RAF in einem gewissen Maße unterstützt – beispielsweise mit Waffenübungen, unbehinderten Ein- und Ausreisen sowie schließlich Asylangeboten, um den westdeutschen Sicherheitsbehörden zu entgehen. Im Gegenzug nahm das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) den RAF-Mitgliedern das Versprechen ab, nicht auf dem Territorium der DDR zu operieren.41 Gleichzeitig versuchten auf der anderen Seite der Mauer der Verfassungsschutz und die Landeskriminalämter Kontaktpersonen in die RAF zu schleusen. Das bekannteste Beispiel ist der V-Mann Peter Urbach, der vom Berliner Landeskriminalamt beauftragt wurde, die Terroristen zu Waffen- und Sprengstofflieferungen zu animieren, um ihre Verhaftung zu beschleunigen. Urbach war somit

38 Donatella della Porta: Social Movements, S. 196. 39 Bommi Baumann: Wie alles anfing, München 1979; Tobias Wunschik: Die Bewegung 2. Juni, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF, S. 531 -561. 40 Donatella della Porta: Social Movements, S. 198. 41 Vgl. Martin Jander: Differenzen im antiimperialistischen Kampf. Zu den Verbindungen des Ministeriums für Staatssicherheit mit der RAF und dem bundesdeutschen Linksterrorismus, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF, S. 696-713. 47

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nicht nur als verdeckter Ermittler, sondern als regelrechter agent provocateur aktiv.42 In den USA war die Niederlage der gewaltbereiten Studenten der SDS in Chicago 1968 während des demokratischen Parteitages Auslöser für die Aufsplitterung der SDS angesichts der Gewaltfrage. Die SDSWortführerin Bernardine Dohrn avancierte zur meistgesuchten Terroristin der USA, als sie 1969/1970 zur Gründung einer militanten Struktur aufrief, die Weather Underground Organization, die jedoch, anders als die RAF, die Schwelle zur Gewalt gegen Personen nicht überschreiten wollte. Während die BBP als schwarze Bewegung offen auf den Straßen und in den Ghettos operierte, tauchten die WUO-Mitglieder unter, um ihre Attentate gezielt vorzubereiten.43 Effiziente Sicherheitsmaßnahmen der Weathermen verhinderten eine Unterwanderung ihrer Organisation durch das FBI und es gelang ihnen über lange Zeit unentdeckt in der Illegalität zu leben. Nur Kathy Boudin und David Gilbert wurden 1981 bei einem missglückten Banküberfall verhaftet. Dohrn und ihr Partner Bill Ayers stellten sich 1980 selber den Behörden.44 Die ständige Verfolgungsjagd mit dem FBI machte es allerdings für die WUO fast unmöglich, sich in der breiteren Studentenbewegung Rückhalt zu verschaffen. Die BBP waren aufgrund ihrer Größe und ihrer Sichtbarkeit weit einfacher durch das FBI zu unterwandern, das ein breites Spektrum an Zersetzungsmethoden entwickelte, die maßgeblich zur Lähmung und Desintegration der Organisation beitrugen.45 Hierzu zählten u. a. wiederholte Steuerprüfungen der Finanzämter, willkürliche Hausdurchsuchungen sowie die berüchtigte Strategie des snitch-jacketing, bei dem gezielt Gerüchte verbreitet und Mitglieder als Informanten dargestellt werden. 42 Vgl. Butz Peters: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, S. 172-173. 43 Zur Geschichte der WUO vgl. Dan Berger: Outlaws of America. The Weather Underground and the politics of solidarity, Oakland CF, Edinburgh 2006; Jeremy Varon: Bringing the war home. The Weather Underground, the Red Army Faction, and revolutionary violence in the Sixties and Seventies, Berkeley, Los Angeles, London 2004; Bill Ayers: Fugitive days. A memoir, Boston 2001; Jonathan Raskin (Hg.): The weather eye. Communiques from the Weather Underground, May 1970 – May 1974, New York 1974. 44 Interview der Verfasserin mit WUO-Gründerin Bernardine Dohrn am 8.9.2007 in New York. 45 David Cunningham: There’s something happening here. The New Left, the Klan, and FBI counterintelligence, Berkeley, Los Angeles, London 2005; Gary T. Marx: Thoughts on a Neglected Category of social Movement Participant: The Agent Provocateur and the Informant, in: The American Journal of Sociology (1974), Jg. 80, Nr. 2, S. 402-442. 48

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Deren erfolgreicher Einsatz führte in einigen Fällen sogar zu Liquidierungen innerhalb der BBP, deren Führer von eingeschleusten V-Männern gegeneinander ausgespielt wurden. In den Niederlanden entstand die sozialrevolutionäre Rode Jeugd 1967 als Initiative der Amsterdamer Maoisten Joost van Steenis und Willem Oskam, die versuchten, die demonstrierenden Studenten in der Lehre des Marxismus-Leninismus zu unterrichten, da diese aus ihrer Sicht zu stark von den spielerisch-anarchistischen Protestmethoden der so genannten Provo’s beeinflusst waren.46 Innerhalb der Studentenbewegung machten die Rode-Jeugd-Aktivisten auf sich aufmerksam durch Angriffe gegen Polizisten und ein offensives, mit Knüppeln und Stöcken bewaffnetes Auftreten. Die Gründer und meisten Mitglieder kamen nicht aus studentischen Zirkeln, sondern waren Arbeiter. Einen entscheidenden externen Anstoß zu einer organisierten Form des Widerstandes gab 1970 die Gründung und das medienwirksame Auftreten der RAF, das man kopieren wollte – allerdings wie die Weathermen ohne das Ziel Menschen umzubringen.47 Der Verfassungsschutz und die Polizei waren den Attentätern allerdings schon bald auf den Fersen, da sie sich in ihren Zeitschriften und ihrem Umfeld zu offen über ihre Aktivitäten geäußert hatten. Recht bald hatte man das ganze Netzwerk mit Informanten durchlöchert und am 14. März 1974 (dem Geburtstag von Karl Marx) wurde die Gruppe aufgelöst.48 Der externe Verfolgungsdruck war zu groß geworden, die internen Disziplinierungsmaßnahmen zu schwach.49 Es gab zwar noch zwei Nachfolgeorganisationen, aber diese konzentrierten sich vor allem auf die Unterstützung der inhaftierten RAF-Mitglieder.50

2 . 2 I n t e r n e O r g a n i s a t i o n s d yn a m i k e n Als Geburtsstunde der RAF gilt der 14. Mai 1970, der Tag der Befreiung von Andreas Baader durch Ulrike Meinhof, Irene Goergens, Ingrid Schubert und zwei nie identifizierte Mittäter. Nach ihrem Sprung in die Illegalität dominierten die internen Organisationsdynamiken der Gruppe. 46 Vgl. L.L.L.: Rode Jeugd 1966/1970 – 1970/1973, Voorwaarts, 15. November 1973; Willem Oskam: De beweging en de stilstand, Rode Jeugd – Marxistisch-Leninistisch Jongerenblad (Januar 1967), Jg. 1, Nr. 6. 47 Vgl. Frans Dekkers, Daan Dijksman: ’n Hollandse stadguerilla. 48 Vgl. ebd., S. 68-69. 49 Boudewijn Chorus: Gesprek met Luciën van Hoesel. Bomaanslagen, de BVD, de Hoge Raad, en de Schevenings gijzeling, HP, 30.11.1974. 50 Vgl. Jacco Pekelder: Sympathie voor de RAF, Amsterdam 2007; vgl. auch Pekelders Aufsatz in diesem Band. 49

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Die Notwendigkeit eine Logistik aufzubauen und den Verfolgern zu entkommen, isolierte die Gruppe zunehmend von ihren ehemaligen Anhängern und Sympathisanten. An diesem Punkt setzten die Gesetze an, die Unterstützung, Konspiration, logistische Hilfe u. a. unter Strafe stellten. Durch gezielte Maßnahmen, die es dem Bundeskriminalamt ermöglichten, Daten von Wohnungs- und Autovermietungen zentral zu erfassen, konnten Stützpunkte entdeckt, Unterstützer verhaftet und der Gruppe damit eine wichtige Existenzgrundlage entzogen werden. Der Aufbau der Logistik blieb somit der schwache Punkt der sozialrevolutionären Terroristen. Allerdings war es nicht die Logistik, die nach 1972 für die Sicherung der Existenz der RAF zentrale Bedeutung hatte, sondern die Rekrutierung neuer Mitglieder. Über die Thematisierung der Haftbedingungen der ersten Generation RAF-Mitglieder gelang es den Sympathisanten eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit zu entfalten, die darauf abzielte, Mitleid zu erwecken. Die Motive zur Mitarbeit lagen für viele Neuankömmlinge daher weniger im antiimperialistischen Kampf als in der Rettung der Gefangenen vor der Staatsmacht. Auf diese Weise konnte die RAF ihre schwach ausgeprägten internen Organisationsdynamiken lange Zeit kompensieren.51 Ähnliche Probleme mit einer unzureichenden Logistik hatte auch die Weather Underground Organization, die gezwungen war, ihre ganzen Ressourcen zum Überleben einzusetzen und daher nach 1971 auch nicht mehr in der Lage war, spektakuläre Anschläge zu verüben. Gleichzeitig wurden Rekrutierung und Mobilisierung erheblich erschwert durch das massive Aufgebot an Sicherheitskräften in allen Teilstaaten, wo die WUO operierte. Den deutlichsten Verlust an Sympathie und Unterstützung erlitten sie jedoch am Ende des Vietnamkrieges im April 1975 sowie durch erbitterte interne Auseinandersetzungen.52 Im Vergleich zu der WUO war die BBP erfolgreicher in der Mobilmachung von Unterstützung und Sympathie; über Häftlingskampagnen riefen sie zu weltweiten erfolgreichen Solidarisierungsaktionen auf. George Jackson und Angela Davis entwickelten sich zu Ikonen der Black-Power-Bewegung und war der lebendige (später im Falle Jacksons sogar tote) Beweis für die Existenz eines prison-industrial-complex in den USA. Dabei wurde gegen die schwarzen Aktivisten aber weit heftiger vorgegangen als gegen die weißen WUO-Mitglieder – manchmal sogar mit tödlichen Folgen. Die vier- oder fünfstelligen Kautionssummen für die (willkürlich) Verhafteten sprengten außerdem die finanziel-

51 Tobias Wunschik: Die zweite Generation der RAF, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF, S. 472-488. 52 Berger: Outlaws of America, S. 225-244. 50

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len Möglichkeiten der Gruppe und führten bald zu einer Erschöpfung ihrer Ressourcen, und in einigen Fällen sogar zu einer Emigration der Anführer (Eldridge und Kathleen Cleaver) nach Algerien.53 In den Niederlanden gingen weder die Aktivisten der Rode Jeugd noch die südmolukkischen Jugendlichen in den Untergrund. Die Mitglieder der Rode Jeugd versuchten so lange wie möglich tagsüber ihrer normalen Beschäftigungen nachzugehen. Da es bei ihren Aktionen niemals Todesopfer oder Schwerverletzte gab, waren die gegen sie verhängten Strafen auch nicht hoch genug, um abzutauchen – was aber auch auf die WUO-Aktivisten zutraf, die dennoch den Weg in die Illegalität wählten. Die anfängliche Offenheit, mit der sie über ihre Aktionen innerhalb der Szene und in ihren eigenen Zeitschriften berichteten, einige amateurhafte Fehler (wie das Aufbewahren von Flugblättern und Sprengstoff unter dem Bett eines ihrer Anführer, Luciën von Hoesel, in Eindhoven) sowie der niedrige Organisationsgrad und die lose Zusammensetzung des Netzwerkes unterschieden sich deutlich von der RAF. Der niederländische Verfassungsschutz hatte die Gruppe schon bald unterwandert und war über fast alle Operationen nach 1972 im Vorfeld informiert. Das Netzwerk der Rode Jeugd wurde daher mithilfe von Störaktionen (d. h. leichten Formen der Zersetzung wie demonstrative Überwachung, Besuche bei Eltern und Arbeitgebern, Schüren von Gerüchten) daran gehindert, sich vielleicht doch noch zu einer schlagkräftigen Untergrundgruppe zu entwickeln.54 Den südmolukkischen Radikalen gelang es hingegen sehr wohl, die Vorbereitungen ihrer Aktionen vor den Sicherheitsbehörden geheim zu halten. Diese wurden nicht von einigen terroristischen Anführern geplant, sondern als Ad-hoc-Reaktionen auf empfundenes Unrecht spontan und dezentral von jeweils verschiedenen Freundescliquen ausgeführt.55 Da sich die radikalen Jugendlichen bereits aus Kindergartenzeiten kannten, war es für den Verfassungsschutz fast unmöglich, Agenten in die Bewegung einzuschleusen.56 Die Polizei übte einen ambivalenten Einfluss auf die internen Organisationsdynamiken der südmolukkischen Jugendlichen und der Rode 53 Vgl. Angela Davis: Angela Davis: An Autobiography, New York 1989; Beatrice de Graaf: Angela Davis. Internationaal icoon van het antiamerikanisme, in: Historisch Nieuwsblad, Jg. 16, 9/2007, S. 26-33. 54 Vgl. N.N.: IV - De illegale organisatie; und N.N.: V - Enige opmerkingen over de legale organisatie, in: Voorwaarts, 15.11.1973; Dick Engelen: Frontdienst, Amsterdam 2007; Frits Hoekstra: In dienst van de BVD. 55 Rijkspolitie Assen, Verhoor van verdachte M.J Patty, 19.8.1977, Assen. HDA, AA, doos 161. 56 Vgl. Dick Engelen: Frontdienst, S. 179-188; Siem Eikelenboom: Niet bang om te sterven, S. 122-140. 51

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Jeugd aus. Ihr unkoordiniertes, manchmal äußerst gewaltsames Eingreifen gegen Demonstrationen und Treffen von Molukkern und Aktivisten der Rode Jeugd heizte die Gemüter auf und lieferte Stoff für Solidarisierungs- und Mobilisierungsaktionen, wobei das eigentliche Ziel dieser Aktionen – Aufspüren von Waffen, Sprengstoff und sonstigen Beweismitteln – im Fall der Südmolukker nur selten erreicht wurde. Bezogen auf die Rode Jeugd waren solche Kontrollen erfolgreicher und gehörten mit zur vorbeugenden Strategie der Störaktionen, die die Polizei über mit Staatsanwaltschaft und die Bijzondere Zaken Centrale, PolizeiAufklärungseinheit, zusammen mit dem Verfassungsschutz initiierte. Nachdem die Rode Hulp, „Rote Hilfe“, die als Nachfolgeorganisation der Rode Jeugd im Juli 1974 das Auto des Eindhovener Polizeikommandanten in die Luft gesprengt hatte, kamen Mitarbeiter des BVD und der regionalen Polizei-Aufklärungseinheiten wöchentlich zusammen, um Informationen auszutauschen und Aktionen abzustimmen, mit denen es ihnen tatsächlich gelang, die interne Gruppendynamik zu zerstören und Mitglieder gegeneinander aufzubringen.57

3. Mikroebene Drei Faktoren erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Person an den gewalttätigen sozialrevolutionären Bewegungen der 1970er Jahren beteiligte. Hierzu zählt erstens die Zugehörigkeit zum Umfeld dieser Gruppen wie der Hippie-, Molukker-, Arbeiter- oder Studentenszene. Der Umschlag von einem legalen in einen gewaltbereiten Aktivismus konnte rasch vollzogen werden, wenn Freunde oder andere Peergruppen den Weg in diese Richtung einschlugen. So zogen zum Beispiel die südmolukkischen Jugendlichen Freunde wie Familienangehörige mit in die Gewaltspirale hinein.58 Ein zweiter Aspekt ist die persönliche Erfahrung mit Gewalt, sei es während einer Demonstration, in der Haft, durch polizeiliche Übergriffe oder indirekt durch verhaftete Familienmitglieder und Freunde, da hierdurch die Bereitschaft selber Gewalt auszuüben, erhöht wird. Auch ein Klima spontaner und kollektiver Gewalt, wie es die

57 Vgl. ebd., S. 190-196. 58 Diese Feststellung geht aus eigenen Forschungen in Gerichts- und Polizeiarchiven in den Niederlanden hervor. Eine Publikation hierzu ist in Vorbereitung. Für die These einer „Gruppenabhängigkeit als Risiko“ vgl. für die BRD Lieselotte Süllwold: Stationen in der Entwicklung von Terroristen. Psychologische Aspekte biographischer Daten, in: Herbert Jäger, Gerhard Schmidtchen, Lieselotte Süllwold: Lebenslaufanalysen. Analysen zum Terrorismus 2, Opladen 1981, S. 79-116. 52

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Südmolukker in ihren Wohnvierteln und in ihren Familien durch ihre Väter, ehemalige Militärs der niederländischen Kolonialarmee, gewohnt waren, senkte die Hemmschwelle der Aktivisten, gezielte Übergriffe zu planen. Ähnliches galt für die Anhänger der Black-Power-Bewegung und der Bewegung 2. Juni. Darüber hinaus beeinflussten diese Erfahrungen ebenso wie die Solidarität mit den verhafteten oder verprügelten Kameraden auch das Bewusstsein der Beteiligten. Alle Informationen wurden durch den von der Gruppe vorgegebenen Deutungsrahmen der Staatsgewalt als Unrecht gefiltert – was eine entscheidende Einengung der Außenweltwahrnehmung nach sich zog. Solche psychologischen Mechanismen waren bei fast allen Mitgliedern im bewaffneten Kampf festzustellen.59 In der Bundesrepublik versuchte die Justiz der erhöhten Gewaltbereitschaft entgegenzuwirken, indem neue Gesetze eingeführt wurden, die das Risiko einer schwereren Bestrafung für den einzelnen Straftäter erhöhte. Diese repressive Reaktion des Staates entsprach jedoch im Wahrnehmungsmuster der bereits abgetauchten Terroristen einem erneuten Unrecht, das sie als Argument in ihre Rechtfertigungsstrategie einarbeiten und für neue Werbungsversuche benutzen konnten. Erst nach langem Einwirken der Staatsanwälte und Verfassungsbeamten gelang es, das Schweigen der RAF-Mitglieder mithilfe einer informellen Kronzeugenregelung zu brechen. Bundesanwalt Joachim Lampe war der erste, der 1978 zwei RAF-Terroristen zum Reden bewegte.60 Bis auf den erwähnten „antiriot bill“ als Teil des Civil Rights Act von 1968, gab es in den Vereinigten Staaten keine neuen Gesetze. Dort wurde eher versucht, die Situation der Beteiligten durch physische, psychische oder finanzielle Repressionen zu verschärfen und Verrat und Denunziation zu belohnen. Informanten konnten auf dieser Weise um die 1 500 Dollar im Monat mit ihren Aktivitäten verdienen. Diese Vorgehensweise war, zumindest bezogen auf die BBP, auf kurze Sicht tatsächlich sehr erfolgreich. Langfristig schadete sie dem FBI jedoch erheblich, da die moralisch und rechtsstaatlich häufig äußerst fragwürdigen, wenn nicht verbrecherischen Methoden 1974-1975 in der Öffentlichkeit bekannt wurden und zu einer Beschneidung von Autonomie, Privilegien und Befugnissen der Behörde führten.61

59 Vgl. Herbert Jäger, Lorenz Böllinger: Studien zur Sozialisation von Terroristen, in: Herbert Jäger u. a.: Lebenslaufanalysen, S. 117-174, hier: S. 159. 60 Vgl. den Beitrag von Joachim Lampe in diesem Band. 61 Vgl. Frederick A.O. Schwarz: The Church Committee and a New Era of Intelligence Oversight, in: Intelligence and National Security, Jg. 22, 53

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In Bezug auf die sozialrevolutionäre Gewaltbereitschaft in den USA wirkte sich vor allem der Patriotismus, von dem die ganze Gesellschaft und auch das Ausbildungssystem stark beeinflusst war, lähmend auf das Bewusstsein der subversiven Kämpfer aus: Weder die Mitglieder der Black-Panther-Bewegung noch die Aktivisten der Weather Undeground Organization wollten als Landesverräter gelten oder einen wirklichen Umsturz herbeiführen. Jane Alpert, ein WUO-Mitglied, das bereits 1974 verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt worden war, sagte 1985: „Nie dachten wir daran, unser Land zu verraten.“62 Im Gegenteil nahmen sie die amerikanische Verfassung geradezu beim Wort: Sie beanspruchten für sich selbst und für die unterdrückten Minderheiten im Lande ein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, ein Grundsatz, der in der Verfassung als „pursuit of happiness“ festgelegt war.63 In den Niederlanden setzte die Regierung in den 1970er Jahren, ungeachtet der manchmal recht harschen Aktionen der Polizei, von Anfang an auf eine Beeinflussung eben jener kognitiven Voraussetzungen, die zu einer Radikalisierung führen konnten. Die Sicherheitsbehörden vermieden es, vereitelte Anschläge und Verhaftungen in der Öffentlichkeit breit zu treten und erschwerten damit eine Stigmatisierung der Beteiligten in der Bevölkerung. Für die südmolukkische Minderheit richtete man verschiedene Gremien zur Mitbestimmung und Einflussnahme ein und bezog das Umfeld der involvierten Jugendlichen (ihre Eltern, politische Führer sowie Geistliche) bei ihrer Verfolgung und Deradikalisierung aktiv ein.64 Was die Mitglieder der Rode Jeugd betrifft, so sprach nicht allein ihr Mangel an Disziplin und ihr Verzicht auf schwere Straftaten gegen die Konsolidierung einer Stadtguerilla nach RAF-Vorbild, sondern auch der Mangel an Feinbildern innerhalb der relativ liberalen niederländischen Gesellschaft, der die Überzeugungskraft der Aktivisten beim Versuch neue Mitglieder zu rekrutieren deutlich schwächte.

2/2007, S. 270-297; vgl. auch Joan M. Jensen: Army Surveillance in America, 1775-1980, New Haven, London 1991, S. 248-267. 62 Zitiert nach Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967-1977, Frankfurt a. M. 2004, S. 93f. 63 Bernardine Dohrn, Bill Ayers, Jeff Jones (Hg.): Sing a battle song. The revolutionary poetry, statements and communiqués of the Weather Underground, 1970-1974, New York u. a. 2006, S. 13-17. 64 Vgl. Pieter Bootsma: Molukse acties, S. 237-280. 54

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Schlussbemerkungen Der vorliegende transnationale Vergleich der Merkmale und Dynamiken politischer Gewalt und ihrer Bekämpfung versucht, historische Details in einem weit angelegten Analysemuster zu verknüpfen. Obwohl letzteres kein vorrangiges Ziel der Geschichtswissenschaft ist, kann eine solche Gegenüberstellung jedoch dazu beitragen, nationale Eigenschaften zu beschreiben und, zumindest teilweise, zu erklären. Hier ging es vor allem darum, zu untersuchen, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, damit eine terroristische Bewegung entstehen kann und inwieweit Politik und Sicherheitsbehörden darauf einwirken können. Auf der Ebene des politischen Systems ist in allen drei Fallstudien festzustellen, dass der direkte Kampf der Polizei und Geheimdienste gegen die Attentäter der Ausgangspunkt war. Auf der Meso-Ebene ist deutlich zu erkennen, dass die Sicherheitsbehörden nur dann Zugriffsmöglichkeiten auf die terroristischen Gruppen hatten, wenn sie Sympathisantentum und Unterstützung der Gruppen unter Strafe stellten und gleichzeitig versuchten, die Logistik der terroristischen Gruppen zu schwächen. Trotzdem gelang es den RAF-Anhängern in der Bundesrepublik dank der anfänglich mangelhaften Informationspolitik auf Seiten der Regierung und mithilfe einer erfolgreichen Symbolpolitik (Hungertod von Holger Meins, die neuen Strafgesetze, „Stammheim“) die juristische Repression als absolutes Unrecht darzustellen und damit neue Rekrutierungswellen von Mitgliedern und Sympathisanten auszulösen. Auch war der Verfassungsschutz nicht wirklich in der Lage die RAF auf längere Sicht zu unterwandern – Peter Urbach und Klaus Steinmetz blieben den bisherigen Erkenntnissen zufolge Ausnahmen.65 In den Vereinigten Staaten entfachten die Sicherheitsbehörden hingegen an mehreren Stellen tatsächlich einen Bürgerkrieg gegen Studenten, schwarze Aktivisten und sonstige Oppositionelle. Mehr als die strafrechtlichen Maßnahmen erwiesen sich vor allem die geheimdienstlichen und polizeilichen Repressionen von militanten Aktivisten kurzfristig als sehr erfolgreich. Zwar wurde das Unrechtsbewusstsein der Aktivisten durch die Verfolgungsjagd und die Aufhebung jeglicher demokratischen Grundrechte deutlich geschwächt, nach und nach wurde ihnen und ihren Anhängern jedoch jede Energie genommen, Symbolpolitik zu betreiben oder neue Ressourcen zu mobilisieren.66 Nur der WUO gelang es zu 65 Vgl. Butz Peters: Tödlicher Irrtum, S. 172-174, 686-687, 691-702. 66 Carolyn R. Calloway: Group Cohesiveness in the Black Panther Party, in: Journal of Black Studies (1977), Jg. 8, Nr. 1, S. 55-74; Charles E. Jones: The Political Repression of the Black Panther Party 1966-1971: The Case 55

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überleben, sogar nach dem Ende des Vietnamkrieges – allerdings um den Preis, dass sie ihre ganze Energie und Schlagkraft nach außen verlor. Langfristig stürzten die staatlichen Repressionen die Regierung Nixons und das FBI in eine schwere Legitimationskrise, was letztlich in eine Beschneidung der geheimdienstlichen Befugnisse und die internationale Diskreditierung der amerikanischen Regierung mündete. In den Niederlanden führten Razzien in den molukkischen Vierteln und so genannte „Störaktionen“ der Polizei und des Verfassungsschutzes gegen die Rode Jeugd zwar zu anfänglichen Solidaritätsbekundungen, die tatsächliche Repression wurde jedoch so gezielt eingesetzt und die Strafen fielen so milde aus, dass Aufrufe zu einer Mobilisierung wenig Überzeugungskraft besaßen. Überreaktionen von Seiten der Sicherheitsbehörde blieben aus. Zudem war der niederländische Verfassungsschutz dank des mangelhaften Sicherheitsbewusstseins der Aktivisten in der Lage Informanten in die Gruppe hineinzuschleusen und einzelne Mitglieder zu Diffamierungen und zu bewegen, was schließlich zur Lähmung der Gruppe führte. Auf der Mikroebene erwies sich eine Verschärfung der Gesetze als weniger erfolgreich als Kronzeugenregelungen, Verhandlungsangebote und Reintegrationsprogramme, die darauf abzielten, den einzelnen Terrorist aus dem Gruppenprozess zu lösen und in sein zumeist abgeschlossenes Weltbild einzubrechen. Zersetzungsmethoden wie mehrfache Verhaftungen, Störaktionen, Anstachelung von Auseinandersetzungen in der Gruppe und sonstige so genannte „active measures“ waren einer solchen Loslösung zuträglich – so lange sie Teil einer durchdachten Differenzierungsstrategie des „teile und herrsche“ waren, nicht rein willkürlich angewendet wurden und die demokratischen Grundrechte nicht nachhaltig beeinträchtigten.

of the Oakland Bay Area, in: Journal of Black Studies (1988), Jg. 18, Nr. 4, S. 415-434. 56

Vis lude ns INGRID GILCHER-HOLTEY Ausgehend von den Hippie-Protesten in den USA untersucht der Beitrag künstlerisch-spielerische Strategien des Protestes, in denen sich vis ludens und ziviler Ungehorsam vermischen. Auch wenn diese Formen des Widerstandes häufig gewalttätige Reaktionen auf Seiten der Staatsgewalt provozierten, zielten sie – anders als terroristische Anschläge – nicht auf die Zerstörung des bestehenden Systems, sondern die nachhaltige Irritation seiner inneren Logik.

I. Manhattan, 22. März 1968: Kurz vor Mitternacht strömen 6 000 Hippies zum Grand Central Terminal, dem zweistöckigen Bahnhof New Yorks, in dem Abbie Hoffman, der Begründer der Youth International Party, zur Feier des Frühlingsbeginns aufgerufen hat. Während einige Luftballons aufsteigen lassen, erklimmen andere das Dach des Informationszentrums im Bahnhofsgebäude, „Long Hot Summer“ oder „Burn, Baby, Burn“ rufend. Zwei Farbbeutel fliegen durch die Luft. Ein Banner mit der Aufschrift „Up against the wall, Motherfucker“ wird entrollt. Jemand bricht den Zeiger der Uhr am Informationsschalter ab. Wie der Vietcong, der seit der Tet-Offensive bei Tag durch Saigon patrouilliert, erobern die Hippies einen Raum und übernehmen darin, so zumindest ihre Selbstwahrnehmung, das Kommando über die Zeit. Gewaltlos spielen sie Bilder der Pariser Kommune nach, in der Arbeiter auf Uhren schossen, und lösen mit ihrer Aktion einen Polizeieinsatz aus. Ohne Vorwarnung und Aufforderung, die Frühlingsfeier in der Bahnhofshalle aufzulösen, stürzen sich New Yorker Polizisten auf die jugendlichen Nachtschwärmer und prügeln jeden, den sie ergreifen können, mit ihren Schlagstöcken nieder. Die Geschlagenen schreien der Polizei „Sieg Heil, 57

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Sieg Heil“ entgegen. Ein junger Hippie wird von zwei Polizisten mit dem Kopf durch eine Glasscheibe gestoßen, Abbie Hoffman bewusstlos geschlagen. New York erlebt, so der Anwalt der New York Civil Liberties Union, Szenen außerordentlicher Polizeibrutalität, die Entstehung eines so genannten „Polizeikrawalls“ (police riot), wie die Presse notiert.1 Die Strategie des situationistischen Spiels, die Besetzung von Räumen und die Durchbrechung von Zeitstrukturen, ist aufgegangen. Mit friedlichen Mitteln und spielerischer Gewalt – mit FarbbeutelWürfen gegen Wände und den Abbruch des Zeigers einer Uhr, mithin in beiden Fällen durch Gewalt gegen Sachen – ist es den Hippies gelungen, den staatlichen Gewaltapparat bloßzustellen oder, anders formuliert, eine Situation zu schaffen, in der dieser sich enthüllt.2 Die Ereignisse im Grand Central Terminal von New York zeigen exemplarisch das, was ich vis ludens nennen und dergestalt von den juristischen Termini vis absoluta und vis compulsiva abgrenzen möchte: eine Strategie der Konstruktion von Situationen mittels spielerischer Gewalt, die auf Veränderung von Denk-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der sozialen Welt zielt. Die soziale Revolution, so die Prämisse dieser Strategie, die in den 60er Jahren von der Situationistischen Internationale vertreten wird, kann sich nicht ohne die kulturelle vollenden.3 Die Kulturrevolution zielt auf die Veränderung der Vorstellungen von der sozialen Welt, der Sehweisen, Sicht- und Teilungskriterien der Gesellschaft. Um eine Kulturrevolution herbeizuführen, gilt es neue Kommunikationsstrukturen an die Stelle der alten zu setzen, Apathie und Passivität der Gesellschaft aufzubrechen und, worauf die Situationisten besonders insistieren, eine neue Sprache zu schaffen. Spiegelt die Sprache doch, aus ihrer Sicht, die Entfremdung des Menschen wider. „Wir leben“, wie sie konstatieren, „in der Sprache wie in verbrauchter Luft“4. Die neue Sprache, die es zu schaffen und der alten entgegenzustellen gilt, entsteht als eine „Sprache des Widerspruchs“, dialektisch in ihrer Form und in ihrem Inhalt gekennzeichnet durch einen Stil der Negation. Sie kehrt die etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen um, indem sie durch die „Entwendung“ von Begriffen deren Bedeu1 2 3 4

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Todd Gitlin: The Sixties. Years of Hope, Days of Rage, New York 1988, S. 238-239. Vgl. zu den Ereignissen Ingrid Gilcher-Holtey: 1968 – Eine Zeitreise, Frankfurt a. M. 2008. André Frankin: Plattform für eine Kulturrevolution, in: Situationistische Internationale I, S. 99f. All The King’s Men, in: Situationistische Internationale II, S. 37-42, hier: S. 37; vgl. auch Mustapha Khayati: Die gefesselten Worte. Einleitung zu einem situationistischen Wörterbuch, in: Situationistische Internationale II, S. 195-201, hier: S. 195.

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tungsgehalt verfremdet und subversiv mit neuen Ideen auflädt. „Dienstverweigerung der Worte“ oder „Flucht in ihren offenen Widerstand“ nennen die Situationisten diesen Vorgang der Entwendung und Verfremdung auch.5 Sie definieren die „Entwendung“ von Begriffen als einen „Gewaltakt“, der jede bestehende Ordnung stört.6 Das Schreiben von Texten, in denen Worte „arbeiten“, indem sie tradierte Sinn- und Bedeutungsmuster durchbrechen, wird dementsprechend von den Situationisten als eine Form der Gesellschaftskritik angesehen. „Kritzeleien auf den Mauern, in aller Eile eingeritzte Worte der Verweigerung“ in versteinerten Städten sind als Zeichen mit potentiell revolutionierender Wirkung gedacht. Paris im Mai 1968 ist übersät mit Wandparolen, die überwiegend situationistischen Ursprungs sind.7 In den USA wenden die Black Panthers die Strategie der Entwendung von Begriffen an und setzen mit der Erfindung des Graffito-Zeichens auf gegen die etablierte Ordnung der Dinge gerichtete neue Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen. Sie übernehmen, wie Herbert Marcuse konstatiert, „einige der sublimsten und sublimiertesten Begriffe der westlichen Kultur, entsublimieren sie und definieren sie neu.“8 Die Erfindung und Erprobung einer neuen Sprache erfolgt performativ. „Pour pouvoir tout dire, il faut que le dire soit immédiatement convertible en un faire, il faut du performatif, il faut être performant“, folgern sie.9 Die provokative Aktion soll die Authentizität und Transparenz der neuen Sprache steigern und dadurch die Bedingung für neue Kommunikationsformen schaffen, die auf möglichst hohe Partizipation zielen. Provokatives Handeln wird als ein kommunikativer Akt angesehen, der idealiter den Zuschauer verändert, indem er ihn nachdenklich macht, zur Stellungnahme herausfordert oder zur Einmischung, zum Eingreifen zwingt. Nicht primär wurde von den Situationisten dabei an das Eingreifen der Polizei gedacht. Eine ihrer ersten geplanten, aber nicht realisierten Aktionen war vielmehr die Besetzung des UNESCOGebäudes in Paris, um Kritik an der Bürokratisierung der Kultur sichtbar zu machen. Die Möglichkeit, durch das Eingreifen staatlicher Kontrollinstanzen die Breitenwirksamkeit des Protestes zu steigern, wurde von 5 6

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Vgl. All The King’s Men, S. 37. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 174; vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Avantgarde der Avantgarde: Guy Debord und die Situationistische Internationale, in: Dies.: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 243-261. Walter Lewino: L’imagination au pouvoir, Paris 1968 (mit Photos von Jo Shnapp). Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M. 1969, S. 58f. Vincent Kaufmann, Guy Debord: La révolution au service de la poésie, Paris 2001, S. 254. 59

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zahlreichen Akteursgruppen, die nach dem Vorbild der Situationisten agierten, jedoch schnell erkannt und in die Planung der Konstruktion von Situationen einbezogen. Wie? Dies möchte ich an den Ereignissen in Chicago 1968 verdeutlich, den Protesten anlässlich des Parteitags der Demokraten, der im August zusammentrat, um einen Kandidaten für die anstehenden Präsidentschaftswahlen zu nominieren. Die Proteste wurden vom National Mobilisation Committee to End the War in Vietnam koordiniert, einem losen Netzwerk der Teilbewegungen der amerikanischen 68er-Bewegung, der Friedensbewegung, der Studentenbewegung, der Bürgerrechtsbewegung und der Hippies. In den Aktionen in den Straßen und Parks von Chicago überlagerten und vermischten sich vis ludens und ziviler Ungehorsam. Beide trafen auf eine auf Konfrontation zielende und Konfrontation schürende Strategie der städtischen und staatlichen Kontrollinstanzen. Das Ergebnis: Eskalation von Gewalt. Mein Augenmerk gilt erneut der „Politik der Wahrnehmung“, welche die Trägergruppen der Proteste verfolgten.

II. Chicago, Mitte August 1968: 8 bis 10 000 Demonstranten sind in die Stadt am Michigan See gekommen, weniger als von den Koordinatoren erhofft. Ihnen gegenüber stehen 11 000 Polizisten, die für die Tage des Parteitages der Demokraten zu 12-Stunden-Einsätzen verpflichtet worden sind, 6 000 Nationalgardisten, 750 Soldaten der U.S. Army, ausgestattet mit Flammenwerfern, Bazookas und Bayonetten, sowie 1 000 FBI- und CIA-Beamte.10 Die Stadtverwaltung unter Leitung von Bürgermeister Richard Daley hat alle Anträge auf eine reguläre Demonstration im Umkreis des Tagungsortes der Demokratischen Partei abgelehnt und den Demonstranten noch dazu das Recht verwehrt, in den zahlreichen Parks von Chicago zu politischen Versammlungen zusammenzutreffen, sich dort niederzulassen oder gar zu übernachten. Anders als von den Koordinatoren der Protestbewegung erwartet revidiert die Stadtverwaltung ihre Entscheidung nicht in dem Moment, als die Demonstranten in der Stadt eintreffen oder der Parteitag beginnt. Bürgermeister Daley hält an seiner Politik der Intransigenz fest, wissend, dass die Regierung in Washington seinen Kurs unterstützt. Er hat sein Vorgehen mit dieser abgesprochen. Bereits am 22. August, drei Tage vor Eröffnung Partei-

10 Vgl. zu den Ereignissen in Chicago David Faber: Chicago’68, Chicago 1988; Abbie Hoffmann: On to Chicago, in: Ders.: The Best of Abbie Hoffman, New York 1989, S. 61-76. 60

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tags, ist ein 17-jähriger Junge indianischer Abstammung im Lincoln Park von einem Polizisten erschossen worden, weil er, so die Darstellung der Polizei, dem Polizisten gedroht habe, ihn zu töten. „Ich sollte sie gleich hier und jetzt töten“, erklärt wenig später einer der Polizisten, die Tom Hayden, die Symbolfigur der amerikanischen SDS, seit seinem Eintreffen in Chicago auf Schritt und Tritt überwachen. „Sie werden von einem Bundesgericht angeklagt werden und für lange Zeit verschwinden.“11 Kein Zweifel, die Zeichen stehen auf Sturm. Indes, sich von solchen Drohungen nicht unterkriegen zu lassen, vielmehr den „Polizeistaat in den Straßen von Chicago sichtbar zu machen“, setzt Hayden, offiziell mit der Koordination der Proteste gegen den Vietnamkrieg in Chicago betraut, sich und den Demonstranten zum Ziel. Er rechnet damit, dass im Fall der Konfrontation von Polizisten und Demonstranten Blut fließen kann, will aber an der gewaltlosen Form des zivilen Widerstands festhalten. Um die Polizeilinie zu durchbrechen, ohne die Polizei anzugreifen, üben die studentischen Demonstrationsordner daher den „Schlangentanz“ nach dem Vorbild der japanischen Zengakuren ein.12 Auch werden Karate-Übungen vermittelt, welche die Demonstranten in die Lage versetzten sollen, ihre Körper vor polizeilichen Übergriffen zu schützen. Es ist die Antizipation des Polizeieinsatzes, die, so Tom Hayden, die Demonstranten zusammenhält.13 Wächst mit dieser Antizipation auf der Seite der Protestbewegung die Bereitschaft von der gewaltlosen zur gewaltsamen Aktion überzugehen? Todd Gitlin, Soziologe und Mitglied der amerikanischen SDS, deutet es so. Er sieht in der Formel einer militant nonviolence, die Dave Dellinger und Rennie Davis seitens der Friedensbewegung als Richtlinie für Chicago propagierten, ebenso einen Beweis für eine Eskalation der Gewalt im Denken und Handeln der Bewegung wie in Tom Haydens Antizipation von getöteten Demonstranten im Verlauf von Straßenkämpfen mit der Polizei. Rief Tom Hayden in Chicago zur Gewalt auf? Legte er die Formel der amerikanischen SDS, vom „Protest zum Widerstand“ überzugehen, im Sinne eines Straßenkampfes mit der Polizei aus? „Resistance“ bedeutete für viele, wie Hayden in seinen Memoiren schrieb, „Streetfighting with the police until arrested“.14 Hayden selbst war, so Gitlin, ambivalent, war montags, mittwochs und freitags ein Guerillero der Nationalen Befreiungsfront und telefonierte dienstags,

11 Zitiert nach James Miller: „Democracy Is in the Streets“: From Port Huron to the Siege of Chicago, New York 1987, S. 300. 12 Tom Hayden: Reunion. A Memoir, New York 1988, S. 299. 13 Ebd., S. 302. 14 Ebd., S. 204. 61

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donnerstags und samstags mit Robert Kennedy.15 Das stimme nicht, erklärt Hayden der Historikerin 2007 in seinem Büro – auf einem Sofa unter einem großen Wahlplakat Robert Kennedys sitzend. Das seien Gitlins Sätze und Vorstellungen, er sei niemals ambivalent gewesen. Er könne mit dessen Charakterisierung gar nichts anfangen. Die Staatsanwaltschaft, die ihn für seine organisatorische Tätigkeit im Rahmen der Protestbewegung in Chicago anklagte, warf ihm vor, „conspirancy to travel interstate for the purpose of fomenting a public disturbance and involving three oder more people in ‘actual or threathened‚ violence‘“16. Drei Auszüge aus Reden, mitstenographiert von FBI-Beamten, wurden ihm zur Last gelegt: Erstens, wurde er angeklagt, gesagt zu haben, „dass die Demonstranten den Parteitag der Demokraten ins Chaos stürzen“ und er sich Krawalle in Chicago wünsche, zweitens, dazu aufgerufen zu haben, „Blut zu vergießen“ und „Regeln zu brechen“. In Wirklichkeit hatte er gesagt, dass die Demonstranten vorbereitet sein müssten, ihr Blut zu vergießen und dass die Regeln des Spiels der Politik „rigged“, d. h. zusammengebastelt seien und gebrochen werden sollten. Last but not least wurde er angeklagt, eine Rede gehalten zu haben, die vor dem Chicagoer Hilton Hotel zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten geführt habe.17 Das Gericht verurteilte ihn wegen „conspirancy“ und Aufrufs zur Gewalt. Es sah die Aussagen der FBI-Beamten als wahr und hinreichend an und hielt den Tatbestand der Verschwörung für gegeben. Eine wissenschaftliche Untersuchungskommission, eingesetzt, die Vorgänge in Chicago zu untersuchen, war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gewalt durch die Polizei, konkret durch police riot, ausgelöst worden sei.18 Gehört wurden die Experten vor Gericht jedoch nicht. Der Richter, Anteilseigner einer Firma, die von der Antikriegsbewegung kritisiert worden war, und Bewohner der Golden Coast von Chicago, der Hochhäuser mit Blick auf und über den Lincoln Park, ließ die Vernehmung der Wissenschaftler nicht zu. Gewalt ausgeübt und zu Gewalt aufgerufen zu haben, wurde Hayden zugeschrieben. Er selbst wies diese Anschuldigung vor Gericht und auch 40 Jahre nach den Ereignissen im Gespräch mit der Zeithistorikerin ent-

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Todd Gitlin: The Sixties, S. 322. Tom Hayden: Reunion, S. 343. Ebd., S. 345. Daniel Walker: Rights in conflict; the violent confrontation of demonstrators and police in the parks and streets of Chicago during the week of the Democratic National Convention of 1968. A report submitted by Daniel Walker, director of the Chicago Study Team, to the National Commission on the Causes and Prevention of Violence, New York 1968.

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schieden zurück. Er habe niemals für gewaltsame Aktionen plädiert. Und Gitlins auf Hayden reagierende Formel „When you’re going to Chicago, be sure to wear some armor in you hair“, fragt sie nach. „Alles Phrasen, Rhetorik, Metaphern“, so Hayden. Die Radikalisierung der Sprache, die sich am Beispiel der Texte Haydens von 1967 und 1968 zeigen lässt, reicht bis in die Spalten der New York Review of Books hinein, die sogar eine Zeichnung zur Herstellung eines Molotowcocktails als Titelblatt druckte. Es ist, so Hannah Arendt, ein Charakteristikum der linken Intelligenz der 60er Jahre. Nicht theoretische Überlegungen sieht sie als Grund für diesen Trend an. Das Pathos der Gewalt der Neuen Linken hänge vielmehr, so ihre Argumentation, zusammen mit Erfahrungen. Es hänge, erstens, aufs Engste zusammen mit der selbstmörderischen Entwicklung der modernen Waffen, sei, zweitens, mit der von den Vätern ererbten Erfahrung des Verbrecherstaates verknüpft, des Einbruchs der Kriminalität in die Politik, des Wissens über Konzentrationsund Vernichtungslager, Völkermord und Folter, und sei, drittens, im Zusammenhang mit dem Kampf der Bürgerrechtsbewegung zu sehen, der gewaltlos begonnen, sich sodann aber radikalisiert habe. Dave Dellingers Aussage vor Gericht bestätigt Arendts Hypothese. Er erklärte, dass die Demonstranten keine „good Germans“19 hätten sein wollen. Hayden erklärt im Gespräch, seine einschneidende Erfahrung sei der Kampf der Bürgerrechtsbewegung gewesen, den er als Sozialarbeiter im Ghetto von Newark 1964 bis 1968 hautnah verfolgt habe. Robert Kennedy suchte, von Haydens Arbeit in Newark wissend, den Kontakt zu ihm. Die New York Review of Books forderte ihn auf, Artikel über Newark zu schreiben und die Gewalt in den Ghettos zu erklären. Er kam dieser Aufforderung nach und verhehlte seine Sympathie für die aufbegehrenden Schwarzen nicht. Kann aus seiner Solidarität mit der afroamerikanischen Studentenorganisation SNCC geschlossen werden, dass auch er sich einsetzte für die gewaltsame Austragung von Konflikten? Hayden verneint dies im Interview mit Entschiedenheit. Gewalt sei, sähe man von den Black Panthers ab, so urteilt auch Hannah Arendt in „Macht und Gewalt“, eine theoretische Angelegenheit und eine Sache des rhetorischen Stils geblieben.20 Indes, der rhetorische Stil eckte an, erzeugte Unsicherheit, verwirrte. So kündigte Abbie Hoffman der Presse an, LSD in die Wasserleitungen von Chicago zu geben, und löste mit seiner surrealen Drohung nicht nur Schlagzeilen in der Presse aus, sondern auch eine von Bürgermeister Daley angeordnete Rund-um-die-Uhr-Bewachung der Wasser19 Zitiert nach Tom Hayden: Reunion, S. 402. 20 Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 2007, S. 21. 63

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versorgung der Stadt. Als Hoffman wenig später erklärte, für 100 000 Dollar bereit zu sein, die LSD-Idee aufzugeben und Chicago zu verlassen, lautete die Schlagzeile „Yippies Demand Cash From City“. Der spielerische Umgang Hoffmans mit Wirklichkeit und Wahrheit provozierte repressive Reaktionen. Doch er setzte Spiel und Spott fort, um Institutionen zu kritisieren und Autoritäten in Frage zu stellen. Er forderte die Hippies auf, sich in den Parks von Chicago zu lieben, nackt auf dem Michigan See zu segeln und nach Möglichkeit während des Parteitags die Frau oder Tochter eines demokratischen Abgeordneten zu verführen. Er ließ einen Eber, „Pigasus, der Unsterbliche“ genannt, in die Stadt bringen und, ausgehend von der Vorstellung, dass korrupte Politiker im Theater als Schweine dargestellt werden, theatralisch durch die Straßen von Chicago treiben und zum Präsidenten küren: eine performative Kritik des amerikanischen Parteiensystems. Autorität, so Hannah Arendt in „Macht und Gewalt“, wird am ehesten durch Lachen zu Fall gebracht. Hoffman zog diesbezüglich noch vor Gericht buchstäblich alle Register. Hayden stand ihm wenig nach. Auf die Frage des Komitees für unamerikanische Aktivitäten „Mr. Hayden, is it your present aim to seek the destruction of the present American democratic system?“ gab er zu Protokoll „That’s a joke“ und auf die insistierende Nachfrage „I am asking you“ zur Antwort: „Well, I don’t believe the present American democratic system exists [...]. I believe you have destroyed the American democratic system by the existence of a committee of this kind“21. Durch Negation bestehender Institutionen stellten Hayden als Repräsentant der SDS und Hoffman als Sprecher der Hippies die Glaubwürdigkeit und Gültigkeit der von den demokratischen Institutionen repräsentierten Werte in Frage und setzten durch ihre Dekonstruktion der Institutionen Erwartungen und Vorstellungen frei, Demokratie und Politik anders definieren und anders zu gestalten zu können. Beide glaubten, dass in der Auseinandersetzung mit repressiven Strukturen Lernprozesse angestoßen werden, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Einstellungen sich verändern konnten. „Neue Sensibilität“ nannte Marcuse das, was durch die Negation des Establishments, seiner Moral und Kultur freigesetzt wurde und die Weigerung zugleich produzierte. Und er konstatierte 1969: „Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen; sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen Art des Wahrnehmens“22.

21 Zitiert nach James Miller: Democracy is in the Streets. From Port Huron to the Siege of Chicago, New York 1987, S. 306. 22 Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, S. 61. 64

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III. Führt die auf Veränderung der Wahrnehmung gerichtete Strategie der Konstruktion von Situationen und der begrenzten Regelverletzung zum Terrorismus? Terrorismus ist ein politischer Kampfbegriff, der bis heute nicht einheitlich definiert worden ist. Konkurrierende Terrorismusdefinitionen stehen neben- und gegeneinander. Der amerikanische Soziologe Alex P. Schmid macht 109 Definitionen aus.23 Zwei Terrorismus Definitionen seien – bruchstückhaft – nachfolgend genannt: 1. Die Definition des UN-Sicherheitsrates charakterisiert Terrorismus als „kriminelle Handlungen, solche gegen Zivilisten eingeschlossen, begangen in der Absicht, Tod, schwere Körperverletzung oder Geiselnahme herbeizuführen mit dem Ziel, einen Zustand des Terrors in der Öffentlichkeit oder einer Personengruppe oder einzelner Personen hervorzurufen, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder internationale Organisation zu zwingen, bestimmte Handlungen zu tun oder zu unterlassen“24.

Bezogen auf diese Definition sei gesagt, dass die Strategie der Konstruktion von Situationen, wie am amerikanischen Beispiel skizziert, symbolische Gewalt blieb, insofern sie gegen das „Gefängnis der Sprache“ aufbegehrte. Sie schloss Gewalt gegen Sachen ein, niemals jedoch Gewalt gegen Personen. Noch in der Dynamik von Aktion und Reaktion, die in der Auseinandersetzung mit der Polizei entstand, wurde keine Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt, um staatliche Instanzen oder die Bevölkerung einzuschüchtern. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zuschauer, die Öffentlichkeit sollten aktiviert, zum Denken, Handeln und Eingreifen motiviert werden. Nicht Schrecken und damit Lähmung wollte man erzeugen, sondern Aktivität, Selbstaufklärung, Partizipation an politischen Vorgängen und Entscheidungen. 2. Die Definition Peter Waldmanns beschreibt Terrorismus als „planmäßig vorbereitete schockierende Gewaltschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund“ und argumentiert, die Strategie des Terrorismus konzentriere sich primär auf symbolische, d. h. Erzeugung eines psychischen Effekts (vor allem Angst und Schrecken, daneben auch Schadenfreude und Sympathie) auslösende Gewalt. Bezug neh23 Alex P. Schmid u. a.: Political Terrorism. A New Guide to Actors, Authors, Concepts, Data Bases, Theories and Literature, New Brunswick 1988, S. 5f. 24 United Nations Security Council Resolution 1566 (2004). 65

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mend auf diese Definition sei bemerkt: Wenn man die Dimension einer auf psychische Effekte zielenden Gewalt zum entscheidenden Kriterium des Terrorismus macht, gibt es einen gemeinsamen Bezugspunkt zwischen der Avantgardestrategie und dem Terrorismus, doch sind die psychischen Effekte nicht gleichzusetzen, hinsichtlich derer sich die „spielerische“ Strategie deutlich von der „terroristischen“ abhebt. Auch arbeitet erstere nicht planmäßig aus dem Untergrund mit schockierenden Gewaltschlägen. Erst die Weathermen, die innerhalb der amerikanischen SDS entstanden und 1969 mit Aktionen hervortraten, operierten aus dem Untergrund. Sie nahmen als erste Aktion die Sprengung eines Polizeidenkmals am Haymarket in Chicago (6. Oktober 1969) vor. Gewalt gegen Sachen, nicht Personen hieß ihre Devise. Hayden wurde von ihnen umworben. Verurteilt zu zehn Jahren Haft und nicht wissend, wie das Revisionsverfahren enden würde, entschied er sich gegen den Anschluss an die Weathermen. Die Port-Huron-Seite in ihm, erklärte er später, verhinderte dies.25 Die Leitideen der New Left „participatory democracy“ und „Selbstorganisation“ waren für ihn unvereinbar mit dem gewaltsamen Aktionismus der Weathermen-Fraktion. Er widerstand jedoch nicht nur der Versuchung der Weathermen, sondern auch derjenigen der staatlichen Kontrollinstanzen, ihn durch Kriminalisierung und harscher, rechtstaatlichen Regeln nicht entsprechender gerichtlicher Sanktionierung zu radikalisieren und einen Ausweg in gewaltsamen Aktionen suchen zu lassen. Nonviolence ist, wie Mark Kurlansky in seinem neuesten Buch konstatiert, eine gefährliche Idee und subversive Strategie, wenn sie durchgehalten wird und das heißt auch auf Repression und Gewalt staatlicher Instanzen nicht mit Gewalt reagiert.26 Das gilt auch für vis ludens. Die Wirkungen der vis ludens sind langfristige. Sie zeigen sich nicht unmittelbar, sondern veranlassen, das System, die Institutionen, die Gesellschaft mittelbar auf sie zu reagieren. Diese Wirkungen von vis ludens in Konstellationsanalysen zu studieren, sehe ich als eine der Herausforderungen und Aufgaben der Zeitgeschichte an.

25 Tom Hayden: Reunion, S. 421-422. 26 Mark Kurlansky: Nonviolence: 25 Lessons from the History of a Dangerous Idea, New York 2007. 66

Me nsc h oder Sc hw ein? And reas Ba a der, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin auf Besuch in Hamburg und Paris NICOLE COLIN Das Interesse, das Thema RAF auf der Bühne zu verhandeln, ist nach wie vor groß – nicht allein in Deutschland, sondern auch im benachbarten Ausland. Der Beitrag vergleicht das mehrfach ausgezeichnete Theaterstück „Ulrike Maria Stuart“ von Elfriede Jelinek in der Inszenierung von Nikolas Stemann mit „La décennie rouge. Mensch oder Schwein“ des bekannten französischen Dramatikers Michel Deutsch. Obwohl Jelinek und Deutsch der gleichen Generation angehören und dem gleichen politischen Lager entstammen, bieten sie zwei sehr unterschiedlich Interpretationen des Phänomens an. Die Gegenüberstellung der beiden Uraufführungsinszenierungen macht deutlich, dass die literarische Bearbeitung des Themas nicht nur die historischen Ereignisse interpretiert, sondern auch ihre Rezeption spiegelt.

In seinem Rückblick auf die Theatersaison 1977 konstatiert der französische Kritiker Bernard Dort, weltweit ähnele sich das Theater vor allem in einem Punkt: seiner Mittelmäßigkeit. Die Krankheit sitzt seiner Meinung nach tief: Die Verbindung zwischen Gesellschaft und Theater, so Dort, ist grundsätzlich gestört.1 Szenenwechsel nach Deutschland: Auch das Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute gibt einen Überblick über die Saison 1976/77. Gefeiert wird die Uraufführung von Botho Strauß’ „Tri1

„L’année théâtrale 1977 n’a fait l’unanimité que sur un point: sa médiocrité. Celle-ci tient sans doute, pour l’Occident, à la crise économique et, pour les pays de l’Est, au regel idéologique. Mais le malaise est encore plus profond. Entre nos sociétés et leur théâtre, le courant passe mal“ (Bernard Dort: 1977. „Être ou ne pas Être“, in: Ders.: Théâtre en jeu. Essais de Critique 1970-1979, Paris 1979. 316-323, hier: S. 316). 67

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logie des Wiedersehens“ als die Inszenierung des Jahres – ebenso wie das Theater, an dem diese Uraufführung stattfand, das Staatsschauspiel Stuttgart, und dessen Schauspieldirektor: Claus Peymann. Im Mittelpunkt steht jedoch ein anderes, politisch brisantes Thema: die zunehmende Selbstzensur an deutschen Theatern. Wie Peter von Becker berichtet, hatte das Theater in Saarbrücken infolge des Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback das Camus-Stück „Die Gerechten“ aus „aktuellem Anlass“ abgesetzt bzw. „verschoben“. Ebenfalls abgesagt wurde Peymanns Projekt, die Theaterversion von Ulrike Meinhofs Dokumentarfilm „Bambule“ auf die Bühne zu bringen2 – der Generalintendant des Stuttgarter Theaters Hans Peter Doll befand, dass „eine sachliche und kritische Auseinandersetzung mit dem Stückinhalt […] derzeit nicht möglich“ sei.3 Im Novemberheft von Theater heute wird das Thema „Selbstzensur“ von Peter von Becker abermals aufgegriffen – diesmal an prominenter Stelle im Leitartikel. Die Bühnen in Aachen und Oldenburg waren dem Vorbild des Theaters in Saarbrücken gefolgt und hatten das Camus-Stück ebenfalls vom Spielplan gestrichen, zudem wurde die Uraufführung von Frank Geerks „König Hohn“ in Münster gestoppt, da der Autor „als möglicher Terror-Sympathisant“ eingestuft wurde.4 Auf der gleichen Seite veröffentlicht Theater heute eine „Erklärung von zehn Verlegern“, in der diese die „Kampagne gegen Luise Rinser, Heinrich Böll, Günther Grass und andere Schriftsteller“ verurteilen und mitteilen, sie würden weiterhin „unbeirrt zu ihren Autoren stehen“5. Im Januarheft 1978 folgt dann eine ausführliche Berichterstattung über den Fortgang der „Selbstzensur“ an deutschen Theatern, von der neben Camus nun u. a. auch Sartres „Schmutzige Hände“ betroffen sind. Die kleine Auswahl an theatergeschichtlichen Ereignissen im „Deutschen Herbst“ macht deutlich, dass dem Theater am Ende der 1970er Jahre – entgegen der Meinung Bernard Dorts – zumindest in Deutsch-

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Die geplante Fernsehausstrahlung des Meinhof-Films war 1970 in Folge der Baader-Befreiungsaktion aus dem Programm genommen worden. Die Ausstrahlung erfolgte tatsächlich erst 24 Jahre später: 1994. Peter von Becker: Gratismut und Selbstzensur, in: Theater heute Jahrbuch 1977, S. 109f. Vgl. Peter von Becker: Selbstzensur an deutschen Theatern. Camus’ „Die Gerechten“ in mehreren Städten abgesetzt – Uraufführung von Frank Geerks „König Hohn“ gestoppt, in: Theater heute, Heft 11, November 1977, S. 1f. Eine Erklärung von zehn Verlegern, in: Theater heute, Heft 12, Dezember 1977, S. 1. Unterzeichnet haben die Leiter folgender Verlage: S. Fischer Verlag, Luchterhand Verlag, DuMont Schauberg, Bund Verlag und Europäische Verlagsanstalt, Suhrkamp Verlag, Carl Hanser Verlag, Verlag Kiepenheuer&Witsch, Piper Verlag, Rowohlt Verlag, Claasen Verlag.

MENSCH ODER SCHWEIN?

land eine durchaus wichtige gesellschaftliche Rolle zugeschrieben wurde. Dabei schlug sich die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus in den Spielplänen zunächst allerdings nicht vordringlich in neuen Bühnenstücken zum Thema nieder, sondern vor allem in der aktualisierenden Interpretation bereits existierender Stücke.6 In Hinblick auf das Stichwort „Selbstzensur“ gestaltete sich die Beziehung zwischen Bühnenkunst und Staat zudem aber offenbar weitaus weniger revolutionär, als man hätte meinen können. Szenenwechsel in das Jahr 2007: Auch wenn die Thematik inzwischen an politischer Sprengkraft verloren hat, ist die Anzahl der Theaterstücke, die sich mit der Frage des „Deutschen Herbstes“ auseinander setzen, in den letzten 30 Jahren beachtlich gestiegen – und nie war die Frage so aktuell wie heute, möchte man meinen. Entsprechend warb der Theater-Newsletter des Verlags der Autoren im Mai: „Seit Wochen diskutiert die Republik über die RAF. Wer waren die Täter? An welchen Anschlägen waren sie beteiligt? Welche Ziele der 70er haben überlebt, welche haben sich überlebt? Und was bedeuten diese Fragen für uns heute?“7 Als Stücke zum Thema werden genannt: Marc Beckers „Terrorprogramm“, Dea Lohers „Leviathan“, Nora Mansmanns „Terrormum“, Helma Sanders-Brahms’ „Ulrike Mondzeit-Neonzeit“ sowie die Bühnenfassung von Rainer Werner Fassbinders Film „Die dritte Generation“; zahlreiche Stücke bekannter Autoren anderer Verlage ließen sich hinzufügen.8 Gudrun, Andreas und Ulrike sind zu beliebten Bühnenfiguren geworden. In der Reihe „Endstation Stammheim“ präsentierte das Staatstheater Stuttgart 2007 gleich einen ganzen Reigen von Stücken und Lesungen zum Thema, während das Schauspiel Augsburg gar seine komplette Saison unter den Titel „Wir sind Terroristen“ stellte.9 6

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Die nicht selten in Hysterie mündende Angst vor solchen Aktualisierungen thematisiert u. a. die Böll/Schlöndorff-Episode im Film „Deutschland im Herbst“, in dem am Beispiel der „Antigone“ fiktiv ein RegieZensurverfahren durchgespielt wird. Verlag der Autoren: Theater-Newsletter 4/2007. Vgl. z. B. Elfriede Jelinek: Wolken. Heim, Reinbek 2001; Ulrich Plenzdorf: Mörderkind, Frankfurt a. M. 2001 oder John von Düffel: Born in the RAF, Vastdorf 1999. Allerdings: Auch wenn sich das Thema heute dergestalt anscheinend „spielerisch“ am Theater verhandeln lässt, ist es jedoch keineswegs politisch bzw. moralisch neutralisiert. Dies zeigen beispielhaft die empörten Reaktionen, die Claus Peymann mit seinem Angebot auslöste, Christian Klar zu Resozialisierungszwecken nach seiner Haftentlassung als Praktikanten am Berliner Ensemble zu beschäftigen, vgl. hierzu z. B. Gerhard Stadelmaier: Peymanns Praktikumsspende, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.3.2005, S. 37. In dieser Glosse zieht Stadelmaier u. a. einen Vergleich zu einem früheren Skandal in Stuttgart, der ausgelöst wurde, 69

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Erneuter Szenenwechsel nach Frankreich: Auch im benachbarten Ausland hat man das Thema entdeckt.10 Pünktlich zum 30. Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ inszenierte der französische Dramatiker und Regisseur Michel Deutsch im Frühsommer 2007 auf einer der bekanntesten Pariser Vorstadtbühnen, der MC 93 in Bobigny, das von ihm selbst geschriebene Stück „La décennie rouge. Mensch oder Schwein“11. Deutsch, dessen Theaterkarriere in nicht unerheblicher Weise durch seine künstlerischen Beziehungen nach Deutschland beeinflusst wurde, kann als aufmerksamer Beobachter der deutschen Politik bezeichnet werden. 1975-1983 arbeitete er als Dramaturg im Team von Jean-Pierre Vincent am Théâtre National de Strasbourg, der sich die Berliner Schaubühne zum künstlerischen Vorbild einer politisch ausgerichteten Theaterarbeit genommen hatte und u. a. in engem Kontakt zu Peter Stein und Klaus-Michael Grüber stand. Dennoch erscheint Deutschs aktuelles Interesse an der RAF insofern ungewöhnlich, als die blutigen Ereignisse des Jahres 1977 in Frankreich keine wirkliche Entsprechung fanden. Zwar war Frankreich in den 1960er Jahren und später ausreichend von terroristischen Attentaten heimgesucht worden, jedoch wurde diese Form der politischen Gewalt als Nebenerscheinung der französischen Kolonialkriege gedeutet. Der Terrorismus sozialrevolutionärer Art wie in Deutschland und Italien war in den 1970er Jahren hier unbekannt geblieben – die Action Directe wurde erst 1979 mit ihren Attentaten bekannt. Trotzdem es aktive Verbindungen der deutschen Terroristen nach Frankreich gab und sich die Pariser Salonkommunisten, la gauche caviar, in den 1970er Jahren durchaus darin gefielen, aus sicherer Entfernung Sympathie für die bundesdeutschen Staatsfeinde zu bekunden, blieb das Thema daher gesellschaftlich marginal. Die Fotos von Andreas Baader und Gudrun Ensslin in einem Pariser Café12 fanden in Frankreich jedenfalls ebenso wenig Einlass in das kollektive Gedächtnis wie die von Jean-Paul Sartres Besuch in Stammheim – ein Ereignis, das in Deutschland verständlicherweise für ungleich mehr Wirbel sorgte.13

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weil Peymann als Schauspieldirektor am Staatstheater Geld für eine Zahnbehandlung der inhaftierten Gudrun Ensslin gespendet hatte. Sogar in Polen beschäftigt man sich mit dem Thema, vgl. hierzu z. B. Małgorzata Sikorska-Miszczuk: Der Tod des Eichhörnchenmenschen, Wien 2008. Der Untertitel ist im Original auf Deutsch, taucht in der Veröffentlichung des Textes jedoch nicht auf, vgl. Michel Deutsch: La Décennie rouge. Une histoire allemande, Paris 2007. Vgl. Astrid Proll: Hans und Grete. Die RAF 1967-1977, Berlin 2005. Auf Initiative von Ulrike Meinhof hatte Jean-Paul Sartre im Dezember 1974 Andreas Baader in Stammheim besucht. Zwei bekannte Fotos zeigen die Hintermänner dieses Besuchs: Auf dem einen sehen wir Sartre im Au-

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Die räumliche und zunehmend auch zeitliche Distanz erleichterte die romantische Verklärung des Terrorismus. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie bequem sich ein großer Teil der französischen Linken inzwischen in ihren Erinnerungen an dieses dunkle Kapitel eingerichtet hat, gab 2007 die bekannte französische Schauspielerin Fanny Ardant, deren begeisterte Äußerungen über die Roten Brigaden Empörung in Italien hervorrief. Faszinierend und heldenhaft, so Ardant, fände sie die Terroristen, von denen viele, im Unterschied zu den meisten anderen Alt68ern, ihren Überzeugungen bis heute treu geblieben seien. Wie Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Skandals in Erinnerung rief, hatte Staatspräsident Mitterand 1985 italienischen Justizflüchtlingen – sofern sie der Gewalt abgeschworen hatten – Asyl gewährt, weil die italienischen Gesetze damals Gefängnishaft ohne Gerichtsmandat zuließen, und damit zahlreiche italienische Ex-Aktivisten nach Frankreich gelockt. Als 2004 der seit 1990 in Frankreich als Schriftsteller lebende Ex-Terrorist Cesare Battisti an Italien ausgeliefert werden sollte, „regte sich der Protest, vom Starintellektuellen BernardHenri Lévy bis zur Krimiautorin Fred Vargas. Das Staatsversprechen dürfe nicht gebrochen werden, hieß es. Außerdem gelte die Regel einer zweiten Chance.“14



D i e R AF a u f d e r B ü h n e Die RAF also immer noch oder schon wieder ein interessantes Thema für die Bühne? Ausgerechnet der deutsche Regisseur, der in der letzten Zeit den wohl größten Erfolg mit einem Stück über den Terrorismus verbuchen konnte, Nicolas Stemann, widerspricht dem energisch: „Hand aufs Herz: Es gibt im Jahre 2007 Wichtigeres zu tun, als sich mit der RAF zu befassen. Wir haben Probleme, um die wir uns dringend kümmern sollten: den Klimawandel zum Beispiel oder den ‚echten‘, den islamistischen Terrorismus. Hunger, Aids, Armut: Die Liste ist lang. – Diese Ansicht habe ich vor kurzem auf einem Podium zum Thema ‚Was geht uns heute die RAF noch an?‘ geäußert und habe nur wütendes Unverständnis geerntet. Die dach-

to mit Rechtsanwalt Klaus Croissant und dem späteren Terroristen HansJoachim Klein, auf dem anderen mit Croissant und Daniel Cohn-Bendit, vgl. http://www.bundesarchiv.de/aktuelles/aus_dem_archiv/galerie/00166/ index.html?index=0&id=3&nr=3 [19.6.2008]. 14 Joseph Hanimann: Helden und Terroristen, in: Süddeutsche Zeitung, 29.8.2007; vgl. hierzu auch die Darstellung der bevorstehenden Ausweisung einer ehemaligen Führerin der Roten Brigaden, Marina Petrella: Frank Johannès: En grève de la vie, in: Le Monde, 1.7.2008, S. 19. 71

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ten, ich würde mich lustig über sie machen. Die wollten unbedingt, dass die RAF noch wichtig ist. Im Publikum saßen überwiegend alte Menschen, die damals wohl mal links waren und die beim Reden über Baader und Co. ganz kuschelig vergessen konnten, dass sie es heute nicht mehr sind. […] Es war eine absurde Zeitreise und zu absurden Zeitreisen scheint dieses Thema einzuladen.“15

Anlass der von Stemann erwähnten Podiumsdiskussion war seine hoch gelobte Uraufführung von Elfrede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ im Jahr 2006 am Hamburger Thalia Theater, die unter anderem auf das Berliner Theatertreffen sowie die Mühlheimer Theatertage eingeladen wurde. „Ulrike Maria Stuart“ und „La Décennie rouge“– Im Blick auf den Bekanntheitsgrad der Autoren und der Bedeutung der Uraufführungsbühnen kann beiden Stücken ein exemplarischer Charakter hinsichtlich ihrer Aufarbeitung des „Deutschen Herbstes“ zugestanden werden. Dabei präsentieren Elfriede Jelinek (geboren 1946) und Michel Deutsch (Jahrgang 1948), die gleichermaßen zu den wichtigsten Theaterautoren ihrer Generation gehören, trotzdem sie aus dem gleichen politischen (linken) Lager stammen, in ihren Stücken jedoch zwei völlig unterschiedliche Interpretationen des Phänomens. Ausgehend von den Uraufführungsinszenierungen16 sollen daher im Folgenden beide Stücke gegenübergestellt werden, um einen Einblick in die Rezeptionsweisen des Phänomens in Deutschland und Frankreich zu erhalten. Eine eingehende Textanalyse der beiden abendfüllenden Stücke kann dabei allerdings nicht geleistet werden.17 Stattdessen sollen die strukturellen Prinzipien sowie einige ihrer Kernaussagen, im Rückbezug auf den jeweils zugrunde liegenden Deutungsrahmen, miteinander verglichen werden.

15 Nicolas Stemann: Im Ferienlager. Vom Terror erzählen, in: Zeit Geschichte 3/2007, S. 83. 16 Stemanns Inszenierung ist von Jelineks Text faktisch nicht zu trennen, da die Autorin jede Einsicht in ihr Manuskript verwehrt. Nur eine kleine Passage des Stückes ist bisher auf ihrer Homepage veröffentlicht, vgl. http://www.elfriedejelinek.com [19.6.2008]. Aufgrund dieser „unzuverlässigen Autorenschaft“ (Ortrud Gutjahr) wird im Folgenden auch zumeist nur von Jelinek/Stemann die Rede sein. 17 Verschiedene interessante Interpretationsansätze hierzu finden sich in einem Aufsatzband von Ortrud Gutjahr, die selber auch eine ausgezeichnete Beschreibung der Inszenierung liefert, vgl. Ortrud Gutjahr: Königinnenstreit, in: Dies.: Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek, Würzburg 2007, S. 19-35. 72

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Zw i s c h e n B e k e n n t n i s u n d V e r k l e i d u n g : Der Terrorismus als Zuschreibungsproblem Bereits was die Form anbelangt, könnten die beiden Texte unterschiedlicher nicht sein. So besitzt Deutschs ursprünglich als Hörspiel konzipiertes „La Décennie rouge“ eine konventionelle Erzählstruktur und Dramaturgie, während die Stemann-Inszenierung des Jelinek-Textes alle Eigenheiten des „postdramatischen“18 Theaters aufweist. Die Figuren, die wir auf der Bühne sehen, verkörpern keine Personen, sie spielen nur, dass sie spielen. Sie haben keine Geschichte und weder psychologische noch ideologische Motive. Handlungen im eigentlichen Sinne finden nicht statt, keine Ereignisse stehen im Vordergrund, sondern Diskurse. Der „Text“ präsentiert sich als kunstvoll gestrickte Patchworkdecke, in die die Autorin Versatzstücke von RAF-Manifesten und Bekenntnisschreiben, Zitate aus Schillers „Maria Stuart“, Briefauszüge von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin etc. eingewoben und verfremdet hat. Bei welchen Textstellen es sich um Zitate handelt und woher diese stammen, ist bestenfalls zu ahnen. Zudem hat Stemann, will man den Angaben seines Dramaturgen Glauben schenken, überhaupt nur ca. 30 % des Jelinek-Textes verwendet, diesen zerstückelt, in Schleifen wiederholen lassen und selber noch Fremdtexte hinzufügt. In loser Szenenfolge konzentriert sich die Bühnenhandlung auf ihre Hauptakteure. Im Mittelpunkt: eine junge und eine fiktiv gealterte Ulrike Meinhof (so, wie sie heute wäre), eine junge und eine alte Gudrun Ensslin – wobei jede Schauspielerin zeitweise auch die Rolle der Maria Stuart (Meinhof) bzw. Elisabeth (Ensslin) übernimmt – „Assoziationsfiguren“, wie Ortrud Gutjahr bemerkt.19 Der Konzentration auf die Frauenproblematik entsprechend, wird Andreas Baader zur Nebenrolle degradiert: Er fungiert hier lediglich als Katalysator der Geschichte und besitzt auch keine Doppelgänger: Während über die „Rolle“20 der Frauen, die unablässig ihre Gestalt ändern, diskutiert werden kann, spielt er in jedem Augenblick immer nur sich selber: einen misogynen, alt und damit endgültig lächerlich gewordenen Egomanen. Zunächst in Lederjacke und mit Gehhilfe ausgestattet, erscheint er später dann mit Flügeln 18 Im Sinne von Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999. 19 Ortrud Gutjahr: Königinnenstreit, S. 19-35, hier: S. 23. 20 Zur Frage des „Rollen-“ und „Funktionsträgerprinzips“ vgl. Dorothea Hauser: „das stück, das tanten typen voraus haben“. Zur Beziehung von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, in: Ortrud Gutjahr: Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek, S. 39-55, hier: S. 39. 73

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als eine Art mephistophelischer Engel, der sich vor allem durch vulgäre Beschimpfungen („Fotze, Fotze, Fotze“) auszeichnet. Drei „Prinzen im Tower“, die auch zum Teil die Rolle des „Chors der Greise“ spielen, kommentieren das ganze Geschehen aus sicherem Zeitabstand und geben dem Stück seinen Rahmen. In gewisser Weise sind sie die Verlierer des Stückes, diejenigen, die sich vom Publikum mit Wasserbomben bewerfen lassen müssen und am Schluss, wenn sich die Aktivisten ins Jenseits verabschiedet haben, mit den ungelösten Weltproblemen nackt und alleine zurückbleiben. Dass die „drei Prinzen“ im wahrsten Sinne des Wortes keine gute Figur abgeben, kündigt sich bereits in der ersten Szene des Stückes an, die Stemann vor dem Vorhang spielen lässt: Drei ungeschickt als Frauen verkleidete Schauspieler probieren mit verstellten Stimmen, die Manuskriptblätter des Stückes in den Händen, verschiedene Textpassagen und streiten sich über die Rollenverteilung. Aus diesem „Theater-Spiel“ entwickelt sich eine unübersichtliche Diskussion der „Prinzen im Tower“ mit einer sich von den Nachgeborenen unverstanden fühlenden „Ulrike“ alias die „Mutter“ – in der sich die Prinzen über die Gnade ihrer späten Geburt beklagen: Nicht nur, dass die RAF nichts bewegt und nichts erreicht hat, die Probleme sind inzwischen so unübersichtlich geworden, dass der Glaube an die Möglichkeit irgendeiner Lösung von vornherein gänzlich illusorisch geworden scheint. Trotz seines scheinbar chaotischen und improvisierten Charakters ist dieser erste Auftritt streng durchkomponiert. Er besitzt die Funktion, den Zuschauer mit allen wesentlichen formalen und inhaltlichen Prinzipien des Stückes vertraut zu machen und gibt gleichzeitig den Interpretationsrahmen vor. Zwei Aspekte sollen hier im Hinblick auf das Wechselverhältnis von Form und Inhalt näher beleuchtet werden: die strukturelle Beziehung des Theaters zum Terrorismus sowie das Verhältnis von Frauen und Macht.

Theater auf dem Theater Jelineks Bühnenstücke stellen immer auch eine Infragestellung der Wirkungsmöglichkeit des Mediums Theater selbst dar. Das aus ihrer Perspektive grundsätzlich uneinlösbare Versprechen, Schauspielern als „Figuren“ auf der Bühne Leben einzuhauchen, problematisierte sie bereits 1983 in ihrem programmatischen Text „Ich möchte seicht sein“: „Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei zuschauen. Ich will auch nicht andere dazu bringen zu spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so 74

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tun, als ob sie lebten. Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens. […] Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. […] Ich will kein Theater. Vielleicht will ich einmal nur Tätigkeiten ausstellen, die man ausüben kann, um etwas darzustellen, aber ohne höheren Sinn. […] Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein! Modeschau deswegen, weil man die Kleider auch allein vorschicken könnte. Weg mit den Menschen, die eine systematische Beziehung zu einer ersonnenen Figur herstellen könnten!“ 21

Die erste Szene der Stemann-Inszenierung wirkt wie ein Versuch, diese Anweisungen szenisch umzusetzen. Sein eigensinniges „Vorspiel auf dem Theater“ stellt eine durchaus klassisch zu nennende Selbstthematisierung des Mediums dar, das ein allgemeines Statement über den aktuellen Stand der Bühnenkunst liefert. Durch die bewusst ungeschickte Verkleidung der Schauspieler, die Rollen scheinbar übernehmen, aus denen sie im nächsten Augenblick jedoch bereits wieder herausfallen, wird zudem auf die Diskrepanz von Darsteller und Dargestelltem verwiesen und ein Verfremdungseffekt erzeugt, der den Zuschauer daran hindert, sich emotional in das Bühnengeschehen einzufühlen. Mit Hilfe dieses (in Abgrenzung zu Brecht) deutlich nichtdidaktischen Verfremdungseffektes wird Marshall McLuhans Diktum „The medium ist the message“ aus der Medientheorie in eleganter Weise auf die Bühne transportiert. Denn die Frage, wie man Ideen mittels Inszenierung Realität verleiht, ist nicht allein Sache des Theaters, sondern, genauer betrachtet, auch des organisierten Terrorismus. Eine Affirmation der Theaterarbeit über die konventionelle „Verkörperung“ einer Figur, die immer eine Identifikation voraussetzt, ist für den modernen Avantgardekünstler ebenso unmöglich geworden wie für den politischen Aktivisten der Glaube an die Möglichkeit einer durch Revolution erzwungene Veränderung der Gesellschaft. Entsprechend finden sich im Stück immer wieder Parallelen zwischen misslungenen Inszenierungen auf der Bühne und dem (politischen) Leben. Zudem ist das Prinzip der „Verkleidung“, verstanden als eine Form der Selbstzuschreibung, nicht allein Prinzip der Bühnenarbeit, sondern auch des (gewalttätigen) politischen Aktivismus. Damit wird die These vom Terrorismus als einer politischen Inszenierung hier zynisch zum Gesamtkunstwerk verdreht: Schnelle Autos, schicke Klamotten dienen nicht nur als Machtsymbole, sondern sorgen vor allem dafür, dass man „gut aussieht“ – Grundvoraussetzung aller gesellschaftlichen Anerkennung. Unterstützt wird dieser 21 Vgl. Elfriede Jelinek: Ich möchte seicht sein, in: Theater heute Jahrbuch 1983, S. 102. 75

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Verweis auf den Inszenierungscharakter der RAF durch die VorherNachher-Struktur des Stückes, die sich sowohl in der Doppelbesetzung der Rollen von „Ulrike“ und „Gudrun“ spiegelt als auch im Generationenkonflikt zwischen den „Prinzen im Tower“ und dem „Chor der Greise“ bzw. „Ulrike“ (als „Mutter“): Nicht die Geschichte der RAF selbst ist Thema, sondern ihre Rezeption und deren Diskursstrukturen. Entsprechend geht es Jelinek/Stemann mehr um die sprachliche Dekonstruktion der RAF als die Widerlegung ihrer politischen Motive. Dabei wird Jelineks Spezialität, Diskurse aufzugreifen und weiter zu drehen bis sie sich selber totlaufen, von Stemann fortgeführt, der sich hier eine regelrechte kleine Sprach-Bombe zusammengebastelt: Die ständige Repetition von „… und natürlich kann geschossen werden“22 und „Besser, einer mehr ist tot als einer weniger“ wird vom Regisseur assoziativ garniert mit Zitaten wie z. B. „Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“, das aus der 1997 gehaltenen Grundsatzrede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“23 stammt.

Der Terrorismus – ein Frauenproblem? Ausgehend von dieser Diskurskritik werden die auch in der Politik- und Geschichtswissenschaft diskutierten Reflexionen über den außergewöhnlich hohen Frauenanteil in der RAF radikal zugespitzt und zynisch verdreht: Der Erfolg einer Bewegung, so die Leithinsicht, bemisst sich am Grad ihrer „Attraktivität“. Während „Gudrun“ für das „PradaMeinhof“-Prinzip24 steht, sich für Männer, Macht und gutes Aussehen interessiert und die Mutterrolle kategorisch ablehnt, befindet sich ihre Gegenspielerin „Ulrike“ im Spannungsfeld ihrer gesellschaftlichen Rolle als Intellektuelle und Mutter, an der sie schließlich auch zerbricht. Von der Gruppe ausgegrenzt und durch den Ausruf „Wir wollen Taten!“ zum Schweigen gebracht, unterwirft sich die eloquente Intellektuelle ge22 „Das ist ein Problem, und wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden“ (Ulrike Meinhof: „Natürlich kann geschossen werden“. Ulrike Meinhof über die Baader-Aktion, in: Der Spiegel, 15.6.1970, Nr. 25, S. 74). 23 Vgl. Roman Herzog: Berliner Rede im Hotel Adlon, 26.4.1997, http://www.bundespraesident.de/dokumente/-,2.15154/Rede/dokument. htm [19.6.2008]. 24 Vgl. hierzu den Aufsatz von Rolf Sachsse im vorliegenden Band. 76

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zwungenermaßen schließlich dem Gewaltdiskurs. Der Antagonismus der beiden Hauptakteurinnen thematisiert jedoch nur vordergründig die Frage nach der richtigen Form des politischen Widerstands, tatsächlich geht es um das Dilemma der modernen Frau im Allgemeinen, eines der Lieblingsthemen Jelineks, in dem sich die Autorin gleichermaßen selbst spiegelt. So dürfte es Jelinek nicht schwer gefallen sein, sich mit der kommunistischen Intellektuellen Ulrike Meinhof zu identifizieren und es scheint nicht überinterpretiert, in der unablässig Respekt vor dem Geschriebenen und Gedachten einfordernden „alten Ulrike“, Züge der Autorin erkennen zu wollen. Doch nicht nur Meinhof dient Jelinek als selbstkritische Reflexionsfläche, sondern auch Gudrun Ensslin und deren Wunsch nach Anerkennung, die für Frauen eben immer nur über ihre Attraktivität funktioniert, der sich in einem (angeblichen) ModeTick niederschlägt, den man auch Jelinek bereits verschiedentlich unterstellt hat. 1989 entgegnete Jelinek in einem Interview mit Alice Schwarzer provokativ affirmierend auf deren Frage, ob Sie versuche ihre Intelligenz hinter Mode und Make-up zu verstecken, um sich nicht zu entsexualisieren: „Das weiß jede Heterofrau, dass sie sich klein machen muss. […] Bei meinem Mich-zum-Objekt-Machen Männern gegenüber ist es halt die Schminke, die ich mir ins Gesicht schmiere, und die Kleider, die ich mir kaufe.“25 Mode und Schminke fungieren bei Jelinek gewissermaßen als Symbol der prekären Lage der Frau, die entsprechend unbarmherzig an der Figur „Gudrun“ exemplifiziert wird. Den Höhepunkt hierbei bildet ein großer parodistischer Monolog, in dem „Gudrun“ die Umstände ihrer Verhaftung in einer Modeboutique und die Bedeutung des „guten Aussehens“ für die Bewegung schildert, der mit dem melancholisch vorgetragenen Chanson „Schwein oder Mensch?“ endet.

V o n Au s c hw i t z n a c h S t a m m h e i m u n d z u r ü c k Auch in Michel Deutschs „La Décennie rouge“ spielt dieses Zitat von Gudrun Ensslin eine zentrale Rolle: „Mensch oder Schwein? […] Überleben um jeden Preis oder kämpfen bis zum Tod. Problem oder Lösung. Dazwischen gibt es nichts. […] Unterschied zwi-

25 Alice Schwarzer: Interview mit Elfriede Jelinek (1989), vgl. http://www. aliceschwarzer.de/303.html [7.7.2008]. 77

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schen Todeszelle und Isolation: Auschwitz und Buchenwald. Der Unterschied ist einfach: Es gab in Buchenwald mehr Überlebende als in Auschwitz […].“26

Im Gegensatz zu Jelinek geht es Deutsch allerdings nicht um eine Desondern Rekonstruktion der RAF-Geschichte. Ausgehend von den einschlägigen RAF-Lektionen von Gerd Koenen, Stefan Aust bis zu Bernward Vesper versucht er ein didaktisches Lehrwerk für die Bühne zu entwerfen. Die Dramaturgie des Stückes ist entsprechend überschaubar und lässt sich chronologisch in drei Teile gliedern: ein Vorspiel von 1966 bis zur Baader-Befreiung, einen Mittelteil über die Jahre im Untergrund bis zur Verhaftung und einen Schluss von 1972 bis zum Tod in Stammheim 1977. Revueartig wechseln Dialogszenen und Erzählpassagen, in denen eine narratrice, zumeist in Form einer Radio- oder Tagesschausprecherin über die politischen Ereignisse zwischen 1966 (Kommune 1) und 1977 (Stammheim) berichtet, die letzte Szene spielt als rückblickender Epilog dann im Jahr 2006. Im Gegensatz zu dieser klaren Struktur ist Deutschs Figurenkonstellation alles andere als überschaubar. So ungefähr alles, was Rang und Namen hat, spielt mit: Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans, Uschi [Obermaier], Fritz Teufel, Günther Grass, Ulrike Meinhof, Rudi Dutschke, Axel Springer, Gustav Heinemann, Renate Riemeck, Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Peter Janssen, Horst Mahler, Jan Carl Raspe, Hans Jürgen Bäcker, Rosa Luxemburg, Inge Feltrinelli, Karl Heinz Ruhland, Horst Herold, Heinrich Böll, Jean-Paul Sartre, Peter Homann, Otto Schily, Hyperion, Lenz, Winnetou und Germania, darüber hinaus Polizisten, Demonstranten, Journalisten, Bildzeitungsleser, Arbeiter, Lederjackenträger, Vorbestrafte, Gefängniswärter, Anwälte ... und ein liberaler Erzieher. Die begrenzte Anzahl an Schauspielern, die alle (mindestens) vier bis fünf Rollen zu spielen haben, macht das Chaos perfekt. Nachgespielt werden Situationen aus der Kommune 1 ebenso wie beispielsweise das Attentat auf Rudi Dutschke oder Szenen aus Stammheim. Ensslin und Meinhof zitieren Brecht, Meinhof diskutiert mit Rosa Luxemburg. Wie sich ein Theaterzuschauer, noch dazu ein französischer, durch dieses Gewirr an Stimmen und Figuren hindurch finden soll, die sich in den meisten Fällen ja auf der Bühne auch nicht zu erkennen geben (können), bleibt ein Rätsel. Die dramaturgische Konzeption des Stückes erscheint daher im Blick auf die offensive didaktische Perspektive des Autors geradezu misslungen. Den einzigen Orientierungspunkt bilden die narrativen Passagen. So werden die Ereignisse des 26 Michel Deutsch: La Décennie rouge, Paris 2007, S. 119 (Übers. der Verf.). „Mensch oder Schwein“ ist im Original auf Deutsch, wird jedoch auf Französisch wiederholt. 78

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Jahres 1977 beispielsweise in nicht besonders origineller Weise auf sieben Seiten narrativ zusammengefasst und „nachrichtenmäßig“, d. h. eintönig dem Publikum vorgetragen. Trotz dieser grundsätzlichen formalen Unterschiede der Stücke, lassen sich hinsichtlich der verwendeten Motive jedoch auch durchaus Ähnlichkeiten feststellen. So korreliert die Art, in der in „Ulrike Maria Stuart“ der Hang der deutschen Guerilla-Truppe zu teueren LuxusArtikeln im Kampf gegen die Armut parodiert wird, bei Deutsch mit der romantischen Selbststilisierung von Baader und Ensslin zum Hollywood- oder wahlweise Nouvelle vague-Ganovenpärchen: „Andreas Baader. Gudrun Ensslin. Andreas Baader. Gudrun Ensslin. Andreas Baader.

– Bonnie? – Oui. – Je t’aime ! – Moi ausssi, je t’aime. Jusqu’à la mort. – Jusqu’à la mort, Bonnie. Jusqu’à la mort.“27

Diese Szene, die aufgrund ihrer mehrfachen Wiederholung zu einer Art Leitmotiv avanciert, erhält durch seine Einbettung in eine Art 68erRevue mit viel Musik – von The Who („I hope I die before I get old“) über Brecht bis hin zu den Ton, Steine, Scherben – einen deutlich affirmativen Charakter. Im Gegensatz dazu mündet die Rezeptionskritik bei Jelinek/Stemann auch in eine Medienkritik: Wenn sich die Protagonisten als Popikonen in schwarzen Lederjacken mit Sonnenbrillen auf der Drehbühne der Geschichte schließlich zur Musik von Robbie Williams in Nebel eingehüllt von der Bühne des Lebens verabschieden, wird der Tod in Stammheim zu einer Art inszenierter Medien-Show der RAF: Bereits zu Beginn des Stückes wird das Spektakel angekündigt als „Untergang II – Die letzten Tage von Stammheim“, präsentiert von Stefan Aust und Bernd Eichinger, so als habe das Ganze nur stattgefunden, um der Filmindustrie neuen Stoff zu liefern.28 Während bei Jelinek über die „Inszenierungsfrage“ alle politischen Motive der Akteure von vorne herein neutralisiert werden, will Michel Deutsch den Zuschauer ernsthaft über die historischen Ursachen des Phänomens aufklären. Hierzu bedient er sich, wie es im Ensslin-Zitat bereits anklingt, der bekannten Rechtfertigungsstrategie, die RAF als einen lediglich ein wenig aus den Fugen geratenen Antifaschismus darzustel27 Michel Deutsch: La Décennie Rouge, S. 9; vgl. hierzu auch den Artikel von Bob de Graaff im vorliegenden Band. 28 Tatsächlich kommt im September 2008 der Film „Der Baader-MeinhofKomplex“ (Regie: Uli Edel, Produktion Bernd Eichinger), nach dem Buch von Stefan Aust, in Deutschland in die Kinos. 79

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len. Entsprechend lautet das zweite Leitmotiv seines Stückes: „On ne dicute pas avec les gens qui ont fait Auschwitz“. Zur Illustration des Weges von Auschwitz nach Stammheim stellt Deutsch seine Argumentation in den größeren Kontext der deutschen Geschichte als „Sonderweg“. Hierzu dienen ihm vor allem die Figuren „Lenz“ (Büchner) und „Hyperion“ (Hölderlin). So tritt Lenz an einigen Stellen des Stückes mit Bemerkungen über die nationalsozialistische Vergangenheit kommentierend in Erscheinung (Szenen 2, 3, 5) und schließt seine Intervention mit einem Büchner-Zitat (Szene 27). Als Schlüsselszene muss jedoch die letzte Szene (51) genommen werden. Hier taucht nach einer Diskussion zwischen dem aus der Haft entlassenen Terroristen „Peter Janssen“ und einer Journalistin, die ihn fragt, ob die Ursachen der RAF womöglich in psychopathologischen Problemen der Terroristen zu suchen seien, auf das Stichwort „Man muss die Gründe und Wurzeln in unserer spezifisch deutschen Geschichte suchen“ prompt Hyperion auf, der damit buchstäblich das vorletzte Wort erhält: „Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“29

Die Journalistin hakt nach: „Le Sonderweg? Le chemin à part, le destin exceptionnel de l’Allemagne.“30 Daraufhin „Peter Janssen“: „Schleyer repräsentierte für uns die Verbindung zwischen dem Nazi-Regime und der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Ohne die deutsche Vergangenheit hätte es eine RAF niemals gegeben. Bleibt, dass wir kein Recht hatten, eine Lynchjustiz zu praktizieren. Meine Taten waren darum kriminell, weil sie sich unter anderem gegen Polizisten richteten, die mit all dem nichts zu tun hatten. Ich wiederhole, der Ursprung der RAF, der Grund für die Geschichte unserer blutigen Entgleisung ist in der deutschen Vergangenheit zu suchen. Damit will ich aber nicht versuchen, das, was ich getan habe zu rechtfertigen. – On ne dicute pas avec les gens qui ont fait Auschwitz.“31

29 Originaltext (Hölderlin: Hyperion), bei Michel Deutsch in französischer Übersetzung: La Décennie Rouge, S. 132 (Übers. d. Verf.). 30 Ebd., S. 133. 31 Ebd. (Übers. d. Verf.) 80

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Dieses nicht besonders originelle apologetische Deutungsmuster beschreibt die Geschichte der RAF als historische Tragödie mit gewohnt blutigem Ausgang, erklärt gleichzeitig aber auch, warum es diesen Terrorismus eben nur in Deutschland (und nicht in Frankreich) hatte geben können. Damit greift Deutsch auf Erklärungsmodele der 1970er und 80er Jahre zurück, wobei er sich deutlich inspiriert zeigt von früheren künstlerischen Interpretationen des Phänomens, beispielsweise Margarete von Trottas Film „Die bleierne Zeit“, vor allem jedoch der 1977 von Klaus-Michael Grüber im Berliner Olympiastadion inszenierten „Winterreise“.32 Szenisch unterstützt wird Deutschs Apologie in erster Linie durch die pathetische Stilisierung Ulrike Meinhofs zur politisch klugen Heroin, die nicht selten die Grenze zum Kitsch überschreitet. So ist während der ganzen Vorstellung der Bühnenhintergrund komplett ausgefüllt mit einem Schwarz-weiß-Porträt der toten Ulrike Meinhof. Nach ihrem Selbstmord erscheint ein roter Strick um ihren Hals, aus dem dann (völlig unironisch) Blut auf die Bühne tropft. Mit solchen drittklassigen Regieeinfällen gerät Deutschs „La Décennie rouge“ – immerhin präsentiert auf einer der renommiertesten französischen Bühnen – zu einem mit reichlich Betroffenheitsgehabe angereicherten Rührstück und zeigt, zweifellos ungewollt, dass nicht nur die RAF gescheitert ist, sondern auch der Glaube ihrer Zeit an Sinn und Möglichkeit einer didaktisierten Kunst.

Re- oder Dekonstruktion der Geschichte? Ausgehend von den vorangestellten Beobachtungen kann konstatiert werden, dass der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Stücken weniger in einer abweichenden Interpretation der historischen Fakten liegt, sondern ihrer differenten Kompositionstechnik: Während Michel Deutsch weitgehend auf ironische Brechung und kritische Selbstreflexion verzichtet und didaktisch-belehrende Aspekte zum Zweck der Rekonstruktion der Geschichte betont, werden bei Jelinek/Stemann die Behauptungen dekonstruktivistisch zerlegt und zynisch gegeneinander ausgespielt: So beginnt „Ulrike Maria Stuart“ bereits formal mit einem Fragezeichen – der selbstreferenziellen Infragestellung des Theaters an sich

32 Vgl. hierzu z. B. Gerhard Schmidtchen: Der Weg in die Gewalt. Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrors, in: Die Zeit, Nr. 51, 9.12.1977. 81

NICOLE COLIN

–, bei Michel Deutsch triumphiert hingegen der Glaube an die Erklärbarkeit von Geschichte. Dieser Unterschied lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass die Diskussionen in Frankreich zu diesem Thema weiterhin von denen beherrscht werden, die bereits in den 1970er Jahren die Deutungshoheit über das Phänomen beanspruchten. In Deutschland ist hingegen durchaus ein generationeller Wandel im theoretischen Diskurs über die Ursachen des deutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre zu konstatieren. In diesem Sinne scheint es nicht übertrieben, „Ulrike Maria Stuart“ als die künstlerische Entsprechung eines kulturwissenschaftlichen, medienkritischen Ansatzes zu bezeichnen, der die RAF vor allem als ein Rezeptions- oder Kommunikationsereignis begreift. So haben Jelinek/Stemann der Versuchung widerstanden, mit Hilfe einer eingängigen Deutung einen Schlusspunkt unter die Geschichte zu setzen: Am Ende dreht sich das Karussell wieder. Der vom Regisseur selber mit Wiener Akzent und blonder Zopfperücke vor dem Bild der Autorin vorgelesene Schlusstext verspricht weder Erlösung noch Erkenntnis, sondern vor allem Ratlosigkeit. Der Schlussakkord verkündet: „Ich weiß nicht, was passieren muss, bis endlich was passiert.“ Mit ihrer Behauptung, ihre Probleme seien auch die unseren, führen uns Autorin und Regisseur nicht in das Reich der Psychologie, sondern an die Grenzen der Objektivierbarkeit von Geschichte. Diese Verweigerung eines universellen Erklärungsversuches verweist vor allem auf die prinzipielle Unmöglichkeit durch den Schleier des kollektiven und individuellen Gedächtnisses an die „Tatsächlichkeit“ des Gewesenen zu dringen. Vermittelt durch eine radikale Zertrümmerung der Theaterkonvention liefern Jelinek und Stemann damit auch einen künstlerischen Beitrag zur Dekonstruktion des RAF-Mythos, mit dem Ziel vor allem diejenigen aufzuschrecken, die es sich in diesem Erinnerungskitsch inzwischen häuslich eingerichtet haben. Die Geschichte, so zeigen Jelinek und Stemann, wird nicht nur bestimmt durch die Neurosen ihrer Täter, sondern auch derer, die diese Geschichte interpretieren. Intelligenterweise nehmen sie sich selber von dieser Diagnose nicht aus.

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Die R AF im Lic hte von 9 /11. Ein Vergle ic h BOB DE GRAAFF Tritt Osama bin Laden oder sein Vizekommandant Ayman al-Zawahari in die Fußstapfen von Andreas Baader und seiner Bande? In diesem Aufsatz werden die Ereignisse in den 1970er Jahren, in denen die westliche Welt mit ideologisch motiviertem Terrorismus hauptsächlich linksextremer Provenienz konfrontiert wurde, mit der aktuellen Situation verglichen. Dabei wird deutlich, dass der wesentliche Unterschied zwischen der RAF und den heutigen Formen eines in erster Linie religiös motivierten Terrorismus vor allem in der Globalisierung des Handlungsfeldes sowie der Benutzung des Internet liegen – Aspekte, die gleichzeitig die besondere Bedrohung begründen, die von diesen Bewegungen ausgeht.

Eine der schwierigsten Aufgaben des Historikers ist es, Entwicklungen innerhalb seines eigenen Raum- und Zeitrahmens zu analysieren, ohne dem Irrtum einer Post-hoc-Analyse zu erliegen. Im Falle des Terrorismus ist dies ein besonders schwieriges Unterfangen. Der Anschlag vom 11. September 2001 sowie die nachfolgenden Attentate in Bali, Madrid, London etc. hatten derartige Auswirkungen, dass der Terrorismus der 1970er Jahre leicht im Nachhinein mit den Vorgehensweisen und Intentionen seiner heutigen „Nachfolger“ – wenn man sie denn so nennen will – verwechselt werden können. Gleichzeitig könnte man angesichts des enormen Ausmaßes der Folgen aber fast nostalgisch werden in Erinnerung an jene Ära, die häufig als „bleierne Zeit“ beschrieben wird. Nichtsdestotrotz soll hier der Versuch eines Vergleichs zwischen den damaligen und den aktuellen terroristischen Gruppierungen unternommen werden, wobei der Blick vor allem auf die Antiterrorismus- und Deradikalisierungsmaßnahmen, die von den Regierungen initiiert wurden, den globalen Kontext sowie die Rolle der Medien fokussiert wird. 83

BOB DE GRAAFF

Die terroristischen Gruppierungen Was ist der Unterschied zwischen Gruppen, deren Zusammenschluss primär durch politische Überlegungen angestoßen wurde, die die Gesellschaft verändern und den Dritte-Welt-Bewegungen in ihrem Kampf gegen den Neoimperialismus helfen wollten, und denjenigen, deren Motivation vor allem auf religiösen Überzeugungen fußt? Dieser Unterschied ist nicht so deutlich abgesteckt wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Am 30. September 2007 veröffentlichte der AntiterrorismusExperte Tom Quiggin unter dem Titel: „Jihad isn’t about religion; If you cut out the Koranic quotes from jihadists’ writing their views sound remarkably like political revolutionaries who have come before them“ einen Artikel in der Ottawa Citizen, in der er behauptet: „It is politics, not religion that is at the core of the al-Qaeda movement. […] Their message is about oppression, domination and power. Their writings have a distinctly Marxist-Leninist ideological overtone […] nothing in the main messages of al-Qaeda would have been recognized by the Prophet Muhammed himself.“1

Einige Monate vorher hatte die Nummer zwei der al-Qaida, Ayman alZawahiri, eine Botschaft veröffentlicht, die Quiggins Bemerkungen zu untermauern scheint: „[…] I want blacks in America, people of color, American Indians, Hispanics, and all the weak and oppressed in North and South America, in Africa and Asia, and all over the world, to know that when we wage jihad in Allah’s path, we aren’t waging jihad to lift oppression from Muslims only; we are waging jihad to lift oppression from all mankind, because Allah has ordered us never to accept oppression, whatever it may be […] this is why I want every oppressed one on the face of the earth to know that our victory over America and the Crusading West – with Allah’s permission – is a victory for them, because they shall be freed from the most powerful tyrannical force in the history of mankind.“2

Selbstverständlich ist hier einiges an Rhetorik und Opportunismus mit im Spiel, aber derartige Erklärungen erwecken tatsächlich den Anschein 1 2 84

Tom Quiggin: Jihad isn’t about religion; If you cut out the Koranic quotes from jihadists’ writing their views sound remarkably like political revolutionaries who have come before them. In: Ottawa Citizen, 30.9.2007. Raymond Ibrahim: Seeking Sympathy from the Infidel. Zwahiri invokes the language of social injustice, in: National Review Online, 16.5.2007.

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einer Reinkarnation der amerikanischen Weathermen-Bewegung, mit der nun die muslimischen Völker den Kampf gegen den Imperialismus weiterführen. Diese fühlen sich nicht länger auf die Beihilfe der radikalen Studenten der westlichen Welt angewiesen, sondern wollen jetzt umgekehrt eigenständig die Minderheiten im Westen aus ihrer Unterdrückung befreien. Solche Parallelen zwischen den Formen des Terrorismus sollen zunächst jedoch dahingestellt bleiben und die Differenzen hinsichtlich der unterschiedlichen Motivationen der Bewegungen näher betrachten werden. Die linksorientierten Terroristen der 1970er Jahre behaupteten im Namen der unterdrückten Bevölkerung zu handeln, was zu einer Einschränkung und Begrenzung ihrer Angriffsziele führte. Wie Leila Khaled, eine namhafte palästinensische Terroristin es damals formulierte: „[…] ich hatte den Auftrag, ein Flugzeug zu kapern, nicht, es in die Luft zu sprengen […]. Ich kümmere mich um Menschen. Wenn ich das Flugzeug hätte sprengen wollen, hätte es niemand verhindern können“3. Sie hat es aber nicht gemacht. Als Hauptangriffsziele der Terroristen der 1970er Jahre wurden fast ausnahmslos Objekte und Individuen selektiert, die das imperialistische oder kapitalistische System in besonderer Weise zu symbolisieren oder repräsentieren schienen. Die jihadistischen Terroristen heutzutage handeln weitaus indiskriminierender, da alle Nicht-Muslime legitime Opfer für sie darstellen. Zudem wurden im Laufe der vergangenen Jahre auch zunehmend Muslime getötet, insbesondere jene Muslime, die nicht zur gleichen jihadistischen Strömung gehören. Darüber hinaus wird aber auch generell der Tod von Muslimen als Begleiterscheinung bei großen Attentaten in Kauf genommen. So kommt es, dass die größte Opfergruppe jihadistischer Gewalt letztlich Muslime bilden – eine Tatsache, die häufig vergessen wird. Einer weiterer großer Unterschied zwischen dem Terrorismus der 1970er Jahre und den heutigen Bewegungen ist, dass manche jihadistischen Typen des Terrorismus auf einer apokalyptischen Idee basieren und die Etablierung einer Theokratie nach dem großzügig interpretierten Muster des ersten Kalifates anstreben. Die Anwendung von Gewalt stellt nicht das Mittel zur Erreichung dieses Ziels dar, dem sich ggf. dann Verhandlungen anschließen würden, sondern bezweckt die komplette Vernichtung der Kontrahenten und des Systems, für das diese stehen. Wie einer der Anführer der algerischen Organisation Groupe Islamique

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Zitiert nach Bruce Hoffman: Inside Terrorism, New York 1999, S. 163 (Übers. Beatrice de Graaf). 85

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Armé bemerkte, ist es weder möglich mit Gott noch mit dem Teufel zu verhandeln, wenn man seine jihadistische Seele nicht verlieren möchte. Ein weiterer Unterschied in Hinblick auf die Motivlage ist die Tatsache, dass jihadistischer Terrorismus aus der Opferperspektive argumentiert und von der Idee einer neokolonialistischen Erniedrigung des Islams und eines sozialen Ausschlusses von Muslimen in der westlichen Welt ausgeht. Die Aktivitäten von Opfern können leicht die Gestalt von Rache oder Ressentiments annehmen. Der linksorientierte Aktivismus der 1970er war eher durch Hoffnung als durch Ratlosigkeit inspiriert. Freilich ist jeder Typus des Terrorismus darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die sich für diese Strategie entscheiden, nicht davon ausgehen, ihre Ziele innerhalb absehbarer Zeit mithilfe der gängigen politischen Strategien verwirklichen zu können. Terrorismus ist immer eine Kurzschlussreaktion. Dennoch gab es damals die Hoffnung, dass am nächsten Tag alles anders werden könnte. Revolution hing in der Luft; man brauchte nur geeignet Akteure zu finden oder selber die Initiative zu ergreifen. Die jihadistischen Terroristen heutzutage sind weitaus geduldiger und gehen von einem viel längeren Zeitrahmen für die Verwirklichung ihrer Ziele aus. Dies ist ein Grund, warum es viel schwieriger ist, sie zu bekämpfen im Vergleich zu den bereits schwer kontrollierund besiegbaren terroristischen Bewegungen der 1970er, wie die RAF, die IRA oder die immer noch aktive ETA, die zudem mehr oder weniger ausschließlich auf nationaler Ebene operierten.

Der globale Kontext und die Medien In diesem Sinne muss im Hinblick auf die Bekämpfung der al-Qaida auch das Ausmaß der Globalisierung dieser Bewegung in Betracht gezogen werden. So waren im Jahr 2004 innerhalb der Gruppe der 600 Gefangenen in Guantánamo Bay 43 unterschiedliche Nationalitäten vertreten.4 Auch wenn es möglich wäre, die externen Einflüsse auszuklammern und das ideale Antiterrorismusprogramm innerhalb eines Landes in Gang zu setzen, wird der Terrorismus vom Typus der al-Qaida immer in der Lage sein, an anderen Orten auf der Welt aufzukommen und wieder aufzublühen. Der Terrorismus hat sich wahrhaftig zu einem vielköpfigen Drachen entwickelt, wobei die Terroristen wesentlich besser globalisiert sind als die Antiterroristen, und ihre Organisationen außerdem weitaus beweglicher agieren als die Bürokratien, die sie bekämpfen.

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Bob de Graaff: Wie wint de „War on terror“?, Justitiële Verkenningen (Mai 2004), Jg. 30, Nr. 3, S. 62.

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In der heutigen Welt ist es nicht mehr möglich, externe Einflüsse auszuschalten. Wie damals in den 1960er Jahren das Fernsehen anfing Entwicklungen in der Dritten Welt zu zeigen und auf diese Weise zur Radikalisierung westlicher Jugendlichen beitrug, ist es heutzutage das Internet, das mit der Präsentation von so genannten „Kriegspornos“ bei vielen Zuschauern Wut auslöst. Die Bilder von den zahlreichen Kriegsschauplätzen, wo Muslime die Opfer sind, werden als Erniedrigung empfunden und steigert die Bereitschaft, im Namen weit entfernter Brüder zu handeln, mit denen sie sich über ein religiöses Gemeinschaftsgefühl verbunden fühlen. Die virtuelle und spirituelle Gemeinschaft finden auf diese Weise unmittelbar zusammen. Die Art und Weise, in der Menschen überall auf der Welt sich gegenseitig inspirieren oder aufeinander reagieren, hat sich ungemein beschleunigt. Die Studentenbewegung 1968 mag bereits das erste Erlebnis einer globalen Verbundenheit vermittelt haben, es blieb jedoch hauptsächlich ein Phänomen der nördlichen Hemisphäre. Heutzutage kann die Veröffentlichung einer politischen Karikatur in Dänemark zu Reaktionen im Nahen Osten führen: ca. 150 Menschen ließen dabei in inszenierten Aufständen ihr Leben. Je mehr Informationen vom einen Ende der Welt zum anderen fließen, umso leichter wird es, sich gestört oder beleidigt zu fühlen und seine Entrüstung entsprechend gewalttätig auszuleben. Das Spektrum der möglichen präzipitierenden und auslösenden Ereignisse ist somit unbegrenzt geworden. Das Internet hat uns nicht nur neue Bilder gebracht, sondern auch neue Formen zur Verbalisierung unserer Empfindungen entwickelt. Die Ausdrucksweise und die Ideen, die in manchen Chatrooms und ähnlichen Foren benutzt werden, sind schockierend. Allerdings scheinen die Benutzer des Internets häufig davon auszugehen, dass man hier Meinungen vertreten kann, die man nirgendwo sonst äußern würde. Daher ist es häufig schwierig, allein auf der Grundlage solcher Konversationen in Chatrooms festzustellen, wie radikalisiert die Besucher wirklich sind. Andererseits kann aber auch nicht behauptet werden, dass die Bemerkungen, die hier ausgetauscht werden, vollkommen harmlos sind, da sie lediglich im Internet geäußert werden. Ideen verändern die Sprache, aber die Sprache hat ihrerseits auch Einfluss auf Ideen. Sprache und Bilder haben für terroristische Bewegungen einen konstitutiven Charakter. Russische Terroristen im 19. Jahrhundert ließen sich durch Romane inspirieren und manche Terroristen in den 1970er Jahren bezogen ihre Inspiration aus Kinofilmen. Nicht alle Terroristen sind im gleichen Maß vom Elend der Welt motiviert. Bis zu einem bestimmten Grad können sie auch bewegt sein vom Wunsch Geschichte zu schreiben. Das traf zum Beispiel auf Bill Ayers zu, einem 87

BOB DE GRAAFF

Mitglied der amerikanischen terroristischen Gruppe The Weathermen in den 1970er Jahren, der – seinen Memoiren nach – weg wollte von „that relentlessly sunny atmosphere, the enveloping gleam of an untroubled narrative […] I wanted something darker and more soulful […] and write my own story.“ Er suchte verzweifelt nach einer Bewegung, die sich dem Establishment widersetzte: „I needed to find it […]. I wanted to do something relevant.“ Und er gab nicht auf bis er „in the middle of the elusive movement I’d been seeking“ endete, bei der radikalisierenden Studentenbewegung Students for a Democratic Society (SDS).5 Obwohl Ayers politische Motive des Widerstands gegen das existierende System nicht vollkommen abgesprochen werden können, dominiert hier deutlich das Verlangen nach Selbstdarstellung. Das galt noch viel stärker für Andreas Baader, einen der Gründer der Rote Armee Fraktion, der als der „Dandy des Bösen“ beschrieben wurde, ähnlich wie der bekannte Terrorist Carlos (Iljitsch Ramirez Sanchez). Bevor Baader seine erste terroristische Tat, den Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhauses, verübte, hatte er als Modell gearbeitet und irgendwann angekündigt, eines Tages auf der Vorderseite des Spiegel zu landen. Er war es gewöhnt, Designer-Sonnenbrillen zu tragen, und tat dies selbst während des Prozesses in Stammheim. Sogar im Gefängnis puderte er sein Gesicht und besaß neben zwei Sonnenbrillen und Lidschatten auch zwei Pelzmäntel, die er sich so umschneidern ließ, dass sie ihn wie ein Pantherfell umfassten. Baader liebte es, eine Schau abzuziehen und den König zu spielen, wie einige seiner Bekannten sich erinnern.6 Es waren hauptsächlich Kinofilme, die ihn inspirierten. Freunde bemerkten eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Marlon Brando, James Dean und Jean Paul Belmondo.7 Baader selber behauptete, er habe sich nach dem Film „Pierrot le Fou“ von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1965 modelliert, in dem Belmondo die männliche Hälfte eines fahnenflüchtigen Liebespaares darstellt. „Pierrot le Fou. Ha! Das machen wir selber“, sagte er seinen Freunden.8 Er identifizierte sich aber auch mit Belmondos Rolle des Kleinkriminellen Michel Poiccard in Godards „Au Bout de Souffle“9. Sein Lieblingsfilm war jedoch „La Battaglia di Algeri“ von Gillo Pontecorvo aus dem Jahr 1966, der über Terrorismus und dessen 5

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Bill Ayers: Fugitive Days. A Memoir, Boston 2001, S. 24, 44, 59. Auch in Romanen begegnet man dem Bedürfnis, selber Teil der Geschichte zu werden, vgl. Margaret Scanlan: Plotting Terror: Novelists and Terrorists in Contemporary Fiction, Charlottesville, London 2001, S. 42. Jörg Stern, Klaus Herrmann: Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, München 2007, S. 146. Ebd., S. 129. Ebd., S. 99. Ebd., S. 129.

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Bekämpfung in den letzten Tagen der französischen Kolonialherrschaft in Algerien handelt.10 Auffallend ist die Ähnlichkeit mit Ali La Pointe, der sich in dem Film wie Baader aus der Kleinkriminalität kommend auf die Bühne der terroristischen Gewalt begibt. Es sieht so aus, als ob Baader im Terrorismus eine Rechtfertigungsstrategie für seine kriminellen Aktivitäten und seine Sehnsucht nach Ruhm fand, nachdem er Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof kennen gelernt hatte. Diese Beispiele führen zu der Frage, ob eine ähnliche Kombination von Ideologie und Sehnsucht nach Ruhm und Ehre auch im heutigen Terrorismus ausgemacht werden kann, die sicherlich mit Ja beantwortet werden muss. al-Qaida und andere verwandte Gruppierungen sind sich sehr wohl bewusst, dass Terrorismus auch eine Art psychologischer Kriegsführung ist. Die Tatsache, dass die Terroristen der 1970er Jahre noch stark von den Medien als Vermittlungsinstanz abhängig waren, ist einer der Gründe dafür, dass sie das Ausmaß ihrer Gewalttätigkeiten begrenzen mussten. Sie wollten eine Menge Zuschauer, nicht eine Menge Opfer. Die heutigen Terroristen sind hingegen deutlich autonomer in der Verbreitung ihrer Botschaften an ihre Sympathisanten, weil sie in der Lage sind ihr Publikum ohne vermittelnde Instanzen (und Filter) über das Internet direkt zu erreichen. Allerdings richten sich Terroristen nicht nur an ihre Sympathisanten. Sie beabsichtigen auch, die Opfer und das gesellschaftliche Umfeld zu beeindrucken. Zu diesem Zweck benutzen sie dann die regulären Medien. Allerdings spekulierten sie bei der Vermittlung nicht mehr auf die Sympathie eines Teils der Medien, wie die RAF und sonstige terroristische Bewegungen in den 1970er Jahren dies noch taten. Stattdessen entscheiden sie sich für den Big-Bang, um ihre nicht-muslimischen Opponenten zu beeindrucken. Der 11. September war, aus der Perspektive Bin Ladens und seiner Adjutanten betrachtet, eine große Leistung. Mithilfe des Anschlages wurde die internationale politische Arena in einer Weise verändert, wie es zuvor noch keine terroristische Gruppierung gelungen war. Das Attentat, in unendlicher Wiederholung im Fernsehen weltweit gezeigt, trieb die Amerikaner in einen ähnlich miserablen Sumpf wie in Vietnam. Hierin liegt ein weiterer Unterschied zum linken Terrorismus der 1970. Während die damaligen Anschläge das Ziel verfolgten, die Amerikaner zum Rückzug aus dem Sumpf zu bewegen, hatte Osama bin Laden hingegen die Absicht, sie gerade wieder in diesen hineinzuziehen. Dabei kam die amerikanische Regierung, indem sie einen falschen Krieg am falschen Ort, d. h. im Irak, begann, Bin Laden sogar weiter entgegen, als er dies erwartet hatte. Ihr globaler war against terror versetzte die USA 10 Ebd., S. 104. 89

BOB DE GRAAFF

in eine fast unüberwindliche Nachteilsposition und ihre Methoden des policing the world wurden soweit ausgebreitet, dass es Jahre dauern werden, bis sie imstande sein wird, ihre Hegemonialmacht wiederherzustellen. Dies kommt dem Endziel der al-Qaida – dem Sieg über den großen Satan Amerika, den kleinen Satan Israel und seine Alliierten, einschließlich der korrupten Regime im Nahen Osten – nur zu Gute. Aus ihrer Perspektive wird wirklich ein Weltkrieg geführt – das Feuer flammt weltweit auf und es ist fast unmöglich es gleichzeitig zu löschen. Daher halten die al-Qaida und ihre Verbündeten an der Hoffnung, ihr Endziel irgendwann zu erreichen, länger und stärker fest als die terroristischen Gruppen der 1970er Jahre. Angesichts dieser bedrohlichen Situation ist es verständlich, dass bei den Terrorismusforschern im Blick auf die RAF sogar ein wenig Nostalgie hochkommt. Gleichzeitig hält uns deren Geschichte aber auch vor Augen, wie einfach Menschen, die meinen, für die richtige Sache zu kämpfen, den Staat destabilisieren können. Bedrohlich erscheint hier vor allem die Idee, dass der nächste Anschlag einen noch weit größeren Umfang haben könnte. Eines Tages wird eine neue Generation von Terroristen versuchen, dem 11. September den Rang abzulaufen – und sei es nur, weil sie erfahren konnten, wie befriedigend ein derartiger Akt aufgrund der Medienberichterstattung sein kann. Übersetzung aus dem Englischen: Beatrice de Graaf

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„ Polize i und Jus tiz dre he n völlig durc h.“ Die Rote Armee Fraktion in den niederlä ndis chen Medien JANNEKE MARTENS In den 1970er Jahren erreichte die Darstellung der Bundesrepublik in der niederländischen Presse ihren absoluten Tiefpunkt. Viele Journalisten zeichneten ein überaus negatives Bild vom Zustand des bundesdeutschen Rechtssystems und stellten die Terroristen der RAF als Opfer des Polizeistaats dar. Ausgehend von einer Analyse der Ziele der damals aktuellen Schule des New Journalism sowie der niederländischen Ressentiments und Vorurteile gegenüber den Deutschen, versucht der Artikel die Ursachen für diese Parteinahme zu ergründen.

Der niederländische Journalist Nico Haasbroek setzte, wenn er über die RAF schrieb, das Wort „Terroristen“ konsequent in Anführungszeichen. Er war der Meinung, dass man jene Personen, die in der Bundesrepublik als Terroristen bezeichnet wurden, in den Niederlanden einfach linksorientiert genannt hätte.1 Nicht alle niederländischen Journalisten waren damit einverstanden. Doch viele von ihnen hatten ein gewisses Maß an Sympathie für die Terroristen. Es gibt eine einfache Methode, um herauszufinden, ob ein Journalist aus der Bundesrepublik der Roten Armee Fraktion eher zugeneigt war oder nicht. So wurde das Wort „Gruppe“ nur von politisch sehr weit links stehenden Medien benutzt. Normalerweise wurde von der BaaderMeinhof-Bande gesprochen.2 Im niederländischen Fernsehen gab es die1 2

Nico Haasbroek: De „Terroristen“ deel I, in: Philip Scheltema, Cor Galis, Ronald van den Boorgaard: Embargo, VPRO, 5.8.1977. Sytze van der Zee: Noem het heimwee, Alpen aan de Rijn 1979, S. 46. 91

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sen Unterschied nicht. In allen analysierten Rundfunk- und Fernsehsendungen kommt das Wort Bande nur zweimal vor, zumeist sprachen die niederländischen Journalisten von der Baader-Meinhof-Gruppe. Daneben wurden auch die Bezeichnungen RAF und R.A.F. ohne ideologischen Unterschied benutzt. Dass die niederländischen Fernsehjournalisten fast nie das Wort Bande verwendeten, ist natürlich an sich kein Beweis dafür, dass sie die Ideen der RAF unterstützten. Die meisten standen nicht wirklich hinter den Terroristen. Vor allem die Anwendung von Gewalt wurde in der Regel verurteilt. Warum dennoch viele bis 1978 im Kampf der RAF und der BRD die Seite der RAF wählten, hatte vor allem zwei Gründe: erstens die politische Einstellung der meisten Journalisten und zweitens, nicht weniger wichtig, die stark anti-deutsche Haltung eines bedeutenden und vor allem einflussreichen Teils der niederländischen Bevölkerung. Verschiedenen Untersuchungen zufolge sind Journalisten durchschnittlich häufiger linksorientiert als der Rest der Bevölkerung. In den Niederlanden war dies in den 1960er Jahren zweifellos der Fall.3 Die linken, gesellschaftskritischen Ideen der 68er-Bewegung waren auch im Journalismus populär. Damit wurde die Berichterstattung zwar immer kritischer, aber nicht unbedingt gleichermaßen objektiver. Im Gegenteil wurden häufig die alten Ideale nur gegen neue eingetauscht. Einen starken Einfluss auf die Journalistik nahmen hierbei vor allem die bekannten medienkritischen Theorien der Frankfurter Schule. So bezog man sich beispielsweise gerne auf den Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas, der die Meinung vertrat, dass die Medien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der Hand der herrschenden Klasse sei, die die Inhalte entsprechend manipuliere.4 Die Grundlage dieser Überzeugung bildete die Medientheorie von Max Horkheimer und Theodor Adorno, die vor allem den Zusammenhang von Kapitalismus und Kulturindustrie analysiert. Horkheimer und Adorno waren der Auffassung, dass sich die Kunstproduktion im kapitalistischen System auf einen Massenmarkt richtet, um entsprechende Profite zu erzielen. Da die Masse keine eigenen geistigen Bedürfnisse habe, produziere die Kulturindustrie eine große Quantität leicht konsumierbarer Produkte, die den Zuschauer in eine Traumwelt führen, die wiederum die Ideologie der herrschenden Klasse propagiere. In diesem Kontext wurde auch gerne von der „Bewusstsein-

3 4 92

Huub Wijfjes: Journalistiek in Nederland 1850 – 2000. Beroep, cultuur en organisatie, Amsterdam 2004, S. 337. Ebd., S. 363.

DIE ROTE ARME FRAKTION IN DEN NIEDERLÄNDISCHEN MEDIEN

industrie“ gesprochen, die die Aufgabe habe, das kritische Bewusstsein der Arbeiter zu betäuben und zu unterdrücken.5 So entstand eine neue Bewegung, der sich viele Journalisten anschlossen, der so genannte New Journalism. Der „neue Journalist“ wollte nicht länger ein Schoßhund der alten Gesinnungen sein, sondern ein Wachhund im Dienst der Bevölkerung. Politik und Journalismus wurden immer enger mit einander verbunden. Politiker sollten nicht nur zitiert, sondern analysiert und kritisiert werden. Die Massen sollten aus ihrem Schlaf gerissen und über die herrschende Klasse und ihre Machenschaften aufgeklärt werden.6 Aus diesem Grund sollten die Journalisten nicht länger versuchen objektiv zu sein: Objektivität sei eine Illusion, die den Massen nicht nütze. Subjektivität war entsprechend keine journalistische Sünde mehr, sondern eine Verpflichtung. Ein guter Journalist hatte engagiert zu sein. Hinzu kam, dass die Zahl der Journalisten ständig stieg. Vielen Babyboomern erschien das Zeitungsgeschäft aufgrund seiner Expansion auf dem Markt als ein attraktives Arbeitsgebiet. Die meisten der jungen Journalisten waren linksorientiert und begeistert von dem neuen Trend. „Altmodische“, um Objektivität bemühte Journalisten waren in den 1970er Jahren eindeutig in der Minderheit.7 So schien die Mehrheit der Pressevertreter in dieser Periode ähnliche Ideale wie die RAF zu haben. Auch die Terroristen wollten die herrschende Klasse stürzen und die schlafenden Massen wachrütteln. Neben diesen prinzipiellen Tendenzen des neuen Journalismus gab es noch einen weiteren Grund, warum sich die Mehrheit der Fernsehund Rundfunkjournalisten in den Niederlanden gegen die offizielle Politik der Bundesrepublik stellte und offen die Seite der Terroristen wählte: das negative Deutschlandbild der linksorientierten niederländischen Meinungsmacher. Die Historiker Jürgen Hess und Friso Wielenga haben die Verhältnisse zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden untersucht und den Schluss gezogen, dass die Niederländer am so genannten Calimero-Syndrom leiden: „Sie sind groß und ich bin klein, und das ist nicht gerecht!“ Ein kleines Land ist dem großen Nachbarn gegenüber immer tendenziell misstrauisch.8 Eingeräumt werden muss hierbei, dass 5 6 7 8

Ebd., S. 337. Ilja van den Broek: Engagement als deugd. Politieke journalistiek tijdens het kabinet Den Uyl, in: Jo Bardoel u. a. (Hg.): Journalistieke cultuur in Nederland, Amsterdam 2001, S. 69-83, hier: S. 71. Chris Vos: Van propagandist tot makelaar. De uitvinding van de Nederlandse televisiejournalistiek, in: Jo Bardoel u. a. (Hg.): Journalistieke cultuur in Nederland, S. 268-287, hier: S. 269. H.J.C. Beunders, H.H. Selier: Argwaan en profijt. Nederland en WestDuitsland 1945-1981, Amsterdam 1983, S. 3. 93

JANNEKE MARTENS

das Verhältnis der niederländischen Bevölkerung zu Deutschland nicht gleich bleibend schlecht, sondern einer Art Wellenbewegung unterworfen ist.9 In den sechziger Jahren verschlechtert sich die Beziehung zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik merklich. Einer der Gründe dieser Stimmungsverschlechterung liegt darin, dass man beginnt, sich mehr für den Krieg zu interessieren und sich bewusst wird, dass viele alte Nazis nie bestraft wurden und noch immer hohe Positionen in der Bundesrepublik einnehmen. Viele Niederländer nahmen es der Bundesrepublik sehr übel, dass unzählige Kriegsverbrecher nicht belangt worden waren und ein angenehmes Leben führen durften. 1966 gab es immer noch Richter und Politiker, die der NSDAP angehört hatten. Zudem fanden viele Niederländer das Prinzip der großen Koalition unter Kiesinger undemokratisch. Die Kritiker standen demzufolge auf der Seite der außerparlamentarischen Opposition (APO), die derselben Meinung war, und verurteilte die brutale Weise, mit der die bundesdeutsche Polizei gegen die Studentenproteste vorging.10 Viele Journalisten sahen Parallelen zur Weimarer Republik, die, genauso wie die Bundesrepublik, eine sehr junge Republik gewesen war und in der die Linken verfolgt worden waren, während die Nationalsozialisten sich frei bewegen und ihre Meinung verbreiten konnten. Manche hatten Angst, dass die noch junge Bundesrepublik nicht lange existieren würde.11 Eine wichtige Rolle spielte in dieser Phase die Ausstrahlung der Fernsehserie „De Bezetting“ („Die Besatzung“) die von Lou de Jong moderiert wurde.12 De Jong vertrat die Meinung, dass die meisten Niederländer während des Krieges tapfer und friedfertig, die Deutschen hingegen brutal und grausam gewesen seien. Als die große Koalition 1969 beendet und Willy Brandt Bundeskanzler wurde, verbesserten sich die niederländisch-deutschen Beziehungen ein wenig. Willy Brandt war nach Meinung der meisten Niederländer ein so genannter guter Deutscher und seine Politik des Wandels durch Annäherung war populär. Die Stimmung änderte sich jedoch bereits 1974 wieder, als Helmut Schmidt neuer Bundeskanzler wurde. Schmidt verhielt sich auf eine andere Weise zum zweiten Weltkrieg als sein Amtsvorgänger. Er setzte den Schlussstrich. Die moralische Schuld des zweiten Weltkrieges sei abgegolten. Hess und Wielenga folgend gab 9

Jürgen Hess, Friso Wielenga: Duitsland in de Nederlandse pers altijd een probleem? Drie dagbladen over de Bondsrepubliek, ’s-Gravenhage 1982, S. 13. 10 Friso Wielenga: Van vijand tot bondgenoot. Nederland en Duitsland na 1945, Amsterdam 1999, S. 344. 11 Ebd., S. 345. 12 Ebd., S. 306.

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DIE ROTE ARME FRAKTION IN DEN NIEDERLÄNDISCHEN MEDIEN

es noch eine weitere Erklärung für das sich verschlechternde Klima. So wurde der Radikalenerlass aus dem Jahr 1972 zunehmend angewandt. Er ermöglichte die Entlassung bzw. die Verweigerung einer Anstellung im öffentlichen Dienst, falls der Verdacht bestand, die betreffende Person lehne die freiheitlich demokratische Grundordnung ab. Die Gegner dieses Gesetzes (darunter viele niederländische Journalisten) bezeichneten diese Entlassungen als „Berufsverbote“. Der Radikalenerlass sowie die Erweiterung des Polizei- und Fahndungsapparates galten linksorientierten Niederländern als Beweis, dass Deutschland (wieder) auf dem besten Wege war ein Polizeistaat zu werden bzw. genau genommen bereits einer war – die Deutschen hatten dies nur noch nicht bemerkt, „wahrscheinlich, weil sie keine Niederländische Zeitungen lasen“13. Auch wenn der größte Teil der niederländischen Bevölkerung diese Ansicht nicht unbedingt teilte und keine Ressentiments gegen die Deutschen hegte, galt in linken Kreisen die Devise „Ein guter Niederländer hat deutschfeindlich zu sein“. Diese Meinung vertraten vor allem diejenigen, die am deutlichsten in der Öffentlichkeit in Erscheinung traten, d. h. Leiter von politischen Bewegungen und Journalisten. Entsprechend kommt Friso Wielenga in „Van vijand tot bondgenoot“ zu dem Schluss: Deutschland hatte viele Freunde in den Niederlanden, aber die deutschfeindliche Minderheit war lauter.14

Die niederländische Presselandschaft In den 1970er Jahren gab es in den Niederlanden nur zwei Fernsehsender. Wie viele Rundfunkanstalten existierten, ist hingegen kaum genau zu ermitteln, da viele von ihnen nur in einer bestimmten Region zu empfangen waren. Ganz sicher ist jedoch, dass es damals noch nicht so viele Rundfunksender gab wie heute.15 1970 besaß 82 % der niederländischen Haushalte ein Fernsehgerät. Zwischen 1965 und 1975 wurde nur sieben oder acht Stunden pro Tag ausgestrahlt. Ab 1975 wurde das Angebot nach und nach ausgeweitet, aber erst ab 1982 wurden auch tagsüber Programme gesendet.

13 Gerard Kessels: Kijkt de Nederlandse correspondent nog te veel naar de Nederlandse strafbank, in: Karsten Renckstorf, Jeroen Janssen (Hg.): Erger dan Duitsers... Het beeld van Duitsers en Duitsland in de Nederlandse media, Nijmegen 1989, S. 47-50, hier: S.47 (Übers. d. Verf.). 14 Vgl. Friso Wielenga: Van vijand tot bondgenoot, S. 312. 15 Pieter Bakker, Otto Scholten: Communicatiekaart van Nederland. Overzicht van media en communicatie, Alphen aan de Rijn 2003, S. 99-123. 95

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Die Medienlandschaft war und ist in den Niederlanden anders strukturiert als in Deutschland. Während in Deutschland die Sender regional zugeteilt sind, befinden sie sich in den Niederlanden in einem „Säulensystem“ organisiert, in dem jede Weltanschauung bzw. religiöse Konfession über eine eigene Rundfunk- bzw. Fernsehanstalt verfügt. Dieses System war in den 1960er und 70er Jahren noch stärker präsent als heutzutage. In den 70ern gab es sieben wichtige Sender in den Niederlanden, die sich jeweils an eine eigene Kundschaft mit der gleichen Weltanschauung richteten. Die religiösen Sender waren der protestantische Rundfunkverein NCRV, die katholische Rundfunkorganisation KRO und ab 1970 der evangelische Rundfunk (EO). Sozialisten hörten den VARA, der mit der sozialistischen Arbeiterpartei PvdA liiert war. Die ursprünglich protestantische VPRO, die „freisinnige protestantische Rundfunkanstalt“, orientierte sich immer weiter nach links, stand schließlich sogar links von der VARA und wurde dadurch auch bei linksorientierten Intellektuellen zunehmend beliebter. Darüber hinaus gab es noch zwei Sender, die sich als allgemeine, nationale Fernsehanstalten verstanden und sich an kein bestimmtes Publikum richteten: die TROS und die AVRO. Überzeugte Christen und Sozialisten verabscheuten diese Fernsehanstalten, bei gemäßigten Niederländern und Liberalen waren ihre Übertragungen aber beliebt. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass 1975 der Fernsehsender Veronica gegründet wurde, der sich vor allem an ein junges Publikum wenden wollte und sich daher auf Musiksendungen spezialisierte. Daneben gab es noch die NOS, die für die täglichen Nachrichtensendungen und die Berichterstattung bei wichtigen aktuellen Ereignissen verantwortlich war. Die NOS vertrat keine bestimmte Gesinnung und wollte möglichst objektiv sein. Nicht vergessen bei der Beurteilung dieser Sendungen darf man, dass Nachrichtenprogramme generell, vor allem aber das „NOS-Journal“, über eine größere Breitenwirkung und damit auch Autorität verfügte, als dies heutzutage der Fall ist. Da nur zwei TV-Kanäle existierten, gab es zu jeder niederländischen Sendung immer nur eine Alternative. Heute ist aufgrund des großen Senderangebotes die Konkurrenz viel größer. Angemerkt werden muss auch, dass aufgrund der schlechten Archivierung der Fernsehsendungen in den 1960er und 70er Jahren leider viel Material verloren gegangen ist. Glücklicherweise wurden im untersuchten Zeitraum jedoch von jeder Fernsehanstalt genügend Sendungen archiviert, um zu repräsentativen Forschungsergebnissen zu kommen.

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D i e R AF i n d e n n i e d e r l ä n d i s c h e n S e n d u n g e n 1970 wurde die Rote Armee Fraktion gegründet, doch bereits 1972 waren die führenden Köpfe der Gruppe inhaftiert. Es fällt auf, dass in dieser Zeit im niederländischen Fernsehen kaum von der RAF berichtet wurde. Einige wenige Sendungen beschäftigten sich mit der APO und Rudi Dutschke, wobei sowohl die Bundesrepublik als auch die Protestler kritisiert wurden. Das „NOS-Journal“, die nationale Tageschau, berichtete über die Festnahme von Andreas Baader und Holger Meins, leider ist jedoch der live gesprochene Kommentar zu den Bildern verloren gegangen. Es ist deswegen nicht möglich zu erfahren, auf welche Weise NOS von dieser Festnahme berichtete. Die einzige Fernsehanstalt, von der eine Stellungnahme zur Festnahme archiviert ist, ist die ausgesprochen linksorientierte VPRO. Mit sichtlicher Abscheu erklärt der Moderator, dass die Festnahme einer Kriegsaktion geähnelt habe. Darüber hinaus wird berichtet, dass linke Journalisten in der Bundesrepublik bei ihrer Berufsausübung viele Schwierigkeiten erfahren. Dennoch sympathisiert der Moderator aber nicht wirklich mit den Mitgliedern der RAF und distanziert sich ausdrücklich von den von ihnen praktizierten Formen der Gewaltanwendung. Im Blick auf das damalige linksradikale Profil der VPRO sind die geäußerten Anklagen nicht wirklich überraschend. Insgesamt erfasste die anti-bundesrepublikanische Haltung den niederländischen Journalismus jedoch erst 1974 nach dem Hungerstreik der inhaftierten Terroristen, mit dem die RAF-Häftlinge versuchten, eine Änderung ihrer Haftbedingungen zu erreichen. Zudem war 1974 auch das Jahr, in dem Helmut Schmidt neuer Bundeskanzler wurde, was, wie bereits erwähnt, zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Niederlanden und der BRD führte. Besonders auffallend ist, dass die niederländischen Fernsehsendungen kaum von den Gewalttaten und den Opfern der RAF berichteten. Stattdessen wurde den Haftbedingungen und den Methoden, wie Deutschland den Terrorismus zu bekämpfen versuchte, immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet und die Berichte gestalteten sich entsprechend immer negativer. Scharf kritisiert wurden vor allem die sich häufenden Berufsverbote. Sogar der gute Ruf Willy Brandts wurde rückwirkend beschädigt, da der Radikalenerlass schließlich unter seiner Regierung eingeführt worden war. Viele niederländische Journalisten verloren das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat. Ein VARA-Kommentator äußerte die Ansicht, die Bundesregierung verletze die Menschenrechte, da die Häftlinge ohne Prozess zu Isolationshaft verurteilt seien. 97

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„Es ist fragwürdig, ob man noch von einem Prozess sprechen kann. Mit ehrlicher Rechtspflege hat es nicht viel zu tun. Besonders am Anfang wurden die Häftlinge skandalös behandelt. Denken Sie an die Isolationshaft. Durch Sondergesetze konnten die Verdächtigen und ihre Verteidiger von der Sitzung ausgeschlossen werden.“16

Dass linksorientierte Journalisten so dachten, war zu erwarten. Auffallend ist jedoch, dass auch rechte und konfessionelle Berichterstatter häufig diese Meinung vertraten. Jan Kuiper, Korrespondent des katholischen KRO nannte in einer seiner Sendungen Isolationshaft den „perfekten Mord“ und erklärte, dass die RAF-Häftlinge unter „sehr schwerem psychischen Terror“ zu leiden hätten.17 In dem Dokumentarfilm‚ „Geen kans voor Baader-Meinhof“ („Keine Chance für Baader-Meinhof“), beschreibt der Journalist aus seiner Perspektive die Art und Weise, wie die Bundesregierung versucht den Terrorismus zu bekämpfen: „Die Hysterie hatte politische Folgen. Hier, hinter mir, im westdeutschen Bundestag wurde im Sommer 1972 über die Baader-Meinhof-Gruppe häufig emotional debattiert. Die Angst vor einer radikalen Revolution war so stark, dass die Maßnahme, die der Bundestag traf, um die kleine Gruppe um Baader und Meinhof zu bekämpfen, fast grotesk erschienen. Die Polizeitruppe wurde vergrößert und Millionen ausgegeben, um das BKA mit besserem Material auszustatten. Der Bundesgrenzschutz, ausgerüstet mit leichten Panzern und Maschinengewehren, kam zum Einsatz. Der Bundestag ermöglichte es, jeden, der im Verdacht stand, eine Gefahr darzustellen, zu verhaften. Man hatte Angst und ab und zu ähnelte die Bundesrepublik einem Polizeistaat. Polizei und Presse unternahmen kaum etwas, die Hysterie der Bevölkerung zu besänftigen. Angstgefühle wurden instrumentalisiert. Der westdeutsche Bürger, der ohnehin ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit hat, reagierte emotional, weil die Presse und Polizei ihm den Eindruck vermittelten, dass sein Leben und sein Besitz bedroht waren. Die Jagd auf die Gruppe nahm Formen an, die man für einen modernen Rechtsstaat als extrem bezeichnen kann. Manchmal beteiligten sich mehr als 150.000 Polizisten an der Treibjagd. Die Polizei war nervös. Die Frau, die hier hinein geschleppt wird, ist das Mitglied der BaaderMeinhof-Gruppe Margrit Schiller. Diese vollkommen überflüssige und ernied-

16 Baader-Meinhof-Groep, in: Achter het nieuws, VARA, 2.9.1976 (Übers. d. Verf.). 17 Jan Kuiper: Artsen in West-Duitsland nemen actie om te voorkomen dat Ulrike Meinhof onder dwang zal worden onderzocht, in: Echo, KRO, 14.8.1973 (Übers. d. Verf.). 98

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rigende Szene, die von der Zeit ‚barbarisch‘ genannt wurde, zeigt, dass Polizei und Justiz völlig durchdrehen.“18

Die meisten Sendungen, die der RAF gewidmet waren, berichteten fast nie von den Gewalttaten, die ihr angelastet wurden oder ihren Opfern. Man hätte fast glauben können, die RAF habe nur einige Flugblätter verteilt. Vereinzelt gab es auch Sendungen, die die RAF-Gewalt nicht ignorierten. Die rechtsorientierte TV-Zeitschrift Televizier Magazine bezeichnete sie im November 1974 als kriminell und gefährlich. Aber selbst der Televizier-Moderator protestierte gegen die Haftbedingungen, die er als unmenschliche Folter bezeichnete: „Obwohl es klar ist, dass dieser Hungerstreik der terroristischen BaaderMeinhof-Gruppe eine große propagandistische Wirkung hat, sind die Forderungen dieser Menschen nicht ungerechtfertigt. Es ist nicht richtig, dass Menschen, die sich schon über zwei Jahre ohne Prozess und ohne Verurteilung in Untersuchungshaft befinden, die gleiche Behandlung erfahren wie diejenigen, die erst ein halbes Jahr inhaftiert sind. Wobei dies übrigens lange genug ist. Eine so lange Zeit ohne soziale Kontakte leben zu müssen, ohne mit anderen Häftlingen arbeiten, die Kirche besuchen oder fernsehen zu können, ist wirklich geistige Folter und darum zu verurteilen.“19

Die mit der sozialistischen PvdA liierte VARA erklärte die Bundesregierung sogar mitschuldig an dem Tod von Holger Meins.20 Über die Entführung von Peter Lorenz durch die Bewegung 2. Juni und die Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm gibt es hingegen keine ausführlichen Reportagen. Erst nach dem Tod von Ulrike Meinhof kehrt der deutsche Linksterrorismus wieder ins niederländische Fernsehen zurück. Dabei spielt die Debatte darüber, ob der Selbstmord womöglich ein Mord war, eine große Rolle. In nicht weniger als 75 % der Sendungen wird die Erklärung, dass Meinhof Selbstmord begangen hat, in Zweifel gezogen. Der katholische Sender KRO, der sozialistische VARA und der NOS spekulieren darüber, ob Meinhof ermordet wurde, und ihre Journalisten sprechen ausschließlich mit Personen, die diese Meinung vertreten, wie dem Anwalt Klaus Croissant oder Meinhofs Schwester Wienke Zitslaff. Nach dem Tod Ulrike Meinhofs schenken die niederländischen Journalisten der RAF und ihren Aktionen immer weniger Aufmerksamkeit. Stattdessen rücken die Methoden, mit denen 18 Jan Kuiper: Geen kans voor Baader-Meinhof, KRO, 10.9.1974. 19 Wil Simon u. a.: Baader-Meinhof Groep, in: Televizier Magazine VI/10, AVRO, 29.11.1974. 20 Baader-Meinhof Groep, in: Achter het nieuws. 99

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die BRD versucht den Terrorismus zu bekämpfen, in den Mittelpunkt. Dabei spielen der Radikalenerlass und die negativen Folgen für die Menschenrechte eine zunehmend wichtigere Rolle in den Sendungen. Der radikalste Journalist dieser Epoche ist zweifellos der bereits erwähnte Nico Haasbroek. Der spätere Chefredakteur des NOS-Journals war damals Korrespondent der VPRO in der BRD. Im August und September 1977 widmete er der RAF eine Rundfunkreihe, die so viel Aufsehen innerhalb und außerhalb der Niederlande erregte, dass sie hier ausführlicher behandelt werden soll. Es handelt sich um die Reihe „Die ‚Terroristen‘“ Sie bestand aus sechs Sendungen mit einer Länge von fast zwei Stunden. Die Reihe wurde über sieben Wochen im Rahmen der Sendung „Embargo“ ausgestrahlt. Ursprünglich waren nur vier Sendungen geplant gewesen, die Sendungen erzielten jedoch so viel Aufmerksamkeit und wurden so kontrovers besprochen, dass man sich entschied, die Reihe um zwei Sendungen zu verlängern, in denen mit Journalisten diskutiert wurde, die die Serie kritisiert hatten, wobei diese zusätzlichen Sendungen zufällig genau während des „Deutschen Herbstes“ ausgestrahlt wurden. Wie bereits erwähnt, stand das Wort „Terroristen“ absichtlich in Anführungszeichen. Haasbroek nannte die RAF-Terroristen lieber Mitglieder des revolutionären Widerstands. In den Zusatzsendungen der „Terroristen“ gab es keine Berichte über die aktuellen Ereignisse, über diese wurde vielmehr in „Embargo“ gesprochen. Da der Unterschied zwischen den beiden Teilen für viele Zuhörer nicht ersichtlich war, wird auch der Kommentar aus „Embargo“ hier behandelt. Die Sendungen von „Die ,Terroristen‘“ bestehen vor allem aus Interviews. Haasbroek sprach unter anderem mit Wolfgang Grundmann, einem ehemaligen RAF-Mitglied, Sybilla Haag, der Ehefrau des RAF-Anwalts Siegfried Haag, der sich der Gruppe angeschlossen hatte, und mit verschiedenen RAF-Anwälten, unter anderem Pieter Herman Bakker Schut und Klaus Croissant. Alle Gäste von Haasbroek waren links und die meisten bekennende RAF-Sympathisanten. Sehr häufig wurde darum die Kritik geäußert, er rede nur mit Menschen, die seine Meinung teilten. Haasbroek selbst widersprach dem Vorwurf und behauptete politisch eher rechtsorientierte Sachverständige hätten auf seine Einladung nicht reagiert oder sich geweigert mit ihm zu sprechen. Dieses Argument muss als ziemlich schwach bezeichnet werden, da andere Journalisten problemlos Gespräche mit RAF-Kritikern geführt hatten. Erst in der fünften Sendung sprach Haasbroek mit Personen, die andere Meinungen als er selbst vertraten. Frank Kuitenbrouwer und C. Steiner hatten in der Zeitung NRC Handelsblad starke Kritik an Haasbroek geübt, die sich vor allem auf die ihrer Meinung nach zu unkritische Weise bezog, wie Haasbroek seine Gäste interviewte. Wer heu100

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te die Sendungen hört, muss Kuitenbrouwer und Steiner Recht geben. Haasbroek insistiert nicht, bohrt nicht nach, sondern gibt sich oft selber die gewünschten Antworten und brummt häufig „ja, stimmt“ vor sich hin, wenn einer der Interviewten antwortet.21 Ein Interview mit Herman Pieter Bakker Schut aus dem vierten Teil der „Terroristen“ ist exemplarisch für die Weise, wie er interviewt. Bakker Schut berichtet, dass es sowohl in der BRD als auch in den Niederlanden wirtschaftliche Probleme gibt, die dazu führen, dass sich die Regierungen der beiden Länder nur mit Krisenbeherrschung beschäftigen und die sozialen Probleme vernachlässigen. Dies verursache, so Bakker Schut, „einen immer stärker anwachsenden Polizeiapparat, mit immer größeren Vollmachten, eine Vermischung von Polizei und Militär. Nicht ohne Grund wurden die Aktionen der molukkischen Aktivisten mit einem Militärangriff erstickt, wobei diese Menschen sogar nach dem Kriegsgesetz gesetzeswidrig abgeknallt wurden. In Deutschland ist die Vermischung zwischen Polizei und Militär natürlich schon viel weiter...“

Haasbroek unterbrach Bakker Schut und ergänzt: „... und die Aktionen der Geheimdienste, der Nachrichtendienste ...“22 Die Weise, wie Haasbroek hier unterbricht und ergänzt, ist kennzeichnend für die Interviews in „Die ‚Terroristen‘“. Es ist ein trauriges Bild, das Haasbroek und seine Gäste hier von der BRD zeichnen: Diese sei dabei sich in einen Polizeistaat zu verwandeln und stelle darum eine große Gefahr für Europa dar. Diese Ansicht wurde bereits in der ersten Sendung von dem prominenten Publizisten und politischem Kommentator Anton Constandse vertreten: „Jeder Oppositionelle in der Bundesrepublik wird des Anarchismus verdächtigt. Auf dieser Weise wird die Grundlage für einen Polizeistaat geschaffen. Alle dazu benötigten Organe und Instrumente sind in der BRD schon existent. Daher kann man wirklich von einer präventiven Konterrevolution sprechen, und das ist das größte Problem, das Europa bedroht.“23

Die Serie wurde aufgrund ihrer dreisten Stellungnahmen heftig kritisiert, auch in der Bundesrepublik. Der Spiegel publizierte die hier zitierte Stellungnahme von Constandse und nannte sie skandalös. Die 21 Vgl. Interview Wolfgang Grundman in: Nico Haasbroek: De „Terroristen“ II, in: Ronald van den Boogaard, Embargo, VPRO 12.8.1977 (Übers. d. Verf.). 22 Nico Haasbroek: De „Terroristen“ deel I. 23 Ebd. 101

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Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: „Dennoch erschrickt man darüber, was ein holländischer Rundfunk- und Fernsehkorrespondent von Bonn aus über die Bundesrepublik an den Freitagen im August verbreitete: Berichte über einen Horrorstaat, wie ihn Georg Orwell nicht schlimmer schildern könnte.“24 Auch aus den eigenen Reihen kam Kritik. Der VPRO-Fernsehdirektor Arie Kleijwegt schrieb dem Botschafter der Bundesrepublik in den Niederlanden einen Brief, in dem er sich von Haasbroeks und Constandses Äußerungen distanzierte. Dass die Politik der VPRO Rundfunkanstalt jedoch generell auf einer anderen Linie lag als diese Geste ihres Fernsehdirektors, zeigt die folgende Werbeannonce: „In Deutschland könnte eine Fernsehanstalt wie der VPRO nie existieren. Sei darum froh, dass es uns hier gibt. Hilf, dass die VPRO im Äther bleiben kann. Werde Mitglied!“25

Der „Deutsche Herbst“ und seine Folgen in der niederländischen Presse Die Beziehungen zwischen den niederländischen Journalisten und der Bundesrepublik haben ihren absoluten Tiefpunkt erreicht und es hat den Anschein, dass sich die Lage so bald nicht bessern wird. Mit den Ereignissen im „Deutschen Herbst“ ändert sich jedoch alles. Trotzdem die niederländischen Journalisten immer erklärt haben, Gewalt zu missbilligen, findet die RAF in ihren Reihen relativ viel Unterstützung, aufgrund ihrer Kritik an der deutschen Nazivergangenheit. Als jedoch bei der Entführung von Schleyer und der Geiselnahme der Landshut unschuldige Opfer sterben und die RAF dann auch noch in den Niederlanden aktiv wird, nimmt die Sympathie der Journalisten schlagartig ab. Am 15. September wird der entführte Hanns Martin Schleyer nach Den Haag transportiert. In diesem Moment lernen auch die Niederlande den deutschen Terrorismus kennen. Bereits im September gibt es zwei Schießereien. Dabei kommt ein niederländischer Polizist ums Leben. Die RAF ist nun nicht nur für Deutsche, sondern auch für Niederländer gefährlich. Entsprechend ändert sich der Ton der Sendungen. Die RAF-Mitglieder werden mit immer negativeren Adjektiven beschreiben; Ausdrücke wie „le24 Zitiert nach Nico Haasbroek: R.A.F. Rote Armee Fraktion. Een geruchtmakende VPRO-radioserie van Nico Haasbroek over het West-Duitse terrorisme, Hilversum, VPRO 1977, S. 47 (Über. d. Verf.). 25 Rik Zaal: Salonterroristen. Deel 1 R.A.F., Humanistische Omroep, 15.4.2003. 102

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bensgefährliche Kriminelle“ und „Schwerverbrecher“ werden nun häufig benutzt.26 In verschiedenen Sendungen wird vor der Gefahr, die jetzt auch den Niederlanden droht, gewarnt. Ein NCRV-Reporter interviewt nach der Erschießung eines Polizisten in Utrecht den Minister-Präsident Joop den Uyl (PvdA): „Cees Labeur: Deutschland wird nicht um eine Auslieferung des Terroristen Folkerts bitten. Das bedeutet, dass er in den Niederlanden verurteilt und eingesperrt wird. Das könnte neue Aktionen von Baader-Meinhof in den Niederlanden auslösen. Wir haben eigentlich, wider Willen, ein deutsches Problem importiert. Joop den Uyl: Das würde ich so nicht sagen. Sie haben trotzdem Recht. Das Aufrechterhalten unserer Rechtsordnung könnte neue Anschläge gegen die Rechtsordnung auslösen.“27

Sogar der mit der RAF sympathisierende Journalist Anton Constandse, der bereits zitiert wurde, änderte seine Meinung. Nun erklärt er: „Die RAF war eine Protest- und Aktionsgruppe [...]. Die Reaktion in Deutschland war eine typische Nazireaktion. Die Niederlande hat selbst unter dem Nazismus gelitten. Deswegen ist es unverantwortlich, hierher zu kommen. Es deutet auf eine enorme Schwächung des RAF-Standpunktes hin. Wenn die RAF wirklich hier ist, ist sie keine politische Organisation.“28

Dass die Sympathie der niederländischen Journalisten für die RAF abnimmt, bedeutet jedoch nicht, dass damit ihre Meinung über die Bundesregierung positiver würde. Im Gegenteil erklären manche Journalisten, die RAF habe zwar Fehler gemacht, aber Schuld daran sei die Bundesrepublik. So erklärte Cherry Duyns in seinem Dokumentarfilm „De bedreiging“: „Bei der Erweiterung des Polizeiapparates und des Sicherheitsdienstes arbeiteten die Terroristen und die rechte Opposition zusammen. Mit jedem neuen Terrorakt wurden neue Maßnahmen eingeführt. Mehr Personal, mehr Geld und mehr Apparatur sollen Antwort geben auf die Bedrohung. Die Terrorismusbekämpfung wird auf diese Weise selbst zu einer Bedrohung. In dieser Atmo26 Vgl. Cees Gravendaal: Politieman in Utrecht neergeschoten, in: Hier en nu, NCRV, 22.9.1977 und Cherry Duyns: Vliegeren op de duivelsberg, VPRO, 4.12.1977 (Übers. d. Verf.). 27 Cees Labeur: Interview met premier Den Uyl, in: Hier en nu, NCRV 24.9.1977 (Übers. d. Verf.). 28 Henk Hofland u. a.: Welingelichte kringen, VPRO, 28.10.1977 (Übers. d. Verf.). 103

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sphäre von aufeinander folgenden Morden ist der Kreis der Verdächtigen unbegrenzt. Material für die ohnehin schon überfüllten Polizeiarchive – der BVS hat fast drei Millionen Akten – wird auf die modernste Art gesammelt. Man kann sich dagegen schützen durch das Tragen eines Kopftuchs oder einfach dadurch, dass man zu Hause bleibt. Verleumdung und Verdächtigung sind weit verbreitet in einer Gesellschaft, die keine Kritik ertragen kann.“29

Im Oktober 1977 diskutierten vier prominente niederländische Journalisten im Rundfunkforum Welingelichte Kringen über den möglichen Verbleib der RAF-Mitglieder in niederländischen konspirativen Wohnungen. Der renommierte linke Journalist Joop van Tijn erklärte seinen Standpunkt über die Position Deutschlands in Europa: „Seit Jahrhunderten fühlen sich die deutschen Autoritäten bedroht, da das Land im Mittelpunkt Europas liegt. Das ist eine Theorie von [Jacques] Presser. Er hat daher Angst, dass es noch einmal [einen deutschen Angriff auf Europa] geben könnte. Ich halte das auch nicht für unwahrscheinlich. Im Prinzip sollten wir Druck auf die Deutschen ausüben, um so zu gewährleisten, dass sie die bürgerlichen Freiheiten bewahren. Aber das ist schwierig, da sie sich so schnell angegriffen fühlen.“30

Nur ein Teilnehmer des Forums protestierte gegen diesen Gedanken. Frank Kuitenbrouwer sprach von einer „blinden dogmatischen Deutschfeindlichkeit“ und „politischem Rassismus“. Seine Meinung wurde von seinen Kollegen im Forum aber nicht geteilt. Es hatte allen Anschein, dass in den niederländischen Rundfunkund Fernsehanstalten das Gespenst von Weimar umging. Die Journalisten waren der Meinung, dass, ebenso wie in der Zwischenkriegszeit, linke Protestbewegungen in Deutschland unterdrückt würden, rechte Gruppierungen sich hingegen benehmen könnten wie sie wollten. Viele Reporter fanden, dass die Bundesrepublik linke Demonstranten unrechtmäßig unterdrückte. Die RAF war genau derselben Meinung. Doch nicht mit allen Ideen der RAF konnten sich die niederländischen Journalisten solidarisieren. So waren sie absolut gegen die Anwendung von Gewalt. Trotzdem hatten viele ein gewisses Verständnis dafür, dass die RAF Widerstand leistete gegen das alte, autoritäre Deutschland, wo immer noch viele alte Nazis lebten, die nie für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden waren. Zudem hatte die meisten Journalisten in den 1970er Jahren häufig eine Vorliebe für linke 29 Cherry Duyns: De bedreiging, VPRO, 1.1.1978. 30 Henk Hofland u. a.: Welingelichte kringen. 104

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Protestbewegungen, besonders wenn diese Bewegungen eine Außerseiterposition einnahmen – wie die RAF in der Bundesrepublik. Man glaubte den RAF-Häftlingen, wenn diese behaupten, sie seien im Gefängnis gefoltert worden, und mancher konnte sich sogar vorstellen, dass die Bundesrepublik soweit gegangen wäre, die Gefangenen zu ermorden. Man beschuldigte Deutschland öffentlich, kein Rechtsstaat zu sein und die Menschenrechte zu verletzen. Es stimmt, dass die Deutschen Anti-Terrorismusmaßnahmen hart waren. Willy Brandt hat später zugegeben, dass der Radikalenerlass eine zu strenge Anwendung fand. Die politische Lage in der Bundesrepublik war aber keinesfalls so dramatisch, wie die niederländischen Journalisten sie darstellten. Diese haben ganz offensichtlich, zumeist aus der Position eines engagierten Journalismus heraus, zahlreiche falsche Aussagen der RAF ohne Prüfung oder weitere Recherchen aufgegriffen und in der niederländischen Öffentlichkeit verbreitet.

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II. „D ER DEUTSCHE H ERBST “ ALS K OMMUNIKATIONSEREIGNIS

Te rroris mus und Kommunikation: Forschungsstand und -perspektiven zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre KLAUS WEINHAUER Der Beitrag betrachtet Terrorismus als Kommunikationsereignis, dessen Analyse breit einzubetten ist z. B. in eine Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit. Die Fallstudie betont eine Zäsur in der bundesdeutschen Gesellschaft um 1978, als eine Kritik gegenüber staatlichem Handeln erkennbar wurde, beeinflusst durch Wandlungen in der polizeilich-staatlichen Herrschaftspraxis und deren Wahrnehmung, durch die Medienoffensive zur Terrorismusbekämpfung, vorangetrieben von Polizei, Politik, aber auch einigen Medien sowie durch die Aktivitäten der neuen sozialen Bewegungen und deren intensivierte mediale Repräsentation.

Die publizistische Aufmerksamkeit gegenüber dem bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre war in den vergangenen Jahren recht hoch und ist durch den 30. Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ von 1977 sowie die daran anknüpfenden öffentlichen Debatten nochmals gestiegen. Auch die Geschichtswissenschaft hat sich dem Thema Linksterrorismus inzwischen zugewandt.1 Daneben gibt es jedoch viele Publika1

Vgl. zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M., New York 2006; http://www.zeithistorische-forschungen.de/1612604 1-Kirsch-2-2004 [22.6.2008]; Matthias Dahlke: „Nur eingeschränkte Krisenbereitschaft“. Die staatliche Reaktion auf die Entführung des CDUPolitikers Peter Lorenz 1975, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 109

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tionen, die kaum über die gesellschaftliche Einbindung des Linksterrorismus reflektieren. Dieses Nachdenken würde zum einen dazu führen, die Bedeutung des Linksterrorismus für die Geschichte der 1970er Jahre zu relativieren; denn dieser war doch nur ein Merkmal (unter vielen anderen) dieser Dekade. Zum anderen wäre es so möglich, die Erkenntnisse der Terrorismusforschung zu nutzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu analysieren. Hier setzt der vorliegende Beitrag an und resümiert zunächst den aktuellen Forschungsstand aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, um anschließend dafür zu plädieren, Terrorismus als Kommunikationsereignis zu betrachten. Der dritte Teil zeigt dann, welche Aufschlüsse eine solche sozial- und kulturgeschichtliche Analyse des Linksterrorismus (und dessen Bekämpfung) über die bundesdeutsche Gesellschaft der 1970er Jahre geben kann.

Forschungsstand Grundsätzlich sind die Unzulänglichkeiten der bisherigen Forschung zum bundesdeutschen Linksterrorismus durch zwei Faktoren bedingt: durch begriffliche Unschärfen sowie die enge methodische Ausrichtung vieler Studien. Der Terminus „Terrorismus“ ist nur sehr schwer zu definieren. Jede Definition sollte berücksichtigen, dass es sich um keinen neutralen, sondern um einen politisch und moralisch abwertenden Begriff handelt. Diejenigen, die als „Terroristen“ bezeichnet werden, sollen in der Regel abqualifiziert und ihre Ziele diskreditiert werden. Eine immer noch tragfähige Arbeitsdefinition stammt von Peter Waldmann. Er betrachtet den Terrorismus als „planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen“2. Im Unterschied zum

2

(2007), S. 641-678; Petra Terhoeven: Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien der 70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 380-399; ferner Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006; Louise Richardson: Was Terroristen wollen. Die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frankfurt a. M., New York 2007; Jacco Pekelder, Frits Botterman (Hg.): Politiek geweld in Duitsland. Denkbeelden en Debatten, Amsterdam 2005; Isabelle Duyvesteyn, Beatrice de Graaf (Hg.): Terroristen en hun bestrijders. Vroeger en nu, Amsterdam 2007. Peter Waldmann: Terrorismus. Provokationen der Macht, München 1998, S. 10. Vgl. auch die Definition von Louise Richardson: Was Terroristen wollen, S. 28f.

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TERRORISMUS UND KOMMUNIKATION

Guerillero, dem es um die Gewinnung physischen Raums ginge, wolle der Terrorist „das Denken besetzen“3. Damit gehe es, so Waldmann, um Botschaften, Kommunikationsräume sowie um den Zusammenhang dieser kommunikativen Funktion mit der Häufigkeit terroristischer Gewaltaktionen. Ein genauer Blick auf den derzeitigen Kenntnisstand zum bundesdeutschen Linksterrorismus ergibt eine zweigeteilte Publikationslandschaft. Es dominieren immer noch Erklärungsansätze, die sich auf die damals agierenden Einzelpersonen fokussieren. Biographien, Autobiographien oder Publikationen über diejenigen, die durch die damaligen terroristischen Aktivitäten starben, sind hier zu nennen.4 Da viele dieser personenbezogenen Studien5 durchaus den Anspruch auf überindividuelle Erklärungen erheben, sind drei Probleme unverkennbar: Erstens sind manche der dort behandelten Auseinandersetzungen von einer Historisierung des Phänomens noch weit entfernt. Die durchaus wichtige, aber vielfach nicht mehr bis ins Detail zu klärende Frage nach der ganz konkreten Verantwortung des einen oder anderen bekommt dabei zum Teil einen inquisitorischen Anstrich, der frühere Polemiken zu reproduzieren scheint. Zweitens wird vielfach kaum konkret gezeigt, welche Verhaltensweisen oder Aussagen tatsächlich als „generationsspezifisch“ oder als typisch zumindest für bestimmte Gruppierungen – und somit als verallgemeinerbar – gelten können. Drittens schließlich wird die gesellschaftliche Dimension nicht wirklich in die Argumentation integriert und höchstens am Rande erwähnt. Darüber hinaus reflektieren die jüngst publizierten Studien zur Opferperspektive6, die lange vernachlässigt wurde, den Opferbegriff kaum, d. h. es wird weder untersucht, durch welche Zuschreibungsprozesse aus den Getöteten Opfer wurden noch wird klar benannt, für wen oder was letztere genau gestorben sind. Auch erinnerungskulturelle Reflexionen würden hier analytisch weiter helfen.

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6

Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus, S. 17; sowie zum Folgenden ebd., S. 13f. Vgl. die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 40/41, 1.10.2007; ferner die Literaturüberblicke bei Klaus Weinhauer: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (2004), S. 219-242 sowie Matthias Dahlke: Die staatliche Reaktion. Vgl. u. a. Klaus Stern, Jörg Hermann: Andreas Baader: das Leben eines Staatsfeindes, München 2007; Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003; ferner Beiträge in: Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Karin Wieland: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005. Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München, Zürich 2007. 111

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Neben diesen personenbezogenen Studien existiert ein relativ geschlossener Korpus sozialwissenschaftlicher Analysen aus den späten 1970er und 1980er Jahren, der heute leider kaum noch (oder nur ganz partiell) rezipiert wird.7 Ein großer Teil dieser gesellschaftsbezogenen Untersuchungen entstand im Auftrag des Bundesinnenministeriums und dokumentiert damit das Bemühen des Staates, die Hintergründe jener Bedrohungen aufzuklären, denen sich dieser seit den frühen 1970er Jahren ausgesetzt sah. Sozialwissenschaftler und Kriminologen wie Fritz Sack, Sebastian Scheerer und Heinz Steinert analysierten den Linksterrorismus umfassend als gesellschaftliches Phänomen. Dabei profitierten sie – oft auch unausgesprochen – von Norbert Elias.8 Zwar mögen diese Analysen der 1980er Jahre heute etwas spröde wirken, jedoch ging es den Autoren darum, etwas über den Zustand der bundesdeutschen Gesellschaft auszusagen und weniger über die moralischen Verfehlungen oder den Gemütszustand militanter Aktivisten.9 Ein wichtiger Zugang war dabei, das Phänomen des bundesdeutschen Terrorismus international zu kontextualisieren. Ohne tatsächlich einen systematischen Vergleich anzustellen, wurden zumindest einige Ähnlichkeiten und Unterschiede insbesondere zu Italien, Frankreich und den Niederlanden deutlich.10 Zum einen erschien die staatliche Reaktion auf den Terrorismus 7

Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.): Analysen zum Terrorismus, 4 Bde., Opladen 1981ff; Henner Hess u. a.: Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988; vgl. zum folgenden ausführlicher Klaus Weinhauer, Jörg Requate: Einleitung. Die Herausforderung des „Linksterrorismus“, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus, S. 9-32. 8 Norbert Elias: Der bundesdeutsche Terrorismus – Ausdruck eines sozialen Generationenkonflikts, in: Ders.: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 300-389. Die Hauptargumente hatte er bereits 1980 präsentiert, vgl. ders.: Zivilisation und Gewalt. Über das Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen, in: Joachim Matthes (Hg.): Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980, Frankfurt a. M., New York 1980, S. 98 -122. 9 Vgl. u. a. Heinz Steinert: Sozialstrukturelle Bedingungen des „linken Terrorismus“ der 70er Jahre, in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, Opladen 1984, S. 387-603; ders.: Erinnerungen an den „linken Terrorismus“, in: Henner Hess u. a.: Angriff, Bd. 1, S. 15-54; Sebastian Scheerer: Deutschland: Die ausgebürgerte Linke, in: Ebd., S. 193-429; Fritz Sack u. a.: Staat, Gesellschaft und politische Gewalt. Zur „Pathologie“ politischer Konflikte, in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Analysen, Bd. 4/2, S. 19-226. 10 Vgl. als weitere komparative Studien Donatella della Porta: Social Movements, Political Violence, and the State: a comparative analysis of Italy and Germany, Cambridge u. a. 1995; Christian Jansen: Brigate Rosse und 112

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in der Bundesrepublik – gerade im Vergleich mit Italien – nicht als außergewöhnlich hart. Zum anderen arbeiteten die Autoren wohl aber einige deutsche Besonderheiten, vor allem eine spezielle „deutsche Empfindlichkeit“11 heraus, die von einer traumatisch unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit sowie von einer defizitären nationalen Identität bestimmt wurde. Zudem wurde der Bundesrepublik eine besondere „Staatsgläubigkeit“ attestiert, die von der „Ersatz-Legitimität“12 des Wohlstands und des wirtschaftlichen Erfolgs geprägt sei.13 All dies verursachte die bereits von Elias angedeutete „tiefgehende gesellschaftliche Unsicherheit“14. Insgesamt gesehen geht die gesellschaftsbezogene Forschung davon aus, der Terrorismus hätte sich anders entwickelt, wäre die „Legitimationsdecke der herrschenden Ordnung nicht so arg dünn“ und auch die staatlichen Reaktionen auf die Proteste nicht „so übermäßig aggressiv“ gewesen.15 Zudem verweisen diese sozialstrukturellen Analysen auf ein Gesellschaftsverständnis, das stark von Konfliktscheu und einem Streben nach Einheitlichkeit gekennzeichnet war. Darüber hinaus war in der Bundesrepublik, so Heinz Steinert, der politische Ausschluss der Linken stärker als in Italien oder Frankreich. Hinzu kam das nach rechts verschobene politische Spektrum, in dem linke Milieus nur schwache Integrationskräfte besaßen.16 Auch im internationalen Kontext liefern die sozialstrukturellen Analysen bemerkenswert breite Erkenntnisse: über die Umstrukturierung der Arbeitswelt, über die Milieus, in denen der Terrorismus entstanden ist, über die staatlichen Reaktionen auf das Phänomen, bis hin zur Frage, unter welchen Bedingungen Einzelne aus den terroristischen Gruppierungen ausgestiegen sind. So wichtig viele dieser Analysen sind und so sehr sie daher auch in historische Untersuchungen einbezogen werden sollten, weist ihr sozialwissenschaftlicher Zugang doch einen gravierenden Nachteil auf. Die Lücke zwischen der Strukturanalyse der gesellschaftlichen Bedingungen und der Erklärung der konkreten Handlungen bleibt letztlich schwer zu

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Rote Armee Fraktion – ProtagonistInnen, Propaganda und Praxis im Terrorismus, in: Oliver Mengersen u. a. (Hg.): Personen, Soziale Bewegungen, Parteien. Beiträge zur neuesten Geschichte, Heidelberg 2004, S. 483-500; sowie neuerdings Petra Terhoeven: Opferbilder. Heinz Steinert: Erinnerung, S. 46 und 49; ferner Sebastian Scheerer: Die Bundesrepublik Deutschland oder: die Gefahren der „deutschen Empfindlichkeit“, in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Analysen, Bd. 4/2, S. 463-470. Heinz Steinert: Sozialstrukturelle Bedingungen, S. 532 und 501. Ebd., S. 564. Sebastian Scheerer: Deutschland, S. 469. Sebastian Scheerer: Linke, S. 197. Heinz Steinert: Erinnerung, S. 44f. 113

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überbrücken. Zwischen der Darstellung gesellschaftlicher Probleme oder auch sozialer Generationenkonflikte und den radikalen Schlüssen, die einige wenige daraus zogen, ist eine Kausalkette kaum so herzustellen, dass daraus irgendeine Zwangsläufigkeit entstünde. So erscheint die Problematik dieser sozialwissenschaftlichen Ansätze ähnlich gelagert wie die des strukturgeschichtlichen Zugangs der siebziger Jahre: Strukturen können höchstens Bedingungsgefüge, kaum aber Ereignisse selbst erklären. Auffällig an den Analysen ist zudem, dass – ähnlich der Strukturgeschichte – handelnde Personen kaum auftreten.

F o r s c h u n g s p e r s p e k t i ve n : T e r r o r i s m u s a l s Kommunikationsereignis Wie sollte nun eine analytisch weiter führende Untersuchung der Geschichte des bundesdeutschen Linksterrorismus aussehen? Zwingend notwendig wäre es, dessen kommunikative Dimension in den Mittelpunkt zu rücken.17 Dieses Denkmodell bewegt sich auf einer mittleren Ebene zwischen den beiden bisherigen Ansätzen. Durch dieses „missing link“ einer interaktiven Kommunikation soll ein neues Terrain ausgelotet werden zwischen einem biographischen Ansatz, der die Handlungen der Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, und einem sozialwissenschaftlichen, der ganz von den gesellschaftlichen Bedingungen ausgeht. Damit wird explizit an die Arbeiten von Peter Waldmann angeknüpft, der betont, Terrorismus sei „primär eine Kommunikationsstrategie“.18 Die Untersuchung der kommunikativen Aspekte des Terrorismus ist darauf ausgerichtet, das Spezifikum der terroristischen Gewaltakte, das nach Waldmanns Definition in ihren kommunikativen Aspekten besteht, schärfer herauszuarbeiten und analytisch nutzbar zu machen. Es geht nicht um Verharmlosung und auch nicht nur um die Bedeutung der Presse oder um mediale Strategien der Terroristen. Vielmehr steht zunächst die Frage im Mittelpunkt, wer sind die Beteiligten an diesem Kommunikationsprozess? Zu nennen sind die terroristischen Gewalttäter und deren direktes Umfeld, dann der Staat, der sich in seinem Gewaltmonopol herausgefordert sehen muss und schließlich die betroffene Gesellschaft, die sich wiederum in sehr unterschiedliche Gruppierungen aufspalten kann. Im Kommunikationsprozess kommt den Medien eine zentrale Rolle zu. Sie können einerseits von unterschiedlichen Gruppierungen ge17 Erste Anregungen liefern Klaus Weinhauer, Jörg Requate: Einleitung; Klaus Weinhauer: Terrorismus. 18 Peter Waldmann: Terrorismus, S. 13 und 191; vgl. zum folgenden auch Klaus Weinhauer, Jörg Requate: Einleitung. 114

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nutzt werden, andererseits aber auch selbst interpretierend und „Agenda setzend“ in den Prozess eingreifen. Der Ansatz, Terrorismus primär als eine Kommunikationsstrategie zu verstehen, sollte nicht dabei stehen bleiben, die Botschaft der einzelnen terroristischen Akte zu entschlüsseln und nach den genauen Motiven der Täter zu fragen. Im Anschluss an Waldmann und über ihn hinausgehend ist davon auszugehen, dass die Frage nach der Wahrnehmung der Zustände in der Gesellschaft durch die potenziellen Gewalttäter auf der einen sowie die Wahrnehmung und Interpretation der terroristischen Gewaltakte durch die staatlichen Institutionen und die gesellschaftlichen Gruppierungen auf der anderen Seite das Agieren und Reagieren im Bereich des Terrorismus maßgeblich bestimmt haben. Dabei erscheint es auch fundamental, die jeweils beteiligten Gruppen, die oft mit den Sammelnamen „Terroristen“, „Staat“ und „Gesellschaft“ belegt werden, noch deutlicher, als dies häufig geschieht aufzubrechen. So können nicht nur die Kommunikationsbarrieren zwischen, sondern auch innerhalb der Beteiligten benannt und auch danach gefragt werden, wie geschlossen sich „die Terroristen“ und ihr Umfeld und wie geschlossen sich „der Staat“ präsentierte. Dass „die Gesellschaft“ keine Entität ist, versteht sich ohnehin von selbst. Die Betonung der Frage nach der Wahrnehmung des Handelns „der anderen“ sowie das Bestreben, auf allen Seiten unterschiedliche Gruppierungen und Interpretationsmuster herauszuarbeiten, zielen auf eine stärkere sozial- und kulturgeschichtliche Fundierung der Terrorismusforschung. Die Umsetzung eines solchen Denkmodells, das die Kommunikationskomponente des Terrorismus ernst nimmt, sollte angelegt sein als eine kulturgeschichtlich informierte Sozialgeschichte des Terrorismus, die gesellschaftliche, staatlich-politische und kulturelle Aspekte sowie deren Wechselwirkungen integriert und dabei die vorliegenden sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse historisiert.19 All dies scheint möglich im Rahmen einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in der die Analyse des Terrorismus nur eines von mehreren Forschungsfeldern bildet.20 Innere Sicherheit – ein sehr vager Begriff – lässt sich mit Blick auf die innenpolitische Legitimation von Staatlichkeit definieren als komplexes Maßnahmenbündel zur Definition, Darstellung und Festigung von Staatsfunktionen nach innen. Dies war nach „außen“ also in 19 Sehr anregend ist Jörg Requate, Philipp Zessin: Comment sortir du „terrorisme“? La violence politique et les conditions de sa disparition en France et en République Fédérale d’Allemagne en comparaison 1970 – années 1990, in: European Review of History 14 (2007), S. 423-445; weniger ertragreich hingegen Andreas Elter: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a. M. 2008. 20 Vgl. Klaus Weinhauer: Terrorismus, S. 222f. 115

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die Gesellschaft hinein zu kommunizieren, so dass die Bedeutung der Medien für die Inszenierung von Innerer Sicherheit sehr groß ist. Eine sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Analyse der Inneren Sicherheit nimmt nicht nur die sozialgeschichtlichen hard facts über Staat und Gesellschaft in den Blick, sondern auch die darauf bezogenen Wahrnehmungen, mediale Inszenierungen, Leitbilder und Metaphern.

Terrorismusbekämpfung und Kommunikation: die bundesdeutsche Gesellschaft und die Zäsur um 1978 Am Beispiel der Terrorismusbekämpfung soll nachfolgend gezeigt werden, wie Medien staatlicherseits eingesetzt wurden, welche gesellschaftlichen Reaktionen die Terrorismusbekämpfung (und ihr Medieneinsatz) evozierten und wie sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft wandelte. Zumindest zwischen 1974 und 1977 waren der Linksterrorismus und seine Bekämpfung das zentrale Thema auf dem Feld der Inneren Sicherheit.21 Seine polizeilich-staatliche Bekämpfung bestand aus verschiedenen Maßnahmen: Die Fahndung nutzte verstärkt die Medien, vor allem das Fernsehen; die Bevölkerung wurde angehalten, sich an der Fahndung zu beteiligen; besonders nach der Lorenz-Entführung von 1975 ging es darum, staatliche Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Schon zu Beginn der 1970er Jahre berichtete ein Sprecher des Bundeskriminalamts (BKA) im Anschluss an die Nachrichtensendungen Tagesschau und Heute22 wiederholt über die aktuelle Fahndungslage. Gerade die Personalisierung polizeilicher Fahndungen ergänzte sich gut mit der ohnehin stark personenbezogenen Medienberichterstattung. Zudem inszenierte die Polizei Ende Mai 1972, angeregt durch den BKA-Chef Horst Herold, medienwirksam eine „riesenhafte Demonstration staatlicher Macht“: die bundesweite HubschrauberSpringfahndung. Letztere war zwar aus polizeilicher Sicht eher wirkungslos, jedoch wurden die Terroristen nachhaltig beunruhigt.23

21 Vgl. zum Folgenden ebd. sowie ders.: Staatsmacht ohne Grenzen? Innere Sicherheit, „Terrorismus“-Bekämpfung und die bundesdeutsche Gesellschaft der 1970er Jahre, in: Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.): Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 215-238. 22 Vgl. Der Spiegel, 26.6.1972, S. 72. 23 Dieter Schenk: Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998, S. 110. 116

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Die Printmedien untermauerten die staatliche Entschlossenheit in der Terrorismusbekämpfung mit Bildern von Stacheldrahtsperren, Sandsäcken, schwer bewaffneten Männern und Panzerwagen, wobei zwischen Bundesgrenzschutz und Polizei nicht immer klar unterschieden wurde.24 Die staatlich-polizeiliche Kommunikationsoffensive zur Terrorismusbekämpfung wurde ergänzt durch die in manchen Medien eigenständig betriebene „Jagd auf die ‚Baader-Meinhof-Bande‘“25. Wie Stichproben ergaben, stand in den Berichten der überregionalen Tagespresse im Jahresdurchschnitt 1975 der Terrorismus zusammen mit der Wirtschaftskonjunktur an erster Stelle (gefolgt vom Nahost-Konflikt).26 Gleichzeitig setzte die Polizei in der Terrorismusbekämpfung angesichts unspezifischer Täterprofile, unklarer Organisationsstrukturen sowie der damit verbundenen diffusen Gesamtlage noch stärker auf eine medial inszenierte „Mobilmachung der Bürger“. So wurde intensiv versucht, mittels „Volks-Fahndung“27 weiter zu kommen und den „Bürger als Kommissar“28 zu nutzen. Auch Fahndungspuppen wurden eingesetzt, die wie die jeweils Gesuchten gekleidet waren.29 Während der bundesdeutsche Staat mittels der Terrorismusbekämpfung Stärke zeigen und damit seine Schutzfunktionen demonstrieren konnte, entstand in großen Teilen der Gesellschaft zumindest phasenweise eine identitätsstiftende Geschlossenheit, eine „Vertiefung des WirGefühls“30 – dies galt jedoch nur bis 1977, nicht für die spätere Zeit. Denn insgesamt gesehen brachte der „Deutsche Herbst“ von 1977 eine Zäsur in den gesellschaftlichen (Re-)Aktionen gegenüber der Terrorismusbekämpfung.31 Aber auch unter Politikern erhielt ein vorrangig auf 24 Vgl. dazu Martin Steinseifer: Terrorismus als Medienereignis im Herbst 1977: Strategien, Dynamiken, Darstellungen, Deutungen, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus, S. 351 -381. 25 Karl-Heinz Stamm: Alternative Öffentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neue sozialer Bewegungen, Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 68. 26 Jürgen Wilke: Die Tagespresse der siebziger Jahre, in: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der siebziger Jahre, München 2004, S. 81-98. 27 N.N.: Zu viel Schrot, in: Der Spiegel, 26.7.1976, S. 30. 28 Stern, 16.4.1978, S. 30. 29 Vgl. Der Spiegel, 26.7.1976, S. 28 und 30. 30 Helmut Schmidt: „Polizeiliche Arbeit erschöpft sich keineswegs nur in der Terrorismusbekämpfung, sondern ihre tägliche Aufgabe ist die Abwehr und Verbesserung der Abwehr von Gefahren aller Art!“, in: Die Polizei 69 (1978), S. 4-8. 31 Im Begriff „Deutscher Herbst“, der etwa Ende 1977, Anfang 1978 geprägt wurde, vermischten sich neben Trauer und Wut auch Reflexionen über die Zukunft nach den bewegenden Wochen vom September/Oktober 1977. Vgl. Tanja Botzat u. a.: Ein deutscher Herbst. Zustände 1977, Frankfurt a. M. 1978; ferner den im März 1978 uraufgeführten Film „Deutschland im 117

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Ausgrenzung und polizeiliche Repression setzender Umgang mit dem Linksterrorismus allmählich Konkurrenz durch andere Denkansätze. So verlor die Kriegsmetapher zur Deutung terroristischer Gewalt an Überzeugungskraft.32 Auch die Ursachenanalyse des Linksterrorismus wurde – wenn auch unter Kontroversen – vorangetrieben. Zudem intensivierten einige Politiker wie der damalige Westberliner Wissenschaftssenator Peter Glotz die Kommunikation mit dem links-alternativen Milieu.33 Wenngleich die Grenze zur Roten Armee Fraktion (RAF) und anderen Militanten klar gezogen wurde, schienen die Zeiten großflächiger Exklusion vorbei zu sein. Seit dem „Deutschen Herbst“ konnten der Linksterrorismus und seine Bekämpfung weit weniger erfolgreich genutzt werden, um Innere Sicherheit herzustellen, d. h. Staatlichkeit nach innen darzustellen, zu definieren und zu festigen und somit zu legitimieren. Auch waren der Terrorismus und seine Bekämpfung kaum noch in der Lage, breite gesellschaftliche Identität herzustellen. Skeptische Stimmen kritisierten polizeiliche Aktivitäten und damit staatliches Handeln stärker als zuvor. Auf parlamentarischer Ebene thematisierte der Bericht des ehemaligen Innenministers Hermann Höcherl vom 31. Mai 1978 Pannen bei der Fahndung nach den Schleyer-Entführern sowie interne Probleme in der Polizei, vor allem – hinsichtlich der Tätigkeit des BKA.34 Auch der Amtsantritt von Innenminister Gerhart Baum (Juni 1978) markiert einen wichtigen Einschnitt. Nach den Fahndungspannen bei der SchleyerEntführung war Innenminister Werner Maihofer zurückgetreten. Sein Nachfolger stand dem BKA weit kritischer gegenüber und begann damit, dessen Datensammelaktivismus ebenso wie dessen Allmachts- und Kontrollfantasien zu dämpfen.35 Unter diesen Rahmenbedingungen geriet das BKA und mit ihm Horst Herold zunehmend in die Kritik der Politiker, Presse und Datenschützer.36 Herolds Rücktritt im März 1981 be-

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Herbst“; vgl. dazu Walter Uka: Terrorismus im Film der 70er Jahre: Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher beim Umgang mit der realen Gegenwart, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus, S. 382-398. Vgl. Andreas Musolff: Krieg gegen die Öffentlichkeit. Terrorismus und politischer Sprachgebrauch, Opladen 1996; ders.: Terrorismus im öffentlichen Diskurs der BRD: Seine Deutung als Kriegsgeschehen und die Folgen, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus, S. 302-319. Vgl. Dieter Hoffmann-Axthelm u. a.: Zwei Kulturen? – Tunix, Mescalero und die Folgen, Berlin 1978. Vgl. Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1881 vom 7.6.1978. Dieter Schenk: Der Chef, S. 95. Vgl. ebd., S. 371-384, 387-396 und 430-433.

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siegelte dann eine Entwicklung, die bereits im letzten Drittel der 1970er Jahre begonnen hatte. Grundsätzlich wurde seit dem letzten Drittel der 1970er Jahre ein komplexer sozialer Prozess sichtbar, der eine veränderte Einstellung gegenüber Staatlichkeit und staatlichen Leistungen ausdrückte.37 Am Staat schieden sich die Geister. Einerseits entstand speziell unter jüngeren Menschen eine „wachsende Staatsverdrossenheit“, ablesbar auch an der abnehmenden Wahlbeteiligung.38 Andererseits sollte (und wollte) der Staat aber auch Sicherheit gewähren sowie mehr Sozialleistungen liefern. Gegenüber letzteren handelten manche Bürgerinnen und Bürger jedoch wie (be)rechnende Konsumenten: So viele dieser Leistungen wie eben möglich mitnehmen, schien ihre Devise zu sein.39 Schließlich produzierte die Orientierungssuche in einer immer schwerer überschaubaren Gesellschaft eine „Literatur der Angst“, nicht nur gegenüber erodierenden Normen und Werten, sondern auch gegenüber polizeilichstaatlicher Herrschaft.40 Doch gab es nicht nur ein angstvolles Zurückweichen vor dem scheinbar allmächtigen und omnipräsenten Leviathan, sondern seit etwa 1978 eine zunehmende, auch über die Medien vermittelte Kritik, vor allem über die scheinbar unbegrenzte Fahndungstätigkeit und gegenüber den elektronischen (staatlichen) Datensammlungen der Sicherheitsorgane. Diese Berichte im Spiegel und Stern oder in Politmagazinen wie Report dokumentierten41 – und das ist mit Blick auf die deutsche Geschichte kaum zu überschätzen – das Aufbrechen einer essenziellen Denkbarriere: Staatliches Handeln wurde skeptischer betrachtet und galt nicht mehr als unhinterfragbar und per se gerechtfertigt. Die Ursachen dieser Veränderungen lassen sich bisher nur grob umreißen. Vor dem Hintergrund der oben angesprochenen grundsätzlichen Einstellungsänderungen gegenüber Staatlichkeit und deren (Sozial-)Leistungen wirkten drei Faktoren zusammen: Wandlungen in der polizeilich-staatlichen Herrschaftspraxis und deren Wahrnehmung, die Medienoffensive zur Terrorismusbekämpfung, vorangetrieben von Polizei, Politik, aber auch

37 Vgl. Helmut Klages: Überlasteter Staat, verdrossene Bürger? Zu den Dissonanzen der Wohlfahrtsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1981. 38 Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 651. 39 Vgl. Der Spiegel, 8.9.1980, S. 32-47 (Serie: Die fetten Jahre sind vorbei); ebd., 18.1.1982, S. 56-71 (Die Angst der Deutschen). 40 Wolf-Dieter Narr: Hin zu einer Gesellschaft bedingter Reflexe, in: Jürgen Habermas (Hg.): Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Frankfurt a. M. 1979, Bd. 2, S. 489-528, hier: S. 500. 41 Vgl. dazu genauer Klaus Weinhauer: Staatsgewalt; ders.: Terrorismus. 119

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durch einige Medien, sowie die Aktivitäten der neuen sozialen Bewegungen und deren intensivierte mediale Repräsentation. 1. Dem Eindruck staatlicher (vor allem: polizeilicher) Allgegenwart und Allmacht – sei sie praktisch erfahren oder medial vermittelt – kam eine wichtige Katalysatorrolle zu. Im gesellschaftlichen Alltag zeigte sich polizeiliche Macht weit präsenter als zuvor. In großstädtischen Wohnvierteln waren Kontaktbereichsbeamte tätig, wenngleich dies nicht so viele waren, wie von Polizeireformern gewünscht. Auch die polizeilichen Kontrollen im Rahmen der Terroristenfahndung konnten den Eindruck einer flächendeckenden Polizeipräsenz wecken,42 aber auch ähnlich politisierend wirken wie die politischen Überprüfungen für die Einstellung in den öffentlichen Dienst.43 Zudem war die Polizei inzwischen – ungeachtet aller Kommunikations- und Kooperationsprobleme – unzweifelhaft technisch moderner ausgerüstet und weit intensiver in die Netzwerke sozialstaatlicher Institutionen eingebunden als noch zu Beginn der 1960er Jahre. 2. Eng mit dem ersten Punkt verbunden wurde deutlich, dass sowohl die in den Medien betriebene Eigenberichterstattung über den Terrorismus als auch die von staatlich-polizeilicher Seite ausgehenden Fahndungsmaßnahmen und deren mediale Inszenierung, durchaus ambivalente Wirkungen entfalteten. Zwar aktivierten sie augenscheinlich tatsächlich einige Bürgerinnen und Bürger, sich zeitweise im Sinne der Terrorismusbekämpfung zu engagieren,44 diese Aufrufe generierten jedoch eine so unspezifische Informationsflut an staatliche Einrichtungen, dass Bundespräsident Walter Scheel sich im Juni 1978 veranlasst sah, diese Denunziationshaltung zu kritisieren: Die Verbrechensbekämpfung sei „in erster Linie Aufgabe der Polizei“. Auch sollten „wir uns vor Übereifer hüten und immer die Privatsphäre des Mitbürgers respektieren“.45 Zudem geht man wohl nicht fehl in der Annahme, dass es unter den Denunzierten einige gab, die nun eine zumindest partiell staatskritische Haltung entwickelten oder deren bereits vorhandene verstärkt wurde. Zusammen mit dem medialen Dauerthema der Terrorismusbekämpfung durch Polizei und Bundesgrenzschutz trug all dies dazu bei, in Teilen der Gesellschaft Skepsis zu wecken, ob die polizeiliche Tätigkeit nicht 42 Heiner Busch u. a.: Die Polizei in der Bundesrepublik, Studienausgabe, Frankfurt a. M., New York 1988, S. 302-306. 43 Vgl. Peter Brückner, Diethelm Damm, Jürgen Seifert: 1984 schon heute oder wer hat Angst vorm Verfassungsschutz?, Frankfurt a. M. 1976. 44 Vgl. u. a. Bild, 27.10.1971, S. 3; Der Spiegel, 26.7.1976, S. 28f. 45 Vgl. Die Polizei (69) 1978, S. 192; vgl. zu den Denunziationen Karl-Heinz Reuband: Denunziation im Dritten Reich. Die Bedeutung von Systemunterstützung und Gelegenheitsstrukturen, in: Historical Social Research Nr. 2/3, 26 (2001), S. 219-234, S. 221. 120

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eher dem Schutz des Staates als dem der Bürgerinnen und Bürger diente. Medienrezeption war – auch auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit – kaum steuerbar. 3. Ergänzend zu eher defensiven Reaktionen gegenüber einem scheinbar übermächtigen Staat, gab es aber auch eine Zunahme zivilgesellschaftlicher Organisationsimpulse.46 So zeigten sich innerhalb der Linken, speziell unter den undogmatisch-spontaneistischen Teilen (im damaligen Jargon „Spontis“ genannt), nach 1977 Aufbruchversuche, die u. a. zu kommunikationsintensiven Treffen wie dem Westberliner TUNIX -Kongress von Januar 1978 führten. Das regelmäßige bundesweite Erscheinen der tageszeitung (taz) ab April 1979 gehört ebenso zu dieser staats- und gesellschaftskritischen Aufbruchatmosphäre wie die Gründung einer bundesweiten Grünen Partei (Januar 1980), deren lokale Ursprünge bis ins Frühjahr 1977 zurückreichten, sowie die Aktivitäten einer neuen Frauenbewegung. Ohnehin wurden staats- und datenkritische Positionen inzwischen nicht mehr nur von einzelnen Kritikern, sondern auch von den neuen sozialen Bewegungen vertreten.47 Sie waren eher als dezentrale Netzwerke denn als Parteien organisiert und weniger stark als die 68er-Aktivisten an einem zentralen politischen Ziel ausgerichtet, sondern an einer Vielzahl kleiner Zielpunkte.48 An diesen Aktivitäten beteiligten sich z. B. in den zahlreichen Bürgerinitiativen auch „normale Bürger“. Wie eine im Juli 1978 publizierte repräsentative EmnidUmfrage ergab, erschienen Bürgerinitiativen immerhin etwa zwei Dritteln der Bundesbürger als ein wirksames Mittel politischer Einflussnahme. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass „nur ganze 11 Prozent“ der Bundesbürger politische Artikulationsmöglichkeiten wahrgenommen hatten, also 89 Prozent sich in dieser Hinsicht politisch abstinent verhielten.49 Zwar gab es die neuen sozialen Bewegungen schon 46 Vgl. dazu Klaus Weinhauer: Terrorismus, S. 240f. 47 Vgl. aktuell Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M., New York 2008. 48 Vgl. als geschichtswissenschaftlichen Überblick Manfred Görtemaker, Geschichte, S. 620-652; ferner aus sozialwissenschaftlicher Sicht KarlWerner Brand, Detlef Büsser, Dieter Rucht: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1983; Roland Roth: Neue Soziale Bewegungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik – eine vorläufige Skizze, in: Karl-Werner Brand (Hg.): Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA: ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M. u. a. 1985, S. 20-82; Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1987; Redaktion Atom Express (Hg.): ... und auch nicht anderswo! Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung, Göttingen 1997. 49 Emnid Informationen 7/1978, S. 9. 121

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seit den frühen 1970er Jahren; sie gewannen jedoch nach dem „Deutschen Herbst“ an Zulauf. Durch das Prinzip „Organisation durch Kommunikation“50 waren sie auch in entlegenen Regionen der Republik verankert und in der lokalen Presse präsent. Zudem verfügten sie über eine breite Palette eigner kleiner Publikationsorgane. Dem „InformationsDienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten“, abgekürzt ID, kam hierbei eine wichtige Katalysatorrolle zu.51 Hierin fanden sich zahlreiche Berichte über Anti-Atomproteste, über Gefängnisse, über Terrorismus und dessen Bekämpfung sowie über alternative Projekte. Nach dem „Deutschen Herbst“ wurden die neuen sozialen Bewegungen und damit auch ihre Kommunikationsnetzwerke, ihre Presselandschaft und ihre Themen von den etablierten überregionalen Medien verstärkt wahrgenommen.52 Das dürfte die gesamtgesellschaftliche Präsenz der dort diskutierten Probleme, d. h. anti-institutioneller sowie staats- und datenkritischer Themen, verstärkt haben. Jedoch darf die Skepsis gegenüber Datensammlungen und staatlicher Macht nicht voreilig als gesamtgesellschaftlicher Trend betrachtet werden. So hielt sich die positive Sicht auf Datensammlungen und umfangreiche Fahndungsdateien in der Polizei – mindestens bis ins erste Drittel der 1980er Jahre.53 Auch der Datenschutz war bis zum Volkszählungsurteil von 1983 weit davon entfernt, gesellschaftlichen Konsens hervorzurufen. Zudem nahmen zivilgesellschaftliche Selbstorganisationsansätze nicht nur im linken, sondern auch im rechten politischen Spektrum zu.54 Die Jahre um 1978 markieren hier eine tiefe Zäsur.55 Vor dem Hintergrund einer „brüchig gewordene Bindungskraft des NS-Tabus“56 wurden speziell innerhalb jugendlicher Subkulturen rechtsradikale Vereinigun-

50 Karl-Heinz Stamm: Alternative Öffentlichkeit, S. 129. 51 Das Blatt erschien seit Oktober 1973 regelmäßig, erreichte 1977 seine Höchstauflage mit etwa 6.000 Exemplaren und wurde im Februar 1981 eingestellt, vgl. ebd., Kap. 3. und S. 72. 52 Vgl. Lothar Kolenberger, Hans-Albrecht Schwarz: Mit den Alternativen in eine neue Zukunft. Überlegungen zu einigen Aspekten der Alternativbewegung, in: Peter Grottian, Winfried Nelles (Hg.): Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel u. a. 1983, S. 101-133; Karl-Heinz Stamm: Alternative, S. 139. 53 Vgl. dazu Klaus Weinhauer: Terrorismus, S. 236f. 54 Vgl. Karl-Heinz Stamm: Alternative, S. 139. 55 Vgl. dazu Werner Bergmann: Antisemitismus in Deutschland, in: Wilfried Schubarth, Richard Stöss (Hg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 131-154, hier: S. 138. 56 Peter Dudek, Hans-Gerd Jaschke: Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderer politischen Kultur, 2 Bde., Opladen 1984, S. 161. 122

TERRORISMUS UND KOMMUNIKATION

gen gegründet.57 Unter den rechten Aktivisten dominierten nicht mehr die nationalsozialistisch geprägten alten Kämpfer, sondern jüngere Altersgruppen, die in der Bundesrepublik sozialisiert wurden.58 Aus diesem Milieu wurde im September 1980 ein Anschlag auf das Münchener Oktoberfest verübt, bei dem zwölf Besucher getötet und mehr als 200 verletzt wurden.59 Um das rechtsextremistische Potential in der Bundesrepublik der späten 1970er Jahre abzuschätzen, wurden zahlreiche Erhebungen durchgeführt, die bekannteste war die im Auftrag des Bundeskanzleramts erstellte SINUS-Studie, veröffentlicht unter dem provozierenden Titel: „Wir sollten wieder einen Führer haben.“60

57 Vgl. ebd. Bd. 1, besonders Kapitel 3d. 58 Vgl. Peter Dudek, Hans-Gerd Jaschke: Jugend rechts außen, Weinheim 1981, S. 17, hier: S. 38. 59 Vgl. N.N.: Neonazistische Aktivitäten und rechtsterroristische Gewalttaten. Auszüge aus dem Verfassungsschutzbericht 1980, in: Referat Öffentlichkeitsarbeit gegen Terrorismus im Bundesministerium des Inneren (Hg.): Gewalt von rechts, Bonn 1982, S. 13-28, hier: S. 24. 60 N.N.: 5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben…“. Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek b. Hamburg 1981. 123

Verändern oder Sterben: Impe rative der Revolte KLAUS-MICHAEL BOGDAL Der Beitrag geht dem schwierigen Verhältnis von Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung zwischen 1968 und 1977 nach. Wenn man den Ereignissen in den 1960er Jahren, die in den 1970ern – neben zahlreichen anderen politischen Optionen – auch in eine putschistische Politik der Gewalt münden, ernsthaft näher kommen möchte, sollte man das in den Blick nehmen, was die Subjekte zum Handeln bewegt hat: nicht die Gewalt, sondern, im Gegenteil, das existentielle Interesse an einem sinnerfüllten Leben und die radikal gestellte Frage, ob die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse ein solches Leben ermöglichen.

Die politischen Ereignisse, die wir heute immer noch symbolgeladen als „Deutschen Herbst 77“ bezeichnen, haben offensichtlich bisher nicht den zeitlichen Abstand erreicht, der eine emotionslose Rekonstruktion der Geschehnisse erlaubt. Wir befinden uns in einer Phase, in der erinnerungspolitische Auseinandersetzungen zu ersten Verfestigungen der historischen Wahrnehmung führen. Rituale und Orte des Erinnern werden geschaffen, ebenso Narrative, Erzählmuster, mit deren Hilfe das Geschehene geordnet und einiges tradiert und anderes vergessen wird. Zu den vereinfachenden Erzählmustern zählt die Herstellung einer ursächlichen Verbindung zwischen Äußerungsformen und Begründungen der Revolten von Achtundsechzig und den Gewaltstrategien der aus dem Untergrund agierenden Gruppen wie der Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni in den 1970ern. Wenn man dem ernsthaft näher kommen möchte, was sich in den 1960ern ereignet und in den 1970ern – neben zahlreichen anderen politischen Optionen – auch zu einer putschistischen Politik der Gewalt ge124

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führt hat, sollte man das in den Blick nehmen, was die Subjekte zum Handeln bewegt hat. Das war nicht die Gewalt, sondern im Gegenteil das existentielle Interesse an einem sinnerfüllten Leben und die radikal gestellte Frage, ob die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse ein solches Leben ermöglichen. Ein fremdbestimmtes Leben erschien vielen als eine Form allmählichen Sterbens in einer erstarrten Gesellschaft. In ihrem Erfahrungsbericht aus dem Jahr 1969 schreiben die Mitglieder der Berliner Kommune 2, zu der der damals 23-jährige Jan Carl Raspe gehörte: „Ich dressiere meine Sprache, meinen Körper, meine Bewegungen, meine Phantasie. Wozu? Ich werde Examen machen, ich werde den Konsum der gehobenen Mittelschicht teilen, ich werde auf der Skala des Sozialprestiges an neunter oder zehnter Stelle stehen, ich werde alles in Kategorien einordnen können, ich werde nichts verändern, ich werde seit langem tot sein.“1

Der Wille zur Veränderung entspringt nicht einer politischen Gewaltoder Allmachtsphantasie. Er ist die Reaktion auf eine tief reichende Identitätskrise. Der Prozess der Veränderung fällt mit der Lust am Leben in eins, die Revolte zeigt den Ausschlag auf einer anderen Skala an. Die Selbstermächtigung zur Selbstbestimmung reicht allerdings Achtundsechzig weiter als in allen anderen Phasen der Moderne und umfasst nicht nur den Lebensentwurf der Individuen. Sie bezieht die Formen des Zusammenlebens, die sexuelle Orientierung, die Inszenierung des Körpers bis hin zu Entscheidungen über Leben und Tod, von der Abschaffung der Todesstrafe bis zur Abtreibung und Sterbehilfe, mit ein. Dieses trotz aller politischer Rhetorik auf die Selbstsorge ausgerichtete Konzept stößt auf den Macht- und Regelungsanspruch des staatlichen Souveräns, ob es sich um gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die Errichtung von Atomkraftwerken oder um den Besitz und den Genuss von Drogen handelt, um aus der Fülle der Konflikte einige wohl vertraute herauszugreifen. Insofern war den Veränderungen auf allen Ebenen immer auch ein Moment der Gewalt inhärent, deren Eskalation in der politischen Auseinandersetzung von beiden Seiten betrieben werden konnte. Organisationen wie die RAF steigern zwar durch Konstruktionen kollektiver Repräsentanz die Selbstermächtigung der Individuen ins ethisch Unkontrollierbare – hier wurzeln sie in der Tat in der 68er-Bewegung –, sie brechen aber auf der anderen Seite mit der hedonistischen Lebensorientie-

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Kommune 2: Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden!, Berlin 1969, S. 109. 125

KLAUS-MICHAEL BOGDAL

rung, „um den Tod als politische und existenzielle Strategie zu wählen.“2

E i n s o l c h e r w e rd e n , d e r m a n s e i n m ö c h t e Ich möchte für einen Moment den Blick auf die historische Situation in den Sechzigern zurücklenken, in denen sich die spezifischen „Praktiken der Subjektivität“ – um einen analytischen Begriff Foucaults einzuführen – herausgebildet haben, durch die die Individuen aus der eigenen Sicht und der der anderen zu handelnden Subjekten geworden sind. Hier kann nur angedeutet werden, dass in den sechziger Jahren die bisherigen Subjektkonzepte von Intellektuellen rapide an Attraktivität und Autorität verlieren. Der Selbstverständigungstext der Kommune 2 formuliert dies so: „Der antiautoritäre Aufstand der bürgerlichen Individuen ist immer auch ein Aufstand gegen sich selbst, gegen jenen Teil der bürgerlichen Vergangenheit, den man als verinnerlichte Norm, als Lebensgewohnheit, als falsche Individualität mit sich trägt.“3 Peter Handke hat den neuen Anspruch der Individuen an sich selbst 1967 in seinem Stück „Kaspar“ auf eine prägnante Formel gebracht. Es gehe nun darum, ein solcher zu werden, der man sein möchte. Voraussetzung dazu ist aber ein Selbstbewusstsein, das sein Einverständnis mit der äußeren Macht aufkündigt und die Risiken der Selbstverwirklichung übernimmt. Für die Verweigerungsstrategie setzt sich in den Sechzigern in Deutschland unter dem Einfluss der Kritischen Theorie der Begriff des Antiautoritären durch. In seinem Buch „Die Welt wird jung“ hat dies 1970 Charles Reich als Generationsprogramm verkündigt: „Der […] Mensch fühlt, dass er, will er mit sich ehrlich sein, die eigene Persönlichkeit einsetzen muß. Er muß bescheiden leben, um jene Freiheit zu behalten, die sein Einsatz verlangt. Er muß Risiken eingehen. Und gleichzeitig muß er in allem, was er tut, völlig er selbst sein.“4 Entwickelt wird hier ein Individualisierungsprogramm, dessen Einhaltung mit einem authentischen Leben belohnt wird. In einem der wichtigsten Texte der deutschen Studentenbewegung, „Die Transformation der Demokratie“, hat Peter Brückner 1967 den neuen Weg der Subjektwerdung im Konjunktiv ausphantasiert: „Das authentische Individuum höbe die innere Unterwerfung auf, indem es sich die unausgesprochenen Obersätze seines täglichen Handelns und 2 3 4

Michael Rutschky: Die Todesdrohung, in: Nicolas Born, Jürgen Manthey, Delf Schmidt (Hg.): Literaturmagazin 9. Der neue Irrationalismus, Reinbek bei Hamburg 1978, S.152-167, hier: S. 165. Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 299. Charles Reich: Die Welt wird jung, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 192.

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Unterlassens artikuliert, d. h. ausspricht und auf ihre Angemessenheit und Rationalität hin kritisch überprüft […].“5 Gleichzeitig gewinnt aber eine andere Subjektposition an Attraktivität: der Wunsch nach der Einheit mit einem Kollektiv Gleichgesinnter, die die Spaltung zwischen sozialer und individueller Existenz aufheben soll.6 Doch auch dieser Schritt ist mit Risiken behaftet, da er sich meist als lebensgeschichtlicher Traditionsbruch ereignet und in einen diffusen sozialen Raum führt, in dem es sich neu zu positionieren gilt. Gemeinsamkeit wird nicht nur gesucht, sondern geradezu erfunden: in den Lebens- und Arbeitsformen von den Wohngemeinschaften über Arbeitsprojekte bis hin zu Künstlerkollektiven und auch zu solchen Gemeinschaften, die sich als revolutionäre Zellen bezeichnen. In den 1960ern setzt sich also mit der individuell verantworteten Erhöhung der Risiken ein lebensgeschichtlich begründetes Modell der Subjektwerdung durch. Die Individuen bürden sich das Programm der Selbstverwirklichung als Befreiung selbst auf und stehen dafür sogar, wenn wir die Sexualpolitik nehmen, mit ihrem Körper, und wenn wir an die RAF denken, mit ihrem Leben ein.

Lebensgeschichtliche Risiken Auf diese Bereitschaft, lebensgeschichtliche Risiken über das bis dahin einkalkulierte und einkalkulierbare Maß hinaus zu erhöhen, möchte ich noch etwas näher eingehen. Ich würde, auch im Blick auf die Literatur der Zeit, sogar von einem Imperativ riskanter Selbstveränderung sprechen, der äußere und innere Gefährdungen herbeizitiert, um den Horror des Stillstands zu bannen. Eine der Widmungen, die Bernward Vesper, der Ehemann Gudruns Ensslins, seinem posthum veröffentlichten Roman „Die Reise“ voranstellt, spitzt dies maximenhaft zu: „Denn selbst während du dich suchst, veränderst du dich, und wirst erkennen, daß du dich weiter verändern oder sterben mußt.“7 Die Befolgung des Imperativs wird als Befreiung erfahren, wie ein vermutlich von Jan Carl Raspe verfaßter Aufsatz aus dem Kursbuch 17 (1969) über die Erziehung in der Kommune 2 zeigt:

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Johannes Agnoli, Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967, S. 126. „Immer mehr Menschen beginnen deshalb, nach größeren Kollektiven zu suchen, in denen eine befreiendere soziale Kommunikation möglich ist“ (Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 8). Bernward Vesper: Die Reise, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 11. 127

KLAUS-MICHAEL BOGDAL

„Nessim, der früher keine Aggressionen gegen seinen Vater zu zeigen wagte, äußert heute offen seine negativen Affekte. Er schlägt ihn, er will ihn erschießen oder äußert Todeswünsche, indem er ihm versichert: ‚Du hast nur noch einen Tag zu leben.‘ Bei dieser Befreiung der aggressiven Seite der ambivalenten Einstellung zum Vater hat mit Sicherheit die Kindergruppe und die Kommune einen günstigen Einfluß gehabt.“8

Man sollte wissen, dass „Nessim“ in den siebziger Jahren zur glanzvollen antiautoritären Legendengestalt zahlreicher pädagogischer Abhandlungen aufstieg und zeitweise Rousseaus Emile harte Konkurrenz machte. Die emphatische Vorstellung der Unteilbarkeit von Denken, Handeln und Fühlen, von Privatem und Politischen legitimiert den Imperativ riskanter Subjektwerdung. Prozess und Ergebnis, Weg und Ziel dürfen nicht in einen Widerspruch zueinander geraten. Authentisches Handeln ist unmittelbar und direkt. Mit ihm lässt sich eine Differenz zu einer Gesellschaft markieren, die aus dieser Perspektive die Individuen von sich entfremdet und sie deformiert. Karl-Heinz Dellwo, der sich als ehemaliges RAF-Mitglied nach zwanzig Jahren Haft 1998 in einem Interview mit seiner Vergangenheit auseinandersetzte, erinnert an die Selbstverständlichkeit, mit der die Abgrenzung erfolgte: „Zu dieser toten Gesellschaft aus Konsum und rechten Lebensvorstellungen hatten wir keine innere Verbindung, mit dem gewendeten Nazipack und den braven, immer in die eigene Tasche hineinwirtschaftenden Häuslebauern, die auf Bergen von Leichen ihrer Vorgesellschaft saßen, die für Imperialismus waren und für Vietnamkrieg und dafür daß ‚die Neger erst mal arbeiten lernen‘ sollten. Mit denen wollten wir nicht an einem Tisch sitzen.“9

Aus einer solchen Wahrnehmung heraus müssen die Risiken besonders hoch veranschlagt werden, um die Differenz kenntlich zu machen. Dellwo: „Für uns stand von Anfang an fest, entweder wir kommen durch, oder wir sterben. Wir wollten den Trennungsstrich zwischen uns und ihnen eindeutig setzen.“10 Das ist der Imperativ der Revolte, den Dellwo zur Erklärung abruft. Die Praxis jedoch gehorchte längst einem anderen Imperativ: entweder wir kommen durch oder wir töten. Das war eine folgenschwere Änderung, die den lebensorientierenden Aufbruch 8

Kommune 2 (Christel Bookhagen, Eike Hemmer, Jan Raspe, Eberhard Schultz): Kindererziehung in der Kommune. In: Kursbuch 17 (1969) Frau – Familie – Gesellschaft, S. 147-178, hier: S. 178. 9 Karl-Heinz Dellwo [Interview mit Petra Groll]: „Wir haben uns die Niederlage handhabbar gemacht“, in: die tageszeitung, 27./28.6.1998, S. II-V, hier: S. II. 10 Ebd. 128

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der Sechziger in ein finales Todesspiel verkehrte, 1973 in einem RAFKassiber auf den Punkt gebracht: „Kampf/Tod/Knast meinen das Leben, die Verteidigung, die ‚nicht billiger‘ zu haben ist.“11 Die Politik der Veränderung misst sich nicht an ihren Ergebnissen, sondern allein noch am Grad der Riskanz. Im Programm der Kommune 2 stand hingegen noch die Selbstbefreiung im Mittelpunkt: „Wie können bürgerliche Individuen ihre bürgerliche Herkunft und ihre davon geprägte psychische Struktur soweit überwinden, daß sie zu einer kontinuierlichen Praxis befähigt werden?“12 Ziele und Inhalte dieser Praxis werden nicht konkret benannt, weil sie eng mit dem Selbstverwirklichungsstreben jedes Einzelnen verknüpft sind. Rudi Dutschke wird z. B. von den Mitgliedern der Kommune kritisiert, weil er wegen einer Verpflichtung seinen Eltern gegenüber zu einem Treffen zu spät kommt. Ein echter Revolutionär könne nicht sein, wer „beflissen darauf bedacht sei, seine Eltern nicht durch unbürgerliche Kleidung und Haarschnitt vor den Kopf zu stoßen“.13 Das ist weit entfernt vom revolutionären Selbstverständnis der RAF, die sich mit soldatischen Kategorien definiert, während andere Gruppierungen weiterhin „einer AKTIVEN, PHANTASIEVOLLEN BEWEGUNG“ das Wort reden, „die sich dadurch auszeichnet, daß in allen GESELLSCHAFTLICHEN BEREICHEN die unmittelbar Betroffenen beginnen, ihr [sic!] eigenen Interessen und Bedürfnisse kämpferisch durchzusetzen.“14 Von Gudrun Ensslin ist eine Gefängnisnotiz aus dem Jahr 1973 überliefert, in der sie noch in der ethisch fundierten Terminologie der Selbstverwirklichungskonzepte das Gegenteil formuliert: ein dezisionistisches Programm der Destruktion. „Totalität der Rev. heißt: Aufhebung der Trennung von Praxis und Theorie, von Sein + Bewußtsein, Politik und Gewehr, heißt sein um zu werden, Alternative, Lösung, Funktion von Besitzlosigkeit, SEIN um nicht weniger als alles zu kriegen, um befreit zu werden, heißt Haß, wirksame Tötungsmaschine,

11 Zitiert nach Iring Fetscher, Günter Rohrmoser (Hg.): Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus 1. Herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren, Opladen 1981, S. 325. 12 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 11. 13 Ebd., S. 18. 14 PL. Zentralorgan der proletarischen Linken Parteiinitiative, zitiert nach Jürgen Miermeister, Jochen Staadt (Hg.): Provokationen. Die Studentenund Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965-1971, Darmstadt, Neuwied 1980, S. 215. 129

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SEIN um Mensch zu werden, heißt Gewalt anzuwenden, um die Gewalt: Ausbeutung der Menschen durch Menschen abzuschaffen […].“15

Aus diesem Text, dem eine gewisse Verwirrtheit nicht abzusprechen ist, springt das Wort „Tötungsmaschine“ ins Auge. Wenn es eine Verbindung zwischen den 68er-Bewegungen und der politischen Gewalt der ’70er gibt, dann über die Praxis riskanter Subjektwerdung. Mit dem von Ensslin benutzten Bild des Subjekts als wirksamer Tötungsmaschine reißt diese Verbindung ab.16 Denn antiautoritäre Praktiken sprengten die bis dahin vorherrschende Verhaltensmatrix von ErlaubtemVerbotenem, Normalem-Nichtnormalem, Denkbarem-Undenkbarem, Sagbarem-Unaussprechlichem – und zwar mit einer Intensität, die man als gewaltsam bezeichnen kann. Doch zielten diese Praktiken auf die Schaffung von Verhältnissen, innerhalb derer vielfältige Lebensweisen möglich sein sollten, und nicht auf die funktionale Zurichtung von Menschen auf Maschinen. Das zu vergessen hieße, die Zeit zu leugnen, die uns hervorgebracht hat.

15 Zitiert nach Iring Fetscher, Günter Rohrmoser (Hg.): Ideologien und Strategien, S. 325. 16 Schon 1978 schreibt Michael Rutschky in einem Essay: „Es sind Intellektuelle gewesen, Leute, die sich einmal durch Sprechen realisiert, die dann das Sprechen abgebrochen haben, um den Tod als politische und existenzielle Strategie zu wählen.“ Michael Rutschky: Die Todesdrohung, S. 165. Dennoch muss man auch den Tod als „Sprache“ der riskanten Lebensführung deuten, die keinen Aufschub mehr duldet. 130

Pe nta gra mm hinter de uts c her Maschinenpistole unter Russisch Brot. Zur Se mios phä re de r Erinnerung a n die Rote Armee Fraktion ROLF SACHSSE Dieser Artikel behandelt die Entstehungsgeschichte des RAF-Logos, seine Emblematik und Rezeption. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, inwiefern das „Erscheinungsbild“ der RAF etwas zur Wirkung des Terrorunternehmens beigetragen hat und wie seine Wiederbelebung als Zitat im „radikalen Chic“ der Jahrtausendwende zu deuten ist.

Der radikale Chic Die Zeichenwelt des Terrors ist konventionell, denn sonst würde er nicht funktionieren: Nur wer den Schrecken verbildlichen kann, den er verbreiten will, kann ihn wirksam ankündigen, gerade unter den medialen Bedingungen einer Mythenbildung aus religiöser Metaphorik und zerstörenden Aktionen. Diese Bedingungen enthalten relativ umfangreiche Felder von Zeichen samt Ketten von Ableitungen diverser Bedeutungsebenen, zu denen grafische Kürzel und Filme ebenso gehören wie Fotografien und Motive aus der Musik, eben alles das, was unter PopKultur zusammengefasst wird.1 Sie konstituiert eine Zeichenwelt, die 1

Der vorliegende Versuch basiert auf einer früheren Publikation: Rolf Sachsse: Prada Meinhof. Die RAF als Marke. Ein Versuch in politischer Ikonologie, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 1260-1269. Gegenüber diesem Text wurden hier einige Akzente verschoben und Fehlinformationen korrigiert. Vgl. 131

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Jurij Lotman unter dem Begriff der Semiosphäre zur Generalmetapher hat werden lassen, und mit Peter Weibel kann deren visuelle Unterwelt als Logokratie verstanden werden.2 Gut postmodern ist diese Zeichenwelt doppelt codiert, zum einen durch die Etablierung von Zeichen auf der Basis emblematischer Symbolik und zum zweiten durch den historisch distanzierten Gebrauch derselben Zeichen jenseits der vorherigen Fixierung in Gebrauch und Bedeutung. Für die Zeichenwelt des deutschen Terrorismus der 1970er Jahre kann aus dieser Sicht eine mindestens zweifache Verdopplung mit jeweils unterschiedlicher Metaphorik konstruiert werden, die sich aus einer kurzen Phase ihrer eigenen Geschichte ergab: Zwischen 1998 und 2001 erfuhren die Wortmarke und das Emblem der Rote Armee Fraktion (RAF) eine ungeahnte Blütezeit im radikalen Chic der Mode rund um große Ausstellungshäuser, die mit den Ereignissen vom 11. September 2001 abrupt endete und ab 2005 in eine zaghafte Erneuerung im Kontext von Gedenk-Ausstellungen und -Büchern mündete. Gerade die Flut der Publikationen aus den Jahren 2007 und 2008 zum dreißigsten Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ von 1977 und zum vierzigsten Jahrestag der studentischen Bewegungen von 1968 hat – quasi als wissenschaftliches Nebenergebnis der zeitgeschichtlichen Untersuchungen zu einzelnen Phänomenen und dem gesamten Geschehen – auf Desiderate im Verständnis jener Elemente zwischen Studentenbewegung und Terrorismus hingewiesen, die im konsumistischen Alltag der 1960er und 1970er Jahre zu finden waren und heute als Wiedergänger einer Nostalgie des linken Habitus und seiner Bildmarken fungieren.3 Da die allgemeine Geschichte der RAF, ihrer Gründung, Ideologien und Taten im Kontext dieser Publikation vorausgesetzt werden darf, soll es in den folgenden Zeilen um die mediale Vorgeschichte der Wortmar-

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auch: Stefan Reinecke: Die RAF und die Politik der Zeichen, in: Klaus Biesenbach, Ellen Blumenstein, Felix Ensslin (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung, Bd. 2, Göttingen 2005, S. 219-221. Jurij Lotman: Universe of the Mind, A Semiotic Theory of Culture, New York, London 2001 (New York 1990). Zur Generalmetapher vgl. Thomas Luckmann: Aspekte einer Theorie der Sozialkommunikation, in: Hans P. Althaus u. a. (Hg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik, Bd. 1, Tübingen 1980, S. 28-41. Zur Logokratie vgl. Peter Weibel: Im Bauch des Biestes: Logokultur. Vom Symbol zum Logo: Zeichen des Realen, in: Ders.: Gamma und Amplitude, Medien- und kunsttheoretische Schriften, hg. und kommentiert von Rolf Sachsse, Berlin 2004, S. 489-513. Einen recht ausführlichen Überblick zur Literatur gibt http://hsozkult.gesc hichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&sort=datum&order=do wn&rubrik=ZG&search=1968 [27.4.2008]. Zum Begriff der Nostalgie im Design vgl. Volker Fischer: Nostalgie, Geschichte und Kultur als Trödelmarkt, Luzern, Frankfurt a. M. 1980.

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ke und des Logos der RAF gehen, um deren Emblematik und Rezeption sowie am Ende noch einmal um das Phänomen einer gelegentlichen Erneuerung der visuellen Überlieferung in neueren Kontexten. Da es bei der Betrachtung des Terrors immer auch um Menschen geht, um Täter wie Opfer, sei mit ihnen begonnen.

Die Medienprofis Die Bildwelt des deutschen Terrorismus war vorbereitet, von langer Hand: Entgeistert hatten die Boulevardblätter über die Schwabinger Krawalle von 1962 berichtet, auch über die Konzerte der Rolling Stones des Jahres 1965 mit dem zertrümmerten Mobiliar der Dortmunder Westfalenhalle – Gewalt seitens Jugendlicher war neu in der Öffentlichkeit; bis dato hatten allein Lehrer, Eltern, Polizei und Militär ein Monopol aufs Schlagen und Prügeln. Eine in den 1950er Jahren mühsam kaschierte Bereitschaft zur Eskalation brach sich Bahn, auch und gerade in den fotografischen Berichten darüber.4 Der Rubicon war am 2. Juni 1967 überschritten worden, als ein Polizist den offensichtlich an Gewalttaten unbeteiligten Studenten Benno Ohnesorg erschoss – und dafür nie wirklich zur Rechenschaft gezogen wurde. Damit brachen die Dämme der gegenseitigen Unterstellung möglicher Gewaltbereitschaft, und diese Präsuppositionen bedurften der symbolischen Überhöhung in Bildern. Wo ein Berliner Bürgermeister wie Klaus Schütz nur davon sprach, dass man bei demonstrierenden Studierenden „diesen Typen ins Gesicht sehen müsste“, um zu wissen, welch Geistes sie seien, sorgten die Polizisten bei Straßenschlachten wie der am Tegeler Weg in Berlin (4. November 1968) durch ihre Ausstattung mit Schwimmerbrillen und Tschakos für eine transsilvanische Erscheinung, die ihnen persönlich nicht anzuheften war.5 Für die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, die im Umfeld der Kommune 1 und des Filmemachers Holger Meins an mancherlei Medienprojekten beteiligt war, dürfte es ein Leichtes gewesen sein, am Abend des 2. Juni 1967 die Wortmarke von der Auschwitz-Generation zu prägen, die eben so weitermache, als ob es die 22 Jahre seit Kriegs-

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Vgl. Lucius Burckhardt: Der Photograph als Komplice, in: Karl Pawek (Hg.): Panoptikum oder Wirklichkeit. Der Streit um die Photographie, Hamburg 1965, S. 218-221. Rolf Sachsse: Kunst aus Bildern. Michael Ruetz, Essayist, in: Michael Ruetz: Die unbequeme Zeit. Das Jahrzehnt um 1968, Göttingen 2008, S.169-183. 133

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ende nicht gegeben habe.6 Wesentlich sprachgewaltiger noch war Ulrike Meinhof, doch ihre Kompetenz lag im Verfassen längerer Texte mit appellativem Charakter, weniger in der Verkürzung auf knappe Begriffe. Die männlichen Mitglieder der Gruppe – Horst Mahler ausgenommen – sahen ihre symbolischen Möglichkeiten eher in der visuellen Repräsentation, von Thorwald Prolls dicker Zigarre im Frankfurter Gerichtssaal bis zu den Selbstinszenierungen Andreas Baaders.7 Hier gab es in der Performance – die ja zur selben Zeit über die Fluxus-Bewegung und das Happening zur Kunstform avanciert war8 – eine direkte Beziehung durch die Aktivisten der Kommune 1, vor allem Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann. Andreas Baader war in einigen Formen der Repräsentation wesentlich professioneller als alle anderen Mitglieder der Gruppe: Kleine Regelverletzungen auch der internen Konventionen sorgten neben aller filmischen Selbstinszenierung für einen Anspruch auf Sonderstellung, der sich schließlich in der öffentlichen Wahrnehmung als BaaderMeinhof-Gruppe (oder auch -Bande auf dem Boulevard der SpringerBlätter) als personale Marke etablierte.9 Wesentliches Medium dieser visuellen Repräsentation war die Fotografie. Hatte sich die Studentenbewegung von 1968ff. noch darauf verlassen können, dass ihre Aktionen genügend journalistische Öffentlichkeit finden, d. h. bei allen Demonstrationen und Konventen Pressefotografen anwesend sein würden – in Michael Ruetz hatten die Berliner Studenten ja einen eigenen Chronisten10 –, so gehörte es bei der RAF zur Selbstwahrnehmung als Untergrundkämpfer, die notwendigen Erinnerungsbilder selbst herzustellen. Das Resultat sind konventionelle Schnappschüsse, wie sie aus allen Untergründen des Medienzeitalters bekannt sind11 und alle rufen: „Hurra, wir leben noch!“ Insofern ist es völlig konsequent, wenn die ehemalige RAFlerin Astrid Proll den schicken Bildband der Selbsterinnerung aller, die dabei waren oder gewesen sein wollten, „Hans und Grete“ nannte, als ob der Wald weiterhin aus

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Susanne Bressan, Martin Jander: Gudrun Ensslin, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF, S. 398-429. 7 Karin Wieland: a., in: Jan Philipp Reemtsma (Hg.): Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005, S. 51-99. 8 Richard Mortel (Hg.): Art Action 1958-1998, Rencontre internationale et colloque interactif, Québec 2002. 9 Dieter Herbst (Hg.): Der Mensch als Marke, Göttingen 2003. 10 Michael Ruetz: „Ihr müsst diesen Typen nur ins Gesicht sehen.“ APO Berlin 1966-1969, Frankfurt a. M. 1980; ders.: 1968. Ein Zeitalter wird besichtigt, Frankfurt a. M. 1997. 11 Rolf Sachsse: Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Berlin 2003, S. 173-177. 134

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Springer-Bäumen bestünde.12 Einige der in diesem Buch versammelten Fotos haben den Status von Ikonen erlangt, auf welche Weise auch immer: Ensslin und Baader im Pariser Café, das hat doch etwas Existentialistisches; Holger Meins in Unterhose bei der Festnahme: das Flagellatio-Motiv der christlichen Ikonografie; die Bilder aus dem Gefängnis: Pop & Rock in Stammheim. Es ist eine billige und wohlfeile Bildauswahl, die von der RAF als Fotogeschichte übrig bleibt, aber sie ist exzellent vermarktbar, genau wie die Interviews. Strategisch waren und sind die Rollen verteilt: Einer war in allem zu früh (Holger Meins), einige zahlten die Zeche des frühen Todes im Ruhm (die Stammheimer und Wolfgang Grams als Nachkömmling auf dem Bahnhof von Bad Kleinen), die kalten Profis überleben alles und vermarkten sich erwartungsgemäß, von den Damen in Medienberufen über die in Büchern und Interviews an der Legende strickenden Herren bis zum ewig polternden, uneinsichtigen letzten Gefängnisinsassen. Der eigentliche Geniestreich der Gruppe besteht in der Wortmarke Rote Armee Fraktion, die inklusive ihrer unklaren Überlieferung zur kultischen Wirkung des Terror-Unternehmens nicht unwesentlich beitrug – umso erstaunlicher der Fakt, dass bislang wenig Forschungsmaterial dazu vorliegt.13 Ein Teil dieser Überlieferungsgeschichte ist die Legende, dass Horst Mahler den Namen Geyers Schwarzer Haufen vorgeschlagen haben soll, was weniger wegen dessen persönlicher Nähe zum Neonazi-Umfeld vor und nach seinem Engagement für die RAF Sinn macht als wegen der zeitlichen Nähe zur Publikation eines Bildes von Michael Ruetz, das dieser im Juli 1969 bei einer Bauerndemonstration gegen den Lärm eines Hunsrücker Militärflughafens aufgenommen hatte und das als visuelle Inkarnation dieses Bauernkriegsbegriffs dienen kann.14 Was immer zur endgültigen Wortmarke führte: Sie ist ein klassisches Produkt der Werbestrategien am Ende der 1960er Jahre. Zum einen beschreibt sie im vollen Wortlaut exakt den selbstgestellten Auftrag, nämlich den Bruchteil einer Roten Armee zu bilden; dabei weist das ungewöhnliche Substantiv Fraktion auf den hohen intellektuellen Anspruch eines frei (oder zufällig) geformten, jedoch unverzichtbaren Bestandteils des großen Ganzen hin – bis zur Assoziation des künstlerischen Informel, das derlei Beschreibungen häufiger evozierte. Zum anderen ist das Kürzel RAF beste Pop Art (und Werbung) dieser Zeit: 12 Astrid Proll (Hg.): Hans und Grete. Bilder der RAF 1967-1977, Berlin 2005 (Göttingen 1998). 13 Wolfgang Kraushaar: Entschlossenheit: Dezisionismus als Denkfigur. Von der antiautoritären Bewegung zum bewaffneten Kampf, in: Ders.: Die RAF, S. 153-155. 14 Michael Ruetz: Die unbequeme Zeit, S. 72-73. 135

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Verdopplung eines bestehenden Begriffs bei gleichzeitiger Dekontextualisierung sowie Neucodierung in der Intention – aus der Königlichen Luftwaffe Großbritanniens war die Elite des deutschen Widerstands gegen die Staatsgewalt geworden, gleichzeitig waren Uniformjacken auf Portobello Road damals überaus beliebt.

Logo(s) und Strategie Zur Wortmarke gehört das visuelle Emblem, als Logo nur wenig von aller Allegorese befreit.15 Auch hier haben die Medienprofis rund um Baader und Meinhof nur wenig Neues zu kreieren gehabt, sondern konnten sich eines etablierten Musterschatzes bedienen. Auch dieser hat sich eher über Fotografien verbreitet als über andere Medien, vor allem in den bedeutsamen Details: Bilder des kubanischen Revolutionsführers Ernesto Che Guevara hatten ebenso Kultstatus wie die erhobene Faust des afroamerikanischen Läufers Carlos Smith bei der Siegerehrung anlässlich der Olympiade in Mexico von 1968. Auf Che Guevaras Mütze fand sich ein Stern, und die Kombination von Faust und Gewehr fand sich bei diversen lateinamerikanischen Befreiungsorganisationen, insbesondere bei den Tupamaros aus Uruguay. Damit waren Mitte 1969 alle Elemente des RAF-Logos gegeben; im Winter 1970 wurde es vom Hamburger Grafiker Holger von Czettritz noch ein wenig überarbeitet16 und hatte dann Bestand bis zur Selbstauflösung der RAF 1998 – und im radikal chic der folgenden Jahre darüber hinaus. Hintergrund des Signets ist ein fünfzackiger, spiegelsymmetrischer Stern, dessen Basis aus zwei Spitzen geformt wird – das Pentagramm. Spätestens seit es von Aristoteles als Zeichen der vier Elemente im Zusammenwirken mit dem menschlichen Geist beschrieben wurde, gilt das Pentagramm als Ausweis einer elitären Haltung, als Signet des Herrschaftsanspruchs des Menschen über die Natur. So wurde es in vielen Druckschriften der frühen Neuzeit publiziert, bei denen dem Pentagramm ein menschlicher, meist männlicher Körper mit ausgebreiteten Armen eingeschrieben ist; so wurde das Pentagramm in Freimaurerzeichen des 18. Jahrhunderts durch den Zirkel und ein Winkelmaß geformt; und der Stern der gleichnamigen Illustrierte ist nichts als ein seitlich verzogenes Pentagramm. Zur selben Zeit wie die RAF verwendeten die

15 Vgl. www.markenlexikon.com/glossar_l.html [8.5.2008]. 16 Nike Breyer: Gespräch mit Holm von Czettritz, in: die tageszeitung, 12.4.2003, Beilage. 136

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italienischen Brigate Rosse diesen Stern, und vor allem prangte er in sämtlichen Fotografien auf der Mütze des Che Guevara. Vor den Stern gesetzt ist eine Maschinenpistole, die MP 5 der Firma Heckler & Koch. Sie referiert zum einen ein häufiges Teil von Signets lateinamerikanischer und afrikanischer Befreiungsbewegungen, den seit 1947 in alle Welt exportierten, sowjetischen Apparat Kalashnikov, kurz AK-47. Die Entscheidung für ein deutsches Modell auf dem RAF-Logo mag ästhetischen Gründen geschuldet sein – die MP5 ist wesentlich gerader, strenger, konstruktivistischer in ihrer Silhouette – oder ein Hinweis auf die Vorliebe einiger RAF-Mitglieder für schnelle deutsche Automobile und andere Insignien von Luxus und Macht. In Kombination mit dem Pentagramm, vor allem durch die Parallele der oberen Dreiecksschenkel mit dem Lauf der MP 5, vermittelt dieser Teil des Logos deutlich seine Herrschaftsansprüche und ist – im Gegensatz zu vielen durchbrochenen Gewehren auf pazifistischen Logos – eine klare Botschaft des bewaffneten Kampfes, dessen Ernsthaftigkeit nicht zur Debatte steht. Die Schriftmarke auf dem Logo der RAF ist simpel und funktional: Sie ist in der Compacta Outline der Firma Letraset gesetzt, eines Herstellers von typografischen Durchreibefolien, der diese Schrift für diesen Zweck hat schneiden lassen. Da die Umrisslinien dieser Schrift an den Ecken arg empfindlich sind, wurden sie abgerundet, sodass ihre Ausführung an ein Gebäck in Buchstabenform gemahnt, das in den 1960er Jahren als Russisch Brot verkauft wurde. An der Verwendung dieser Schrift ist allein bemerkenswert, dass sie ein Bindeglied zwischen der handgeschriebenen Plakatkursive, die die meisten 1968er Manifestationen auszeichnete, und der industriell gesetzten Großtypographie ist, die wiederum die Gegendemonstranten, gelegentlich auch die organisierten Ostermarschierer verwendeten.17 Der Terrorismus der RAF stellt sich hier in eine Linie mit deutschen Handwerkstraditionen, zeitlich in die frühe Neuzeit vor der Industrialisierung und nach der medialen Revolution des Buchdrucks.18 Interessanter als die vorhandenen mögen die Elemente des Logos sein, die fehlen: Die bei nahezu allen Befreiungsorganisationen des amerikanischen Kontinents übliche Faust ist eines davon. Körperliche Durchschlagskraft war offensichtlich kein Thema für die deutsche Terrorszene, ebenso wenig wie ein Gesicht, das sich auf vielen Signets afrikanischer und lateinamerikanischer Organisationen findet, beispielsweise der Stich des Kopfs von Tupac Amaru auf dem ersten Logo der Tu17 Michael Ruetz: Die unbequeme Zeit, S. 30. 18 Marshal McLuhan: Die Gutenberg-Galaxie, Düsseldorf 1962, S. 104-127. 137

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pamaros oder die drei Köpfe von Marx, Engels und einem lokalen Gruppen-Anführer. Auch andere identifikatorische Elemente sind im RAF-Logo nicht zu entdecken, etwa die bei vielen islamistischen Bewegungen übliche Moschee oder das Wappentier eines Landes, das es zu befreien gilt. Schon gar nicht erwartet werden können die Elemente, die auf Frieden und Versöhnung hindeuten: Sich gegenseitig greifende Hände oder Unterarme, die eine Waffe zerbrechen. Zwar enthält das RAF-Logo keine identifikatorischen Elemente – und ist damit mehr ökonomisch motiviertes Logo als Emblem im Sinn einer Deutungsvorlage –, doch fehlt ihm andererseits auch die formale Fassung für eine abstrakte Überlieferung. Zum einen ragt die Maschinenpistole seitlich über den Stern hinaus, zwar nicht bis über seine äußeren Spitzen hinweg, aber doch zu weit, um den Eindruck einer geschlossenen Figur zu erwecken. Die Schriftelemente wiederum verunklären die Form des Pentagramms, weil sie dem Auge nicht erlauben, die fehlenden Elemente des Sterns in seiner Binnenzeichnung zu ergänzen.19 Damit changiert das Logo zwischen der Abstraktion einer eher mühsam sich neu etablierenden Firmenmarke – von denen die 1960er eine ganze Reihe sahen, etwa die Limonaden AfriCola oder Bluna – und dem plakativen Anspruch auf politische Wirksamkeit, der aus der Emblematik anderer revolutionärer Gruppen herzuleiten versucht wurde. Kein Wunder auch, dass genau diese Unentschiedenheit des Logos in Bezug auf seine formale Fassung zu allerlei Persiflagen in Karikaturen und auf WebSites angeregt hat. Bei dieser formalen Kritik ist allerdings die mediale Situation am Ende der 1960er und Beginn der 1970er Jahre einzubeziehen: Fotokopien waren noch sehr teuer und Logos wie das der RAF ließen sich nur per Handzeichnung und Stempelmatrize in die damals üblichen Vervielfältigungs-Apparate einspannen. Dabei ging die notwendige Präzision der Übertragung von Gewehr und Schrift verloren, was Holger von Czettritz zu seinem Spott vom Kartoffeldruck-Signet anregte.20 Also blieb – neben einem oder zwei mittelgroßen Stempeln, die für Bekennerbriefe professionell geschnitten wurden – zumeist nur der Umweg über die Fotografie: Entweder wurde das Logo mit einem Opfer aufgenommen, oder es wurde als Reproduktion auf ein Dokument geklebt. Selbstverständlich war es unter diesen Umständen nicht möglich, das Logo einzufärben – alle Rötungen des Pentagramms sind spätere Zugaben. Ebenso selbstverständlich war es allerdings, dass die Hauptaufgabe

19 Peter Weibel: Wahrnehmung im technologischen Zeitalter, in: Ders., Gamma und Amplitude, S. 335-336. 20 Nike Breyer: Gespräch mit Holm von Czettritz. 138

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der Verbreitung des Logos von der Presse und ihrem unersättlichen Bildhunger übernommen wurde; für die RAF selbst dürften relativ kleine Mengen von Bildvorlagen ausgereicht haben. Erst für die SchleyerEntführung im Herbst 1977 wurde eine professionelle Vergrößerung des Logos auf ein Plakat gedruckt, das sich dann auf mehreren Erpresserfotografien der Gruppe findet.21 Doch zu diesem Zeitpunkt bahnte sich bereits die Digitalisierung aller Lebensbereiche an, und eine Gruppe mit der Symbolpolitik einer RAF musste schnell hoffnungslos veralten.22

Am E n d e d e r Z e i c h e nw e l t Die Bedeutung eines Logos für den Terror und die politischen Ziele der RAF ist schwer einzuschätzen: Mag sein, dass nach der Wort- eine Bildmarke geschaffen werden sollte, weil dies nun so Usus war unter derlei Gruppen. Mag sein, dass das Logo für die ganze Politik der RAF stehen sollte, quasi als zeichenhafte Besiegelung des bewaffneten Kampfes und als Attraktor für Sympathisant/inn/en. Gut möglich auch, dass das Zeichen in Analogie zu Strategien der Pop-Music entwickelt wurde, wo derlei Logos bei manchen Bands genutzt wurden – aber dass deswegen eine Platte häufiger verkauft oder ein Konzert besser besucht wurde, ist nicht bekannt geworden. Markenidentitäten sind oft nur historisch zu erreichen, vielfach über einen ökonomisch wenig sinnvollen, sehr langen Zeitraum – und dieser lange Zeitraum kann zu erheblichen Umdeutungen der Ursprungsmarke führen. 23 Genau dieser Prozess ist es, der die Betrachtung des visuellen Erscheinungsbildes der RAF über längere Zeit interessant macht: Vom eher missglückten Elite-Anspruch der anti-intellektuellen Tatkraft24 über den radikalen Chic der Jahrtausendwende bis zur eher distanzierten Wertschätzung einzelner Gedanken aus dem Umfeld der Organisation im Kontext einer mühsamen Konstituierung neuer linker Positionen am Ende des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert führt ein steiniger Weg, der sich – gut deutsch oder gut protestantisch oder gut platonisch – immer wieder als ikonoklastisch beschreiben lässt, bei der Erinnerungspro-

21 Rolf Sachsse: Die Entführung, in: Gerhard Paul (Hg.): Bilderatlas des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, München 2009. 22 Vgl. Henner Hess: Die neue Herausforderung. Von der RAF zu Al-Qaida, in: Wolfgang Kraushaar: Die RAF, S. 103-122. 23 Petra Schütz: Die Macht der Marken – Geschichte und Gegenwart, Regensburg 2001, http://www.opus-bayern.de/uni-regensburg/volltexte/2002 /108/ [8.5.2008]. 24 Wolfgang Kraushaar: Die RAF, S. 23-26. 139

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duktion jedoch ganz auf Bilder angewiesen ist. Und diese werden mit jedem Jahr, das sie älter werden, stärker zum Objekt der Zuschreibung denn zum Beleg eines historischen Geschehens. Das ist unausweichlich, auch für die RAF.

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Isolation oder Isolationsfolter. Die Auseinandersetzung um die Haftbedingungen der R AF- Häftlinge MARTIN JANDER Es besteht kein Zweifel, dass die RAF und andere terroristische Gruppierungen das Thema ihrer Haftbedingungen propagandistisch nutzten, um ihren Kampf gegen den angeblichen Faschismus in der BRD aus dem Gefängnis fortzuführen. Dennoch lässt sich das Thema nicht als pures Propagandathema abtun. Zwar gibt es eine hohe Anzahl parteilicher Dokumentationen, eine eingehende Forschung zu den Haftbedingungen der RAF-Häftlinge und anderer Strafgefangener aus terroristischen Gruppen existiert bislang jedoch nicht. Der Beitrag möchte hierzu einen ersten Ansatz liefern.

Dokumentationen und Beschreibungen der Haftsituationen aus der Sicht der RAF-Häftlinge sowie ihrer Verteidiger liegen in großer Anzahl vor.1 Auch die staatlichen Institutionen haben ihrerseits Materialien zugänglich gemacht.2 Eine wissenschaftliche Darstellung fehlt jedoch. Wenngleich sich die RAF 1998 aufgelöst hat, ist der Terrorismus als Bedro1

2

Vgl. z. B. Klaus Croissant: Erklärung auf dem Prozess in Stammheim, Dragor 1978 und Bernhard Rambert, Ralf Binswanger, Pieter Bakker Schut (Hg.): Todesschüsse. Isolationshaft. Eingriffe ins Verteidigungsrecht. Kritische Anmerkungen zu dem Bericht der Bundesrepublik Deutschland an den UN-Menschenrechtsausschuß vom November 1977, Hamburg 1987. Vgl. z. B. Bundeskriminalamt (Hg.): Der Baader-Meinhof-Report. Dokumente – Analysen – Zusammenhänge. Aus Akten des Bundeskriminalamtes, der „Sonderkommission Bonn“ und dem Bundesamt für Verfassungsschutz, Mainz 1972; Bundesministerium des Innern (Hg.): Dokumentation über Aktivitäten anarchistischer Gewalttäter in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1975. 141

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hung parlamentarisch verfasster Demokratien nicht verschwunden. Ein weiterhin aktuelles Problem bildet daher auch heute, was die RAF erfolgreich skandalisierte: Demokratien stehen bei der Bekämpfung des Terrors in Gefahr, den Kern ihrer freiheitlichen Ordnung zur Disposition zu stellen. Die Selbstzerstörung der Demokratie im Angesicht radikaler Bedrohungen ist die politische Urangst in Deutschland und in Europa. Zwar konnte es keinen Zweifel daran geben, dass in den 1970er und 80er Jahren in Westdeutschland eine Krise, vergleichbar mit der der Weimarer Republik, nicht vor der Tür stand. Der Appell an die Ängste in Westdeutschland und Westeuropa zeigte jedoch trotzdem seine Wirkung. Einer der Herausgeber der damals führenden linken Zeitschrift in der Bundesrepublik Kursbuch, Karl Markus Michel, stellte es im 1973 erschienenen Themenheft „Folter in der BRD“ als Tatsache dar, dass ein „struktureller Staatsfaschismus“ in der Bundesrepublik herrsche.3 Erst wenn Demokratien herausgefordert sind, erweist sich ihre Wetterfestigkeit. Die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland dies im Falle des Umgangs mit Häftlingen aus Terrorgruppen von sich sagen kann, muss zukünftig Gegenstand politikwissenschaftlicher u. a. Erörterungen werden.

Terrorismus Man wird die Auseinandersetzung um die Haftbedingungen der Häftlinge der RAF nur dann begreifen, wenn man den Terrorismus als Phänomen richtig erfasst. Die RAF sah sich zwar in ihren Anfängen als Stadtguerillagruppe, veränderte ihr Selbstverständnis jedoch später.4 Als die RAF gegründet wurde, orientierte sie sich an den Klassikern des Guerillakampfes.5 Eine Guerillagruppe sucht ihr Gegenüber militärisch anzugreifen, sie ist an den physischen Folgen ihrer Aktion interessiert. Sie kann sich auf größere Gruppen der Gesellschaft beziehen, die ihr folgen und die sich nach und nach dem Kampf anschließen, bis am Ende die Guerilla und ihre Mitstreiter in einer Entscheidungsschlacht den Gegner niederringen. 3 4 5

Karl Markus Michel: Zu diesem Heft, in: Folter in der BRD, Zur Situation der Politischen Gefangenen, Kursbuch 32 (9. Jahrgang), August 1973, S. 1-10. Herfried Münkler: Guerillakrieg und Terrorismus, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 78-102. Carlos Marighella: Handbuch des Stadtguerillero, in: Márcio M. Alves, Conrad Detrez, Carlos Marighela u. a. (Hg.): Zerschlagt die Wohlstandsinseln in der Dritten Welt. Mit dem Handbuch des Guerilleros von Sao Paulo, Reinbek 1971.

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Im Unterschied zu den Äußerungen der RAF-Mitglieder, man führe den bewaffneten Kampf, um den unterdrückten Massen deutlich zu machen, dass Kampf und Aufstand möglich seien, drehten sich die meisten bewaffneten Handlungen jedoch um das Überleben der Gruppe. Régis Debray6 formulierte das zugrunde liegende Problem so: „Wenn der Kampfapparat […] weniger gegen den Feind als für die eigene Bevorratung [...] eingesetzt wird, tritt auch die bewaffnete Agitation in den Hintergrund, und die Massen erkennen in den Aktivitäten solcher Gruppen ihre eigenen Interessen nicht wieder.“7

Aus diesem Grund veränderte die RAF ihr Konzept hin zum Terrorismus. Eine Terroristengruppe sucht ihr Gegenüber anzugreifen, um sich Unterstützung in der Gesellschaft aufzubauen. Sie ist vornehmlich an den psychischen Folgen der Gewalt interessiert. Sie möchte Angst und Schrecken verbreiten, um Bündnispartner zu gewinnen, und den Gegner einschüchtern, um überhaupt erst zu einem politischen Faktor zu werden. Terror ist deshalb auch blutiges Theater. Es geht den Terroristen um einen entscheidenden „Dritten“, der erst noch gewonnen werden muss. Andreas Baader und Ulrike Meinhof erklärten 1976 offen, dass der Terror um des Terrors willen ausgeübt würde. Sie hofften, der Staat werde überreagieren und sich damit in den Augen der Bevölkerung selbst entlarven: „das ist – kurz – die strategie, die wir aus unserer erfahrung [...] im auge haben: die linie, auf der das kapital und sein staat gezwungen ist, auf den angriff kleiner revolutionärer gruppen überdeterminiert zu reagieren und ihn zu multiplizieren.“8

R AF - P r o p a g a n d a Um sich eine Szene von Unterstützern aufzubauen, argumentierte die RAF von Anfang an nicht nur damit, sie wolle zeigen, dass der bewaff6

7 8

Régis Debray, 1940 geboren, schloss sich in den 1960er Jahren Che Guevara an. Er wurde in Bolivien verhaftet und zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt, jedoch 1971 auf Intervention der französischen Regierung freigelassen. Debray zählte später zum Freundes- und Beraterkreis von Salvador Allende (Chile). Régis Debray: Kritik der Waffen, Reinbek 1975, S. 83. konzept a./u. zu einem anderen prozess, ende april 76, in: texte: der RAF, Malmö 1977, hg. von RAF/BRD, c/o Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa – Sektion BRD, Stuttgart, Lund 1977, S. 29. 143

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nete Kampf möglich sei, sondern auch, dass er notwendig sei, weil die Bundesrepublik ein tendenziell faschistischer Staat wäre. In der ersten konzeptionellen Schrift der RAF9 hieß es: „Legalität ist die Ideologie des Parlamentarismus, der Sozialpartnerschaft, der pluralistischen Gesellschaft. Sie wird zum Fetisch, wenn die, die darauf pochen, ignorieren, daß Telefone legal abgehört werden, Post legal kontrolliert, Nachbarn legal befragt, Denunzianten legal bezahlt, daß legal observiert wird […].“10

Auch in einer weiteren konzeptionellen Schrift der RAF von Horst Mahler spielte diese Behauptung eine zentrale Rolle. Mahler schrieb, dass die „im 20. Jahrhundert sich massenhaft ereignende Liquidation des bürgerlichen Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie (Italien, Spanien, Deutschland, Österreich, Griechenland usw.) beweist, daß das Kapital nicht zögert, jeden sozialen Kompromiß über den Haufen zu werfen und zu offengewaltsamen Formen der Herrschaftsausübung überzugehen, wenn seine Existenz als Klasse auf dem Spiel steht.“11

Aus dem heraufziehenden Faschismus nicht die richtigen Folgen zu ziehen, war der zentrale Vorwurf der RAF an andere linke Gruppen in der Bundesrepublik. In einer kurz vor ihrer Mai-Offensive 1972 veröffentlichten Propagandaschrift stand z. B., die legale Linke „sieht die Maschinenpistolen und sagt: den ökonomischen Kampf entwickeln. [...] Sie sieht den Faschismus und sagt: die Klassenkämpfe nicht zuspitzen.“12 Der Verweis auf den Faschismus fand seinen deutlichen Niederschlag auch in den meisten anderen Erklärungen der Gruppe.

R AF - P r o p a g a n d a a u s d e m G e f ä n g n i s Durch die Haft selbst waren die Bedingungen für die Artikulation der RAF zwar stark eingeschränkt, diesen Mangel behob die Führungscrew der Gruppe aber durch die Einrichtung eines Info-Systems. Wie genau 9

Das Konzept Stadtguerilla, nachgedruckt in: ID-Verlag (Hg.): Rote Armee Fraktion – Texte und Materialien zur RAF, Berlin 1997, S. 27ff. 10 Ebd., S. 47f. 11 Horst Mahler: Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, nachgedruckt in: ID-Verlag (Hg.): Rote Armee Fraktion, S. 103. 12 Dem Volk dienen, nachgedruckt in: ID-Verlag (Hg.): Rote Armee Fraktion, S. 127.

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die Verbindungen zwischen den Häftlingen der RAF, einigen Verteidigern, dem Info-System und der zweiten bzw. dritten Generation der RAF funktionierten, ist bislang nicht wirklich präzise untersucht worden; dass dieses Info-System, in Teilen jedenfalls, funktionierte, haben einige Gerichtsprozesse und journalistische Recherchen bewiesen.13 Ein Kronzeuge der Anklage in den RAF-Prozessen, Gerhard Müller14, hat das Info und seine Bedeutung für die Fortführung des bewaffneten Kampfes schon früh beschrieben: „In dem Kommunikationsbedürfnis der RAF Gefangenen, das u. a. ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl ausdrückte, sah Baader eine Möglichkeit, seine Ziele weiter zu verfolgen. Vorrangig war er bemüht, die unorganisierte Kommunikation in eine organisierte umzuwandeln. Um diese zu erreichen, bediente er sich der RAe [der Rechtsanwälte, Anm. d. Verf.], die als RAFVerteidiger tätig waren.“15

Das Info transportierte auch jene Erklärungen, mit denen sich die RAF an die Öffentlichkeit wandte. Bereits in ihrer Hungerstreikerklärung vom Mai 1973 wurde das Thema Faschismus wieder aufgegriffen: „Je stärker die Revolte im Volk, die Moral des Systems, sein Eigentumsbegriff im Arsch und die Krise aktuell, die Volksbewaffnung nicht mehr bloße Zukunftsmusik, sondern materielle Gegenwart, desto wichtiger werden die Knäste fürs System, dessen Rationalität immer darauf angewiesen war und ist, einen Teil des Proletariats offen zu terrorisieren, zu vernichten – im Extrem: Treblinka, Maidanek, Sobibor – um den Widerstand der großen Mehrheit des Volkes gegen die Ausbeutung zu brechen – Knast und Vernichtungslager als vorletzte und letzte Maßnahme gegen jede Art von Widerstand – wie gekonnt, organisiert, bewußt auch immer.“16

Dass sich der Hungerstreik keineswegs allein gegen die Haftbedingungen richtete, wurde nicht verborgen: „Setzt die Schweine von außen unter Druck und wir von innen. Solidarität stellt die Machtfrage.“17

13 Die ausführlichste Beschreibung findet sich bislang im Kapitel: Die RAF im Gefängnis, in: Butz Peters, Tödlicher Irrtum, Berlin 2004, S. 305ff. 14 Zur Problematik des Kronzeugen Gerhard Müller siehe: Heinrich Hannover: Terroristenprozesse, Hamburg 1991, S. 144ff. 15 Vernehmung Gerhard Müller am 4.6.1975 in Hamburg, zitiert nach einer Kopie des Vernehmungsprotokolls im Bestand des Hamburger Instituts für Sozialforschung: So 01/012,007, S. 7. 16 Hungerstreikerklärung vom 8. Mai 1973, nachgedruckt in: ID-Verlag (Hg.): Rote Armee Fraktion, S. 147 und 187f. 17 Ebd. 145

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Um ihre Behauptung in die Öffentlichkeit zu transportieren, bedienten sich die RAF-Häftlinge einer Strategie, die auch die Werbeindustrie nutzt. Man schuf Anlässe, um Journalisten zu einer Berichterstattung über die Haftbedingungen zu bewegen. Inzwischen lässt sich nachweisen, dass die Führungscrew der RAF im Gefängnis den Tod von Häftlingen in Kauf nahm, um ihre Propaganda von den angeblich faschistischen Verhältnissen glaubhaft werden zu lassen. So schrieb Andreas Baader im Info vor dem Hungerstreik, in dem Holger Meins sich zu Tode hungerte: „ich denke wir werden den hungerstreik diesmal nicht abbrechen.“ Er rechnete mit Toten. „Das heisst es werden typen dabei kaputtgehen … denn sicher läuft das im Zusammenhang mit aktionen draußen viel härter als das letzte Mal.“18 Noch zwei Tage vor dem Tod von Meins forderte Gudrun Ensslin Meins dazu auf, den eigenen Tod als Opfer im Kampf gegen den Imperialismus anzusehen: „das ziel, du bestimmst, wann du stirbst, freiheit oder tod.“19 Die bewaffneten Aktionen der Gruppe richteten sich darauf, eine Überreaktion des Staates zu provozieren, um den Terror selbst als legitim und notwendig erscheinen zu lassen. Die Proteste gegen die Haftbedingungen ergänzten diese Strategie. Sie sollten demonstrieren, dass die Bundesrepublik längst faschistisch geworden sei.

Isolationshaft und strenge Einzelhaft Die Diskussion über die Haftbedingungen jedoch nur als einen Propagandacoup der RAF-Häftlinge zu charakterisieren, griffe zu kurz. Die zum Teil überlange Untersuchungshaft, die häufig extensive Einzelhaft sowie die lange Zeit von den Justizvollzugsbehörden aufrecht erhaltene Weigerung, sie zu größeren Gruppen zusammen zu legen, stellen einen problematischen Umgang der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden mit den Häftlingen dar. Der Vorwurf, die Häftlinge aus der RAF würden gefoltert, ist – abgesehen von der RAF selbst20 – zum ersten Mal von den Verteidigern Ulrike Meinhofs, Ulrich K. Preuß und Heinrich

18 Nachricht von Andreas Baader, nachgedruckt in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Dokumentation über Aktivitäten anarchistischer Gewalttäter in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1975, S. 99. 19 Gerd Conradt: Starbuck Holger Meins, Berlin 2001, S. 147, hier zitiert nach Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, Köln 2003, S. 331. 20 Anschlag auf den BGH-Richter Buddenberg in Karlsruhe, Erklärung vom 20. Mai 1972, nachgedruckt in: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion, S. 146. 146

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Hannover, erhoben worden,21 die Haftbedingungen Meinhofs und Astrid Prolls folgendermaßen skizzierte: „Zu der räumlichen und akustischen Isolation dieses gesamten Trakts trat hinzu, daß die Zellen meiner Mandantinnen [Meinhof und Proll, Anm. d. Verf.] vollständig in weißer Farbe geölt waren, daß sich das Zellenfenster zunächst gar nicht, später nur einen winzigen Spalt öffnen ließ und mit einem feinmaschigen Fliegengitterdraht verhängt war, daß die in der Zelle befindliche weiße Neon-Beleuchtung nachts bei Frau Meinhof nicht ausgeschaltet wurde, schließlich, daß die Zelle von Frau Meinhof in den Wintermonaten permanent unterkühlt war. In dieser akustischen und visuellen Isolation hatten meine Mandantinnen lediglich den für die Essensversorgung unabdingbaren minimalen Kontakt mit den Vollzugsbeamtinnen.“22

Nach der Skandalisierung dieser Haftbedingungen wurden Proll und Meinhof in strenge Einzelhaft verlegt, die weiterhin eine soziale Isolation im Gefängnis bedeutete (kein Kontakt mit anderen Häftlingen), jedoch keine totale akustische und visuelle Isolation. Der Prozess gegen Astrid Proll, die infolge der Haftbedingungen unter lebensgefährlichen Kreislaufstörungen litt, musste im Herbst 1973 wegen ihrer gesundheitlichen Probleme unterbrochen werden;23 1974 wurde sie dann aufgrund ihrer offensichtlich durch die Isolation hervorgerufenen Gesundheitsprobleme aus der Haft entlassen.24

21 Aussage von Heinrich Hannover in: Menschen und Paragraphen, Hörfunkfeature von Margot Overath für den Sender Freies Berlin (SFB1), 12.9.1989, hier zitiert nach Margot Overath: Drachenzähne – Gespräche, Dokumente und Recherchen aus der Wirklichkeit der Hochsicherheitsjustiz, Hamburg 1991, S. 43. 22 Ulrich K. Preuß in einem Schreiben vom 10.8.1973, zitiert bei Hartwig Hansen, Horst Peinecke, Reizentzug und Gehirnwäsche in der BRD, Hamburg 1981, S. 74. 23 Astrid Proll floh später nach London. 1978 wurde sie an die Bundesrepublik ausgeliefert. In einem Prozess wurde sie zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, jedoch rehabilitiert, als sie ihre Unschuld beweisen konnte. Sie ist Herausgeberin des Buches: Hans und Grete. Bilder der RAF 1967 – 1977, Göttingen 1998. 24 Siehe hierzu Henning Spangenberg: Isolationshaft in westdeutschen Gefängnissen, in: AStA der Pädagogischen Hochschule Westberlin u. a. (Hg.): „Sie würden uns gerne im Knast begraben…“, Berlin 1977, S. 25ff; Dokumente zur Auseinandersetzung um Haftbedingungen und Freilassung von Astrid Proll findet man in: Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD (Hg.): Der Tote Trakt ist ein Folterinstrument, Hamburg 1974, S. 32ff. 147

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Eine ähnlich umfassende Isolation wie bei Meinhof und Proll ist bei anderen RAF-Häftlingen nicht angewendet worden.25 Die Bedingungen der verschärften Einzelhaft selbst jedoch waren auch ohne die akustische und visuelle Totalisolation einschneidend genug. Unterschieden sich bei der Verhaftung der Mitglieder der ersten RAF-Generation noch häufig die Bedingungen, so lassen sich an den späteren Haftbeschlüssen viele gleichartige Vorgehensweisen der Justiz erkennen. Eine solche Einzelhaft hatte etwa folgende Merkmale: „Die Gefangenen werden in Einzelzellen untergebracht. Die Fenster der Zellen sind so konstruiert, dass die Kontaktaufnahme zu anderen Gefangenen unmöglich ist. Die Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen, z. B. Gottesdiensten, ist untersagt. Die Gefangenen dürfen bei Vorführungen und beim Duschen nicht mit anderen Gefangenen zusammenkommen. Sie haben ‚Hofgang‘ einzeln; und zwar oft nicht im Freien, sondern auf einem überdachten Platz innerhalb des Gefängnisgebäudes. Die Hafträume der Gefangenen und die darin befindlichen Sachen, einschließlich persönlicher Aufzeichnungen und Verteidigungsunterlagen, werden häufig durchsucht, eingesehen und beschlagnahmt. Die Gefangenen werden ferner vor und nach jedem Besuch [...] bei völliger Entkleidung und Umkleidung körperlich durchsucht. Während eines Besuches sind sie vom Besucher durch eine gläserne Trennscheibe abgesondert. Bei der Überlassung von Büchern wird politische Zensur geübt.“26

Gerichtlich wurden die Versuche von Verteidigern diese Haftbedingungen anzufechten, abgewiesen. Der Bundesgerichtshof erklärte 1975, diese Haftbedingungen seien „in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer den Behörden erst durch das Verhalten der Angeklagten aufgezwungen worden […]“.27 Infolge der Proteste der Häftlinge, ihrer Anwälte und Sympathisanten bestellte der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart nach den ersten Hungerstreiks und dem Tod Holger Meins’ im Blick auf eine durch die Behauptung der Folter irritierte Öffentlichkeit am 18.7.1975 Fachärzte, die nicht im Vollzugs- oder staatlichen Gesundheitsdienst

25 Margot Overath behauptet in ihrer Darstellung, die vollständige soziale, akustische und visuelle Isolation sei darüber hinaus noch bei Holger Meins und Ronald Augustin angewendet worden: Margot Overath: Drachenzähne, S. 43. 26 Bernard Rambert u. a. (Hg.): Todesschüsse, S. 15. 27 Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 22.10.1975, zitiert nach Hartwig Hansen: Den Staat aushungern, in: Michael Sontheimer u. a. (Hg.): Einschüsse, Berlin 1987, S. 136 (Fußnote 4); das Dokument ist vollständig abgedruckt in: Bernard Rambert u. a. (Hg.), Todesschüsse, S. 156ff. 148

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standen.28 Professor Rasch29 kam zu dem Ergebnis, dass „alle vier Angeklagten untergewichtig waren und sich in reduziertem körperlichen Allgemeinzustand befanden“.30 Bei den vier von ihm untersuchten Häftlingen stellte er in verschiedenen Ausprägungen Koordinationsund Orientierungsstörungen, Vergesslichkeit, Konzentrationsmangel, Schwindelgefühl, Wahrnehmungseinengung, gesteigerte Müdigkeit und herabgesetzte Leistungsfähigkeit fest. Eine totale Unfähigkeit gerichtlichen Verhandlungen zu folgen konstatierte er nicht, schrieb jedoch, die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten sei nur eine „beschränkte“.31 Die untersuchten Personen seien unbedingt behandlungsbedürftig. Der Mediziner wies auch darauf hin, dass nach „der umfangreichen internationalen pönologischen und psychologischen Literatur, die zu diesem Thema vorliegt“, die „Isolierung eines Menschen allein“ schon geeignet sei, „tiefgreifende Beeinträchtigungen seiner psychischen Verfassung zu erzeugen.“32 Rasch verwies darauf, dass die einzige praktikable Möglichkeit, den Angeklagten vermehrt soziale Interaktion zu gewähren, in der „Zusammenfassung einer Gruppe politisch motivierter Häftlinge liegt.“33 Zu einer Zusammenlegung der Gefangenen aus der RAF in größeren Gruppen kam es jedoch nur kurzfristig. 1977 kamen in StuttgartStammheim 10 Gefangene aus der RAF zusammen. Nach einer Schlägerei im 7. Stock des Gefängnisses wurde das Experiment „Großgruppe“ wieder abgebrochen.34 Allerdings entschlossen sich die Justizbehörden später dazu, Gefangene aus der RAF und anderen terroristischen Gruppen teilweise in Kleingruppen zusammen zu bringen. 28 Siehe hierzu: Gutachten Prof. Dr. Wilfried Rasch (Berlin) vom 10.9.1975, als Kopie in den Unterlagen zur Diplomarbeit von Hartwig Hansen im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Ordner: Hansen, Gutachten – Broschüren – weitere Bestände HH, Bd. IV). 29 Prof. Dr. Wilfried Rasch (1925-2000) war von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1993 Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Freien Universität Berlin (FUB). Durch seine wissenschaftliche Arbeit, sein Lehrbuch und seine Rolle in wichtigen Strafverfahren wurde Rasch zum bekanntesten forensischen Psychiater in Deutschland, der auch in weiten Kreisen der Justiz sowie im Ausland als Streiter für eine humane Ausrichtung des Faches hohes Ansehen genoss. 30 Gutachten Prof. Dr. Wilfried Rasch (Berlin) vom 10.9.1975, S. 3. 31 Ebd., S. 5. 32 Ebd., S. 6. 33 Gutachten von Prof. Wilfried Rasch 7.11.1975, ebenfalls als Kopie vorhanden in den Unterlagen zur Diplomarbeit von Hartwig Hansen im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Ordner: Hansen, Gutachten – Broschüren – weitere Bestände HH, Bd. IV, S. 2). 34 Siehe hierzu Hartwig Hansen: Den Staat aushungern, in: Michael Sontheimer u. a. (Hg.): Einschüsse, S. 124. 149

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Europäische Kommission für Menschenrechte Rechtlich scheiterte die erste Generation der RAF damit, ihre Haftbedingungen als Verstoß gegen internationale Vereinbarungen qualifizieren zu lassen. In Individualbeschwerden hatten sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe 1976 an die Europäische Kommission für Menschenrechte (E.K.f.M.)35 gewandt, die allerdings erst nach ihrem Tode die Antwort auf ihre Beschwerden fertig stellte. Hierin wies die Kommission alle vorgebrachten Beschwerden nach gründlicher Prüfung ab.36 Zweifellos seien sie „außergewöhnlichen Haftbedingungen unterworfen, die in ihrem Ausschluß aus der Anstaltsgemeinschaft und ihrer Unterbringung in einem gesicherten Flügel bestanden“37. Die Kommission unterstützte jedoch die Auffassung der Bundesregierung, dass damit gerechnet werden musste, dass die Häftlinge von Freunden bewaffnet befreit werden sollten: „Die Kommission ist davon überzeugt, dass im vorliegenden Fall zwingende Gründe dafür vorhanden waren, die Beschwerdeführer einem Vollzug zu unterwerfen, der sich in erster Linie an Sicherheitserfordernissen ausrichtete.“38 Das Vorhandensein einer „Sinneisolation“ verneinte die Kommission, man habe sich selbst bei einer Zellen-Besichtigung davon überzeugen können. Ein Verstoß gegen das Folterverbot der Konvention zum Schutz der Menschenrechte lag somit laut E.K.f.M. nicht vor.

UN-Menschenrechtsausschuss Die Unterstützer der RAF versuchten daraufhin den UNMenschenrechtsausschuss39 für eine Intervention bei der Bundesregie-

35 Die E.K.f.M. (Sitz: Straßburg) wurde 1953 eingerichtet, um Verstöße der Unterzeichnerstaaten gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte zu verhandeln. Die E.K.f.M. ist kein Organ der EU, sondern des Europarates. 36 Der Bundesminister der Justiz (Hg.): Entscheidung der Kommission für Menschenrechte Juli 1978, Bonn 1978, S.22. 37 Der Bundesminister der Justiz (Hg.): Entscheidung der Kommission für Menschenrechte Juli, S.23. 38 Ebd., S. 24. 39 Der UN-Menschenrechtausschuss ist ein UN-Vertragsorgan von 18 Experten, das während seiner dreimal im Jahr abgehaltenen Sitzungen periodische Berichte der Mitgliedsstaaten des „Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte“ (1966 beschlossen, 1976 in Kraft getreten) entgegennimmt und bewertet. Die Mitglieder des Ausschusses werden durch die 150

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rung zu gewinnen.40 Obwohl das Vorhaben scheiterte, gelang es einer Gruppe von Europa-Abgeordneten, Journalisten, Ärzten und Rechtsanwälten, den UN-Menschenrechtsausschuss zu einer Kritik an der Bundesregierung zu bewegen. Sie hatten dem Ausschuss eine Dokumentation41 vorgelegt, in der – ausgehend von den Artikeln des „Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte“, für dessen Einhaltung der UNMenschenrechtsausschuss zuständig ist – Verstöße gegen die Menschenrechte in der Bundesrepublik aufgelistet waren.42 In der Dokumentation mischten sich wahre mit (vielen) unwahren Behauptungen. Eine der unumstößlich wahren Behauptungen in der Dokumentation ist beispielsweise die Tatsache, dass Katharina Hammerschmidt – sie hatte in Berlin einige illegale Wohnungen für die RAF besorgt, wollte sich dann jedoch nicht selbst in die Illegalität begeben43 –, die sich auf Anraten ihres Anwaltes Otto Schily den Strafverfolgungsbehörden gestellt hatte, obwohl sie im Gefängnis auf schwere gesundheitliche Probleme hinwies, ärztlich nicht adäquat untersucht und versorgt wurde und deshalb an einem Tumor starb, der bei rechtzeitiger Untersuchung leicht heilbar gewesen wäre.44 Ihr Anwalt Otto Schily stellte am 9. Januar 1974 einen Strafantrag wegen versuchter Tötung und unterlassener Hilfeleistung. Eine der eher unwahren Behauptungen ist dagegen z. B. die Behauptung der Tötung von Petra Schelm. In der beim UN-Menschenrechtsausschuss eingereichten Dokumentation heißt es, Schelm sei „im Zuge der ersten Großfahndung nach der RAF […] durch einen Schuß aus einer Maschinenpistole unterhalb des linken Auges getötet worden.“45 Erste Hilfe sei nicht geleistet worden. Der Tod von Petra Schelm wird in der Dokumentation unter der Rubrik „Todesschüsse“ als Verstoß gegen Artikel 6 des UN-Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte genannt, in dem es an zentraler Stelle heißt, niemand dürfe „willkürlich“ getötet werden. Die Dokumentation verschweigt, dass Petra Schelm zusammen mit ihrem Freund Manfred Grashof Teilnehmerin des ersten Waffentrainings der RAF in einem Lager der El Fatah war und sich ihrer Verhaf-

40 41 42 43 44 45

Mitgliedstaaten ernannt, repräsentieren jedoch keinen der Staaten. Das Mandat des UN-Menschenrechtsausschusses beschränkt sich auf den Pakt. Siehe hierzu Hans Michael Empell: Die Menschenrechte der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1995. Bernard Rambert u. a. (Hg.): Todesschüsse, o. O. 1985. Den Wortlaut findet man im Internet: http://de.wikisource.org/wiki/Interna tionaler_Pakt_%C3%BCber_B%C3%BCrgerliche_und_Politische_Rechte [12.6.2008]. Siehe hierzu: Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 2005, S. 205ff. Bernard Rambert u. a. (Hg.): Todesschüsse, S. 96ff. Ebd., S. 5. 151

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tung am 15. Juli 1971 wild schießend entziehen wollte. Einer Aufforderung sich zu ergeben, kam sie nicht nach, sondern schoss immer weiter.46 Insgesamt suchte die Dokumentation zu belegen, dass die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus auf ein „Sonderrecht“47 hinausliefen, dessen gesetzliche Basis der § 129a des StGB der Bundesrepublik bilde. Die von den Maßnahmen Betroffenen würden faktisch rechtlos. Auf die generelle These eines angeblich verdeckten Ausnahmezustandes in der Bundesrepublik hat sich der UN-Menschenrechtsausschuss auf seiner Sitzung im April 1986 nicht eingelassen, er hat aber Fragen, insbesondere zur Länge der Untersuchungshaft der RAFGefangenen, der Isolierung von Gefangenen und zur Beschneidung von Verteidigerrechten, an die Bundesregierung gerichtet.48 Deren anwesende Vertreter beantworteten nicht alle Fragen, bei den meisten wiesen sie auf die besondere Gefährlichkeit der Angeklagten hin. Insbesondere bei der Frage nach der Länge der Einzelhaft haben die Vertreter der Bundesregierung, den vorliegenden Berichten zu Folge, gelogen. Sie behaupteten, dass Einzelhaft nie länger als drei Monate dauere.49 Zu einer erneuten Befragung von Vertretern der Bundesregierung vor dem UNMenschenrechtsausschuss kam es im März 1990,50 bei der die Vertreter der Bundesregierung die Frage nach der strengen Einzelhaft erneut bewusst ausweichend beantworteten.51

Der Körper als Waffe So problematisch die Haftbedingungen der Häftlinge der RAF waren, mit Haftbedingungen im Nationalsozialismus waren sie nicht gleichzusetzen. Einen solchen Vergleich plausibel zu machen war aber Ziel der RAF-Propaganda. Die RAF-Mitglieder verstanden sich außerhalb und innerhalb der Gefängnisse als „Soldaten der Revolution“.52 Die Proteste 46 Siehe hierzu Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 2005, S. 187ff. 47 Bernard Rambert u. a. (Hg.): Todesschüsse, S. 154. 48 Siehe z. B. die Artikel in der tageszeitung, der Welt, der Stuttgarter Zeitung und der Süddeutschen Zeitung vom 7.4.1986, abgedruckt in: Hans Michael Empell: Die Menschenrechte der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1995, S. 41. 49 Siehe hierzu ebd., S. 43. 50 Ebd., S. 60ff. 51 Ebd., S. 62. 52 Diese Formulierung verwendet die Journalistin Margot Overath, vgl. Margot Overath: Drachenzähne, S. 48. 152

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gegen die Haftbedingungen selbst wurden deshalb als Teil des Krieges angesehen, den sie gegen die, ihrer Auffassung nach, faschistische Bundesrepublik führten.53 Sie heizten damit den bewaffneten Kampf zu ihrer eigenen Befreiung an. Die zweite und die dritte Generation der RAF folgten ihnen in dieser Argumentation. Horst Mahler hat, nachdem er sich von der RAF getrennt hatte, in einem Briefwechsel mit Birgitta Wolf54 die internen Überlegungen der ersten Generation der RAF deutlich beschrieben: „Die RAF ist zu einer ‚befreit-die-guerilla-guerilla‘ geworden, um es mit einem treffenden Ausdruck von P.P.Z. zu sagen. Sie produziert immer mehr Tote und gefangene Terroristen unter immer schlechteren Haftbedingungen, dadurch immer mehr Terroristen und einen immer größeren Handlungsdruck für die bewaffneten Kerne, ihre Genossen aus dem Gefängnis zu befreien.“55

Mahler schildert präzise wie die Kampagne gegen die Isolationsfolter begann: „Die Verhaftung von Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Juni 1972 schien das ‚Aus‘ für die RAF zu bedeuten. Niemand von uns Inhaftierten konnte sich vorstellen, daß die Reste der RAF ohne die Energie, die Entschlossenheit und das erfinderische Genie dieser beiden den ‚Kampf‘ fortsetzen und erfolgreiche Befreiungsaktionen durchführen könnten. Alles schien uns davon abzuhängen, daß der Führungskern im Gefängnis wenigstens seine organisatorische und politische Handlungsfähigkeit wiedererlangte und die verbleibenden Aktionsgruppen strategisch anleiten könnte.“56

Einige Absätze später berichtet Mahler ein wesentliches Detail:

53 Auf die Bedeutung des Faschismusbegriffs innerhalb des RAF-Diskurses kann hier nicht eingegangen werden. Faschistisch waren in den Augen der RAF nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch Israel und die USA. Dahinter verbirgt sich ein großer Teil Schuldabwehr der RAF-Mitglieder, vgl. hierzu Susanne Bressan: Wie die RAF ihren Kampf gegen Faschismus, USA und Israel erklärte. http://www.hagalil.com/archiv/2008/04/raf1.htm [12.6.2008]. 54 Brigitta Wolf, geboren 1913, ist Publizistin und Essayistin. Sie betreute seit 1954 ehrenamtlich Strafgefangene und gründete 1969 die Nothilfe Brigitta Wolf e. V., 1971 erhielt sie für ihre Verdienste von der Humanistischen Union den Fritz Bauer Preis. 55 Brief von Horst Mahler an Brigitta Wolf (ohne Datum), abgedruckt in: Peter Paul Zahl: Das Stille und das Grelle, Frankfurt a. M. 1981, S. 155. 56 Ebd., S. 156. 153

MARTIN JANDER

„Nachdem wir nach der Festnahme von Andreas Baader und Gudrun Ensslin beraten hatten, ob und wie der Kampf fortzusetzen sei, faßte Gudrun das Ergebnis in der Formel zusammen: ‚Der Kampf geht weiter. Wenn man uns auch die Knarren aus der Hand genommen hat, so ist uns doch unser Körper geblieben.‘ Das war das Stichwort für jene Kette von Hungerstreiks, die die Gefangenen als Peitsche gegen die Linken einsetzte, um sie für die Guerilla auf Trab zu bringen.“57

Ob das Zitat Gudrun Ensslin richtig wiedergegeben ist, sei dahingestellt. Ensslin hat jedenfalls diese Position im Gefängnis tatsächlich eingenommen.58

Vorläufiges Fazit Eine eingehende Forschung zu den Haftbedingungen der RAF-Häftlinge und anderer Strafgefangener aus terroristischen Gruppen oder ihrem Umfeld gibt es bislang nicht, wohl aber eine hohe Anzahl parteilicher Dokumentationen. Da das Problem der Verabschiedung oder Verletzung der Demokratie im Kampf gegen den Terrorismus nicht nur ein wesentliches Problem der Bundesrepublik Deutschland, sondern aller parlamentarischer Demokratien des Westens ist, wäre eine wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens von großer Bedeutung. Es kann dabei kein Zweifel bestehen, dass die RAF und andere terroristische Gruppierungen das Thema ihrer Haftbedingungen propagandistisch nutzten, um ihren Kampf gegen einen angeblich latenten Faschismus in der Bundesrepublik auch aus dem Gefängnis fortzuführen. Sie scheuten dabei auch vor Selbsttötung nicht zurück, um der Öffentlichkeit weiss zu machen, dass die von ihnen denunzierten faschistischen Verhältnisse in der Bundesrepublik tatsächlich bereits herrschten. Das Thema lässt sich jedoch nicht, wie dies beispielsweise der Autor verdienstvoller Studien zur RAF, Butz Peters, versucht, als pures Propagandathema der bewaffneten Terrorgruppen abtun.59 Die „verschärfte“ oder auch „strenge“ Einzelhaft, häufig über lange Zeiträume hin angewendet, ist bei der Bekämpfung des Terrorismus in der Bundesrepublik tatsächlich als Strategie angewendet worden. Es hat zu dieser lang andauernden verschärften Einzelhaft immer benennbare Alternativen gegeben, die auch den Sicher57 Ebd., S. 160. 58 Siehe dazu: Susanne Bressan, Martin Jander: Gudrun Ensslin, in: Wolfgang Kraushaar (Hg): Die RAF, S. 398-429, hier: S. 419ff. 59 S. Butz Peters: Tödlicher Irrtum, Berlin 2004, S. 305ff; vgl. auch ders.: Der letzte Mythos der RAF, Berlin 2006, S. 219ff. 154

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heitsanforderungen im Kampf gegen eine terroristische Bedrohung nicht widersprechen müssen. Obwohl auf solche Alternativen frühzeitig hingewiesen wurden, haben die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz der Bundesrepublik diese nicht berücksichtigt und die Bundesregierung hat die Existenz einer überlangen strengen Einzelhaft, gewöhnlich ein Mittel totalitärer Regime im Kampf gegen politische Feinde, geleugnet. Der Behauptung eines generellen „verdeckten Ausnahmezustandes“, der im Kampf gegen den Terrorismus in der Bundesrepublik geherrscht haben soll, kann man hingegen nicht folgen. Richtig ist jedoch, dass, hervorgerufen durch die Aktionen der RAF und anderer terroristischer Gruppen, Handlungen der staatlichen Exekutive, wie eben die überlange Isolierung der Gefangenen in strenger Einzelhaft, sichtbar wurden, die die fundamentalen Prinzipien einer Demokratie in Frage stellen. Diese gefährlichen Tendenzen der staatlichen Exekutive der Bundesrepublik Deutschland entwickelten sich aber auch nur deshalb, weil fanatisierte und verwirrte Gruppen aus der bundesrepublikanischen Studentenbewegung, in Hoffnung einer Verbreiterung des bewaffneten Kampfes, eine Überreaktion des Staates im Kampf gegen den Terror heraufzubeschwören versuchten.

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Die unfreiw illige Selbstbespiegelung einer lerne nde n Demokratie . He inric h Böll als Intellektueller zu Beginn der Terrorismusdiskussion ANGELIKA IBRÜGGER Der Aufsatz untersucht die im Frühjahr 1972 geführte Debatte um Bölls Spiegel-Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ als Kristallisationspunkt politischer Kultur der Bundesrepublik. Neben den Wertideen und Argumentationsstrategien Bölls als Intellektueller werden die Rezeption der RAF in Teilen der konservativen Presse sowie die Einstellungsmuster, Werthaltungen und Normen in den Reaktionen auf Bölls Position als Ausdruck gesellschaftspolitischer Bedingtheit der Kontroverse entfaltet.

 Um den 27. Dezember 1971 erreicht Rudolf Augstein ein Brief Heinrich Bölls. Es geht um einen Artikel, den der Schriftsteller in den Tagen zuvor verfasst hat. Er sei „gut überlegt“ und „gründlich überarbeitet“. „[I]ch entdecke nichts zu Beanstandendes mehr“, schreibt Böll.1 Am 10. Januar 1972 wird der Artikel schließlich im Spiegel veröffentlicht. Er trägt den Titel „‚Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?‘ Schriftsteller Heinrich Böll über die Baader-Meinhof-Gruppe und Bild“. Die Empörung bricht sofort los: Bölls Aussagen lösen entrüstetes Unverständnis und nur wenig Einvernehmen aus. In den folgenden Monaten tobt ein „entfesselte[r] Meinungssturm“2. Allein für die ersten sechs Wochen 1

2

Heinrich Böll an Rudolf Augstein, Brief vom 26.12.1971, Historisches Archiv der Stadt Köln, 1326-Ergänzung 4, Bl. 30, zitiert nach Heinrich Böll: Werke, Kölner Ausgabe, hg. von Viktor Böll und Ralf Schnell, Bd. 18 (1971-1974), Köln 2003, S. 454. Walter Warnach: Heinrich Böll und die Deutschen, in: Frankfurter Hefte 33 (1978/7), S. 51-62, hier: S. 51.

156

DIE UNFREIWILLIGE SELBSTBESPIEGELUNG EINER LERNENDEN DEMOKRATIE

muss von bis zu 2 700, für die gesamte Dauer der Debatte bis zum Juli 1972 von mehreren Tausend Zeitungsartikeln ausgegangen werden. „Wann und wo dieser Moralist auch nur in Erscheinung tritt, bekommt die Bundesrepublik schon ein schlechtes Gewissen; und sie weiß, warum“. Mit diesen Worten charakterisierte Jürgen Tern 1972 das Verhältnis Heinrich Bölls zu seinem Land3 und wies auf den entscheidenden Punkt hin: Der Schriftsteller benennt das „gesellschaftlich Unbewusste“, das in einer Gesellschaft gärt, aber von niemandem ausgesprochen wird.4 Skandale um Autoren markieren den gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess. Als Spiegel geschichtlicher Problemkonstellationen treten sie häufig in Zeiten kulturellen und politischen Wandels auf. Begreift man politische Kultur mit Dietrich Thränhardt als „Gesamtheit der Einstellungsmuster, Werthaltungen und der bewussten und unbewussten politischen Traditionen in einer Gesellschaft“,5 bekommen Kontroversen über Autoren als Symptom für aufbrechende Wertkonflikte eine dezidiert gesellschaftspolitische Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus muss nun als extreme Zuspitzung von Wertkonflikten betrachtet werden, als eine Debatte über Grundbedingungen sozialer Ordnung und politischer Öffentlichkeit.6 Damit wird sie zum Indiz eines erhöhten politischen Selbstverständigungsprozesses. Als Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Selbstreflexion kann für Kontroversen um Autoren im Jahrzehnt des „Deutschen Herbstes“ deshalb eine besondere Dynamik und historische Aussagekraft für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik angenommen werden. Gegenstand dieses Beitrages ist die Rezeption der Roten Armee Fraktion in Bölls Spiegel-Artikel und der sich daran anschließenden Diskussion im Frühjahr 1972. Die Analyse wird zeigen, dass von einer Rezeption in der Politik und einer Rezeption in den Medien gerade nicht gesprochen werden kann. Konstitutiv für die ideologische Frontenbildung innerhalb der Terrorismusdebatte war vielmehr die enge Verflech3 4 5

6

Jürgen Tern: Heinrich Böll und seine Kritiker, in: Frankfurter Hefte 27 (1972/3), S. 158-161, hier: S. 159. Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, München 2004, S. 230f. Dietrich Thränhardt: Politische Skandale als Auseinandersetzung um die Normen politischer Kultur, in: Peter U. Hein, Hartmut Reese (Hg.): Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1996, S. 113-122, hier: S. 114. Vgl. Andreas Musolff: Krieg gegen die Öffentlichkeit. Terrorismus und politischer Sprachgebrauch, Opladen 1996, S. 9, 11; Fritz Sack, Heinz Steiner: Protest und Reaktion. Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, Opladen 1984, S. 324, 337. 157

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tung zwischen beiden Bereichen. Das Heranziehen der RAF als politische Argumentationsstrategie zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien fand ihre Fortschreibung in der Presseberichterstattung. Sie war Ausdruck divergierender politischer Grundhaltungen. Kern der Kontroverse um Böll war jedoch nicht die RAF. In der Auseinandersetzung um sie vollzog sich vielmehr die unfreiwillige Konfrontation der bundesdeutschen Gesellschaft mit sich selbst. Drei Punkte sollen im Folgenden analysiert werden: 1. Die Wertideen und Argumentationsstrategien Heinrich Bölls als Intellektueller. 2. Die Einstellungsmuster, Werthaltungen und Normen in den Reaktionen auf Bölls Position als Ausdruck der gesellschaftspolitischen Bedingtheit der Kontroverse. 3. Die Bedeutung der Debatte im Hinblick auf die politische Kultur der Bundesrepublik. Austragungsort der Auseinandersetzung im Frühjahr 1972 waren nahezu sämtliche regionale und überregionale Zeitungen sowie politische Magazine und Kommentare im Fernsehen. Den Ausgangspunkt von Bölls Kritik bildete die Berichterstattung der Springer-Presse. In ihr begegnete er über die Dauer der gesamten Debatte seinem unerbittlichsten Gegner. Neben der Bild-Zeitung war es insbesondere Die Welt, die am häufigsten vertreten war. Auch die Deutsche Tagespost, die Berliner Morgenpost, der Rheinische Merkur und der Bayern-Kurier, die Parteizeitung der CSU, bezogen Position gegen Heinrich Böll. Am stärksten getroffen fühlte Böll sich jedoch von den Fernsehkommentaren Ulrich Frank-Planitz’ im Südwestfunk, ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal sowie Rudolf Wollers in den ZDF-Nachrichten. Der Sturm der Kritik wehte vorwiegend von journalistischer Seite, doch auch von Politikern regte sich Protest gegen Böll. Sie gehörten in der Regel der CDU oder der CSU an, befanden sich also in Opposition zur sozial-liberalen Regierung. Bruno Merk, Bayerischer Innenminister und Angehöriger der CSU, Hans Karl Filbinger, christdemokratischer Ministerpräsident Baden-Württembergs, Bernhard Vogel, rheinland-pfälzischer Kultusminister und innenpolitischer Sprecher von CDU und CSU, Rudolf Titzck, CDU-Innenminister von Schleswig-Holstein sowie der SPD-Politiker Karl Hemfler, Justizminister von Hessen, nutzten als Bühne für ihren gesammelten Einspruch gegen Böll am 15. Januar Springers Die Welt. Auch die Junge Union ließ einen offenen Brief gegen Böll am 19. Januar in der Deutschen Tagespost abdrucken. Beides muss als Indiz für die enge Korrelation zwischen den Bereichen Politik und Medien gesehen werden. Stimmen der Befürwortung gegenüber Böll waren ungleich seltener zu vernehmen. Sie erklangen vereinzelt in der Süddeutschen Zeitung, in der Zeit, in der Frankfurter Rundschau, in der SPD-Zeitung Vorwärts, 158

DIE UNFREIWILLIGE SELBSTBESPIEGELUNG EINER LERNENDEN DEMOKRATIE

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Stern. Schriftsteller und Literaturkritiker solidarisierten sich mit Böll. Der Theologe Helmut Gollwitzer verfasste ein nachdrückliches Plädoyer für Bölls Gnadenbegriff. Auffällig ist, dass sich unter den Sympathiebekundungen kaum Stellungnahmen von Politikern ausmachen lassen. Als umso bedeutender muss daher die Presseerklärung Willy Brandts am 4. Februar 1972 bezeichnet werden, die, in Verbindung mit einem privaten Brief an Böll, in dem Brandt seine Sympathie für dessen Intervention offen bekannt hatte,7 als Unterstützung auslegbar ist.

Am S c h e i d e w e g z w i s c h e n l i b e r a l e m Au f b r u c h und konservativer Restauration Das Eingreifen des Intellektuellen ist stets ein Symptom für historische Problemkonstellationen.8 Es sind krisenhafte Situationen, in denen Wertkonflikte in zugespitzter Form auftreten und gesellschaftliche Grundprinzipien zur Disposition stehen, die intellektuelle Interventionen begünstigen. Bölls Spiegel-Artikel muss also im Hinblick auf die zeitgenössischen innenpolitischen Verhältnisse betrachtet werden. Befand sich die Bundesrepublik in einem erhöhten Verständigungsprozess über Normen, stand sie gar am Scheideweg zwischen der Rückbesinnung auf konservative Ordnungsvorstellungen und einer Neuorientierung an liberalen Wertmaßstäben? Das Jahr 1972 stand in fast unmittelbarer zeitlicher Nachfolge zu den sozialpolitischen Umbruchbestrebungen der Studentenproteste. Es war aber auch die Zeit, in der die Rote Armee Fraktion zunehmend die Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf sich zog. In vielen Fällen war ihre Beteiligung jedoch nicht erwiesen und zudem ungeklärt, ob die Schusswechsel mit der Polizei tatsächlich von den Tätern eröffnet worden waren. Hervorzuheben ist, dass Ulrike Meinhof zum Zeitpunkt von Bölls Spiegel-Artikel allein die gewaltsame Befreiung von Andreas Baader nachgewiesen werden konnte. Zudem war ihre Rechtfertigung des Schusswaffengebrauchs gegenüber Polizisten im 7

8

Vgl. Presseerklärung Willy Brandts vom 4.2.1972 im Ersten und Zweiten Deutschen Fernsehen, abgedruckt in Frank Grützbach (Hg.): Heinrich Böll: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen, Köln 1972, S. 166f; sowie Bundeskanzler Willy Brandt an Heinrich Böll, Brief vom 29.1.1972, im Auszug zitiert bei Viktor Böll und Jochen Schubert: Heinrich Böll, München 2002, S. 141. Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Voltaire und die Affäre Calas. Zur sozialen Rolle des Intellektuellen, in: Merkur 51 (1997/2), S. 1105-1117, hier: S. 1105. 159

ANGELIKA IBRÜGGER

Sommer 1970 mit den Worten, diese seien „Schweine“ und „natürlich kann geschossen werden“, ein dreiviertel Jahr später im „Konzept Stadtguerilla“ zum Teil relativiert worden.9 Erst mit den Sprengstoffanschlägen im Mai 1972, also vier Monate nach Bölls Gnadenplädoyer, setzte die RAF Gewalt tatsächlich gezielt gegen Menschen ein. Auch der erste Baader-Meinhof-Prozess, in dem die Aussagen von Karl-Heinz Ruhland Rückschlüsse auf ihre Gewaltbereitschaft gegen Personen erhärteten, begann erst drei Wochen nach Bölls Intervention. Das Klima der Aufgewühltheit und Bedrohung schlug sich auch in der Politik nieder. Die sozial-liberale Koalition verlor immer stärker an Rückhalt. Angesichts der Ostpolitik Willy Brandts und der von der RAF ausgehenden Gefahr stand sie unter zunehmendem Rechtfertigungsdruck, der seinen deutlichsten Ausdruck im so genannten „Radikalenerlass“ vom 28. Januar 1972 findet. Zusammen mit den Taten Baaders und Meinhofs bot die schwindende Unterstützung für SPD und FDP der Opposition die Chance, für eine Rückbesinnung auf konservative Wertvorstellungen und Deutungsmuster zu plädieren. Ihre Haltung war von der Hoffnung auf eine politische Tendenzwende10 zugunsten eines Regierungswechsels genährt, wie vor allem das gegen Brandt erhobene Misstrauensvotum im April 1972 zeigt. Die Diskussion um die RAF fungierte dabei als wichtiger Teil der politischen Argumentationsstrategie. Das dritte Jahr der sozial-liberalen Koalition war eine Zeit der innenpolitischen Krisen und gerade dieser Umstand machte sie in besonderer Weise empfänglich für eine intellektuelle Intervention. Dass ausgerechnet Heinrich Böll in diese Rolle schlüpfte, begründet sich maßgeblich aus seiner Vorstellung vom Schriftsteller als Verteidiger der Menschenwürde, als moralische Instanz, die gesellschaftliche Grundwerte hinterfragt.11 Sie bildete das Fundament seines künstlerischen Schaffens. Böll sah die Bestimmung der Kunst darin, „zu weit“ zu gehen, Tabus zu brechen und zu provozieren.12 Diese Überzeugung vom Widerstandspotential der Literatur prägte nachhaltig sein künstlerisches 9

Vgl. Ulrike Meinhof: „Natürlich kann geschossen werden“, in: Der Spiegel, 15.6.1970; Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla, in: Alex Schubert (Hg.): Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, Berlin 1971, S. 108-130, hier: S. 110f. 10 Vgl. Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449-478. 11 Vgl. Heinrich Böll: Sprache als Hort der Freiheit (1958), in: Ders. (Hg.): Hierzulande. Aufsätze, München 81972, S. 109-115, hier: S. 113ff. 12 Vgl. Heinrich Böll: Die Freiheit der Kunst (1966), in: Essayistische Schriften und Reden 2 (1964-1972), hg. von Bernd Belzer, Köln 1979, S. 228-232, hier: S. 228, 231f. 160

DIE UNFREIWILLIGE SELBSTBESPIEGELUNG EINER LERNENDEN DEMOKRATIE

Selbstverständnis und er begleitete die Bundesrepublik mit seinen konkreten politischen Meinungsäußerungen als kritischer „Mahner und Warner“ auf ihrem Weg der demokratischen Selbstfindung.

Die Rezeption der RAF – Selbstbehauptung oder Versagen liberaler Öffentlichkeit? Am 10. Januar 1972 platzte Heinrich Böll mit seinem Artikel in das Klima zunehmender Bedrohung und sorgte für Empörung. Doch was an Bölls Wertideen und Argumentationsstrategien war so provokativ, dass die deutsche Öffentlichkeit meinte, sich so lange und so vehement mit ihnen auseinandersetzen zu müssen? Das auslösende Ereignis seiner Intervention war ein Bericht der Bild-Zeitung vom 23. Dezember 1971 über einen Bankraub in Kaiserslautern, bei dem am Tag zuvor zwei Polizisten erschossen worden waren. Bereits durch die Überschrift „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter“ hatte die Bild-Zeitung den Kreis um Ulrike Meinhof und Andreas Baader zu Tätern erklärt, obwohl es keine Beweise für ihre Schuld gab.13 Diese Form der vorverurteilenden Berichterstattung bildete den Ausgangspunkt von Bölls Kritik.14 Er nutzte den konkreten Einzelfall des Bild-Artikels, um prinzipielle Fragen gesellschaftlicher Moral aufzuwerfen. Die provokative Herausforderung, mit der Böll die Öffentlichkeit konfrontierte, lag in dem Bild, das er von der RAF entwarf, aber auch in dem Verhältnis, in das er sie zur deutschen Öffentlichkeit setzte. Für ihn kam der Bericht der Bild-Zeitung einer „Aufforderung zur Lynchjustiz“ gleich. Er wertete ihn als erschreckendes Indiz dafür, wie sehr die öffentliche Wahrnehmung von Baader und Meinhof durch Stigmatisierung und Dämonisierung gekennzeichnet war. Diese wollte Böll durchbrechen, indem er das der Gruppe zugeschriebene Gewaltpotential hinterfragte. Ohne die Unrechtmäßigkeit und Eigenverantwortlichkeit ihrer Taten in Zweifel zu ziehen, plädierte Böll nachhaltig dafür, das Handeln der RAF als sozialpolitisch verursachtes Phänomen zu betrachten. Es war eine beidseitige Schuld und Verantwortung, von der er 13 Vgl. W. Weber, F. Horeni, J. Gehrke: Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub: Polizist erschossen – Eine Witwe und zwei kleine Kinder bleiben zurück, in: Bild, 23.12.1971, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 26. 14 Vgl. zum Folgenden Heinrich Böll: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Schriftsteller Heinrich Böll über die Baader-Meinhof-Gruppe und Bild, in: Der Spiegel, 10.1.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 27-33. Die folgenden Zitate beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf diesen Artikel. 161

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das Verhältnis zwischen der RAF und ihrem gesellschaftlichen Umfeld geprägt sah. Böll lenkte den Blick weg von Baader und Meinhof hin auf unterschiedliche gesellschaftspolitische Bereiche: auf große Teile der Medien wie die Springer- und Bauerpresse oder die Fernsehsendung Aktenzeichen XY-ungelöst, aber auch auf ihre Rezipienten und Zuschauer, „den Spießer, der in Pantoffeln dasitzt, Bier trinkt und glaubt, er würde zum Augenzeugen“, wie Böll schreibt. Sie alle machten Baader und Meinhof zu Opfern einer „medialen Hatzjagd“, zu „Verfolgten und Denunzierten“. Was diese Teile der Bevölkerung durch ihre Verfolgung der RAF zu verteidigen vorgaben, sah Böll gerade durch die Art eben dieser Verfolgung bedroht: die Prinzipien des Rechtsstaates, zu dessen oberstem Gebot die Unschuldsvermutung bis zum richterlichen Schuldspruch gehört. Als größte Gefahr für die Demokratie begriff Böll die Annahme ihrer Unfehlbarkeit. Sein zentrales Anliegen bestand also darin, die Bundesrepublik in ihrem Glauben an die Unfehlbarkeit ihres Rechtsstaates zu erschüttern. Dazu konfrontierte er verschiedene staatliche Bereiche mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Böll nutzte das Argument der potentiellen Gefahr staatlicher Willkür unter Verweis auf die deutsche Rechts- und Polizeigeschichte, um die Haltung der Exekutiven gegenüber Baader und Meinhof angreifbar zu machen. Darüber hinaus rief er politische und institutionelle Versäumnisse im Umgang mit dieser Geschichte ins Gedächtnis. Doch was bezweckte Böll mit dieser Argumentation? Um die deutsche Öffentlichkeit in ihrer Haltung gegenüber Baader und Meinhof aufzurütteln, musste er sie in ihrem Selbstverständnis treffen. Die Empörung, die der Verweis auf den Nationalsozialismus auslöste, diente ihm hierfür als wichtigstes Mittel. Böll nutzte den Gedanken einer Vergleichbarkeit der Situation Verfolgter im „Dritten Reich“ mit der Rolle, die Andreas Baader und Ulrike Meinhof seitens der deutschen Öffentlichkeit zugewiesen wurde, um Entrüstung hervorzurufen. Der Berührungspunkt beruhte Böll zufolge darin, dass die Ausgrenzung in beiden Fällen mit der Gegnerschaft zum System legitimiert worden sei. Ihm ging es jedoch keinesfalls um eine Gleichsetzung beider Systeme. Dies zeigt sein unterschwelliger Hinweis darauf, dass es sich bei der Bundesrepublik um einen „Rechtsstaat“ handle. Gerade diese Unterschwelligkeit verrät jedoch, dass Bölls Argumentation über den Eindruck eines Vergleiches funktionierte: Das Selbstverständnis der Bundesrepublik wurde fundamental durch die Abgrenzung zum Nationalsozialismus be-

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stimmt.15 Indem Böll die Zuverlässigkeit dieser Abgrenzung entgegen dem gesellschaftspolitischen Konsens plötzlich infrage stellte, zog er die Legitimation und Gewährleistung der neuen Demokratie in Zweifel. Er drohte sie ihrer Identitätsstiftung zu berauben und forderte sie dadurch zu einer kritischen und mühsamen Selbstbespiegelung auf. Doch stellte Bölls Spiegel-Artikel tatsächlich einen solchen Tabubruch dar? Nimmt man den Bild-Artikel vom 23. Dezember 1971, der Böll zu seiner Kritik veranlasst hatte, und die Folgeberichte der Zeitung zum Kaiserslauterner Banküberfall aus den ersten Tagen nach seiner Intervention im Januar 1972 als Ausgangspunkt, fallen zwei Dinge auf: Über den Kreis um Ulrike Meinhof und Andreas Baader wurde entweder im Kontext der Fahndung oder im Zusammenhang mit den vermeintlichen Opfern berichtet. Diese Perspektive diente der Zuschreibung einer besonders brutalen Form von Kriminalität. Die aus dem konservativen Lager stammende Berichterstattung über Baader-Meinhof wurde beherrscht von Gewaltmetaphern. Sie charakterisierten die Taten als „Mord an der Humanität“16, als Angriff auf prinzipielle Wertvorstellungen. Hierin manifestiert sich, worum es in der Terrorismusdebatte eigentlich ging: um moralische Diskreditierung. Diese durchbrach Böll, indem er die moralische Empörung der deutschen Öffentlichkeit als Fassade entlarvte, hinter der sich andere Motive verbargen: das ökonomisch kalkulierte Interesse der Springer- und Bauer-Presse an der Darstellung von Gewalt aufgrund ihres verkaufsfördernden Effekts, der selbstgerechte Voyeurimus des Durchschnittbürgers als Mittel zur Verdrängung eigener moralischer Verfehlungen sowie das Bemühen von Politik und Justiz, über Versäumnisse im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen hinwegzutäuschen. Die konservative Haltung gegenüber der RAF war gekennzeichnet von dem grundlegenden Widerspruch zwischen ihrer Kriminalisierung und ihrer Politisierung. Auf der einen Seite fand eine Reduktion auf Kriminalität statt, die der Gruppe jede politische Motivation absprach: „Wir werden weiter sagen, dass jemand, der mordet, ein Verbrecher ist, auch wenn er politische Gründe anführt“, so die Position der SpringerPresse,17 die darin Unterstützung von Seiten der CDU/CSU erfuhr.18 Sie 15 Vgl. Michael Bock: Metamorphosen der Vergangenheitsbewältigung, in: Clemens Albrecht, Michael Bock, Friedrich H. Tenbruck u. a. (Hg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M., New York 1999, S. 530-565. 16 N.N.: Narren, Hofnarren, blutige Narren: Sie sagen „befreien“, sie meinen „zerstören“, in: Bild, 11.1.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 38. 17 N.N.: Scheel und die Hysterie, in: Bild, 29./30.1.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 126f. 163

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erklärte eine sozial-politische Auseinandersetzung mit Baader und Meinhof für hinfällig. Die juristische Ahndung wurde als einzig legitime Reaktion beurteilt. Auf der anderen Seite maß man den Taten hingegen ein vorrangiges Angriffsziel bei: die parlamentarische Demokratie als Fundament bundesrepublikanischen Selbstverständnisses. Entgegen ihrer Charakterisierung als rein kriminelle Vereinigung bestand diese Argumentation auf der politischen Ausrichtung der RAF. Diese rechtfertigte über die strafrechtliche Verfolgung hinaus ihre politische Instrumentalisierung gegen die sozial-liberale Koalition. Konstitutiv in diesem Zusammenhang war das Bemühen, die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als die Selbstverteidigung einer demokratischen Öffentlichkeit erscheinen zu lassen. Die Voraussetzung hierfür war, die kompromisslose Verweigerung jeder Form von politischer Kommunikation zum bestimmenden Merkmal Baader-Meinhofs zu erklären. Ihre Stigmatisierung als „Bande“ und als „Terroristen“, die sich 1971 in weiten Teilen der konservativen Presse durchzusetzen begonnen hatte, verfolgte den Zweck, sie als politisch inakzeptable Konfliktgegner aus dem Raum der Öffentlichkeit auszuschließen. An genau diesem Punkt der Rechtfertigung des staatlichen Handelns setzte die Kritik Bölls an. Sein Bemühen, sich dem Handeln Baaders und Meinhofs als sozial-politischem Symptom zu nähern und sein Verweis auf den Nationalsozialismus rückten den Gedanken in den Mittelpunkt, dass eine auf Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Parteienfreiheit basierende politische Kultur, die die Bundesrepublik sich selber zuschrieb, sich durch die Möglichkeit auszeichnet, potentielle Ursprünge terroristischer Gewaltakte in der politischen Debatte zu problematisieren – die Auseinandersetzung mit ihnen also gerade nicht auf die strafrechtliche Verurteilung und den Ausschluss aus der Öffentlichkeit zu beschränken. Mit dem Aufzeigen dieser Grundbedingung einer pluralistischen Partizipationsgemeinschaft entlarvte Böll das Scheitern der Bundesrepublik an ihrem eigenen Anspruch. Sein impliziter Vorwurf lautete, die Kriegserklärung Baader-Meinhofs angenommen zu haben. Aus dem Bemühen, die Verfolgung der RAF als Selbstverteidigung einer liberalen Öffentlichkeit erscheinen zu lassen, wurde plötzlich die Infragestellung ihrer eigenen Funktionsbedingungen.19 Damit beraubte Böll die staatlichen 18 Vgl. Sechs prominente Politiker widersprechen dem Schriftsteller Heinrich Böll. Welt-Umfrage zu Bölls Spiegel-Artikel über die Baader/Meinhof-Bande, in: Die Welt, 15.1.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 47-50. 19 Vgl. Andreas Musolff: Terrorismus im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik: Seine Deutung als Kriegsgeschehen und die Folgen, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der 164

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Institutionen, die Politik und einen Großteil der Medien der gesamten Legitimation ihres Umgangs mit Baader und Meinhof. „Kritik ist der Beruf des Intellektuellen“, so Rainer Lepsius’ pointierte Zuspitzung intellektuellen Verhaltens.20 Als spezifisches Kennzeichen dieser Kritik beschreibt er, genau wie Joseph Schumpeter, das Verlassen des eigenen Zuständigkeitsbereiches. Die Kritik des Intellektuellen ist inkompetenter Art. Er mischt sich in Dinge ein, die außerhalb seines eigenen Verantwortungsbereiches liegen.21 Genau das tat auch Heinrich Böll im Frühjahr 1972. Er war, was Joseph Schumpeter als die wichtigste Funktion des Intellektuellen betrachtet: ein „Störungsfaktor“.22

E i n G n a d e n p l ä d o ye r a l s V e r t e i d i g u n g d e s Rechtsstaates Der Intellektuelle bezieht sein Störpotential aus der Orientierung an universellen moralischen Wertideen, die ihn nach Pierre Bourdieu zum Inhaber eines „moralischen Lehramt[es]“, zum „Funktionär[…] der Menschheit“ macht.23 Böll wurde durch seine Forderung nach „Gnade“ für Ulrike Meinhof zu einem solchen „Funktionär“. Doch was meinte Böll mit „Gnade“? Wollte er Ulrike Meinhof von strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilung verschont wissen? Die von Böll angeprangerte „Gnadenlosigkeit“ im Umgang mit Ulrike Meinhof bezog sich auf zweierlei. Zum einen fand er sie in der „Verweigerung des Verstehens“24 verkörpert, im versäumten Blick auf die Wirklichkeit hinter den Gesetzen, darin, dass die Frage, wie jemand zum Mörder oder Dieb geworden ist, nicht gestellt werde.25 Im Falle

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Bundesrepublik. Medien Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 302-319; Andreas Musolff: Krieg, S. 9, 11f und 162. M. Rainer Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Ders. (Hg.): Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270285, hier: S. 277f. Vgl. ebd., S. 278-283; Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Basel, Tübingen 71993, S. 235, 237, 248. Ebd., S. 237. Pierre Bourdieu: Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: Ders. (Hg.): Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S. 41-65, hier: S. 46, 64. Helmut Gollwitzer: Gnade und Freistatt, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 7-12, hier: S. 7. Vgl. Paul-Heinz Koesters: Gefühle sind die „Syphilis der Seele“. Sternredakteur Paul-Heinz Koesters fragte den Schriftsteller, warum er sich für 165

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Ulrike Meinhofs war es die Ausblendung ihrer gesellschaftspolitischen Motive. Als „gnadenlos“ betrachtete Böll es darüber hinaus, dass ihr durch die „Hatz“, der er sie gleich einem gejagten Tier ausweglos ausgesetzt sah, jede Möglichkeit genommen werde, sich aus freiem Willen der Polizei zu stellen.26 Unter Bezugnahme auf christliche Wertvorstellungen und dichterische Empathie plädierte Böll für „Gnade“ als einer Veränderung der inneren Haltung gegenüber Ulrike Meinhof – frei von moralischer Verurteilung, stattdessen aber geprägt von der Frage nach den Gründen für ihr Handeln. Auf die Frage der Weltwoche, ob man einen Verfolgten, der ein Mörder sei, der Polizei übergeben solle, entgegnete Böll: „Hört jemand auf, mein Freund zu sein, wenn sich herausstellt, dass er ein Verbrecher ist?“27 Hinter dieser Erwiderung Bölls verbarg sich ein Großteil seines Provokationspotentials. Mit ihr erteilte er der zweckrationalen Argumentation als unabdingbarem Funktionsprinzip jeder Art der juristischen und strafrechtlichen Auseinandersetzung scheinbar eine Absage. Den Interessen der Staatsgewalt, den Vorschriften und Gesetzen setzte Böll den subjektiven Standpunkt des Individuums, die Frage des persönlichen Gewissens entgegen. In seiner Forderung nach „Gnade“ klang der neutestamentarische Gedanke der Barmherzigkeit an, dem „Verfolgten“ durch eine Befreiung von moralischer Verurteilung die Mündigkeit einzuräumen, eine eigene Position zu seinem Handeln zu beziehen, um ihm dadurch die Möglichkeit zu geben, aus freien Stücken zu bereuen und einen anderen Weg einzuschlagen. Bölls Blick auf die Wirklichkeit hinter den Gesetzen hatte jedoch nicht den Zweck, ihnen ihren Status als Fundament der politischen Ordnung abzusprechen. Denn neben der religiösen Argumentation gab es noch einen anderen Pfeiler von Bölls Wertüberzeugungen: das Grundgesetz der Bundesrepublik als Versprechen rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien.28 Bölls Plädoyer für „Gnade“ stellte daher keinen Affront gegen den Rechtsstaat dar, wie seine Kritiker es ihm vorwarfen,29

26 27 28 29

die Baader-Meinhof-Gruppe einsetzt, in: Stern, 17.2.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 189ff, hier: S. 90. Vgl. ebd. Markus M. Ronner: „Man kann nicht sehr weit gehen…“. Gespräch mit Heinrich Böll, in: Die Weltwoche, 9.2.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 178-182, hier: S. 181. Vgl. Heinrich Böll: Die Würde des Menschen ist unantastbar (1972), in: Heinrich Böll: Werke, S. 140-146, hier: S. 140, 145. Vgl. u. a. Dolf Sternberger: Böll, der Staat und die Gnade, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.2.1972, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 152f.; W. Martini: Kriminalpolitiker, in: Deutsche Tagespost, 19.1.1972.

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es galt seiner Verteidigung. Mit ihm forderte Böll die Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze ein. „Dieser Prozess muss stattfinden, er muss der lebenden Ulrike Meinhof gemacht werden, in Gegenwart der Weltöffentlichkeit. Sonst ist nicht nur sie und der Rest ihrer Gruppe verloren, es wird auch weiter stinken in der deutschen Publizistik, es wird weiter stinken in der deutschen Rechtsgeschichte“, appellierte Böll.30 Seiner Argumentation zufolge musste ein Prozess gegen sie unbedingt stattfinden, schon deshalb, weil die Gesellschaft nur durch ihn zu einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Verantwortung angehalten werden könne. Wie der Vergleich zwischen den Verfolgten des Nationalsozialismus und RAF-Mitgliedern muss die Zuspitzung von Bölls Kritik auf das christliche Argument der „Gnade“ als provokatives „Zu-weit-Gehen“ des Intellektuellen Böll betrachtet werden. Sein Tabubruch bestand in der bewussten Konfrontation der staatlichen Rechtsprechung mit christlichen Kategorien. Der Schlüssel dazu liegt in Bölls Selbstverständnis als Schriftsteller im Verhältnis zum Staat. Weil sich laut Böll der Autor in seiner Beziehung zu Begriffen, Wertüberzeugungen und zur sozialen Wirklichkeit grundlegend von Politikern und Juristen unterscheidet, verstand er ihn als notwendiges Korrektiv gegenüber dem politischen Bereich.31 Es ist Bölls Postulat vom Schriftsteller als Verteidiger der Menschenwürde, das in seiner Forderung nach „Gnade“ Verwirklichung fand. Charakteristisch für die Reaktion der Öffentlichkeit auf eine intellektuelle Intervention ist, dass sich der Intellektuelle durch die Inkompetenz seiner Einmischung in einen dauernden Kampf um die moralische Legitimität seiner Wertideen begibt.32 Diesem Kampf sah sich auch Heinrich Böll ausgesetzt. Er wurde zum Protagonisten der Erzählung vom Intellektuellen als „geistiger Wegbereiter“ der Gewalt, die sich im Begriff des intellektuellen „Sympathisanten“ manifestierte. Der Sympathisantenvorwurf diente als Instrument konservativer Eindämmung, um die im Kontext von 1968 aufgekommenen sozial-politischen Umbruchbestrebungen zu diskreditieren und hergebrachte Ordnungsvorstellungen zu verteidigen.33 Angesichts des schwindenden Rückhalts der sozial30 Vgl. Swantje Ehrenteich: Interview mit Heinrich Böll in der Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“, gesendet im Hessischen Rundfunk, abgedruckt in Frank Grützbach: Freies Geleit, S. 123-126, hier: S. 124. 31 Vgl. M. Rainer Lepsius: Kritik, S. 282. 32 Vgl. U. Frank-Planitz: Parole, SWF, 24.1.1972; Hanno Balz: „Sympathisanten“-Diskurs, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus, S. 320-350, hier: S. 321. 33 Vgl. U. Frank-Planitz: Parole, SWF, 24.1.1972; Hanno Balz: „Sympathisanten“-Diskurs, S. 320-350, hier: S. 321. 167

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liberalen Koalition bot die vehemente Abgrenzung gegen Heinrich Böll Gelegenheit dazu. Insofern muss die Kontroverse um seinen SpiegelArtikel als Bemühen um eine konservative Tendenzwende zugunsten des Machtverlustes der Regierung gedeutet werden. Hanno Balz charakterisiert die Terrorismusdebatte als „Kulturkampf“ um gesellschaftliche Hegemonien zwischen liberalem Aufbruch und konservativer Restauration.34 In kaum einem anderen als dem „Fall Böll“ spiegelt sich diese politische Polarisierung und ideologische Frontenbildung deutlicher.

Ein Tabubruch als Katalysator demokratischer Selbstfindung Während Jürgen Habermas es als spezifisch für die Bundesrepublik hervorhebt, dass erst mit ihrer Gründung die Institutionalisierung des Intellektuellen als Förderer demokratischer Willensbildungsprozesse erfolgte, sieht Rainer Lepsius ihre politische Kultur durch die unzureichende soziale Einbettung intellektueller Kritik gekennzeichnet.35 Ist die Auseinandersetzung mit und um Böll zu einer Zeit, die als „bis dahin schwerste[…] Bedrohung“ westdeutscher Demokratie36 gilt, also Ausdruck eines fortschreitenden Demokratisierungsprozesses und damit Indiz für die „geglückte Demokratie“?37 Oder entlarvt sie nicht vielmehr das Scheitern demokratischer Selbstfindung? Böll führte seine Rolle im Frühjahr 1972 – die Überhöhung zum „Gewissen der Nation“ im Vorfeld der Kontroverse und seine anschließende Diskreditierung als „Buhmann der Nation“ – auf die gescheiterte Ausbildung moralischer Instanzen in der Bundesrepublik zurück.38 Insofern stimmt er mit der Argumentation Rainer Lepsius’ überein, wonach die vom Intellektuellen bemühten Wertstandards keine nachhaltige Verbindlichkeit im öffentlichen Bewusstsein besitzen. Dies betrachtet Lepsius als Hinweis für die nicht vorhandene Institutionalisierung intellektueller Kritik in der Bundesrepublik.39 34 Ebd., S. 320, 350. 35 Vgl. Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: Merkur 50 (1996/2), S. 1122-1137, hier: S. 1123-1127, 1134; M. Rainer Lepsius: Kritik, S. 285. 36 Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 346. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. Heinrich Böll, Christian Linder: Drei Tage im März. Ein Gespräch, Köln 1975, S. 104-108. 39 Vgl. M. Rainer Lepsius: Kritik, S. 285. 168

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Jedoch liegt die Funktion intellektueller Einmischung ja gerade in der Aushandlung normativer Wertstandards. Wie Robert Weninger betont, ist kaum eine andere Gesellschaft so von Kontroversen durchzogen wie die der deutschen Nachkriegszeit.40 Es ist das zähe Ringen um demokratische Selbstfindung, das durch die aufreibende Position des Intellektuellen in der Bundesrepublik und durch den erbitterten Streit um Heinrich Böll veranschaulicht wird. In Zeiten der Unsicherheit, in denen die gesellschaftspolitische Befindlichkeit von dem erhöhten Bedürfnis nach normativer Grenzziehung erfüllt war, streckte Heinrich Böll seine Hand über diese Grenze hinaus. Seine Entschlossenheit, „zu weit“ zu gehen und der Bundesrepublik ein „schlechtes Gewissen“ zu bereiten, machte Böll zu einer „einzigartigen Provokation“.41 Laut Walter Warnach lag das Spezifische des Verhältnisses zwischen Böll und den Deutschen darin, „dass er ihnen diesen perfekten Staat nicht als ihre einmalige geschichtliche Leistung, ihr unüberbietbares ‚Wunder‘ abgenommen hat“.42 Provoziert durch die Wertediskussion im Zusammenhang mit der Roten Armee Fraktion stellte der Streit um Böll einen einschneidenden Kristallisationspunkt des sich wandelnden politischkulturellen Selbstverständnisses dar. Durch ihn verschoben sich die Grenzen des Sagbaren innerhalb der Terrorismusdiskussion, weil die Tabus in der Beurteilung von Baader und Meinhof aufgebrochen und bis dahin gültige Wertmaßstäbe hinterfragt bzw. neu überdacht wurden. Das „deutsche Gemüt“ will Baader und Meinhof „erledigt“ wissen, um sich wieder in der Behaglichkeit „deutscher Schwatzgenüsslichkeit“ einrichten zu können, so der wohl provokanteste Gedanke in Bölls Spiegel-Artikel. Der vorliegende Beitrag über die Debatte des Frühjahrs 1972 thematisiert daher nicht allein die Rezeption der RAF, sondern auch und vor allem die unfreiwillige Selbstbespiegelung einer „lernenden Demokratie“43.

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Robert Weninger: Literaten, S. 9, 11. Jürgen Tern: Heinrich Böll, S. 159. Walter Warnach: Böll, S. 60. Vgl. Max Kaase u. a. (Hg.): Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999. 169

Gese llschaftsformierungen. Die öffe ntliche De ba tte über die R AF in den 70er Ja hre n HANNO BALZ Für eine Zeitgeschichtsschreibung der Bundesrepublik sind die Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ von zentraler Bedeutung. Dennoch ist die Rolle der Medien in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus bisher kaum untersucht worden. Der Beitrag analysiert die bundesdeutsche Presseberichterstattung über die RAF im Spannungsfeld von Medien, Politik und Öffentlichkeit und geht der Frage nach, inwieweit man in der damaligen Zeit wirklich von einer „hysterisierten“ Öffentlichkeit sprechen kann.1

Die heutige Betrachtung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre in der Bundesrepublik konzentriert sich meist auf die Auseinandersetzung zwischen Staat und Rote Armee Fraktion. Diese Zuspitzung ist nicht zuletzt durch eine mediale und kulturelle Aufbereitung der damaligen spektakulären Ereignisse in den letzten Jahren zu erklären, die allerdings den Terrorismus-Diskurs der 1970er Jahre in Vielem lediglich reproduziert. In den 70er Jahren war die Auseinandersetzung mit der RAF ein Paradigma für die zunehmende politische Polarisierung der Kommunikationsprozesse innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. So erweist sich die Terrorismus-Debatte vor allem als eine Auseinandersetzung über den Zustand der Republik, in der die diskursiven, politischen und moralischen Grenzen heftig umkämpft waren.2

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Der Beitrag basiert zu einem großen Teil auf der Dissertation des Verfassers, vgl. Hanno Balz: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a. M., New York 2008. Kurt Sontheimer: Die verunsicherte Republik, München 1979, S. 112.

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Die bundesdeutschen Medien thematisierten in den 70er Jahren eine sich verändernde Gesellschaft, die sich plötzlich in unvorhergesehener Weise von innen bedroht zeigte. Darüber hinaus waren die Massenmedien jedoch Teil und Triebkraft einer Frontenbildung im TerrorismusDiskurs. Ebenso wie die RAF in ihrem Konzept der „Propaganda der Tat“ auf eine mediale Präsenz angewiesen war, agierten auch die Vertreter der politischen Institutionen und die Massenmedien auf der medialen Bühne. In diesem Sinne sind die medialen Texte zum Terrorismus nach ihrem performativen Charakter zu befragen, um analysieren zu können, durch welche Rituale der Diskurs möglicherweise die Wirkungen erzeugt, die er benennt.

Stimmungsbilder 1971-1977 Zunächst ist für die Frage nach der medialen Konstruktion von „Terrorismus“ die Betrachtung des deutlichen Stimmungswandels in der bundesdeutschen Bevölkerung im Bezug auf die RAF entscheidend. In einer Meinungsumfrage von 1971 äußerten 25 % der unter 30-jährigen „gewisse Sympathien“ für die Rote Armee Fraktion.3 Auch in den liberalen Medien, vor allem im Spiegel, fand zu dieser Zeit eine Diskussion darüber statt, inwiefern diese Baader-Meinhof-Gruppe als theoretisches Erbe der APO an ihren politischen Motiven zu messen sei, wenngleich ihre Praxis sie lediglich als „Desperados“ erscheinen ließ. Spätestens die Situation im Herbst 1977 zeigt schließlich eine drastische Wendung im Stimmungsbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft: Während der Schleyer-Entführung stimmten 53 % der von Infratest Befragten dem Statement zu: „Solche Anschläge können jeden von uns treffen; davor habe ich persönlich Angst.“4 Die Gesellschaft für deutsche Sprache ernannte die Begriffe „Terrorismus“ und „Sympathisantenszene“ zu den „Worten des Jahres“ 1977.5 Die Diskrepanz, die in dieser Entwicklung – von einer gewissen Akzeptanz gegenüber der RAF hin zu einem subjektiven Gefühl der direkten Bedrohung – liegt, verweist auf die Frage: Wie

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Diese Zahlen des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts werden in der Literatur häufig zitiert, sollten jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, vgl.: Hans Mathias Kepplinger: Statusdevianz und Meinungsdevianz. Die Sympathisanten der Baader-Meinhof-Gruppe, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 4 (1974), S. 770-800. Infratest Politik-Barometer vom Oktober 1977, zitiert nach Karl-Rudolf Korte: Der Standort der Deutschen, Köln 1990, S. 61. Ebd. 171

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konnte es gelingen, die Reihen, die nach 1968 zunächst aufzubrechen schienen, in so kurzer Zeit wieder zu schließen? Die Auseinandersetzung um den Terrorismus in den 70er Jahren und ihre Zuspitzung im Herbst 1977 sollte zunächst einmal als Katalysator der bundesrepublikanischen Gesellschafts- und Institutionengeschichte verstanden werden, der die politischen Prozesse prägte. Dies galt für die Institutionen einer „Inneren Sicherheit“ ebenso wie für die politischen Organisationsformen auf Seiten der Neuen Linken.6 Darüber hinaus lässt sich an der Terrorismus-Auseinandersetzung vor allem eine Wertedebatte festmachen und damit letztlich der diskursive Kampf um hegemonielle Bedeutungen — wobei im Terrorismus-Diskurs der 70er Jahre zunächst eine breite Verunsicherung deutlich wurde. Offenbar zeigte sich in dieser Konfrontation der dringende Bedarf einer Verständigung über gesellschaftliche Grundfragen, die im Wesentlichen der APO-Revolte entstammten. Grundsätzliche Fragen in dieser Auseinandersetzung betrafen zunächst das intergenerationelle Miteinander. Konfliktlinien zeigten sich hier vor allem in den Familien, allerdings auch in der Frage nach einem politischen Vergangenheitsbezug, welcher sich im Gegenüber der Täter-Väter und der (verlorenen) Söhne bzw. Töchter zeigt. Auf der einen Seite finden wir immer wieder das Strukturmerkmal der Familien-Story, wenn z. B. auch die Eltern der RAF-Mitglieder in den medialen Fokus geraten. So ist Generation hier auch als politisches Bezugssystem zu verstehen, das dem diskursiven Ausschluss der jungen Rebellierenden, als „Hitlers Kinder“ angegriffen, gilt. So scheinen sich seit Beginn der 70er Jahre die Vorzeichen des Generationenkonflikts zu drehen: Nicht mehr die Vertreter der NS-Generation sind demnach als „Hitlers Kinder“ zu verstehen, sondern diejenigen, die aufgrund ihrer Gewaltanwendung dem Faschismus angeblich nahe stünden. In diesem Zusammenhang ist auch die grundsätzliche Auseinandersetzung über die Terroristinnen zu betrachten. Die immer wieder aufgeworfene Frage nach dem Grund für den angeblich ungewöhnlich hohen Frauenanteil in der RAF und damit einhergehende ideologische Abwehrbemühungen bilden ein Feld der Zuschreibung. In den Printmedien lässt sich ein Wechselspiel zwischen Begehren, Angst, Abwertung und Gewaltfantasien ausmachen, auf der Metaebene geht es um „gefallene Engel“ und „gescheiterte Mütter“, dabei werden jenseits von Ensslin und Meinhof alle weiblichen RAF-Mitglieder, zumindest in Bild, schlicht als „Mädchen“ tituliert. Deutlichstes Beispiel der vielfältigen Projektionen

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Zum Einfluss auf die Politik der „Inneren Sicherheit“ vgl.: Thomas Kunz: Der Sicherheitsdiskurs. Die Innere Sicherheitspolitik und ihre Kritik, Bielefeld 2005, S. 16ff.

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ist sicherlich die Bild-Schlagzeile: „Das Mädchen mit der Stalinorgel“7. Nach Verfassungsschutzpräsident Nollau handelte es sich um nichts Geringeres als den „Exzess der Befreiung der Frau“8. Hier wird die etablierte Rollenverteilung über traditionelle vergeschlechtlichte Zuschreibungen im Diskurs verteidigt. Grundsätzliche Fragen wurden auch an ein Rechtssystem gestellt, das sich zum ersten Mal in fundamentaler Weise auf die Probe gestellt sah – und diese sicherlich nur zum Teil bestanden hat. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik wohl kaum einen Gerichtsprozess gegeben, in den von Seiten der Politik und der Medien im Vorfeld derart eingegriffen wurde, wie in das Stammheimer Verfahren.

Der Kampf um die Bekämpfung Mit den Verhaftungen von Baader, Ensslin und Meinhof im Mai/Juni 1972 entwickelte sich im Terrorismus-Diskurs zum ersten Mal ein spezifisch juristisch-politischer Strang. Nun ging es, schneller als erwartet, um eine juristische Verarbeitung des Terrorismus und damit um einen Beweis der Handlungsfähigkeit von Politik und Legislative. Dabei wurde der Kampf gegen den Terrorismus zunehmend überlagert vom Kampf um seine Bekämpfung.9 Der Diskurs verlagerte sich von einem politischen Streit und der intellektuellen Auseinandersetzung mit Kontext, Beweggründen und Politik der RAF hin zu einer Frage von Normen und Gesetzen. Es sollten nun mehr allein juristisch klar umrissene Gesetzesverstöße Thema der Auseinandersetzung sein und eben keine politische und moralische Debatte geführt werden, wie beispielsweise Justizminister Hans-Jochen Vogel betonte: „Die Verfolgung richtet sich ausschließlich gegen das kriminelle Tun und nicht gegen deren etwaige politische Motivation.“10 Es waren inzwischen vor allem Parteipolitiker, welche die zentralen Sprecherpositionen im juristischen Diskurs einnahmen und die immer wieder die rein kriminologische Dimension in der Auseinandersetzung mit der RAF betonten. Hier zeigt sich ein Dilemma: Sollte es 7

N.N.: „Das ist das Mädchen mit der Stalinorgel“, in: Bild, 29.8.1977, S. 1. Das Foto des vermutlich beteiligten „Mädchens“ zeigt Silke Maier-Witt. 8 N.N.: Ausbruch in Berlin: „Das ist eine Riesensache“, in: Der Spiegel, 12.7.1976, S. 17-26. 9 Uwe Berlit, Horst Dreier: Die legislative Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, in: Fritz Sack, Heinz Steinert (Hg.): Analysen zum Terrorismus. Band 4.2. Protest und Reaktion, Opladen 1984, S. 228-318, hier: S. 264. 10 Justizminister Hans-Jochen Vogel in: Sechs prominente Politiker widersprechen dem Schriftsteller Heinrich Böll, in: Die Welt, 15.1.1972, S. 6. 173

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nur um nicht-politische Aspekte der Kriminalität gehen, warum blieb die Angelegenheit dann nicht den Juristen überlassen? Gerade in dem Sinne, in dem sich die Parteipolitik gezwungen sah, Antworten auf die juristische Herausforderung durch die RAF zu geben, erfährt die Auseinandersetzung eine immanent politische Dimension: „Niemals zuvor hatten sich Politiker vor dem justizförmigen Abschluß einer Kriminalaffäre – und um solch eine sollte es sich ja handeln – unter unbekümmerter Mißachtung der rechtsstaatlich gebotenen Unschuldsvermutung derart eindeutig zur Schuldfrage geäußert.“11 Seit den ersten Verfahren wurde von politischer und justizieller Seite eine Anerkennung der RAF-Mitglieder als politische Gefangene kategorisch abgelehnt und betont, es handele sich um keine politischen Prozesse. Dagegen machten die Sonderhaftbedingungen, die sukzessive Einführung von Ad-hoc-Gesetzen und das Gesamtensemble Stammheim jedoch gerade deutlich, dass es hier eben nicht um gewöhnliche Kriminelle ging, wie immer wieder behauptet wurde. Auf der juristischen Ebene zeigte sich eine Entpolitisierung der Auseinandersetzung auch durch den Verzicht auf eine Anklage wegen Hochverrats, die immerhin erwogen wurde und juristisch möglich gewesen wäre und in den 50er Jahren gegen KPD-Mitglieder noch Anwendung fand.12 Stattdessen suchte man nach der individuellen Beteiligung an profanen kriminellen Akten, auch wenn die Einführung des §129a, mit der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ der vormals „kriminellen Vereinigung“ eine spezifisch politische Dimension gab.13 11 Hellmut Brunn, Thomas Kirn: Rechtsanwälte, Linksanwälte. 1971 bis 1981 – das Rote Jahrzehnt vor Gericht, Frankfurt a. M. 2004, S. 310. 12 H. Brunn, T. Kirn: Rechtsanwälte, Linksanwälte, S. 37. Der §81 „Hochverrat gegen den Bund“ ist Teil der so genannten „Staatsschutzparagraphen“ §81-83 StGB und umfasst außerdem: „Hochverrat gegen ein Land“, „Vorbereitung“, „Tätige Reue“: „Wer es unternimmt, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt 1. den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder 2. die auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beruhende verfassungsmäßige Ordnung zu ändern, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.“ Zu Hochverratsprozessen gegen KPD-Mitglieder in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik: Heinrich Hannover: Terroristenprozesse. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Strafverteidigers, Hamburg 1991, S. 181ff und S. 187ff. 13 Dass auch von gerichtlicher Seite für kurze Zeit ein Hochverratsprozess in Erwägung gezogen wurde, zeigt die damals nicht veröffentlichte Einschätzung der Staatsschutzkammer des Landgerichts Kaiserslautern im Bezug auf den Prozess gegen Klaus Jünschke: „Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß bei Durchführung des Hauptverfahrens die den Angeschuldigten vorgeworfenen Taten unter dem Gesichtspunkt des Hochverrats (§81, 83 StGB) Bedeutung gewinnen. Das Ermittlungsergebnis über die Bestrebun174

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Schon zu Beginn der „Strafsache gegen Baader u. a.“ am 21. Mai 1975 wird von offizieller Seite der Rahmen dieses „Jahrhundertprozesses“ gesteckt. So erklärt Generalbundesanwalt Siegfried Buback dem Stern gegenüber: „Die Frage ist doch: Gilt der Grundsatz des fairen Prozesses, den Sie angesprochen haben, auch dann, wenn ein Verteidiger seine Vorrechte mißbraucht, und wenn der Mandant davon gewußt oder sogar dazu angestiftet hat? Ich bin der Meinung: nein.“14 Auch die Mauern von Stammheim sind nicht nur Einschluss und Abschirmung der Angeklagten, sondern auch symbolischer Ausdruck deren Gefährlichkeit, welche eine Vorverurteilung bereits in sich trägt. So wird im Spiegel gefragt: Sei die Architektur von Stammheim „nicht schon Beton gewordenes Vorurteil? Kann eine Justiz, die sich für die Dauer der Verhandlung quasi selber mit einsperren muß, anders befinden als gegen die Angeklagten, die das alles bewirkt haben?“15 Über den Abschluss des Stammheimer Prozesses heißt es schließlich in einer prägnanten Kritik: „Eine Festung mit gestaffeltem Abwehrring, schußsicher und mit einem Netz auf dem Dach gegen Bombenbefall, wird als Gerichtsstätte nicht für Freisprüche gebaut.“16 Wohl kaum ein Strafprozess in der Geschichte der Bundesrepublik war von einer solch verbreiteten Missachtung der rechtlich gebotenen Unschuldsvermutung geprägt. So äußern sich auch Politiker regelmäßig zu Fragen der Schuld, beispielsweise der rheinlandpfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) mit der Feststellung, es handele sich bei den RAF-Gefangenen um „Mörder, deren Verurteilung zu lange auf sich warten lasse“.17 Von allen Seiten wird im Zusammenhang mit dem Stammheimer Verfahren auf die mediale Öffentlichkeit eingewirkt. Sind es zunächst die Anwälte, die eine geradezu professionelle PR-Arbeit betreiben und eigens Pressekonferenzen einberufen, so beteiligt sich nun auch das Gericht am medialen Diskurs. Die Stuttgarter Zeitung erhält beispielsweise ein Schreiben des Gerichts mit der Bitte um Richtigstellung einzelner Tatsachen aus einem dort veröffentlichten Prozessbericht und Richter Prinzing telefoniert dem Südwestfunk in eine laufende Sendung hinein.18

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gen und Ziele der ‚Roten Armee Fraktion‘ (RAF) sowie Vorgänge in jüngster Vergangenheit geben hierzu Anlaß.“ Zitiert in Rolf Gössner: Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat, Hamburg 1991, S. 97. Stern-Interview vom 5.6.1975, zitiert nach Heinrich Hannover: Terroristenprozesse, S. 99. N.N: Die Materialschlacht, in: Der Spiegel, 19.5.1975, S. 32-46. N.N.: „Früher hätte man sie als Hexen verbrannt“, in: Der Spiegel, 2.5.1977, S. 36-41. N.N.: „Akten zu, Fall aus“, in: Der Spiegel, 25.4.1977, S. 60-65. Vgl. N.N.: Täglich zwei, in: Der Spiegel, 11.8.1975, S. 29-31. 175

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In allen Zeitungen wird während des sich in die Länge ziehenden Prozesses weniger die (ohnehin für geklärt erachtete) Schuldfrage erörtert, als vielmehr juristische Grundsätze sowie der Gesamtzustand der Republik. Da der Prozess für die Medien mit der Zeit zu einem langweiligen Ritual im Leerlauf zu werden droht, begibt man sich zunehmend auf eine Metaebene und sucht universelle Erklärungen. So ist im StammheimDiskurs auch eine gesamtgesellschaftliche Positionsbestimmung zu finden. Beispielsweise stellt der Spiegel die Forderung nach aufgeklärten Richtern für eine flexible und tolerante Staatsmacht und verteidigt ein Rechtssystem, das nicht geradlinig auf „Erfolge“ zugeschnitten ist. Der Berliner Rechtsprofessor und Senatspräsident am Bundesgerichtshof, Werner Sarstedt, vertritt in einem Spiegel-Essay die Auffassung eine „offene, demokratische Gesellschaft“ müsse mit dem „Terror“ eben so zurechtkommen wie ein kompliziertes Rechtssystem. Der Ruf nach Vereinfachung, wie beispielsweise die Forderungen nach einem „kurzen Prozess“, berge enorme Gefahren: „Ein gemeinverständliches ‚Volksgesetzbuch‘ zu schreiben, war ein Nazitraum; [...] Mit der Schwerverständlichkeit des Rechts müssen wir leben.“19 Stammheim wird in der Folge allgemein als (problematisches) Modell für die weiteren juristischen Auseinandersetzungen mit der RAF gesehen, was die Folgeprozesse gegen RAF-Mitglieder aufgrund ihrer Konflikthaftigkeit bestätigen. Die emotionale Aufgeladenheit und das demonstrative Agieren beider Seiten vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit wird in späteren Gerichtverfahren allerdings keine derartige Entsprechung mehr finden. Von fast allen Kommentatoren in den Medien wird Stammheim als juristische und moralische Niederlage gewertet. Während auf Seiten einer linksliberalen Kritik behauptet wird, der Rechtsstaat sei hier „bis zur Unkenntlichkeit“ entstellt worden, wird auf konservativer Seite der Imageverlust der deutschen Justiz und die generelle Untergrabung der obrigkeitsstaatlichen Ordnung beklagt. So erscheint in der Ideologie eines autoritären Staatsverständnisses der lange Prozess als „Verhöhnung der Opfer“ und als Quasi-Gnade für die Angeklagten, mithin auch noch als unerwünschte Bühne für die RAF. So setzt sich auf konservativer Seite mit der zunehmenden Ermüdung gegenüber dem langwierigen Verfahren die Ansicht durch, dass nur ein schnell zu fällendes, hartes Urteil dem Rechtsstaats entspräche. Vor allem für ein konservatives Bewusstsein scheint sich die Legitimität des Rechtsstaats weniger in einem fairen, ausgewogenen Prozess zu spiegeln als in der normativen Faktizität eines Urteils. In diesem Kontext erhalten die For19 Werner Sarstedt: Mehr Mühe mit dem Rechtsstaat, in: Der Spiegel, 23.5.1977, S. 54-55. 176

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derungen nach einem „kurzen Prozess“ eine erschreckende Doppeldeutigkeit. Inwieweit die Medien Einfluss auf das Prozessgeschehen hatten, zeigt nicht zuletzt auch die Absetzung des Richters Prinzing, der sich zuvor mit vertraulichem Material an den Chefredakteur der Welt gewandt hatte.

Terrorismus-Diskurs als Medienskandal Der juristischen Aufarbeitung der RAF ging die Frage nach einer „Kontaktschuld“ am Terrorismus voraus: Bei der Diskussion über die Rolle der Sympathisanten der RAF manifestierte sich eine Position, die mehr und mehr eine aktive Loyalität dem Staat gegenüber einforderte. Der konservative Sozialphilosoph Günter Rohrmoser war nicht der Einzige, der in diesem Zusammenhang einen „Abfall der Intelligenz von der Gesellschaft“ konstatierte.20 Zunächst am Beispiel prominenter Intellektueller wie Heinrich Böll und Peter Brückner, später dann gegenüber einem anonymen so genannten „Reserveheer des Terrorismus“21 aus linksradikalen Unterstützern, wurde nicht die Gewaltpolitik der RAF problematisiert, sondern der Ausschluss großer Teile der bundesdeutschen Linken aus der Gesellschaft. Der bundesdeutsche Terrorismus-Diskurs ist letztlich auch unter den Vorzeichen eines Medienskandals zu betrachten. Dieser hat, so Steffen Burckhardt, „als mediales Ritual an der Aktualisierung von Moral in der Gesellschaft wesentlichen Anteil zur kollektiven Differenz- und Identitätsbildung und nutzt narrative Strukturen, funktionale Phasen und sich teils ergänzende, teils widersprechende diskursive Praktiken, um Machtverhältnisse in sozialen Systemen auszuloten.“22

Die Berichterstattung stand in den Zeitungen der 70er Jahre unter dem Vorzeichen einer medialen Komplexitätsreduktion, auch wenn dies beispielsweise für die Berichterstattung des Spiegel weniger gelten mochte als für Bild. Generell ersetzte der Mediendiskurs die Darstellung ab-

20 Zitiert nach Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten!“, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449-478, hier: S. 451. 21 Werner Kahl: Das stille Reserveheer des Terrorismus, in: Die Welt, 12.9.1977, S. 3. 22 Steffen Burckhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 381. 177

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strakter Prinzipien (beispielsweise von politischer Gewalt) in seinem „Story“-Modus durch eine Reihe von Suggestionen: – Durch die Personalisierungen in der Berichterstattung wurden Ereignisse und gesellschaftliche Verhältnisse an konkrete Personen rückgebunden. – Durch einen Konkretismus der unzähligen Details sollten die Leser denken, sie verfügten über totale Information. – Mit den bereitgehaltenen Identifikationsangeboten vor allem mit den Opfern, wurde der Terrorismus zu einer Angelegenheit, die alle, auch direkt, betreffen konnte. – Mit einer Psychologisierung der RAF-Protagonisten, die mit der Personalisierung einherging, folgte schließlich die Entpolitisierung der Auseinandersetzung. Das Ausschluss-Bestreben, das als ideologische Prägung des Diskurses ersichtlich wurde, muss allerdings unter den Vorzeichen seiner zeitlichen Entwicklung analysiert werden. Im Laufe des TerrorismusDiskurses zwischen 1970 und 1977 verschoben sich die medialen Deutungen von einer zunächst noch erkennbaren Ambivalenz immer mehr zu einer hegemonialen Eindeutigkeit. Vor allem bis 1972, etwas abgeschwächt auch noch bis Mitte 1977, fand sich vor allem im Spiegel eine linksliberale Gegenposition gegenüber dem hegemonialen Diskurs, deren gesamtgesellschaftlicher Einfluss nicht unterschätzt werden darf. Spätestens mit der Eskalation 1977 glichen sich die Ausgrenzungsbemühungen des Spiegel jedoch denen anderer Massenmedien an, auch wenn nach 1977 zum Teil noch zur alten kritischen Position zurückgefunden wurde. Eine zunehmend existenzielle Polarisierung zeigte sich jedoch nicht nur in der Abgrenzung gegenüber der RAF und ihrem (kaum weiter definierten und teilweise imaginierten) Umfeld, sondern auch zwischen liberaler und konservativer Öffentlichkeit, wie sie sich auch in der Konfrontationsstellung der Zeitungen gegeneinander ausdrückte.

Gesellschaftsformierungen In der Anrufung über einen breiten gesellschaftlichen Konsens manifestierte sich schließlich eine Gesellschaftsformierung durch Abgrenzung: „Der Konflikt der siebziger Jahre in den Medien der Bundesrepublik war nicht nur eine Herausforderung der – eher ‚rechten‘ – Moral durch die – eher ‚linke‘

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– Kritik, sondern auch die Abwehr von Kritik durch moralisierende Appelle an die Allgemeinheit.“23

Die Formierung kann als Wiederbelebung älterer Konzepte aus den 1960er Jahren, vor allem aus der Feder Ludwig Erhardts, interpretiert werden, die jedoch mit der antiautoritären Revolte und dem Beginn eines sozialliberalen Regierungsprojektes vorerst offenbar nicht mehr durchsetzbar waren. Erhard sah sein Modell einer „formierten Gesellschaft“ in Abgrenzung zum Kommunismus aber vor allem auch gegenüber den „negativen Zügen der pluralistischen Gesellschaft“:24„Ich erkenne vielmehr eine Gesellschaft, die von der Einsicht erfüllt ist, dass über den Einzelinteressen von heute die höhere Ordnung des Ganzen steht.“25 Diese „höhere Ordnung des Ganzen“ rückte mit dem „Deutschen Herbst“ schließlich wieder in den Mittelpunkt der politischen Agenda. Beispielhaft zeigte sich dies in der Regierungserklärung von Helmut Schmidt am 20. Oktober 1977, in welcher vor allem an die „vergessenen“ Grundwerte eines Ludwig Erhards angeknüpft wird: „Die Menschen in der Bundesrepublik, das spüre ich, sind näher zueinander gerückt. Opfermut, der Einsatz des Lebens für die Gesamtheit der Bürger, für die Demokratie gelten – manche hatten es vielleicht schon vergessen – mehr als das Streben nach Materiellem. Und ein Rückzug auf die Innerlichkeit allein reicht für die Gemeinschaft nicht aus.“26

Inwiefern die Wiederbelebung des Konzepts einer „formierten Gesellschaft“ Mitte der 70er Jahre wieder aktuell war, zeigt auch ein Vortrag von Ralf Dahrendorf zum 25. Jubiläum der Bertelsmann AG von 1975 mit dem Titel: „Nach dem Überfluß: Formierte oder offene Gesellschaft?“27 Unter dem Eindruck einer „Tendenzwende“ zeichnet Dahrendorf hier ein alarmierendes Bild:

23 Harry Pross: Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert, Weimar 2000, S. 208. 24 Heinzgerd Schott: Die formierte Gesellschaft und das Deutsche Gemeinschaftswerk. Zwei gesellschaftspolitische Konzepte Ludwig Erhards, Bonn 1982, S. 22f. 25 Vortrag Erhards vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU am 29.5.1965 in Bonn, zitiert nach: Ebd., S. 24. 26 N.N.: „Die Menschen sind näher zueinander gerückt“, in: Die Welt, 21.10.1977, S. 4. 27 Ralf Dahrendorf: Nach dem Überfluß: Formierte oder offene Gesellschaft?, in: Bertelsmann AG (Hg.): bertelsmann texte, Heft 4, Gütersloh 1975, S. 5-20. 179

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„Die strukturellen Probleme, vor denen sich die meisten Gesellschaften der Welt angesichts einer veränderten sozialökonomischen Großwetterlage finden, verstärken die ohnehin vorhandenen autoritären Tendenzen zur Formierung von Gesellschaften und machen die Erhaltung und Schaffung von offenen Gesellschaften zu einer zunehmend prekären Aufgabe.“28

Nach Dahrendorf kann die alleinige politische Ausrichtung auf ökonomischen „Überfluss“ der sich verändernden Gesellschaft nicht mehr gerecht werden. So verweist er auf die „Gefahren der Formierung, also nicht des Staatsstreiches oder der Revolution, nicht einmal des Ermächtigungsgesetzes oder der Notverordnung, sondern der schleichenden Aushöhlung von Rechten und Chancen“.29 Abgrenzungsbemühungen waren für die Selbstvergewisserungstendenz des gesamten Terrorismus-Diskurses prägend. Hier ging es um Grenzziehungen und damit auch um gesellschaftliche Ausschlüsse. Nicht die drei Dutzend Mitglieder der RAF waren es, die im eigentlichen Sinne gemeint waren – vielmehr bleibt die Erkenntnis, dass der Terrorismus-Diskurs nicht in erster Linie die benennt, von denen er spricht. Das eigentliche Kampfterrain dieses Diskurses war das, was Innenminister Maihofer als viel zitiertes Programm der „geistigen Auseinandersetzung“30 mit dem „Terrorismus“ vorgegeben hatte – also ein Kampf um die Köpfe. An der medialen Oberfläche handelte es sich um eine Sensations-Berichterstattung, die immer wieder das Bedürfnis nach Fortsetzung der Terrorismus-„Story“, unter den emotionalen Vorzeichen von Bedrohung, Empörung und Suspense bediente und damit hohe Verkaufszahlen erreichte. Auf Seiten der im Diskurs eingeschriebenen Ideologie ging es im Kern jedoch um die Auseinandersetzung mit einem kritischen Potenzial in der Bundesrepublik, somit um die gesamte Linke, an der sich die Fragen gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses orientierten. So lässt sich sagen, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft zwischen 1970 und 1977 in der Auseinandersetzung nicht mit der RAF, sondern über sie ein Bild von sich selbst entwarf. Die Dynamik dieser Auseinandersetzung lässt sich besonders deutlich am Kampf zwischen emanzipatorischem Aufbruch und restaurativer Eindämmung ablesen, der bis Ende 1977 von einer sich sukzessive zuspitzenden Ausgrenzung unter denunziatorischen Vorzeichen beherrscht wurde, die große Teile der Linke mit einbezog und diese gegeneinander auszuspielen versuchte. So ist als Bilanz des „Deutschen Herbstes“ in 28 Ebd., S. 9. 29 Ebd., S. 11. 30 N.N.: „Dann könnten Terroristen nur zum Nordpol“, in: Der Spiegel, 5.5.1975, S. 27-30. 180

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erster Linie ein Rechtsruck des politisch-parlamentarischen Spektrums und eine Restauration in den politischen Apparaten unter den Vorzeichen einer konservativen Tendenzwende zu konstatieren. Dies hatte zwar den weiteren Ausschluss der außerparlamentarischen Linken zur Folge, dennoch stärkte die Beschwörung der terroristischen Bedrohung durch die politischen Institutionen und die Massenmedien sowie das demonstrative Zusammenrücken der Mehrheitsgesellschaft die Linke letztlich in ihrer neuen Ausrichtung zu mehr Autonomie. Auch wenn die Eskalationsstrategie der RAF, die darauf zielte, den „faschistischen Charakter“ der Bundesrepublik freizulegen, zu keiner Zeit aufgehen wollte, so erhielten die Zensurvorwürfe, das Bild eines Polizeistaates und die (vorübergehende?) Renaissance des Obrigkeitsstaates „in den Kreisen des neu entstehenden Protestpotentials spontane Evidenz.“31 Trotz des wachsenden Verfolgungs- und Dissoziationsdruck war die Linke in der Bundesrepublik nicht am Boden. Eher fand nun eine Umorientierung unter den Vorzeichen einer radikalen, unorthodoxeren Staats- und Herrschaftskritik statt, die schließlich in den neuen sozialen Bewegungen und Aussteigerbewegungen deutlich wurde. Eindeutiger zeigte sich jedoch die Krise des der kritischen Aufklärung verschriebenen Bürgertums, deren Position marginalisiert und immer problematischer schien.

Der „Deutsche Herbst“ als Katharsis? An dieser Stelle soll davor gewarnt werden, sich bei der zeitgeschichtlichen Einordnung der 70er Jahre zu sehr auf die spektakuläre, medienwirksame Konfrontation zwischen RAF und Bundesrepublik zu konzentrieren.32 Zwar ist der „Deutsche Herbst“ als mediales Ereignis auch heute noch prägend im kollektiven Gedächtnis verankert, doch waren gesellschaftliche Auseinandersetzungen, beispielsweise über die Ostpolitik, die Ölkrise, die Neugestaltung des Bildungssystems und den massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zu jener Zeit letztlich prägender. Selbst 1977 hielten einer Allensbacher Umfrage zufolge die befragten Bundesbürger die „hohe Arbeitslosigkeit“ und die „hohen Kosten der Gesundheitsvorsorge“ für dringlichere Probleme als

31 Heinz Steinert: Sozialstrukturelle Bedingungen des „linken Terrorismus“ der 70er Jahre“, in: Fritz Sack, Heinz Steinert (Hg.): Analysen zum Terrorismus, S. 388-603, hier: S. 467. 32 Vgl. Klaus Weinhauer: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 219-242, hier: S. 221. 181

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den „Terrorismus“.33 Zwischen 1975 und 1977 wurde von so unterschiedlichen Stimmen wie Helmut Schelsky, Jürgen Habermas oder Gewerkschaftsvertretern immer wieder die drohende „Unregierbarkeit“ beschworen.34 Dabei war natürlich auch die aus den Erfahrungen mit der RAF resultierende Frage der „Inneren Sicherheit“ für diese Angst mitverantwortlich, prägender war hier jedoch die Abkehr vom Glauben einer staatlichen Planungseuphorie35 sowie die Gefahr der „Sprengung der ‚parlamentarischen Demokratie‘“36 durch die außerparlamentarische Gegenmacht der vielfach neu entstandenen Bürgerinitiativen. Insofern soll an dieser Stelle auch dem Tenor der aktuellen Zeitgeschichtsforschung widersprochen werden, der den „Deutschen Herbst“ gleichsam als Katharsis im Hinblick auf eine staatliche Stabilität und die Funktionsfähigkeit der Bonner Republik interpretiert, wobei die Darstellung der Krise jeweils nur auf wenige Wochen im Herbst 1977 reduziert ist: „Die Hintergrundstimmung, in der Geschichte der Bonner Republik einer ‚ausgebliebenen Katastrophe‘ beigewohnt zu haben, [...] sorgte ex post für einen erleichterten Unterton, mochte die Zeitkritik auch noch so heftig ausfallen. ‚Bonn‘ war nicht ‚Weimar‘ geworden, was im Grunde nichts anderes bedeutete, als dass diese Republik stabil schien.“37

Konrad Jarausch beantwortet in seiner Analyse der bundesrepublikanischen Geschichte die Frage nach den Folgen des „Deutschen Herbstes“ durchaus optimistisch: Nicht die Infragestellung verfassungsmäßiger Grundsätze in einer Ad-hoc-Praxis der Legislative oder im TerrorismusDiskurs ist seiner Einschätzung nach prägend, sondern die angeblich erzwungene „Rückbesinnung auf Grundwerte der Verfassung als eigentlichen Kern der Demokratie.“38 Ähnlich sieht dies Heinrich August Wink33 Zitiert nach Karl-Rudolf Korte: Standort der Deutschen, S. 61. 34 Vgl. N.N.: Staatsphilosophie: Wie in Portugal?, in: Der Spiegel, 9.6.1975, S. 134-135; Rudolf Augstein: Geht nun gar nichts mehr?, in: Der Spiegel, 25.10.1976, S. 26. 35 Vgl.: Stefan Scheiper: Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/70er Jahren, in: Klaus Weinhauer, Jörg Requate, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 70er Jahren, Frankfurt a. M., New York 2006, S. 188-216, hier: S. 194f. 36 N.N.: „Schwarz oder rot, wir schlagen euch tot“, in: Der Spiegel, 21.3.1977, S. 34-49. 37 Klaus Naumann: Die Historisierung der Bonner Republik, in: Mittelweg 36, 3/2000, S. 53-66, hier: S. 57. 38 Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004, S. 197. 182

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ler in seiner Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, wenn er betont, die „Krise vom Herbst“ habe eine bundesrepublikanische Demokratie hinterlassen, „der aus ihrem Triumph über den Terrorismus neues Selbstbewusstsein erwuchs.“39 An der Umdeutung der Auseinandersetzung mit der RAF in eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik beteiligt sich auch Tony Judt in seiner gesamteuropäischen Untersuchung. Für Judt waren die gesellschaftlichen Polarisierungsprozesse der 70er Jahre weniger bemerkenswert als der von ihm begrüßte Prozess einer Überbrückung aller politischer Widersprüche, wenn er behauptet, die bundesdeutschen Politiker hätten sich veranlasst gesehen, „aufeinander zuzugehen und sich auf dem sicheren Boden des Kompromisses und der Verständigung zu treffen.“40 Erstaunen hervorrufen kann schließlich Judts Schlussfolgerung: „Psychologisch waren die siebziger Jahre das deprimierendste Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts.“41In der heutigen Geschichtsschreibung von der „Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“ (Axel Schildt) werden offenbar die Kosten des Kampfes um Stabilität und gesellschaftliche Deutungshoheit gerne unterschlagen. Die Frage einer kritischen Zeitgeschichtsschreibung müsste dagegen vielmehr lauten: Rechtfertigte die Verteidigung der angeblich fundamental bedrohten parlamentarischen Demokratie den Abbau demokratischer Strukturen und den Aufbau einer Front der Ausgrenzung? Zygmunt Baumann hat in den letzten Jahren die Wechselwirkungen von Freiheit und Sicherheit intensiv untersucht. Als Fazit dessen plädiert er für ein erweitertes Verständnis von Demokratie: „Während die herrschenden Kräfte das Regieren einer Minderheit unterstützen, ist die Demokratie der fortwährende Einspruch von Seiten der Allgemeinheit; ein Griff nach der Macht, der in der Staatsbürgerschaft verankert ist, die allen in gleichem Maße zukommt. Demokratie besteht daher nicht als Institution, sondern als Kritik der Institutionen. [...] Man kann eine demokratische Gesellschaft daher wohl am besten an ihrer ständigen Klage erkennen, nicht hinreichend demokratisch zu sein.“42

39 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933-1990, Bonn 2004, S. 348. 40 Tony Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 540. 41 Ebd. 42 Zygmunt Baumann: Freiheit und Sicherheit. Die unvollendete Geschichte einer stürmischen Beziehung, in: Elisabeth Anselm, Aurelius Freytag, Walter Marschitz u. a. (Hg.): Die neue Ordnung des Politischen, Frankfurt a. M., New York 1999, S. 23-34, hier: S. 31. 183

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Die Erkenntnis, dass der Terrorismus-Diskurs nicht in erster Linie die benennt, von denen er spricht, lässt sich auch jenseits des „Deutschen Herbstes“ anwenden. Ist beispielsweise in der Diskussion um den islamistischen Terrorismus wirklich nur al-Qaida gemeint? Am Ende zeigte sich die Zuspitzung im „Deutschen Herbst“ als vorübergehendes Phänomen. Wobei an dieser Stelle betont werden soll, dass nach 1977 zwar eine sprachliche Abrüstung stattgefunden hat, nicht jedoch die Abrüstung des Sicherheitsapparates. Dass die in den 70er Jahren etablierten Aussagemuster, Feindbilder und monolithischen Eindeutigkeiten im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik überdauert haben, wird insbesondere an dem Wiederaufleben und der Reproduktion alter Elemente des Terrorismus-Diskurses in den aktuellen Debatten zu den Jahrestagen sowie der Gnadendebatte deutlich. Eine Historisierung der Konfrontation zwischen RAF, Staat, Medien und Öffentlichkeit in den 70er Jahren trägt am Ende hoffentlich auch zu einer neuen Infragestellung der seitdem in diesem Zusammenhang tradierten Wahrheiten bei.

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III. Z EITZEUGENBERICHTE

Täter- versus Opferdiskurs: Eine andere Gesc hichte des de utschen Te rroris mus? NICOLE COLIN Geistes- und kulturgeschichtlich betrachtet ist die Frage nach den Opfern problematisch. Der Täter ist derjenige, der handelt, das Opfer, derjenige, der das Handeln des Täters erleidet. So werden in der Kategorienlehre des Aristoteles Tun und Leiden zwar noch auf gleicher Höhe als ontologische Doppelkategorie (actio-passio) benannt,1 die abendländische Philosophie entschied sich jedoch für das Primat der Tätigkeit – das Leiden findet sich in die Religion (die Passions- und Märtyrergeschichte) und die Kunst (die Tragödie) abgedrängt.2 Hier dürfen entsprechend die Opfer nicht nur thematisiert werden, sondern ihr Diskurs erhält im Blick auf seinen Abweichungsstatus im numinosen oder ästhetischen Raum einen geradezu konstitutiven Wert. Ex negativo bedingt die herausgehobene Bedeutung des Leidens in künstlerischen und religiösen Kontexten letztlich das Gebot seiner Vermeidung im Profanen: Bereits Spinoza beurteilt das Mitleid als schlecht und unnütz3 und Kant knüpft in der „Metaphysik der Sitten“ an die Argumentation der Stoa an: Das Mitleid vermag als Gefühl nicht zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden und droht, da es sich jedem gegenüber öffnen kann, alles zu nivellieren. Außerdem, so Kant, vermehrt das Mitleid das Leiden: Statt

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Vgl. Aristoteles: Categoriae, hg. von L. Minio-Paluello, Oxford 1956, 1b 55ff. Vgl. hierzu Nicole Stratmann: Leiden im Lichte einer existenzialontologischen Kategorialanalyse, Amsterdam, Atlanta 1994. „Commiseration in homine, qui ex ductu rationis vivit, per se mala, et inutilis est“ (Benedictus de Spinoza: Ethik, in: Ders.: Opera. Werke. Hg. von K. Blumenstock, 4 Bde., Darmstadt 1967, Bd. 2, IV, prop. 50). 187

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einem Betroffenen haben wir plötzlich zwei, die leiden.4 Diesen rationalen Vorbehalten der abendländischen Geistesgeschichte gegenüber dem Leiden folgt auch die Historie als Ereignisgeschichte, die vornehmlich auf Sieger, vor allem jedoch auf die Täter gerichtet ist.5

Von den Tätern zu den Opfern In den letzen Jahrzehnten lässt sich hinsichtlich des Gebots der Leidensvermeidung und der damit verbundenen Sitte, in profanen Feldern (wie der Politik oder der Geschichte) Opferdiskurse einzuschränken, jedoch ein Paradigmenwechsel konstatieren. In kulturhistorischer Hinsicht zeigt sich dies beispielhaft in Susan Sontags viel beachtetem Essay „Das Leiden anderer betrachten“, in dem sie – jenseits der Problematik des Sensationsjournalismus – über den Wert der Kriegsfotografie zwischen Aufklärung und Propaganda reflektiert und darin auch ihre eigene medienkritische Haltung der 1970er Jahre – zumindest teilweise – revidiert.6 So problematisch sich die Instrumentalisierung des Mitleids kulturhistorisch auch präsentiere, das (beispielsweise in militärischen Kontexten tabuisierte) Zeigen der („eigenen“) Opfer stehe letztlich doch, so Sontag, im Zeichen der Aufklärung. In Deutschland bekam die Frage eine weitere Bedeutung im Kontext der Diskussion über verschiedene Versuche, die eigenen, bis dahin öffentlich angeblich nicht wahrgenommenen nationalen Opfer durch Bombenkrieg und Vertreibung nun (endlich) zu thematisieren.7 Inzwischen scheint der Trend weitere Themenfelder der Geschichte zu erfassen und auch die Aufarbeitung des deutschen Terrorismus zu beeinflussen: Nachdem nunmehr seit über 30 Jahren die Geschichte der RAF, sei es in wissenschaftlichen Artikeln, journalistischen Reportagen, Dokumentarfilmen oder der Kunst, vor-

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„In der Tat, wenn ein anderer leidet, und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich nicht abhelfen kann, […] anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid“ (Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, Bd. VI, in: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaft, 23 Bde., Berlin 1910-1955, S. 457). Selbst in der historischen Aufarbeitung des Holocaust konzentrieren sich die wissenschaftlichen Analysen vornehmlich auf die Täter. Eine Thematisierung der Opferdiskurse findet sich hier vor allem in der Literatur, gelegentlich auch in der bildenden oder darstellenden Kunst. Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München 2003. Vgl. hierzu beispielsweise Lothar Kettenacker (Hg.): Ein Volk von Opfern. Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-1945, Berlin 2003.

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EINE ANDERE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN TERRORISMUS?

dringlich im Blick auf ihre Täter geschrieben wurde, drängen nun verstärkt die Opfer in den Mittelpunkt der Debatte. Einen Vorstoß in diese Richtung unternahm 2001 Andreas Veiel, der in seinem Film „Black Box BRD“ versucht, anhand einer Gegenüberstellung der Biografien des Terroristen Wolfgang Grams und des Opfers Alfred Herrhausen, die Ereignisse des deutschen Terrorismus sowie das politische Klima der 1980er Jahre aus zwei entgegen gesetzten Perspektiven zu beleuchten. 2007 erschien nun eine erste Publikation, die sich explizit mit diesem Thema auseinandersetzt: Anne Siemens „Für die RAF war er das System, für mich der Vater“, mit dem die Autorin nach eigenen Angaben versuchen möchte, eine „andere Geschichte des deutschen Terrorismus“ zu schreiben.8 Siemens hatte bereits eine Doktorarbeit zum Thema verfasst – „Durch die Institutionen oder in den Terrorismus: die Wege von Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, HansJoachim Klein und Johannes Weinrich“9 – und war bei ihren Recherchen auch auf die andere Seite der blutigen Ereignisse gestoßen: die Opfer. Im Gegensatz zu Veiel geht es Siemens in erster und vordringlicher Hinsicht nicht, im Sinne der traditionellen Ursachenforschung, um die Beschreibung der Ereignisse, sondern die Darstellung der von der RAF ermordeten Opfer sowie die Frage, wie ihre Angehörigen und die Überlebenden des Terrors selbst heute über den Umgang mit der Geschichte der RAF denken. „Fragen, die in den letzten 30 Jahren“, so Siemens in einem Interview, „wenig gestellt wurden.“10 Das Buch enthält Interviews mit den Angehörigen von Andreas von Mirbach, von Heinz Hillegaart, Jürgen Ponto, Hanns Martin Schleyer und Gerold von Braunmühl, mit zwei Geiseln der entführten Lufthansa-Maschine Landshut sowie Helmut Schmidt. Ausgangspunkt der Überlegung ist für Anne Siemens dabei die Frage: „[…] wer waren die Menschen wirklich, die zu Opfern der Terroristen wurden.“11 Diese Frage scheint – zumindest auf den ersten Blick – so menschlich verständlich „gut gemeint“ wie naiv und historisch bzw. politikwissenschaftlich irrelevant. Anne Siemens sieht das freilich anders:

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Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München 2007. 9 Anne Siemens: Durch die Institutionen oder in den Terrorismus: die Wege von Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Hans-Joachim Klein und Johannes Weinrich, München 2005. 10 WDR-Interview mit Anne Siemens (Teil 1): „Den RAF-Opfern ein Gesicht geben“, 21.5.2007, http://www.wdr.de/themen/politik/deutsch-land/ deutscher_herbst/personen/interview_siemens.jhtml?rubrikenstyle=politik [27.6.2008]. 11 Anne Siemens: Für die RAF war er das System, S. 10. 189

NICOLE COLIN

„Mit dem Buch ging es mir darum, den Blick auf die Geschichte der RAF zu erweitern, die eben nicht nur eine Täter-Geschichte ist. Aber ich möchte nicht missverstanden werden. Mein Ansatz ist nicht, die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Täter zu tabuisieren oder zu beschneiden. Aber es gibt eben auch die andere Geschichte, die der Opfer, auf die man blicken sollte.“12

Wichtig erscheint Siemens dabei vor allem, der ihrer Meinung nach existierenden Tendenz der Verharmlosung oder Verklärung der RAF etwas entgegenzusetzen. Gerade dieser Punkt erscheint von entscheidender Bedeutung und seine Umsetzung im Buch auch geglückt, d. h. die gewünschte Wirkung stellt sich beim Lesen tatsächlich ein. So ermöglichen die Darstellungen der Ereignisse aus der subjektiven Opferperspektive – so beispielsweise die Beschreibung des Überfalls auf die Deutsche Botschaft in Stockholm – eine recht drastische Dekonstruktion, um nicht zu sagen Destruktion des RAF-Mythos. Es scheint ganz einfach: Die Vermenschlichung der Opfer führt gleichzeitig zu einer Verbestialisierung der Täter. Oder anders gesagt: Die Darstellung der Brutalität und Unmenschlichkeit, mit der die Täter vorgegangen sind, stellt die Legitimität ihrer politischen Motivationen radikaler in Frage als dies wissenschaftliche Analysen zumeist vermögen. Problematisch, wenn nicht störend erscheint indes die im Buch immer wieder kehrende Frage Siemens, ob denn die Opfer den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen der 1960er und 70er Jahre offen gegenüberstanden und womöglich gar „Sympathien für das Aufbegehren der Studenten“13 hatten – eine Frage, die quasi zum heimlichen Leitmotiv des Buches avanciert. Darauf deuten bereits einige Kapitelüberschriften: „Er war der Auffassung, man müsse mit der Studentengeneration mehr reden“ (Hillegaart)14 oder „Er hätte vielleicht sogar mit den Terroristen diskutiert, wenn sie nicht gleich geschossen hätten“ (von Braunmühl).15 Solche politisierenden Rechtfertigungsstrategien erscheinen nicht allein sinnlos, sondern sogar kontraproduktiv, da sie letztlich die Behauptung der Täter, aus politischer Motivation gehandelt zu haben nicht widerlegt, sondern, im Gegenteil, affirmiert, in dem sie unbewusst deren Logik akzeptiert. Siemens Plädoyer für den Menschen und ihre Verurteilung der terroristischen Attentate der RAF durch den moralischen Feispruch ihrer Opfer erweist sich insofern nicht als neuer Ansatz, sondern trivialer und zudem unreflektierter Rückgriff auf obsolete Erklä12 WDR-Interview mit Anne Siemens (Teil 1): „Den RAF-Opfern ein Gesicht geben“. 13 Anne Siemens: Für die RAF war er das System, S. 10. 14 Ebd., S. 73. 15 Ebd., S. 250. 190

EINE ANDERE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN TERRORISMUS?

rungsmuster. Würden, dürften oder sollten wir gar zu einem anderen Urteil kommen, wenn z. B. Jürgen Ponto nicht der sympathische, aufgeschlossene Demokrat gewesen wäre, als den ihn seine Familie beschreibt? So weit, dass sich der naive Leser solche Fragen stellen könnte, lässt Siemens es natürlich nicht kommen: So „menschlich“ sich die Portraits präsentieren, so unmenschlich erscheint gleichzeitig ihre Makellosigkeit. An dieser Stelle läuft Siemens in die gleiche Falle, wie bereits Veiel: Sein Porträt des 1989 ermordeten Vorstandssprecher der Deutsche Bank zeigt Alfred Herrhausen als einen widerständigen Bankier, dessen humanistische Weltanschauung sich zum Zeitpunkt des Attentats bereits empfindlich mit der Ideologie seines Arbeitgebers zu reiben begonnen hatte. Mittels der „rebellischen“ Außenseiterposition im Vorstand der Deutschen Bank, die der Regisseur ihm zuschreibt, rückt Herrhausen dem gesellschaftlich marginalisierten Terroristen Wolfgang Grams näher und lässt ihn auf diese Weise nicht als bloßes, sondern vor allem falsches Opfer der systemkritischen Terrorismus erscheinen. Ähnlich schiefe Rückschlüsse legen auch Siemens Interviews nahe.

O p f e r o d e r M ä rt yr e r ? Offen bleibt in diesem Kontext darüber hinaus aber auch die zentrale Frage, die der Titel des Buches impliziert, die Autorin aber an keiner Stelle thematisiert, geschweige denn zu beantworten sucht: System oder Vater, Opfer oder Märtyrer? Sind die von der RAF ermordeten Menschen zufällige Opfer des Terrorismus, so wie man das zufällige Opfer eines Verkehrsunfalls werden kann, oder sind es (unfreiwillige) Märtyrer, in dem Sinne, dass sie stellvertretend für uns alle oder zumindest alle politischen bzw. wirtschaftlichen Entscheidungsträger ihr Leben gelassen haben? Dieser für die Legitimation einer Geschichtsschreibung unter Berücksichtigung der Opferperspektive eigentlich zentralen Frage geht die Autorin leider jedoch aus dem Weg, obwohl ihre Beantwortung, nicht nur methodisch betrachtet, die notwendige Grundvoraussetzung einer Legitimation des eingeforderten Perspektivwechsels wäre. Das Problem, das sich hier stellt, ist nämlich, dass der Versuch einer solchen Differenzierung der Opfer immer schon eine hypothetische Politisierung ihrer Täter beinhaltet. Dieses Dilemma zeigte sich bereits in umgekehrter Richtung anlässlich der Diskussion um die Begnadigung von Christian Klar und dem Vorwurf „fehlender Reue“ als bedeutsam für die Beurteilung der Täter, d. h. der RAF-Terroristen, die sich selber 191

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bekanntlich als politische Gefangene verstanden. So bemerkt Bundesminister Sigmar Gabriel: „Entweder gilt das ganz normale Strafrecht, wie es für jeden anderen Mörder auch gilt, oder man lässt sich auf eine politische Debatte ein. Dann ist man nah dran, denjenigen, die sich früher für mehr als Mörder gehalten haben und sich eine politische Legitimation gesucht haben, noch nachträglich eine politische Legitimation zu liefern.“16

Die Frage der besonderen Stellung der Opfer des Terrorismus erscheint in diesem Lichte als methodisch ungeklärtes Problemfeld, das zunächst einmal grundsätzlich analysiert werden müsste, damit die wissenschaftliche Bedeutung dieser Perspektive, die Siemens ihr zuschreiben möchte, tatsächlich ersichtlich werden kann.

Der „Fall Buback“ Es gehört zu den wissenschaftsgeschichtlichen Zufällen, dass kurz nach der Veröffentlichung von Siemens’ Buch und völlig unabhängig von diesem, tatsächlich von einem jener „Opfer“ ein neues Kapitel der RAFGeschichte geschrieben wurde. Angestoßen wurde die Diskussion von einem zentralen Phänomen, das für alle von Siemens Befragten gleichermaßen ein großes Problem darzustellen scheint: der Tatsache, dass niemand aus der RAF-Szene ihnen jemals eine Antwort auf ihre Fragen hatte geben wollen. Anne Siemens: „Mein Eindruck ist, dass es den betroffenen Familien vor allem um Aufarbeitung und Klärung offener Fragen geht – etwa die Frage, wie weit das Unterstützer-Netzwerk der DDR und des russischen Geheimdiensts KGB für die RAF reichte. Ein anderer Bereich, der noch vollkommen im Dunkeln liegt: Alle der RAF zugeordneten Morde von 1985 an sind nicht aufgeklärt. Patrick von Braunmühl, der Sohn des 1986 ermordeten Gerold von Braunmühl, bringt das im Buch sehr klar zum Ausdruck: Er will wissen, wer seinen Vater ermordet hat. Und er will wissen, wie die internen Prozesse in der RAF abgelaufen sind, nach welchen Kriterien Opfer ausgewählt wurden. Ob man die Menschen überhaupt angeschaut hat, die zu Opfern wurden.“17

16 http://www.daserste.de/beckmann/sendung_dyn~uid,k78ogur4byh x33xfjbt3m0ai~cm.asp [2.5.2008]. 17 http://www.wdr.de/themen/politik/deutschland/deutscher_herbst/ personen/interview_siemens.html [2.5.2008]. 192

EINE ANDERE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN TERRORISMUS?

Dieses Grundbedürfnis nach einer möglichst umfassenden Aufklärung des Tathergangs, kann als Initialzündung eines neuen RAF-Problems bezeichnet werden, dessen Bedeutung und Verlauf sich wohl erst in einigen Jahren einschätzen und analysieren lassen wird. Auslöser hierfür war der Angehörige eines Opfers, der in Siemens’ Buch nicht zu Wort kommt: Michael Buback, Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwaltes Siegfried Buback, der sich in den letzten 30 Jahren mit historischen Beurteilungen stets zurückgehalten hat und explizit den Standpunkt vertrat, dass die Geschichte der RAF nicht von den Angehörigen ihrer Opfern geschrieben werden kann. Als Buback sich im Frühjahr 2007 mit verschiedenen Stellungnahmen in der Diskussion um die Begnadigung von Christian Klar zum ersten Mal an die Öffentlichkeit wandte, trat er damit unbeabsichtigt eine Lawine von Reaktionen los.18 Bezogen auf die Frage der Legitimität einer „Opfergeschichte“ sind hier weniger die diskutierten Tatsachen oder Bubacks Schussfolgerungen an sich von Bedeutung – diese zu überprüfen ist tatsächlich Aufgabe der Justiz bzw. der Historiker – als vielmehr die vehemente Empörung, mit der sowohl Teile der Öffentlichkeit als auch die Justiz auf diese Form von „Einmischung“ eines Opfers reagierte. Dabei erfolgte der Versuch einer Diskreditierung der Aussagen Bubacks zumeist über den „subjektiven Faktor“, der in seiner logischen Umkehrung natürlich eigentlich nicht funktionieren kann: Da Buback selber als Angehöriger betroffen sei, könne seine Argumentation für eine objektive Beweisführung sachlich nichts leisten, sondern stünde ihr quasi gar im Wege. Die heftigen Reaktionen auf Bubacks Stellungnahmen überraschen insofern, als dass er in seinen Ausführungen äußerst sachlich blieb und sich vor leichtfertigen Vorwürfen hütete. Die Fragen, die er hinsichtlich des Verfahrens stellt, sind nachvollziehbar. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Bubacks Befürchtungen nicht zutreffen, scheint sein Wunsch nach objektiver Aufklärung des Falles legitim. Die heftigen Anschuldigungen, mit denen die Gesellschaft auf solche Form von „Einmischung“ reagierten, erscheint hier für eine Geschichtsschreibung, die auch mediale, soziologische und kulturwissenschaftliche Aspekte berücksichtigt, mindestens so bedeutsam wie die Frage einer Aufklärung der Hintergründe des Mordes an Siegfried Buback an sich. Insofern wäre es interessant, den „Fall Buback“ aus der Perspektive einer Rezeptionsgeschichte zu betrachten und in den Kontext anderer (historischer) Fälle zu stellen, in denen Angehörige von politischen Gewaltopfern durch Einmischung und Protest in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam gemacht haben. Ein Vergleich mit dem Umgang der Angehörigen der Opfer der Roten 18 Gespräch der Verfasserin mit Michael Buback am 2.10.2007. 193

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Brigaden in Italien böte sich hier ebenso an wie beispielsweise eine Untersuchung der Situation der Familien der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfern im Deutschland der 1950er Jahre. Solche vergleichenden Untersuchungen über gesellschaftliche Reaktionen auf „Opfer“ und „Opfereinmischungen“ wären sicherlich ein ergiebiges Themenfeld für eine sozialgeschichtlich orientierte Mediengeschichte. Schlussendlich kann jedoch, und hier kommen wir auf Anne Siemens zurück, der Versuch die „Opferperspektive“ historisch oder politikwissenschaftlich zu berücksichtigen, definitiv nur da gelingen, wo, wie im Falle Michael Bubacks, dessen Bericht wir hier abdrucken, Diskursverstrickungen auf verschiedenen Ebenen vorliegen, wo sich Opfer von Gewalttaten oder ihre Angehörigen öffentlich zu Wort melden und damit gesellschaftliche Diskussionen auslösen oder gar juristische Reaktionen provozieren. Der „Fall Buback“ ist historisch darum so interessant, weil er die Befindlichkeitsbeschreibungen von Anne Siemens deutlich übersteigt. Seine Analyse steht in mehrfacher Hinsicht noch aus und wird die Politik- und Geschichtswissenschaft in den nächsten Jahren sicherlich noch beschäftigen. Dabei muss die Darstellung der Art und Weise, wie die Gesellschaft auf die öffentliche Einmischung von Opfern bzw. ihrer Angehörigen als subjektiv Betroffene reagiert, aber in diesem Sinne weniger als Teil einer bisher ungeschriebenen „Opfergeschichte“ gesehen, als vielmehr der politischen Mentalitätsgeschichte untergeordnet werden. Aus solcher Perspektive könnte es dann vielleicht tatsächlich gelingen, eine andere Geschichte des deutschen Terrorismus zu schreiben.

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Recht auf Klärung. Reflex ione n e ines Betroffe ne n MICHAEL BUBACK Im Rahmen der Diskussion über die Begnadigung von Christian Klar trat Michael Buback, Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwaltes Siegfried Buback, im Frühjahr 2007 mit mehreren Artikeln an die Öffentlichkeit. Der vorliegende Beitrag, der auf einem am 2. Oktober 2007 im Goethe-Institut Amsterdam gehaltenen Vortrag beruht, beschäftigt sich mit den Ermittlungen zum Mord an seinem Vater sowie der Tatsache, dass über die Namen der Mörder bis heute nur spekuliert werden kann.

Es fällt mir noch immer nicht leicht, über die Geschehnisse zu berichten, die meine Familie und die Familien der Angehörigen der beiden ermordeten Begleiter meines Vaters, Wolfgang Göbel und Georg Wurster, vor 30 Jahren existenziell getroffen haben, obwohl es für mich einfacher war als für meine Mutter, mit dem Schicksalsschlag fertig zu werden. Sie lebt seither allein und ohne ihren Mann. Wir haben die schwere Zeit in dem Bewusstsein ertragen, dass mein Vater gerne Generalbundesanwalt war. Er war stolz darauf, ohne Parteizugehörigkeit und ohne Netzwerk in dieses hohe Amt gelangt zu sein. Die Phase unmittelbar nach der Ermordung war natürlich besonders schwierig. Es war nicht vorauszusehen, dass uns 30 Jahre nach der Tat Informationen zum Mord an meinem Vater erreichen würden, die uns, meine Frau und mich, in einem solchen Maße rat- und fassungslos machen, dass wir uns in den vergangenen Wochen und Monaten oft gefragt haben, ob wir uns in einem Albtraum befinden. Meine Frau und ich erfuhren beim Skifahren in der Schweiz vom Tod meines Vaters. Wir hörten die Nachricht immer wieder auf der 195

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Rückfahrt im Auto. Sie war gleichsam in unser Bewusstsein eingemeißelt, als wir bei meiner Mutter eintrafen. Die Anteilnahme der Karlsruher Bevölkerung und überhaupt in Deutschland war eindrucksvoll und hat uns sehr geholfen. Es gab aber auch den schlimmen MescaleroArtikel, mit dem wir uns befassen mussten, da nur Angehörige Strafantrag wegen der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener stellen können. Kurz nach dem Mord waren wir extrem verletzlich, und es war entsprechend unerträglich zu lesen, dass es eigentlich schade sei, die „Bubacksche Killervisage“ nun nicht mehr in das Verbrecheralbum der meist gesuchten und meist gehassten Vertreter der alten Welt aufnehmen zu können, um sie nach der Revolution zur öffentlichen Vernehmung vorzuführen.1 Wir mussten es auch verkraften, als eine größere Zahl von Professoren und Rechtsanwälten freigesprochen wurde, die den Artikel verbreitet und als besonders verletzende Beigabe eine Passage aus Rosa Luxemburgs Schriften angefügt hatten, die von einem Moskauer Generalgouverneur handelt, der ermordet wurde und auf der Straße lag – ein Bild, das dem Mord an meinem Vater ähnelte. Es heißt in diesem Nachdruck weiter: „Es atmet sich förmlich leichter, die Luft scheint reiner, nachdem eine der abstoßendsten und beleidigendsten Bestien des absolutistischen Regimes ein so schnödes Ende gefunden hat und wie ein toller Hund auf dem Straßenpflaster verendet ist.“2 Um die Verfahren gegen die Terroristen kümmerten wir uns nicht und haben auch nie daran gedacht als Nebenkläger aufzutreten. Wir wollten uns damit auch schützen. Über 30 Jahre gab es für uns nie einen Zweifel an der bestmöglichen Aufklärung der Tat durch die zuständigen Behörden. Schließlich hatte sich die Elite der deutschen Ermittler mit dem Mord an einem der Ihren intensiv befasst. Für uns war es selbstverständlich, dass alles Menschenmögliche geschehen war, um die Täter ausfindig zu machen und ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen. Die Ermittlungen standen unter der Verantwortung der Bundesanwaltschaft, mit der wir uns seit langem eng verbunden fühlen. Meine Frau und ich sind beide Kinder von Bundesanwälten. So war es für uns eine Gewissheit, dass die drei uns stets genannten Täter: Günter Sonnenberg, Christian Klar und Knut Folkerts die Personen waren, von denen zwei die unmittelbare Tat von einem Motorrad aus begangen hatten, während der dritte im Fluchtauto wartete. Wir wussten zu Beginn des Jahres 2007 nichts von der anstehenden Entscheidung zur Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt, auch nichts

1 2

Mescalero: Buback. Ein Nachruf, in: Göttinger Nachrichten, 25.4.1977. Johannes Agnoli u. a. (Hg.): Dokumentation „Buback – Ein Nachruf“, Berlin 1977.

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von Christian Klars Gnadengesuch, das beim Bundespräsidenten zur Entscheidung lag. Ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung fragte mich, ob ich nicht Stellung zu den Gesuchen nehmen wolle. Durch ihn erfuhr ich erstmals von den Vorgängen. Mein Beitrag hatte den Titel „Fremde ferne Mörder“. Gleich zu Beginn schrieb ich: „Es ist gut und richtig, dass Angehörige der Opfer an Entscheidungen über die Begnadigung von Mördern nicht beteiligt sind.“3 Dies gilt auch für mich. Ich habe daher auch nur einige allgemeine Anmerkungen gemacht und mich weder für noch gegen das Gnadengesuch ausgesprochen – was nicht immer richtig interpretiert wurde. Mein Anliegen richtete sich vielmehr auf eine andere, sehr konkrete Frage: Ich wollte wissen, wer genau am Gründonnerstag 1977 in Karlsruhe meinen Vater und seine beiden Begleiter ermordet hat. Es war für meine Familie unerträglich, dass die Verantwortung für diese unser Leben so außerordentlich beeinflussende, furchtbare Tat keiner Person, sondern pauschal einer Gruppe zugeschrieben wurde. Ich hatte den Wunsch, Näheres über die Tatbeteiligung zu erfahren, ohne allerdings darauf zu hoffen, eine Antwort zu erhalten. Als sich auf meine öffentlich gestellte Frage Peter-Jürgen Boock telefonisch an mich wandte, konnte ich den Hörer nicht auflegen. Es waren mehrere, teils sehr lange Gespräche, die wir im April 2007 führten und die in gewisser Weise einem verbalen Ringen glichen: Während ich versuchte möglichst viele Informationen zu erhalten, stand Boock vor dem Problem, den Namen eines Tatverdächtigen preisgeben zu müssen, der für den Karlsruher Mord nicht angeklagt worden war und somit im Falle einer Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Mordes verurteilt werden könnte. Im Laufe der Gespräche behauptete Boock, dass weder Klar noch Folkerts an dem Karlsruher Verbrechen als Täter auf dem Motorrad beteiligt gewesen seien und begründete dies auch. Somit blieb von den drei stets genannten Tätern nur Sonnenberg als Mitglied der Motorrad-Besatzung übrig. Zumindest ein Täter auf dem Motorrad fehlte. Boock nannte mir als neuen Namen Stefan Wisniewski. Boock sagte, es gäbe für ihn keinen Zweifel, dass Sonnenberg das Motorrad gelenkt habe und Wisniewski der Schütze gewesen sei. So habe man es im Sommer Jahr 1976 im Jemen festgelegt. Konnte dies tatsächlich so gewesen sein? Ich brauchte eine unabhängige Bestätigung für diese Auskünfte, denn Boock wusste zwar von der ursprünglichen Auswahl der Motorrad-Besatzung, aber er konnte nicht mit Sicherheit wissen, ob das danach unabhängig agierende Kommando die Tat auch mit den vorgese-

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Michael Buback: Fremde, ferne Mörder. Debatte um Freilassung, in: Süddeutsche Zeitung, 24.1.2007, S. 2. 197

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henen Personen ausgeführt hat. Er selber war bei dem Anschlag nicht zugegen gewesen. Wir hatten es bislang nicht geschafft, die zahlreichen Zeitungsartikel, die meine Frau aus der Zeit nach dem Attentat aufbewahrt hatte, sorgfältig und kritisch zu lesen. Dies holten wir jetzt nach. Unser Erstaunen war groß, als wir nun, dreißig Jahre später, in der Welt vom 9./10. April 1977 lasen, dass die Karlsruher Polizei nach der Vernehmung eines jugoslawischen Augenzeugen, dessen Auto bei der Tat unmittelbar neben dem Dienstwagen meines Vaters gestanden hatte, am gleichen Tag mitgeteilt hatte, dass die Person auf dem Sozius eine Frau gewesen sein könnte. Diese Information findet sich in den Tagen nach der Tat in mehreren Zeitungen. Auch in der Tagesschau vom 7. April 1977 wurde berichtet, dass es sich bei der Person auf dem Soziussitz möglicherweise um eine Frau handele. Wir hatten nie etwas davon gehört, dass in einem der beiden Prozesse zu den Karlsruher Morden die Möglichkeit der Tatbeteiligung einer Frau erörtert worden war. Uns waren nur Männer als vermutliche Täter genannt worden und keiner von ihnen war so zierlich, dass es nahe liegend gewesen wäre, ihn mit einer Frau zu verwechseln. Ich war dennoch der Ansicht, dass wohl alles seine Richtigkeit habe und vermutete, der jugoslawische Zeuge habe vielleicht Probleme gehabt, sich genau verständlich zu machen. Meine Frau hingegen äußerte sofort ihre Verwunderung darüber, dass dem unerwarteten und irritierenden Hinweis des Zeugen, es könne eine Frau geschossen haben, nicht nachgegangen worden sei, da man doch eher annehmen würde, dass Männer eine solche Gewalttat verüben. Der Hinweis auf eine Frau als Schütze verlor sich in den Presseberichten schnell. Bereits am Tag nach den Morden wurden in der Tagesschau und danach in der gesamten Presse Klar, Sonnenberg und Folkerts als Tatverdächtige präsentiert. Am Abend nach meinem Gespräch mit dem Bundespräsidenten, am 18. April 2007, fand ich eine E-Mail vor, in der mich ein 44-jähriger Mann auf eine Zeugenaussage hinwies, die seine Familie den Ermittlungsbehörden vor über 30 Jahren gemacht hatte. Er schrieb: „Der Zufall wollte es, dass einen Tag vor dem Attentat auf Ihren Vater unsere Familie vor dem Bundesverfassungsgericht kurz mit dem Auto halten wollte, ich öffnete die Tür zur Straße und habe beinahe das Motorrad mit beiden Terroristen, was ich natürlich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, zu Fall gebracht. Das Motorrad kam ins Schleudern und brauste davon. Am nächsten Tag hörten wir im Radio vom Attentat und der Beschreibung. Wir riefen bei der Polizei an, ich gab mein Erlebnis zu Protokoll und konnte auch beide Personen und das Motorrad gut beschreiben.“ 198

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Noch jetzt ist dem Zeugen deutlich in Erinnerung, dass die Person auf dem Soziussitz eine eher zierliche, zwischen 1,60 und 1,70 Meter große Person war, ein „Hüpferle“, wie er sagte. Er ist davon überzeugt, dass es eine Frau war. Es ist zwar nicht zwingend, dass dieselben Personen an beiden Tagen auf dem zur Tat benutzten Motorrad saßen, aber doch sehr wahrscheinlich, zumal die Person auf dem Soziussitz eine Tasche vor sich hatte, wie sie auch am Folgetag zum Transport der Tatwaffe eingesetzt wurde. Wir waren wie elektrisiert. Es war sehr wahrscheinlich, dass die Terroristen bereits am 6. April 1977 meinem Vater aufgelauert hatten, denn wir wussten aus den Gerichtsakten, dass das Fluchtauto bereits am Tag vor der Tat an dem Treffpunkt außerhalb von Karlsruhe gewartet hatte. Wir lasen im Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart gegen Mohnhaupt und Klar – wenngleich in einem anderen Kontext –, dass der Senat die Möglichkeit ausschloss, dass am Tattag kurzfristig als Tatausführende andere (als die vorgesehenen) Bandenmitglieder eingesprungen seien. Demnach hatte der Zeuge aller Wahrscheinlichkeit nach die Täter gesehen. Ein zweites Mal ließ sich der Verdacht, es könne sich bei dem Schützen um eine Frau gehandelt haben, nicht mehr einfach wegdiskutieren. Andere Zeitungsausschnitte erinnerten uns daran, dass einen Monat nach der Tat, am 3. Mai 1977, eine zierliche Frau, die 1,64 Meter große Verena Becker, und Günter Sonnenberg bei ihrer Verhaftung in Singen die Waffe bei sich trugen, mit der mein Vater und seine beiden Begleiter erschossen worden waren. Frau Becker wusste, wie im Urteil zu ihrem Verfahren wegen versuchten Mordes an den Singener Polizeibeamten steht, dass es sich bei der Waffe, die sie mitführten, um die Karlsruher Tatwaffe handelte. Diese wollten sie und Sonnenberg ins Ausland bringen, und, wie es weiter im Urteil heißt, „eine Tatspur nicht ans Licht kommen lassen und damit verdecken, wer Generalbundesanwalt Buback und seine zwei Begleiter getötet hatte“. Für mich ist unbegreiflich, weshalb nicht allein dieser im Urteil zum Mordversuch an den Singener Polizisten dokumentierte Sachverhalt ausreichte, um Frau Becker wegen Mittäterschaft an den Karlsruher Morden anzuklagen. Doch es waren nicht die einzigen erstaunlichen Informationen, die wir im April 2007 erhielten. In der Anklageschrift des Generalbundesanwalts gegen Knut Folkerts aus dem Jahr 1979 wird ausgeführt, dass sich in der Tasche, die zum Transport der Waffe genutzt wurde, mit der mein Vater und seine beiden Begleiter ermordet wurden, ein Haar befand, das mit einem im von den Tätern am Gründonnerstag 1977 zurückgelassenen Motorradhelm gefundenen übereinstimmt. Es wird dort weiter berichtet, dass diese beiden Haare von der gleichen Person stam199

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men wie Haare, die sich an Kleidungsstücken in einem von Essen nach Zürich aufgegebenen Koffer befinden, dessen Gepäckschein Verena Becker bei ihrer Festnahme in Singen in Besitz hatte. Lange vor der Einführung der DNA-Analyse waren die Ermittler also bereits in der Lage, die Gleichheit von an unterschiedlichen Orten gefundenen Haaren zu beurteilen. Die Frage drängt sich auf, weshalb diese Fähigkeit nicht genutzt wurde, um festzustellen, ob die sich untereinander gleichenden Haare mit denen eines der Tatverdächtigen übereinstimmen. Diese Frage ist von besonderem Interesse für das ab 1983 gegen Mohnhaupt und Klar geführte Verfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren viele Verdächtige bereits gefasst, darunter Sonnenberg, Klar, Folkerts, aber auch Wisniewski und Verena Becker. Es wäre ein Leichtes gewesen, Haarproben von ihnen für einen Vergleich mit den in der Tasche und im Motorradhelm gefundenen Haarspuren zu erhalten. Warum fehlen Ergebnisse dieser so nahe liegenden Analyse? In der späteren Anklage gegen Mohnhaupt und Klar vom März 1983 findet sich keinerlei Hinweis mehr auf diese Haarspuren. Es fällt überhaupt auf, dass die verschiedenen Anklageschriften zur gleichen Tat sehr unterschiedlich sind, vor allem aber, dass Fakten, die auf Frau Becker als Tatbeteiligte hinweisen, im Laufe der Zeit verschwinden. Nach dem 18. April 2007 ging es dramatisch weiter. In einem großen Spiegel-Artikel wird Wisniewski, den Aussagen Boocks folgend, verdächtigt der Schütze auf dem Motorrad zu sein.4 Die für uns wichtige neue Information im Spiegel stammte jedoch von einem ehemaligen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), der sich aufgrund meiner eindringlichen Suche nach dem wirklichen Täter durchgerungen hatte, einige neue Hinweise zu geben. Er berichtete über die sehr ausführliche Aussage von Verena Becker vor dem Bundesamt im Jahr 1981, in der sie Stefan Wisniewski als Schützen angegeben hatte – eine Information, die, so der Spiegel, 1982 an die Bundesanwaltschaft gegangen sei. Inzwischen haben mir der jetzige Bundesinnenminister schriftlich und der damalige Bundesinnenminister mündlich bestätigt, dass die Protokolle der ausführlichen Befragungen zeitnah, vollständig und schriftlich dem Generalbundesanwalt übergeben worden sind. Hieraus ergibt sich die Frage, wie es sein kann, dass der Generalbundesanwalt den Namen eines an der Ermordung seines Amtsvorgängers Verdächtigen erfährt und nichts Erkennbares unternimmt, um gegen ihn zu ermitteln bzw. ihn ggf. anzuklagen. Wäre er hierzu nicht ver-

4

Vgl. Carsten Holm, Jan Friedmann, Per Hinrichs, Michael Sontheimer: Das Geheimnis des dritten Mannes, in: Der Spiegel, 23.4.2007 und Helmar Büchel: Es ist auch Scham dabei, in: Der Spiegel, 23.4.2007.

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pflichtet gewesen? Oder war die Übergabe der Protokolle mit Auflagen bezüglich ihrer Gerichtsverwertbarkeit verbunden? Wäre dies der Fall, so müsste geklärt werden, welcher Mitarbeiter des Bundesamtes es verantworten konnte, einen des dreifachen Mordes dringend Verdächtigen nicht strafrechtlich zu verfolgen. Der damalige Minister versicherte mir jedenfalls von einer solchen Auflage nichts zu wissen. Und wie muss man sich in der Folgezeit die Aufklärungsarbeit zu den Karlsruher Morden vorstellen? Wenn man gegen einen dringend Tatverdächtigen nichts unternimmt, ist jede andere Ermittlungstätigkeit in dieser Sache doch sinnlos und kaum zu verantworten. Die Information über den dringenden Tatverdacht gegen Wisniewski wurde auch in der zwischen 1983 und 1985 stattfindenden Verhandlung gegen Mohnhaupt und Klar vor dem Oberlandesgericht Stuttgart nicht bekannt gemacht, in der ja auch über die Karlsruher Morde verhandelt wurde. Im Urteil findet sich kein Hinweis auf eine Täterschaft Wisniewskis bei der Ermordung meines Vaters und seiner Begleiter. Dies bedeutet, dass die Bundesanwaltschaft sowohl den fünf Stuttgarter Richtern als auch später den mit dem Revisionsverfahren befassten fünf Bundesrichtern eine für das Verfahren sehr wichtige Information vorenthalten hat. Ich kann nicht beurteilen, wie dieser Sachverhalt juristisch zu bewerten ist, er erscheint mir aber meinem Rechtsempfinden nach sehr bedenklich. Die Tatsache, dass der Generalbundesanwalt offenbar bereits 1982 einen Täternamen aus einer sorgfältig überprüften Quelle kannte, dieses jedoch bei keinem der vielen Zusammentreffen, die vor allem meine Mutter mit dem Generalbundesanwalt und mit Bundesanwälten hatte, gesagt oder auch nur vertraulich angedeutet wurde, ist juristisch sicherlich ohne Belang, für uns Angehörige aber äußerst bitter und verletzend. Aus der Verbindung der genannten Punkte ergibt sich für uns nun der sehr verwirrende, aber nicht bezweifelbare Sachverhalt, dass Verena Becker nicht nur dringend verdächtig ist, den Mord an meinem Vater und seinen beiden Begleitern verübt zu haben – so wie es übrigens auch im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 10. Mai 1977 steht –, sondern auch eine Kontaktperson des Geheimdienstes gewesen zu sein. Allein die zeitliche Verknüpfung liegt im Dunkeln. Zur Klärung müsste herausgefunden werden, seit wann genau der Kontakt zwischen Verena Becker und den „Diensten“ bestand. In einer vom SWR gefundenen und veröffentlichten Stasi-Akte steht, dass zuverlässige Informationen vorliegen, denen zufolge Frau Becker seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten worden sei. Wenn tatsächlich bereits fünf Jahre vor der Ermordung meines 201

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Vaters eine solche Zusammenarbeit bestand und wenn sie substanziell war, ergeben sich Fragen von weit reichender Bedeutung – nicht nur für uns Angehörige. Es wäre von enormer Wichtigkeit, den Beginn des Geheimdienstkontakts zu Frau Becker zu erfahren. Information hierzu wären sicherlich den Protokollen der Aussagen von Frau Becker zu entnehmen, und man kann es kaum fassen, dass die Generalbundesanwältin nun erklärt, diese seien in ihrer Behörde nicht mehr auffindbar.5 Man darf wohl erwarten, dass diese Unterlagen rasch wieder beschafft werden, da die Bundesanwaltschaft die Akten ohnehin für die jetzt aufgenommenen Ermittlungen gegen Stefan Wisniewski benötigt. Sie können schließlich nicht gleichzeitig auch im BfV und im Bundeskriminalamt (BKA) verschwunden sein. Nach und nach wurde uns klar, dass die Aufarbeitung des Mordes an meinem Vater und seinen beiden Begleitern nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen RAF-Tätern und der Bundesanwaltschaft ist, sondern auch Geheimdienste eine Rolle spielen. Die Aussage des jugoslawischen Tatzeugen wies beispielhaft auf die Diskrepanz zwischen den Ermittlungsresultaten der Karlsruher Polizei und den später am Tatort eingetroffenen Mitarbeitern der Dienste, vor allem des Bundeskriminalamts hin. Es stellte sich die Frage, ob sich unter dem damals herrschenden enormem Zeit- und Erfolgsdruck Fehler bei der Ermittlung eingeschlichen haben könnten. Dagegen sprach allerdings die hohe Kompetenz der mit dem Fall betrauten Spezialisten. Als alternative Erklärung für die Unzulänglichkeiten bei den Ermittlungen ergab sich, nachdem wir von den Kontakten zwischen Frau Becker und dem Bundesamt für Verfassungsschutz erfahren haben, fast zwangsläufig eine mögliche Deckung wenigstens einer tatverdächtigen Person. Der beunruhigende Aspekt einer solchen Möglichkeit besteht ja hinsichtlich des Mordes an meinem Vater darin, dass sie, wenn es sie tatsächlich gegeben haben sollte, ihre Wirkung bereits unmittelbar nach den Morden entfaltet hat. Wenn ausgerechnet eine Kontaktperson des Geheimdienstes den Mord an dem Generalbundesanwalt zu verantworten hat, so handelt es sich hierbei um eine Angelegenheit, die man wohl gerne verbergen möchte. Noch schlimmer wäre es natürlich, wenn eine Deckung schon vorbereitet worden wäre, da man von der Tat bereits vor deren Ausführung gewusst hätte. Bereits am 23. April 2007 teilte ich der Generalbundesanwältin in einem Brief unsere Schlussfolgerung mit, dass nach den neuen Informationen neben Wisniewski auch Verena Becker dringend tatverdächtig 5

Dietmar Hipp, Holger Stark, Stefan Aust: „Wir betreiben keine Willkür“, in: Der Spiegel, 26.5.2007.

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sei. Ich verwies auf die Aussage des Zeugen vom Vortag, der die Motorradbesatzung gesehen hatte und der meinte, dass auf dem Rücksitz eine Frau saß. Ich erinnerte sie an den im Spiegel gegebenen Hinweis, dass sich eine Haarspur von Frau Becker in einem der Motorradhelme befand, die die Täter nahe Karlsruhe versteckt hatten.6 Ich fügte an, dass die äußerst verwirrenden neuen Nachrichten in Verbindung mit dem Verfassungsschutz in meinen Augen Frau Becker eher be- als entlasten. Ich habe auf dieses Schreiben bis heute keine Antwort erhalten. Da ich nicht spekulieren, sondern mich an Fakten halten wollte und an das, was in den Ermittlungs- und Prozessakten steht, die Aussage von Verena Becker für mich bislang jedoch nicht zugänglich ist, bat ich die Bundesanwaltschaft um die Aussagen der beiden Augenzeugen, die die Personen auf dem Motorrad aus nächster Nähe am Tattag und am Vortag gesehen hatten. Mein besonderes Interesse richtete sich auf die Aussage des Augenzeugen vom Vortag, von der ich bislang in den Prozessakten nichts gelesen hatte. Nach meiner Zeugenaussage Ende April in Zusammenhang mit den Äußerungen von Peter Boock las mir der mich vernehmende Bundesanwalt aus den Akten vor, dass sich der Zeuge vom Vortag nicht an den Vorfall mit dem Motorrad erinnern könne. Dies stand im völligen Widerspruch zu der Aussage, die ich selber im Jahr 2007 von diesem Zeugen erhalten hatte, in der er von einer zierlichen Frau auf dem Soziussitz des Motorrads sprach. Der Vater des Zeugen, der mit dem Sohn und zwei weiteren Familienmitgliedern im Auto saß, erinnerte sich sogar noch daran, dass der Lenker des Motorrads eine deutlich größere Person war, ein Mann mit Bart. Ich war also sehr gespannt auf die zugehörige Spurenakte. Darin wird zu den Personen auf dem Motorrad lediglich mitgeteilt, dass sie Lederbekleidung und grüne Sturzhelme trugen. Weiter heißt es: „Im übrigen trifft die im Fernsehen abgegebene Personenbeschreibung recht genau auf die Motorradfahrer zu.“ Eine weitere Beschreibung der beiden Personen findet sich nicht, was sehr verwunderlich ist. Denn wie hat sich derjenige, der diese Aussage liest, die Personen vorzustellen? Waren sie groß oder klein, dick oder dünn, konnte man etwas zum Geschlecht der Personen sagen, wie war ihre Körperhaltung auf dem Motorrad? Zu all dem gab es erstaunlicherweise auch keine Nachfrage des die Aussage aufnehmenden Beamten. Noch verwunderlicher ist, dass in den Tagen danach kein Beamter die Zeugen aufsuchte, um nähere Angaben zur telefonischen Aussage einzuholen oder um zumindest die Zeugenaussage unterschreiben zu lassen. Erst am 12. Mai 1977, übrigens eine Woche nach der Festnahme von Verena Becker und Günter Sonnenberg, meldeten sich die Ermittler 6

Vgl. ebd. 203

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wieder und besuchten den Zeugen zu einer ergänzenden Befragung, bei der er seine vorherigen Angaben bestätigte, mit einer Ausnahme: Lediglich der letzte Satz des ersten Absatzes (im Vermerk vom 8. April 1977) treffe in der niedergelegten Form nicht zu. Dies ist der Satz: „Im übrigen trifft die im Fernsehen abgegebene Personenbeschreibung recht genau auf die Motorradfahrer zu.“ Aufgrund der außergewöhnlich kurzen Beobachtungszeit sei er nicht in der Lage gewesen, die Motorradbenutzer genauer zu beobachten. Trotz der kurzen Beobachtungszeit werden aber detaillierte Angaben zu zwei Aufklebern auf dem Motorrad gemacht, die belegen, dass es sich um das Tatmotorrad handelt. Die Zeugenaussagen liefern in der niedergelegten Form zu dem wesentlichen Punkt, der Kennzeichnung der Personen auf dem Motorrad, keine nützliche Information. Der Hinweis in der ersten Aussage, dass die Personen aussahen wie im Fernsehen beschrieben, wird erst verwertbar, wenn man sich die Tagesschau vom 7. April 1977 anschaut, in der davon gesprochen wird, dass ein Frau vom Beifahrersitz geschossen habe könnte. Warum wurde dieser wichtige Punkt nicht in klarerer Form in die Aussage aufgenommen? Welcher Richter hat die Fernsehaufnahmen verfügbar, zumal nicht einmal Sender und Sendezeit mitgeteilt werden? Die Aussage enthält also den Hinweis auf die Täterschaft einer Frau bestenfalls in indirekter, verklausulierter Form. Dieser schwache Hinweis wird dann durch die ergänzende Befragung entfernt, indem der Zeuge die Passage zum Aussehen der Personen zurücknimmt. Es wird von den Ermittlern nicht nachgefragt, was bezüglich des Aussehens nun nicht mehr zutreffend sei. Dabei wäre doch jede genauere Information sehr wichtig, da es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um das am Folgetag zur Tat benutzte Motorrad und vermutlich auch um die Täter handelte. Man hätte erwartet, dass die Ermittler mit den Zeugen, die meinten, eine Frau habe auf dem Motorrad gesessen, einen Termin für eine Gegenüberstellung vereinbart hätten. Motorrad und Helme waren ja vorhanden. Man hätte so die Möglichkeit gehabt, mit Frau Becker auf dem Motorrad die Zeugen beurteilen zu lassen, ob sie als Beifahrerin in Betracht käme. Auch der jugoslawische Zeuge vom Tattag hätte zu einer solchen Gegenüberstellung gebeten werden müssen. Sie war eigentlich zwingend erforderlich. Ein Haftbefehl wegen der Karlsruher Morde lag gegen Frau Becker obendrein vor. Aber nichts geschah. Die Sicherheit, mit der mir der Bundesanwalt vorlas, dass der „Zeuge vom Vortag“ damals nichts von dem Motorrad bemerkt habe, lässt es durchaus denkbar erscheinen, dass die Bundesanwaltschaft nicht angemessen oder vollständig von den damals die Befragung durchführenden Beamten der Sonderkommission informiert wurde. Ich gebe zu, dass ich mich an diese Möglichkeit klammere, da mir die Bundesanwaltschaft nahe steht. 204

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Für den persönlichen Frieden unserer Familie reicht die Gewissheit, die wir jetzt bezüglich der Täterschaft am Mord meines Vaters haben, aus. Sie ist bedeutend höher als die Drittelwahrscheinlichkeit, die wir zuvor aufgrund der Informationen der Bundesanwaltschaft hatten, dass entweder Klar, Sonnenberg oder Folkerts der Schütze war. Ich denke, dass inzwischen deutlich geworden ist, dass die Zweifel an dieser über drei Jahrzehnte präsentierten Tätergruppe berechtigt sind. Es wird nun darauf hingewiesen, dass es keine Fehlurteile gab und dass man als Mittäter auch denjenigen verurteilen kann, der maßgeblich mitgewirkt hat, aber beispielsweise nicht auf dem Motorrad saß. Das wird von uns nicht bestritten. Übrigens hat nicht einmal Knut Folkerts seine lebenslängliche Verurteilung beanstandet, da er sich moralisch und politisch schuldig fühlt, obwohl er nach wie vor behauptet, am Tattag und auch an den Tagen unmittelbar zuvor nicht in Karlsruhe gewesen zu sein.7 Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass man sicherstellen muss, dass die unmittelbaren Täter auf dem Motorrad unter denjenigen sind, die wegen des Verbrechens angeklagt und verurteilt wurden. Man kann sie gern „Mittäter“ nennen, aber es darf keinesfalls sein, dass Personen, die im dringenden Verdacht stehen, meinen Vater und Wolfgang Göbel sowie Georg Wurster getötet zu haben, nicht angeklagt werden und somit auch nicht verurteilt werden können. Diese Situation kann man inzwischen nicht mehr ausschließen. Sie träfe zu, wenn Sonnenberg das Motorrad gelenkt und Verena Becker geschossen hat, aber auch wenn Sonnenberg fuhr und Wisniewski schoss. Gegen Sonnenberg wurde nur wegen des versuchten Polizistenmords in Singen ein Prozess durchgeführt, nicht aber wegen der Karlsruher Morde. Es geht mir und meiner Familie nicht darum, ihn oder Verena Becker wieder in Haft zu bringen, sondern darum, ein schweres Verbrechen aufzuklären und sichere Erkenntnisse über den Mörder meines Vaters zu gewinnen. Hierbei haben wir leider keine sehr starke Unterstützung erhalten hat. Es ist bitter für uns, im Spiegel zu lesen, dass die Frage, wer konkret die Schüsse auf meinen Vater abgegeben hat, für die Generalbundesanwältin in rechtlicher Hinsicht von eher nachgeordneter Bedeutung sei.8 Es wäre mir wohler, wenn keine spitzfindigen Unterscheidungen zwischen juristisch relevanten und tatsächlichen Tätern eingeführt würden, wenn beide Tätergruppen identisch wären und in jedem Fall der wirkliche Täter unter den für die Tat Verurteilten wäre. Was ist inzwischen passiert? Es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Wisniewski eingeleitet aufgrund der Aussage eines früheren RAF7 8

Michael Sontheimer: Logik des Krieges, in: Der Spiegel, 14.5.2007. Vgl. Anm. 6. 205

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Terroristen, ohne dass klare Hinweise auf seine Beteiligung an den Karlsruher Morden bekannt geworden sind, gegen Verena Becker hingegen nicht, obwohl hier erhebliche Verdachtsmomente bestehen, die auch der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs im Mai 1977 sah. Eine Begründung der Bundesanwaltschaft, warum sie nicht gegen Verena Becker ermittelt, wäre wünschenswert, um die bestehenden Zweifel auszuräumen.9 Wie geht es weiter? Unsere Familie hat keinen Einfluss, keine Macht, es steht keine starke Gruppierung hinter uns, auch keine Partei, was übrigens auch für meinen Vater galt. Wird jetzt überhaupt noch etwas geschehen? Wir erschrecken bei dem Gedanken, dass es wohl ohne meine nicht einmal bewusst gestartete Initiative gar keine neuen Untersuchungen gegeben hätte. Die Bundesanwaltschaft war über wichtige Dinge nicht informiert. Sie kannte die Aussage des „Zeugen vom Vortag“ nicht. Ohne mein Zutun hätte sich wohl weder Boock an die Justiz gewandt, um Informationen zu den Karlsruher Morden zu geben, noch hätte der ehemalige Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf die so wichtige, ausführliche Aussage von Verena Becker hingewiesen. Diejenigen, die die Fakten nicht kennen, werden vielleicht denken, dass wir uns zu wichtig nehmen. Wie ich bereits in einem SpiegelInterview erklärt habe, sind wir der Meinung, dass keine großen Anstrengungen mehr zur Aufklärung unternommen werden sollten, wenn es wirklich nur noch unsere Familie interessiert.10 Wir mussten viel hinnehmen und werden auch mit dieser neuen Situation irgendwie fertig werden. Allerdings sollte überlegt werden, ob nicht allein aus juristischen Gründen eine genauere Klärung des Falles überaus wichtig wäre. Eine präzise Analyse des Geschehens ist auch die notwendige Bedingung einer historischen Aufarbeitung des Phänomens der RAF. Ohne faktische Gewissheit läuft die Auseinandersetzung mit dem RAFTerrorismus ins Leere. Die Frage, ob es Mängel in der Aufklärung oder eine bewusste Deckung von Tatverdächtigen unter Beteiligung von „Diensten“ gegeben hat, muss daher beantwortet werden. All dies darf nicht mehr hinausgezögert werden. In dieser Hinsicht sollte man auch an die Angehörigen denken. Meine Mutter ist 88 Jahre alt und, wenn noch andere Personen als die uns in den letzten 30 Jahren genannten Täter an der Ermordung meines Vaters beteiligt waren, sollte man ihr das Recht 9

Inzwischen wurde bekannt, dass die Bundesanwaltschaft seit April 2008 im Mordfall Buback erneut gegen Verena Becker ermittelt hat; vgl. N.N.: Neue Ermittlungen gegen Ex-Terroristin Becker, in: Süddeutsche Zeitung, 6.6.2008. 10 Michael Sontheimer: Wie ein böser Traum, in: Der Spiegel, 23.7.2007. 206

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zugestehen, dies noch zu erfahren. Meine Befürchtung ist jedoch, dass einige Personen gewisse Fakten, die nicht in ihr Bild passen, immer noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Ich meine Bestrebungen zu erkennen, die Gerichte zu schützen, nicht aber die Gerechtigkeit. Der Anklagevertreter im Prozess gegen Verena Becker wegen der versuchten Polizistenmorde in Singen sagte in einem Interview zur Frage eines Verfahrens gegen Becker aufgrund der Karlsruher Morde, sie sei ja bereits zu „lebenslänglich“ verurteilt worden. Ich verstehe den Wunsch, sehr aufwändige Verfahren zu umgehen. Jenseits meines persönlichen Bedürfnisses nach Aufklärung wäre dieses Argument in meinen Augen allerdings nur dann überzeugend, wenn es tatsächlich eine lebenslängliche Strafe gegeben hätte. Verena Becker hatte aber bei ihrer Ergreifung 1977 noch eine mehrjährige Reststrafe aus ihrer früheren Verurteilung abzusitzen, da sie zu den inhaftierten Terroristen gehörte, die bei der Lorenz-Entführung freigepresst worden waren. So währte ihr „lebenslänglich“ letztlich nur acht bis neun Jahre. Hätte man sie wegen Mittäterschaft bei den drei Karlsruher Morden verurteilt, wäre sie wohl nicht bereits seit 18 Jahren in Freiheit. Ihr Tatbeitrag sollte aber auch untersucht werden, um Klarheit in der Frage ihrer Kontakte oder gar Zusammenarbeit mit Nachrichten- oder Geheimdiensten zu erhalten. Wenn es tatsächlich einen Verzicht auf die Strafverfolgung der Mörder meines Vaters und seiner Begleiter im Tausch gegen erhoffte Informationen für Geheimdienste gegeben hätte, so würde dies in elementarer Weise die Würde der Opfer beschädigen. Dies wäre nicht allein für uns als Angehörige schwierig zu ertragen, es würde auch generell die Frage aufwerfen, ob die hieran beteiligten Ämter oder Dienste dieselbe Verfassung schützen, für die mein Vater gearbeitet und gelebt hat und für die er und seine Begleiter gestorben sind.

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Straftaten müssen aufgeklärt w erden. Reflex ione n e ines de utsc hen Staatsa nw alte s JOACHIM LAMPE Joachim Lampe war als Generalbundesanwalt direkt an der Strafverfolgung der RAF beteiligt. Sein Bericht problematisiert die von RAF-Rechtsanwälten und -Sympathisanten verfolgte Strategie einer Politisierung ihrer Motive und legt dar, warum eine ideologische Rechtfertigung der terroristischen Anschläge nicht gelingen kann.

30 Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1977, die die Bundesrepublik existenziell herausforderten und deren Bedeutung für das Selbstverständnis der Republik in dem Begriff „Deutscher Herbst“ zutreffend gespiegelt wird, fragt die heutige Generation der 15- bis 45-Jährigen: Wie konnte es dazu kommen? Die Frage richtet sich nicht in erster Linie an die damaligen Straftäter; die, von einigen Ausnahmen abgesehen, schweigen; auch weniger an die Strafverfolger, deren Quellen – Anklagen, Urteile, Beweismittel – in den letzten 30 Jahren kaum zur Kenntnis genommen wurden, sondern an die Gesellschaft, aus deren Mitte junge Menschen zu vielfachen Mördern wurden. 34 Menschen wurden ermordet, davon 9 Polizisten; 27 Terroristen sind zu Tode gekommen, 26 erhielten lebenslange Freiheitsstrafen.1 1977 reichten Verständnis und „klammheimliche Freude“2 über die Terroranschläge sowie die Bereitschaft zur geistigen und logistischen Unterstützung der Gruppe weit in 1 2

Zur Chronologie der Ereignisse und Verfahren vgl. Klaus Pflieger: Die Rote Armee Fraktion, Baden-Baden 2004. Das Zitat entstammt dem Pamphlet „Buback – ein Nachruf“, von Klaus Hülbrock, das er unter dem Pseudonym Göttinger Mescalero am 25.4.1977 in der Zeitung des AStA der Universität Göttingen, den Göttinger Nachrichten, veröffentlichte.

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die Gesellschaft hinein. Der Terrorismus konnte von den staatlichen Stellen erst besiegt werden, als die RAF diese Unterstützung in der Gesellschaft nach und nach verlor. Der Rückhalt, den die RAF, namentlich bei den geistigen Eliten, lange Zeit fand, wirkt aber heute noch in die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, hinein. Kaum eine Diskussionsveranstaltung ohne die einleitende Frage nach dem politischen Roten Faden, von dessen Existenz der Fragende in der Regel ausgeht. Ein Staatsanwalt sieht die Tat und den Täter. Die Tat ist aufzuklären – das dient dem Rechtsfrieden am meisten. Schuld ist etwas Individuelles. Die Dringlichkeit der Frage nach dem politischen Warum erschließt sich einem dem Legalitätsprinzip verpflichteten Staatsanwalt nicht ohne weiteres. Ein Mörder muss kein politisch nachvollziehbares Motiv haben. Die Suche nach politisch nachvollziehbaren Motiven der Terroristen indiziert und suggeriert, dass es eine Politik der RAF gab, die dann auch mit Toleranz zu diskutieren gewesen wäre. Politisch festgelegte Betrachter haben den Roten Faden in den Verbrechen der RAF gefunden. Die Leitlinie reicht von der 68erBewegung, die ebenfalls das Gewaltmonopol des Staates bekämpfte und Ausgangspunkt vielfältiger, mitunter auch mit strafbarer Gewalt verbundener Ereignisse war, in gerader Linie zum RAF-Terrorismus. Die Gewalt der RAF habe lediglich eine höhere Intensität gehabt. Die zugrunde liegende Ideologie, der Grundgedanke und Ausgangspunkt unterscheide sich nur in der Rigorosität der Umsetzung. Gewollt oder ungewollt führt dieser Gedanke zu folgenschweren, historisch falschen und gesellschaftspolitisch gefährlichen Schlussfolgerungen: Auf der einen Seite kriminalisiert er undifferenziert Bürgerprotest, der prinzipiell auch dann noch unter dem Schutz des Grundgesetzes steht, wenn er in einzelnen Aktionen als strafbare Gewalt aus den Fugen gerät. Auf der anderen Seite werden damit aber auch die Brutalität der Terroranschläge der RAF und die Schuld der Täter relativiert. Die RAF-Aktivisten haben ihre Ideologie sehr deutlich zum Ausdruck gebracht; hier nur einige Zitate: „Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch.“3 „Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den bewaffneten Kampf jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.“4 3 4

Ulrike Meinhof: Warenhausbrandstiftung, in: konkret Nr. 14 (1968). Konzept der Stadtguerilla 1971. 209

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„Macht kaputt, was euch kaputtmacht.“5 „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. D. h. wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“6 „Politisch war nichts mehr drin.“7

In den Augen der Terroristen ist staatliche Macht grundsätzlich Mittel und Form der Unterdrückung und der Vernichtung der kulturellen Identität der Massen. Die vom Staat bereitgestellten Güter – Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt – nutzen nur den Herrschenden: Macht kaputt, was euch kaputtmacht! Der Terror ist nicht Mittel zur Erreichung eines bestimmten politischen Ziels, sondern Technik der Selbstbehauptung – Kampf um des Kampfes willen – zur Behauptung des eigenen Selbstverständnisses. Terror will provozieren, er will Überreaktionen provozieren, beispielsweise durch die Emotionen, die Terroranschläge auslösen. Tatsächliche oder angebliche Überreaktionen sind die Basis für die Verteufelung der Institutionen. Terror will in einem langen Kampf den scheinbar übermächtigen Staat zermürben. Er will zeigen, dass der Staat seine Bürger nicht schützen, den inneren Frieden und die Prosperität nicht sichern kann; also nicht in der Lage ist, das zu leisten, was seine Legitimation ausmacht. Das war und ist die Philosophie des Terrorismus: die der RAF und die der heute aktiven Terroristen. Terror ist nicht Ideologie sondern Methode.8 Für die RAF war das Konzept der südamerikanischen Stadtguerilla maßgebend, wie es Carlos Marighella in dem Minihandbuch der Stadtguerilla entwickelt hatte. Die Theorie zum Warum erschöpft sich in der Formulierung des „Sozialistischen Patientenkollektivs“: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Erst nach ihrer Verhaftung im Jahre 1972 sahen die führenden Kader, namentlich Andreas Baader und Gudrun Ensslin,

5

6 7 8

Titel des ersten als Single veröffentlichten Liedes der Musikgruppe „Ton Steine Scherben“ (1970), der zum Leitspruch des im gleichen Jahr gegründeten „Sozialistischen Patientenkollektivs“, einer RAF-verwandten Organisation, wurde. Ulrike Meinhof: „Natürlich kann geschossen werden“, in: Der Spiegel, 15.6.1970, S. 74f. Beate Sturm, RAF-Mitglied 1972. Vgl. dazu Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 22005, S. 188 und 210.

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die Notwendigkeit, sich durch ein Studium der einschlägigen Literatur die politisch-theoretischen Grundlagen ihres Kampfes zu erarbeiten.9 Von einer theoretisch-konzeptionellen Arbeit der RAF kann allenfalls bei der Schrift „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ gesprochen werden; sie wurde in den 80er Jahren geschrieben, als die RAF ihren Rückhalt in der Gesellschaft bereits verloren hatte. Auch ohne eine Ideologie im Sinne einer politischen Zielvorstellung kann die RAF nicht losgelöst betrachtet werden von der Entwicklung der Protestbewegung in Deutschland. Seit Mitte der 1950er Jahre gab es in der Bundesrepublik eine Frontstellung der intellektuellen Eliten zu den Institutionen. Die schleppende Bewältigung der Nazi-Vergangenheit, die Wiederbewaffnung, die besondere Situation des geteilten Deutschlands sind wesentliche Gründe hierfür. Mitte der 60er Jahre hatte sich die deutsche Gesellschaft – und zwar erstmalig– zu einer modernen Demokratie entwickelt, weg vom obrigkeitsstaatlichen Denken des Kaiserreichs, und damit den Bürgerprotest erst möglich gemacht. Bereits vor 1968 wurde in der Bundesrepublik mit bis dahin nicht gekannter Heftigkeit protestiert: gegen den Schah-Besuch, gegen das Spiegel Verfahren, gegen die Arzneimittelindustrie, gegen den „Muff unter den Talaren“ an den Universitäten, gegen den Vietnamkrieg, gegen die Springerpresse. Die Protestbewegung der 68er, Gipfel des europaweiten Umbruchs, attackierte das staatliche Gewaltmonopol und akzeptierte Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Gleichwohl ist der RAFTerrorismus keine mehr oder weniger entartete Form dieser Protestbewegung. Der Klassenkrieg der RAF und die Protestbewegung der 68er sind grundverschiedene Dinge. Die Protestbewegung wollte verändern; die Protestierenden wollten in dieser Gesellschaft leben. Die RAF wollte zerstören. Erschreckend viele Briefe der Terroristen enden mit der Floskel: „RAF oder tot“. „Die waren auf einem Selbstmordtrip“, erklärte Joschka Fischer rückblickend in einem Fernsehinterview die Abgrenzung der RAF von der Einstellung der 68er zur Gewalt. Eine andere Frage ist allerdings, ob nicht die aus dieser Protestbewegung stammenden intellektuellen Eliten – als „verständnisvolle Dritte“ (Jan Philipp Reemtsma)10 – mit ihrer Legitimationsrhetorik und der Dämonisierung 9

Vgl. die Belege in den Anklagen und Urteilen gegen die Verteidiger, die diese Schulung in einem „Info-System“ ermöglichten, z. B. Anklage StA Berlin 2 PJs 535/73; Urteil des Hans. OLG 1 StE 2/76. Gudrun Ensslin schrieb in einem Infobeitrag vom 15.1.1974: „mal sagen: je mehr ich die bücher studiere, desto mehr sehe ich, denke ich … daß unsere sache das entsprechende zur rev. i. d. rev. ist …“ 10 „Die Geschichte der RAF kann man nicht verstehen, ohne die theorieförmigen Affekte verständnisvoller Dritter zu analysieren“ (Jan Philipp Reemtsma: Was heißt die Geschichte der RAF verstehen?, in: Wolfgang 211

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staatlicher Institutionen und Repräsentanten, dem RAF-Terrorismus überhaupt erst seine große gesellschaftliche Wirkung verliehen haben. Intellektuelle und theoretische Aspekte werden bis heute eigentlich immer nur von außen in die RAF hineininterpretiert Die Vorwürfe der RAF der Isolationsfolter oder Beschränkung der Verteidigung wurden von diesen Eliten übernommen und erhielten durch so klangvolle Namen wie Böll oder Sartre ein ganz anderes Gewicht. Das war ein wesentlicher Beitrag zur Verteufelung der Institutionen und ihrer Repräsentanten, der gleichzeitig Wut und Verständnis für die Terroristen erzeugte. Die Frage nach den Motiven stellt sich bei der dritten RAFGeneration Mitte der 1980er Jahre in besonderer Weise: Der mündige Bürger hatte in der deutschen Geschichte noch nie so viele Freiheiten zur Selbstverwirklichung wie in den 1970er und 80er Jahren – namentlich auch die Freiheit zu massivem Protest. Die Gerichte schützten den Protest als elementares Bürgerrecht – in diesem Kontext ist an die Entscheidungen zu den Sitzblockaden zu erinnern. Der Vietnamkrieg war Geschichte. Die Eltern der Terroristen der dritten RAF-Generation waren zu jung, um an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. So mussten durch Assoziation und Suggestion neue Motive geschaffen werden: Das Bild des verhungerten Holger Meins erinnerte an die ausgemergelten Körper der Auschwitzopfer und erlaubte so den Rückschluss auf einen faschistischen Staat. Es war für die Mitglieder dieser Szene emotional auch nicht möglich an die Selbstmorde von Baader und Ensslin zu glauben – es musste Mord gewesen sein. Die Strafverfolgung stellt bei der Ursachenforschung den einzelnen Täter als Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung, so wie bei der Analyse eines jeden anderen Verbrechens. Auch bei den Täterpsychogrammen gibt es keinen Roten Faden, sondern wie in der Schwerkriminalität grundsätzlich ein sehr buntes Bild: So findet man den Typ des Desperado mit asozialen Zügen und kriminellen Neigungen, den Egomanen ohne Fähigkeit zur Empathie wie beispielsweise Andreas Baader. Zu Gudrun Ensslin erklärte der Sachverständige: „Sie leidet unter dem Ungenügen ihrer Existenz […] Sie wollte in die Tat umsetzen, was sie im Pfarrhaus gelernt hatte. Sie wollte den Nächsten en gros erfassen – gegen seinen Willen. Die Brandstiftung ist ein Versuch gewesen, ein

Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 1353-1368, hier S. 1368). 212

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paar Treppen auf den Stufen zu überspringen. Sie denkt einen Gedanken unbeirrt zu Ende, bis vor die Wand.“11

Über Ulrike Meinhof und Holger Meins wäre Vergleichbares zu sagen. Nicht zu unterschätzen sind auch persönliche Beziehungen. Inhaftierte Terroristen lösen mit ihrer Haftsituation bei Verwandten und Partnern, die die Situation natürlich einseitig und selektiv wahrnehmen, zunächst Empörung, dann den Wunsch nach konkreter Unterstützung aus. Einige sind ihren Partnern in den Untergrund gefolgt. Auf manche Personen übte das Guerillero-Dasein eine Faszination aus. An einigen Bespielen fällt auf, dass die Mitarbeit in Unterstützerkreisen, z. B. in einem Rechtsanwaltsbüro, einem „Folterkomitee“, der Russell-Initiativgruppe, und schließlich die Zusammenarbeit mit den Terroristen im Untergrund bei Personen aus sozial benachteiligten Kreisen das Selbstbewusstsein steigerte und als „Weg nach oben“ empfunden wurde. Nicht zu leugnen ist, dass einige Personen aus der Unterstützerszene aus Angst vor Inhaftierung in den Untergrund gingen. Es gibt einen Fall, in dem eine junge Frau, die als Kurierin im Frühjahr und Sommer 1977 für die RAF tätig gewesen war und dafür eine drei- bis vierjährige Freiheitsstrafe zu erwarten hatte, in völliger Verkennung ihrer Situation damit rechnete, nach dem nächsten Anschlag „auf ewig einzufahren“ und aus „Horror vor dem Knast“ in den Untergrund ging. Kein Jahr später wurde sie von der Polizei erschossen, als sie nachts bewaffnet eine konspirative Wohnung der RAF betrat. Der Blick auf die Persönlichkeitsstrukturen der Terroristen gewinnt in neueren Arbeiten zunehmend an Bedeutung.12 Gleichwohl scheint der Wunsch der „geistigen Eliten“ nach einem politischen Roten Faden im Terror der RAF, der mit Toleranz diskutiert werden könnte, übermächtig zu sein. Dieser Wunsch ist die Ursache für eine selektive Wahrnehmung der historischen Fakten, aus der eine RAF-Ideologie schlüssig erscheint. Vor 30 Jahren musste gnadenlos gelogen werden, um – z. B. im Zusammenhang mit dem Hungerstreik, den Haftbedingungen und den Verteidigungsmöglichkeiten – Verständnis für die Terroristen und Empörung über staatliche Reaktionen zu wecken.13 Die Neigung einiger Protago11 Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe, München 1997, S. 76. 12 Vgl. beispielsweise den Fernsehfilm von Stefan Aust über die RAF, http://daserste.ndr.de/reportageunddokumentation/doku254.html [9.7.2008]. 13 Asservate aus einer konspirativen Wohnung der RAF: „Der HS ist die Rekonstruktion unserer Fähigkeit zum Angriff und gleichzeitig notwendig für die Mobilisierung und Orientierung draußen in der Szene – deswegen hängt auch soviel davon ab, ob es uns gelingt – auch unter den Bedingun213

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nisten dazu ist auch in der Diskussion nach 30 Jahren zu beobachten. Der Vorrang einer „politischen Sicht“, die die historischen Fakten nicht oder nur selektiv wahrnimmt, war auch in der Gnadendiskussion des letzten Jahres zu beobachten. Die Wahrnehmung ist eingebettet in den politischen Willen einer Rechtfertigung der „progressiven Eliten“ Mitte der 70er Jahre. Auch in seriösen Publikationen wird – historisch falsch – der RAF ein diskutabler Ideologiemantel umgehängt, der sich dann ab 1977 mit der zunehmenden Sinnlosigkeit der Aktionen verloren habe. „Mit dem jungen amerikanischen Soldaten Edward Pimental war am 08. August 1985 erstmals eine Person ohne hervorgehobenen Status in Wirtschaft oder Politik von der RAF ermordet worden. Pimental musste sterben, weil man seine Ausweispapiere für einen Anschlag auf die Rhein-Main-Airbase benötigte.“14

Hier wird suggeriert, vor diesem Anschlag im Jahre 1985 habe es politisch nachvollziehbare – wenn auch nicht zu akzeptierende – Gründe in der Person der Opfer gegeben, die eine politische Betrachtung erlaube. Das ist bereits eine selektive Form der Wahrnehmung der Fakten. Die Anschläge der RAF waren von Anfang an gekennzeichnet durch die willkürliche Auswahl ihrer Opfer – 2 500 Angestellte hielten sich im Springer-Hochhaus auf, in dem 1972 fünf Sprengsätze mit insgesamt ca. 40 kg Sprengstoff angebracht waren, 36 Personen wurden zum Teil schwer verletzt; bei den Sprengstoffanschlägen auf die USHauptquartiere 1972 hätten nicht voraussehbar unbestimmte Personen getroffen werden können; bei dem versuchten Anschlag mit der „StalinOrgel“ auf die Bundesanwaltschaft 1977 hätten neben den Staatsanwälten auch Schreibkräfte getötet oder verletzt werden können; 1979 schossen Christian Klar und andere Terroristen nach einem Banküberfall auf der Flucht in einer belebten Fußgängerzone einer Passantin durch den Hals; anschließend schoss Klar aus 2 m Entfernung einer Frau in die linke Brust, um deren PKW zur Flucht zu rauben. Auch was die sprachlos machende Menschenverachtung anbelangt, die die Ermordung Pimentals kennzeichnet, bleiben frühere Mordanschläge der RAF dahinter nicht gen – die Machtfrage zu stellen“ (Ass. 3.1.16.6); „was die Hst-Frage betrifft: Ich finde sie die Gretchenfrage, eine pol. Weichenstellung […]“ (Ass. 3.1.16.3); Horst Mahler, bis 1974 Mitglied der RAF, zu den Hungerstreiks der RAF: „Eine Propagandalüge, darauf berechnet, die Linke in der BRD moralisch zu erpressen und Faschismus vorzutäuschen, um die brutalisierten Kampagnen der RAF zu legitimieren“ (Kopien im Besitz des Autors). 14 Harry Nutt: Frankfurter Rundschau, 21.3.2007. 214

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zurück – die Ermordung der Begleiter Schleyers und Schleyers selbst, die Morde bei dem Anschlag auf die Deutsche Botschaft in Stockholm, die einer Hinrichtung gleichkommende Ermordung des MTU-Chefs Zimmermann... Die Beispiele ließen sich fortsetzen und müssten aus Respekt vor den Opfern fortgesetzt werden. Die Justiz sollte sich ihrer Aufgabe bewusst sein, auch nach Abschluss der Verfahren und Beendigung der Strafvollstreckung mit ihren Quellen zur korrekten historischen Aufarbeitung und damit zum Rechtsfrieden beizutragen.

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Was bleibt vo n der R AF? Re flexione n e ines nie derlä ndis che n Rec hts a nw alts WILLEM VAN BENNEKOM Der Text geht der Frage nach, welche Spuren die RAF in der niederländischen Gesellschaft hinterlassen hat. Der Autor, der selbst als Verteidiger in RAFProzessen tätig war, befragt dabei auch kritisch seine eigene Rolle und damalige Haltung. Trotz der 30 Jahre Abstand ist es momentan noch nicht möglich, zu einer gesicherten wissenschaftlichen Gesamtschau zu kommen. Auch wenn die Auswirkungen des „Deutschen Herbstes“ in den Niederlanden marginal sind, lassen sich dennoch gewisse Lehren aus dem Verhältnis von Terroristen und Staatsgewalt ziehen, die in vergleichbaren Situationen (z. B. bei der Auseinandersetzung mit dem islamistisch motivierten Terrorismus) bei der Einschätzung und Bewältigung der Probleme dienlich sein könnten.

Die Bewertung dessen, was die RAF hinterlassen hat, hat mich die letzten Jahrzehnte immer wieder beschäftigt. Sie war regelmäßig Gegenstand von Diskussionen mit Freunden und ehemaligen Mandanten. Schriftlich habe ich mich dazu jedoch nie geäußert. Der hier unternommene Versuch entspringt meinem Diskussionsbeitrages zur – so schön wertfrei – „wissenschaftlich“ genannten Tagung „30 Jahre ‚Deutscher Herbst‘“ am 11. und 12. Oktober 2007 im Goethe-Institut Amsterdam. Sie wird mir noch lange in Erinnerung bleiben: wenige Stunden nach Abschluss des Kolloquiums starb, zwei Grachten weiter, mein guter Freund Pieter Herman Bakker Schut, der wie kein anderer in den Niederlanden auf das Gedankengut der RAF aufmerksam gemacht hatte. Ich bin weder Soziologe, noch Politologe oder Historiker. Wissenschaftler möchte ich mich schon gar nicht nennen: bekanntermaßen ist ein Richter kein Gelehrter, sondern – sofern er etwas ist – Künstler. Damit nicht genug der Beeinträchtigungen: Ich war vor allem als Verteidi216

WAS BLEIBT VON DER RAF?

ger in den RAF-Prozessen in den Niederlanden tätig, während der wenigen Monate bevor Knut Folkerts, Christoph Wackernagel und Gert Schneider an die Bundesrepublik ausgeliefert wurden. In Deutschland war mein Engagement von längerer und intensiverer Dauer. Ich war einer der niederländischen Anwälte, die den zwei Letztgenannten vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf beistanden, wo sie sich für ihre Beteiligung an einer Schießerei bei einer Amsterdamer Telefonzelle verantworten mussten. In „Sachen RAF“ als Anwalt aufgetreten zu sein scheint auf den ersten Blick für solch einen Text von Vorteil, ist in Wirklichkeit aber gleich ein mehrfacher Nachteil. Zum einen haben Anwälte nämlich – auch wenn sie wie ich später Richter geworden sind – eine Geheimhaltungspflicht. Vorschrift 6, Absatz 1 der 1992 erstellten Verhaltensregeln für die niederländische Anwaltschaft legt in strengen Worten fest: „Der Anwalt ist zur Geheimhaltung verpflichtet; er hat über Einzelheiten der Verfahren, die von ihm vertretenen Mandanten sowie Art und Umfang ihrer Interessen zu schweigen.“ Ausnahmen sind nur möglich, wenn der Mandant selbst nichts gegen die Veröffentlichung einwendet und „sofern dies mit einer korrekten Berufsausübung vereinbar ist“. Diese Vorschriften gelten auch für Anwälte wie mich, die „politische“ Mandate übernommen haben. Dass der Wortlaut in den 1970er Jahren noch anders war, spielt da keine Rolle: Ich wollte mich daran halten. Anders, als manche denken, ist es darüber hinaus nicht so, dass Verdächtige in politischen Strafverfahren per definitionem ihr Recht auf Vertraulichkeit preisgegeben haben oder als solche angesehen werden müssen, die es verloren haben. Und dann bestehen, last but not least, kollegiale Bande zwischen mir und den verstorbenen oder noch lebenden Anwälten, mit denen ich damals zusammen gearbeitet habe. Auch diese Gefühle begrenzen meine Freiheit. Aus den genannten Faktoren entstehen daher zahlreiche Beschränkungen. Was meine Geheimhaltungspflicht betrifft: Ich habe keine Ahnung, ob mich meine früheren Klienten Knut Folkerts, Christof Wackernagel und Gert Schneider inzwischen dieser völlig enthoben haben. Mit der Unterstellung, dass also doch etwas gänzlich verschwiegen werden soll, komme ich zurecht. Ein anderer Grund, der hinderlich ist, wenn man selbst als Anwalt in einer Strafsache tätig war, ist die emotionale Beteiligung. Mein Engagement für diese Angelegenheiten – vielleicht sollte ich eher sagen: für die Angelegenheit dieser Menschen – ging jedenfalls weiter, als es in jener Zeit bei mir gewöhnlich der Fall war. Mir sind folglich in gewisser Weise die Hände gebunden. Ich bin auch kein Experte für diese Fragen. Ein unbeschriebenes Blatt schon gar 217

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nicht, ein idealer Zeitzeuge noch weniger. Sind dreißig Jahre, mag mancher fragen, denn nicht genug, um sich, wie Münchhausen, selbst aus dem Sumpf zu ziehen? Ich fürchte nicht. Wenn ich also trotzdem hoffe, etwas zur Meinungsbildung beitragen zu können, geschieht dies ohne Anspruch auf Objektivität, womit ich dem Anspruch dieses rein wissenschaftlichen Buches nicht genüge. Die Frage, ob man so überhaupt zu diesem Themenfeld etwas beitragen kann, lasse ich offen. Möglicherweise werde ich also nur weitere Fragen aufwerfen. Auch das Feld, in dem ich mich bewege, sollte noch weiter begrenzt werden. Ganz abgesehen von all den eben genannten strukturellen Einschränkungen werde ich mich ebenfalls über verschiedene an sich hoch interessante Teilthemen nicht auslassen, allein deshalb, weil ich mich nicht imstande fühle, etwas Kluges darüber zu verbreiten. Als Beispiel hierfür nenne ich, wie viel oder wenig das Tun und Lassen der RAF in den Niederlanden in dem, was man früher „Die schönen Künste“ nannte, Widerhall gefunden hat. Ich hätte hier beispielsweise darauf hinweisen können, dass das Stedelijk Museum in Amsterdam im Herbst 2006 mit Stolz bekannt gab, das berühmte Triptychon „Drei Häuser mit Schlitzen“ des verstorbenen Martin Kippenberger aus dem Jahr 1985 angekauft zu haben. In diesem Werk nimmt Stammheim einen zentralen Platz ein, aber was bedeutet das? Ist der beinahe geschäftsmännisch zu nennende Stolz des Museumsdirektors noch durch etwas anderes ausgelöst worden als durch die Erkenntnis, ein wertvolles Kunstwerk der jüngeren Vergangenheit erworben zu haben? Also nichts als ein gelungener Coup für ein Museum, das seine eigenen Ansprüche, stets Avantgarde zu sein, damit einlöst? Verglichen mit dem großen Einfluss, den die RAF auf viele zeitgenössische deutsche Künstler ausgeübt hat – ich möchte in diesem Zusammenhang allein auf die große Berliner Ausstellung „Deutschlandbilder“ von 1997/1998 verweisen – ist in den Niederlanden nach meinem Eindruck bislang Schmalhans Küchenmeister. Gemeint ist, dass das Universum der RAF hierzulande bildende Künstler höchstens indirekt beeinflusst zu haben scheint. Aber vielleicht täusche ich mich – und auch in den Niederlanden ist mehr hervorgebracht worden, als ich vermute. Vergleichbares gilt meines Erachtens für die Literatur. 2006 erschien in Dänemark „Rode Haender“ von Grondahl. Ebenso wie in dem 2008 veröffentlichen Buch „Das Wochenende“ von Bernhard Schlink ging es dabei um einen aufrichtigen Versuch (und das ist ja schon was), die Faktoren, welche den Umgang mit der RAF für viele so schwierig gemacht haben (und es teils auch heute noch machen) für eine „Erzählung“, für einen fiktionalen Text also zu gebrauchen. Dass beide Romane in literarischer Hinsicht nach meinem Geschmack nicht wirk218

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lich als geglückt bezeichnet werden können (zu viele große Themen gleichzeitig, zu konstruiert, zu anständig und zurückhaltend) ändert nichts daran. Eine der Personen in Schlinks Roman, die biedere Bischöfin Karin, macht eine Bemerkung, die sein Kernthema trifft: „Hätten sich so viele von uns die Freiheit genommen, die Gesellschaft zu verlassen oder zu verändern, wenn es nicht als äußerste Möglichkeit den bewaffneten Kampf gegeben hätte? Er wurde nicht stellvertretend für uns geführt. Aber er hat den Raum, in dem wir handeln konnten, erweitert.“1

Wenn ich mich nicht sehr täusche, sind Versuche wie die von Grondahl und Schlink – und sie sind ja nicht die einzigen – in den Niederlanden bisher ausgeblieben. Romane und Erzählungen, die auf die eine oder andere Weise etwas mit der niederländischen Hausbesetzerszene von damals zu tun haben, gibt es genug, als bekanntestes Beispiel wäre „De advocaat van de hanen“ von A.F.Th. van der Heijden zu nennen. Aber als Hauptmotiv ist das Wirken der RAF im Reich der Literatur, jedenfalls in der Provinz der Niederlanden, auffallend abwesend. Haben die niederländischsprachigen Autoren und Dichter vielleicht besser als gewöhnliche Sterbliche begriffen, dass das RAF-Jahrzehnt, so dramatisch es auch gewesen sein mag, keinen Stoff bot, der sich unter ihren Händen entwickeln konnte? Ich will mich folglich lieber an das halten, womit ich vertraut bin: Prozesse, Verfahren und – etwas breiter betrachtet – die Welt des Rechts, woran sich einige Randbemerkungen über Gesellschaft und Politik anschließen werde. Meine erste Bemerkung betrifft die Art, wie die RAF-Verdächtigen („RAF-Gefangene“ im damaligen Jargon) und ihre Anwälte die gegen und durch sie geführten Gerichtsverfahren und Prozesse als „Mittel des Kampfes“ eingesetzt haben – auch noch nach 1977, als deutlich wurde, dass ihr Krieg verloren war. Selten in der Nachkriegsgeschichte wurden das Recht und seine prozessualen Möglichkeiten so konsequent als Mittel für Propaganda und Kriegsführung eingesetzt. Nicht zu unrecht wurde gesagt, dass das Wirken der RAF tatsächlich im Laufe der Zeit zunehmend mit den Prozessen gegen ihre Mitglieder zusammen fiel. Die Verdächtigen und ihre Anwälte waren natürlich nicht die einzigen, die es in die Klauen der Manipulation und der Kriegspropaganda getrieben hat. Und dies gilt sowohl für Deutschland wie für die Niederlande. Wenn wir aber herausfinden wollen, was die RAF uns hinterlassen hat, muss in jedem Fall die Frage gestellt werden,

1

Bernhard Schlink: Das Wochenende, Zürich 2008, S. 103. 219

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ob der Gebrauch eines Strafprozesses als Guerilla-Plattform eine wichtige Erfindung war. Das Phänomen der juristisch-verfahrenstechnischen Manipulation ist selbstverständlich nicht von der RAF erfunden worden. Das letzte Wort eines einer Straftat verdächtigten Revolutionärs war sogar lange Zeit ein fester Topos: Die Geschichte würde ihn freisprechen. Das gilt beispielsweise und buchstäblich für die letzten Worte Fidel Castros gegen seine Richter, als er sich 1953 (er war selbst zu dieser Zeit noch Anwalt) wegen Verdachtes auf bewaffneten Aufstand gegen die Staatsgewalt vor Gericht verantworten musste. Man braucht nur Enzensbergers Anthologie „Freisprüche: Revolutionäre vor Gericht“2 zu lesen, um zu erfahren, dass der Revolutionär, der bis in den oder sogar gerade im Gerichtssaal durch die Kraft seines Wortes den Widersacher zu schlagen versucht, respektable Vorfahren hat. Von Babeuf bis Dimitrov haben sie die Welt in Erstaunen gesetzt. Wie oft wurde der auf den ersten Blick machtlose Gefangene zum leuchtenden Vorbild wahrer Unabhängigkeit und „Zivilcourage“! Für Enzensberger sind es die elektronischen Massenmedien, die den Charakter und die propagandistische Funktion solcher Plädoyers verändert haben: „Heute liefert das Fernsehen, längst ehe es vor Gericht zu Rede und Widerrede kommt, die Bilder der Gefangenen in der ganzen Welt ab, und an Stelle der Rede ist das Interview getreten“.3 Die frühere Dramaturgie im Gerichtssaal, so fährt er fort, sei in politischen Prozessen durch nackten Staatsterrorismus ersetzt worden, einen „terroristischen Verwaltungsakt“4, oder sei schlichtweg eine Farce geworden. Am Ende seiner Betrachtung sucht Enzensberger dann eine tiefere Erklärung für das, was er „Zerfall des Prozess-Rituals“5 nennt. Der politische Strafprozess sei, so schrieb er 1970 in Amsterdam (!), in seiner Essenz ein Produkt der bürgerlichen Rechtsordnung. Aber die bürgerliche Rechtsordnung bestehe nicht mehr – zumindest nicht mehr als intakte Einheit. „Ideologisch“ sei die gegenwärtige Bourgeoisie „impotent geworden. Noch ihre verfallensten Fürsprecher begegnen dem System, das sie verteidigen, wenn es darauf ankommt, mit illusionslosem Zynismus“6. Er schließt mit einer weit reichenden Anklage: „Der monopolistische Staatskapitalismus sucht seine Rechtfertigung nicht mehr im Überbau, er argumentiert mit seinen Zuwachsraten und mit der Über-

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Hans-Magnus Enzensberger: Freisprüche: Revolutionäre vor Gericht, Frankfurt a. M. 1970. Ebd., S. 476. Ebd., S. 477. Ebd. Ebd.

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flüssigkeit aller Argumente, die darüber hinausgehen. Er kämpft um seinen Fortbestand, aber Recht kann er nicht mehr sprechen.“7

Diese ebenso einfachen wir prophetischen Sätze wurden einige Jahre vor dem Beginn der bedeutendsten politischen Strafprozesse der Nachkriegszeit in Deutschland und anderswo geschrieben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Analyse der propagandistischen Möglichkeiten solcher Verfahren in Betrachtungen dieser Art seinen Ursprung fand. Nicht nur in der damaligen Bundesrepublik, sondern auch in den Niederlanden, wiewohl hier auch schon damals viel weniger auf Theoriebildung abgehoben wurde, als es in Deutschland der Fall war. Auch besaßen Enzensberger und Konsorten natürlich eine Grundlage: Eine der wichtigsten Konsequenzen der von einer ganzen Reihe von Nachkriegsphilosophen (mit Marcuse und Horkheimer als Vorreiter) entwickelten Vision vom Menschen bestand eben darin, dass der einer politischen Straftat Angeklagte sich nicht mehr „justitiabel“ zu fühlen brauchte. Diese Entdeckung, dass der wirklich autonome Mensch seine eigenen Regeln aufstellt, führte zu dem Gedanken, dass Recht und Gerichtsbarkeit, so wie Krieg und Kriegsführung, allein eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln seien. In logischer Konsequenz entstand die Vorstellung, dass Strafprozesse auch als „Waffe“ gebraucht werden könnten. Kennzeichnend für die Tendenz zur juristischen Manipulation der RAF und ihrer Verteidiger war nicht so sehr, dass die Wahrnehmung von Fakten und die Wahrheitsliebe einem höher bewerteten Gut unterstellt wurden. Übertreibung und selektiver Umgang mit Tatsachen sowie Dämonisierung der Gegner sind als Stilmittel und Methode allen Zeiten zu eigen. Sie sind Teil jeder Überzeugungsarbeit, die nicht rein argumentativ ist, auch, wenn diese von Staatsanwälten, Außenministern und ähnlichen Staatsvertretern geleistet wird. Wie es ein altes Diktum will: Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges. Dies gilt auch für Kriege, die aus Mangel an Waffen mit Worten geführt werden. Was die RAF betrifft, so erstaunt auch heute noch die Systematik und Intensität, mit der die Manipulationen durchgeführt wurden. Auf dem Höhepunkt beschlossen mindestens zwei der Stammheim-Gefangenen, ihren Selbstmord als Mord darzustellen – in einem verzweifelten Versuch ihrem Kampf einen finalen Impuls zu geben. Dass sie ihren Suizid dergestalt umdeuteten, führte freilich dazu, dass, dem Wortlaut der Presseerklärung des Siegfried Hausner-Kommandos folgend, „nach 43 Tagen Hanns-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“ wur7

Ebd., S .477-478. 221

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de. „Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Mogadischu und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos“, so das Kommando.8 Doch auch danach ging der Kampf bekanntlich eine Weile weiter – mit denselben Schlagworten wie immer. Man denke nur an die Brutalität von Bismarcks „Emser Depeche“ oder, in neuerer Zeit, an die Verlogenheit, mit der die USA und ihre Bundesgenossen den Krieg mit dem Regime Saddam Husseins angezettelt haben – auch dort finden wir einen solch pervertierten Umgang mit Fakten wieder. Dennoch besteht ein großer Unterschied zwischen dem Stammheimer Betrug und den anderen Fällen. Bismarck und Bush, so gewissenlos sie als Machtpolitiker auch gewesen sein mögen, haben sich nicht persönlich, mit Leib und Seele, für ihre Sache verwendet, so wie es die vier Gefangenen in Stammheim getan haben. Diese Tatsache wirft freilich eine Frage auf: Was schockiert uns eigentlich mehr, die Lügen derjenigen, die am Schreibtisch oder im Parlament einen Krieg beginnen, oder die verzweifelte Durchtriebenheit derjenigen, die als letztes Opfer ihr eigenes Leben einsetzen? Lange habe ich gedacht, dass man durch den Integritätsverlust nicht viel tiefer sinken könnte als die Letztgenannten. Heute, nach so vielen Jahren, bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht können Baader und seine Gefolgsleute – über diejenigen, die sie später abgelöst haben, spreche ich hier nicht – doch besser mit Jan van Speijk verglichen werden, dem 29-jährigen niederländischen Marineoffizier, der am 5. Februar 1831 auf der Reede von Antwerpen – anstatt sich anrückender belgischer Aufständischer zu ergeben – lieber sich selbst, seine Mannschaft und sein Boot in die Luft fliegen ließ. Ohne langes Nachdenken oder Einspruch von irgendjemandem. Ergebnis: viele Tote, Straßen in den meisten holländischen Städten, die nach ihm benannt sind, und eine Fregatte der königlichen Marine, die „auf immer und ewig“ seinen Namen trägt. Aber man muss vorsichtig mit Vergleichen sein. Denn die ganze Schiffsladung von Ehrbeweisen würde ihm wahrscheinlich nicht zu Teil werden, wenn nicht er, sondern die Belgier die Lunte ins Pulverfass gesteckt hätten. Nun also zu der Frage, welche Spuren der von der RAF angezettelte Krieg in den Niederlanden hinterlassen hat, sofern er – mit Waffen oder Worten – auch hier zu Lande geführt worden ist. Selbstverständlich kann keine auf Vollständigkeit zielende oder gar nur die Ereignisse zusammenfassende Übersicht geliefert werden. Diesbezüglich sei auf das

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ID-Verlag (Hg.): Rote Armee Fraktion – Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 273.

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Buch von Jacco Pekelder „Sympathie voor de RAF“ verwiesen.9 Auch in den Niederlanden gab es in den 1970er Jahren kurzzeitig einen Krieg, zumindest ein Kriegchen, eine Guerilla – wenngleich natürlich nicht im völkerrechtlichen Sinn. Zwar waren die Vorhaben nicht in erster Linie auf einen Umsturz der niederländischen gesellschaftlichen Ordnung gerichtet, das hieß aber nicht, dass die RAF hier keinen Krieg führte. Überall, wo bewusst und systematisch der politischen Macht halber mit Waffengewalt angegriffen und verteidigt wird, spricht man von Krieg. Die getöteten und verwundeten Polizisten und Zollbeamte wurden damals von den Untergrundkämpfern der RAF dann auch als collateral damage angesehen, anders als zum Beispiel der Tod Schleyers, dessen Person ja eine tatsächliche Personifizierung des verhassten Staates darstellte. Ich fürchte jedoch, dass über diese Kriegshandlungen nicht viel gesagt werden kann, außer, dass die Nahestehenden und Überlebenden teils noch heute mit den Nachwirkungen zu kämpfen haben. Es scheint, dass die Zeit, in der die RAF auf niederländischem Grund und Boden aktiv war, weniger Spuren hinterlassen hat als beispielsweise der Mord an Theo van Gogh, der noch frisch in unserem Gedächtnis ist. Auch hat die von Islamisten ausgehende Bedrohung aus vielerlei Gründen weltweite Auswirkungen, weswegen viele davon ausgehen, dass die von dieser Seite auf uns zukommende Gefahr uns noch lange begleiten wird. Fragt man dagegen einen beliebigen Niederländer heute nach der RAF, dann hat man inzwischen eine echte Chance, dass es still bleibt. Ein gleiches Schicksal ist dem parallel geführten war with words, der Propaganda, beschieden. Wie jede Propaganda begann sie mit einem bestimmten Wortgebrauch. Das Nomen „folter“ im Sinne von Misshandlung gab es in den Niederlanden nicht bevor es durch die RAFSympathisanten eingeführt wurde. Dasselbe gilt für eine Reihe anderer Signalwörter wie „isolatiefolter“ oder „model Duitsland“. Und natürlich sprach man nicht über Ulrike Meinhof, sondern schlichtweg über Ulrike, über Andreas und Knut (Folkerts). Selbst wenn man die Betroffenen nicht persönlich kannte, suggerierte der Gebrauch des Vornamens Schicksalsgemeinschaft und Nähe: Man musste doch zusammen halten. Das blieb noch lange so, selbst nach der Stammheimer Walpurgisnacht. Ähnlich unzweideutig waren die Horrorszenarios, die man sich in Bezug auf die Haftbedingungen und die Verurteilungen ausmalte, falls Knut Folkerts, Christof Wackernagel und Gert Schneider an die Bundesrepublik ausgeliefert würden. Die Formen von Einzelhaft, denen die 9

Jacco Pekelder: Sympathie voor de RAF. De Rote Armee Fraktion in Nederland, 1970-1980, Amsterdam 2007. 223

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RAF-Gefangenen in den Niederlanden ausgesetzt waren, galten zwar als hart, waren aber für die meisten keinesfalls mit der Situation in beispielsweise Köln-Ossendorf zu vergleichen. Die Haftbedingungen in den Gefängnissen in Maastricht und Scheveningen und ihre möglichen Auswirkungen wurden damals übertrieben dargestellt – woran auch nichts ändert, dass sie umgekehrt von den verantwortlichen Beamten und Politikern bagatellisiert wurden. Jedenfalls war es ziemlich demagogisch zu behaupten (was ich selbst nach der Auslieferung unserer Mandanten tat), dass „wir fürchten müssen, dass sie eine zeitweilige Isolation gegen die ewige Isolation eingetauscht haben“. Eine Voraussage, die im Nachhinein lächerlich wirkt, wenn man bedenkt, dass Wackernagel und Schneider nach 8 Jahren Gefängnis frei kamen, nachdem sie das Oberlandesgericht Düsseldorf für ihre Mitwirkung am Feuergefecht im Amsterdamer Stadtteil Osdorp, bei dem es unter den Polizisten einen Schwerverwundeten gab, „lediglich“ zu 15 Jahren Haft verurteilt hatte. Nicht zufällig war dies genau die Höchststrafe, die sie in den Niederlanden hätten bekommen können. Solche Prophezeiungen waren großenteils und üblicherweise platte Anwaltsrhetorik. Ein paar Tropfen Gift beinhalteten sie aber doch, wenn ich mich ehrlich und tief befrage. Das Gift der Stimmungsmache gegen einen Gegner, der angeblich schlecht und gefährlich sei. Vielleicht sogar schlechter und gefährlicher als unsere Mandanten. Ich sah jedenfalls kein Problem darin, die Zuhörer in ihren schlimmsten Vermutungen zu bestätigen. Und ich fürchte auch, dass ich es damals billigend in Kauf genommen hätte, wenn einer von ihnen, auf dem Weg nach Haus, einen Stein in das Schaufenster eines deutschen Verkehrsbüros oder einer ähnlichen Einrichtung geworfen hätte. Ebenso manipulativ, durchsichtig und naiv waren die Versuche der Verteidiger aufgrund der schlechten Aussichten unserer Mandanten in den anhängigen Verfahren ihre Gegner zu denunzieren. Auch diese Taktik setzten wir Anwälte ein, mehr als wir das hätten tun sollen, denke ich heute. Das beste Beispiel einer grenzwertigen Aktion ist für mich der seltsame Entschluss, den wir angesichts der nahenden Auslieferung unserer Mandanten fassten, uns als Anwälte und Vertrauensärzte der weiteren Beschäftigung mit ihren Fällen bzw. ihrer Behandlung zu entziehen. Motiv hierfür war, dass der Staatssekretär des Justizministeriums nicht bereit zu sein schien, die Haftbedingungen unserer Mandanten zu verbessern und wir nicht länger von einem – so unterstellten wir – rücksichtslosen Rechtssystem missbraucht werden wollten. Um diese Motive darzulegen wurde am 6. Oktober 1978 im Grand Hotel Krasnapolsky in Amsterdam sogar eine Pressekonferenz organisiert, die recht gut besucht war. Dass es mit diesem Rückzug in Wirklichkeit nicht viel auf sich hat224

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te, wurde, was mich betrifft, schon kurz danach deutlich. Ohne Rücksprache mit unseren früheren Mandanten nahm ich das Mandat wieder auf, als es kurze Zeit darauf so aussah, dass Knut Folkerts nach dem Wochenende vom 14./15. Oktober 1978 ausgeliefert werden würde. Für diesen wahnwitzigen und schamlosen Opportunismus schäme ich mich noch heute. Am meisten vielleicht darum, weil mir selbst nicht klar wurde, wie sehr ich die professionelle Integrität, die ich selber doch einforderte, damit aufs Spiel setzte. Ich hatte mich dem Prinzip der Kriegspropaganda genähert, ohne die Reichweite meines Tuns konsequent durchdacht zu haben. Wie stümperhaft und durchsichtig unser Auftreten in den Augen anderer, auch unserer Feinde, gewesen sein muss! Wir hatten etwas von der Fahrradbrigade des niederländischen Heeres, die sich 1940 der Wehrmacht entgegenstellte, mit der ebenfalls kein Krieg zu gewinnen war. Nur konnte der Krieg, den die RAF wollte, natürlich gar nicht gewonnen werden. Möglicherweise wollten wir auch nicht, dass dieser Krieg gewonnen würde – ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, jemals in dieser Zeit darüber gesprochen zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass die Beiträge der Anwälte und anderer zu diesem beabsichtigten Krieg – seien sie nun bewusst oder nolens volens gewesen – im Nachhinein vor allem unbedeutend und inkonsistent erscheinen. Das sahen wir damals natürlich nicht so. Wir sahen in uns Helden unserer Zeit – und in manch dunklen Momenten hielten wir uns für Gefangene der Umstände. Tröstend ist das Paradox, dass unser Beitrag, so amateurhaft er auch gewesen sein mag, nicht völlig umsonst gewesen ist. Im Unterschied zu anderen juristischen Projekten aus den 1970ern wie das Aufkommen von Anwaltskollektiven hat all der Trommelwirbel und der Schlachtenlärm der RAF-Prozesse keine wirklich wichtigen Spuren hinterlassen: keine Plädoyers, die heute noch herangezogen würden, kaum prägende Urteile. Das Urteil des Hohen Rates am 8. Mai 1978 im Auslieferungsverfahren gegen Knut Folkerts war rechts- und verfahrenstechnisch allein durch die Art bedingt, wie die Bundesrepublik den Auslieferungsantrag formuliert hatte. Man begründete die Ausweisung, wenn ich mich recht erinnere, zum Unverständnis deutscher Juristen, damit, dass Folkerts vermutete Mitschuld am Mord Schleyers und dessen Begleitern als politisches Delikt gelten müsse. Vielleicht haben die niederländischen Behörden in dieser Zeit etwas gelernt, was für den Umgang mit Hungerstreikenden auch heute noch wichtig ist. Der einzige wirklich wichtige Nachlass im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit der RAF ist die 1986 herausgegebene rechtswissenschaftliche Dissertation „Politische Verteidigung in Strafsachen“ von 225

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Pieter Herman Bakker Schut.10 Durch seine thematische Ausrichtung – u. a. beschreibt es die Ereignisse in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 – stellt das Buch meiner Ansicht nach die grundlegendste Analyse der Möglichkeiten und Begrenzungen der politischen Anwaltschaft dar, die jemals in den Niederlanden erstellt worden ist. Ohne die Erfahrungen von Bakker Schut im Stammheimer Prozess und in den niederländischen Gerichtssälen wäre das Buch nie geschrieben worden. Es ist Pflichtlektüre für diejenigen, die glauben, mit Hilfe des Rechtes eine Revolution anzetteln zu können. Vieles musste unerwähnt bleiben. Wie es beispielsweise dazu kam, dass der Hilfeschrei Ulrike Meinhofs am 28. Oktober 1975 im Stammheimer Sitzungssaal, ein halbes Jahr vor ihrem Selbstmord, weder gehört noch begriffen wurde: „Dem Gefangenen in der Isolation bleibt, um zu signalisieren dass sich sein Verhalten geändert hat, überhaupt nur eine Möglichkeit, und das ist der Verrat […]. Das heißt, es gibt in der Isolation exakt zwei Möglichkeiten: entweder Sie bringen einen Gefangenen zum Schweigen, dass heißt man stirbt daran, oder Sie bringen einen zum Reden. Und das ist das Geständnis und der Verrat.“11

Man muss hoffen, dass dieses Beispiel richterlichen Versagens – denn das war es wohl – uns auch in den Niederlanden gelehrt hat, dass die Richter eigentlich mehr Spielraum haben, als sie zuweilen wünschen. Und dass diese Räume dort, wo sie nötig sind, genutzt werden müssen. Geäußert habe ich mich auch nicht zu den im Dunkel oder Halbdunkel liegenden Gegebenheiten rund um das Tun und Lassen der RAF. Dazu gehört die Tatsache, dass wir nach all den Jahren noch immer nicht genau wissen, wie es möglich war, dass die Bewacher in Stammheim soviel grundlegende Fehler und Nachlässigkeiten begangen haben – wenn es denn welche waren. Und wissen wir inzwischen wirklich alles über die Unterstützung der RAF durch die ehemalige DDR? Über die Rolle des Bundesnachrichtendienstes? Die umfassende Geschichte der RAF und ihrer Rezeption kann demnach noch nicht geschrieben werden. Nach meinem Dafürhalten sollte sich der Zeitgeschichtler daher am besten auf die Forschung beschränken, oder vielmehr auf das Herausfinden

10 Als Buch herausgegeben unter dem Titel: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, Kiel 1986 (auf dem Schutzumschlag steht: „Stammheim. Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung“). 11 Zitiert nach Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe, München 1998, S. 378. 226

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der richtigen Fragestellungen. Im Besonderen gilt dies auch für jemanden wie mich. Trotzdem möchte ich die These aufstellen, dass die Aktionen der RAF und ihrer Anwälte nicht nur einen negativen Platz in den Geschichtsbüchern verdienen. Der „Deutsche Herbst“ kann auch als eine durch die RAF ermöglichte Katharsis gesehen werden, die es der deutschen Gesellschaft u. a. erlaubte, sich der in vielerlei Hinsicht unverarbeiteten Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges zu entledigen. Dieser Krieg, das Schweigen und die Leugnung deutscher Mitwirkung an seinen dunkelsten Kapiteln, lag in der Zeit des Wirtschaftswunders und noch lange danach wie ein düsterer Schleier über dem Land. In diesem Sinne hat die RAF bestimmt katalysierend gewirkt und so letztlich am Entstehen des Deutschlands, das wir heute kennen, mitgewirkt. Da nun die Fragen beantwortet sind, die ich mir selbst gestellt habe, will ich abschließend dem Problem nachgehen, welche Lehren aus der Art, wie wir Nicht-Kämpfenden damals mit der RAF umgegangen sind, zu ziehen sind. Vier Aspekte wären zu nennen – keine geringe Ausbeute, wobei die meisten nicht wirklich überraschend sind. 1. Lektion: Dass der Mensch ein Wolf ist, wussten wir bereits ebenso, wie dass auch völlig normale Menschen, wenn sie entsprechend konditioniert werden, ohne weiteres bereits sind zu quälen und foltern. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht absonderlich, dass auch Menschen, die sich von Natur und Erziehung aus als law abiding citizens betrachten, unter gewissen Umständen die Grenze zwischen Recht und Unrecht schneller überschreiten können, als man gemeinhin denkt – auch wohlmeinende Ärzte oder Juristen, von denen man dies auf den ersten Blick nicht erwarten würde. Für mich folgt daraus, dass man dafür sorgen muss, in schwierigen Zeiten über genug kritische Geister zu verfügen, die scharfsinnig und unbestechlich widersprechen. 2. Lektion: Wir haben gelernt, dass es in Zeiten von Terror, Gegenterror und Krieg für alle Betroffenen äußerst wichtig ist, so lang als eben möglich zwischen Dichtung und Wahrheit, Propaganda und Fakten unterscheiden zu können. Wenn sich der Pulverdampf einmal verzogen hat, stellt sich die Wirklichkeit, auch die politische Wirklichkeit immer viel komplizierter dar, als es uns die streitenden Parteien und ihre Wortführer vorgemacht haben. Dies gilt für neue Terrorismusvarianten – auch für den Terror islamistischer Fundammentalisten – ebenso wie für den Terrorismus der siebziger Jahre. 3. Lektion: Die Geschichte der RAF zeigt, dass öffentliche Meinungen, Gesetzgeber und Justizapparate, die sich von hochgeschaukelten Emotionen und Empörung mitreißen lassen, eher einen Beitrag zur Verlängerung des Ausnahmezustandes als zu seiner Beendigung liefern. Be227

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rufsverbote, Zwangsernährung und die Haftbedingungen in Stammheim haben rückblickend mehr geschadet als genutzt. Bei künftigen Fällen sollte stets bedacht werden, wie groß die massenpsychologischen Folgen von Terror und Kriegsführung sind. Beide, der Terrorist und der General, ähneln nämlich in gewisser Hinsicht Parasiten. Wo der Erste hervorragend vom Ausbeuten der Gräueltaten und der Angst davor lebt, ist es die Spezialität des Zweiten, den Krieg salonfähig zu machen. Auch er lebt vom Krieg. Gerade deshalb ist es die Aufgabe der Intelligenz und letztendlich vor allem der richterlichen Macht – als Repräsentant schlechthin der rechtstaatlichen Auffassung – Versuchen, den Rechtsschutz in Zeiten gesellschaftlicher Krisen zu unterwandern, entgegen zu treten, damit der Verstand das Wahre gegen Vorurteil, Gefühl oder Lust verteidigen kann. Etwas Besseres als den Rechtsstaatsgedanken haben wir nun einmal nicht, aber seine Schwächen werden nicht nur von den Revolutionären gnadenlos ausgenutzt. Aus diesem Grund beruht der Gedanke vom Rechtsstaat ja gerade auf dem Prinzip, dass das Recht unter allen Umständen über dem Willen zur Machtausübung stehen muss. Daraus folgt, dass Terrorismus nicht durch die Verschärfung von Gesetzgebung und härteren Strafen aus der Welt zu schaffen ist. Das galt auch für die RAF. 4. Lektion: Schlussendlich kann man aus der Geschichte der RAF lernen, dass Terrorismus, so wie Krieg und Fieber, eine vorbeigehende Erscheinung ist. Von den verschiedenen Kriegsformen, die wir kennen und unterscheiden ist einzig der Geschlechterstreit ewig – und der Klassenkampf natürlich. Aber dies sind ja nur Kriege im übertragenen Sinn. So ende ich doch nicht nur in Moll – was ich anfangs nicht gedacht hätte. Übersetzung aus dem Niederländischen: Joachim Umlauf

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Zu de n Autoren HANNO BALZ, geboren 1971, Promotion 2007 im Fach Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. Lehraufträge an den Universitäten Bremen, Lüneburg und Göttingen. WILLEM VAN BENNEKOM ist niederländischer Rechtsanwalt und Richter a. D. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2006 war er Vize-Präsident der Arrondissementsrechtsbank in Amsterdam. KLAUS-MICHAEL BOGDAL, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Vorsitzender des Beirats Germanistik im DAAD, opus-magnum-Förderung der Volkswagenstiftung für das Projekt „Europa erfindet die ‚Zigeuner‘. Eine Gesamtdarstellung der ‚Zigeuner‘ in der europäischen Literatur vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. MICHAEL BUBACK, Professor für Angewandte Physikalische Chemie an der Universität Göttingen. Er ist der Sohn des 1977 von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback. NICOLE COLIN, geboren 1966, Promotion 1993 im Fach Philosophie, Tätigkeit als Dramaturgin in Deutschland und Frankreich, DAAD-Lektorin an der Sorbonne Nouvelle in Paris, arbeitet seit 2006 an der Universität Bielefeld im DFG-Forschungsprojekt „Die Rezeption deutschsprachiger zeitgenössischer Theaterliteratur in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer“.

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DER „DEUTSCHE HERBST“

BEATRICE DE GRAAF, geboren 1976, Promotion 2004 im Fach Neueste Geschichte in Utrecht, Assistant Professor am Centre for Terrorism and Counterterrorism, Universität Leiden/Campus Den Haag. Letzte Publikation (gemeinsam mit Isabelle Duyvesteyn): Terroristen en hun bestrijders, vroeger en nu, Amsterdam 2007. BOB DE GRAAFF, geboren 1955, Promotion 1997 im Fach Zeitgeschichte, Professor für Terrorismusforschung an der Universität Leiden und Direktor des Centre for Terrorism and Counterterrorism; Professor an der Universität Utrecht mit dem Schwerpunkt Konfliktstudien. INGRID GILCHER-HOLTEY, Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld und Membre associé des Centre de sociologie européenne (MSHParis). 1999/2001 war sie Gastprofessorin am Institut d’Études Politiques in Paris (Chaire Alfred Grosser), 2008/09 ist sie Visiting Professor am St.Anthony’s College Oxford. ANGELIKA IBRÜGGER, geboren 1978, Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Bielefeld, Magisterarbeit über die Debatte um Heinrich Bölls Spiegel-Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“. Zurzeit arbeitet sie an ihrer Promotion zur Rolle Heinrich Bölls in der Terrorismusdiskussion der 1970er Jahre. MARTIN JANDER, geboren 1955, Historiker und Journalist, unterrichtet Deutsche Geschichte an der New York University (Berlin), der Stanford University (Berlin) und Geschichtsdidaktik an der Universität zu Köln. Eine Liste seiner Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen findet man unter: www.unwrapping-history.de. JOACHIM LAMPE ist Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof a. D. und war von 1975 bis 1983 als Staatsanwalt beim Generalbundesanwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe für die strafrechtliche Bekämpfung des Terrorismus der RAF zuständig. JANNEKE MARTENS, geboren 1979, Studium Neueste Geschichte an der Universiteit van Amsterdam, Arbeit als Dokumentarfilmerin, zurzeit am Institut für Journalistik an der Universität in Groningen beschäftigt.

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COLIN, DE GRAAF, PEKELDER, UMLAUF (HG.)

JACCO PEKELDER, geboren 1967, Promotion 1998 im Fach Geschichte, danach Forschungskoordinator am Duitsland Instituut der Universiteit van Amsterdam, lehrt Geschichte an der Universität Utrecht. Letzte Veröffentlichung: Sympathie voor de RAF. De Rote Armee Fraktion in Nederland, Amsterdam 2007. ROLF SACHSSE lehrt Designgeschichte und Designtheorie an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen im Bereich der Mediengeschichte, insbesondere Photographie und digitale Bildmedien, sowie in der Architektur- und Designtheorie. JOACHIM UMLAUF, geboren 1959, Promotion 1993 im Fach Romanistik, Hochschuldozent in Venedig und Paris (Sorbonne Nouvelle, Maison des Sciences de l’homme, Institut d’Etudes Politiques), Leiter des HeinrichHeine-Hauses (Paris), verschiedene Lehraufträge (Sorbonne Nouvelle, LMU München, Universiteit van Amsterdam), seit 2005 Leiter des Goethe-Institut Niederlande. KLAUS WEINHAUER, Historiker, zurzeit Professor für Sozial- und Kulturgeschichte an der Universität Lüneburg, Arbeitsgebiet: Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Forschungsschwerpunkte: Polizei, Jugenddelinquenz, politische Gewalt, Staatlichkeit und Industrielle Beziehungen.

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Histoire Rheinische Archivberatung – Landschaftsverband Rheinland, Fortbildungszentrum Brauweiler (Hg.) Eine Gesellschaft von Migranten Kleinräumige Wanderung und Integration von Textilarbeitern im belgisch-niederländischdeutschen Grenzraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts September 2008, 200 Seiten, kart., mit zahlr. Abb., 21,80 €, ISBN: 978-3-8376-1059-8

Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus September 2008, 352 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-955-8

Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst Nationale und internationale Perspektiven September 2008, 228 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-963-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de