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German Pages 243 [246] Year 2017
K ultur Anamnesen
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THOMAS MÜLLER (Hg.)
Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie Regionale, nationale und internationale Perspektiven
Wissenschaftsforschung Franz Steiner Verlag
Geschichte und Philosophie der Medizin und Naturwissenschaften
Thomas Müller (Hg.) Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie
K ultur A namnesen Schriften zur Geschichte und Philosophie der Medizin und der Naturwissenschaften Herausgegeben von Heiner Fangerau, Renate Breuninger und Igor Polianski Band 9
THOMAS MÜLLER (HG.)
Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie Regionale, nationale und internationale Perspektiven
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildungen: Reihenlogo: Walter Draesner, „Der Tod und der Anatom“, Graphiksammlung „Mensch und Tod“ der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Abbildung: Landesarchiv Baden-Württemberg. Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Karte N 110 W3. Handkarte Württemberg (i.e. Handkarte von Württemberg, Baden und Hohenzollern). Für den Schulgebrauch entworfen und gezeichnet von Tr. Fr. Streich, Ober-Inspektor der Kgl. Taubstummen-Anstalt zu Bönnigheim. 40. Auflage. Verlag von Adolf Lung in Stuttgart (o.J., ca. 1897).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10833-1 (Print) ISBN 978-3-515-11854-5 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung .................................................................................................................7 Sektion I: Zentren und Peripherien in der regionalen Geschichte der Psychiatrie. Der deutsche Südwesten Julia Grauer (Tübingen) Eine private Irrenpflegeanstalt in Württemberg, 1843–1891 .................................21 Uta Kanis-Seyfried (Ravensburg) Zum Verhältnis von Heimat und Ferne, Fremdem und Eigenem Aspekte zeitgeschichtlicher Wechselbeziehungen in der Württembergischen Anstaltszeitung „Schallwellen“, 1897–1936 .........................................................43 Livia Prüll (Mainz) Zentrum und Peripherie in der Badischen Psychiatrie Zur Geschichte der Kliniken in Freiburg und Emmendingen, ca. 1850 bis 1945 ...................................................................................................67 Sebastian Kessler (Ulm) Die Heil- und Pflegeanstalt Günzburg während der Großen Depression Psychiatrie und Stadt-Land-Beziehungen in Zeiten der sozioökonomischen Krise .......................................................................................85 Sektion II: Zentren und Peripherien in der regionalen Geschichte der Psychiatrie. Norddeutsche Perspektiven Heiner Fangerau (Düsseldorf) Scope for action at the psychiatric periphery around World War I A public sanatorium for ‘nervous diseases’ in the Province of Hanover ...............99 Monika Ankele (Hamburg und Wien) Eine Chronik der Linie Über die Annäherung von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Krankenanstalt Langenhorn bei Hamburg .....................................................113
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Inhaltsverzeichnis
Stefan Wulf (Hamburg und Berlin) Wahnsinn zwischen kolonialer Peripherie und europäischer Metropole Patienten aus den deutschen „Schutzgebieten“ Afrikas in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg, 1900–1915 ..................................131 Sektion III: Psychiatriegeschichte jenseits der Nation und des europäischen Kontinents Waltraud Ernst (Oxford/England) Centres and Peripheries in the Periphery Medicine and Psychiatry in British India, c. 1920–1940 .....................................155 Akira Hashimoto (Nagoya/Japan) Japanische Psychiater „zwischen“ den akademischen Zentren der Psychiatrie der westlichen Hemisphäre Uchimura Yushi (1897–1980) und seine Zeitgenossen........................................171 Akihito Suzuki (Yokohama/Japan) Psychiatric Surveys and Eugenics in the Family and Community in Japan, 1935–1945 .................................................................189 Sektion IV: Psychiatriegeschichte erforschen und erklären. Museologische Ansätze und Public History jenseits akademischer Printmedien Celia Di Pauli, Lisa Noggler, Eric Sidoroff (Innsbruck und Wien / Österreich) Die mitgenommene Geschichte oder Im Zentrum: die Peripherie Zur Rezeption der bilingualen Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und dem Trentino“.................205 Thomas Müller (Ravensburg) Zentrum und Peripherie aus der Perspektive medizinhistorischer Forschung Das Beispiel der Psychiatrie im Nationalsozialismus..........................................221 Kurzbiographien ..................................................................................................239
EINLEITUNG Thomas Müller Die Forschung zum Beziehungsgeflecht von Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Perspektive hat in den letzten Dekaden einen dramatischen und beeindruckenden Zuwachs erlebt. Beiträge zur Sozialgeschichte der Psychiatrie, zum epochengebundenen Umgang mit psychischer Erkrankung oder zur sogenannten Patientengeschichte lösten eine Ära der psychiatriehistorischen Forschung ab, deren Interesse deutlich auf die Geschichte der Anstalten und die dort ärztlich Tätigen sowie auf die Klassifikationssysteme psychischer und psychiatrischer Erkrankungen und Falldarstellungen sich entwickelnder oder konkurrierender therapeutischer Verfahren konzentriert war. Untersucht wurden seither und nun mit mehr Aufmerksamkeit die medizinischen Legitimationsstrategien der Psychiatrie, ebenso die Beziehungen zwischen medizinischen Akteuren und Patientinnen und Patienten einerseits, sowie deren Angehörigen und der Öffentlichkeit andererseits. Erst in jüngerer Zeit finden sich in der Geschichtsschreibung der Psychiatrie Fragestellungen, die sich in vergleichender Perspektive auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten von kulturgebundenen Konzepten und Ideologien, von zum Teil territorial fassbaren Identitäten und Praktiken – auch zwischen als ‚peripher‘ wahrgenommenen psychiatrischen Therapieeinrichtungen und solchen in den Zentren der Macht und des Wissens beziehen. Systematisch miteinander verglichen werden nun psychiatrische Konzepte in Regionen und Ländern, der Umgang mit psychischer Erkrankung im Stadt-LandVergleich oder transnationale Verflechtungen psychiatrischer Forschung. Der Blick richtet sich auf die Dynamiken zwischen Zentren und Peripherien – auch auf die Beziehungen zwischen den Wissenszentren der Psychiatrie, sowie auf transnationale Netzwerke der Akteure, auf deren wissenschaftliche Konzepte und ihre medizinischen und therapeutischen Funktionen, sowie auf andere Korrelate dieser Netzwerke, beispielsweise in Form wissenschaftlicher Fachzeitschriften. In der neueren Historiographie der Psychiatrie und nach den kulturellen Wenden in der Geschichtswissenschaft findet sich auch die Behandlung der vermeintlich „Irren“ und Armen in bisher weniger beachteten Teilen der Welt, sowie in bisher wenig beachteten Regionen oder Kontexten ansonsten gut untersuchter räumlicher oder politischer Einheiten berücksichtigt. Ein verfeinertes Instrumentarium des systematischen Vergleichs und seiner neueren Spielarten, bereichert durch Einbeziehung philologischer oder allgemeinhistorischer Ansätze und solcher der Postcolonial Studies, der Subaltern Studies oder der Science and Technology Studies sind in ihrer Anwendung auf die Geschichte der Psychiatrie und den Umgang mit psychischer Erkrankung – in größerer Häufigkeit – jedoch kaum jenseits der letzten Dekade auszumachen.
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Insbesondere der sogenannte spatial turn, die räumliche Wende in den Geschichtswissenschaften, hat maßgeblich zu innovativer Entwicklung in der Geschichtsschreibung der Psychiatrie beigetragen. Es wurde unter anderem auch hier offenkundig, dass ‚periphere‘ Einrichtungen, Konzepte und Strategien der Psychiatrie häufig weit weniger Aufmerksamkeit erhalten hatten, als diejenigen Entwicklungen, die in machtpolitisch, wissenschaftlich oder geographisch zentralen, häufig urbanen Zusammenhängen generiert worden waren. Auch wurden regional charakteristische Konzepte, Praktiken – ‚Spielarten der Psychiatrie‘ – häufig übersehen. Die vermeintliche Marginalität dieser regionalen Besonderheiten wurde nicht hinterfragt – sie wurde durch die fortdauernde Fokussierung auf die ‚Mitte‘, oder das ‚Zentrum‘ vielmehr verstärkt. Diese Engführung konnte durch veränderte und erweiterte Fragestellungen nun durchbrochen werden. Im Sinne des Themas der diesem Band vorausgehenden Tagung Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie. Die württembergische Psychiatrie im regionalen, interregionalen und internationalen Vergleich anlässlich der 200. Wiederkehr der Eröffnung der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt in Zwiefalten, die 2012 am Forschungsbereich für Geschichte und Ethik der Medizin in Ravensburg organisiert wurde, finden sich in diesem Band zwölf Beiträge der Zwiefalter Tagung mit dem Fokus auf regionale, nationale, internationale oder auch koloniale Aspekte der Psychiatrie zusammengeführt. Ebenfalls diskutiert werden globale versus lokale psychiatrische Praktiken, oder der Vergleich akademischer mit nicht-akademischer Psychiatrie in staatlicher oder nicht-staatlicher Verantwortlichkeit. Die Diskutierenden begaben sich während der diesem Band vorausgehenden Tagung damit mutig in ein nicht immer gefahrloses Feld, in dem die Ergebnisse von Beiträgen zur Regional- und Landesgeschichte der Psychiatrie mit denjenigen zur internationalen, außereuropäischen Geschichte der Psychiatrie oder ihrer kolonialen Geschichte zu verbinden waren, und in dem sich „bedenkenswerte methodisch-theoretische Probleme“ ergeben können (Johannes Paulmann, 2013). Auch der Einfluss medizinischer Laien auf psychiatrische Lebenswelten findet thematisch im hier vorliegenden Band Berücksichtigung. Nicht zuletzt sind museale Aufgaben psychiatriehistorisch Forschender sowie deren Lebenswirklichkeit selbst Gegenstand einzelner Kapitel dieses Bands. Für die wissenschaftliche Annäherung an das Forschungsthema Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie bot sich die Zwiefalter Klinik als geographischer Ort geradezu an: im Süden Württembergs, tief in der Provinz am Fuß der Rauen Alb und weitab großer Städte und Verbindungsstraßen gelegen, gehört die 1812 gegründete psychiatrische Anstalt Zwiefalten, die heute Standort einer Landespsychiatrie ist, neben Bayreuth und wenigen anderen, heute noch existenten Klinikstandorten zu den ältesten deutschen Einrichtungen der Psychiatrie in deutschen Ländern. Ihrem peripheren Standort zum Trotz war sie über zwei Jahrhunderte immer wieder auch Zentrum zeitgenössischer Interessenlagen, Politik und Entwicklung. Ihr Ruf begründete sich im 19. Jahrhundert vor allem auf die im südwestdeutschen Raum vergleichbar früh etablierten und zum Teil recht innovativen Konzepte der Therapie, Beschäftigung und Versorgung von psychisch kranken Patientinnen und Patienten. Im 20. Jahrhundert waren es die zentrale Bedeu-
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tung des Hauses als „Zwischenanstalt“ im Räderwerk der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Politik, die Beihilfe zur Ermordung sogenannter geisteskranker und behinderter Menschen in der nahe gelegenen Tötungsanstalt Grafeneck, und die gezielte Tötung von Patienten durch Medikamente oder Nahrungsentzug im Rahmen der dezentralen „Euthanasie“, die der bis in die 1920er Jahre andauernden, in vielerlei Hinsicht positiven Entwicklung einer sich zunehmend öffnenden Anstaltspsychiatrie auch im deutschen Südwesten, wie in Zwiefalten, ein vorläufiges Ende setzte. Die zentral in der Reichshauptstadt Berlin geplante „Euthanasie“ ließ die Planer dieses Krankenmords hierbei das auf der schwäbischen Alb gelegene Grafeneck wie auch das benachbarte Zwiefalten insbesondere aufgrund ihrer peripheren geographischen Lage auswählen. Weitreichende Reformen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, sowie eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung, teilweise im Klinikverbund mit psychiatrischen Kliniken in den benachbarten Städten Tübingen und Reutlingen machten den Klinikstandort Zwiefalten vor allem in den letzten 2–3 Jahrzehnten anschlussfähig an aktuelle Standards der psychiatrischen Diagnostik, Therapie und Versorgung. Im Fokus der Diskussion der diesem Band vorausgehenden Konferenz stand die Annäherung an das Thema Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie im interdisziplinären Dialog: die Beitragenden zur vorliegenden Publikation sind ‚beheimatet‘ in der Allgemeingeschichte, der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, den Empirischen Kulturwissenschaften, den Medienwissenschaften, der Museologie, der Kunst(-geschichte), der Architektur sowie der Anthropologie. In der ersten Sektion des vorliegenden Bandes finden sich vier Studien zur regionalen Geschichte der Psychiatrie im deutschen Südwesten – aus Baden, Württemberg sowie Bayrisch-Schwaben – versammelt: Julia Grauer untersucht die „Privatirrenpflegeanstalt“ der Wundärzte Irion und Koch im württembergischen Fellbach zwischen 1843–1891. Die Autorin bearbeitet insbesondere die personellen und institutionellen Verhältnisse in einer solchen Anstalt im Vergleich zu größeren und staatlichen Anstalten anhand vielfältiger Primärquellen aus staatlichen, kommunalen und privaten Archiven. Grauer stellte mit dem Fokus auf eine Privatirrenanstalt eine im Königreich Württemberg, aus der Perspektive staatlich-kommunal ausgerichteter Versorgung psychisch Kranker deutlich ‚periphere‘ Einrichtung der Versorgung ins Zentrum ihrer Betrachtung. Das Augenmerk Grauers zentriert sich hierbei auf Diagnostik und Therapie in der von ihr untersuchten Privatanstalt, in der vorwiegend als unheilbar beurteilte evangelische, zu kleinerem Teil auch jüdische Männer versorgt wurden. In der Psychiatriegeschichtsschreibung zu Württemberg stellt dies Neuland dar, denn im Unterschied beispielsweise zur britischen Medizinhistoriographie sind kleinere deutsche Privateinrichtungen der Versorgung psychisch Kranker in historischer Perspektive, insbesondere in dieser geographischen Region, noch immer weit weniger häufig untersucht. So existieren bisher vor allem Studien zur Geschichte staatlich gelenkter Psychiatrien, wie in Württemberg zu den ehemaligen Anstalten Winnenden oder Zwiefalten, auch zu den größeren privaten Anstalten zur Behandlung psychisch Kranker, wie dem südlich der Grenzen Württembergs gelegenen, ehemaligen Bellevue, einer Heilstätte der Familie Binswanger im schweizerischen Kreuzlingen am Bodensee gelegen. Im Rahmen von Grauers
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Beitrag werden die Biographien der beiden leitenden Wundärzte vorgestellt, sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten, denen sich private Einrichtungen dieser Art zu fügen hatten, dargestellt. Uta Kanis-Seyfried rückt in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band die württembergische Anstaltszeitung „Schallwellen“, die in den Jahren 1897 bis 1936 aus der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried heraus publiziert wurde, ins Zentrum ihrer Untersuchung. Anhand des in dieser Zeitung veröffentlichten Materials an Gedichten, Lebenserinnerungen, Kommentaren und Briefen wird zunächst die Vernetzung von Mikro- und Makrogeschichte, die Einbettung des Individuums und seiner Lebenswelt in systemisch konstruierte Wirklichkeitsbereiche von Politik, Institutionen und Marktwirtschaft, in zeitgenössische gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen dargestellt. Fokussiert auf das Thema dieser Buchpublikation zeigt Kanis-Seyfried, in welcher Hinsicht die Vorstellungen von „Zentrum“ und „Peripherie“ wandelbar waren, über die Zeit, und in welchem Maß sie in ihrer Gültigkeit validierbar waren oder sich an der jeweiligen historiographischen Perspektive ausrichteten. Die erstaunlich urbane Kultur im ländlichen Städtchen Schussenried, die unter anderem der Bildung der Patientinnen und Patienten aus den urbanen Zentren, sowie einer im Oberschwäbischen fast singulären „Anstaltskultur“ in Schussenried geschuldet waren, ist hier ein erster Aspekt, der in Kanis-Seyfrieds Studie überrascht. Die in der Druckerwerkstätte der „Schallwellen“ verarbeiteten Feldpostbriefe und Nachrufe Gefallener des Ersten Weltkriegs transportieren in nicht minder erhellender Art die Ereignisse der militärischen Zentren dieses vierjährigen Krieges zu einer Leserschaft ins ländliche Oberschwaben. Livia Prüll befasst sich in ihrem Beitrag mit der Psychiatriegeschichte Badens. Weisen die Vorstellungen erfolgversprechender Heilung psychischer Erkrankung in längerer Tradition auf eine Versorgung in ländlichen Regionen, einer Vorstellung, der insbesondere in Baden durch die Schriften und architektonischen Konzeptionen Rollers Vorschub geleistet wurde, so ergab sich durch Gründung psychiatrischer Kliniken an den Universitäten und nahe der urbanen Zentren in nachfolgender Zeit ein besonderes Spannungsverhältnis. Prüll zeigt am Beispiel der badischen Region Freiburg und ihrer beiden psychiatrischen Einrichtungen, dem psychiatrischen Krankenhaus Emmendingen und der Freiburger Universitätsklinik, dass die Zuschreibung von „Zentrum“ oder „Peripherie“ an unterschiedliche psychiatrische Konzepte geknüpft werden muss, in zu erwartender Weise also akteur-orientiert war, im Untersuchungszeitraum deutliche, phasenspezifische Veränderungen aufwies, hierbei jedoch auch überraschende Spielräume eröffnete. Prüll zeigt im Detail, wie die Gewichtung von „Zentrum“ und „Peripherie“ in Abhängigkeit vom politischen Kontext zwischen den verschiedenen Akteuren jeweils neu ausgelotet wurde. Auch in Bezug auf die Psychiatriegeschichtsschreibung jenseits der deutschen Grenzen trägt Prülls Position die interessante Beobachtung bei, dass die präsentierten Befunde zur Region Südbaden kein eindeutiges Bild einer universitätsund forschungsgeleiteten deutschen Psychiatrie vermitteln. Sebastian Kesslers Erkenntnisinteresse ist auf die Auswirkung von Stadt-LandBeziehungen auf psychiatrische Fallzahlen und Diagnosespektren in Zeiten von sozioökonomischen Krisen gerichtet. Die Beziehungen zwischen Zentrum und Peri-
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pherie erlangen dem Autor zufolge in Zeiten von sozioökonomischen Krisen einen Wandel wie auch einen Bedeutungszuwachs. Während davon ausgegangen wird, dass in prosperierenden Zeiten die ländliche Umgebung zugunsten und entlang der Interessen städtischer Zentren genutzt wird, ist in Zeitabschnitten wirtschaftlicher Krisen ein Rückzug auf rural geprägte Gebiete festzustellen. Die ländliche Umgebung verspricht nun die gesicherte Versorgung mit wichtigen Gütern, aber auch die Gewährleistung der hier im Vordergrund stehenden Betreuung und Pflege von (psychisch) Kranken durch ihre Angehörigen. In seinem historisch-epidemiologischen Beitrag vertritt Kessler demzufolge die These, dass die Fallzahl von psychiatrischen Patienten im ländlichen Gebiet im Verlauf von sozioökonomischen Krisen ansteige sowie Diagnosen solcher psychischen Erkrankungen, die im Zusammenhang mit Armut und sozialer Ungleichheit stehen, anteilig zunähmen. Zum Beleg dieser These wurden die Standlisten der in Günzburg, im bayrischen Schwaben gelegenen psychiatrischen Klinik während der ersten Weltwirtschaftskrise von 1929 (Untersuchungszeitraum 1929–1931) ausgewertet. In der zweiten Sektion des vorliegenden Bandes wird der geographische Fokus anhand dreier Beiträge aus anderen, vorwiegend nördlichen Regionen Deutschlands in nationaler Kategorie geweitet. Zeitlich liegt ein Schwerpunkt dieser Sektion auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie dem frühen 20. Jahrhundert. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Ländern eine große Zahl von psychiatrischen Krankenanstalten, die so genannten Heil- und Pflegeanstalten, gegründet. Um 1900 bereits regte sich jedoch vielfältige Kritik an diesen Einrichtungen. So wurde etwa in Frage gestellt, ob die großen Häuser, die auf die Behandlung und Verwahrung einer Vielzahl von Patienten ausgerichtet waren, auch dazu geeignet seien, als „leicht“ klassifizierte Störungen oder angenommene Vorstufen von psychischen Erkrankungen, wie die so genannte Neurasthenie, zu behandeln. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war gerade die Neurasthenie oder Nervenschwäche zu einer in zeitgenössischer Wahrnehmung weit verbreiteten Erkrankung geworden. Unter diesen beiden Begriffen wurde ein Symptomenkomplex zusammengefasst, der von reizbarer Schwäche und Müdigkeit bis hin zu Appetitlosigkeit und Erregbarkeit reichte. Es wurde angenommen, dass dieses Leiden, das epidemie-artig vor allem in den Städten um sich griff, eine Reaktion auf die mit der Moderne einhergehende soziale Beschleunigung sei. Als Folge entwickelte sich in der funktionellen Peripherie der Heil- und Pflegeanstalten eine weitere Infrastruktur von Sanatorien und Kurkliniken, die sich auf die Behandlung der Neurasthenie spezialisierten. Heiner Fangerau untersucht in seinem Beitrag dieses sich ausbreitende Krankheitsbild der sogenannten Neurasthenie sowie die konstitutionellen Versuche, diese psychische Störung außerhalb der etablierten Heil- und Pflegeanstalten – aus Sicht der dominierenden staatlichen Psychiatrie quasi an deren Peripherie – in privaten Sanatorien und Spas, zu behandeln. Da sich diese Einrichtungen vor allem an Privatzahler aus besseren Kreisen richteten, wurden ab etwa 1900 auch Forderungen nach der Schaffung derartiger Kliniken für die „unteren Schichten“ laut. Es wurde befürchtet, dass unbehandelte Nervosität in schwerere psychische Erkrankungen übergehen könnte, weshalb die Befürworter von so genannten Volksnervenheilstät-
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ten argumentierten, dass es günstiger sei, diese Volksnervenheilstätten auf staatliche Kosten einzurichten, als die Folgen vermehrter Arbeitsunfähigkeit und psychischer Krankheit tragen zu müssen: ein interessantes Fallbeispiel für die Propagierung von Veränderungen im Gesundheitssystem aus nicht-medizinischen Gründen. Im Beitrag Fangeraus wird die Entwicklung der Volksnervenheilstättenbewegung zwischen 1900 und 1920 rekonstruiert und der Versuch analysiert, mit dieser Bewegung eine zweite, deutlich periphere Versorgungsinfrastruktur neben den gut etablierten Heil- und Pflegeanstalten zur Behandlung psychischer Störungen zu errichten. Es wird zum einen geschildert, wie diese „Peripherie“ sich während und nach ihrer Gründungsphase legitimierte. Zum anderen wird untersucht, wie es in der geographischen Peripherie gelang, an Krankheits- und Therapiekonzepten der Neurasthenie festzuhalten, als diese vor dem Hintergrund der Debatte des Ersten Weltkriegs um Simulation und Kriegszittern obsolet geworden waren. Am Beispiel der ersten staatlich finanzierten Volksnervenheilstätte Rasemühle bei Göttingen zeigt der Autor, welche Handlungsperspektiven die periphere Lage in Krisenzeiten eröffnete, die interessanterweise in den Zentren des Geschehens nicht gegeben waren. Die Orientierung der Akteure dieser Volksnervenheilstätte wies hier in Bezug auf urbane psychiatrische Zentren der Region, wie Göttingen, gar zentrifugale Züge auf, mit dem Ziel einer Entkopplung von diesen Zentren. Monika Ankele geht in ihrem Kapitel der Frage nach, inwieweit bei der Planung und Errichtung einer psychiatrischen Anstalt auch verkehrstechnische Überlegungen mit einbezogen wurden und welche Argumente bezüglich der Anbindung einer Krankenanstalt an ein städtisches Zentrum wie auch an umliegende Gemeinden in der räumlichen Peripherie vorgebracht wurden. Der These der Autorin zufolge erscheint produktiv, die Zunahme an Neugründungen psychiatrischer Anstalten, wie sie sich zwischen 1870 und 1910 nicht allein im deutschen Raum vollzogen, mit der parallel verlaufenden Entwicklung der Modernisierung von Verkehrsmitteln und Verkehrswegen zu verknüpfen, sowie die Schnittstellen dieser beiden Entwicklungen zu untersuchen und zu beleuchten. Dieser Perspektive folgend den Fokus auf Bewegungen – jedweder Art – zu legen, die sich zwischen Peripherie und Zentrum – und hier insbesondere zwischen Anstalt und Stadt – vollzogen, bedeutet Ankele zufolge zugleich auch, psychiatrische Anstalten nicht als „Welten für sich“ zu denken. Auch psychiatrische Anstalten, hier untersucht am Beispiel der Krankenanstalt Langenhorn bei Hamburg, sind – im übertragenen, wie auch im wortwörtlichen Sinne – an die Außenwelt anzubinden. Ein weiterer Aspekt der Forschung Ankeles weist auf die sich verändernde Wahrnehmung der damaligen psychiatrischen Anstalten: Ursprünglich räumlich „peripher“ konzeptioniert und außerhalb der Metropole etabliert, auch infolge von Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen, gerieten diese Gebäudekomplexe zunehmend zu „zentrums“-nahen geographischen Orten. Die von Ankele zur Anwendung gebrachte Metapher der „Linie“ zwischen beiden örtlichen Punkten wurde, als solche, „kürzer“. Auf einen geographisch deutlich weiter entfernten Korrespondenzraum, als derjenige, den Ankele für die Hamburger Anstalt Langenhorn in ihre Studie integrierte, bezieht sich der Beitrag von Stefan Wulf, dessen Untersuchung auf den historischen Krankenakten-Bestand der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg fokussiert ist, in
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dem 32 Behandlungen überliefert sind, bei denen die Patienten unmittelbar vor Aufnahme in die Hamburger Anstalt aus den afrikanischen Kolonialgebieten ins Deutsche Reich zurückgekehrt waren. Dies betraf unter anderem Offiziere und Soldaten, Kolonialbeamte oder Plantagenverwalter. Die meisten der Akten zu diesen Afrika-Rückkehrern enthalten neben den Einträgen und Gutachten der Hamburger Ärzte auch die von deutschen Stabsärzten in Afrika verfassten Krankengeschichten, sowie in einigen Fällen auch schiffsärztliche Berichte. Dies macht es möglich, Wahrnehmung, Deutung und medizinische Behandlung, auch die Verhandlung des Wahns auf drei topographischen Ebenen zu fassen: Zum Ersten in der Kolonie, zum Zweiten in der Hamburger Anstalt sowie drittens während der Schiffs-Passage als einer spezifischen Schwellenphase zwischen – in der Perspektive der Zeitgenossen – kolonialer „Peripherie“ und europäischer Kolonial-Metropole als „Zentrum“. Durch den Vergleich dieser Quellen verschiedener Provenienz wird, wie Wulf zeigt, ein „Changieren“ des Wahns im Kontext stark differenter Räume, natürlicher und sozialer Bedingungen sowie unterschiedlicher medizinisch-administrativer Ordnungen und psychiatrischer Klassifikationssysteme in Afrika und Hamburg sichtbar und greifbar. Eine oft wochenlange Schiffspassage als eigener Zeitraum und dritter Ort zwischen der als Peripherie bezeichneten Kolonie und dem als Zentrum bezeichneten Mutterland erweitert die Möglichkeiten der historiographischen Interpretation und ergänzt den systematischen Vergleich zweier geographisch-kultureller Felder damit um ein tertium comparationis. Die im Vergleich zu anderen Kolonialmächten divergierende Situation des Deutschen Reichs ‚nach Versailles‘ wird in den Forschungen Wulfs im übergeordneten Projekt ebenso erkennbar, wie die Hintergründe der Gründung von Tropeninstituten im deutschen Mutterland, dem Beginn der Versuche mit künstlicher Malariainfektion sowie die hierdurch provozierten, nachfolgenden öffentlichen Skandale. Aus dem Spannungsverhältnis von kolonialer Peripherie und europäischem Zentrum resultiert Wulf zufolge eine erhebliche Unschärfe und Unbestimmtheit der spezifischen Formation des Wahns von Europäern, die in Afrika psychisch erkrankten. Der dritte Abschnitt des vorliegenden Bands fokussiert auf die Psychiatriegeschichte jenseits nationaler Perspektiven. Hier geraten vordringlich historische Akteure aus dem asiatischen Kontinent in den Blickwinkel, deren Beziehungen zu europäischen und anderen westlichen Zentren der Wissenschaft jedoch wiederum untersucht werden, und derart Berücksichtigung finden. Wie sehr solche Weltbeziehungen sogenannter Welt-Läufer landestypischen, territorial stereotypen Haltungen und Praktiken entgegen laufen können, macht diese Sektion des vorliegenden Bands besonders deutlich. Waltraud Ernst ermöglicht mit ihrem Beitrag einen historisch vergleichenden Blick auf das Vereinigte Königreich und seinen indischen Kolonialraum. Dem Beitrag zum vorliegenden Band ist inzwischen eine Monographie der Autorin nachgefolgt. Ernst hinterfragt das historiographische Konzept der „Kolonialmedizin“ am Beispiel Britisch-Indiens und belegt, hinsichtlich welcher Aspekte dieses Konzept sich als zu statisch erweist, um reale historische Beziehungen und Situationen abzubilden. Insbesondere das Konzept vermeintlicher Zentren und korrespondierender Peripherien wird von Ernst infrage gestellt. Sie beleuchtet die Grenzen dieser Di-
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chotomie an zeitgenössischen medizinischen Debatten in Britisch-Indien und kann ihre Hypothesen unter anderem an dem interessanten Beispiel des indischen, im „Westen“ ausgebildeten und eklektisch arbeitenden Arztes J. E. Dhunjibhoy (1889– 1972) prüfen. Dieser Akteur hatte leitende Funktionen im Indian Medical Service erlangt; seine kosmopolitische Haltung ließ diesen reisenden Arzt sich – jenseits der naheliegenden Beziehungen zu England – jedoch an den USA als zeitgenössischem Zentrum medizinischer Entwicklung orientieren. Solcherlei Entscheidungen waren, wie Ernst zeigt, nur einer von vielen Aspekten der nachweislich de-stabilisierenden Wirkung, die die Aktivitäten medizinischer Vertreter wie Dhunjibhoy auf die britische Vorherrschaft in der Region hatten. Akira Hashimoto macht in seinem Beitrag die engen Beziehungen deutscher und japanischer Akteure der Psychiatrie zum Gegenstand der Untersuchung. Hashimoto fokussiert auf jene, bisher wenig bearbeitete Phase der Psychiatrie Japans, die bereits von einer beginnenden Ablösung der japanischen Psychiatrie von der deutschen Academia als einem der zentralen Referenzpunkte westlicher Psychiatrieentwicklung, und eine Hinwendung zur nordamerikanischen Medizin geprägt war. Hashimoto bezieht sich dabei mit der Wahl seines Untersuchungsgegenstands und im Sinne einer Kontrastierung auf jene informelle Gruppe japanischer Ärzte, die an deutschen Konzepten, Lehren, und an der Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen festhielten. Diese Ärzte lehnten die sprachliche, kulturelle und wissenschaftliche Umorientierung Japans von der bisher einflussreichen deutschen Kultur der Medizin hin zu einer Orientierung vorwiegend an US-amerikanischer Medizin ab. Vor allem der von Hashimoto ausführlich porträtierte Uchimura Yûshi, der von 1923 bis 1925 in München studierte und 1936 zum ordentlichen Psychiatrieprofessor der Universität Tokio ernannt wurde, erwies sich auch nach akademischer Umorientierung der überwiegenden Mehrheit japanischer Vertreter der Psychiatrie hin zum Angelsächsischen weiterhin als einer der führenden Vertreter von Positionen der deutschen Psychiatrie, insbesondere denjenigen Emil Kraepelins und Ernst Kretschmers, in Japan. In der Entwicklungsdynamik der japanischen Psychiatrie seit den 1930er Jahren und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr diese Haltung eine aus nationaler japanischer Sicht deutliche Peripherisierung. Der Befund, dass Uchimura Yûshis Forschungen hingegen zugleich deutliche Spuren in den ehemaligen japanischen Kolonien hinterließen, wie beispielsweise in Taiwan, von wo aus wissenschaftliche Transferbeziehungen wiederum in die USA geknüpft wurden, ist ein weiterer Gewinn der Studie Hashimotos. Akihito Suzuki porträtiert und analysiert in seinem Beitrag die Entwicklung japanischer psychiatrischer Forschung und das Erschließen neuer Zusammenhänge und Problemstellungen der Akteure derselben, die schließlich in den 1950er Jahren in Theorie, politischen Entscheidungen sowie im wissenschaftlichen Diskurs ihren Niederschlag fanden. Ausgangspunkt war die in den 1930er und frühen 1940er Jahren begonnene Untersuchung von Geisteskrankheiten in vor-definierten ‚Gruppen‘ (Kriminelle, Prostituierte und geistig behinderte Kinder) sowie die psychiatrische Untersuchung von Kranken in geographischen Randgebieten, wie etwa auf kleineren Inseln oder in abgelegenen Dörfern Japans. In diesem Zusammenhang wiederum machte besonders der bereits von Hashimoto im vorausgehenden Beitrag
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hervorgehobene, international vernetzte Psychiater Uchimura Yûshi von sich reden. In seine Forschungskonzeptionen zum Verständnis sogenannter Geisteskrankheiten der Ethnie der Ainu aus dem Jahr 1938 sowie der psychisch Kranken der Inseln Hachijô und Miyake, um 1940, flossen auch evolutionstheoretische sowie vor allem eugenische Ideen und Vorstellungen ein, die in der deutschen Psychiatrie bereits zum Repertoire gehörten. Entlang der deutlich geringeren Bedeutung von Krankenhausstrukturen in der japanischen Psychiatrie, zeigt Suzuki, dass die japanische Debatte und Umsetzung eugenischer Entscheidungen in den Familien, der Verwandtschaft und jedenfalls gemeindenah stattfand. Neben einer deutlichen Anlehnung an die Positionen der deutschen Psychiatrie der Zeit sind also auch folgenreiche Unterschiede zwischen deutscher und japanischer Entwicklung in der Psychiatrie zu verzeichnen. Suzuki kann zeigen, in welchem Maß die Entwicklung und Konzeptionierung der japanischen Psychiatrie im Untersuchungszeitraum von der Idee, von der Umsetzung und den Ergebnissen der „psychiatric surveys“ peripherer Gesellschaften, peripher-geographischer Räume und marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen einer imperial agierenden japanischen Psychiatrie geprägt waren, deren Einfluss, neben Taiwan, auch in Korea, der Mandschurei und vielen geographisch-peripheren Gebieten Japans selbst festgestellt werden kann, die von ethnischen Minderheiten besiedelt waren. Als stärkster Einfluss der im internationalen Vergleich lange Zeit prominenten deutschen Psychiatrie in Japan ist Suzuki zufolge die Anlehnung an die Idee eines standardisierten diagnostischen Systems zu bezeichnen. Die vierte und letzte Sektion des vorliegenden Sammelbands ist den Möglichkeiten der Museologie und Public History im Bereich der Psychiatriegeschichte einerseits, sowie lebensweltlichen Aspekten der in der geographischen Peripherie der Medizingeschichte Forschenden andererseits verpflichtet. Wie kann die Geschichte der Psychiatrie in Museen präsentiert werden, welche Möglichkeiten bieten Wanderausstellungen und wie kann zu solchen Zwecken interregional oder international kooperiert werden? Am Tagungsort der diesem Band vorausgehenden Tagung waren in 2012 über viele Monate zwei Wanderausstellungen zu sehen: eine österreichisch-italienische Kooperation zur Geschichte der Psychiatrie im geographisch-kulturellen Raum des historischen Tirol, sowie eine Ausstellung zur Geschichte der zentralen „Euthanasie“ im südwestdeutschen Raum, zu deren Entstehung das Personal einer regionalen Gedenkstätte, gemeinsam mit dem Personal einer medizinhistorischen Forschungsgruppe beigetragen hatten. Die erstgenannte Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie im Kulturraum des historischen Tirol wurde im Rahmen der diesem Band vorausgehenden Tagung eröffnet. War der Ausstellungsort als historischer Ort psychiatrischer Praxis zwar in mehrerlei Hinsicht Inhalt der Ausstellung selbst, so stellte die Präsentation dieser österreichisch-italienischen Koproduktion in Deutschland jedoch eine Ausnahme dar. In Bezug auf das projektierte Zielpublikum dieser Ausstellung waren deutsche Präsentationsorte peripher, doch ermöglichte die sechsmonatige Präsentation der Ausstellung in Zwiefalten, dass der Aufbau der Ausstellung, ihre Didaktik und inhaltlichen Schwerpunkte derart zum Diskussionsgegenstand der Tagung selbst werden konnten. Die verantwortliche, an der Universität Innsbruck (Österreich) sowie
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dem Landesarchiv Bozen (Italien) angesiedelte wissenschaftliche Arbeitsgruppe dieses Interreg IV-Projekts der Europäischen Union mit dem Ziel der Erforschung und Präsentation der Geschichte der psychiatrischen Landschaft des historischen Tirol, namentlich Elisabeth Dietrich-Daum, Maria Heidegger, Lisa Noggler-Gürtler, Celia Di Pauli, Eric Sidoroff (nicht anwesend waren die Beteiligten: Siglinde Clementi, Hermann J. W. Kuprian und Michaela Ralser) stellten die deutsch-italienische Ausstellung mit dem Titel „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und im Trentino“ den Tagungsteilnehmern sowie dem Publikum einer öffentlichen Veranstaltung vor. Im vorliegenden Band stellen aus dem Kreis der Mitglieder dieser Arbeitsgruppe Celia Di Pauli, Lisa Noggler-Gürtler und Eric Sidoroff die Entstehung und Entwicklung dieses Kooperationsprojekts dar, erläutern die Auswahl der historische Gegenstände und Quellen und legen dabei die museumspädagogischen und museumsdidaktischen, an der Patientengeschichte orientierten Überlegungen und Konzeptionen offen, die zum Design dieser Wanderausstellung geführt haben. Die allein mit kunstvoll und kreativ konstruierten Möbeln und biographischen „Fallgeschichten“ arbeitende Ausstellung widmet sich dem Schicksal von 31 exemplarisch ausgewählten Patientinnen und Patienten der Psychiatrie, die im historischen Raum Tirol über 150 Jahre zwischen 1830 und den für den Wandel der italienischen Psychiatrie bedeutenden 1970er Jahren behandelt wurden – unter anderem in den Anstalten Hall in Tirol, der Universitätsklinik Innsbruck sowie der psychiatrischen Anstalt Pergine bei Trient, einem im Sinne der Matrix psychiatrischer Versorgungstrukturen interessanten Sample an vermeintlich peripheren oder zentralen Orten. Zu Ausstellungsort und Ausstellungsinhalt: Eine der in dieser Ausstellung inszenierten „Fallgeschichten“ verweist direkt auf den Tagungsort Zwiefalten. Es ist dies die psychiatrische Fallgeschichte einer ehemaligen Zwiefalter Bürgerin, deren Biographie sie nach Norditalien führte, wo sie psychisch erkrankte. Ein zweiter Aspekt, der den Inhalt der Ausstellung zur Psychiatriegeschichte Tirols direkt mit dem Tagungsort der diesem Band vorausgehenden Tagung verbindet, stellen die in der Ausstellung selbst thematisierten Folgen des deutsch-italienischen Optionsabkommens zwischen Hitler und Mussolini im Bereich des Gesundheitswesens dar, die ab 1940 konkret auch die Psychiatrie Württembergs berührten und im abschließenden Kapitel dieses Bands – skizziert – zur Darstellung gelangen. Auf ihrer Wanderschaft in drei Ländern wurde die beschriebene Ausstellung an Orten präsentiert, die im Sinn ihres psychiatriehistorischen Inhalts zuteilen periphere, wie auch zentrale Positionen und Funktionen im jeweiligen nationalen psychiatrischen Kontext einnahmen, und sich in der Ausstellung selbst inhaltlich wiedergespiegelt finden. Die oben erwähnten, beiden Ausstellungsprojekte, deren Ergebnisse und Produkte in die Diskussion der diesem Band vorausgehenden Tagung einfließen konnten, werden im Beitrag von Thomas Müller exemplarisch herangezogen, um an ihnen Möglichkeiten einer Public Medical History wie auch lebensweltliche Aspekte medizin- und psychiatriehistorischen Arbeitens zu diskutieren. Müller veranschaulicht im abschließenden Kapitel dieses Bands den Einfluss und die Bedeutung des – infrastrukturell und wissenschaftlich peripheren oder zentralen – Orts und der Umgebungsbedingungen der historischen Forschung auf diese Forschung selbst. Fragen
Einleitung
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von Museologie und Public History werden vom Autor an Forschungsaspekten zur Thematik der Psychiatrie im Nationalsozialismus, insbesondere zur südwestdeutschen Psychiatrie im Nationalsozialismus, zu Vorbedingungen dieser Entwicklung und ihren wesentlichen Entwicklungsschritten sowie Konsequenzen illustriert. Wie beiläufig werden dabei Charakteristika, Begrenzungen und Möglichkeiten psychiatriehistorischen Arbeitens an einem Ort der nationalen geographischen Peripherie beschrieben.
SEKTION I: ZENTREN UND PERIPHERIEN IN DER REGIONALEN GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE. DER DEUTSCHE SÜDWESTEN
EINE PRIVATE IRRENPFLEGEANSTALT IN WÜRTTEMBERG 1843 BIS 1891 Julia Grauer Die staatlicherseits etablierte Gesundheitsversorgung für psychisch Kranke ist Gegenstand mehrerer Kapitel des vorliegenden Buches, auch diejenige des Königreichs Württemberg. In Erweiterung dieser Einblicke in staatlich geleitete „Irrenpolitik“ behandelt der hier vorliegende Beitrag die Entwicklung einer privaten Gründung – hier einer sogenannten Irrenpfleganstalt. Die Anstalt wurde im württembergischen Fellbach gegründet, zwischen Waiblingen und Stuttgart, der Landeshauptstadt im deutschen Südwesten, gelegen. In Fellbach in der Hinteren Straße findet sich bis heute ein etwas zurückgesetztes Fachwerkhaus, unweit des Irionwegs. Inzwischen Stadtmuseum Fellbach, beherbergte das Gebäude im 19. Jahrhundert zwei Wundarztfamilien und ihre private Irrenpflegeanstalt. Eingerichtet wurde die Anstalt im Jahre 1843 von Johannes Irion. Er führte sie, bis ihn 1871 die Folgen eines Schlaganfalls dazu zwangen, seine Tätigkeit als Wundarzt und Leiter der Anstalt aufzugeben. Er verkaufte sein Anwesen an seinen Kollegen Heinrich Koch. Dieser führte die Irrenpflegeanstalt bis zu seinem Tode im Jahre 1891 fort. Natürlich wurde ein Unternehmen wie dieses von offizieller Seite überwacht. In regelmäßigen Abständen besuchte ein Visitator Fellbach, der seine Eindrücke schriftlich festhielt. Diese Berichte und weitere Dokumente sind im Staatsarchiv Ludwigsburg archiviert. Die Überwachung setzte allerdings erst 1855 ein. Leider ist aus den Jahren 1862 und 1865 bis 1870 Aktenmaterial nicht erhalten. Auch über die Kranken, die in Fellbach untergebracht waren, ist Wissen überliefert. Ein Teil der 39 namentlich bekannten Patienten war zuvor in anderen Anstalten. Aus dieser Zeit sind einige Krankenakten erhalten. Im Rahmen der Neugestaltung des Stadtmuseums Fellbach stieß Dr. Ralf Beckmann auf Materialien zu diesen beiden Wundärzten. Da regional bisher nur staatliche Anstalten, wie Zwiefalten,1 und große Privatanstalten, wie Binswangers Bellevue2 historiographisch genauer untersucht wurden, drängte sich ein Forschungsprojekt hierzu geradezu auf.3 Das oben genannte Quellenmaterial eignete sich, ein Bild einer kleinen, privaten Irrenpflegeanstalt und der dort untergebrachten Kranken entstehen zu lassen. Dieser Aufsatz bündelt die wichtigsten Stränge des Forschungsprojekts, zu dem eine Monographie vorliegt. 1 2 3
Roth (1999). Moses und Hirschmüller (2004). Elektronische Publikation, Grauer (2012). Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Albrecht Hirschmüller für die Überlassung des Themas und die exzellente Betreuung.
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PSYCHIATRIE IM 19. JAHRHUNDERT Maßgebliche Rahmenbedingungen der dargestellten Anstalt im württembergischen Fellbach waren die Organisation der Psychiatrie sowie die Struktur des Medizinalwesens im Württemberg des 19. Jahrhunderts. Die Psychiatrie entwickelte sich, wie bekannt, erst, beginnend mit dem 18. Jahrhundert und unter dem Einfluss der Ideen der Aufklärung zu einer eigenständigen Disziplin der Medizin.4 Der Begriff Psychiatrie entstand später aus dem von Reil5 1808 geprägten Begriff „Psychiaterie“.6 Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Irren7, wenn sie nicht von ihren Familien versorgt werden konnten, in reinen Verwahranstalten untergebracht, die in Deutschland oft eine Kombination von Zucht- und Irrenhaus waren.8 Erst als sich Ende des 18. Jahrhunderts die Vorstellung durchsetzte, dass auch Irresein heilbar ist, wurden Heil- und Pflegeanstalten mit kurativer Absicht eingerichtet.9 In Württemberg wurde 1746 das Tollhaus in Ludwigsburg eröffnet, in dem 12 bis 46 Kranke aufgenommen werden konnten.10 Im Jahre 1812 wurde jenes Tollhaus in das ehemalige Benediktinerkloster Zwiefalten verlegt, das Platz für wesentlich mehr Patienten bot.11 Schon nach kurzer Zeit wurde allerdings deutlich, dass die Aufnahmekapazität auch hier im Vergleich zum Bedarf viel zu gering war. Die Zahl der Kranken war schnell auf über 80 gestiegen. So wurde 1834 Winnenthal12 mit zunächst 100 Plätzen in Winnenden nahe Stuttgart eingerichtet. Mit Eröffnung dieser zweiten staatlichen Anstalt wurde Zwiefalten von einer Heilanstalt zu einer reinen Pfleganstalt umfunktioniert, in der diejenigen Kranken untergebracht wurden, bei denen man nicht mehr auf Heilung hoffte.13 Im Jahre 1875 folgte die Eröffnung der Anstalt Schussenried, konzipiert für 300 Kranke, als dritte staatliche An-
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Da eine umfassende Darstellung der Geschichte der Psychiatrie den Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten würde, verweist die Verfasserin auf Werke zu diesem Thema: Shorter (2003), Blasius (1994), Hirschmüller (1991), Blasius (1986), Ackerknecht (1985), Thom (1983), Ellenberger (1970), Leibbrand und Wettley (1961). Johann Christian Reil (1759–1813), Ordinarius für Medizin in Halle. Mechler (1963), S. 405 f. Begriffe wie Irrer oder Geisteskranker entsprechen dem damaligen Sprachgebrauch und finden deshalb Verwendung in dieser Arbeit. Sie mögen dem Leser als nicht politisch korrekt erscheinen, sind jedoch in keiner Weise diskriminierend gemeint. Vgl. Blasius (1980). Vgl. Ackerknecht (1992), S. 18. Vergleiche Hähner-Rombach (1995), S. 13 f. Vgl. Müller, Reichelt und Kanis-Seyfried (2012), S. 9–56. Vor 1904 war die Schreibweise „Winnenthal“ gebräuchlich. Zu den staatlichen Anstalten Württembergs: zu Winnental vgl. Roth (1999), zu Zwiefalten vgl. Hähner-Rombach (1995).
Eine private Irrenpflegeanstalt in Württemberg 1843 bis 1891
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stalt, da es noch immer nicht genug Unterbringungsplätze gab.14 Gegen Ende des Jahrhunderts eröffneten die Kliniken in Weissenau bei Ravensburg und Tübingen.15 Schon beim Einrichten der Anstalten mussten gewisse Grundsätze im Hinblick auf deren spätere Nutzung beachtet werden. Zum Beispiel sollten – manchen, nicht allen Akteuren zufolge – die Kranken Kontakt zur Normalbevölkerung haben, weshalb eine Anstalt nicht zu abgelegen sein durfte. Natürlich musste in den Anstalten unter architektonischen Standpunkten Geschlechtertrennung möglich sein; auch sollten heilbare und unheilbare Irre nicht zusammen untergebracht werden. Neben den drei genannten großen staatlichen Irrenanstalten gab es noch eine Reihe größerer und kleinerer privat geführter Anstalten. Zwar fanden in ihnen vor allem zahlungskräftige Kranke Aufnahme, doch gab es Verträge zwischen dem Staat und den Betreibern dieser Anstalten, durch die auch „Staatspfleglinge“ zu einem geringeren Verpflegungssatz aufgenommen wurden.16 Die bedeutendste Privatanstalt jener Epoche ist Binswangers17 Psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee.18 In Württemberg gab es das „Christophsbad“ in Göppingen19, die Flamm’sche Anstalt in Pfullingen, eine Anstalt der Barmherzigen Schwestern in Gmünd und Stimmels „Kennenburg“ in Esslingen. Allerdings gibt es keine vollständige Zusammenstellung aller privaten Einrichtungen zur Versorgung von Geisteskranken. Vor allem über die sehr kleinen Anstalten, die oft schon nach kurzer Zeit wieder geschlossen wurden, ist kaum etwas überliefert. Neben der Unterbringung der Geisteskranken in staatlichen wie privaten Anstalten gab es noch eine andere Art der Versorgung, die sogenannte Familienpflege. Dieses Modell stammt aus dem belgischen Gheel, einem Wallfahrtsort für Geisteskranke, wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts an die 1000 Kranke als „Pfleglinge“ gegen Bezahlung in ausgewählten Familien untergebracht waren.20 WUNDÄRZTE UND MEDIZINISCHE VERSORGUNG Anders als heute wurden medizinische Dienstleistungen teils von handwerklich ausgebildeten Wundärzten, teils von studierten Ärzten geleistet. Die Verteilung der Aufgaben wurde in der „Großen Kirchenordnung“ von 1559 geregelt. Die zweite 14
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May (1975). Zum Vergleich: Im Jahre 2006 hatten die psychiatrischen Einrichtungen Bad Schussenried, Calw, Emmendingen, Reichenau, Weinsberg, Weissenau, Wiesloch, Winnenden und Zwiefalten in Baden-Württemberg zusammen 5800 Betten und beschäftigten ca. 8300 Mitarbeiter. Setzt man dies in Relation zur Bevölkerung, so steht einer Bevölkerungszunahme um etwa den Faktor 3 eine Zunahme der Anstaltsplätze um den Faktor 12 gegenüber. Zur Weissenau vgl. Steinert (1985), zu Tübingen vgl. Pilavas (1994). Vgl. Koch (1878). Ludwig Binswanger (1820–1880). Eine weitere Besonderheit ist, dass das „Bellevue“ im Vergleich zu anderen Privatanstalten überaus gut erforscht ist. Vgl. Moses und Hirschmüller (2004), Hirschmüller und Moses (2002). Vgl. Lang (2002), Müller, E.-M. (1984) und Landerer (1878). Vgl. Müller, T. (2004 a), Müller, T. (2004 b), Müller, T. (2004 c), Müller und Beddies (2004), Konrad und Schmidt-Michel (1993).
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Gruppe kümmerte sich um die inneren Krankheiten, während die Wundärzte sich mit den „äußeren“ Krankheiten befassten, also mit der Versorgung von Wunden und Geschwüren. Auch die Behandlung von Brüchen fiel in ihr Metier, und sie führten Amputationen durch. In der Anfangszeit war noch das „Barbieren“, also das Schneiden der Haupthaare und des Bartes, ein Teil ihres Aufgabengebietes. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts fielen diese Aufgaben jedoch dem Badergewerbe zu. Die Trennung von Leibmedizin und Chirurgie, die sich bereits in der Antike andeutete (vgl. das Chirurgieverbot im Hippokratischen Eid) wurde im Hochmittelalter vollständig vollzogen: Das Konzil von Tours 1163 verbot Ärzten, die zugleich dem geistlichen Stand angehörten, das Blutvergießen („ecclesia abhorret a sanguine“)21. Stattdessen wurden Gehilfen für handwerkliche Eingriffe ausgebildet. Später entwickelte sich aus ihnen eine eigenständige Berufsgruppe.22 Dabei betrachteten die Ärzte die Chirurgen, oder auch Wundärzte, jedoch nach wie vor nur als ihre Handlanger und wollten weiterhin bestimmen, wann und wie diese zum Einsatz kamen: „Der Chirurg im eigentlichen Sinne ist ganz im Dienste des Arztes, er verrichtet, was der Arzt anordnet.“23 In der württembergischen Medizinalstatistik wird ab 1859 zwischen Ärzten und Wundärzten unterschieden. Natürlich gab es die beiden getrennten Berufsgruppen schon vorher. Daneben existierten zahlreiche Laienheiler, die medizinische Dienstleistungen anboten. Hierzu gehörten „Homöopathie, Hypdropathie, magnetische und Gebetsheilung treibende Pfarrer und fromme Matronen […]“24. Ursprünglich behandelten Ärzte und Wundärzte ganz unterschiedliche Gesellschaftsgruppen; der Arbeitsmarkt war geteilt, die Konkurrenz gering. Die Gründe hierfür waren vielgestaltig. Die Landbevölkerung konnte oft die Preise für eine ärztliche Behandlung nicht aufbringen und die Ärztedichte auf dem Land war zu gering, um die medizinische Versorgung sicher zu stellen. Zudem bestand laut Drees eine beträchtliche soziale Barriere: „Neben diesen räumlichen und ökonomischen Hindernissen standen der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe auch der allgemein niedrige Bildungsstand der Bevölkerung, ihr Aberglaube und ihr Ressentiment gegenüber einem städtischen gebildeten Arzt entgegen.“25 Dass Wundärzte Aufgaben erledigten, für die sie eigentlich nicht legitimiert waren, war aus praktischen Gesichtspunkten an der Tagesordnung. Je nach Können und Befugnis waren Wundärzte in verschiedene Klassen, später Abteilungen eingeteilt. Durch Reformen und neue Gebührenordnungen zwischen 1830 und 1869 wurden sie degradiert und dadurch finanziell schlechter gestellt. Als Folge dieser Entwicklung stieg vom Beginn der 70er Jahre bis 1890 die Zahl derer, „die eine Zweitbeschäftigung ausübten, von 16 auf 25 Prozent“26. Ein Teil der Wundärzte wich auf die Homöopathie aus, da ab 1872 ho-
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Murken (1989/90), S. 31. Drees (1988), S. 47. Erhard (1800), S. 117. Hettich (1875), S. 31. Drees (1988), S. 49. Groß (1999), S. 127.
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möopathische Heilmittel auch ohne ärztliches Rezept abgegeben werden durften.27 Viele wurden auch fachfremd als Wirt, Gemeindebeamter oder Landwirt tätig.28 Ab den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts übernahmen akademisch gebildete Ärzte immer mehr Aufgaben, die vorher in die Zuständigkeit der Wundärzte gefallen waren. Dadurch nahm die Zahl der Ärzte sowohl absolut, als auch in Relation zur Bevölkerung zu. Bei den Wundärzten war es genau umgekehrt. Die Ärzteschaft begann, sich in Berufsverbänden zu organisieren und erreichte, dass 1858 die Trennung der Berufsgruppen aufgehoben wurde und studierte Ärzte chirurgisch tätig werden durften. Entsprechend schlossen sich auch die Wundärzte zu Interessenvertretungen, allen voran dem Verein württembergischer Wundärzte und Geburtshelfer (VWWG) zusammen. Doch auch der VWWG konnte nicht verhindern, dass mit der im Rahmen der Reichsgründung 1872 in Kraft getretenen Gewerbeordnung ihre Berufsgruppe aufgehoben wurde. Die zu diesem Zeitpunkt praktizierenden Wundärzte durften ihren Beruf weiterhin ausüben, nur Neuzulassungen wurden nicht mehr genehmigt. Durch den anschließenden starken Anstieg der studierten Mediziner und den dadurch entstehenden Konkurrenzdruck kam es vermehrt zu Niederlassungen in ländlichen Gebieten und der Verdrängung der Wundärzte. Eine weitere Neuerung war die Spezialisierung der Ärzte im ausgehenden 19. Jahrhundert. Am Anfang gab es vor allem Psychiater, Gynäkologen, Augenärzte und Chirurgen. Zu dieser Zeit war es dem Arzt selbst überlassen, wie gut er sich in „seinem“ Fach auskannte. Weder war es gesetzlich geregelt, wie eine Spezialisierung auszusehen hatte, noch musste ein Arzt eine Prüfung abgelegt haben, damit er sich „Spezialist“ nennen durfte. Die Motivation, eine bestimmte fachliche Ausrichtung zu wählen, war in den meisten Fällen die Aussicht auf ein höheres Gehalt in Kombination mit einem gesteigerten Ansehen, und nicht das wissenschaftliche Interesse. Lukrativ war es auch, nebenher eine eigene Heilanstalt zu betreiben, weswegen dies immer mehr in Mode kam. Interessanter Weise waren laut Statistik Spezialärzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts oft in kleineren Orten zu finden. Dies begründet Drees: „Als Ursache sind die einzelnen Irrenanstalten zu nennen, die vornehmlich in ländlichen Gebieten errichtet wurden. Bei den aufgeführten Spezialisten handelt es sich fast ausschließlich um die dort angestellten Irren- und Nervenärzte.“29 MEDIZINALWESEN IN WÜRTTEMBERG Die oberste Medizinalbehörde war das Ministerium des Inneren mit Sitz in Stuttgart. Diesem direkt untergeordnet war das Medizinalkollegium, welches beratende Stelle war. Zur Überwachung der Irrenanstalten wurde eine Aufsichtskommission eingesetzt, die aus Mitgliedern des Medizinalkollegiums und anderen Beamten bestand. Außerdem entschied diese Kommission über Aufnahme und Entlassung von Kranken in staatliche Anstalten. Es wurde Wert darauf gelegt, dass als heilbar klas27 28 29
Hettich (1875), S. 25; Z. Wundärzte Geburtsh. 67 (1916), S. 49. Groß (1999), S. 81. Drees (1988), S. 176 und Tabelle S. 175.
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sifizierte Kranke durch einen approbierten Arzt behandelt und therapiert wurden, wohingegen unheilbare Kranke nur regelmässig durch einen solchen besucht werden sollten. Diese Regelung ermöglichte es, dass auch Wundärzte eine reine Pfleganstalt leiten konnten. Neben den Besuchen des Hausarztes wurden sie jährlich von einem sogenannten Oberamtsarzt, also einem öffentlichen Gesundheitsbeamten kontrolliert. Man sprach von Visitation. Der hierüber verfasste Bericht wurde der Aufsichtskommission für die Staats-Irrenanstalten vorgelegt. WUNDARZT JOHANNES IRION Johannes Irion30 wurde am 17. Februar 1813 in Trossingen geboren, wo schon sein Vater und Großvater Irion Chirurgen waren.31 Ab 1830 war Johannes Irion Arztgehilfe in Schaffhausen, wechselte 1834 nach Fellbach, um dort beim Wundarzt Arnold seine Gehilfenzeit fortzusetzen. Am 9. November 1836 immatrikulierte er sich für ein Jahr als Hospitierender im Fach Chirurgie an der Universität Tübingen.32 Am 7. September 1837 legte er vor dem Collegium medico-chirurgicum seine Prüfung in Wundarznei-Kunde ab,33 einen Tag später die Prüfung in Geburtshilfe.34 Im Herbst 1837 eröffnete er eine eigene Wundarztpraxis in Schnait im Remstal. Am 25. Februar 1838 schloss Irion in Schnait die Ehe mit der zwei Jahre älteren Christiane Friederike Bauer, geborene Schnaitmann,35 aus Fellbach. Aus dieser Verbindung gingen neun Kinder hervor, von denen alle bis auf die jüngste Tochter überlebten. Christiane stammte aus einer sehr angesehenen und wohlhabenden Fellbacher Familie, die auch mehrere Immobilien besaß. So konnte die Familie im Jahre 1840 in das Haus in der Hinteren Straße 26 in Fellbach übersiedeln. Johannes Irion eröffnete dort eine Wundarztpraxis und wurde außerdem als Ortswundarzt angestellt. Fellbach, zwischen Cannstatt und Waiblingen im Nordosten Stuttgarts gelegen, war ein Pfarrdorf mit Marktgerechtigkeit und zählte 2673 Einwohner im Jahre 1832,36 von denen die meisten evangelisch waren. „Der Ort entwickelte sich bis zu Anfang des letzten Jahrhunderts zu einer der Hochburgen, wenn nicht der Hochburg des württembergischen Pietismus.“37 Auch Familie Irion scheint ein sehr gläubiges und gottesfürchtiges Leben geführt zu haben. Im Jahre 1858 schrieb der Visitator in seinem Bericht über die Irions: „[…] wie überhaupt sowohl Wundarzt Irion als seine Frau ganz geordnete Leute sind, die der frommen Secte38 Fellbachs angehören“. Aus der Feder Johannes Irions selbst sind Texte erhalten, die er Bekannten in 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Mall (1984b). Eine Urkunde über die Wundarztprüfung des Großvaters befindet sich in Familienbesitz. UAT 5/39, S. 44, Immatrikulationsbuch der Hospitierenden. UAT 62/12. UAT 62/8. Christiane Friederike Bauer, geborene Schnaitmann, geboren am 4.8.1811 in Fellbach, gestorben am 11.8.1856 in Fellbach. Memminger (1832). Findeisen (1985), S. 21 f. Vermutlich ist hiermit die Hahn’sche Gemeinschaft gemeint.
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Poesiealben geschrieben hat. Hierin spiegelt sich ganz deutlich seine pietistische Grundhaltung, mit der er sich gut in die ungeschriebenen Gesetze der Fellbacher Gesellschaft einfügte. Interessant ist die Frage, warum Irion 1843 eine Privatirrenpfleganstalt für bis zu zehn Geisteskranke einrichtete, was augenfällig nicht seiner Profession entsprach. Über seine Motive kann nur spekuliert werden. Als Wundarzt, auch wenn er in Fellbach der erste seiner Berufsgruppe mit universitärer Fortbildung war, hatte Irion gerade in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts sicher Probleme, genügend Patienten anzuwerben. Ärzte wie Wundärzte richteten in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt private Heil- oder Pflegeanstalten ein.39 Irion, der neu in Fellbach und aus diesem Grund nicht etabliert war, sah in der Gründung einer privaten Pflegeanstalt vermutlich eine gute Möglichkeit, seine Existenz und die der jungen Familie zu sichern. Nebenbei betrieb er den Weinhandel seiner Schwiegergroßeltern in kleinem Maßstab fort.40 Weinbau war eine der wichtigsten Einnahmequellen in Fellbach. Als 1847 der Verein für württembergische Wundärzte und Geburtshelfer gegründet wurde, war Irion von Anfang an Mitglied.41 1856 verstarb Irions Frau. Bereits 1857 verheiratete er sich mit Sara Carolina Rau42, die zuvor Hausmutter am Kinderhospital Basel, einer diakonischen Einrichtung, war und sich daher mit pflegerischen Dingen und der Versorgung von Kindern auskannte. Diese zweite Ehe wurde also wahrscheinlich auch aus strategischen Gründen geschlossen, da Irion zum einen jemanden brauchte, der die zahlreichen Kinder versorgte, zum anderen mussten auch die Irren verpflegt werden, eine Aufgabe, die Christiane bis zu ihrem Tode mit Eifer erledigt hatte. Zwischen 1870 und 1871 erlitt Irion einen Schlaganfall mit einer linksseitigen Hemiparese und war fortan von Krampfanfällen und häufigem Kopfweh geplagt, so dass er nicht mehr in der Lage war, die ihm anvertrauten Kranken adäquat zu versorgen. Er verkaufte Haus und Anstalt und zog zu seiner ältesten Tochter nach Stuttgart. Johannes Irion verstarb am 16. April 1877 und wurde auf dem Pragfriedhof in Stuttgart begraben. WUNDARZT HEINRICH KOCH Heinrich Koch43 erblickte am 4. Februar 1826 in Gaildorf als Sohn der ledigen Johanna Koch das Licht der Welt.44 Sein leiblicher Vater war der Graf PücklerLimburg, seine Mutter stand in gräflichem Dienst. Heinrich wuchs im Hause seiner mütterlichen Großeltern auf und wurde von seinem Onkel Koch, welcher Schneidermeister war, erzogen. Nach der Schulzeit, also nach der evangelischen Konfir39 40 41 42 43 44
Vgl. Abschnitt Wundärzte. StAF XVII Gewerbesteuerkat. o. D., 76. Z. Wundärzte Geburtsh. 1 (1848), S. 77. Sara Carolina Rau (geboren: 16.8.1811 in Endersbach, gestorben 6.2.1886 in Stuttgart). Mall (1984b). Vgl. UAT 40/115, 49.
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mation, absolvierte Heinrich Koch eine Lehre bei einem weiteren Onkel Koch, der Chirurg in Gaildorf war. 1846 kam Heinrich Koch zum Militär und fand dort eine Anstellung als Unterarzt in der Garnison Ludwigsburg. Im Mai 1851 legte er vor dem königlichen Medizinalkollegium in Stuttgart seine schriftliche und mündliche Prüfung in Chirurgie ab und wurde damit zur Ausübung der Wundarztkunde und zur Pockenschutzimpfung legitimiert.45 Kurze Zeit später nahm Koch Friederike Lebsanft zur Frau, die aus einer Stuttgarter Weingärtnerfamilie stammte. 1852 wurde ihre gemeinsame Tochter Mathilde geboren. Heinrich Kochs Ausbildung und Berufsbeginn fielen damit gerade in eine Zeit, die von Umbrüchen im Bereich des medizinischen Sektors geprägt war. Kompetenzbeschneidungen und Verdiensteinbußen waren die Themen, die die Wundärzte jener Zeit beschäftigten. So erscheint es nur folgerichtig, dass der junge Wundarzt sich für seinen Stand und seine Kollegen engagierte. Heinrich Koch trat 1853 in den Verein württembergischer Wundärzte und Geburtshelfer (VWWG) ein und war 1854 an der Gründung des Vereins der Unterärzte der Garnison Ludwigsburg beteiligt. In den Jahren 1855 bis 1861 hatte er zugleich eine Stelle als Assistenzarzt in der Hofrat von Hörningschen Augenklinik in Ludwigsburg inne. Im März des Jahres 1861, nach insgesamt 15 Jahren im Dienst des Militärs, bekam Koch in Fellbach eine Anstellung als Ortswundarzt. Er erhielt diese Stelle unter der Bedingung, die Geburtshilfe nachzuholen, da er als Ortswundarzt der einzige Arzt und Geburtshelfer für ganz Fellbach war. Daraufhin nahm er in Ludwigsburg theoretischen Unterricht in Geburtshilfe bei einem Regimentsarzt.46 Außerdem schrieb er sich 1861 an der Universität Tübingen für ein Jahr als Hospitierender ein47 und legte anschließend das Examen in Geburtshilfe ab. Im Jahre 1863 kehrte Koch Fellbach noch einmal für einige Jahre den Rücken und nahm die Hauswundarzt- und Oberwärterstelle in der Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal in Winnenden unter Albert Zeller an. Damit gehörte Koch zu den beneidenswerten Wundärzten, die eine Festanstellung und damit auch ein gesichertes Einkommen hatten. Trotz dieser Sicherheiten war Koch nicht recht zufrieden mit seiner Anstellung in Winnenthal, „er wollte frei sein und sein vielseitiges Wissen und Können ungehindert als Arzt ausüben“.48 So kam er 1866 zurück nach Fellbach und wurde von der Gemeinde angestellt. Neben seiner Tätigkeit als Wundarzt engagierte Koch sich sehr stark berufspolitisch im VWWG, war ab 1870 Vorstandsmitglied und Mitherausgeber der Zeitschrift für Wundärzte und Geburtshelfer und kämpfte für den Erhalt des Wundarztberufs. 1878 wurde er Vorsitzender des Vereins. Unter seinen Kollegen genoss Koch dabei großes Ansehen, und „auch bei den Jahresversammlungen des Vereins wurde K. stets durch Acclamation zum Vorsitzenden berufen, welche Ehrenstelle er mit feinem Tacte und ruhigem Auftreten versah“.49 45 46 47 48 49
StAL: E 162 II Bü 1245 Personalakte Koch. StAL: E 162 II, Bü. 1245, Personalakte Koch. UAT 5/39, S. 107, Immatrikulationsbuch der Hospitierenden. Z. Wundärzte Geburtsh. 42 (1891), S. 93. Z. Wundärzte Geburtsh. 42 (1891), S. 93.
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Zum 1. Oktober 1871 übernahm Koch die Praxis Irions in Fellbach sowie die kleine Anstalt für Geisteskranke und das gesamte Anwesen für 12 000 Gulden. Sicherlich war ihm seine in Winnenthal gewonnene Erfahrung im Umgang mit Geisteskranken hierfür besonders nützlich. Da er sich in den Jahren zuvor intensiv mit den Diskussionen über den Fortbestand des Wundarztberufs beschäftigt hatte, darf angenommen werden, dass Koch sich mit diesem Schritt rechtzeitig ein zweites Standbein schaffen und damit seine Existenz absichern wollte. „Die Haupttätigkeit […] war aber die Ausübung der Praxis im Ort; er war der einzige viel beschäftigte Arzt der fast 4000 Einwohner zählenden Gemeinde und überaus geschätzt“.50 Wenn man den überlieferten Erinnerungen seiner Enkelin Emma Glauben schenken darf, scheint Heinrich Koch auch ein Talent für die Pflege von Beziehungen gehabt zu haben: „Die Großeltern hatten ein überaus gastliches Haus. Großvaters Freundeskreis aus der Militärzeit, aus Kollegenkreisen, Verwandten war groß und er hatte eine Art, die Menschen an sich zu fesseln. […] So verkehrten im Hause die Oberamtsärzte von Waiblingen und Cannstatt“.51 Vermutlich dienten die Zusammenkünfte mit Kollegen und Oberamtsärzten im Hause Kochs auch dazu, berufspolitische Themen zu diskutieren und Kontakte in die Verwaltung zu pflegen. Auch am Wochenende waren häufig Besucher anzutreffen. Es scheint, dass im Hause Koch der Sonntag weniger ein Tag der Einkehr und Ruhe war, sondern vor allem der Pflege familiärer und sozialer Kontakte gewidmet wurde. Koch scheint weniger religiös geprägt und gebunden gewesen zu sein als Irion, gehörte aber doch zu den Frommen des Ortes.52 Heinrich Koch, der lange Zeit unter „Bronchialkattarh“ zu leiden hatte, zog sich bei der Begleitung einer schweren Geburt in einer Januarnacht eine Lungenentzündung zu und starb nach nur sechstägiger Krankheit am 19. Januar 1891.53 Er wurde auf dem Friedhof in Fellbach bestattet. Baumgärtel, Kochs Nachfolger im Amt des Vereinsvorsitzenden des VWWG, beschrieb ihn in einem Nekrolog als „Mann mit umfassender allgemeiner wie beruflicher Bildung, von humaner Gesinnung und der Religiosität beseelt, die Herz und Hand offen hielt für Arme und Nothleidende; ein liebevoller Hausvater, ein gastlicher Freund und ein treubesorgter Pflegevater der ihm anvertrauten geistig Armen“.54 Bald nach Heinrichs Tod verkaufte seine Witwe das Haus und zog nach Untertürkheim um. Mit dem Ableben Kochs endete gleichzeitig die Zeit der Privatirrenanstalt, da der nachfolgende Ortsarzt kein Interesse an der Verpflegung von Irren hatte. Diese wurden in andere Anstalten verlegt.
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StAFe, ohne Signatur, Erinnerungen einer Enkelin Kochs. StAFe, ohne Signatur, Erinnerungen einer Enkelin Kochs. SES Nr. 26 v. 28.06.1885, S. 208. Schwäbische Kronik, Abendblatt, 19 Januar 1891, Nr. 14, S. 115. Z. Wundärzte Geburtsh. 42 (1891), S. 96.
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DAS ANWESEN HINTERE STRASSE 26 Im Jahre 168355 wurde das Haus Hintere Straße 26, damals noch Hintergaß56, durch den Bäcker Jakob Ebensperger57 erbaut.58 Mehrere Generationen blieb es im Familienbesitz. Johannes Ebensperger verkaufte das Anwesen 1776 seinem Schwiegersohn Abraham Friedrich Ebensperger.59 Bis zu diesem Zeitpunkt war die westliche Gebäudeseite um ca. 40 cm gegenüber der östlichen abgesackt, so dass zwischen 1761 und 1781 als Fundamentverstärkung ein Keller unter dem stehenden Haus eingebaut wurde. A. F. Ebensperger vererbte das Haus an seine Kinder. Unter ihnen war auch Elisabeth Margarete60, welche Friedrich Schnaitmann heiratete. Das Ehepaar kaufte in den Jahren 1826 bis 1828 die anderen Hausanteile von den Geschwistern Elisabeths auf. Es folgten weitere Besitzerwechsel, bis schließlich Johannes Irion das Geburtshaus seiner Frau Christiane, geborene Schnaitmann, erwarb. Zunächst kaufte er im Jahre 1840 die Hälfte des zweistöckigen Wohnhauses mit Scheuer und Hof;61 den Rest des Anwesens drei Jahre später.62 Um seine Privatirrenanstalt einrichten zu können, ließ Johannes Irion das Wohnhaus, das inmitten des Ortes lag, umbauen. Laut Baugutachten wurden etwa zu dieser Zeit sowohl im Erdgeschoss, als auch im ersten Dachgeschoss zusätzliche Wände eingezogen, so dass die Grundfläche von 12 × 16,5 m in mehrere, aber dafür kleinere Zimmer unterteilt werden konnte. Außerdem ließ Irion 10 zusätzliche Windöfen installieren,63 da alle zukünftigen Krankenzimmer beheizbar sein sollten. Im Garten wurde ein Beet mit medizinischen Kräutern angelegt, die aus dem Wald dorthin versetzt wurden.64 Außerdem gab es einen großen Gemüsegarten zur Eigenversorgung und ein Bienenhaus im Baumgarten. Als 1863 eine Brandversicherung abgeschlossen werden sollte, wurde für das Schätzungsprotokoll eine detaillierte Bestandsaufnahme gemacht.65 Dort sind im Hauptgebäude zehn heizbare und zwei unbeheizbare Zimmer, sowie sechs Kammern und drei Küchen verzeichnet. Des Weiteren gab es einen „Remisenbau“ mit zwei Schweineställen, einem Geflügelstall, einer Mostremise und einem Futterboden, außerdem eine unterkellerte Scheuer „hinten im Hof“66. Neben dem Hauptgebäude wird noch ein eingeschossiges Wohn- und Ökonomiegebäude erwähnt, in 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Zum Entstehungsjahr gibt es verschiedene Angaben. (Vgl. Mall (1986)). Das hier genannte Erbauungsjahr ergab ein Baugutachten eines öffentlich bestellten sachverständigen Bauhistorikers und beruht auf einer Dendro-Datierung. Vgl. Gromer (2005). Mall (1984a). Jakob Ebensperger (1645–1707). Die folgenden Daten sind entnommen: StAF, Bestand zur Geschichte der Anstalt. StAF GS 61; Gb P7 fol 313, Gb P21 fol 2. Elisabeth Margarete Ebensperger (22.7.1777 Fellbach – 12.5.1825 Fellbach). StAF KB fol 271. StAF IX, 35, fol 84r 3. August 1843. StAF: Bestand zur Geschichte der Anstalt. Mall (1984b). Günter (1971). StAF: Bestand zur Geschichte der Anstalt.
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dem sich ein beheizbares und ein unbeheizbares Zimmer, eine Kammer, eine Küche und Stallungen befanden. 1871 verkaufte Irion das Anwesen an Heinrich Koch, in dessen Besitz es 20 Jahre lang blieb. Aus den jährlichen Visitationsberichten des Oberamtsarztes erfahren wir Einiges zu Kochs Wirkungsperiode, zum Haus selbst und auch zu dem zugehörigen Garten, bis hin zu dessen Bepflanzung. Der Oberamtsarzt berichtete 1886: „Die Anstalt, im Wesentlichen ein besser eingerichtetes ländliches Wohnhaus, [ist] freundlich von Rebenspalieren umrankt, ohne Gitter und sonstigen Apparat einer geschlossenen Anstalt, unterscheidet sich in Nichts von anderen Wohnhäusern.“67 Die hier beschriebene Gestaltung des Anwesens spielte sicherlich eine Rolle für die Wahrnehmung der Anstalt in der Bevölkerung. Im Übrigen gab es keine Irren- beziehungsweise Tobzelle. Kochs Witwe Friederike verkaufte den Besitz 1891 an Friedrich Dorner, den ehemaligen Stadtpfarrer von Crailsheim. Dieser versuchte eine Trinkerheilstätte zu etablieren. Allerdings scheiterte sein Vorhaben nach kurzer Zeit.68 Daraufhin wurde das Anwesen bis 1970 als Gärtnerei genutzt. 1930 wurde ein Verbindungsweg69 von der Schwabstraße zur Hinteren Straße angelegt und „Irionweg“ genannt. 1910 und 1954 wurde das Gebäude renoviert. Bei der zweiten Renovierung, bei der auch das Fachwerk freigelegt wurde, soll die Inschrift an der Ostseite „Erbaut Anno 1621“ durch den Gipsermeister angebracht worden sein, die das Gebäude 90 Jahre älter erscheinen lässt als es in Wirklichkeit ist.70 Später erwarb die Stadt Fellbach das Gebäude, das inzwischen zu den ältesten Fachwerkhäusern Fellbachs gehört. Nach nochmaliger Renovierung des Gebäudeinneren eröffnete 1978 das Stadtmuseum und Archiv Fellbach. Die Vorbauten an der Ostseite wurden 1978 abgerissen, und der noch heute bestehende Vorplatz am „Entenbrünnele“ wurde angelegt. Das Landesdenkmalamt nahm das Gebäude 1986 in die „Liste der Kulturdenkmale“ auf, denn der Fachwerkbau zählt zu den stattlichsten und schönsten Gebäuden Alt-Fellbachs. DIE PATIENTEN UND DEREN KRANKHEITEN Die Aufnahme von 39 Patienten in die Privatirrenanstalt in Fellbach ist belegt. Leider sind nicht aus allen Jahren Aufzeichnungen erhalten, was die Analyse erschwert. Im Folgenden sollen die Sozialdaten, soweit bei der geringen Fallzahl möglich, in einer quantifizierenden Analyse erfasst werden: Das Durchschnittsalter bei Aufnahme betrug 41 Jahre. Der jüngste Patient war bei Aufnahme 18, der älteste 71 Jahre alt. Da die Fellbacher Anstalt keine Heilanstalt, sondern eine Pfleganstalt war, hatten die Patienten oft schon eine Reihe 67 68 69 70
Visitationsbericht 1886. Diese Einrichtung ging relativ schnell wieder ein, wahrscheinlich, weil man die Patienten nicht vom Besuch einer der zahlreichen Gaststätten des Orts abhalten konnte. SES Nr. 22 v. 29.05.1892, S. 175. Zur Geschichte der Fellbacher Weinwirtschaften vgl. Beckmann (2000). Mall (1984). Maneth (1971).
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an Jahren in anderen Anstalten hinter sich, bis sie schließlich für unheilbar erklärt wurden. Die weiblichen Kranken waren im Schnitt älter, als die männlichen. Dies könnte sich dadurch erklären, dass bei Frauen der Erkrankungsgipfel psychischer Erkrankungen höher liegt als bei Männern. Insgesamt zeigt sich ein Schwerpunkt in der Altersgruppe der 21–40jährigen. Bei Entlassung war der jüngste Patient 19, der älteste 82 Jahre alt. In der Privatirrenanstalt waren vorwiegend nur Männer untergebracht. Nach Beginn des Jahres 1863 wurden keine Frauen mehr aufgenommen. Die letzten beiden wurden im Jahre 1864 entlassen; die Ursache dafür lässt sich nicht abschließend klären. Unter der Leitung Kochs waren demnach keine Patientinnen in Fellbach. Bis 1863 waren 40 % der in Fellbach aufgenommenen Kranken weiblichen Geschlechts, während des gesamten Bestehens der Anstalt nur 15 %. Von den 39 Patienten sind 22 evangelischen Glaubens. Weiterhin sind drei israelitische Patienten – wir würden heute den Begriff jüdisch vorziehen – verzeichnet, alle drei zur Zeit Kochs. Von 14 Patienten ist nicht bekannt, welcher Religion sie angehörten. Es ist kein einziger katholischer Kranker verzeichnet. Unklar bleibt, ob unter den Patienten, deren Konfessionszugehörigkeit nicht notiert ist, katholische Personen waren. Der Umstand, dass das Einzugsgebiet stark protestantisch war, lässt dies jedoch unwahrscheinlich erscheinen. Gleiches gilt für andere Religionszugehörigkeiten (z. B. griechisch-orthodox, muslimisch). Die Vermutung, dass Irion aufgrund seiner eigenen Religiosität Wert auf eine christliche Gesinnung seiner Patienten legte, liegt nahe. Einen Hinweis gibt uns auch der Visitationsbericht von 1855. Hier heißt es über Johannes Irion: „Dabei gehört er der religiösen Richtung an und betrachtet das Gebet als eine Aufgabe, die täglich mehrmals nie versäumt werden dürfe.“71 Über Heinrich Koch wird dahingehend keine Aussage getroffen. Fast die Hälfte, nämlich 46 % der Patienten war unverheiratet. Interessant wäre, ob es einen signifikanten Unterschied gibt, was den Familienstand von Männern und Frauen betrifft. Leider ist dieser nur bei zwei Frauen bekannt: eine ist ledig, die andere verwitwet, so dass man kaum eine Aussage treffen kann. Nach damaligen Behandlungskonzepten war es unter Umständen wichtig, den Patienten aus der krankmachenden Umgebung zu entfernen, um eine Heilung zu ermöglichen. Zwar waren die in Fellbach untergebrachten Patienten als unheilbar eingestuft, doch schrieb man der Luft außerhalb der Stadt wohltuende Wirkung zu. Dennoch war der Ort nicht allzu weit von Stuttgart entfernt. Von dort kamen insgesamt 16 Patienten, so dass Besuche von Angehörigen jederzeit mit nur geringem Aufwand möglich waren. Der größte Teil der Patienten kam aus Württemberg, einige aus Baden. Einige Patienten kamen von weiter her. Kein einziger Patient hingegen stammte aus Fellbach. Um zu überprüfen, ob in der Privatanstalt, wie erwartet, die besser gestellten Kranken unterkamen, erschien es sinnvoll, die Berufe der Patienten, soweit angegeben, in Kategorien einzuordnen.72 Die am stärksten vertretene Erwerbsgruppe 71 72
Visitationsbericht 1855. Moses und Hirschmüller (2004), S. 136. In dieser Gliederung, an der sich die Verfasserin orientierte, wurden die zeitgenössischen Berufsbezeichnungen in Gruppen zusammengefasst.
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stammt aus dem kaufmännischen Bereich. Mit einigem Abstand folgen Handwerker und die Gruppe der Akademiker und Studenten. Ein Großteil der Patienten stammte also aus den bürgerlichen Mittelschichten. Der Visitationsbericht von 1886 bestätigt die Einschätzung, dass die Kranken „besonders aus den gebildeten Ständen herkommen“73. Erstaunlich ist auf der anderen Seite der Anteil der Handwerker mit 20,5 %. Allerdings ist es möglich, dass es sich hier um selbstständige Meister handelte, die ein entsprechendes Vermögen aufweisen konnten. In den Aufzeichnungen über die Kranken findet sich auch ein Vermerk über den gesetzlichen Vertreter, der sowohl Entscheidungen treffen konnte als auch für die Bezahlung von Kost und Logis zuständig war. Da es sich um eine private Anstalt handelte, waren die Kranken freiwillig beziehungsweise auf Wunsch ihrer Angehörigen in Fellbach. Diese waren aus diesem Grunde oft identisch mit den gesetzlichen Vertretern. Im Rahmen der Analyse der Dokumente war zunächst unklar, wie mit den historischen Diagnosen der Fellbacher Patienten umgegangen werden soll. Ein einheitliches Diagnoseschema existierte im 19. Jahrhundert nicht, jeweilige Anstalten und Psychiater hatten ihre eigenen Einteilungen, Bewertungskriterien und Diagnoseschemata. Die Möglichkeit, anhand von Symptombeschreibungen eine heute systematisierbare, also „moderne“ Diagnose zu stellen, sie somit in heute gebräuchliche Terminologie zu übersetzten, erschien weder sinnvoll noch möglich, da es bei den meisten Patienten an ausführlichen Beschreibungen mangelt.74 Außerdem kann es leicht zu Fehlinterpretationen kommen, wenn noch heute übliche Begriffe damals in einem anderen Kontext gebraucht wurden.75 Es erschien sinnvoller, die Begriffe als solche zu übernehmen und sie in den historischen Kontext einzuordnen. Zur Zeit Irions sind die Diagnosen in den Visitationsberichten aufgeführt. Später, unter Koch, sind sie in den tabellarischen Berichten vermerkt, die der Anstaltsinhaber jährlich anfertigen musste. „Verrücktheit“, „Schwachsinn“ und „Blödsinn“ sind die am häufigsten vorkommenden Diagnosen. Leider ist nirgends ein Hinweis darauf zu finden, wie die Diagnosen zustande kamen oder von wem sie gestellt wurden. Dass die Wundärzte sich mit Diagnostik der Geisteskrankheiten beschäftigten, ist eher unwahrscheinlich. Man kann davon ausgehen, dass zumindest anfänglich die Diagnose des einweisenden Arztes respektive der einweisenden Anstalt übernommen wurde. Stimmt diese These, so wurden die Diagnosen von den unterschiedlichsten Ärzten gestellt, da die Patienten von verschiedenen Ärzten aus verschiedenen Regionen eingewiesen wurden. Wir wissen nicht, an welchem Schema der behandelnde Arzt sich orientierte oder was er seinen Diagnosen zugrunde legte, in manchen Fällen nicht einmal, aus welchem Jahr die Diagnose stammte. Ohnehin bleibt eine Diagnose ein Stück weit Interpretation des Diagnostizierenden, da dieser den kausalen Zusammenhang zwischen Symptomen, Untersuchungsergebnissen und Krankheitsbild herstellt.76 Die möglichen Krankheitsursachen oder Auslöser 73 74 75 76
Visitationsbericht 1886. Zur Problematik des retrospektiven Diagnostizierens siehe Bleker, Brinkschulte, Grosse (1995), S. 75–91. Zur Weiterentwicklung eines Krankheitsbegriffs vgl. Micale (1990), S. 33–124. Vgl. Hirschmüller (1991), S. 136.
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sind an keiner Stelle festgehalten, allenfalls die Krankheitsdauer. Bedauernswerterweise existiert auch keine Einteilung in Schweregrade, die einen Hinweis auf den tatsächlichen Zustand des Patienten hätte geben können. Nur in einigen sehr schweren oder sehr leichten Fällen wurde ein Kommentar hinzugefügt. Wenn bei einem Patienten keine Hoffnung auf Heilung mehr bestand, war es für die Verwaltung – und für diese war der Bericht bestimmt – nicht mehr von Bedeutung, weshalb er ursprünglich erkrankt war. Angaben über mögliche Erbfaktoren werden im Gegensatz hierzu genannt. Dies alles spricht dafür, dass die Diagnosen eher zweitrangig waren, wenn nicht gar nur von Interesse, wenn der Jahresbericht angefertigt werden musste. Normalerweise behielt ein Patient in Fellbach von Anfang an seine Diagnose. Änderungen wurden nur in wenigen Fällen vorgenommen, so wurde z. B. „unheilbar“ ergänzt. Einen Einschnitt gibt es im Jahre 1884: alle in diesem Jahr anwesenden Patienten haben die Diagnose „einfache Seelenstörung“, die bis dorthin verwendeten Diagnosen wurden in Klammern hinzugefügt. Definitionsgemäß mussten alle Kranken als unheilbar klassifiziert sein, um in Fellbach bei einem Wundarzt aufgenommen werden zu dürfen. Interessant ist hier eine Anmerkung Kochs in einem Schreiben an das Königliche Oberamtsphysikat in Cannstatt: „Auch erlaube ich mir zu bemerken, dass hier jährlich gegen 10 heilbare Kranke abgewiesen werden.“ Diese Aussage ist ein Indiz dafür, dass die Fellbacher Anstalt einen derart guten Ruf hatte, dass auch Familien heilbarer Patienten Interesse daran hatten, ihre Angehörigen dorthin in Pflege zu geben. Aufgrund der Ungenauigkeit der Angaben über Aufnahme- und Entlasstag der Patienten lässt sich eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Tagen nicht berechnen. Es gab Aufenthaltsdauern von wenigen Wochen bis zu über 25 Jahren. Manche Kranke wurden nur provisorisch aufgenommen und kurze Zeit später wieder verlegt. Andere wurden von Irion aufgenommen und blieben bis zur Schließung der Anstalt im Jahre 1891 nach dem Tod Kochs in Fellbach. Die Verlegung von sechs Patienten in andere Anstalten ist belegt. Davon wurden zwei Patienten wegen plötzlicher Verschlimmerung ihres Zustandes in andere Anstalten gebracht. Bei einem Patienten war die Aufnahme nur provisorischer Natur; er wurde nach zwei Wochen in die Schussenrieder Anstalt gebracht. Ob für andere Patienten, die ebenfalls nur provisorisch aufgenommen wurden, Fellbach eine Durchgangsstation in eine andere Anstalt war, ist nicht schriftlich festgehalten. Dies ist durchaus möglich, z. B. in den Fällen, in denen ein Kranker auf einen Platz in einer anderen Anstalt warten musste. Bei den meisten Patienten wissen wir nicht, ob sie nach der Entlassung noch in anderen Anstalten waren. Diese Annahme liegt nahe, wenn man bedenkt, dass sie als unheilbar eingestuft waren. Von einzelnen Patienten ist ein Aufenthaltsort in einer anderen Anstalt nach Verlegung aus Fellbach jedoch bekannt. Belegt sind Verlegungen nach Kennenburg, nach Göppingen, sowie nach Pfullingen, von dort zum Teil auch nach Weissenau bei Ravensburg und Zwiefalten. Auch eine Verlegung in die „Beßerungsanstalt“ Feßbach in Baden ist verzeichnet. Vier Patienten verstarben während ihres Aufenthalts in Fellbach, einer kurz danach. Bei vier Patienten konnte eine natürliche Todesursache festgestellt werden.
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Ein Kranker jedoch stürzte aus dem Fenster der Anstalt unglücklich auf den Kopf und erlag wenige Stunden später seinen Verletzungen. DIE GESTALTUNG DES AUFENTHALTES Der Oberamtsarzt des zuständigen Oberamts Cannstatt besuchte die Privatanstalt und verfasste einen Bericht über den Zustand von Haus und Garten sowie die Versorgung und Beschäftigung der Patienten. Manchmal finden sich auch Anmerkungen über einzelne Kranke. Die Visitationsberichte zeichnen somit ein Bild des täglichen Lebens in der Privatanstalt, wenngleich sie subjektiv gefärbt sind. Beide Anstaltsinhaber wohnten mit den Pfleglingen unter einem Dach. Aus dem Umstand, dass darüber hinaus die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen wurden, ergibt sich fast von selbst, dass auch die Ehefrauen und die Kinder mit den Kranken zu tun hatten und teilweise an ihrer Betreuung beteiligt waren. Irions erste Frau Christiane, „die in jeder Beziehung eine tüchtige Hausmutter genannt werden kann“77, war „in allen Details pünktlich, dabei sehr human“.78 Sie kümmerte sich vorbildlich um den Haushalt und erzog die Kinder. Etwas erleichtert wurde ihre Arbeit durch den Umstand, dass nur „reinliche“ Kranke in Fellbach aufgenommen wurden. Nach Christianes Tod übernahm Irions zweite Ehefrau Karolina ihre Position. Auch über sie steht in den Visitationsberichten nur Positives: „Die Haushaltung wird von der Frau des Wundarztes Irion geführt, welche sehr geordnet ist und die Kranken freundlich behandelt“.79 Wie erwartet, halfen auch Irions Töchter mit. Amalie, Irions Zweitälteste, schlief zeitweise sogar mit einer blödsinnigen Patientin in einem Zimmer. Während Johannes Irion sich um die männlichen Insassen kümmerte, betreuten seine Gattin und seine Tochter die Frauen: „Der Vorsteher macht häufig mit ihnen kleine Spaziergänge und die Hausfrau mit ihrer Tochter widmen sich den beiden Frauenzimmern“.80 Auch Heinrich Kochs Ehefrau Friederike befasste sich neben Haushaltsführung, Kochen, Waschen und Kindererziehung mit „Beaufsichtigung und Pflege“ der Kranken“.81 Hilfe erhielt sie ebenfalls von ihrer Tochter Mathilde; außerdem gab es in späteren Jahren „eine junge Verwandte des Hauses, die der Hausfrau unterstützend bei Seite steht“.82 Der Oberamtsarzt lobte: „Die Aufsicht und Verpflegung der Kranken besorgen der Anstaltsinhaber [und] dessen Frau, und ich zweifle nicht daran, dass die Kranken mit Schonung und Milde behandelt werden, wie es solche Unglücklichen verdienen, und dass sie in jeder Beziehung gut untergebracht sind“.83 Zeitweilig waren auch Verwandte der Wundärzte in der Fellbacher Anstalt zu Gast. Den Umstand, dass die Kranken in das Familienleben eingebunden wurden, lobt der Oberamtsarzt in seinem Bericht 77 78 79 80 81 82 83
Visitationsbericht 1855. L. c. Visitationsbericht 1861. Visitationsbericht 1863. Visitationsbericht 1876. Visitationsbericht 1889, vgl. Visitationsbericht 1886. Visitationsbericht 1875.
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vom Herbst 1886: „Jedenfalls sind diese ruhigen Kranken in der kleinen, durchaus familiären Pfleganstalt Kochs besser daran, als dies in einer großen Pfleganstalt der Fall wäre, wo immer hier die Allgewalt der Hausordnung, der notwendige geregelte Fortgang des großen Betriebs von dem Einzelnen Entsagungen verlangen, welche in der Familie wegfallen oder nicht bemerkt werden“.84 Neben den Familienangehörigen gab es auch Angestellte zur Versorgung der Kranken. Als die Anstalt offiziell zugelassen wurde, machte das Oberamtsphysikat die Auflage, „dass er [Irion] einen Wärter anzustellen habe85.“ Eine solche Wärterstelle im 19. Jahrhundert war mit viel weiter gehenden Verpflichtungen verknüpft, als dies heute bei einem Krankenpfleger der Fall ist. Die Wärter lebten in der Anstalt und schliefen teilweise neben den Patienten in den Krankenzimmern, auf alle Fälle aber im Haus, so dass sie jederzeit zur Verfügung stehen konnten. Neben einem Wärter beschäftigte Koch zumindest zeitweise eine Köchin und eine Magd86. Genauere Aufzeichnungen über das Personal fehlen leider. Wie oben erwähnt, wurde gemeinsam gegessen und nur in Ausnahmefällen wurde das Essen auf dem jeweiligen Zimmer eingenommen. Die Kost bestand aus „Kaffee morgens, mittags Suppe, Gemüse und Fleisch, abends Suppe und Milch oder Eierspeise mit Salat, Kartoffeln“. Damit war die Kost „eine zwar einfache, aber nahrhafte und kräftige“.87 Über die Pfleglinge wurde stets berichtet, sie sähen gut genährt aus. Die Patienten Irions und ihre Angehörigen waren mit der Versorgung zufrieden, obwohl der Verpflegungssatz im Vergleich zu anderen Anstalten sehr gering war. 1856 zahlten die Männer 150 Gulden im Jahr „für den Aufenthalt incl. aller Ausgaben“,88 die „Mädchen“ sogar nur 100 Gulden. In anderen Privatanstalten, z. B. in der Kennenburg und Binswangers Bellevue, lagen die Preise weitaus höher. Der Aufenthalt in der Fellbacher Anstalt war also vergleichsweise sehr günstig bei doch guter Versorgung. Dies machte es den Familien möglich, einen erkrankten Angehörigen auch langfristig bei Irion unterzubringen. Vermögenden Patienten machte Irion das Angebot, sich durch das Entrichten eines höheren Verpflegungsgeldes einen besseren Standard zu erkaufen. Wahrscheinlich wirkte sich dies vor allem auf das Niveau des Zimmers und sonstige Annehmlichkeiten und Freiheiten aus. Eine Patientin bezahlte z. B. den dreifachen Satz. Dafür war ihr Zimmer in der ersten Etage „hübsch meubliert mit Sopha, Klavier, Armoir pp“, und sie genoss das Privileg, ihre Katzen bei sich zu haben, deren Erziehung sie sich hingebungsvoll widmete.89 Im Laufe der Zeit stiegen die Preise nur moderat an. Auch unter Koch waren die Patienten zufrieden: „Keiner der Kranken hatte eine Klage über Behandlung oder Verpflegung, welche glaubwürdig gewesen wäre, vorzubringen“.90 Die Mahlzeiten wurden teilweise im Zimmer eingenommen. Aus dem eigenen Garten gab es Äpfel, Muskatellerbirnen und Trauben, und auf einem 84 85 86 87 88 89 90
Visitationsbericht 1886. Erlass des Oberamtsphysikats Februar 1855. Beides vgl. Visitationsbericht 1875. Visitationsbericht 1863. Visitationsbericht 1856. Visitationsbericht 1855. Visitationsbericht 1877.
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angrenzenden Acker wurden Kartoffeln und Gemüse für die Eigenversorgung angebaut. Täglich stand Fleisch auf dem Speiseplan. Zu Trinken gab es unter anderem auch alkoholische Getränke: “Die Kost ist vollkommen genügend, die Getränke (Wein, Bier, Most) sind gut“.91 Dies war jedoch nichts Außergewöhnliches. Den hygienischen Verhältnissen wurde bei den Visitationen besondere Beachtung geschenkt. Die Sauberkeit der Zimmer, Betten, Überzüge und Kleiderkisten, von Weißzeug und Bekleidung der Kranken wurde ebenso überprüft, wie der Zustand von Abtritt, Küche, Speisekammer und „Gerätschaften“; beispielsweise wurde geprüft, ob die Kupfergeräte gut verzinnt und auch „keine gesundheitsschädlichen Geschirre“92 vorhanden waren. Stets wurde auf das Raumklima Wert gelegt: „Sämtliche Pfleglinge sind in reinlichen, gut ventilierten und mit zweckmäßiger Heizvorrichtung versehenen Gelassen untergebracht“.93 Über die Bekleidung der Kranken wurde bemerkt, sie sei „reinlich und entsprechend der Jahrszeit“.94 Dabei war eine „eigentliche Bade-Einrichtung […] nicht vorhanden, doch es ist in dem zur Seite des Hauses gelegenen Waschhause Gelegenheit geboten, Bäder verabreichen zu können“.95 Diese Gelegenheit wurde jedoch nur während der Sommermonate genutzt. Insgesamt schien die Fellbacher Anstalt, was die Hygiene betrifft, sehr vorbildlich gewesen zu sein. 1884 entfiel sogar die geplante zweite Visitation, mit der Begründung: „Die Zimmer sind sauber, das ganze Haus zeugt von großer Ordnung, namentlich auch Küche und Abtritt. Derselben wurde bei früheren Visitationen konstatiert; es unterblieb daher auch eine 2malige Visitation“.96 Zu jener Zeit war es in Irrenpflegeanstalten üblich, dass sich die Patienten an „ökonomischen Geschäften“, also Tätigkeiten in Haus und Garten, beteiligten, sofern es ihr Zustand zuließ. Hierzu gehörten in Fellbach Holzsägen und „Landbau“ ebenso, wie die Weiterverarbeitung des im Garten angepflanzten Obsts und Gemüses („Welschkorn97-, Bohnen-, Wicken-Auslesen“98, „Bohnenschnitzeln“99), außerdem leichte häusliche Tätigkeiten. Einige Kranke waren jedoch „vollkommen stumpfsinnig und unfähig zu irgendeiner Arbeit“.100 Diese saßen dann häufig auf einer der Gartenbänke und verbrachten ihre Tage mit „Nichtstun“,101 während die anderen Patienten ihren Arbeiten nachgingen. Prinzipiell hielten sich die Kranken, wenn es die Witterung zuließ, im Garten auf. Manche beschäftigten sie sich auch mit „Lesen von juris- und belletristischen Schriften“,102 Schreiben und 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Visitationsbericht 1874. Visitationsbericht 1874. Visitationsbericht 1881. Visitationsbericht 1874. Visitationsbericht 1875. Visitationsbericht 1884. Welschkorn = historische Bezeichnung für Mais. Visitationsbericht 1864. Visitationsbericht 1889. Visitationsbericht 1889. Siehe auch Grauer 2012, S. 99–102, hier S. 99. Visitationsbericht 1878. Visitationsbericht 1875. Der Kranke, über den dies gesagt wird, ist von Beruf cand. juris., also Student der Rechtswissenschaften. Sein gesetzlicher Vertreter ist Rechtsanwalt.
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„Spielereien“.103 Im Konversationszimmer waren „zur geselligen Unterhaltung […] einige Spiele und eine Zeitung vorhanden“.104 Oft wurden in Begleitung des Wundarztes, bei Irion wie auch bei Koch, oder eines Wärters, Spaziergänge gemacht. Einige geringfügig beeinträchtigte Patienten durften auch ohne Begleitung ausgehen. Da die Kranken „besonders aus den gebildeten Ständen herkommen“105, richtete sich die Art ihrer Aufgaben und Beschäftigungsmöglichkeiten unter anderem nach ihren früheren Gewohnheiten. An dieser Stelle lässt sich ein feiner Unterschied zwischen den beiden Anstaltsleitern festhalten. Während es über die Irion anvertrauten Kranken heißt: „Sie werden angewiesen, sich mit leichten häuslichen Arbeiten zu beschäftigen“,106 wird in den Berichten über Kochs Führung betont: „Die Beschäftigung der einzelnen Pfleglinge richtet sich ganz nach ihrer früheren Lebensstellung“,107 wobei auf die individuelle „Neigung die gebührende Rücksicht genommen wird“108 An Sonn- und Feiertagen unternahmen sowohl Irion als auch Koch Ausflüge und größere Fahrten mit den ihnen anvertrauten Personen: „Zum Gebrauche der Neckarbäder begleitet er [Irion] sie selbst nach Cannstatt“.109 „Im letzten Winter machte Koch eine Schlittenpartie mit einem Teile der Kranken, und sollen sich letztere dabei ganz anständig betragen haben“.110 Neben Arbeit und Erholung gab es im Hause Irion regelmäßig religiöse Erbauungsstunden und Hausandachten, wie es in pietistischen Haushalten üblich war. Die sinnvolle Gestaltung der Zeit und ein fester Tagesablauf waren mehr als bloße Beschäftigung, sondern therapeutisches Konzept Irions. Die sinnvolle Beschäftigung der Kranken in Form von Aufgaben in Haus und Garten, als Arbeitsund Beschäftigungstherapie, würde heute als Ergotherapie bezeichnet werden. Dabei war die Integration der Patienten in die Wundarztfamilie und damit eine Unterordnung unter Irion als patriarchalisches, aber liebevolles Familienoberhaupt eine wichtige Voraussetzung.111 Gleichzeitig entwickelte sich auch unter den Kranken, begünstigt durch den zum Teil jahrelangen Aufenthalt, eine familienähnliche Struktur. Abgesehen davon wurde allein schon die Entfernung des Kranken aus seinem bisherigen Umfeld als therapeutisch sinnvoll betrachtet. Dabei war „Isolierung und Idylle“112 das Ziel: Isolierung des Kranken aus den ihn krank machenden Umständen, unter anderem auch Schutz vor der eigenen Familie und Unterbringen in einer ruhigen und möglichst wenig negative Reize bietenden, eben „idyllischen“ Zufluchtsstätte. Darüber hinaus gab es natürlich konkrete Therapien und Anwendungen, die sich jedoch aufgrund der Diagnose der Kranken – per definitionem waren alle in Fellbach untergebrachten Patienten unheilbar – mehr oder weniger auf eine Steigerung ihres Wohlbefindens und die Kurierung somatischer Erkrankungen 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112
Visitationsbericht 1859. Visitationsbericht 1855. Visitationsbericht 1886. Visitationsbericht 1863. Visitationsbericht 1878. Visitationsbericht 1876. Visitationsbericht 1856. Visitationsbericht 1875. Vgl. Visitationsbericht 1859. Schrenk 1967.
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beschränken mussten. „Neckarbäder werden fleißig angewandt. Gegen Verstopfung wird Obst, Zwetschgen, Rizinussaft gebraucht“.113 Bedauerlich ist, dass über die therapeutischen Vorstellungen und Ansätze Kochs kaum etwas ausfindig gemacht werden konnte. Wir können jedoch festhalten, dass die Rahmenbedingung des Anstaltslebens mehr oder weniger gleich blieben, nachdem er die Leitung übernommen hatte. Da Irion und Koch der Aufsicht durch akademische Ärzte unterworfen waren, wurde die Anstalt in einem dreiwöchigen Turnus von einem Hausarzt besucht, der den Zustand der Kranken dokumentierte und bei akuten Erkrankungen Hilfe leistete. Aufgrund des Mangels an Apotheken im ländlichen Bereich führten sowohl Irion als auch Koch trotz des bestehenden Dispensionsverbotes eine Hausapotheke. Koch bereitete Arzneien zur Behandlung somatischer Beschwerden auch selbst zu. ZUSAMMENFASSUNG Die private Irrenpflegeanstalt lag inmitten des Ortes Fellbach. Geführt wurde sie von zwei Wundärzten: Zunächst von Johannes Irion, ab 1871 von seinem Kollegen Heinrich Koch. Gegründet, um dem Betreiber in Zeiten berufspolitischer Umbrüche ein zweites Standbein zu schaffen, bot sie von 1843 bis 1891 bis zu zehn Irren gleichzeitig ein Zuhause. Die Kranken, allesamt als unheilbar klassifiziert, wurden ins Familienleben der Wundärzte integriert und ihr Tag als therapeutisches Mittel und aus Sicht der Leitung hierdurch sinnvoll strukturiert. Auf die höhere Stellung und Herkunft der Patienten, deren Familien sich die Unterbringung in einer Privatanstalt leisten konnten, wurde offenbar Rücksicht genommen. Unter Koch änderte sich das Ambiente der Anstalt dahingehend, dass er etwas strenger, dafür aber weniger religiös geprägt war als Irion. Der Umgang miteinander war ein stets freundlicher und rücksichtsvoller: Disziplinierungsmaßnahmen wie Zwangsjacke und Tobzelle wurden nicht nur nicht eingesetzt, sondern waren gar nicht erst vorhanden. Das Gebäude unterschied sich nicht von anderen Wohnhäusern. Der Garten, in dem sich die Patienten bei schönem Wetter bevorzugt aufhielten, war von den benachbarten Gärten bequem einsehbar. Da die Wundärzte die einzigen Mediziner und, neben den Hebammen, die zuständigen Geburtshelfer vor Ort waren, hatten sie regen Umgang mit Fellbacher Bürgerinnen und Bürgern aller Schichten. Dabei gehörten sie zu den angesehenen Persönlichkeiten der Gemeinde: Irion war fest verwurzelt in den pietistischen Kreisen Württembergs und Koch ein angesehenes Mitglied der berufsständischen Vertretung seines Metiers. Dies alles spricht deutlich dafür, dass die Anstalt und ihre Patienten durchaus gut in Fellbach integriert waren. Nach dem Tode Heinrich Kochs fand sich kein Nachfolger, so dass die verbliebenen Patienten in andere, auch oben bereits erwähnte Anstalten verlegt werden mussten. 1930 wurde die Verbindung von der Hinteren Straße zur Schwabstraße in Erinnerung an den früheren Besitzer des Geländes in „Irionweg“ umbenannt. Dies 113 Visitationsbericht 1855.
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zeigt, dass die Wundärzte und die von ihnen geleiteten Institutionen über ihre Epoche hinaus im Ort in positiver Erinnerung blieben. LITERATURVERZEICHNIS: Ackerknecht, Erwin H.: Geschichte der Medizin. 7. überarbeitete und ergänzte Auflage von Axel Hinrich Murken. Stuttgart: Enke Verlag 1992. Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychatrie. 3. verb. Auflage, Stuttgart: Enke Verlag 1985. Beckmann, Ralf: „…no` a Viertele“. Weinwirtschaften in Fellbach, Schmiden und Oeffingen. Fellbacher Hefte 8. Fellbach: Stadt Fellbach 2000. Blasius, Dirk: „Einfache Seelenstörung“. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945. Frankfurt 1994. Blasius, Dirk: Der Umgang mit Unheilbarem. Studien zur Sozialgeschichte der Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1986. Blasius, Dirk: Der verwaltete Wahnsinn. Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1980. Bleker, Johanna; Brinkschulte, Eva; Grosse, Pascal. (Hg.): Kranke und Krankheiten im Juliusspital zu Würzburg 1819–1829. Zur frühen Geschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland. Husum: Matthiesen Verlag 1995 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 72). Drees, Annette: Die Ärzte auf dem Weg zu Prestige und Wohlstand. Sozialgeschichte der württembergischen Ärzte im 19. Jahrhundert. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 1988. Erhard, Johann Benjamin: Theorie der Gesetze die sich auf das körperliche Wohlseyn der Bürger beziehen, und der Benutzung der Heilkunde zum Dienst der Gesetzgebung. Tübingen: Cotta 1800. Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. 2. Auflage Bern: Diogenes 1970. Findeisen, Hans-Volkmar: Pietismus in Fellbach 1750–1820. Zwischen sozialem Protest und bürgerlicher Anpassung. Zur historisch-sozialen Entwicklungsdynamik eines millenaristischen Krisenkults. Diss. Phil. Stuttgart 1985. Grauer, Julia: Die Privatirrenpfelgeanstalt der Wundärzte Irion und Koch in Fellbach 1843–1891. Med. Diss. Tübingen 2012. Gromer, Johannes: Ergebnisse einer Bauuntersuchung des Hauses Hintere Str. 26 in Fellbach. Oppenweiler: 2005. Groß, Dominik: Die Aufhebung des Wundarztberufs. Ursachen, Begleitumstände und Auswirkungen am Beispiel des Königreichs Württemberg (1806–1918). Beiheft 41. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1999 (Sudhoffs Archiv Beihefte 41). Günter, Harald: Das Fellbacher Heimatmuseum: Stiefkind wider Willen. Fellbacher Zeitung, 21. 10. 1971, Nr. 249. S. 20. Hähner-Rombach, Sylvelin: Arm, weiblich – wahnsinnig? Patientinnen der Königlichen Heilanstalt Zwiefalten im Spiegel der Einweisungsgutachten von 1812 bis 1871. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte 1995. Hettich, Hermann Otto Friedrich: Das Medizinalwesen des Königreichs Württemberg, nach dem Stande der Mitte des Jahres 1875 herausgegeben. Stuttgart: Commissionsverlag von G. Wildt`s Buchhandlung 1875. Hirschmüller, Albrecht: Freuds Begegnung mit der Psychiatrie. Von der Hirnmythologie zur Neurosenlehre. Tübingen: Edition diskord 1991.Hirschmüller und Moses (2002): Hirschmüler, Albrecht; Moses, Annett: Psychiatrie in Binswangers Klinik „Bellevue“. Diagnostik – Therapie –
Eine private Irrenpflegeanstalt in Württemberg 1843 bis 1891
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In den Fußnoten verwendete Abkürzungen benutzter Archive: SES = Stuttgarter Evangelisches Sonntagsblatt StAFe = Stadtarchiv Fellbach StAL = Staatsarchiv Ludwigsburg UAT = Universitätsarchiv Tübingen
ZUM VERHÄLTNIS VON HEIMAT UND FERNE, FREMDEM UND EIGENEM
Aspekte zeitgeschichtlicher Wechselbeziehungen in der Württembergischen Anstaltszeitung „Schallwellen“ (1897–1936) Uta Kanis-Seyfried EINLEITUNG Ein Forschungsprojekt wie die 1897 gegründete württembergische Anstaltszeitung „Schallwellen. Belehrende, erbauliche und humoristische Anstaltszeitung für gesunde Kranke und kranke Gesunde“1 in den Kontext der vorliegenden Fragestellung zu verorten, stellt den kultur- und psychiatriehistorisch Forschenden vor besondere Herausforderungen: Nicht allein die zahlreichen und vielschichtigen methodischen Möglichkeiten der Herangehensweise machen es schwer, die vorgegebenen Koordinaten „Zentrum“ und „Peripherie“ anzulegen. Auch die inhaltliche Fülle der in der Zeitung enthaltenen Themen lässt es nicht zu, eindeutige Grenzen festzulegen, zentrale Standpunkte oder -orte zu benennen und eher randständige auszumachen. Um eine wissenschaftliche Aufarbeitung im gegenwärtigen Zusammenhang zu gewährleisten, müssen daher einzelne Aspekte und Themenbereiche herausgegriffen und im Kontext von „Zentrum“ und „Peripherie“ überprüft und analysiert werden. Eine erste Orientierung und Zugangsweise bietet sich unter dem Blickwinkel der historischen Anthropologie an: Hier treten Alltag und Mentalität historischer Subjekte in ihren Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Widersprüchen in den Fokus, werden Kontinuitäten und Entwicklungen in Kommunikation, Denken, Fühlen, in Haltung und Verhalten sichtbar. Inwieweit regional begrenzte mikrogeschichtliche Untersuchungen wie die vorliegende auch Makrogeschichte spiegeln und damit repräsentativen Charakter haben, wird in den Sozial- und Geschichtswissenschaften immer wieder von Neuem kontrovers diskutiert.2 Einigkeit herrscht aber im Hinblick darauf, dass allgemeine zeitgenössische soziale, politische, kulturelle und kommunikative Paradigmen einer Gesellschaft stets auch auf das Individuum einwirken und es prägen; in subjektiven Sichtweisen, Einstellungen und Handlungsweisen sind diese Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Abgrenzungen internalisiert. Der mikroskopische Blick auf eine Region und ihre Menschen in einem bestimmten Zeitraum verdeutlicht die Verknüpfung subjektiver Wahrnehmungs- und 1 2
Schallwellen 1897, September. Siehe u. a. Gründler 2013; Michalczyk 2010; Charle 1993; Meier 1990; Schulze 1988; Schlumbohm 1998; Brüggemeier und Kocka 1985.
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Verhaltensweisen historischer Akteure mit übergeordneten Rahmenbedingungen, ein Aspekt, der sich unter der Perspektive einer „Geschichte von unten“3 noch verstärkt. Der vermeintlich anonyme sogenannte „kleine Mann“, auch die „kleine Frau“ werden durch die qualitative Analyse von Dokumenten und anderen Hinterlassenschaften aus der amorphen Masse „Volk“ herausgelöst. Sie werden bei ihren Namen genannt und als aktiv handelnde Individuen in bestimmten historischen Kontexten verstanden. Die differenzierte Anwendung einer Standortbestimmung der Anstaltszeitung „Schallwellen“ hinsichtlich „Zentrum und Peripherie“ lässt verschiedene Ebenen in den Focus treten, die die Wechselbeziehungen wie auch die Austauschbarkeit von Zentrum und Peripherie, Innen und Außen, Heimat und Ferne, Fremdem und Eigenem dokumentieren – abhängig vom Ausgangspunkt und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, der Blickrichtung des jeweiligen Forschers und der historischen Akteure selbst. Die Analyse der verschiedenen Textsorten und ihrer Inhalte soll diesen Ebenen und den jeweiligen Perspektiven ebenso Rechnung tragen wie dem vorgegebenen thematischen Rahmen. Leitgedanken der folgenden Untersuchung sind „Urbane Bürgerkultur in einem ländlichen, begrenzt-intellektuellem Umfeld“, „Heimat und Ferne im Ersten Weltkrieg“ beziehungsweise „Individuum und Gesellschaft“. Die hier vorgestellten Untersuchungsmöglichkeiten erheben jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind jederzeit differenzierbar und in anderen Kontexten als diesen hier zu erforschen. URBANE BÜRGERKULTUR IN DER LÄNDLICHEN GESELLSCHAFT OBERSCHWABENS Die Gründung der Anstaltszeitung Nachdem am 1. September 1897 die erste Ausgabe der „Schallwellen“4 erschienen war, sollte sie fast vier Jahrzehnte lang einem großen und treuen Leserkreis zugänglich sein. In der 1875 in einem ehemaligen Prämonstratenserkloster im württembergischen Schussenried gegründeten Heil- und Pflegeanstalt konzipiert, geschrieben und gedruckt, wurde die Zeitung innerhalb kurzer Zeit zu einem viel gelesenen Medium. Und dies nicht nur innerhalb der Anstaltsmauern, sondern auch außerhalb derselben. Patienten und Mitarbeiter der Anstalt nahmen sie mit nach Hause, im Ersten Weltkrieg wurde das Blatt als Feldpost bis in die Schützengräben Frankreichs und Belgiens transportiert, wo ehemalige Anstaltsangestellte ihren Dienst an der Waffe versahen. War die Auflage der „Schallwellen“ anfangs noch „dem Bedarf angepasst“5, wie es hieß, wurden in den folgenden Jahrzehnten bis zu ihrer Einstellung im Rahmen der Gleichschaltung der Medien durch die Nationalsozialisten 1936 bis zu 700 Stück pro Monat gedruckt. 3 4 5
Porter 2006 und 2007. Vgl. Kanis-Seyfried 2011, S. 25–42. Schallwellen 1897, September.
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Unter der Redaktionsleitung des seit 1886 in der Anstalt tätigen Musiklehrers Albert Uhl6 entwickelte sich das „kleine, bescheidene Anstaltsblättlein“7 zu einem um Aktualität bemühten, ambitionierten Werk, in dem Uhl nicht nur die öffentliche Diskussion zu allem, was in und um die Anstalt geschah, wiedergab, sondern auch engagiert und eindringlich selbst Meinungsbildung betrieb.8 Bis zu seinem Tod 1916 wurden Stil und Inhalt der Zeitung maßgeblich von ihm geprägt. ANSTALTSKULTUR ALS PRAKTIK DER (ORDNUNGS-)MACHT Zu lesen gab es neben Reisebeschreibungen Artikel zu Heimatkunde, Landwirtschaft, regionaler Flora und Fauna, Gedichte, Witze, biographische und autobiographische Erzählungen, Silben- und Kreuzworträtsel, historische, kulturelle und politische Erörterungen, viele mit lokalem Bezug. Ein wesentlicher Teil war überdies den Jahresberichten der Direktion mit Statistiken und reflektierenden Erläuterungen über Krankenbewegungen, Personal, Behandlung und Verpflegung der Patienten vorbehalten, sowie den Berichten aus den agrikolen Kolonien, der Familienpflege und der Ökonomieverwaltung. Ebenso wie diese jährlichen Mitteilungen trugen regelmäßig in der Anstalt stattfindende Theateraufführungen, Konzerte, Lichtbildervorträge, Fastnachtsbälle und Feste zu den verschiedensten Anlässen dazu bei, die Geschehnisse hinter den Anstaltsmauern für Außenstehende transparenter zu machen und das zweifelhafte Image der Psychiatrie sowie in der Bevölkerung bestehende Ressentiments und Schwellenängste wenn nicht abzubauen, so doch etwas zu mildern. Die Veranstaltungen waren für jedermann zugänglich und das Angebot unterhaltsam und vielfältig, so dass reger Gebrauch davon gemacht wurde. Unterstützt wurden die Bemühungen, den Kosmos Anstalt in das dörfliche Gefüge mehr zu integrieren, durch den Kontakt von Patienten und Dorfbewohnern im Rahmen von damals innovativen Behandlungs- und Unterbringungsmethoden: In sogenannten agrikolen Kolonien lebten und arbeiteten dafür geeignete Patienten unter der Aufsicht von Anstaltspersonal auf Höfen außerhalb der eigentlichen Anstalt, andere befanden sich in Familienpflege, bei Bauern der umliegenden Güter. 6
7 8
Albert Uhl war in der Anstalt und in der Gemeinde Schussenried ein angesehener und sehr beliebter Bürger, dessen Verdienste in einem Nachruf ausführlich gewürdigt wurden. Uhl wurde am 8. Dezember 1859 in Leinzell, Oberamt Gmünd, geboren. Sein Vater war Lehrer und später Schultheiß in Neuhausen und volksparteilicher Abgeordneter Oberschwabens. Uhl kam im Alter von 26 Jahren als junger Musik- und Anstaltslehrer an die Schussenrieder Heilanstalt. Seine musikalische Ausbildung war umfassend: Klavier, Orgel, Gesang, Harmonielehre, Violine, Cello und Zither. Außerdem spielte er Harmonium, Viola, Kontrabass und Gitarre. Er galt als freundlich und humorvoll, als Sinnen- und Genussmensch. Uhl war zwei Mal verheiratet und hatte drei Kinder. Beide Ehefrauen verstarben jung. Albert Uhl selbst starb im Januar 1916 nach dreißigjähriger Tätigkeit in der Schussenrieder Anstalt (Schallwellen 1916, Februar, S. 10–12). Schallwellen 1898, Januar, S. 2. Vgl. u. a. Jeismann 1992; Weber-Kellermann 1983.
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Abb. 1: Albert Uhl war seit 1886 als Musiklehrer an der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried angestellt und selbst als virtuoser Musiker, der viele verschiedene Instrumente beherrschte, bekannt. Von 1897 bis zu seinem Tod 1916 war er zudem mit der Herausgabe und redaktionellen Bearbeitung der Anstaltszeitung „Schallwellen“ beauftragt. (Archiv ZfP Südwürttemberg, Bad Schussenried)
Abgesehen von der Außenwirkung, die das erstaunlich vielseitige und anspruchsvolle kulturelle Angebot in der Heil- und Pflegeanstalt fernab jeglichen städtischen Umfelds und Einflusses zur Folge hatte, bot die Herausgabe einer eigenen Zeitung all jenen, die bei der Anstalt in Lohn und Brot standen – vom Wärterpersonal bis hin zu akademisch gebildeten Mitarbeitern und Ärzten – eine weitere Möglichkeit, sich mit ihrem Arbeitsumfeld zu identifizieren. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dieser Effekt von der Anstaltsleitung vorausgedacht bzw. beabsichtigt war. Die
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eigentliche Intention, eine Zeitung herauszugeben, war trivialer: Zum einen sollte sich die kurz zuvor angeschaffte Druckerpresse amortisieren, zum anderen sollten die „besseren Stände“9, die zur Behandlung in Schussenried weilten, adäquat beschäftigt werden. Für diese „höhergestellten“ Kranken versprach man sich von der Mitarbeit in einer Druckerei und dem Verfassen von Texten einen besonderen therapeutischen Nutzen. Dass der intellektuelle Anspruch, der mit der Herausgabe des Blattes verbunden war, den in der oberschwäbischen Provinz deutlich zutage tretenden Mangel eines adäquaten Gesellschaftskontextes zumindest ein wenig kompensierte, steht außer Frage. Den im dörflichen Raum lebenden Verwaltungsbeamten, Medizinalräte, Lehrer, Förster und Pfarrer boten die „Schallwellen“ ein eigenes, standesgemäßes kulturelles Medium und Umfeld10. Die Folge war, dass im Laufe der Zeit die Zahl der schreibenden Mitarbeiter wuchs. Zunehmend lieferten „Beamte und Angestellte der Anstalt“, „Freunde der Anstalt im Ort Schussenried“, der „Anstalt fern stehende Autoren“ Beiträge ab und auch Patienten „die trotz ihrer Krankheit sich Interesse und Humor genug bewahrt hatten“,11 beteiligten sich fleißig und gaben sogar eine eigene Patientennummer heraus.12 Mit ihren, der urbanen Bürgerkultur Rechnung tragenden, breit gefächerten Inhalten waren die „Schallwellen“, ein Stück Anstaltskultur, das Normalität und Alltäglichkeit repräsentierte. Diesen eher beiläufig aufgetretenen positiven Auswirkungen ist jedoch die erklärte Absicht des Redaktionsleiters beizustellen, dass die Zeitung dazu beitragen sollte, ihre Leser, ob gesund oder krank, in gewisser Weise zu disziplinieren und zu erziehen13: Immer wieder wird auf den vorzüglichen Lerneffekt hingewiesen, den die „Schallwellen“ böten, auf ihren Anspruch, den Leser zu bilden und auf den Nutzen, den die Beschäftigung mit der Historie für jeden Einzelnen habe. Damit erweisen sich die „Schallwellen“ nicht mehr nur als harmloser Zeitvertreib, sondern im Foucaultschen Sinne als eine Praktik der Macht14, als bewusste Strategie der Meinungsbildung und aktiver Prozess, der soziales Handeln von Subjekten herstellen und beeinflussen sollte. Mit seiner Absicht, die Leser zu „belehren“ und gleichzeitig „Kurzweil“15 zu bieten, baute Albert Uhl eine Brücke zwischen Alltag und Kultur. Den sich tagtäglich wiederholenden Handlungen und Ritualen, den Lasten und Pflichten, denen man sich nicht entziehen konnte, wurde der Glanz des Geistes und eine bürgerlichchristliche Kultur entgegengestellt. Die profanen „Niederungen des Alltags“16 mit Diagnosen, Behandlungen, Patientenstatistiken und Ökonomieberichten wurden mit „Besonderem und Bedeutungsvollem“17 aufgewertet. 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Schallwellen 1922, Januar, Jubiläumsnummer, S. 1. Müller und Kuhn 2010. Schallwellen 1922, Januar, Jubiläumsnummer, S. 2. Schallwellen 1912, September, Pflegling-Nummer, S. 4. Foucault 1975 und 1976. Vgl. Foucault 1975; Kögler 2004, S. 88–89 f. Schallwellen 1989, Januar, S. 1. Blümcke 2003, S. 9–16. Blümcke 2003, S. 9.
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Als „Konserve der Zeit“18 und damit bedeutsam für die historisch-kulturwissenschaftliche Analyse erweisen sich die „Schallwellen“ letztendlich überall dort, wo regionale und überregionale Ereignisse sich kreuzen, wo national vorgeprägte Normen und Werte, Verhaltensweisen und Ansichten, individuell internalisiert werden und zum Ausdruck kommen. Zwar ist letzteres immer subjektiv, gefiltert durch die jeweilige Sichtweise der schreibenden bzw. die Zeitungsbeiträge auswählenden Akteure. Vor dem Hintergrund allgemein gültiger und vorgegebener Rahmenbedingungen werden so Einblicke in die unmittelbare Alltagswelt und Lebenswirklichkeit der historischen Subjekte, in ihre Institutionen, ihre Bräuche und Sitten, ihr traditionelles Wertesystem, ihr Selbstverständnis, ihre Ansichten und Normen, ihre Mentalitäten und Interessen geboten. Und dies nicht begrenzt auf akademisch gebildete Eliten und höhere Stände, sondern mit bewusstem Blick auf einfache, weniger gebildete, unterprivilegierte Menschen. Im Hinblick auf das vorgegebene Koordinatensystem von „Zentrum und Peripherie“ stellt sich nun die Frage, wo und wie sich diese Erkenntnisse verorten lassen? Ist die Anstalt selbst das Zentrum und die sie umgebende dörfliche Gemarkung die Peripherie? Oder steht die Anstalt vielmehr am Rand, während die Gemeinde Schussenried das Zentrum darstellt? Und wo stehen Anstalt und Gemeinde in Hinsicht auf administrative Belange und das weisungsbefugte Innenministerium in der fernen württembergischen Hauptstadt Stuttgart? Was ist in diesem Zusammenhang als „Zentrum“ zu verstehen und was als „Peripherie“? Erste Vermutungen der Eingangshypothese scheinen sich hier schon zu bestätigen: „Zentrum“ und „Peripherie“ sind austauschbar, je nachdem unter welchem Gesichtspunkt die qualitative Analyse des Sujets erfolgt. DAS BILD VOM KRIEG IN DEN „SCHALLWELLEN“ „Erbfeindschaft“ und „Barbarentum“ In einer Zeit, die in Deutschland geprägt war von Nationalismus und Militarismus,19 imperialistischem Eroberungsstreben und der Angst vor rachesüchtigen Vergeltungschlägen des verhassten Erbfeindes Frankreich, lagen Redakteur Uhl und seine Autoren mit der Absicht, in der provinziellen Anstaltszeitung „das Interesse der Leserwelt für jene große Zeit zu wecken“20, ganz im Trend urbaner bürgerlicher Publikationen. Im Juni 1898 erschien in mehreren Fortsetzungen der Erlebnisbericht des Pfleglings und Veteranen Geiger, Soldat der 4. Kompanie des 7. Württembergischen Infanterie-Regiments aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Diese Lektüre, sei, so Uhl, „für den Leser nicht ohne Wert, […] man lernt da manches verstehen und hört wiederum manches in anderer Tonart als von den maßgebenden Persönlichkei18 19 20
Kraus 1986, S. 174. Rohkrämer 1992, S. 95. Schallwellen 1911, Beiblatt Juni, Juli, August, September, Oktober, Dezember.
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ten, die uns menschlich ferner stehen.“21 Überhaupt scheint die Beschäftigung mit bedeutenden historischen Ereignissen ein Steckenpferd der in der Anstalt tätigen Ärzte gewesen zu sein. Ganz im Sinne bürgerlich-humanistischer Bildungsideale beschäftigte sich u. a. Medizinalrat Dr. Robert Groß in seiner Freizeit intensiv mit der deutschen Geschichte. Er hielt Vorträge über den „Anteil der Württemberger am russischen Feldzug 1812“22, über die „Anfänge des Hauses Württemberg“23, über „Württembergs Anschluß an das Deutsche Reich 1870/71“24 oder über die „Schlacht von Leipzig 1813“25, die in mehreren Folgen abgedruckt wurden. In Erinnerung an die Schlachten bei Champigny und Sedan wurden Jahr für Jahr Gedenkfeiern26 in der Anstalt abgehalten, ebenso zu Geburtstagen und Thronjubiläen des deutschen Kaisers, des württembergischen Königs oder zu Ehren Bismarcks. Als Redaktionsleiter der Anstaltszeitung hat Albert Uhl in den Jahren seines Wirkens den Löwenanteil journalistischer Produktion geleistet, seine Einstellung und seine Meinung über gesellschaftliche und politische Themen befand sich unzweifelhaft in Konsens mit der Anstaltsleitung, ihren Lesern und Autoren. Andernfalls hätte man ihm kaum 18 Jahre lang freie Hand gelassen. Nur ein Mal war man in der Führungsebene mit seinem Tun nicht einverstanden gewesen: Die erste Ausgabe der „Schallwellen“ im September 1897 schien der Geschäftsleitung zu wenig seriös, wenn nicht gar despektierlich gewesen zu sein. Aus diesem Grund schrieb Uhl in der zweiten Ausgabe folgendes: „Daß scherzhaft unsere erste Nummer, hat vielfach hier bereitet Kummer. Ja mancher war selbst tief verschnupft, daß ihn der Schalk etwas gerupft. Wir wollen nicht n u r Scherze treiben; Auch Ernstes werden wir gern schreiben. Doch n i e m a l s fehl’, wünsch’ ich zuvor, Lesern und Redaktion Humor!“27
Bereits Anfang 1914, als die politischen Spannungen zwischen den europäischen Staaten zunahmen, machten Albert Uhl und seine Mitautoren keinen Hehl aus ihrer Begeisterung angesichts eines möglichen Krieges. Auch diese Haltung, so zeigen neuere Studien, war in erster Linie im akademisch gebildeten, städtischen Bürgertum vertreten. In den unteren Schichten und vor allem in der Arbeiterschaft war der Kriegs-Enthusiasmus deutlich verhaltener bzw. gar nicht vorhanden.28 Der kaisertreue, deutsch-national und konservativ denkende Albert Uhl stand auf der Seite der Befürworter: Bereits im März 1914 verglich er den beginnenden Frühling wortgewaltig mit einem Kämpfer, der auf dem „Schlachtfeld des Winters“29 erfolgreich die Natur wiederbelebt.30 In seinem Kommentar „Der deut-
21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Schallwellen 1898, Juni, S. 41. Schallwellen 1912, Dezember, S. 1; 1913, Januar, Februar, März; 1914, April, S. 1–6. Schallwellen 1913, Juni. Schallwellen 1911, Mai. Schallwellen 1913, November, S. 2–4; Dezember, S. 1–4. Schallwellen 1898, 1905, 1906, 1907. Schallwellen 1897, Oktober, S. 1. Stöcker 1994; Bruendel 2003; Raithel 1996; Verhey 2000; Kruse 1994 und 1991, S. 73–87. Schallwellen 1914, März, S. 2. Schallwellen 1914, März, S. 2.
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sche Michel“ greift er „rachesüchtige Franzosen“ und ihr „ekelhaftes Französeln“31 an, den „französischen Gruße Adieu“32 möchte er am liebsten aus dem deutschen Sprachgebrauch tilgen.33 Von „glühender Liebe zum teueren Vaterlande“ und „glühendem Hass auf alles, was Feind heißt“ beseelt, schreibt er gegen den „alten Erbfeind“ Frankreich an34, „der schon lange „an den Grenzen lauerte“.35 Er empört sich über Japaner, jene „zuckersüßen Limonadenmenschen“36 und verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, dass „unsere schönen Feinde […] die derbe Faust des deutschen Michels zu spüren bekommen und will’s Gott, dann liefert mir der Elektromotor meiner Orgel am Kirchenkonzert den Wind zu einem grandiosen Victoria! Gott geb’s.“37 Der Krieg erscheint ihm als „eine Sache der Notwendigkeit“, die „Abwehr des gemeinen Überfalls“ ist alles, was noch zählt:38 „Kein schönerer Tod ist der Welt Als wer fürm Feind erschlagen; Auf grüner Heid, im freien Feld Darf nicht hörn groß Wehklagen.“39
Dennoch schleicht sich wenige Monate nach Kriegsbeginn zunehmend ein bitterer Ton ein, da die Kampfhandlungen nicht so schnell „für unsere Feinde zum Verhängnis werden“,40 wie anfangs vermutet. Ein rasches Ende des Krieges mit Deutschland als Siegermacht will sich nicht einstellen. In seinem Artikel „Wer trägt die Schuld“41 macht Uhl „Frankreichs Revanchegelüste“, „Russlands asiatischen Charakterzug“, „den Neid vor der kraftvollen Entwicklung unseres Reiches, unseres Handels und Weltmarktes“42 sowie „Lüge und Heuchelei […] Eroberungsgier, Rohheit und Niedertretung aller und jeder Völkerrechte, Verrat und Gemeinheit im Heer, wie im Volk“43 verantwortlich. An der erzieherischen Wirkung, die der Krieg auf das „Volk der Dichter und Sänger, der Gefühlsmenschen“44 seiner Ansicht nach ausübe und der angeblichen „kriegstechnischen Überlegenheit“45 des deutschen Kaiserreichs hält er in seinen Artikeln jedoch unbeirrt fest.
31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Schallwellen 1914, September, S. 4. Vgl. Johler et al. 2009; Jeismann et al. 1998; François et al. 2008; dfi Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg 2007. Schallwellen 1914, Dezember, S. 4. Schallwellen 1914, September, S. 4. Schallwellen 1914, Dezember, S. 2. Schallwellen 1914, Dezember, S. 2. Vgl. Jeismann 1992. Schallwellen 1914, September, S. 4. Schallwellen 1914, September, S. 4. Schallwellen 1915, Februar, S. 2. Vgl. dazu auch die Rede von Medizinalrat Dr. Groß „Zum Geburtstagsfeste des Königs!“ (Schallwellen 1915, Mai, S. 1–4). Schallwellen 1915, Februar, S. 2. Schallwellen 1915, Januar, S. 2–3. Vgl. Johler et al. 2009; Jeismann 1992; François et al. 2008; François et al. 2007. Schallwellen 1915, Januar, S. 4. Schallwellen 1915, Januar, S. 2–3. Schallwellen 1915, Februar, S. 5. Schallwellen 1915, September, S. 5.
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Fest verankert im nationalen Denken sind Vorstellungen von einem friedliebenden deutschen Volk, das sich notgedrungen zur Wehr setze46 und der „Kampf ums Dasein“ als „dauerndes Ringen um Selbstbehauptung durch Machtsteigerung […]“ zu verstehen sei.47 In den „Schallwellen“ kommen sie in unterschiedlichen Textformen wie Essay, Kommentar, Gedicht und Wortwitz zum Ausdruck. Der auf der Grundlage der Darwinschen Theorien aufbauende Selektionsgedanke wird darin zur Voraussetzung allen Fortschritts, da er „das Minderwertige und Marode zerstöre“ und „das Starke und Gute triumphieren lasse.“ Der Krieg als Mittel, die Tugend und Moral in der Bevölkerung steigern48, soll letztendlich mit dazu beitragen, das Gefühl nationaler Identität noch tiefer im Bewusstsein der Menschen zu verankern.49 Auch in dieser Hinsicht erwies sich (nicht nur) Albert Uhl als treuer Untertan und Lehrer: „Deutsches Blut! Herrgott im Himmel droben, wie einen das heute stolz macht, daß man ein Deutscher ist, stolz macht, noch ehe der Sieg unser ist […]“ schreibt er im Mai 1915 in seinem Artikel „Deutsches Blut, deutsche Faust, deutscher Geist, deutsches Wissen“.50 In diesem Klima gedeiht nicht nur der Topos vom böswilligen „Erbfeind“ Frankreich, sondern auf französischer Seite die Vorstellung vom Barbarentum der Deutschen.51 In den Augen der Franzosen gelten die deutschen Nachbarn, allen voran die Preußen, als moralisch-sittlich defekt, sie verkörpern die Schattenseite der modernen Zivilisation, das Monströse, Inhumane, ein kriegerisches Volk, dessen Absichten klar definiert sind: ravager, piller, assasiner, égorger, violer“ – verwüsten, plündern, ermorden, erwürgen, vergewaltigen.52 Beide Feindbilder haben eine lange Tradition, deren Grundlage die seit dem Mittelalter von Konflikten geprägten deutsch-französischen Beziehungen53 waren und die sich mit dem machtvollen Aufstieg Preußens und der nationalen Einigung der deutschen Staaten nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress 1815 weiter verschlechtert hatten. Während sich in Deutschland die mit dem Begriff der „Erbfeindschaft“ verbundene Denkweise in Ansätzen bis in die Zeit Ludwigs XIV. und dessen Expansionsbestrebungen zurückverfolgen lässt – wenn nicht sogar bis ins 15. Jahrhundert, als Frankreich Ansprüche auf das Elsass geltend machte – wurde in Frankreich die „Erbfeindschaft“ erst mit dem verlorenen Krieg von 1870/71 zum Topos für die Charakterisierung des bilateralen Verhältnisses.54 Bis zu diesem Zeitpunkt war England „aufgrund von Interessenkonflikten beim Ausbau der Kolonialreiche beider Länder als Hauptfeind wahrgenommen“55 worden. Mit 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. dazu auch die Rede von Medizinalrat Dr. Robert Groß „Zum Geburtstagsfeste des Königs!“ (Schallwellen 1915, Mai, S. 1–2). Rohkrämer 1992, S. 103. Rohkrämer 1992, S. 103. Schallwellen 1914, Dezember, „Was man im Krieg lernt“. Schallwellen 1915, Mai. Jeismann 1992, S. 207–240. Jeismann 1992, S. 225, S. 212. dfi Ludwigburg 2007, S. 12. dfi Ludwigburg 2007, S. 22. dfi Ludwigburg 2007, S. 22.
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dem Sieg des Deutschen Reiches am 10. Mai 1871 und der daraus resultierenden Abgabe Elsass-Lothringens sowie den immensen Reparationszahlungen an die Sieger, war Frankreichs Selbstverständnis als „Grande Nation“ in Europa empfindlich in Frage gestellt.56 Doch während in Deutschland die zunehmende Entwicklung eines eigenen Nationalgefühls zur Abgrenzung von Frankreich und einer Feindbildkonstruktion57 führte, verband Frankreich seine „Erbfeindschaft vor allem mit der Außenwirkung Deutschlands und der Angst vor einem übermächtig werdenden Nachbarstaat mit Preußen an der Spitze.58 In Deutschland wiederum war die Angst vor einer französischen Revanche für die Niederlage von 1871 allgegenwärtig obwohl es bis zur Jahrhundertwende immer wieder auch zu Annäherungen und einer Wiederaufnahme positiver Beziehungen gekommen war, die Wilhelm II. jenseits der Politik59 förderte: Durch Französischunterricht an den Schulen etwa, oder durch Austauschprogramme von Künstlern, Schülern oder Geschäftsleuten.60 Doch das gegenseitige Misstrauen blieb im Gedächtnis der Bevölkerung auf beiden Seiten des Rheins bestehen und wurde genährt von einer Fülle patriotischer Literatur und einem Erinnerungskult, der unter anderem in Veteranen- und Kriegervereinen und der Erschaffung zahlreicher Kriegerdenkmäler als „neue patriotische Bezugs- und Orientierungspunkte“ seinen Ausdruck fand.61 Als „Barbar“ zu gelten, fand auch im oberschwäbischen Schussenried kein Gefallen. In seinem Artikel „Sind wir Barbaren?“ hält ein namentlich nicht genannter Autor den „Lügenberichten der Feinde vom Barbarentum der Deutschen“ entgegen, dass „trotz aller Furchtbarkeiten und notwendigen Grausamkeiten des Krieges […] der Deutsche sein tiefes Gefühls- und Gemütsleben in seinem Innern nicht“ habe „absterben lassen“62. Überhaupt habe Deutschland „in diesen Tagen die höchste geistige und sittliche Kultur an den Tag gelegt. Das deutsche Volk zeigt, daß Zucht und Gesittung, Opfersinn und Pflichttreue, Wahrheit und Besonnenheit, Glaube und Gottesfurcht nur noch bei ihm zu finden sind.“63 Als Beispiele werden die Rettung eines „kleinen schreienden Russenkindes“ durch einen Landwehrmann und die Ergriffenheit einer deutschen Kompagnie angeführt, als in einer französischen Kirche das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ auf der Orgel gespielt wird: „Es waren die Nachkommen jener Helden von Leuthen, von denen Friedrich der Große einst sagte: ‚Mit solchen Leuthen muß mir Gott den Sieg verleihen.‘64
56 57 58 59 60 61 62 63 64
dfi Ludwigburg 2007, S. 17. Johler et al. 2009. dfi Ludwigburg 2007, S. 23. Vgl. Jeismann 1992. z. B. kämpften Frankreich und Deutschland gemeinsam beim Boxeraufstand 1900 in China. dfi Ludwigburg 2007, S. 27–29. Maas 1995, S. 215–231. Vgl. auch Denis 2009, S. 245–266. Schallwellen 1916, Januar, S. 2. Schallwellen 1915, Januar, S. 3. Schallwellen 1916, Januar, S. 3.
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DAS INDIVIDUUM IM SPIEGEL DER GESELLSCHAFT Zur „Kriegstauglichkeit“ der deutschen Jugend Der Zweifrontenkrieg des deutschen Kaisers mit einer noch nie dagewesenen Materialschlacht forderte bald Opfer, die alle Vorstellungen überstiegen. Wie die meisten seiner Landsleute hatte auch Albert Uhl den Ernst der Lage falsch eingeschätzt. Überzeugt, dass Deutschland in nur wenigen Wochen siegreich aus den Kämpfen hervorgehen „und das große, herrliche Deutschtum […] uns nicht blos einen dauernden Frieden bringen, sondern die segenbringende Richtschnur […] für alle ander’n Staaten und Völker“ sein werde65, beschwor er die „kraftvollen“, „kampffähigen und begeisterten Männer und Jünglinge“ an der Front, um das zu verteidigen, „was deutsch heißt“.66 Albert Uhl, der für den Kriegsdienst schon zu alt war, schwärmte von der segensreichen und beizeiten stattgefundenen Militarisierung der Jugend, vom „Jüngling“, der „freudig, körperlich und geistig wohlvorbereitet“ in das deutsche Heer eintritt.“ In Turnvereinen, bei Pfadfindern und in Jugendwehren habe man zu Friedenszeiten „viel Gutes geschaffen“ und aus „schläfrigen, schwerfälligen, eckigen, breimauligen, oft recht einfältigen Dorfrangen […] hell in die Welt sehende, schlagfertige und charmante Jungens“ gemacht, deren Sinne durch „Marschübungen, Kriegsspiele67 und Exerzieren[…] geweckt und geschärft“ worden waren, um mit „guten Willen, Opfer an Zeit und Kraft, Vertrauen in die schöne Sache, Dankbarkeit gegen die Helden des großen Krieges“ in die Schlacht zu ziehen. Mit den konkreten Erfahrungen an der Front seien aus „Weichlingen“, denen es in der Heimat noch „am nötigen Anpacken und herzhaftem Zugreifen gefehlt“ habe, „stahlharte Männer geworden“.68 „Der Krieg hat das Gespenst der Mutlosigkeit, der Feigheit, der Todesfurcht aus der Welt gejagt. Stahlharte Herzen für den Kampf des Alltags, harte, stahlharte Köpfe für den Willen, stahlharte Fäuste für das rollende Rad der Arbeit, das bringen sie mit, wenn sie im Farbenjubel der Fahnen heimziehen. Unbeugsame Manneskraft, das ist das große Kapital, das uns der Krieg ins Land bringt und das herrliche Werte schafft.“69 Zum Frauenbild in den „Schallwellen“ Von großem Vorteil sei der Krieg darüber hinaus auch für die weibliche Bevölkerung, so der Redaktionsleiter der „Schallwellen“: „Gar viele Frauen werden auch für die Zukunft ihre, oft so kleinlichen haltlosen Wünsche, die blos dem faden, weltlichen Vergnügen dienen, in das Meer der Kriegsschrecken werfen […]. Der Krieg macht euch bescheidener in eueren Ansprüchen, stark im Tragen von Not und 65 66 67 68 69
Schallwellen 1915, Januar, S. 3. Schallwellen 1914, Dezember, S. 2. Vgl. Natorp 1915, S. 23; Köbner et al. 1985; Kaschuba 1995, S. 291–320. Schallwellen 1915, Juni, S. 2. Schallwellen 1915, Juni, S. 3.
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Entbehrungen, milder im Urteil über andere, kraftvoll für die Arbeit, glücklicher in der Ausübung der Nächstenliebe und ergebener in Gottes Fügung“70 Mit dem Krieg sei schließlich auch die „Berufstätigkeit“ der Frauen „sanktioniert“ worden. Zwar habe man zunächst „[…] mit zweifelhaften Augen darauf gesehen, wenn ihr euch ein wenig frei und vorwärts machtet und einen Beruf erwähltet.“ Doch nun sei man „froh […] an den vielen Lehrerinnen, an den Frauen und Mädchen am Telegraph, am Telefon, in den Büro’s, an den Ärztinnen u. s. w.“. Denn „überall erspart man damit einen deutschen Soldaten!“ Diese Vorstellungen von den Aufgaben der männlichen Jugend und das hier zu Tage tretende Frauenbild weist, wie wissenschaftliche Gender- und Jugendforschung zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert belegt, über die subjektive Meinung und Einschätzung des Autors hinaus.71 Der hier eingeforderte weibliche Tugendkatalog vermittelt traditionelle, gesellschaftlich festgelegte Ansichten und Haltungen, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer sogenannten anständigen Frau nicht nur im konservativ-katholisch geprägten Oberschwaben zugemessen wurden. Der Krieg, so Uhls Hoffnung, werde die Frauen wieder in ihre Schranken verweisen und den von der patriarchalisch-bürgerlichen Gesellschaftsordnung zugedachten Normen und Werten unterordnen. Seine Aufforderung zum Arbeiten und Beten und die Rückbesinnung auf ein einfaches Leben ist unmissverständlich: „Der liebe Gott hat euch Frauen im Krieg an den rechten Platz gestellt, in euere ureigene Domäne: die christliche Nächstenhilfe.“ Der Tugendkatalog „echter“ Männlichkeit In den sogenannten Ehrentafeln, wie die Nachrufe der im Krieg getöteten ehemaligen Anstaltsmitarbeiter in den „Schallwellen“ bezeichnet wurden, waren die Verfasser sehr bemüht, den jeweiligen Menschen und seine Persönlichkeit zu würdigen: Albert Traub wird als „tüchtiger Pfleger“ und „strammer Mensch“ beschrieben, „dabei bescheiden und von gutmütiger Charakteranlage“, ein Mann, der sich neben seinem Dienst auch bei den internen Theateraufführungen „in anerkennenswerter Weise“ betätigte.72 Pfleger Georg Glocker wird für sein „ruhiges und festes Auftreten“ gelobt, das ihm neben seiner „großen Statur“ vor allem in der Abteilung für unruhige Patienten den notwendigen „Respekt“ verschaffte.73 Und Conrad Volk aus Bierstetten, der bei Verdun „für das Vaterland den Heldentod stirbt“ war ein „ruhiger, zuverlässiger und tüchtiger Wärter“. Er musste sein Leben lassen, als am Morgen des 18. September 1914 „in eine Scheune, in welcher Volk mit neun andern Kameraden sich befand, eine Granate“ einschlug und „sie sämtlich in Stücke zerriß.“74 70 71 72 73 74
Schallwellen 1914, November, S. 4. Vgl. u. a. Schopenhauer 1851, S. 495–501; Möbius 1903; Bausinger 2007, S. 253–262; Hildenbrand 2002, S. 194–201; Bender 1985, S. 101–130. Schallwellen 1919, Februar, S. 13. Schallwellen 1919, April, S. 26. Schallwellen 1914, Oktober.
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Gaben Albert Uhls journalistische Bemühungen einen Einblick in das gängige Jugend- und Frauenbild des frühen 20. Jahrhunderts, so vermitteln die Ehrentafeln sowie die Feldpostbriefe, auf die noch zu kommen sein wird, einen Einblick in das, was im frühen zwanzigsten Jahrhundert gesellschaftlich als spezifisch „männlich“ galt und im Tugendkatalog männlicher Verhaltensweisen verankert war. Danach galten Tapferkeit, Tüchtigkeit, Pflichteifer, Zuverlässigkeit, Fleiß aber auch Bescheidenheit beziehungsweise Anspruchslosigkeit als herausragende Eigenschaften, die mit dem männlichen Selbstverständnis eng in Verbindung gebracht wurden. So war der Pfleger Joseph Bitzer nicht nur „zuverlässig“, sondern auch „mit einem natürlichen Wohlwollen für die ihm anvertrauten Kranken und heiterer, zufriedener Gemütsanlage“ ausgestattet, „dabei doch energisch und fest in seinem Auftreten“.75 Er starb den „Heldentod des tapfern und unerschrockenen Mannes, der jeweils bei seinen Urlaubstagen es nie versäumte, auch in der Anstalt sich einzufinden und in seiner munteren, anspruchslosen Weise von seinen Erlebnissen zu erzählen.“76 Anton Blersch galt als Beispiel „der Pflichttreue bis zum Tode“77 und Anton Fieseler „war ein äußerst bescheidener, fleißiger und tüchtiger Landwirt.“78 Ein Gedicht von Julius Sturm, das im Februar 1915 in den „Schallwellen“ veröffentlicht wurde, macht einmal mehr deutlich, wie ein „echter Mann“ zu sein hatte: Ein echter Mann Das ist ein echter deutscher Mann, Der wacker fechten und beten kann, Den Blick nach oben, dann d’ran und d’rauf, Zerbricht die Klinge, dann tut’s der Knauf, Für Freiheit, Ehr und Vaterland Steht immer sein gutes Herz in Brand; Er haßt die Lüge, vertritt das Recht, Und nennt das Schlechte freimütig schlecht; Zu Hause hält er auf Zucht und Scham, Ist allen Spöttern und Heuchlern gram, teilt mit den Armen gern sein Brot, Weicht nicht vom Freunde in der Not, Sein Wort ist fester als Demantstein, Sein Ja ist Ja, Sein Nein ist Nein! Wie er sich nennt – was liegt daran, S’ ist eben ein deutscher Ehrenmann.79
75 76 77 78 79
Schallwellen 1919, Juni, S. 38. Schallwellen 1919, Juni, S. 40. Schallwellen 1919, Oktober, S. 75. Schallwellen 1920, Februar, S. 12. Schallwellen, Beiblatt 1915, Februar, S. 4.
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DIE BRIEFE AUS DEM FELD: HEIMAT UND FERNE, DISTANZ UND NÄHE, FREMDES UND EIGENES Als Albert Uhl 1916 starb, übernahm zunächst ein Anstaltsarzt die Redaktion der Zeitung, da aufgrund des kriegsbedingten Lehrermangels die Stelle nicht besetzt werden konnte.80 Mit der Redaktionsleitung änderten sich auch die Inhalte: erbauliche Literatur etwa über „Bienenzucht im Oberamt Waldsee“, „Tierfangende Pflanzen im Reichermoos“ oder Berichte über Studienreisen dominieren nun die Seiten der Anstaltszeitung. Subjektive Stellungnahmen und engagierte, emotionale Meinungslenkung wie sie Albert Uhl kennzeichneten, sind nun Vergangenheit. Die Inhalte werden trivialer und die Einflussnahme auf das Denken der Leserschaft ist nur noch in Ansätzen erkennbar. Die jährlichen Berichte der Direktion und die ebenfalls veröffentlichten Nachrufe auf gefallene Anstaltsmitarbeiter machen jedoch deutlich, dass der Krieg kein Geschehen ist, das nur in weit entfernten, an der Peripherie Deutschlands gelegenen Schützengräben tobt und in den nur die sich unmittelbar dort befindenden Menschen involviert sind. Stattdessen ist er längst in Schussenried und seiner Heil- und Pflegeanstalt angekommen. Wer kein Familienmitglied, einen Freund oder Bekannten an der Front zu beklagen hatte, bekam die nachteiligen Auswirkungen des Krieges durch ständig knapper werdende Güter des täglichen Bedarfs empfindlich zu spüren. Auch in einer ländlichen, waldreichen Gegend mit Ackerbau und Viehzucht wie in Oberschwaben wurde der Mangel an Nahrungsmitteln und Heizmaterial eklatant. Darüber hinaus änderte sich das gewohnte Bild der Anstalt und seiner Klientel. Immer häufiger mussten Militärangehörige als Patienten aufgenommen werden, von den 1917 aufgenommenen Kranken waren es fast 50 Prozent81. Mangelernährung und schlechte hygienische Verhältnisse führten bei allen Kranken zu einer Zunahme von gefährlichen Infektionskrankheiten, wie z. B. Tuberkulose. Die Anzahl der Menschen, die während ihres Aufenthalts in der Anstalt verstarb, wurde größer.82 An der Front: Heimat und Ferne Während in den ersten Kriegsjahren nur vereinzelt ausführliche Nachrufe in den „Schallwellen“ veröffentlich worden waren, gewährte man dieser Art Literatur nach 1918 mehr Raum. Ergänzt durch Auszüge aus ihren Feldpostbriefen83, wurde 80 81 82 83
Schallwellen 1916, Januar, S. 1. Schallwellen 1917, März, S. 11. Schallwellen 1917, Mai, S. 23; Schallwellen 1918, Mai, S. 19. Beispiel für den in den Schallwellen zelebrierten Erinnerungskult an Heldentaten und Schlachten vergangener Zeiten sind etwa die 1911 veröffentlichten Feldzugsbriefe aus dem Krieg 1870/71. Schallwellen 1911, Juni, Juli, August, September, Oktober, Beiblatt Oktober, Dezember sowie Schallwellen 1919/20.
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nach der Reihe ihres Ausmarsches an die Front an die Getöteten erinnert. Das Lesen dieser Briefe und Karten84 versetze die Leser „wieder lebendig in jene weit zurück liegenden Zeiten, als unsere Truppen mit Begeisterung ins Feld zogen und unsere Herzen noch voll waren von Hoffnung auf einen baldigen glücklichen Ausgang des Krieges.“85 So schrieb Anton Blersch, der als Siebter ausmarschiert war, am 7. November 1914 in seiner „biederen und einfachen Art“: „Es ist sehr erfreulich, daß wir von der Heimat so gut mit warmer Kleidung versorgt werden. Sie dürfen aber auch versichert sein, wir werden unsere Pflicht tun, es ist uns kein Opfer zu groß, das wir dem Vaterlande bringen.“86 Und Albert Traub teilte am 22. September 1914 aus seiner Stellung im Argonnenwald mit, dass sie zwar schon viele Gefechte und Strapazen mitgemacht hätten, „aber alles mit Freude, denn wir haben jedesmal schöne Erfolge gehabt.“87 Bereits am zweiten Mobilmachungstag 1914 eingezogen, hielt er regen schriftlichen Kontakt zu seinem ehemaligen Arbeitgeber. Ausführlich berichtete er von seinem Aufenthalt im französischen Grandpre, wo die Kompagnie „unter Begleitung des Donners der 42 cm-Mörser Parademarsch, Ehrenbezeugungen, auch Schulreiten“ geübt habe, „um den alten Soldatenschwung auf der Höhe zu halten“. „Doch macht das weiter nichts aus; es ist sogar sehr interessant auf französischem Boden den deutschen Drill zu betreiben. Soviel Glück dürfte nicht jedem Erdenkind beschieden sein.“88 Während in diesen Worten noch der Tenor der offiziellen, positivistisch gestimmten Kriegspropaganda zum Ausdruck kommt, zeigt sich das „Glück“ im Folgenden nicht mehr ungetrübt: „Es wäre jetzt zu wünschen“, schreibt Albert Traub, „daß der entsetzliche Krieg bald ein Ende nähme, da jetzt meiner Ansicht nach genug Blut geflossen ist. Es ist nicht zu beschreiben, welches namenlose Elend über dieses Land hereingebrochen ist und wir können froh sein, daß die Kriegsfackel nicht auf unser schönes Schwabenland getragen wurde.“ Die hier bereits anklingende Resignation und Kriegsmüdigkeit mündet in einem Schlusssatz, der ein weiteres Mal die Zerrissenheit des Soldaten Traub zwischen persönlicher Einschätzung der Lage und militärisch-konformer Haltung verdeutlicht: „Doch trifft man überall auf großen Mut und Begeisterung und wir folgen gerne der guten Führung unserer tapferen Offiziere, welche uns stets zum Siege führen werden.“89 Am 13. Januar 1915 fiel Albert Traub und da die näheren Umstände seines Todes nicht mitgeteilt wurden, wandte sich der damalige Anstaltsdirektor an den zuständigen Feldarzt „mit der Bitte um Mitteilung über die näheren Umstände seiner Verwundung und seines Todes“.90
84 85 86 87 88 89 90
Autor ist Anstaltsdirektor Dr. Robert Groß, da die Artikel mit dem Kürzel „GR.“ gekennzeichnet sind. Schallwellen 1919, Februar, S. 13. Sowohl Traub als auch Glocker waren bereits mit der Mobilmachung im Spätsommer 1914 einberufen worden und bald darauf gefallen. Schallwellen 1919, Oktober, S. 1. Schallwellen 1919, Februar, S. 13. Schallwellen 1919, Februar, S. 14. Schallwellen 1919, Februar, S. 14. Schallwellen 1919, Februar, S. 15.
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Darauf erhielt er folgende Antwort: „Am 11. Januar habe ich ihn noch photographiert vor einem Stall, einem Gebäude aus Stangen und Mist. Es ist etwa dieselbe Stelle, an der ihm Tags darauf ein Granatsplitter den Leib aufschlitzte, dass die Eingeweide herausquollen. […] er hat mir in der Morphiumwirkung noch manches erzählt von Ihnen, von seiner Braut, seinen Pferden etc. und ich habe ihm versprochen, Ihnen und seiner Braut Bilder zu schicken. […] Wir konnten dem Traub noch einen Brief seiner Braut ins Feldlazarett Senuc schicken, den er sich vom Boten kurz vor seinem Tode, als er schon nicht mehr sehen konnte, aber klar bei Bewusstsein war, noch 3 mal vorlesen ließ. Zwei Stunden hat er mit diesem noch gesprochen, scheint aber kaum Schmerzen gehabt zu haben. […] Er war ein tüchtiger, allzeit dienstwilliger Fahrer, hat bei seinen Vorgesetzten das denkbar beste Andenken hinterlassen, ist ja wohl auch seinem Diensteifer zum Opfer gefallen, da er nach dem ersten Schuß, der an dem Tag ins Lager hereinkam, erst noch seine Pferde fertig putzen wollte.“91 Im Vergleich zu Traub, der seinen Dienst an der Front noch mit der Hoffnung auf einen Sieg ausübte, sind die Selbstzeugnisse des Schuhmachers Friedrich Link, der im Oktober 1917 in Flandern fiel, von seinem Wunsch geprägt, dass das Elend im Schützengraben ein Ende haben möge. Am 4. September 1917 schrieb er an seine Frau und Kinder: „Wenn nur auch endlich jetzt einmal der Frieden kommen würde, ich meine, es wäre jetzt lange genug; ich will bloß sehen, ob es vielleicht diesen Winter auch noch fort geht“ und am 25. September: „Sende Euch heute wieder ein paar Zeilen mit der Hoffnung, dass Ihr meine Lieben alle gesund seid und dass der verd. Krieg bald zum Schluß kommt. Ich will bloß sehen, ob sie nicht soweit kommen, aber ich habe jetzt keine Hoffnung mehr. Der Engländer lässt sich nicht darauf ein und den Deutschen ist’s auch nicht ernst. Ich will bloß sehen, was noch alles kommt, ich glaube sicher, dass es dann überall Krach gibt, wenn sie bis Winter nicht Schluß machen. Jetzt kommt schon der vierte Winter. Also hoffen wir das Beste. Auf ein baldiges Wiedersehen hoffend, grüßt und küsst Euch vielmals herzlichst Euer lb. Papa“.92 Links Hoffnung blieb unerfüllt, am 26. Oktober 1917 war er in ein Artilleriefeuer geraten. Ein Granatsplitter brachte ihm „am Kopfe in der Schläfengegend die tödliche Wunde“ bei, so dass ihn ein „schneller Heldentod in dem heißumstrittenen Gelände der flandrischen Front“ ereilte.93 Mit der Veröffentlichung der Feldpost nähern sich die „Schallwellen“ dem Individuum so weit als möglich an: In ihren Briefen sprechen die Menschen selbst über ihre Erlebnisse. Persönliche Hoffnungen, Wünsche, Gefühle und Träume stehen neben internalisierter Kriegspropaganda und offiziellen Glaubenssätzen oder liegen in Widerstreit miteinander. Das Schriftgut ist geprägt von den besonderen situativen Bedingungen und den individuellen sozialen Voraussetzungen der Verfasser, aber auch von deren aktuellem psychischen und körperlichen Zustand. Es handelt sich um subjektive Momentaufnahmen, die einen Einblick in einen sehr begrenzten, individuellen Lebensabschnitt weitab des Gewohnten, Alltäglichen ge91 92 93
Schallwellen 1919, Februar, S. 16. Schallwellen 1919, August, S. 54. Schallwellen 1919, August, S. 56.
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währen. Als unmittelbare autobiografische Zeitzeugnisse94 sind sie eine einzigartige Quelle des historischen Alltäglichen in der Ausnahmesituation kriegerischer Auseinandersetzungen. Sie ermöglichen es, Lebenswelten so zu rekonstruieren, wie sie von den darin lebenden Menschen als materiell und sozial vertraute Interaktions- und Erfahrungsräume begriffen und gedeutet wurden.95 Im Kern geht es um das Erleben von Wirklichkeit, um subjektive Emotionen und Stimmungen, um Mentalitäten und Verhaltensweisen eines Individuums. Der mikroskopische Blick96 auf eine „Geschichte von unten“97, d. h. auf lebensgeschichtliches Material einfacher Menschen und die unmittelbare, authentische Wahrnehmung zeitgenössischer Ereignisse unterliegt einer äußeren sowie mehr oder weniger bewussten inneren Zensur des Verfassers. In welchem Maße von außen auferlegte Einschränkungen die Kommunikation beeinflussten, wird in den Briefen der Schussenrieder Frontkämpfer deutlich.98 Die Zensur der Feldpost: Fremdes und Eigenes Bis im April 1916 die Zensur der militärischen Feldpost offiziell koordiniert wurde,99 vermittelten Soldaten freimütig militärische Details nach Hause. Noch im Oktober 1914 hatte der Pfleger Georg Glocker eine Schlacht im Argonnenwald detailliert in einem Brief an die Anstalt beschrieben: „Wir lagen […] sehr nahe am Feind, keine 100 m weit weg. Wir bezogen die Stellung […] gegen 5 Uhr in aller Stille. Es durfte weder geraucht noch gesprochen werden. Befehle und dergleichen wurden in Binarville, von wo aus wir die Stellung bezogen haben, bekannt gegeben. […] Wir legten in aller Ruhe unser Gepäck ab und gruben uns tiefer ein. […] Wir mußten vorkriechen und jedes Geräusch so gut als möglich vermeiden. […] Etwa 50 m vor uns war ein französischer Posten links von uns etwas vorwärts lag ein toter Pionier. […] Gegen Abend rückt ein Zug unserer Kompagnie 50 m vor und grub sich jeder zunächst ein Loch für sich. Da wurden sie auf einmal von einem höllischen Feuer überfallen und hielten die Nacht durch Stand. […] Wir schanzten nach rechts und links weiter […]. Hinter uns haben die Pioniere ihre Mienenwerfer aufgestellt und schießen in die feindliche Stellung. Von weit hinten die schwere Artillerie, so daß wir auch noch gefährdet waren und ein Kamerad von uns sein Leben lassen mußte. […] Wir hatten in den acht Tagen 3 Tote und 6 Verwundete in der Kompagnie. Alle Tage, besonders Abends 8–9 Uhr, kann man da ein höllisches Gewehr= und Maschinengewehrfeuer hören. Am 10. Oktober, d. h. am Geburtstagsfest Ihrer Majestät der Königin spielte die Regimentsmusik ganz in der Nähe
94 95 96 97 98 99
Humburg 1999, S. 25. Berger und Luckmann 1991, S. 21–48. Kilian 2001, S. 309–328. Porter 2004, 2005. Schallwellen 1919, April, S. 26. Der Pfleger Georg Glocker schildert hier eine Schlacht im Argonnenwald. Ulrich 1997, S. 35.
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der Franzosen die Königshymne und das Lied: „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen u. s. w.“ 100 In Zuge der allmählich „forciert betriebenen Stimmungsbeobachtung in den Postüberwachungsberichten […]“ wurde der Armeeführung allmählich bewusst, in welch hohem Maß die Briefe der Soldaten dazu beitrugen, die Menschen in der Heimat emotional zu destabilisieren. Ihren Niederschlag fand diese Erkenntnis letztendlich in militärisch verordneten Schreibanleitungen.101 Vor allem militärisch sensible Daten durften nicht mehr in die Heimat übermittelt werden, da die Post jederzeit in die Hände des Feindes fallen und dieser Rückschlüsse auf die kriegstechnische Vorgehensweise seines Kontrahenten ziehen konnte. Zu den verbotenen Mitteilungen gehörten Aussagen über militärische Ziele, Kampfhandlungen, Art und Zustand der Bewaffnung, die Lage der Versorgung, Namen von Kameraden und Vorgesetzten sowie der aktuelle Aufenthaltsort des Schreibers und seiner Truppe.102 Eine andere Form der Zensur, d. h. die mehr oder weniger bewusste Auswahl von Mitteilungen, entsprang der Diskrepanz zwischen dem Alltag an der Front und dem in der Heimat. Die grauenhaften Erfahrungen bei Kampfeinsätzen und die damit verbundenen Emotionen der Soldaten konnten die Daheimgebliebenen natürlich nicht in allen Teilen nachvollziehen. Umgekehrt konnten sich die Kämpfer an der Front kein genaues Bild von der aktuellen Situation zuhause machen. Da ihnen die Welt der Heimat aber zumindest bekannt war, blieb sie der hauptsächliche Anknüpfungspunkt im schriftlichen Austausch. Man konnte zumindest über das schreiben, was beiden Seiten geläufig war, d. h. über Familienangehörige, Bekannte, die Arbeit und gemeinsame Erlebnisse. Auf diese Weise konnte der Abwesende weiterhin an seiner vertrauten Welt Anteil nehmen, sich am Diskurs beteiligen und sich trotz körperlicher Abwesenheit in gewissem Maße integriert fühlen. „Der Bezug auf gemeinsame Wissensbestände und Deutungsmuster ist die Voraussetzung dafür, dass eine Beziehung trotz der räumlichen und zeitlichen Trennung und der sich bei beiden Partnern verändernden Lebensbedingungen aufrechterhalten werden kann.“103 Indem die gemeinsame Vergangenheit und eine erhoffte Zukunft thematisiert wurden, versuchte man die Trennung zu überbrücken. „Da eine gemeinsame Gegenwart fehlte, musste die Referenz auf Vergangenes trösten. Die Erinnerung wurde bemüht, um das Leid der getrennten Gegenwart zu lindern“.104 Die Berichte über die jeweilige Gegenwart der Verfasser unterlagen der Gestaltung und der Auswahl von Inhalt und Darstellungsweisen. Da die räumliche Trennung den jeweils anderen von neuen Erfahrungen und Begebenheiten in der jeweiligen Lebenswirklichkeit ausschloss und sich beide Seiten damit jenseits des vertrauten Referenzrahmen der gemeinsamen Erfahrungen und Lebensräume befanden,105 wurden viele Themen, wenn nicht ganz verschwiegen, so doch abgemildert vermit100 101 102 103 104 105
Schallwellen 1919, April, S. 26. Ulrich 1997, S. 156–169. Schwender und Ebert 2009, S. 1–14. Speckle 1992, S. 35. Schwender und Ebert 2009, S. 1–14. Speckle 1992, S. 32–33.
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telt oder stereotyp thematisiert. Die jeweils subjektive Wahrheit und die Vermittlung von Realität und Leiden stießen letztendlich an eine Schweigegrenze.106 Ein zusätzliches Problem schriftlicher Äußerungen besteht in der quantitativen und qualitativen Reduktion von Wahrnehmungen und Erlebtem. Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache fehlen Mimik und Gestik, Akzentuierung und Stimmklang des Gegenübers. Mögliche Folgen sind mehrdeutige Interpretationen des Geschriebenen und damit auch Missverständnisse.107 Nachfragen oder Richtigstellungen wie in der unmittelbaren Kommunikation sind hier nicht gegeben. Andererseits verfügen mündliche und schriftliche Zwiesprachen über einen (privaten) Code, der den Briefpartnern mehr vermittelt, als die oberflächliche Betrachtung der reinen Wortwahl.108 Hier kommt dem, was „zwischen den Zeilen steht“ und vom Adressaten aufgenommen und interpretiert wird, eine nicht zu unterschätzende Aussagekraft zu. Letztendlich haben Briefe den Charakter einer Urkunde, da schriftlich Fixiertes per se von einer gewissen Endgültigkeit ist, das nur durch zusätzliche, nachfolgende Erklärungen revidiert werden kann.109 Grundsätzlich ist Sprache ein Speicher sozialen Wissens; ihre Bedeutungsstrukturen ermöglichen, definieren und begrenzen Erfahrungen.110 Das Wissen besteht aus Routinewissen, aus typisierten Handlungsweisen, es enthält aber auch Vorurteile, Urteile, Wertmaßstäbe. Es ist historisch variabel aber inhaltlich begrenzt, und es ist, als Grundlage kollektiver Identitäten, in unterschiedlichem Maße sozialspezifisch verteilt.111 Seine Strukturen werden individuell angeeignet, bestätigt, verändert oder abgelehnt, in Gesprächen wird der Zusammenhang der Gesellschaft immer wieder neu hergestellt und gesichert. Alltägliche Gespräche gehören zu den wichtigsten Formen der Vergesellschaftung112 Im Briefwechsel als einer weiteren Form der Vergesellschaftung werden die sprachlich gespeicherten Bedeutungen und Sinnmuster ebenfalls ständig neu verhandelt, d. h. bestätigt und verändert.113 „Die Bedeutungsstrukturen der Sprache können als gesellschaftliche Konventionen angesehen werden, deren Gültigkeit zwischen den Individuen permanent ausgehandelt wird.“114 In gesprochener wie schriftlicher Sprache greifen Individuen auf ihr angeeignetes soziales Wissen zurück und reproduzieren es. „Wenn Erfahrungen Sinnbildungsprozesse mit Hilfe des sozialen Wissens sind, dann finden sie an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft statt, besser: dann wird mit jeder Erfahrung diese Schnittstelle gebildet.“115 Letztendlich bedeutet dies, dass auch die 106 Schwender und Ebert 2009, S. 6. 107 Kilian 2001, S. 25. 108 Vgl. Kilian 2001, S. 21–23. Grundlegendes zum Code als Repertoire von Zeichen bei Eco 1972. Ausführungen zur Kontextanalyse bei Watzlawick et al. 1991, S. 19–24, S. 53–56. 109 Kilian 2001, S. 25. 110 Latzel 1999, S. 16; Schütz und Luckmann 1979, Bd. 1, S. 281–283; 1984 Bd. 2, S. 201–212; Berger und Luckmann 1980, S. 36–48. 111 Latzel 1999, S. 10; Schütz und Luckmann 1997, S. 363–378. 112 Latzel 1999, S. 11. 113 Latzel 1999, S. 16. 114 Latzel 1999, S. 16. 115 Latzel 1999, S. 16.
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Post aus dem Schützengraben nicht nur als subjektive Abbildung der Wirklichkeit eines Individuums zu verstehen ist, sondern dass diese schriftlichen Zeugnisse über den jeweils individuellen Fall hinaus auf eine allgemeingültige Ebene verweisen. „Liebesgaben“ aus der Heimat: Distanz und Nähe Aus den Feldpostbriefen geht hervor, dass alle in den Krieg gezogenen Anstaltsangestellten regelmäßig Pakete aus der Anstalt und die neuesten Ausgaben der „Schallwellen“ erhielten. „Mit seiner Adresse hat er uns schon mit Rücksicht auf die Zusendung der Schallwellen, an deren Empfang ihm viel Lag, stets auf dem Laufenden gehalten“, ist im August 1919 auf der Ehrentafel des Anstaltschuhmachers Friedrich Link zu lesen116. Daraus wird deutlich, dass diese Verbindung zur Heimat sehr geschätzt wurde117, befriedigte sie doch inmitten der Orientierungskrise und dem Verlust von Überschaubarkeit im Kriegsgeschehen das „Grundbedürfnis […] nach Zugehörigkeit und sozialer Identität.“ Die Heimat fungierte hier „als Gegenwelt, als Ort der Unverwechselbarkeit“, als „identitätsstiftender Raum gegenüber scheinbar übermächtigen gesellschaftlichen und sozialen Prozessen“.118 Dass sie nicht vergessen waren und man ihrer gedachte, konnten die Soldaten der Anstaltszeitung entnehmen. In keiner Ausgabe der „Schallwellen“ wurde es versäumt „unser’n Ausmarschierten herzliche Grüße aus der Heimat“ zu senden. „Wir alle, deren Sicherheit durch die Tapferkeit und Pflichttreue unserer Ausmarschierten mitbedingt ist, gedenken an der Jahreswende unserer tapfern Brüder im Feld mit herzlichen Wünschen und Grüßen.“119 SCHLUSS Als „kleines bescheidenes Blättlein“ in einem regional eng begrenzten Rahmen gegründet und für eine Leserschaft konzipiert, wie sie in Intellekt und Anspruch nicht unterschiedlicher hätte sein können, erlebten die „Schallwellen“ eine erstaunliche Entwicklung. Fast die Hälfte ihres Erscheinungszeitraumes inhaltlich und konzeptionell durch Albert Uhl geprägt, überwanden sie in unterschiedlichen Kontexten Grenzen: zwischen Akademikern und weniger Gebildeten, zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Dorf und Anstalt, zwischen Heimat und Ferne. Ihre Inhalte transportieren und kommunizieren große und kleine Geschichte gleichermaßen: das Alltagsleben in einem oberschwäbischen Dorf und seiner Irrenanstalt um die Wende zum 20. Jahrhundert, den Einfluss von fernen Staatsmächten und die Auswirkungen ihrer Politik auf die „kleinen“ Leute aus dem Volk. Sie machen administrative Strukturen, individuelle Mentalitäten und Umgangsformen sichtbar und geben Einblick in gesellschaftliches Mit- und Gegeneinander, in persönliche Hal116 117 118 119
Schallwellen 1919, August, S. 1. Schallwellen 1919, August, S. 53. Blümcke 2003, S. 11. Schallwellen 1915, August, S. 4; Schallwellen 1916, Januar, S. 4.
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tungen und Meinungen sowie deren Abhängigkeiten und Verbindungen zu den nationalen Vorgaben und Bedingungen ihrer Zeit. Auf die Vorstellung von „Zentrum“ beziehungsweise „Peripherie“ bezogen, wird die Austauschbarkeit der Begriffe in der Anwendung auf das jeweils zu bearbeitende Sujet offensichtlich. LITERATUR Primärquellen Schussenrieder Anstaltszeitung „Schallwellen“, Jahrgänge 1897–1920.
SEKUNDÄRLITERATUR Bausinger, Hermann: Seelsorger und Leibsorger. Heinrich Hansjakobs Kritik der Kultur. In: H. Bausinger Berühmte und Obskure. Schwäbisch-alemannische Profile. Tübingen 2007, S. 253– 262. Bender, Elisabeth: Hansjakob und die Frauen. In: H. Bender: Hansjakob. Leben, Wirken und Werk (=Badische Reihe 16). Waldkirch, 1985, S. 101–130. Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 1980. Blümcke, Martin: Alltagskultur in Baden-Württemberg. In: M. Blümcke (Hrsg.): Alltagskultur in Baden-Württemberg, Bd. 30 (=Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württemberg). Stuttgart 2003, S. 9–16. Brüggemeier, Franz Josef ; Kocka, Jürgen (Hrsg.): Geschichte von unten – Geschichte von innen. Kontroverse um die Alltagsgeschichte. Hagen 1985, S. 61–69. Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die Ideen von 1914 und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. Charle, Christophe: Micro-histoire sociale et Macro-histoire sociale: Quelques réflexions sur les effets des changements de méthode depuis quinze ans en histoire sociale’. In: Ch. Charle (Hrsg.): Histoire sociale – histoire globale? Actes du colloque des 27–28 janvier 1989. Paris 1993, S. 45–57. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. Stuttgart 1972. Denis, Marie-Noële: Kriegerdenkmäler für die Toten von 1870/71 im Elsass oder die Erinnerung an den Feind. In: R. Johler; F. Raphaël; C. Schlager; P. Schmoll (Hrsg.): Zwischen Krieg und Frieden. Die Konstruktion des Feindes (=Deutsch-französische Tagung. Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V.). Tübingen 2009, S. 245–266. Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg: Erbfeinde-Erbfreunde. Die deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1870 und 1945 im Spiegel zeitgenössischer Literatur (=Ausstellungsprojekt dfi Ludwigsburg). www.dfi.de/pdf-Dateien/Ausstellung/KatalogDmini.pdf. Ludwigsburg 2007. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1975. Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin 1976. François, Etiènne; Hoock-Demarle, Marie-Claire; Meyer-Kalkus, Reinhart; Werner, Michael; Despoix, Philippe (Hrsg.): Marianne-Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789–1914. Leipzig 1998. François, Etiènne; Siegrist, Hannes; Vogel, Jakob (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995. Gründler, Jens: Armut und Wahnsinn. „Arme Irre“ und ihre Familien im Spannungsfeld von Psych-
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ZENTRUM UND PERIPHERIE IN DER BADISCHEN PSYCHIATRIE
Zur Geschichte der Kliniken in Freiburg und Emmendingen zwischen 1850 und 1945 Livia Prüll Eines der Themen, die für die Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts aus guten Gründen von bleibender Bedeutung sind, ist dasjenige der geographischen Lage von psychiatrischen Anstalten. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als der/die psychisch Kranke als PatientIn entdeckt wurde, war die Frage nach der Lage der Krankenanstalten für diese PatientInnengruppe eine besondere und zentrale. Schnell wurde sie so beantwortet, dass der psychisch Kranke jenseits des Treibens der bürgerlichen Gesellschaft und vor allem abseits von ihr untergebracht werden sollte, um in Ruhe wieder „zur Vernunft“ gebracht zu werden. Doch die ländliche Lage als postulierter, idealer Ort für psychiatrische Asyle blieb nicht unumstritten, seit diese um die Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt Konkurrenz durch universitätspsychiatrische Einrichtungen in Stadtlage erhielten. Spätestens mit der selbstattribuierten Präferenz der Letztgenannten erhob sich die Frage nach dem „Zentrum“ und nach der „Peripherie“ psychiatrischer Behandlung als entscheidende Kategorie der Psychiatriegeschichte. Handelt es sich nicht bei den Landasylen um „Peripherie“, weil hier psychiatrische PatientInnen ausgegrenzt oder „abgeschoben“ wurden? Und sind nicht universitätspsychiatrische Institutionen, denen Modernität und Wissenschaftlichkeit unterstellt werden, die „zentralen“ Behandlungseinheiten des Faches? Der vorliegende Beitrag geht diesem Thema am Beispiel der Badischen Psychiatrie zwischen 1850 und 1945 nach. Aufgrund der Literaturlage und der frühen Psychiatriegeschichte in diesem Reichsland bietet diese Perspektive eine gute Möglichkeit, das Wechselspiel zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ und damit das Verhältnis von Land- und Stadtpsychiatrie zu analysieren.1 Im Folgenden sollen zunächst im Rahmen eines einleitenden Teils allgemeine Bemerkungen zum Thema „Zentrum“ und „Peripherie“ dargelegt werden. Danach soll in einem weiteren Teil dieses Kapitels die Entstehung der Landpsychiatrie und ihre dominierende Rolle dargestellt werden. Dieser Zeitraum umfasst mit der Zeit zwischen 1842 und 1884 etwa 40 Jahre. Mit der Begründung der Universitätspsychiatrie in Freiburg im Breisgau (i. Br.) im Jahre 1884 beginnt dann eine neue Phase, die in einem zweiten Kapitel abgehandelt wird und die Zeit von der Gründung der Einrichtung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs umfasst. Die badische Landpsychiatrie, die nicht 1
Siehe zu diesem Thema auch: Prüll 1999: 439–474.
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zuletzt durch die Anstalt im benachbarten Emmendingen repräsentiert wird, bekam schlagkräftige Konkurrenz durch Entwicklung des Faches in den Einrichtungen des städtischen Raums. Diesem Thema wird sich das dritte Kapitel widmen. Nach 1918 relativierte sich die Bedeutung der Badischen Universitätspsychiatrie erneut, was nicht zuletzt, wie gezeigt werden wird, mit den Entwicklungen des Ersten Weltkriegs zusammenhängt. Dies soll im vierten Kapitel dargestellt werden. Die gesamte Entwicklung wird dann, fünftens in einem Fazit resumiert und analysiert. 1. EINLEITUNG: STADT/LAND – ZENTRUM/PERIPHERIE? Von denjenigen theoretischen Ansätzen, die das Begriffspaar „Zentrum“ und „Peripherie“ verwenden, wird in diesem Beitrag v. a. der geographische Bezug als Ausgangspunkt genommen. „Zentrum“ ist hier meist der städtische Bereich, während die „Peripherie“ im Umland der Stadt sowie im ländlichen Raum zu finden ist. Schwieriger ist es mit soziologischen Zuschreibungen. Diese implizieren zum Teil eine Wertigkeit. Nach Niklas Luhmann gibt es systemimmanente Unterschiede zwischen Peripherie und Zentrum in bestimmten sozialen Machtfeldern, wie beispielsweise der Jurisprudenz, in deren Feld städtischen Gerichten entscheidende Funktionen in der Rechtsorganisation zukommen.2 Nach Immanuel Wallerstein drückt sich zwischen Zentrum und Peripherie eine ökonomische Ungleichheit aus, indem die Peripherie wichtige Rohstoffe und Materialen liefert, damit das Zentrum als Kern expandieren kann – nach Wallerstein die Grundlage der Erklärung eines Weltsystems der Ökonomie.3 Wertende Unterscheidungen gibt es auch in der Wissenschaftsgeschichte, wo „Pseudo-Wissenschaften“ eher den wissenschaftlichen Rändern zugeordnet werden, während die „Wissenschaften“ den Kern bzw. das Zentrum der Forschungen ausmachen.4 Schließlich gehört zur Selbstorganisation der „Wissenschaften“, dass sich Hierarchien der Institutionen und Standorte ergeben, die ein Gefälle der Wertigkeiten und innovativen Potentiale bedingen.5 Vor diesem Hintergrund ist nun zu Fragen, wie das Verhältnis zwischen ländlicher und städtischer Psychiatrie am Beispiel Badens für den Zeitraum zwischen etwa 1850 und 1945 anzusiedeln ist. Wurde die ländliche Lage von Anstalten mit fachlicher Rückständigkeit gleichgesetzt? Findet sich also in der Lage der Anstalten auch die Kopplung mit einer sozialen bzw. ökonomischen Wertung? Und handelt es sich hier um eine stabile Entwicklung oder ergeben sich im Bearbeitungszeitraum Verschiebungen und Verwerfungen?
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Luhmann 1993: 333–337. Wallerstein 2004: 28–31. Vgl. Mauskopf (1990) 1996: 869–885. Vgl. Ben-David 1960: 828–843; 1971; Krohn and Küppers 1989; 1990: 265–277.
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2. DIE LÄNDLICHE ANSTALTSPSYCHIATRIE ALS ZENTRUM DER PSYCHIATRIE (1842–1884) Die Frage nach dem Zentrum der badischen Psychiatrie in der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich einfach beantworten. Im Jahre 1842 wurde in einer seinerzeit zweifelsfrei ländlichen Region in der Nähe Acherns mit der „Illenau“ eine der ersten Reformanstalten des deutschsprachigen Raums gegründet. Ihr erster Direktor, Christian Friedrich Roller (1802–1878) steht für das Selbst- und Machtbewusstsein jener frühen Psychiatrie, die den psychisch Kranken als PatientIn entdeckte.6 Das Ziel Rollers war es, mittels erfolgreicher Therapie den psychisch Kranken wieder in das Arbeitsleben zu integrieren. In seinem Konzept war gemäß der damaligen psychiatrischen Anschauungen die ländliche Lage ein wichtiges Element des Heilungsprozesses. In der Natur sollten die PatientInnen quasi wieder zur Vernunft gebracht werden. Dabei war es wichtig, die Insassen zu isolieren, was bedeutete, sie für die Dauer ihres Aufenthaltes in der Illenau aus dem bürgerlichen Leben zu entfernen und sie somit schädlichen Einflüssen, vor allem des städtischen Lebens, zu entziehen.7 Zu diesen Faktoren gesellte sich ein paternalistisches Fürsorgeverständnis, das dem Anstaltsleiter eine tragende Rolle im therapeutischen Heilungsprozess zuwies. Er dirigierte nicht nur die Anstalt sondern versuchte, nicht zuletzt durch seine Aura, die Genesung der PatientInnen suggestiv zu fördern. Durch verschiedenste Maßnahmen vor allem in der freien Natur, die zum Teil der Aufrechterhaltung der Anstalt dienten, sollte das „ver-rückte“ Denken der PatientInnen wieder geradegerückt werden. Wichtig war in diesem Zusammenhang, alle schädlichen Einflüsse auf die PatientInnen von außerhalb der Institution zu vermeiden. Dies bedeutete auch, dass auf dem Anstaltsgelände keine Studierenden der Medizin zugelassen waren. Vielmehr hatte der Anstaltsleiter Assistenten, die sich in die Behandlung der Kranken und die Führung der Anstalt einarbeiteten, um dereinst selbst eine solche Anstalt zu übernehmen.8 Eine solchermaßen betriebene Landpsychiatrie wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auf der Höhe der Zeit befindlich bewertet. Hinzu kamen gute kommunikative Vernetzungen Rollers mit den politischen Machthabern. Dies war insofern wichtig, als Roller dadurch psychiatrische Konkurrenzunternehmen zunächst abwehren konnte. Durch seine guten Beziehungen zu Mitgliedern des badischen Landtags gelang es Roller 1860, den projektierten Bau von Universitätskliniken für Psychiatrie in Heidelberg und Freiburg zu vereiteln. Dabei spielte Roller zusätzlich der Umstand in die Hände, dass aufgrund der Niederlage in den Reichseinigungskriegen bis auf weiteres für den Staat Baden wenig finanzieller Handlungsspielraum blieb. Bis etwa 1868 lagen daher in Sachen Neubau von psychiatrischen Kliniken deshalb alle Pläne auf Eis.9 6 7 8 9
Vgl. zur Geschichte der badischen Psychiatrie: Faulstich 1993. Siehe zu Roller auch: Seidler 1991: 127, 138/139, 174. Bleker 1983: 118–136. Vgl. zum Konzept der moralischen Therapie in der Landpsychiatrie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ausführungen von Johann Christian Reil: ders. 1803. Siehe auch: Laehr 1852. Das Großherzogliche Ministerium des Innern an den Senat der Universität Freiburg, Karlsruhe,
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Dennoch geriet Roller zunehmend in Bedrängnis. Die systematische Ausbildung von Psychiatern war dringend erwünscht und er musste schließlich einlenken. Roller bot 1868 an, einen sechswöchigen Psychiatriekurs für Studierende der Medizin an der Illenau durchzuführen. Dies lehnte die Freiburger Medizinische Fakultät aber als untragbaren Kompromiss ab, denn man drang auf die Errichtung einer psychiatrischen Universitätsklinik in Freiburg.10 Die Position der Anstaltspsychiatrie blieb dennoch stark. Im Jahr 1873 beauftragte das Badische Ministerium des Innern Rollers Assistenten, Heinrich Schüle (1840–1916), mit Sondierungen für ein Gelände zum Neubau einer psychiatrischen Anstalt, die wiederum in ländlicher Lage situiert sein sollte – am besten in nicht mehr als etwa 30 Minuten von Freiburg entfernt. Doch die Ansichten zur Verortung psychiatrischer Anstalten hatten sich durch das Aufkommen einer naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie gewandelt: Der an die Berliner Charité berufene württembergische Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868) beschrieb Geisteskrankheiten als Gehirnkrankheiten, inkludierte auch nervöse Leiden und stellte die exklusive Existenzberechtigung der Landasyle zum Teil in Frage, indem er stadtnahe universitätspsychiatrische Anstalten propagierte.11 Griesingers Ideen hatten eine enorme Anziehungskraft und auch Schüle selbst geriet zum Anhänger der neuen Theorien. Der Badener Psychiatriekonflikt endete daher schließlich 1884 mit einem Kompromiss: Der Badische Landtag beschloss sowohl den Bau eines Landasyls in dem nahe Freiburg gelegenen Städtchen Emmendingen als auch den Bau einer Universitätsklinik in Freiburg selbst. Noch 1886 wurde die Freiburger Universitätspsychiatrie als eine der letzten im deutschsprachigen Raum eröffnet, die Emmendinger Anstalt folgte dann 1889. Hatte bislang die ländliche Anstaltspsychiatrie für das Fach einen Alleinvertretungsanspruch begründen können, so begann ab 1884 die Koexistenz mit einer kontinuierlich stärker werdenden Universitätspsychiatrie. 12
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6.6.1859, in: Universitätsarchiv Freiburg (im Folgenden: UAF), B 1, Nr. 1238; Badische Universität Freiburg. Generalia. Dienste. Medizinische Fakultät. Die Errichtung und Besetzung des Lehrstuhls der Psychiatrie und die Direktion der Psychiatrischen Klinik betr., Jahr 1885– 1934; Seidler 1991: 175; Birlinger-Tögel 1986: 30–38; Wilmans 1929: 1–23, bes. 13, 38. Birlinger-Tögel 1986: 38, 42/43; Seidler 1991: 175/176. Zu Griesinger vgl. Sammet 2000; Wengler 1989; Schmiedebach 1987: 109–131. Großherzogliches Kultusministerium an den Großherzog, Die Organisation der psychiatrischen Klinik in Freiburg betreffend, Karlsruhe, 14.3.1887, in: Generallandesarchiv Karlsruhe (im Folgenden GLA), Abt. 233, Nr. 31293. Staats-Ministerium, Generalia. Heil- & Pflegeanstalten. Die Organisation der psychiatrischen Klinik in Freiburg, betr. Jahr 1887 bis 1911; Seidler 1991: 179; Prüll 1999: 441–455. Siehe zur Psychiatrie in Deutschland im 19. Jahrhundert: Engstrom and Roelcke 2003.
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Psychiatrisches Landeskrankenhaus Emmendingen, um 1900. © ZfP Emmendingen
3. DIE DOMINANZ DER STADTPSYCHIATRIE IN SÜDBADEN ZWISCHEN 1884 UND 1918 Dass es sich bei den Anstalten auf dem Lande einerseits und der städtischen Universitätspsychiatrie andererseits nicht nur um konkurrierende Institutionen, sondern auch um konkurrierende Konzepte handelte, wird daran deutlich, dass sich schon im Vorfeld der Gründungen beider Anstalten Konflikte um die Lehre abzeichneten: Die Freiburger Medizinische Fakultät beharrte auf ihrem Lehrmonopol und behauptete, der Direktor der Emmendinger Anstalt werde als Leiter einer so großen Institution kein Interesse am akademischen Unterricht haben. Auch seien 30 Minuten Fahrzeit für die Studierenden einfach zu viel. Schließlich wurde in diesem Zusammenhang auch herausgestrichen, dass die Universität in viel stärkerem Maße die Heilbarkeit der PatientInnen im Auge habe, indem betont wurde, Emmendingen würde sich bald zu einer Anstalt für Unheilbare entwickeln. Für Studierende der Medizin war eine solche Lehranstalt dann uninteressant.13 Doch auch wenn sich im Gegeneinander unterschiedliche Denkrichtungen zeigten: Es gab Grauzonen und Verwerfungen, die eine schematische Beschreibung eines etwaigen Ablöseprozesses problematisch erscheinen lassen. So wurde die 13
Seidler 1991: 177; Birlinger-Tögel 1986: 45–51; Miltenberger 1982: 46–51; Wilmanns 1929: 15–17.
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neue Freiburger universitätspsychiatrische Klinik keinesfalls in der Innenstadt errichtet, sondern ganz im Gegenteil in einem Vorort der Stadt, in Herdern. Dies war ein klarer Kompromiss zwischen Tradition und Innovation: Einerseits konnten Studierende die Klinik schnell erreichen, da die Entfernung zur Stadt nicht groß war. Andererseits betonte das Kultusministerium die schöne, idyllische Lage, die eher zur klassischen Argumentation der ländlichen Anstaltspsychiatrie gehörte. Und auch der erste Freiburger Universitätspsychiater, Hermann Emminghaus (1845– 1904), verteidigte trotz seiner Begeisterung für die Griesingersche neue Psychiatrie die abseitige Randlage der Klinik, wenn er sich 1893 gegen die Errichtung eines Diakonissenheims in der Nachbarschaft wandte, da hier womöglich infektöse PatientInnen aufgenommen würden.14 Diese Situation änderte sich prinzipiell auch nicht unter dem Nachfolger von Hermann Emminghaus, Alfred Erich Hoche (1865–1943). Als Anhänger von Griesinger setzte sich Hoche zunächst für die Integration der neurologisch Kranken, der „Nervösen“, in die psychiatrische PatientInnenklientel ein. Im November 1904 wurde eine Station für neurologisch Kranke mit einer Kapazität von 23 Betten eröffnet.15 Doch nicht nur die bloße Berücksichtigung der neuen Krankheitseinheit wies Hoche als Adepten der städtischen wissenschaftlichen Psychiatrie aus, sondern vor allem auch das Interesse an der Öffnung der Station nach Außen. So wies er in einem Brief an das Kultusministerium im Jahr 1909 darauf hin, dass viele Angehörige gerne mit den PatientInnen speisen würden und bat um Aufstockung des Etats für die Unterhaltskosten der Station. Desweiteren lag Hoche sehr an einer Instrumentalisierung der Station für den Studentenunterricht. Noch 1925 beantragte er beim Kultusministerium den Bau eines Fahrradschuppens, um den Studierenden, die das Fahrrad benutzten, entgegen zu kommen.16 Trotz der hohen Reputation von Emminghaus und dann auch Hoche war auch unter letzterem die abseitige Lage der Universitätsklinik in Herdern nicht nur ein Ärgernis. Ebenfalls 1925, so zeigt ein weiterer Vorgriff auf die Zeit nach 1918, protestierte Hoche gegen den Bau einer Seifenfabrik in der Nachbarschaft der Klinik, damit die therapeutisch gesunde Atmosphäre seiner Institution erhalten bliebe.17 Eine gewisse Anhänglichkeit an Grundideale der räumlich-peripheren Lage
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Hermann Emminghaus an das Kultusministerium, Freiburg, 17.11.1893; in GLA, Abt. 235, Nr. 7701, Badisches Ministerium des Kultus und Unterrichts. Universität Freiburg. Medicinalanstalten. Psychiatrische Klinik. Bausachen. Das Bauen in der Nähe der psychiatrischen Klinik, Jahr 1893-. Vgl. auch: Reichert 1989. Siehe zu Emminghaus ferner: Prüll 1999: 457–459. Hoche an das Kultusministerium, Freiburg, 29.11.1904, in: GLA, Abt. 235, Nr. 7675, Minisierium des Kultus und Unterrichts, Universität Freiburg. Psychiatrische Klinik. Allgemeines. Die Errichtung und den Betrieb einer Nervenabtheilung bei der psychiatrischen Klinik betr., seit 1909: -Psychiatrische und Nervenklinik-, Jahr 1904. Hoche an das Justizministerium, Freiburg, 14.12.1909, in: ebd.; Hoche an das Kultusministerium, Freiburg, 27.6.1925, in: GLA, Abt. 235, No. 7688, Badisches Ministerium des Kultus und Unterrichts, Universität Freiburg. Psychiatrische Klinik. Gebäude der Psychiatrischen und Nervenklinik in Freiburg, Teil 2, Jahr 1923. Hoche an das Badische Bezirksamt, Polizeidirektion, Freiburg, 13.3.1925, in: GLA, Abt.235, No. 7701. Für weitere Details vgl. Prüll 1999: 463.
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blieb auch bei Hoche erhalten, so sehr die Einführung der naturwissenschaftlichen Psychiatrie auch gefördert wurde. Damit ist schon angedeutet, dass der Durchsetzungsprozess gegen die traditionell politisch gut positionierten Landasyle keinesfalls abgeschlossen war. Letztere trugen als mittlerweile stark vergrößerte psychiatrische Landesheil- und Pflegeanstalten nach wie vor die Hauptlast in der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung. Gleichzeitig senkten sie das Image des Faches in der allgemeinen Öffentlichkeit, da ihre überfüllten Stationen mit der durchaus noch üblichen Anwendung von Zwang als Signum einer Verwahr- und Kontrollinstitution angesehen wurden. In dieser Situation wurde der Erste Weltkrieg von Teilen der Universitätspsychiatrie nicht nur als politische Krise, sondern auch als Chance begriffen, um die Reputation, und dies hieß vor allem: die Reputation der städtischen, wissenschaftlichen Psychiatrie, durch geeignete neue Behandlungsverfahren- und konzepte zu verbessern und die Professionalisierung des Faches voranzutreiben. Zunächst einmal wurde darunter die Notwendigkeit verstanden, eine „Aufrüstung der Seelen“ der gesamten Bevölkerung zu betreiben. Im Dezember 1914 hielt Hoche in Freiburg den Vortrag „Krieg und Seelenleben“ in dem er den Krieg als „seelische Kraftquelle“ beschrieb, als eine reinigende Katharsis und als ein Erlebnis, das den Teilnehmern eine psychische Stärkung beschere.18 Wie noch zu sehen sein wird, handelte Hoche, wie andere Universitätspsychiater auch, allerdings aus exponierter Position heraus: Freiburg wurde als Bollwerk des Deutschtums an der französischen Grenze angesehen, die Stimmung war hier besonders aufgeladen. So agierte Hoche im Doppel, zusammen mit dem Pathologen Ludwig Aschoff (1866–1942), wenn er versuchte, die Bevölkerung auf den Krieg einzustimmen. Aschoff beschrieb in einer Gleichsetzung von Krankheit und Krieg die Wehrhaftigkeit des menschlichen Organismus gegen Eindringlinge von außen und schwor damit den Leser auf den Überlebenskampf nach 1914 ein.19 Hoche war eine zentrale Figur in der Organisation der deutschen „Kriegspsychiatrie“ nach 1914, Aschoff zentraler Akteur der Organisation der „Kriegspathologie“. Letztere hatte sich unter Aschoffs Ägide zum Ziel gesetzt, im Rahmen der Propaganda für eine „Konstitutionspathologie“ die Leichen gefallener deutscher Soldaten zu sezieren, um so eine Grundlage für die Erhebung der Konstitution, d. h. des Gesundheitszustandes des deutschen Volkes zu legen.20 Im Gegensatz dazu war die Herausforderung für Hoche und seine kriegspsychiatrischen Kollegen die Behandlung einer ganz neuen Klientel von psychiatrischen Patienten, die vor allem ab 1915 mit Auftreten des Stellungskrieges an der Westfront die Bühne betrat. Es handelte sich um Menschen mit einem – aus heutiger Sicht – psychosomatischen, schwer einzuordnenden Symptomenkomplex, der motorische Störungen, Sprachstörungen und auch schwere psychische Beeinträchtigungen, wie Depressionen, Schlafstörungen in wechselnder Stärke und Kombination umfassen konnte. Dementsprechend vielfältig war die diagnostische Etikettierung der Patienten als „Kriegszitterer“, „Kriegsneurotiker“, Kriegshysteriker“ oder im englischen 18 19 20
Hoche 1915; Hofer 2002: 50–75, hier 58/59. Prüll 2002: 92–118, hier 98/99; 1997: 331–368; Aschoff 1915. Prüll 1996: 155–182; 1999b: 131–161.
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als „shell shock victims“.21 In einer Mischung von therapeutischem Enthusiasmus und einem zutiefst patriotischen Gefühl der eigenen Verpflichtung dem kaiserlichen Deutschland gegenüber, entwickelten Hoche und seine Kollegen nunmehr den Drang, diese mächtige Herausforderung im Sinne einer siegreichen Kriegsführung mit effektiven, weil invasiven Maßnahmen möglichst gut zu bekämpfen. Neben dem Hamburger Psychiater Max Nonne (1861–1959) und dem Tübinger Psychiater Robert Gaupp (1870–1953) war Hoche der Vorreiter einer solchen „Kriegspsychiatrie“ – Freiburg eines ihrer Zentren. Wiewohl Hoche die „Kriegszitterer“ nicht pauschal aburteilte, befürwortete er doch die Anwendung harter militärpsychiatrischer Maßnahmen bei den betroffenen Soldaten, und v. a. ein energisches Vorgehen gegen die sogenannten „Simulanten“. Hoches Mitarbeiter Alfred Hauptmann (1881– 1948) und Ferdinand Kehrer (1883–1966) leiteten in Hornberg im Schwarzwald ein großes Kriegslazarett. Kehrer wandte hier die Methode des „Gewaltexerzierens“ an, eine der zahlreichen martialischen Methoden, um die „Kriegszitterer“ möglichst schnell zu heilen – und dies hieß, sie frontverwendungsfähig zu machen.22 Dabei einigten sich die Fachvertreter 1916 darauf, dass es vor allem der Wille der Soldaten war, den es zu therapieren galt. Unterschieden wurde im Wesentlichen zwischen „Kriegsneurotikern“, deren Symptome als eine Art Erschöpfung angesehen wurden, und „Kriegshysterikern“, deren Krankheitsbild nach Auffassung dieser Protagonisten im rassenhygienischen Sinne als Symptom des Versagens und der hereditären Degeneration anzusehen sei. Auf Details zur Geschichte der „Kriegspsychiatrie“, die mittlerweile in ihren verschiedenen Aspekten sehr gut erforscht ist, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.23 Wichtig ist in unserem Zusammenhang vor allem, dass es die städtische Universitätspsychiatrie war, die sich hier hervortat und das Feld dominierte. An der Heimatfront wurden die kriegspsychiatrischen neuen Methoden, die in der Regel aus einer Mischung von verbalem und körperlichem militärischem Drill und massiver und unangenehmer körperlicher Drangsalierung bestanden, von ihren Vertretern lauthals in öffentlichen Reden und auch unter Zuhilfenahme von Filmmaterial propagiert. Die Landasyle traten nunmehr in ihrer Bedeutung für die Behandlung von PatientInnen zurück. Denn die Hauptklientel der PatientInnen, die jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, war nicht die diversen Anstaltsinsassen der Vorkriegszeit, sondern die frisch erkrankten Soldaten, die nun durch eine Blitztherapie geheilt werden sollten. Mit ihrem enormen Sendungsbewusstsein war die kriegspsychiatrische Universitätspsychiatrie während der Jahre zwischen 1914 und 1918 der „Hauptakteur“ der psychiatrischen Profession.
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Zu den Symptomen der Kriegsneurosen vgl. Riedesser und Verderber 1996: 25–27. Hofer 2002: 65/66. Vgl. neben dem o. g. Band von Riedesser/Verderber beispielhaft v. a.: Neuner 2011; Köhne 2009; Hofer 2004; Lerner 2003; Como 1992.
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4. DIE RENAISSANCE DER LANDPSYCHIATRIE IN SÜDBADEN (1918 BIS 1945) Betrachtet man die euphorische Betriebsamkeit der „Kriegspsychiatrie“ bis 1918, so lässt sich die Frustration der psychiatrischen Behandler nach der Kriegsniederlage leicht ermessen. Es stellte eine große Herausforderung dar, mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, der schon damals als Krieg der Kulturen aufgefasst wurde, konstruktiv umzugehen. Dies betraf nicht zuletzt Hoche, der enorme Energien für den Kriegseinsatz verwandt hatte. Bis zum Ende stemmte sich Hoche gegen die Akzeptanz der militärischen Niederlage, in dem er als Vorsitzender der deutschen Vaterlandspartei in Vorträgen zur Zuversicht und zum Durchhalten aufrief. Danach sank für ihn „ein ganzes Zeitalter in Scherben.“24 Nicht nur einzelne Fachvertreter, sondern auch die Universitätspsychiatrie selbst geriet in eine Krise. Die Fachvertreter zahlten nun in gewissem Sinne ihren Preis für eine hektisch aufgestellte „Kriegspsychiatrie“, die aufgrund der deutschnationalen Ausrichtung wenig bis keine Rücksicht auf die Befindlichkeit ihrer Soldaten-Patienten genommen hatte. In Abkehr von einer Individualmedizin, die trotz des Paternalismus traditionell im Kern die Ausrichtung der naturwissenschaftlichen Medizin bis 1914 bestimmt hatte, wurde im Sinne des Volkswohls und vor allem zur Erringung eines Siegfriedens mit martialischen Methoden im Dienste der Obersten Heeresleitung behandelt. Der politische Systemwechsel, d. h. die Einrichtung der Weimarer Demokratie, ermöglichte nun den betroffenen Soldaten die Einforderung ihrer Interessen. So kam es zu Maßnahmen gegen die Behandler, deren Aktionen während des Krieges als unmenschliche und unethische Maßnahmen angesehen wurden und deren militärische Dienstbarkeit erkannt und bewusst thematisiert wurde. Wiewohl die Elite der deutschen Medizin ihre Erfolge in der Soldatenbehandlung während des Ersten Weltkrieges nach 1918 explizit herausstrich, standen die Vertreter der deutschen Psychiatrie mit dem Rücken zur Wand und gerieten in eine Verteidigungshaltung. Als erfolgreiche Therapien ließen sich das Zwangsexerzieren oder die mit militärischem Kommandoton begleitete Suggestivtherapie vor dem Hintergrund der Soldatenproteste nicht vertreten.25 Dieser Befund gewinnt im Rückblick durch rezente Untersuchungen der körperlichen und psychiatrischen Therapie von deutschen Soldaten noch zusätzlich an Dramatik. Denn es konnte ermittelt werden, dass der größte Teil der mit kriegspsychiatrischen Diagnosen versehenen Soldaten keinesfalls kriegspsychiatrisch behandelt wurde. Die ja erst nach 1916 sich steigernde Betriebsamkeit der Fachvertreter im Reich schlug im Rahmen frontärztlicher Fortbildungen nur bedingt bis zum Truppenarzt im Feldlazarett durch. Man muss davon ausgehen, dass das Wissen um die neuen Therapien direkt hinter dem Graben sehr begrenzt vorhanden war. Auch war den Truppenärzten an der Front die Verbindung von Krieg und Kriegsneurose zu augenfällig, um rassenhygienisch-psychiatrietheoretischen Behandlungen den Vorzug zu 24 25
Vgl. dazu Hofer 2009: 47–89, bes. 65–75. Siehe hier das Zitat von Hoche aus dessen Schrift „Vom Sterben“ : Hoche 1919: 72. Vgl. zu den Prozessen gegen Kriegspsychiater v. a.: Eissler 1979.
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geben. Statistisch lässt sich auf alle Fälle belegen, dass der Großteil der kriegspsychiatrischen Patienten von den Truppenärzten gemäß ihrer individuellen Situation behandelt wurde: die erregten Patienten wurden im stressgeschüttelten Lazarettalltag des Grabenkrieges zunächst mit Medikamenten oder anderen roborierenden Maßnahmen behandelt oder man gab ihnen allem Anschein nach so etwas wie eine „Auszeit“, was kaum als Behandlung zu werten ist. Bemerkenswerterweise kamen auch viele „Kriegshysteriker“ in den Genuss dieses eher milden Umgangs mit kriegspsychiatrischen Leiden.26 Beschädigte schon die Behandlung der Soldaten zwischen 1914 und 1918 das Ansehen der Psychiatrie als Fach, so erstrecht die Vernachlässigung der AnstaltspatientInnen. Im Jahre 1917 hatte das Kriegsernährungsamt die Versorgung von psychisch Kranken in Anstalten derjenigen der gesunden Bevölkerung gleichgestellt. Dies bedeutete vor allem für die psychiatrischen Landes- Heil- und Pflegeanstalten eine unerträgliche Verschärfung der ohnehin schon angespannten Ernährungslage. Deren Folgen waren Unterernährung und Hungertod vieler Anstaltsinsassen. Insgesamt starben nach der neueren Literatur von den Betroffenen zwischen 1914 und 1919 ca. 140.000 Menschen. Auch wenn dieses Phänomen alle psychiatrischen Anstalten betrifft, so war es doch letztlich auch eine Folge der Konzentration auf die Soldaten, die nicht zuletzt von der städtischen Universitätspsychiatrie propagiert worden war.27 Wie einseitig das Handeln der Kriegspsychiatrie zwischen 1914 und 1918 war, zeigen alternative Entwürfe in den Reihen der Kriegspsychiater selbst, die während der Kriegsjahre entwickelt wurden. Ein Beispiel hierfür ist das Wirken des Gießener Psychiaters Robert Sommer (1864–1937). Sommer hatte sich während des Kriegs ebenfalls an der neuen Behandlung der „Kriegszitterer“ beteiligt, indem er psychogen ertaubten und taubstummen Soldaten mittels eines selbst konstruierten Gerätes wieder zur Hörfähigkeit verhelfen wollte. Dennoch hatte seine Gesamtkonzeption des Themas Krieg und Psychiatrie eine andere Ausrichtung, als diejenige vieler anderer Kriegspsychiater. Zentraler Begriff des Umgangs des Arztes bzw. Psychiaters mit den Soldaten und der Bevölkerung war für Sommer derjenige der „Regeneration“. Nicht nur wurde damit den Soldaten die Notwendigkeit der „Erholung“ von Kriegsstrapazen zugestanden. Ebenfalls wurde die gesamte Bevölkerung in die Behandlung durch den Psychiater einbezogen, indem Sommer „Liegehallen“ und Freizeitparks für die Bevölkerung errichten ließ, die den Menschen das Durchhalten im Krieg ermöglichen und letztlich auch den anderen Völkern die Widerstandsfähigkeit des deutschen Volkes in dieser Kulturkrise aufzeigen sollte.28 Vor dem Hintergrund dieser Situation stand vor allem die deutsche bzw. deutsch-sprachige Universitätspsychiatrie nach 1918 im Hinblick auf ihre Reputa26
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Vgl. hierzu die entsprechenden Teilergebnisse des DFG-Projektes „Krieg und Medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln im Zeitalter der Weltkriege“, das zwischen 2006 und 2010 unter Leitung von Cay-Rüdiger Prüll an der Universität Freiburg durchgeführt wurde.: Peckl 2011: 139–159. Vgl. zum Hungersterben in den psychiatrischen Anstalten des deutschsprachigen Raumes: Faulstich 1998: v. a. 25–68. Prüll 2011: 30–48; Lerner 2003: 116–118.
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tion mit dem Rücken zur Wand. Fachvertreter der Universitätspsychiatrie mussten sich gegen Vorwürfe ihrer ehemaligen Soldaten-Patienten wegen der unmenschlichen kriegspsychiatrischen Methoden wehren. Dies führte sogar zu einem spektakulären Gerichtsverfahren, indem der bekannte Wiener Psychiater Julius WagnerJauregg (1857–1940) wegen seiner kriegspsychiatrischen Aktivitäten angeklagt und Untersuchungen gegen ihn eingeleitet wurden. Bekannt wurde der Prozess nicht zuletzt dadurch, dass der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856– 1939) als Sachverständiger und Gutachter beauftragt wurde.29 Die Gegenreaktion war keinesfalls Nachsichtigkeit, sondern eine Gleichsetzung der Kriegshysteriker mit den Bestrebungen der neuen Demokratie. Vor allem Max Nonne entwickelte nach 1918 in diesem Sinne eine aggressive Agitation gegen die früheren kriegspsychiatrischen Patienten, deren „Reden, Agitieren, Herumlaufen, Schreiben und Organisieren“ während der Novemberrevolution von 1918 gezeigt habe, dass es sich hier um eine „Abwehr- und Protestkrankheit“ handele.30 Die deutsche Psychiatrie tat sich dementsprechend schwer, die Rentenansprüche der Kriegszitterer anzuerkennen und ging gegen die Erweiterung und Änderung der Unfallversicherung von 1925 durch den Weimarer Wohlfahrtsstaat vor.31 Die Freiburger Universitätspsychiatrie bekam die antipsychiatrische Stimmung, die sich auf dieser Grundlage in der Bevölkerung breit gemacht hatte, auch zu spüren. Wiewohl Hoches Haltung gegenüber den kriegspsychiatrisch behandelten Soldaten auch in der Weimarer Zeit durchaus moderat war, wurde er in den zwanziger Jahren immerhin mit öffentlicher Kritik an seiner Person und an seiner Klinik konfrontiert. In einem Artikel in der Zeitung „Die Volkswacht“ wurde über hastige und viel zu seltene Visiten des Psychiaters Beschwerde geführt, ferner über seinen allzu rüden Umgang mit den PatientInnen. Diejenigen der dritten Klasse wurden nach dem Artikel besonders benachteiligt, indem ihnen zu wenig Zeit gewidmet würde.32 Im Jahr 1932 kam der Fall eines 29-Jahre alten Lehrers in die Presse, der in suizidaler Absicht einen Löffel verschluckt und sieben Wochen lang bei fehlender Untersuchung in Hoches Klinik verwahrt wurde um schließlich dann in der Freiburger Hals-Nasen-Ohren-Klinik von den Schmerzen befreit zu werden.33 Ein bemerkenswerter allgemeiner Kritikpunkt, der öffentlich diskutiert wurde, war die Verwendung von sogenannten Zwangsjacken in Hoches Klinik. Dieser Vorgang ist insofern aufschlussreich, als die Kritik sich nicht auf die Zwangsjacke selbst als antiquiertem, brutalem Instrument beschränkte, sondern sie vielmehr als Signum einer alten, isolierten Psychiatrie darstellte, die sich systematisch der öffentlichen Überwachung entzog. In diesem Sinne wurde der Anspruch an die Freiburger Uni-
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Vgl. Eissler 1979. Nonne 1922/1934: 102–121, hier 116. Vgl. Neuner 2011: 165–196 sowie 326 f. „Ein badischer Irrenhausskandal. Die Zustände in der psychiatrischen Klinik in Freiburg“, in: Die Volkswacht, Mittwoch, 27. Januar 1926, Nr. 22, in: UAF, B 1. Nr. 3250, Badische Universität Freiburg, Krankenbehandlung in der psychiatrischen Klinik in Freiburg betr., Jahr 1926/32. Ibid.
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versitätspsychiatrie eingeklagt, ein „modernes“ psychiatrisches Krankenhaus zu sein, das diesem Fehler eben nicht verfallen sollte.34 Hoche musste sich nicht nur mit der öffentlichen Kritik an der psychiatrischen Universitätsklinik auseinandersetzen, sondern auch mit der fehlenden Unterstützung durch das Badische Kultusministerium. Im Mai 1925 machte der Freiburger Ordinarius eine Eingabe wegen dringend erforderlicher Renovierungsmaßnahmen, da seit dem Ende des Krieges in dieser Sache nichts mehr erfolgt sei. Auch setzte Hoche seinen Antrag an das Kultusministerium in den größeren Zusammenhang der psychiatrischen Versorgung Badens, wenn er darauf pochte, dass die Klinik nur so ihren Verpflichtungen in dieser Sache nachkommen könne. Der Antrag blieb trotz Unterstützung des Universitätsbauamtes erfolglos. Ganz im Gegenteil: Eine Kommission des Kultusministeriums, die die Klinik im November 1926 besichtigte, kam zu dem Ergebnis, diese sei in zufriedenstellendem Zustand. Die Dauerbäder seien renoviert, eine neue, moderne Telefonanlage sei installiert und auch ansonsten scheine alles zu funktionieren. So setzte Hoche seine Proteste fort: Im Mai 1929 beklagte er sich ganz im Gegensatz zum Bericht des Kultusministeriums explizit über defekte Badewannen und fehlende Matratzen. Die Folge sei, so Hoche, die Zunahme von Infektionskrankheiten bei den PatientInnen, sowie der Ersatz von 10–15 Matratzen durch Strohsäcke.35 Sowohl die Kritik aus der Öffentlichkeit, als auch die fehlende politische Unterstützung stellten nach 1918 die bevorzugte „zentrale“ Stellung der Freiburger Universitätspsychiatrie in Frage. Dies blieb auch so unter Hoches Nachfolger Kurt Beringer (1893–1949), der die Klinik im Jahr 1933 übernommen hatte, nachdem Hoche emeritiert worden war.36 Beringer fühlte sich wie seine Vorgänger der Griesingerschen Psychiatrie verpflichtet. In seinem Bestreben, die somatische Ausrichtung des Faches zu fördern, richtete Beringer ein chemisches und ein neurophysiologisches Laboratorium ein.37 Dennoch wurde die Klinik auch unter Beringer vom Kultusministerium nicht vermehrt finanziell unterstützt. Im Januar 1934, nur dreizehn Tage nach seinem Dienstantritt, erbat Beringer beim Kultusministerium eine dringende Renovierung der Klinik, da innerhalb der letzten 30 Jahre keine nennenswerten strukturellen Verbesserungen durchgeführt worden seien. Die Defizite entwickelten sich unter Beringer im Folgenden noch drastischer, als unter seinem Vorgänger bereits bekannt geworden war: Beringer richtete entsprechend 34 35
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Zeitungsartikel: Humanus „Bestehen Mißstände in der Freiburger Irrenklinik?“, in: Die Volkswacht, 14. Dezember 1932, in: ibid. Hoche an das Kultusministerium, Freiburg, 15.5.1925, Universitätsbauamt Freiburg an das Kultusministerium, Freiburg, 25.6.1925; Kultusministerium. Die Inspektion der Psychiatrischen Klinik in Freiburg, November 1926; Hoche an das Kultusministerium, Freiburg, 4.5.1929, in: GLA, Abt.235, Nr. 7688. Siehe zur Darstellung von Hoche ebenfalls: Prüll 1999: 459–464. An dieser Stelle kann nicht auf die vielfältigen Aspekte des Wirkens von Hoche eingegangen werden. Siehe neben der schon zitierten Literatur: Hoche 1934; Müller-Seidel 1999; Müller 2001. Kurt Beringer wurde 1933 gegen den Willen der nationalsozialistischen Machthaber auf Betreiben der Medizinischen Fakultät berufen. Vgl. Seidler und Leven 2007: 493–497. Vgl. Seidler 1991: 354/355. Siehe zu Beringer ferner: Hermle 1981; Jung 1949: 293–301; Nachlass Kurt Beringer, UA Freiburg, C 58, Nr. 62; Prüll 1999: 464–471.
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im April 1937 erneut eine (im Fazit: erfolglose) Beschwerde an das Kultusministerium. Dieses Mal ging es ihm um die Außenfassade der Klinik, die Beringer, als Aushängeschild der Institution, in einem besseren Zustand sehen wollte. Dabei argumentierte Beringer interessanter Weise und im Jargon der Zeit mit „genetischen und rassenhygienischen“ Verpflichtungen, die die Anstalt habe, ferner aber auch mit geplanten eigenen Maßnahmen zur Mängelbehebung in der Klinik, die letztlich wahrscheinlich als Druckmittel eingesetzt wurden, um das Kultusministerium zur Bewegung zu bringen – mit folgendem Hintergrund: Beringer hatte die Innenrenovierung der Klinik teilweise durch PatientInnen im Rahmen der Arbeitstherapie vornehmen lassen. Doch der Antrag Beringers blieb erfolglos. Im März 1938 beschwerte sich Beringer darüber, dass PatientInnen aus Platzmangel auf dem Korridor liegen müssten – erneut ohne Konsequenzen. 1939 schließlich strich er in einer erneuten Eingabe den Charakter der Freiburger Universität, in einer weiteren rhetorischen Figur, als „Grenzlanduniversität“ heraus und betonte die große Bedeutung speziell der Psychiatrischen Klinik – für die Behandlung traumatisierter Soldaten. 1942 schließlich wurde die Erfolglosigkeit von Beringers Bemühungen endgültig besiegelt: Das Finanzministerium teilte mit, dass größere bauliche Veränderungen erst nach Kriegsende vorgenommen werden könnten.38 Kann vor diesem Hintergrund kaum von einer Erfolgsgeschichte der Freiburger Universitätspsychiatrie gesprochen werden, so sieht die Situation für die psychiatrische Klinik in Emmendingen anders aus. Hier konnten in der Zwischenkriegszeit zahlreiche Umstrukturierungen vorgenommen werden. Diese Innovationen waren zum Teil inspiriert und getragen von den Griesingerschen Ideen, die selektiv auch für die ländliche Psychiatrie nutzbar gemacht werden sollten. Einer dieser Bereiche ist sicherlich die stärkere Berücksichtigung der somatischen Aspekte der Psychiatrie. So wurde in Emmendingen 1923 eine Station für Infektionskrankheiten eröffnet. Ferner wurde die Infrastruktur verbessert, indem die Anstalt beispielsweise 1926 eine neue elektrische Beleuchtung erhielt. 1928 dann wurde die grundlegende Renovierung der Gebäude vorgenommen.39 Eine Bevorzugung von Emmendingen gegenüber der Universitätspsychiatrie in Freiburg kann dabei angenommen werden, auch wenn die finanzielle Lage für alle klinischen Anstalten der Universität Freiburg als angespannt bezeichnet werden muss.40 Vor allem aber profitierte Emmendingen auch von der Reformbewegung der Psychiatrie, die nach 1924 einsetzte und nicht zuletzt die großen Anstalten auf dem Lande erfasste. Einer der Aspekte dieser Innovation war die zunehmend ambulante Betreuung von PatientInnen nach ihrer Entlassung, wobei deren Visitation durch einen in der Anstalt angestellten Arzt erfolgte. Damit wurde die Isolation der PatientInnen aufgebrochen und eine gesellschaftliche Einbindung der Landasyle gefördert. 38
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Kurt Beringer, Bericht über die Freiburger Psychiatrische und Nervenklinik, München, 14.1.1934, 11 Seiten; Beringer an das Kultusministerium, Freiburg, 8.4.1937; 25.3.1938; 11.1.1939, Verwaltungsdirektor der Medizinischen Kliniken in Freiburg an das Kultusministerium, Freiburg, 30.3.1938; das Finanz- und Wirtschaftsministerium an das Kultusministerium, 15.1.1942, in: GLA, Abt.235, Nr.7688; Miltenberger 1982: 37, 64–68. Birlinger-Tögel 1986: 110–115, v. a. 114/115. Seidler 1991: 354.
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Grundlage war das Konzept des Erlanger Psychiaters Gustav Kolb (1870–1938), der eben dieses System nach 1918 als „offene Fürsorge“ entwickelt hatte. Ziel war dabei ein möglichst hohes Maß der Wiedereingliederung psychisch Kranker in die Gesellschaft. Eine andere Säule der Griesingerschen Ideen, auf die vor allem in der Weimarer Zeit verstärkt zurückgegriffen wurde, war die sogenannte familiale Pflege, in der einzelne Familien die Betreuung psychisch Kranker gegen ein Entgelt übernahmen. Ferner schlug sich in der Behandlung der Emmendinger Anstalt während der Zwischenkriegszeit die von dem Gütersloher Psychiater Hermann Simon (1867–1947) ab 1924 entwickelte Form der Arbeitstherapie nieder. Diese „aktivere Krankenbehandlung“ gliederte psychisch Kranke gezielt in die Haus-, Garten- und Feldarbeit der Landasyle ein, um sie sozusagen aus der Isolation der Krankenzelle herauszuholen, an ein strukturiertes Leben zu gewöhnen und damit deren Möglichkeiten für eine soziale Wiedereingliederung zu fördern.41 In diesem Sinne erlebte Emmendingen als Anstalt auf dem Lande in der Zeit nach 1918 eine Art neuerlichen Aufschwung, indem die Therapie der Klinik die „modernen“ Trends der Psychiatrie widerspiegelte, für die die Freiburger Universitätspsychiatrie just in diesen Jahren nur noch sehr bedingt stand.42 Umso dramatischer wirkt aus heutiger Sicht die herausragende Bedeutung der Emmendinger Klinik im Rahmen der sogenannten Euthanasie: hier wurde die ländlich-periphere Lage der Klinik Voraussetzung für eine unauffälliger umzusetzende Ermordung psychisch Kranker in der NS-Zeit. Emmendingen wurde eine sogenannte Zwischenanstalt: PatientInnen, die vorher in den Anstalten Zwiefalten und Wiesloch untergebracht waren, wurden zur Verschleierung ihres Verbleibs gegenüber den Angehörigen für kurze Zeit nach Emmendingen gebracht, von wo sie in die Mordanstalt Grafeneck transportiert wurden.43 Die Anstalt Emmendingen bekam nun aufgrund der politischen Rahmenbedingungen eine große Bedeutung – nicht in der Therapie jedoch, sondern im Patientenmord – die Universitätsklinik Freiburg wurde zum bloßen Versendungsort für ihre PatientInnen nach Emmendingen: Im April 1942, ein Jahr nach der Beendigung der „Euthanasie-Aktionen“, musste Kurt Beringer gegenüber dem Badischen Kultusministerium über die Auswirkungen dieses Arrangements berichten. Gleichzeitig legte er damit ein Zeugnis für die Transparenz der Psychiatrie in Stadtnähe ab: Die PatientInnen in seiner Anstalt sprachen über die Möglichkeit, getötet zu werden, die Aufnahmen in die Universitätspsychiatrie aus der Privatpflege sanken, der Deutung Beringers zufolge aufgrund dieses Zusammenhangs, zwischen 1938 und 1941 von 794 Fällen (1938) auf 553 Fälle (1941).44 41 42 43
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Vgl. zur Reformpsychiatrie der Weimarer Zeit: Siemen 1987. Siehe zur Geschichte der Anstalt Emmendingen insgesamt: Kohl 1991. Birlinger-Tögel 1986: 140, 162/163; Richter etc. 1991. Siehe zu Emmendingen in der NS-Zeit ferner: Prüll 1999: 470–471. Ein Literaturüberblick über die Geschichte der Psychiatrie in der NS-Zeit und insbesondere die „Euthanasie-Aktion“ und die Verbrechen der deutschen Psychiater kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Zum Schicksal der psychiatrischen PatientInnen mit einleitenden Überblickskapiteln siehe: Fuchs, Rotzoll, Müller, Richter, Hohendorf 2007. Bemerkungen von Kurt Beringer, in: GLA, Div. 233, No. 25838, Bad. Staatskanzlei. Generalia. Heil- und Pflegeanstalten. Fürsorge für Geisteskranke, Jahr 1935 – [1943], Blätter 1–32, bes.
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5. SCHLUSSBETRACHTUNG Im vorliegenden Beitrag wurde das Verhältnis von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Geschichte der Badischen Psychiatrie und hier mit Fokussierung auf das Verhältnis zwischen der Freiburger psychiatrischen Universitätsklinik einerseits, und der Landesheilanstalt Emmendingen zwischen etwa 1850 und 1945 andererseits, untersucht. Dabei ging die Frage von grundsätzlichen Erwägungen zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie aus. Beide Begriffe, so ergab der Blick in die Fachliteratur, sind oft sozialen und geographischen Parametern fest zugeordnet. Dieser Befund, d. h. eine derartig starre Zuschreibung, lässt sich nun für die psychiatrischen Kliniken von Freiburg und Emmendingen zwischen 1850 und 1945 nicht konstatieren. In einer ersten Phase, die von 1800 bis etwa 1870 anzusetzen ist, war die deutsche Psychiatrie eine Psychiatrie, in der sogenannten Landasylen eine zentrale Rolle zukam. Dies spiegelt sich in Baden in der Gründung der Illenau durch Christian Friedrich Roller wieder. Zwischen 1870 und 1918 änderte sich dies, indem die Landasyle eine Konkurrenz durch die aufstrebende stadtbasierte Universitätspsychiatrie erfuhren, und die universitäre Psychiatrie Freiburgs aufgebaut wurde. Durch diesen neuen Anstaltstypus setzte sich die Konzeption des Berliner Psychiaters Wilhelm Griesinger als naturwissenschaftliche Psychiatrie durch. Diese Konzeption nahm nun die zentrale Position ein, ohne allerdings die Landasyle in Gänze zu verdrängen, die unter anderen in Form der Anstalt Emmendingen auch in Baden weiterhin ihre Bedeutung wahren konnte. Eine dominante Rolle im Feld der Psychiatrie in Deutschland konnte sich die Universitätspsychiatrie allerdings während des Ersten Weltkrieges durch den Einsatz zur Behandlung der „Kriegszitterer“ erarbeiten. Der psychiatrischen Universitätsklinik unter Alfred Erich Hoche in Freiburg insbesondere kam hier eine hervorragende Rolle zu. Nach 1918 änderte sich das Bild erneut. Im Rahmen der kriegsbedingten Einbuße des Ansehens der Universitätspsychiatrie gewannen die Landasyle im Vergleich nun wieder an Gewicht. Diese Bedeutungszunahme kulminierte in pervertierter Bedeutung während der NS-Zeit, als gerade diese Landasyle im Stile Emmendingens, die während der Weimarer Republik eine große Rolle für den Aufbau einer patiententInnenorientierten Reformpsychiatrie gespielt hatten, nunmehr Dreh- und Angelpunkt der sogenannten „Euthanasie-Aktionen“, des Mordprogramms der nationalsozialistischen Psychiatrie wurden. Das Landasyl Emmendingen fungierte in diesem System als Zwischenanstalt, ein Anstaltstyp, der zugleich der Verschleierung der Patientenschicksale diente und von denen aus die PatientInnen in die Mordanstalten verlegt wurden. Die Geschichte der Badischen Psychiatrie verdeutlicht damit, dass man in der deutschen Psychiatriegeschichte nur schwerlich eine feste Zuordnung von Land und Stadt zu dem Begriffspaar Peripherie und Zentrum vornehmen kann. Die Bedeutung von ländlicher und städtischer Psychiatrie, so zeigt das Beispiel Baden, Blatt 17/18. Die hohe Bedeutung Emmendingens für die sogenannten Euthanasie-Maßnahmen wird m. E. auch daran deutlich, dass indirekter Widerstand des seinerzeitigen Direktors, Viktor Mathes, durch Drohungen aus dem Ministerium des Innern beendet wurde und Mathes sich in der Folge dem „Befehl von oben“ beugte. Vgl. Plezko 2011: 54.
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verschob sich in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren. Ein Faktor ist die Entwicklung psychiatrischer Theorien und Behandlungskonzepte, die sich in der Bevorzugung des einen oder anderen Typus niederschlug. Ein weiterer Faktor ist die jeweilige gesellschaftspolitische Situation, die unterschiedliche Erfordernisse an die Psychiatrie stellte. Dieser Befund macht letztlich deutlich, wie zurückhaltend man mit vereinfachenden Zuschreibungen sein muss, und dass es letztlich mikrohistorischer Fallanalysen bedarf, um einen genauen Blick – auch auf die Psychiatriegeschichte – zu erhalten. LITERATUR Aschoff, Ludwig (1915) Krankheit und Krieg. Eine akademische Rede (Freiburg, Leipzig: Speyer & Kaerner). Ben-David, Joseph (1960) ‚Scientific Productivity and Academic Organisation in Nineteenth Century Medicine‘, American Sociological Review 25: 828–843. Ben-David, Joseph (1971) The Scientist’s Role in Society. A comparative Study (Englewood Cliffs / N. J.: Prentice Hall). Birlinger-Tögel, Martina Ilse (1986) Die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen. Die Geschichte ihrer Planung, ihres Baues und ihrer Entwicklung (Diss.med.Fak.: Freiburg). Bleker, Johanna (1983) ‚Die Stadt als Krankheitsfaktor. Eine Analyse ärztlicher Auffassungen im 19. Jahrhundert‘, Medizinhistorisches Journal 18: 118–136. Como, Günter (1992) „Für Volk und Vaterland“. Die Militärpsychiatrie in den Weltkriegen (Münster, Hamburg: Lit). Eissler, Kurt Robert (1979) Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen (Wien: Loecker-Verlag). Engstrom, Eric J., Roelcke, Volker (Hrsg.) (2003) Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum (Medizinische Forschung Band 13) (Mainz/Basel: Akad. d. Wiss. u. d. Lit. / Schwabe). Faulstich, Heinz (1993) Von der Irrenfürsorge zur ‚Euthanasie‘. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945 (Freiburg: Lambertus). Faulstich, Heinz (1998) Hungersterben in der Psychiatrie 1914 bis 1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie (Freiburg i.Br.: Lambertus). Fuchs, Petra, Rotzoll, Maike, Müller, Ulrich, Richter, Paul, Hohendorf, Gerrit (Hrsg.) (2007) „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ (Göttingen: Wallstein). Hermle, Leo (1981) Biobibliographie Kurt Beringer, Diss.Med.Fak. Freiburg. Hoche, Alfred Erich (1915) Krieg und Seelenleben (Freiburg, Leipzig: Speyer & Kaerner, 2. Aufl.). Hoche, Alfred Erich (1919) Vom Sterben“ (Jena: Fischer). Hoche, Alfred Erich (1934) Jahresringe. Innenansichten eines Menschenlebens, (München: Lehmann). Hofer, Hans-Georg (2002) ‚Die „Veränderung aller Maßstäbe“. Die Freiburger Medizinische Fakultät und der Erste Weltkrieg‘, in Bernd Grün, Hans-Georg Hofer, Karl-Heinz Leven (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ (Frankfurt/M., Berlin u. a.: Peter Lang): 50–75. Hofer, Hans-Georg (2004) Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920) (Wien, Köln, Weimar: Böhlau). Hofer, Hans-Georg (2009) ‚Aus Krieg, Krise und Kälte: Alfred Hoche über „lebensunwertes Leben“‘, in Mariacarla Gadebusch Bondio, Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), Wissen und Gewissen. Historische Untersuchungen zu den Zielen von Wissenschaft und Technik (Münster, Berlin: Lit): 47–89.
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DIE HEIL- UND PFLEGEANSTALT GÜNZBURG WÄHREND DER GROSSEN DEPRESSION
Psychiatrie und Stadt-Land-Beziehungen in Zeiten der sozioökonomischen Krise Sebastian Kessler 1. EINLEITUNG In medizinhistorischer Perspektive bezeichnet der Begriff „Medikalisierung“ den Aufstieg und die Professionalisierung der Medizin seit dem 19. Jahrhundert (Loetz, 1993). In diesem Zeitraum nahm sowohl die Anzahl als auch das Ausmaß sozioökonomischer Krisen (Piketty, 2014) zu. Beide Prozesse dauern bis heute an. Es ist wohl intuitiv verständlich, dass Krisen zu vermehrter Armut führen. Nicht zuletzt deswegen wurde im Deutschland der 1920er Jahre „das Schlagwort von der ‚Krise der Medizin‘“ (Wiesing, 1996: 186) populär. Zu den Krisendeutungen der Weimarer Republik ist auch eine „Krise der Kultur zu Zeiten des Umbruchs und der Verunsicherung“ (Wiesing, 1996: 186) zu zählen: „Die schnell fortschreitende Industrialisierung und Rationalisierung mit Auflösung traditioneller Strukturen führte[n] zu neuen sozialen Herausforderungen (Landflucht, Proletarisierung, Massenarbeitslosigkeit)“ (Wiesing, 1996: 186)
Die Krise mit der sich die Medizin Anfang des 20. Jahrhunderts konfrontiert sah, war also nicht zuletzt ein Resultat der historischen Prozesse und Phänomene von Industrialisierung, Proletarisierung und Urbanisierung, die im 19. Jahrhundert bereits einsetzten und eng mit der Beziehung zwischen Stadt und Land verknüpft sind. Beides, der Prozess der Medikalisierung, aber auch die sich stetig wiederholenden sozioökonomischen Krisen existierten über den Verlauf der Zeit nebeneinander. Es wird unter anderem von einer im späten 18. Jahrhundert einsetzenden Medikalisierung des Pauperismus gesprochen (Loetz, 1993) und von der Ablösung traditionaler Deutungsmuster von Arbeit und Gesundheit durch medikale Deutungsmuster (Labisch und Spree, 1989: 12–13). Eine Entwicklung, die einerseits dazu führte, dass Ärzte sich bereits früh als „Anwälte der Armen“ (Rudolf Virchow zitiert nach: Göckenjan, 1989: 92) verstanden, die aber auch mit der Bestrebung einherging, Lebenslagen von Armut als Krankheit zu definieren (Labisch, 1989: 21–22). Den Weg für eine sich durchsetzende „somatische Kultur“ (Frevert, 1985: 55) der medizinischen Wissenschaft, die sich beispielsweise auch in der im Jahr 1915 gegründeten Heil- und Pflegeanstalt Günzburg in bayrisch Schwaben wiederfindet, bahnten folglich soziale, ökonomische und politische Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Im Folgenden werden daher die Auswirkungen von Krisen auf den Zusammenhang von Zentrum und Peripherie dargestellt. In diesem Zusammenhang soll auch
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auf den Zusammenhang von Krise und Psychiatrie eingegangen werden.1 Anschließend werden Ergebnisse einer Aktenanalyse im Patientenaktenarchiv des Bezirkskrankenhauses Günzburg vorgestellt. Die Leitfragen dieses zweiten Teils des Beitrags beschäftigen sich mit dem Aspekt, ob die Erste Weltwirtschaftskrise im realen Alltag der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg an den Primärquellen hinsichtlich ihrer Folgen nachgewiesen werden kann. Dabei wird die Entwicklung der Patientenzugänge für den Zeitraum der Weltwirtschaftskrise untersucht und überprüft, ob die Krise Teil des Narrativs in den Krankengeschichten von Patientinnen und Patienten aus dem ländlichen respektive dem urbanen Einzugsbereich der genannten Klinik war. Ziel dieses Beitrages ist ein proof of concept. Sein Anspruch beschränkt sich auf die These, nach der sich das Leben im urbanen oder ruralen Raum während der Großen Depression auf die Diagnose von psychiatrischen Lebenskrisen auswirkte, und will diese plausibilisieren.2 In medizinhistorischen Analysen sind häufig die Krisenfolgen, wie zum Beispiel Armut oder soziale Ungleichheit, Gegenstand der Untersuchung (Spree, 1981). Auch hier reicht der Fokus über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus. So lässt sich für das ebenfalls in bayrisch Schwaben gelegene Nördlingen eine von den Konzepten der Galenischen Medizin bis heute beeinflusste Armenhilfe für den Zeitraum zwischen 1570 und 1620 nachweisen (Hammond, 2011) und somit ein Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Armut im urbanen Schwaben und der Deutung dieses Umgangs mit Armut durch Akteure, die dem Umfeld der Medizin entstammten. Welche Rolle in dieser Deutung der Begriff der Krise gespielt hat, wird durch dessen jeweilige zeitgenössische Aktualität beeinflusst. Flurin Condrau stellt beispielsweise fest, dass die Züricher Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Zusammenhang zwischen der Choleraepidemie und der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Krise herstellen: „Es ist erstaunlich, daß gerade während der Epidemie von 1867, die Zürich auf dem Höhepunkt einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise traf, die beteiligten Ärzte keinen Zusammenhang zu diesen Faktoren sozialer Ungleichheit sahen. Keiner der Ärzte nahm Bezug zur aktuellen ökonomischen Lage.“ (Condrau, 1993: 94)
Damit stellt sich die Frage wovon gesprochen wird, wenn das Wort Krise verwendet wird. Reinhart Koselleck leitet seine etwa 30-seitige begriffsgeschichtliche Abhandlung über das Begriffswort Krise damit ein, dass der Begriff harte Alternativen herausfordere: „Recht oder Unrecht, Heil oder Verdammnis, Leben oder Tod“ (Koselleck, 1982: 617). Diese dreifache Bedeutung für die Rechtswissenschaft, 1
2
Neben der bereits zitierten Arbeit über die Krise der Medizin in den 1920er Jahren von Urban Wiesing (1996) hat unter anderem Karin Geiger eine medizinhistorische Arbeit über den Schlüsselbegriff der Krise publiziert, Geiger (2010). Während die sprachanalytische Arbeit von Geiger sich jedoch auf die Funktion des Terminus Krise in der medizinischen Debatte der Weimarer Republik konzentriert, liegt der Fokus der folgenden Erörterung auf der Rolle des Konzeptes ‚Krise‘ für die Psychiatrie Anfang des 20. Jahrhunderts. Über die Darlegung plausibler Argumente hinaus wird keine weitere Beweisführung vollzogen. Wegen meiner Forschung zu einem anders gelagerten Promotionsthema war es mir leider nicht möglich dieses Projekt weiter zu verfolgen. Die Aussagekraft dieses Beitrages beschränkt sich daher auf die zum Zeitpunkt der Abgabe des Manuskriptes erhobenen Daten.
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die Theologie und die Medizin projiziert Koselleck in die griechische Antike. In der etymologischen Entwicklung, also im Wandel der Bedeutung des Begriffes verliere die ‚Krise‘ diese dreifache Bedeutung über den Verlauf der Jahrhunderte. Begriffsgeschichtlich beschränke er sich im Folgenden auf die Medizin. Hier wurde er wohl durch die Weitergabe des Wissens und des Handwerks konserviert. Nach Nelly Tsouyopoulos fand der Begriff Krise über das Corpus hippocraticum Eingang in die Medizin. Der Autor der Schrift beschrieb damit jene Situation in der „schwer fieberhafte Krankheiten unter auffallenden Symptomen plötzlich in Genesung oder in Verschlechterung übergehen“ (Koselleck et al., 1976: 1242) können. Später werde der Begriff von Galen übernommen, der sich auch von der Zahlenmystik des römischen Arztes Celsus beeinflussen ließ. In Galens Lehre ist die Fixierung des Zeitpunktes der Krise eine wichtige Grundlage für die Prognose des Krankheitsverlaufs. Folgt man der Lehre, dann müsse man den Beginn der Krankheit kennen, um das Eintreten der kritischen Phase richtig prognostizieren zu können. Auch wenn Galens Werke später weniger einflussreich werden, verortet die Medizinhistorikerin Tsouyopoulos dennoch einen Höhepunkt der Diskussion um die Thematik „kritischer Krankheitstage“ im 16. Jahrhundert (Koselleck et al., 1976). Hier wird das lateinische Wort ‚crisis‘ als Fachterminus für die Bezeichnung des Höhepunkts eines Krankheitsgeschehens im Krankheitsverlauf verwendet (Pfeifer, 2006: 735). Noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts warteten hippokratisch orientierte Ärzte aus diagnostisch-therapeutischer Motivation heraus die Krise ab, um das Krankheitsbild besser einschätzen und „richtig unterstützend oder schwächend eingreifen“ (Göckenjan, 1985: 213) zu können. Mit der Hinwendung zu naturwissenschaftlichen Erklärungs- und Deutungsmustern habe die ‚Krise‘ für die medizinische Diagnostik und Therapie jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Stellenwert verloren (Winau, 2007). Erst im Zuge dieser Entwicklungen erfolgte, so Koselleck, ab dem 17. Jahrhundert die breitere metaphorische Verwendung für gesellschaftliche, aber auch wirtschaftliche Zusammenhänge (1982: 617). Diese ab dann eingeführte Metaphorik von Krise im Sinne eines Wende- oder Scheitelpunktes zeigt sich beispielsweise in der Beschreibung der zunehmenden sozioökonomischen Krisen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit der Beschreibung einer Situation als ‚Krise‘ geht daher implizit ein der Medizin entstammendes Verständnis einher, das darauf abhebt, dass der Höhepunkt einer pathologischen Situation erreicht ist, deren weiterer Verlauf jedoch noch nicht abgesehen werden kann. Wirft man einen Blick auf die Texte, die sich seither mit Krise beschäftigt haben, wird der Zusammenhang zwischen Krise und Zentrum-Peripherie-Beziehungen offensichtlich. Der Begriff Krise mag zwar ein weitverbreiteter sein, er bleibt jedoch weiterhin definitionsbedürftig und kontextabhängig. Die Koppelung der Vorstellung von Krise an zuvorderst Ökonomie und Gesellschaft hat dabei eine vergleichsweise lange Tradition. Bereits um das Jahr 1870 vergleicht Jacob Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen Krisen mit Epidemien (Burckhardt, 1949 [um 1870]). In diesen würden sich „Sprünge, Zögerungen, Rückfälle und neue Sprünge miteinander abwechseln“ (Burckhardt, 1949 [um 1870]: 220–221). Während Burckhardt allerdings die Völkerwanderung als die einzige echte Krisis
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in der Geschichte begreift (Burckhardt, 1949 [um 1870]: 209–210), sind Krisen für andere Autoren viel häufiger anzutreffen. Eugen Bergmann zitiert beispielsweise 1895 den belgischen Ökonom und Freihandelsanhänger Molinari, nach dem „‚Jeder kleine oder grosse Fortschritt […] eine Krise‘ [besitze]. Diese Krise ist mehr oder minder ausgedehnt und intensiv, aber sie schliesst immer Verluste, Störungen und Leiden ein‘“ (Bergmann, 1895: 132).
Im Sprachgebrauch der Weimarer Republik setzte sich, wie bereits einführend angedeutet, eine breitere Verwendungsweise des Begriffs Krise durch, welche eine Semantik gestaltbarer Zukunft abdeckte (Graf, 2005). Im Rahmen dieses größeren gesellschaftlichen Deutungsmusters wurde das Konzept Krise erneut zu einem Schlüsselbegriff in der Medizin (Wiesing, 1996; Geiger, 2010). Die Störungen und Leiden, die nach Molinaris Überlegungen aus dem 19. Jahrhundert mit Krisen einhergehen, zeigen sich schließlich auch in den Psychiatrien. Der Streit um das unterschiedliche Verständnis der sozialen Krise in der amerikanischen Psychiatrie war während der Großen Depression von 1929 mit ein Grund für die tiefer werdende Spaltung zwischen somatic psychiatrists und mental hygienists (Pols, 2001). Auch in Deutschland wird über die diagnostische und therapeutische Rolle der seelischen Krise (Künkel, 1930) für die psychische Gesundheit diskutiert. Für Künkel spielt beispielsweise die durch Therapie gelenkte Krise eine zentrale Rolle im Heilungsprozess. Angesichts des Eindrucks der Großen Depression wird im Jahr 1934 aber auch gefragt, ob „die Zahl der Geisteskrankheiten“ (Gallus, 1934) zunehme. Nach der Überzeugung von K. Gallus drängt sich diese Frage aufgrund einer Auswertung der preußischen Anstaltsstatistik von 1910 bis 1930 auf. Auch der Psychiater Karl Wilmanns geht bereits 1930 darauf ein, dass die Anstalten in der ‚gegenwärtigen Zeit‘ überfüllt seien „Gerade in der gegenwärtigen Zeit, wo infolge Überschätzung der Bedeutung der Frühentlassung, besonders aber unter dem Drucke der Überfüllung der Anstalten vorschnelle Entlassungen in weit größerem Umfange als vor dem Kriege vorgenommen werden müssen, gibt die Statistik infolge der erheblichen Zahl der Wiederaufnahmen ein ganz verkehrtes Bild von der wirklichen Krankenbewegung.“ (Wilmanns, 1930: 232–233).
Wie ich im Folgenden argumentieren werde, äußerte sich die Krise der Großen Depression auch in der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg. Dafür wurden im Bezirkskrankenhaus Günzburg die Standlisten statistisch ausgewertet und es wurde eine qualitative Analyse von Patientenakten begonnen. In den Standlisten sind die Patientenbewegungen der Psychiatrischen Klinik verzeichnet. Dort wurden Ein- und Abgänge nach Geschlecht getrennt namentlich notiert und um weitere Angaben ergänzt. Für den Zeitraum seit Eröffnung der Psychiatrie im Jahr 1915 bis in die vierziger Jahre hinein wurden dort unter anderem alle Krankheitsformen nach dem im Jahr 1933 beschlossenen Würzburger Schlüssel codiert. Die Verschlüsselung findet sich außerdem auf den Vorderseiten der Krankengeschichten wieder. Eine solche rückwirkende Verschlüsselung bis zur Errichtung der Klinik ist beispielsweise auch von den Wittenauer Heilstätten in Berlin bekannt (Dörries, 1999: 196). In den Patientenakten hingegen finden sich die bereits erwähnten Krankengeschichten und die Protokolle der Aufnahmebefunde. Neben biographischen Anga-
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ben sind dort Anamnesebefunde der behandelnden Ärzte aufgezeichnet, die auf die Genese der jeweiligen Krankheit hindeuten sollen. Durch ihre Analyse lässt sich ein (in der Perspektive psychiatrisch geprägtes) Bild über den Lebenshintergrund der Patienten rekonstruieren. Die Auswertung dieser Quellen erlaubt in der Regel sowohl herauszuarbeiten, ob der Patient einem eher urbanen oder einem eher peripheren Umfeld entstammt, und ob der in der Krankengeschichte dargelegte Krankheitsverlauf sich biografisch mit der Zuspitzung der sozioökonomischen Lage im Verlauf der Krise von 1929 in Verbindung bringen lässt. Hinweise hierfür können zum Beispiel Notizen über prekäre Lebenssituationen oder ein Verlust der Anstellung sein. Wie bereits bei Wilmanns für die Weimarer Republik und bei Gallus für die preußischen Anstalten lässt sich für Günzburg eine Zunahme an psychiatrischen Fallzahlen feststellen. In den Anamnesen der dortigen Patienten finden sich außerdem Hinweise, dass die ökonomische Krise die bereits bestehenden Phänomene der Urbanisierung, Proletarisierung und Massenarbeitslosigkeit (vgl. Wiesing, 1996: 186) verstärkte und sich in Form von individuellen, pathologisierten Lebenskrisen äußerte. 2. GÜNZBURG ZUR ZEIT DER GROSSEN DEPRESSION 1929 Der psychiatrische Krankenhausstandort Günzburg wurde am 24. November 1915 als „Heil- und Pflegeanstalt“ eingeweiht (Söhner, 2015). Die Errichtung der Klinik war nach der Überfüllung der 1849 eingerichteten Anstalt Irsee und der 1876 eröffneten Anstalt Kaufbeuren „als dritter psychiatrischer Standort in [bayrisch] Schwaben erforderlich“ (Cranach und Schüttler, 1999: 249) geworden. 1923 erhielt die Günzburger Einrichtung ebenfalls die Anerkennung als staatliche Krankenpflegeschule, bereits ab 1926 wird ihr weiterer Ausbau diskutiert. Seit ihrer Eröffnung standen dem Krankenhaus neun ärztliche Direktoren vor. Für die Zeit um die Erste Weltwirtschaftskrise sind die Arbeit unter Dr. Edwin Harlander und Dr. Roderich Mayer ausschlaggebend. Für das Klinikum in Günzburg hat bis heute vor allem die Aufarbeitung der Rolle der Klinik im Nationalsozialismus begonnen.3 Arbeiten über die Bedeutung der Psychiatrie während sozioökonomischen Krisen oder über Stadt-Land-Beziehungen sind mir nicht bekannt. 2.1. Auswertung der Standlisten Betrachtet man die Grafik der männlichen Zugänge zwischen 1915 und 1932 fallen zwei Spitzen auf (siehe Grafik 1). Erstens 1916 kurz nach Errichtung der Klinik und zweitens 1929 zur Großen Depression. Der erste starke Anstieg lässt sich durch die Verlegungen aus den Anstalten Irsee und Kaufbeuren erklären. Offensichtlich gibt 3
Vgl.: Cranach 1999; Steger et al. (2010); Steger et al. (2011); Steger et al. (2012); Söhner et al. (2015).
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es außerdem nach dem Großen Krieg und nach der Zulassung als staatliche Krankenpflegeschule weitere Anstiege in den Patientenzugängen. 120 100 80 60 40 20
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Grafik 1: Männliche Zugänge zwischen 1915 und 1932
Für die weiblichen Patienten sieht der Befund anders aus (siehe Grafik 2). Bei ihnen wirkte sich das Ende des Ersten Weltkrieges nicht in einem Anstieg der Patientenzugänge aus. Im Jahr 1929 hingegen sinkt die Zahl der Zugänge drastisch ab.
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Grafik 2: Weibliche Zugänge zwischen 1915 und 1932
Daraus lässt sich unter anderem schließen, dass zumindest für den Bestand an männlichen Patienten im Verlauf der Ersten Weltwirtschaftskrise die Anzahl der
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psychiatrisch behandelten Erkrankungen anstieg. Dabei unterschieden sich die gestellten Diagnosen im Zeitraum zwischen 1929 und 1932 zwischen den Geschlechtern. Laut der rückwirkenden Codierung nach dem Würzburger Schlüssel wurde bei etwa der Hälfte der weiblichen Patientinnen „Schizophrenie“ und bei einem Viertel „Psychose“ diagnostiziert. Bei dem übrigen Viertel der Frauen wurden andere Krankheitsformen festgestellt. Demgegenüber galt knapp ein Drittel der Männer als “schizophren“, während sich ein weiteres Drittel der Zuschreibungen auf die Diagnosen „Psychose“, „Psychopatische Persönlichkeit“, „chronischer Alkoholismus“ und „manisch-depressive Veranlagung“ aufteilen lässt. 2.2. Auswertung der Patientenakten Abschließend werden vier exemplarische Krankengeschichten aus den Zugängen von Männern im Jahr 1929 vorgestellt. Diese vier Krankengeschichten stehen Pate für unterschiedliche Typen von krisenunabhängigen, aber auch krisenabhängigen Aufnahmen als Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt Günzburg. 2.2.1. Johann B. Johann B. stammte aus dem bayerisch-schwäbischen Dorf Roth, welches heute ein von Wiesen und Feldern abgegrenzter Stadtteil von Pfaffenhofen ist. In seiner Krankengeschichte findet sich eine Familienanamnese. In dieser sind im Unterpunkt III Kranke und sonstige auffällige Persönlichkeiten, 2. Kriminelle, Geisteskranke, Psychopathen etc. fünf nahe Verwandte als „psychisch krank“ oder zumindest „auffällig“ notiert worden. So wurde die Mutter laut Angabe des zuständigen Sanitätsrates bereits zwischen 1914 bis 1918 in Günzburg wegen einer manischen Depression behandelt, der Vater könne „kaum lesen und schreiben“ (Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Johann B., unpaginiert), ein Bruder sei schwachsinnig und ein weiterer Bruder sowie eine Schwester seien geistig wenig entwickelt. Mit etwa 20 Jahren wurde Johann B. 1917 zu einem Lazarettzug nach München eingezogen. Nach dem Krieg kam er ins Gefängnis und wurde, nachdem er sechs Jahre einer siebenjährigen Haftstrafe abgesessen hatte, aus dem Zuchthaus entlassen. Nach seiner Ankunft aus dem Gefängnis habe er seine Mutter und Geschwister, sowie Nachbarn geschlagen. Er schlug außerdem ein Fenster ein und – wiederum laut Angabe des Sanitätsrates – habe er „ungereimte Reden“ (ebd.) gehalten. Nach Ankündigung einer Hochzeit des Bruders habe sich Verwirrtheit eingestellt, B. wurde schließlich am 23. Juli 1929 in Günzburg eingeliefert. Dem Akt ist zu entnehmen, dass der Patient nicht gewusst habe, warum er in der Psychiatrie sei. Nachdem er auf die Vorgänge in Roth angesprochen wurde, habe er geantwortet: „Die Leute in Roth sind alle tot, nur einer wacht, das bin ich“ (ebd.). Bei Johann B. wurde Schizophrenie diagnostiziert.
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2.2.2. Suitbert L. Suitbert L. wurde im Jahr 1889 im Dorf Autenried geboren. Er war gelernter Braumeister und trank bereits vor dem Ersten Weltkrieg 5–6 Liter Bier am Tag. Er diente bis zu einer Fußverletzung 42 Monate in der Infanterie. Nach dem Krieg arbeitete er an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Berufen. Unter anderem auch als Brauer. Schließlich heiratete er in eine Wirtschaft in einer Kleinstadt, welche im Einzugsbereich der Günzburger Klinik liegt. In der Ehe, so die Sozialanamnese, gab es immer wieder Streit. Unter anderem warf er seiner Frau vor, dass sie trinke und unordentlich sei, außerdem habe sie es drauf angelegt ihn ins Zucht- oder Narrenhaus zu bringen. L. gibt in der Anamnese zum Zeitpunkt seiner Einlieferung an, bereits von zwei Litern Bier betrunken zu sein, wenn er sie „im Zorn hineintrinke“ (Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Suitbert L., unpaginiert). In der Psychiatrie wurde bei ihm chronischer Alkoholismus diagnostiziert. 2.2.3. Wilhelm S. Wilhelm S. sei laut Angabe der Mutter mit 11 Jahren vom Heustadel gefallen, “Während er früher ein braver, aufrichtiger Bub gewesen war, begann er von da ab zu lügen, stahl, behauptete Dinge, die sich als unrichtig herausstellten“ (Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Wilhelm S., unpaginiert). Sein Urgroßvater war im Irrenhaus gestorben, ein Bruder des Vaters hatte mit 26 Selbstmord begangen. Wilhelm S. habe bereits mit 17 Jahren Geld unterschlagen. Er arbeitete als Angestellter in einem Ulmer Ladengeschäft. Im Verlauf des Jahres 1929 saß er wegen Betrugs, offensichtlich gegenüber seinem Arbeitgeber, in Haft. Weil sich dies wiederholt ereignet habe, wurde er im gleichen Jahr polizeilich in die Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen. In Günzburg wurde eine Psychopathie diagnostiziert. 2.2.4. Albert J. Albert J. wurde zweimal im Verlauf des Jahres 1929 in Günzburg eingewiesen. Er lebte in der Stadt Nördlingen. Bei seiner zweiten Aufnahme kam er mit der Sanitätskolonne aus Nördlingen. Albert J. habe sich vor seiner ersten Aufnahme im Mai mit seinem Vater gestritten, anschließend betrunken und auf die Eisenbahnschienen gelegt. Auf den Selbstmordversuch hin wurde er in Günzburg eingeliefert und verblieb dort sechs Wochen. Daraufhin war er als Flaschenreiniger in Nördlingen beschäftigt. Auf der Fahrt von der Arbeitsstelle nach Hause habe ihn ein Mitfahrender im Fuhrwerk einen glühenden Zigarettenstummel ins Gesicht geworfen. Diesen hatte er daraufhin im Zorn „krankenhausreif geschlagen“. Albert J. wurde wiederum in Günzburg eingeliefert und gab an, er habe eine große Dummheit gemacht. Im Jahr 1930 verzieht Albert J. aus in den Akten nicht näher angegebenen Gründen nach Berlin-Charlottenburg. Offensichtlich kam es dort zu einem Gerichts-Verfahren, denn sein dortiger Verteidiger ließ seine Krankenakte zwischenzeitlich zum
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stellvertretenden Stadtarzt an das Rathaus Charlottenburg schicken. Bei J. wurde Psychopathie diagnostiziert. DISKUSSION Die Auswertung der Quellen aus dem Bezirkskrankenhaus Günzburg unterstützt die These, dass sich die ökonomische Krise der Großen Depression in der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg äußerte. Die statistische Auswertung zeigt im Jahr 1929, also während der Ersten Weltwirtschaftskrise, für die Männer einen eindeutigen Anstieg. Wie es auch für andere Regionen in Deutschland festgestellt wurde, nahm auch in dieser schwäbischen Anstalt die Zahl der Patienten zu. Weshalb die Zahl der Aufnahmen von weiblichen Patienten im gleichen Zeitraum abnahm, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklärt werden und muss eine Frage für zukünftige Forschung bleiben. Darüber hinaus lässt sich bei einigen Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg die Krise als Teil des Narrativs in den Krankengeschichten wiederfinden. Die begonnene qualitative Auswertung der Patientenakten plausibilisiert die Annahme, dass die Zunahme von diagnostizierten Lebenskrisen zumindest zum Teil mit den in der Krise verstärkten Phänomenen von Urbanisierung, Proletarisierung und Massenarbeitslosigkeit korrespondiert. Die Folgen der Ersten Weltwirtschaftskrise finden sich in den Krankengeschichten der Patienten wieder, die im Verlauf und im Anschluss an die Große Depression aufgenommenen wurden und die im städtischen Umfeld abhängig beschäftigt waren. Während die ersten beiden dargestellten Lebensläufe von Johann B. und Suitbert L. zeigen, dass im Verlauf des Jahres 1929 auch Patienten aufgenommen wurden, die nicht aus einem städtischen Umfeld entstammen, die zum Teil familiär vorbelastet waren oder bereits eine längere Krankengeschichte vorweisen, sollen die Lebensläufe von Wilhelm S. und Albert J. die These untermauern, dass es Einlieferungen von städtischen Krisenverlierern durchaus gegeben hat. Wilhelm S.’ Krankheitsgenese wurde zwar auf ein Trauma in der Kindheit zurückgeführt, wiederholt polizeilich auffällig wurde er allerdings erst im Zuge der Wirtschaftskrise, die allgemein die zum Überleben nötigen Ressourcen bedrohte. Erst im Zuge dieser wiederholten Auffälligkeit wurde er in die Klinik eingeliefert und eine psychische Krankheit bei ihm diagnostiziert. Noch exemplarischer wirkt der Krankheitsverlauf von Albert J. Er befand sich im Jahr 1929 in einem prekären Beschäftigungsverhältnis. Er lebte und arbeitete im städtischen Raum. Auf der Fahrt von der Arbeit nach Hause schlug er aus einem das Verhältnis nicht rechtfertigenden Grund einen Mitreisenden „krankenhausreif“. Einige Monate zuvor hatte er bereits versucht sich das Leben zu nehmen. Im Jahr 1929 schien für das Einzugsgebiet der psychiatrischen Klinik in Günzburg möglicherweise zu gelten, dass in den Krankengeschichten von Patienten, die zuvor städtische Arbeitnehmer waren, die Folgen der Wirtschaftskrise zum Teil des Begründungsnarrativs der psychischen Krankheit wurden. Um diese an den hier phänomenologisch geschilderten Fällen generierte These zu belegen ist weitere Forschung notwendig.
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QUELLENVERZEICHNIS: Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Johann B. Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Suitbert L. Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Wilhelm S. Patientenaktenarchiv BKH-Günzburg: Akte Albert J.
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SEKTION II: ZENTREN UND PERIPHERIEN IN DER REGIONALEN GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE. NORDDEUTSCHE PERSPEKTIVEN
SCOPE FOR ACTION AT THE PSYCHIATRIC PERIPHERY AROUND WORLD WAR I A public sanatorium for ‘nervous diseases’ in the Province of Hanover Heiner Fangerau 1. INTRODUCTION The concepts of ‘centre’ and ‘periphery’ are the guiding focuses of this book.1 In their ambiguity, the centre and the periphery provide exciting starting points for undertaking a history of psychiatry because these terms can be interpreted from the physical, conceptual, and social perspectives. Physically, they relate to the locations of asylums and mental healthcare centres; conceptually, they relate to the nature of psychiatric discussions related to diagnosis and treatment; socially, they relate to the social positions of physicians, patients, and other actors in psychiatric care networks. Thus, the ‘centre-periphery’ dichotomy is a good heuristic guideline for understanding the scope of activities in psychiatry and placing these activities in context. In my contribution, I will apply the editor’s recommended analytical framework as a possible model for interpreting the movement to establish publically funded sanatoriums for the treatment of ‘nervous diseases’. This movement will be represented by the creation of one such sanatorium in the Province of Hanover before, during, and briefly after World War I. In this context, it is not my intention to represent the therapy applied in such rural sanatoriums as being ‘peripheral’ to urban healthcare. Rather, my goal is to interpret the factors that influenced the creation of the first state-owned public sanatorium for nervous diseases in the German Reich from the centre-periphery perspective. Moreover, I wish to examine the impact that the First World War had on psychiatry, which enabled unique activities, scopes for action and experiences at this sanatorium. After briefly describing the movement of non-profit public sanatoriums for nervous diseases, I will describe the process by which the first such sanatorium was created, according to the centre-periphery pattern. I will describe the status of this institution through World War I. As I will show, it was during the War that the 1
This text is based on a lecture contributed to a 2012 symposium in Zwiefalten on the subject ‘Centre and periphery in the history of psychiatry: History of psychiatry in the Province of Württemberg from regional, national, and international perspectives’. Essential parts of this text have already appeared in German; in particular, in the author’s publication about the Rasemühle sanatorium in World War I (Fangerau 2005a); see also Fangerau (2005b; 2006), and Rusch et al. (2007). The English editing was provided by Write Science Right (http://www. writescienceright.com/).
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specific location of the sanatorium resulted in special possibilities or scopes for action. As sources, I have used files of the Lower Saxony Main and State Archives (Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover (HstAH Hann.), as well as files found in the aforementioned public sanatorium for nervous diseases (abbreviated as AT).2 2. ‘NERVOUSNESS’, NEURASTHENIA AND THE MOVEMENT FOR PUBLIC SANATORIUMS FOR NERVOUS DISEASES After the ‘era’ of psychiatric asylums, there was a boom of private sanatoriums for ‘nervous patients’ in the 1880s. An infrastructure was developed for affluent patients who were not severely mentally ill. The diagnosis of ‘nervousness’ or ‘neurasthenia’ constituted the main indication for admission to such private sanatoriums (Shorter 1990; Shorter 1996). Historiographers in the 21st century have comprehensively analysed the symptoms comprising ‘nervousness’ or ‘neurasthenia’ with regards to their nosological and social dimensions (Gijswijt-Hofstra and Porter 2001; Hofer 2004; Kaufmann 1999; Kaufmann 2001; Nolte 2003; Radkau 2000; Roelcke 2001; Schmiedebach 2001). These symptoms represented both an individual pathology and a sociocultural condition dominating the end of the 19th century. The disease concept of nervousness was far-reaching and covered a whole spectrum of symptoms, encompassing irritable weakness, insomnia, lassitude, weariness, and indigestion. Contemporaries declared that nervousness occurred as a response of the ‘nerves’ to the modern conditions of life. Apart from endogenous causes, a) the hectic rhythm of modern life, b) technological influences, and c) lack of repose were considered to be triggering exogenous factors. Although nervousness could evolve into a mental disease in some conditions, the diagnosis of nervousness was clearly delimited from the diagnosis of a chronic mental disease. Thus, in contrast to chronic ‘insanity’, nervousness was considered as fundamentally curable. Especially among the bourgeois segment of society, nervousness was popularised and appeared as a mass phenomenon in public discourse. Treatments, including rest, diversion from everyday life, moderate occupational therapy, exercise, and electrotherapy, were ideally administered in a supportive environment that included a change of scenery and health spa treatment. Private sanatoriums for nervous diseases that offered such therapies expressly distanced themselves from mental hospitals; metaphorically speaking, they moved themselves to the periphery of psychiatry as medical discipline. The purpose of these sanatoriums is obvious from their focus on nerves rather than on psyche. The emphasis on the anatomic nerves as the cause of mental disease was considered to be less stigmatising for patients than being diagnosed with a purely psychiatric (i. e. psychiatry-centred) disease. Visiting a sanatorium for nervous diseases was char2
Secondary and primary sources are quoted similarly. All files from the Archives at Tiefenbrunn (AT) have meanwhile been handed over to the Lower Saxony Main and State Archives in Hanover (Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover).
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akterised as having a less negative connotation, and less stigmatising effects than staying in a ‘lunatic asylum’. In the early 20th century, medical treatments in private sanatoriums were unaffordable for persons in the middle and lower socioeconomic strata. Soon, loud calls were made to establish institutions for less affluent people. Analogous to the ‘public sanatorium movement’ that led to the establishment of pulmonary sanatoriums for people in the lower classes in order to combat tuberculosis (Langerbeins 1979; Seeliger 1988), proponents began to call for state or private agencies to finance ‘public sanatoriums for nervous diseases’ (Bresler 1913). It was hoped that such centres would help to prevent less affluent persons from developing disabilities or transitioning from nervousness to mental diseases. Among the many prominent psychiatrists who supported creation of these public sanatoriums was the trailblazer Paul J. Möbius (Möbius 1896, 2nd edition). By 1913, at last eight public sanatoriums for the care of nervous diseases had been established for less affluent patients throughout the German Reich. 3. CREATION OF THE ‘RASEMÜHLE’ SANATORIUM NEAR GÖTTINGEN In 1903, the sanatorium ‘Rasemühle’ was founded as the first such sanatorium for patients with nervous diseases run by the state. Haus Schönow, an earlier public sanatorium for nervous diseases, had been founded in Berlin in 1899; however, that Berlin sanatorium was financed by a private foundation (Amberger 2001). Rasemühle was the first sanatorium for nervous diseases to be financed without private sponsors and purely by the State (specifically, by the Province of Hanover).3 The founder of Rasemühle was August Cramer (1860–1912)4, full professor of psychiatry at the University of Göttingen and director of a local university policlinic for neurology and psychiatric asylum (‘Heil- und Pflegeanstalt’) at Göttingen. To legitimise the expense of Rasemühle to the Parliament of the Province of Hanover, Cramer stressed the prophylactic value of such an institution: ‘Generally speaking, it is expected that, in all branches of the State’s practical activities in the field of medical services, prophylaxis has first… priority. The course of these nervous conditions is … usually such that a cure in a sanatorium is either not tried at all or is interrupted too early. The patient’s fate is that of most such patients – to become useless in his trade in the 4th or 5th decade of life; to be abandoned, with his family, to the worst need; or to become a victim 3
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The importance of Rasemühle for the history of psychiatry was previously described by Radkau (2000), Nolte (2003), and Engstrom (2003). A survey of Rasemühle’s history was written for its 50th anniversary (Niedersächsiches Landeskrankenhaus Tiefenbrunn 1954). Today, the sanatorium exists as ‘Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn’. Information on the theoretical foundations and reforming approach of the centre can be found in contemporary works by the centre’s founder, Cramer (1903; 1904a; 1904b; 1905; 1909). From 1895, Cramer served as senior physician and deputy director of the Göttingen psychiatric asylum (‘Heil- und Pflegeanstalt’), under Ludwig Meyer (1827–1900). He was promoted to the position of professor in 1895 and full professor in 1897. After Meyer’s death, Cramer succeeded Meyer as director of the Göttingen asylum and was appointed professor of neurology and psychiatry at the University of Göttingen (Kreuter 1996; Quaet-Faslem 1912/1913).
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Heiner Fangerau of an insidiously developing mental disease. … An occasion must be created to allow non-affluent people to stay in a suitably equipped and directed sanatorium. In this way, many cases of permanent disability and chronic mental disease can be prevented, and communities obliged to support them will be protected from the duty of providing permanent care.’5
In hindsight, this justification seems consistent with the financing of a public medical centre for patients with nervous diseases at the periphery of the well-established central Göttingen policlinic for outpatients with nervous and psychiatric diseases, which was also equipped by Cramer. However, in reality, the sanatorium Rasemühle was founded owing to chance: The asylum in Göttingen was searching for ways to safeguard its potable water supply, owing to increased demand. Wells created on the asylum’s premises had not yielded any sustained results, and the town of Göttingen did not want to guarantee a potable water supply from the main river (the Leine) during dry seasons.6 In this situation, in 1902, the Province of Hannover (which supported the asylum in Göttingen) offered to purchase the Rasemühle site. This site was situated outside Göttingen, near the source of a rivulet (named ‘Rase’) that connects with the Leine. The water supply problems were to be solved by building a water pipeline from the river source to the psychiatric asylum in Göttingen. Provincial Director Georg Lichtenberg (1852–1908) expressly stated that the purchase would ‘only be valuable’ if water could be taken from the rivulet and brought to the asylum.7 Buildings on the Rasemühle premises, including a preserves factory, villa, and catering outlet, were purchased with the former mill’s water rights ‘as accessories to the asylum’.8 5
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Cramer’s report to the Province Director on 20 Jul 1902, Act of the Provincial Parliament of the purchase of the Rasemühle near Göttingen (Akten des Provinziallandtages betreffend den Ankauf der Rasemühle bei Göttingen) – HstAH, #150–271/14. Original in German: „Ganz allgemein sei vorausgeschickt, dass in allen Zweigen der praktischen Betätigung des Staats auf dem Gebiet des Medizinalwesens die Prophylax (sic), … obenansteht. … Der Verlauf dieser nervösen Zustände ist … gewöhnlich der, dass die Kur in einem Sanatorium entweder gar nicht versucht, oder zu frühzeitig abgebrochen wird und der Patient dem Schicksal der meisten derartigen Kranken verfällt, schon im 4. oder 5. Lebensjahrzehnt für seinen Beruf unbrauchbar zu werden und mit seiner Familie der größten Not zu verfallen, oder das Opfer einer schleichend sich entwickelnden Geisteskrankheit zu werden. … Es muß Gelegenheit geschaffen werden, auch den nicht Bemittelten einen Aufenthalt in einem zweckmäßig eingerichteten und geleiteten Sanatorium zu ermöglichen. Auf diese Weise wird in nicht wenigen Fällen dem vorgebeugt werden, dass die unterstützungsverpflichteten Gemeinwesen dauernd arbeitsunfähige und chronische Geisteskranke zur dauernden Fürsorge erhalten“. ‘Minutes from the Provincial Parliament Committee on 17 Feb 1903, discussing the proposal to purchase Rasemühle near Göttingen, in order to found a mental home and build a water pipeline to the asylum at Göttingen’ (Protokoll über die Sitzung der vom Provinziallandtage eingesetzten Kommission zur Beratung des Antrages des Provinzialausschusses vom 17. Februar 1903, betreffend den Ankauf der Rasemühle bei Göttingen behuf Einrichtung einer Nervenheilanstalt daselbst und Anlegung einer Wasserleitung zur Heil- und Pflegeanstalt). HstAH Hann. 150, #271 pp. 10–33. Minutes of the 36th Provincial Parliament session, 6th meeting on 24 Feb 1903, p. 91, HstAH Hann. 150, #271, p. 35 and 9th meeting on 27 Feb 1903, p. 151, HstAH Hann. 150, #271, fol. 45. Letter from the Director of the Province of Hanover #5147.I from 16 Sep 1902 to Prof. Dr. Detmold, AT file ‘Purchase of Rasemühle’ (‘Ankauf der Rasemühle’). Letter from the Director of the Province of Hanover #1802.I from 17 Jul 1902 to the director of
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However, August Cramer had other plans for the purchased site: he wanted to build a publicly funded sanatorium for non-affluent patients with nervous diseases. Cramer convinced the Provincial Parliament of his plan, in part through the above-mentioned arguments promising to sustainably save money in the long term. Work on the sanatorium began on October 2, 1903. The necessary medical equipment was obtained, and the existing buildings were hastily converted. The barn was converted into a gym, and rooms for patients, smoking, studies, examinations, and therapy, among others, were created in the other buildings. The site also was equipped with a poolroom and a bowling alley (Cramer 1903). Following the example of private sanatoriums, Cramer located the sanatorium at the periphery of his outpatient policlinic and the asylum at Göttingen, both in terms of physical location and concept: The sanatorium was located 7 kilometres outside Göttingen in the countryside. It only admitted patients who could prove that they did not have a mental disease, epilepsy, or suicidal intentions. Daily rates for patients/sponsors (4 or 2.50 marks/ day for Class I or Class II, respectively) were about one quarter of the usual price of a private sanatorium.9 Cramer endeavoured ‘to avoid the character of a psychiatric asylum in every way, in order to make the stay in the sanatorium as comfortable and pleasant as possible’ (Cramer 1905: 11).10 The personnel, administrative, and technical connections between the Rasemühle sanatorium, the policlinic for neurology and psychiatry, and the asylum in Göttingen were not made publically available because ‘despite all progress and information… in wide circles, it is still considered shameful to be mentally ill, whereas it is almost posh to be a little nervous.’11 Cramer intended for the sanatorium to have the ‘character of a family boardinghouse’, rather than that of a hospital (Cramer 1905: 13).12 To achieve this aim, Cramer also adopted a controversial concept of not segregating the patients by gender (all wards and rooms were shared, only dormitories were separate). In response to critics of this approach, Cramer stated: ‘It is precisely the informal interaction between the sexes that has contributed much to the comfortable tone in the sanatorium; men and women gather more often at common meals, they
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the healthcare centre and mental home in Göttingen, AT file ‘Purchase of Rasemühle’. From 1907, expenses were higher for nonresidents than for residents of the Province of Hanover. For example, in 1907, nonresidents (residents) paid 6.00 (4.00) marks for Class I and 3.50 (2.50) marks for Class II. See, e. g. Memorandum 1921 by Quaet-Faslem, AT file ‘Introduction’ (‘Zur Einführung’). Original: “… den Charakter einer Anstalt nach jeder Richtung hin zu vermeiden, um den Aufenthalt in dem Sanatorium zu einem möglichst behaglichen und angenehmen zu gestalten“. Cramer’s report to the Provincial Committee from 20 Jul 1902, Files of the Provincial Parliament concerning the purchase of Rasemühle… see above. Original: “… immer noch trotz aller Fortschritte und Aufklärungen …in weiten Kreisen geradezu für eine Schande gilt, geisteskrank zu sein, während anderseits es fast als vornehm gilt, etwas nervös zu sein”. Confounding Rasemühle with a ‘lunatic asylum’ caused displeasure in some patients and in the Province, such that the press was requested to correct the situation at a Parliamentary session on the budget of Rasemühle for 1909 (Minutes of the 43rd Hanover Provincial Parliament on 15 Mar 1909, p. 82, HStAH Hann. 150, #272, fol. 5).
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Heiner Fangerau dress better, and they hold each another in high regard, so that nothing inappropriate should happen, neither in word nor in deed’ (Cramer 1905:12).13
Although Cramer himself remained the immediate director of the Göttingen clinics, he tried to establish a clear separation between the sanatorium personnel and the personnel in his policlinic and the asylum. A doctor on site with the rank of a senior physician (‘Oberarzt’) directed daily life at the sanatorium (Cramer 1905: 28 ff.). The doctor’s most important tasks were examining hospitalised patients, monitoring occupational therapy, controlling other treatments, and holding a daily consultation hour. Primary therapies at Rasemühle aimed at diverting the patient’s attention away from the disease and changing their environment. Physical exercise, occupational therapy, massage, and electrotherapy were in the foreground; pharmacotherapy played a subordinate role. Occupational therapy would not generally be relevant in this context, but the director of Rasemühle stated in a 1906 report to the Provincial government that ‘If they [the patients] endured for 14 days, then they soon felt the beneficial effects of working outside and served as a good example for the other patients.’14 A key position – at least, according to the rhetoric of the medical leaders – was attributed to the positive example set by the senior doctor, who personally directed the physical exercise classes and sometimes participated in occupational therapy.15 This senior doctor was the later-deputy of the Prussian Parliament, Georg QuaetFaslem (1872–1927) (Pförtner 1927). After Cramer’s death Quaet-Faslem received the title of medical director (‘Leitender Arzt’) in 1913. However, at that time, medical matters were still under the control of Ernst Schultze (1865–1938), Cramer’s successor as full professor and head of the university’s neurological policlinic and psychiatric asylum in Göttingen.16 Schultze was a forensic psychiatrist and neurologist (Mueller 1938) who would become famous for interrogating the mass murderer Fritz Haarmann (1879–1925).17 Quaet-Faslem and Schultze promptly fell into con13
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16 17
Original: “Gerade der ungezwungene Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern hat viel zu dem behaglichen Tone im Sanatorium beigetragen; die Männer und Frauen nehmen sich bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten mehr zusammen, sie kleiden sich besser und achten aufeinander, daß nichts vorkommt, weder in Worten noch in Werken“. For further discussion of sex segregation in psychiatric hospitals, see also Beyer (1908). Report of the director I #2992 on the ‘Application of the Provincial committee from 19 Feb 1907 considering the enlargement of the Provincial sanatorium for patients with nervous diseases’ (‘Antrag des Provinzialausschusses vom 19. Februar 1907, die Erweiterung des Provinzial-Sanatoriums für Nervenkranke Rasemühle betreffend‘), HStAH Hann. 150, #271, fol. 52 ff., p. 7. Report of the director I. #2992 on the ‘Application of the Provincial Committee from 19 Feb 1907…’, see above, leaf 52 ff., p. 7. Original: “Hatten sie 14 Tage ausgehalten, dann empfanden sie bald selbst die wohltuende Wirkung der Arbeit im freien und dienten als gutes Beispiel für die andern Kranken.“ 47. Hanover Provincial Parliament, ‘Application of the Provincial Committee from 19 Feb 1913, considering the amendment of the regulation for the Rasemühle sanatorium’, HstAH Hann. 150, Nr. 272 printed matter #48, 6 ff. The protocols have been published by Pozsar (1996).
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flict after Quaet-Faslem’s appointment. In a classical personal conflict between the periphery and the centre, Quaet-Faslem (in the eyes of Schultze) was working too independently and too clearly demonstrated his independence.18 During World War I, Schultze was replaced at his own request as superintendent owing to his belief that the ‘…number of patients with nervous diseases may be limited because of the simultaneous occupancy of the sanatorium with the wounded’.19 This situation opened new possibilities for Quaet-Faslem and the Rasemühle that would even further advance the site to the ‘periphery’ of medical care. 4. WORLD WAR I AND CHANGE OF CONCEPT At first, it seemed as though Schultze was right. On August 5, 1914, only 3 days after the beginning of World War I, the sanatorium was largely cleared of civilian patients, and its purpose as a mental home for people with limited financial means was momentarily interrupted. Contingency plans to use the Rasemühle as a military hospital had existed since 1910. Like Schulze, Cramer and Quaet-Faslem supposed that, in the case of war, the occupancy of the sanatorium with nervous patients would fall dramatically.20 However, on October 3, 1914, civilian patients again began to be admitted to Rasemühle, because beds were available and the sanatorium did not want to lose money by retaining empty beds. Through the end of the war, the sanatorium work was maintained in this manner, so that more than 1900 soldiers and more than 1500 civilian patients were treated at the same location (Fangerau 2005a). In medical terminology and in the medical practice of Rasemühle, nervousness was attributed to so-called ‘functional neuroses’. Although the term hinted for the public at ‘the nerves’ as the anatomical origin of the disorder (see above), ‘functional neuroses’ in the medical discourse were considered to be a disease derived from the nerves without any visible anatomical correlate (Fischer-Homberger 1975). Hysteria, very much related to nervousness, was also attributed to functional neuroses. Indeed, many contemporaries had trouble differentiating the two disease patterns, whose main distinguishing feature was the ‘convulsions’ or ‘paroxysms’ of hysteria. Although hysteria as a disease initially had a ‘female’ connotation, by the mid-19th century it was considered to be a nervous disease that affected both sexes (Nolte 2003). 18 19 20
See the criticism of Schultze regarding an annual report of Quaet-Faslem in which he tended to reduce Schultze’s role to that of a visiting physician. Draft annual report 1914, AT file ‘Annual reports’ (‘Jahresberichte’). Letter from Schultze to the State Board of Hanover, 23 Dec 1915 (Abschrift), AT file ‘General affairs – annual reports’ (‘Generalia – Jahresberichte’). Original: „…Zahl der Nervenkranken wegen der gleichzeitigen Belegung des Sanatoriums mit Verwundeten nur beschränkt sein…“. AT file ‘Utilisation of the sanatorium in the case of mobilisation for medical purposes, Letter of the Director of Rasemühle to the Provincial Director of the Province of Hanover’ (‘Verwendung des Sanatoriums im Mobilmachungsfalle zu Zwecken des Krankendienstes’), 8 Feb 1910 and 16 Jan 1913.
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With the eruption and course of World War I, German psychiatrists underwent a change in how they dealt with hysteria and nervousness. Initially, experts had held that the ‘steel bath’ of war would have a healing effect on neurasthenia. However, it soon became apparent that war had an opposite effect. German soldiers experienced functional neuroses to an almost epidemic extent during the War. According to a medical report of the German army, the percentage of nervous diseases among all diseases of German soldiers in trench warfare increased from 19.4 % in 1914 to 96.2 % at the end of the war (Lemmens 1994; Radkau 2000). Even before the War, the concept of ‘traumatic neurosis’ or ‘accident neurosis’ had been introduced for hysteria-like symptoms that occurred as a consequence of accident or trauma. Persons with this diagnosis had a right to be treated at a public psychiatric facility and to apply for an accident pension. Consequently, debate arose among medical specialists about how to recognise malingerers and exclude them from pension payments. The terms ‘pension neurosis’ and ‘desire neurosis’ were used when it was not possible to distinguish between sick and not sick, or between justified and unjustified applications for an accident pension.21 During the War, this debate was reignited, as soldiers were frequently hospitalised with symptoms of hysteria whose aetiology was close to that of traumatic neurosis. The symptoms were attributed, among other things, to concussions by grenade explosions, and the syndrome was termed ‘Kriegszittern’ (war trembling), ‘shell shock’ or ‘war neurosis’. Because of widespread paralysis or convulsions, the great numbers of the people suffering from shell shock soon constituted a danger in terms of the combat strength of the German army and the drain on pension providers. Initially, soldiers who were incapacitated in the war were compensated; however, as the war went on, attempts were made to keep the number of pensioners as low as possible. German psychiatrists began to reconsider their views. They tried to respond to the new, war-related governmental and societal demands on psychiatry within a State construct. Recent historiography gives particular attention here to the wartime conference of the German Association for Psychiatry in September 1916. This meeting constituted a turning point in the therapeutic handling of neurosis by psychiatrists. From being seen as a more or less somatic reaction to the terrors of the war, wartime neurosis began to be regarded as having a purely psychogenetic aetiology. Thus, it was ascribed to the feeble psychological constitution of the ill soldier himself. In many cases, the mental suffering was seen as an attempt to escape from the war front, so that, by analogy to ‘desire neurosis’, soldiers suffering from shell shock were stigmatised as malingerers. This situation finally led to a radicalisation of psychiatric treatment methods. During the War, therapies evolved from the classical methods of resting and massage to painful compulsive treatment for example by the so called ‘Kaufmann method’. One of these methods developed by the psychiatrist Fritz Kaufmann (1875–1941) consisted of a combination of verbal suggestions, electric shock treatments and exercises (Raether 1917: 490). Around 21
From the extensive literature on this subject, see Fischer-Homberger (1975), Schmiedebach (1999), or Schwoch and Schmiedebach (2007), as well as the survey with up-to-date references by von K.-D. Thomann and M. Rauschmann (2004).
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the end of the war, this method was applied as a short-time treatment in hospitals situated directly behind the front lines.22 5. RASEMÜHLE IN WORLD WAR I During World War I, Rasemühle stood in the crosshairs of this tension between curative care for nervous diseases and the national concept of psychiatry. Psychiatrists were under military pressure to identify malingerers and heal patients as quickly as possible. In terms of everyday life at the sanatorium, the war meant restrictions due to the militarisation that developed with the installation of a reserve hospital. Apart from the large-scale presence of soldiers, this militarisation was reflected in the organisation of ‘patriotic evenings,’ which included patriotic sing-alongs and lectures, as well as updates on the status of the war, accompanied with maps.23 Reductions of services took place as the sanatorium’s second physician and five of the six male nurses were drafted. Over time, war-disabled persons were hired to replace the drafted personnel; however, for the remainder of the War, the nursing staff never again reached its usual number of personnel. Beginning in 1917, undernourished children were accepted to the sanatorium for holiday care. Although the sanatoriums’ farm and partial provisioning by the army (from which civilian patients also benefited)24 ensured that sanatorium residents did not die from starvation, by 1918 nutritional conditions were so bad that several serious complaints were made. At the end of the war, Quaet-Faslem described a tense situation in which the ‘negativity and pessimism’ reached all-time high levels.25 Considering the radicalisation of military psychiatrists and their compulsory and abusive wartime therapy methods, the question remains, to what extent therapy methods like the Kaufmann method were also applied at Rasemühle? A comparison of the extant medical records of the soldiers and civilian patients does not indicate a major difference between the therapies applied before and during the war for either 22
23
24 25
For more on the history of psychiatry during World War I, war neurosis, and shell shock (‘Kriegszittern’), see P. Lerner (1996; 2000; 2003), H.-G. Hofer (2004), D. Kaufmann (1999), E. Malleier (1996), and G. Komo (1992). For information on compulsory treatments, see especially P. Riedesser, A. Verderber (1996), and (Putzke und Groß 2001). Quaet-Faslem, who had German nationalist convictions, also organised these evenings for the surrounding villages to ‘maintain the enthusiasm of the people’. (AT file ‘Utilisation of the sanatorium in the case of mobilisation for medical purposes’, Letter of Quaet-Faslem to Royal Administrator Privy Councillor Mannkopf from 22 Aug 1914 and ‘Programs of celebrations at medical institutions, programs held at Rasemühle in 1914–1919’ (‘Programme der Anstaltsfeste, Programme der in der Rasemühle abgehaltenen Feste zwischen 1914 und 1919’)). For the relationship of psychiatry to the State and military in 1900 see, e. g., M. Lengwiler (2003). AT file ‘Utilisation of the sanatorium in the case of mobilisation for medical purposes’, exchange of letters from Jul 1916 concerning a declaration that the food allocated by the army administration should only be used for armed service members. In the file ‘General affairs – annual reports’, the ‘Annual report of 1918 of the “Rasemühle” sanatorium for nervous patients of the Province of Hanover’ contains summaries of the annual reports for 1914–1917. To evaluate the immediate post-war time, see also (Quaet-Faslem 1919).
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group. Soldiers classified as nervous, hysterical, or shell shock victims were treated by the traditional methods of Rasemühle: namely, with pine needle baths, massage, rest, and occupational therapy. Moreover, the average hospital treatment times indicate that soldiers were not quickly forced back to the war front (Fangerau 2005a). Hence, despite the increasing number of ‘nervous’ soldiers at Rasemühle, which was situated geographically in the centre (middle of the German Reich) and also at the periphery (far away from the battle front), this institution experienced different consequences of the war compared to other hospitals. Physicians at Rasemühle did not follow the general trend of applying a short, violent therapy that was aimed at extremely rapid recovery. This discrepancy cannot solely be attributed to the fact that civilian patients were treated alongside soldiers. For example, in Rodebirken and Köppern (public sanatoriums for nervous diseases where civilians were also treated contemporaneously with soldiers), the Kaufmann method was applied ‘with a good success’, according to a retrospective self-assessment from 1931 (Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz 1931). Unlike the directors of Köppern (Max Meyer) and Rodebirken (Ernst Beyer), Quaet-Faslem had not participated in the 1916 meeting of the German Association for Psychiatry (1917). Maybe this fact contributed to his adherence to ‘traditional’ cures. Although Quaet-Faslem mentioned electrotherapy as a possible treatment measure for ‘nervous exhaustion’ in a 1918 article, he considered occupational therapy and psychotherapy under a supportive environment to have absolute priority as conventional treatment methods. He did not mention the Kaufmann method in any way (Quaet-Faslem 1918). Quaet-Faslem was a noted national conservative. In principle, he shared the general psychiatric assessment that it was necessary to determine the endogenous component of nervous diseases for prognosis and for evaluating pensions. In the interests of the State, he wanted to avoid pension compensations as much as possible because, as he wrote, the times tolerate ‘neither sentimentalities nor the unnecessary squandering of the national income and call for justice, even if this sometimes seems to be bitter to the ignorant’ (Quaet-Faslem 1918).26 He followed his colleagues in making the change from a more somatic to a more psychological interpretation of nervous complaints. However, in this context, he named (somewhat inconsistently) the following external factors as aetiological factors for soldiers and he did not attribute the symptoms to a primarily weak psychological constitution: ‘overexertion due to long marches, lack of sleep, irregular or deficient nourishment, prolonged and exhausting battles, blood loss, fever, acute pain, ulcerations, infectious diseases, effects of grenade fire, emotions, expectations, coercion’, and others (Quaet-Faslem 1918).27 Quaet-Faslem also rejected the idea that soldiers were to be treated for nervous diseases in a ward near their home, indicating that medical treatment near the front 26 27
Original: „…weder Sentimentalitäten noch unnötige Verschwendung des Volksvermögens und fordert eine, wenn auch dem Unkundigen manchmal hart erscheinende Gerechtigkeit.“ Original: „…Überanstrengung durch Dauermärsche, … Schlafmangel, unregelmäßige oder auch mangelhafte Ernährung, langdauernde anstrengende Schlachten, Blutverluste, Fieber, Schmerzen, Eiterungen, Infektionskrankheiten, Wirkungen des Granatfeuers, Affekte, affektvolle Erwartung, Zwang…“.
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line seemed more appropriate. Relapsed patients, he maintained, should even be transferred to places near the front. Nevertheless, he did not force the transfer of the patients with nervous diseases who were entrusted to him. He used the following treatment: “[For] 3 days, I assign somatic treatment by means of electricity [Galvanisation, Faradisation, not as in the Kauffmann method where painful alternating currents are coupled with verbal suggestions], massage, baths, and other measures. For the other 3 days of the week, I prescribe occupational therapy and exercise. In this context, I give an exact dosage of hours. In principle, I do not prescribe a treatment to any patient before I have observed him personally for 14 days. During this time, instead of the occupational therapy, I prescribe 3 days of rest.’ (QuaetFaslem 1918).28 6. CONCLUSION The determining factors in the establishment of the Rasemühle as a public sanatorium for nervous diseases were its peripheral location and its centrifugal orientation. Cramer and later Quaet-Faslem tried to disconnect it as much as possible from the central unit, namely the policlinic and the asylum in Göttingen. However, in several ways, the sanatorium Rasemühle became even more ‘peripheral’ during World War I. As a result, soldiers who were seen at the Rasemühle continued to receive a more conventional and care-oriented therapy compared to soldiers at other hospitals located closer to the war front. Quaet-Faslem belonged to the generation of military psychiatrists whose patient-physician relationships were influenced by the demands of the War and who trended away from a curative care approach towards a goal of combating supposed malingering. However, isolated as he was within the relatively protected region of South Hanover, he did not depart from the care-oriented approach of the movement for public sanatoriums for nervous diseases. Moreover, unlike 241 of his colleagues, he did not attend the key wartime conference of the German Association of Psychiatry in 1916. Although he ascribed the relapse of soldiers with nervous exhaustion to their fear of returning to war, he attempted to heal them through classical therapies, including education, lectures appealing to their patriotism and duty as soldiers, and stories of ‘good soldiers’ who are willing to return to the war front (Quaet-Faslem 1918). Rasemühle was a relatively small sanatorium (about 100 beds), compared to Köppern (about 200 beds) and Roderbirken (about 300 beds). Unlike the latter two sanatoriums, men and women were housed together at Rasemühle. This housing arrangement, combined with the civilian presence, may have contributed to a sit28
Original: „Ich teile im Sanatorium die Behandlung … so ein, daß ich an drei Tagen die somatische Behandlung durch Elektrisieren, Massage, Bäder und andere Maßnahmen festsetze und auf die drei anderen Tage der Woche die Beschäftigung und Gymnastik verlege, letztere genau und nach Stunden dosierend, wobei ich prinzipiell keinen Kranken beschäftige, bevor ich ihn nicht vierzehn Tage lang beobachtet habe, und während dieser Zeit an Stelle der Arbeitstage drei Ruhetage mit Liegekur ansetze“.
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uation that was not conducive to applying the Kaufmann method. Moreover, from 1917 onwards, Quaet-Faslem was the only physician at Rasemühle. He was also responsible for two other reserve hospital wards in Göttingen. Hence, from a human resources perspective, the professional application of the Kaufmann method would have been impossible at the healthcare periphery. Finally, compared to the increasing number of nervous civilian patients, relatively few soldiers with war neurosis or hysteria were sent to Rasemühle. Many nervous soldiers were treated directly in military or other special hospitals. Also, the Rasemühle did not receive extra pressure to release soldiers with nervous exhaustion back to the front as quickly as possible. In short, during the War, the concept of the periphery that was so influential in the founding of the sanatorium was fundamental in allowing for actions that did not exist at other, more ‘central’ (in terms of the front) hospital sites. In future works, it would be interesting to consider psychiatry during World War I from the centre-periphery analytical framework, in order to understand the multifaceted nature of wartime psychiatry. This analysis could reveal more than is apparent from the clamour tones of the 1916 central meeting of German psychiatrists. BIBLIOGRAPHY Amberger, Renate U. (2001) ‘Haus Schönow: Von der Heilstätte für Nervenkranke zur Klinik für Akutgeriatrie’, in: Univ. Diss. Berlin). Anonymous (1917) ‘Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu München am 21. und 22. September 1916’, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 73:163–233. Beyer, Ernst (1908) ‘Die Heilstättenbehandlung der Nervenkranken’, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin (65):535–39. Bresler, Johannes (1913) ‘Die deutschen Volksnervenheilstätten im Jahre 1913’, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 15:1–26. Cramer, August (1903) ‘Beschreibung des Sanatoriums Rasemühle’, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 5:284–87. Cramer, August (1904a) ‘Die Heil- und Unterrichtsanstalten in Göttingen unter besonderer Berücksichtigung des Sanatoriums Rasemühle’, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychischgerichtliche Medizin (61):735–35. Cramer, August (1904b) ‘Verhandlungen psychiatrischer Vereine. Deutscher Verein für Psychiatrie. Die Heil- und Unterrichtsanstalten in Göttingen unter besonderer Berücksichtigung des Sanatoriums Rasemühle’, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin (61):734–35. Cramer, August (1905) ‘Die Heil- und Pflegeanstalten für psychische und Nervenkranke in Göttingen. Unter besonderer Berücksichtigung des Sanatoriums “Rasemühle”’, Klinisches Jahrbuch (14):1–40. Cramer, August (1909) ‘Die weitere Entwicklung der Anstalten für psychische und Nervenkranke in Göttingen unter besonderer Berücksichtigung der Aufnahmestation, des Verwahrungshauses für unsoziale Geisteskranke und der neuen Villa für Patienten I. Klasse im Sanatorium Rasemühle’, Klinisches Jahrbuch (22):339–74. Engstrom, Eric J. (2003) Clinical Psychiatry in Imperial Germany: A History of Psychiatric Practice (Ithaka, London: Cornell University Press). Fangerau, Heiner (2005a) ‘Ein Sanatorium im Kriegszustand: Die ‘Rasemühle’ bei Göttingen zwi-
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EINE CHRONIK DER LINIE
Über die Annäherung von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Krankenanstalt Langenhorn bei Hamburg1 Monika Ankele „Die Linie verbindet zwei Punkte miteinander, sie trennt, führt und ordnet, zieht nach, spannt auf, umreißt und entwirft oder aber sie verläuft ungeordnet, labyrinthisch, wellenförmig…“2 „Zentrum und Peripherie verschmelzen miteinander und ergänzen einander, sobald sie die trennend zwischen ihnen liegende Entfernung bestätigen.“3 „Peripherie (griech.), […] eine durch eine krumme Linie begrenzte Fläche […].“4
EINE LINIE In seinem Buch Die Geschichte der Linien beschreibt der italienische Architekt und Kunsthistoriker Manlio Brusatin die Linie als eine Verbindung zweier Punkte. Brusatin erkennt eine der zentralen Eigenschaften der Linie darin, dass sie nicht nur verbindet, sondern – einmal gezogen – immer auch trennt. Indem die Linie eine Verbindung zwischen zwei bis dahin nicht aufeinander weisenden Punkten herstellt, macht sie zugleich die Entfernung deutlich, die zwischen diesen beiden Punkten liegt, die sich nun über die gezogene Linie entfaltet: Was zuvor zwar auch nicht nah gewesen ist, scheint nun in jedem Fall entfernt. So schafft und visualisiert die Linie Verbindung und Distanz. Aber die Linie (er-)öffnet auch Raum, sie führt von der Eindimensionalität in die Dreidimensionalität, indem sie, wie Brusatin schreibt, aufspannt, umreißt, entwirft: Felder, Gebiete, Land. In dem Buch 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit des deutschen Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht scheint sich zur Verortung der Linie ein Anknüpfungspunkt zu finden. So schreibt Gumbrecht, dass Zentrum und Peripherie – die als zwei mit unterschiedlichen Möglichkeiten ausgestattete und hierarchisch aufeinander bezogene Punkte konzipiert werden können – sich dann zu ergänzen beginnen, wenn sie die Entfernung, die zwischen ihnen liegt, bestätigen. Man könnte 1
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Der Text ist im Rahmen des DFG-Projekts „‚Familienpflege‘ und ‚aktivere Krankenbehandlung‘: eine multiperspektivische Betrachtung der Arbeitstherapie im Alltag psychiatrischer Anstalten der 1920er Jahre“ (DFG-Geschäftszeichen: SCHM 1311-9/1; Laufzeit: 2012–15) entstanden (Projektleitung: Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach, Bearbeiterin: Dr. Monika Ankele). Brusatin: 2003, Umschlagstext. Gumbrecht 2001, S. 380. Meyers Konversationslexikon 1885–1892, S. 849.
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auch sagen: Wenn sie eine Linie zwischen sich ziehen. Ist die Entfernung – beispielsweise in Form einer Linie – erst einmal bestätigt, ergänzen sich diese beiden Punkte und verschmelzen zunehmend. Eine Linie, die Verbindung schafft und Distanz erfahren lässt, die den Raum um sich entfaltet und Auseinanderliegendes zueinander führt, steht auch im Fokus des folgenden Beitrages. Es ist eine Linie zwischen einem städtischen Zentrum und einer ländlichen Peripherie, die Ende des 19. Jahrhunderts gezogen wird, zunächst nur angedeutet, ist sie doch der Beginn einer räumlichen Veränderung, die sich im fortschreitenden Ausbau dieser Linie manifestiert und die das dichotome Verhältnis von Zentrum und Peripherie zunehmend aufweicht. Das Zentrum, von dem die Rede sein wird, ist die Stadt Hamburg, die im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihrer nördlichen Peripherie in der Gemeinde Langenhorn eine so genannte „Irren-Colonie“ errichtete. Der Blick liegt im Folgenden auf der Bewegung zwischen Zentrum und Peripherie, auf dem – im eigentlichen Sinne – Verkehr zwischen Stadt und Anstalt. Es ist der Versuch, die Geschichte psychiatrischer Institutionen von ihrem scheinbaren Schicksal der inneren Selbstbeschau zu lösen, sie nicht länger – im Sinne des Konzepts totaler Institutionen5 – auf ihr Eigenleben zu reduzieren oder sie gar als eine „Welt für sich“ zu beschreiben. Im Gegenteil: Die Frage nach den Linien in Form von Bewegungen zwischen der Stadt und der an der Peripherie gelegenen Anstalt folgt den Impulsen, die von der Errichtung einer psychiatrischen Institution auf die Stadt- und Verkehrsentwicklung ausgehen. Damit steht im Zentrum meines Beitrages die Frage nach den (Außen-)Wirkungen psychiatrischer Anstalten, Bezug nehmend auf Prozesse der Urbanisierung und der städtischen Modernisierung. Um die Linie zu skizzieren, um die es im Folgenden geht, beginne ich meine Ausführungen an dem in der Peripherie gelegenen Punkt: der „Irren-Colonie“ Langenhorn. EIN PUNKT DER LINIE: DIE „IRREN-COLONIE“ LANGENHORN „15 km bis zum Mittelpunkt der Stadt“6
Mitten in einem Tannenwald, umgeben von Moor und Heide, auf sandigem Geestboden, ein nahezu unbesiedeltes Gebiet, das lediglich über eine holprige und unbefestigte Landstraße zu erreichen ist, fünfzehn Kilometer von der Hamburger Innenstadt entfernt, hinter den städtischen Vororten liegend und damit für die Verhältnisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts fernab des urbanen Zentrums7 – in dieser ländlichen Peripherie, die – so ein ehemaliger Leiter der Anstalt – für „norddeutsche Augen recht reizvoll“8 erscheint – wurde 1893 die „Irren-Colonie“ Langenhorn als zweite öffentliche Irrenanstalt Hamburgs eröffnet. „Die allgemeine Lage“, 5 6 7 8
Goffman 1972. Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden abgekürzt: StAHH) 352-8/7, Sig. 131: Schreiben der Irren-Anstalt Langenhorn an Herrn Senator Dr. Schröder, Präses des Krankenhauskollegiums, 29.4.1907. Schäfer & Schubert 1931, S. 3; vgl. auch Achilles & Möller 1993. Schäfer & Schubert 1931, S. 3.
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Abb. 1: Langenhorner Bahn, Übersichtsplan, 1920 (Staatsarchiv Hamburg 323–2, Sig. 25)
so schrieb der ehemalige Verwalter der Anstalt, Arthur Kreßin, 1950 rückblickend, „ist für den Seelenzustand der Kranken eine sehr günstige, denn die Anstalt liegt im Walde, in einer verkehrsstillen Gegend, von der Großstadt nicht zu weit entfernt, derselben aber auch nicht zu nah“.9 Zur Zeit der Anstaltsgründung zählte die im Norden Hamburgs gelegene Gemeinde Langenhorn knapp über 1.000 Einwohner 9
Kreßin 1950, S. 10.
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(14. Juni 1895: 1.305 Personen) sowie, laut Zählung vom 1. Dezember 1890, 186 Wohnhäuser.10 Der Großteil der Langenhorner Bevölkerung lebte von der Landwirtschaft, einige auch vom Handwerk oder von der Gastwirtschaft.11 1913 wurde Langenhorn in die Stadt Hamburg eingemeindet, und es folgte der Bau einer ersten Wohnsiedlung.12 Bis zum sogenannten Groß-Hamburg Gesetz, das 1937 – volkswirtschaftlich motiviert – eine Erweiterung des Hamburger Stadtgebietes zur Folge hatte, gehörte Langenhorn zur Landherrenschaft der Geestlande. Als solches wurde das Landgebiet bezeichnet, das bis 1937 nicht zum engeren Stadtzentrum Hamburgs gehörte und das sich durch eine beschränkte Selbstverwaltung auszeichnete. EIN WEITERER PUNKT DER LINIE: DIE STADT HAMBURG Um 1900 lebten in der Stadt Hamburg rund 706.000 Menschen.13 Die Stadt war – bedingt durch die für den Schiffshandel günstige Lage an der Elbe – eine florierende Handelsstadt, in der die Kaufleute großen Einfluss auf das wirtschaftliche und politische Geschehen ausübten. Doch auch die Industrie entwickelte sich ab den 1860er Jahren stetig: Um 1900 war Hamburg nach Berlin bereits die zweitgrößte Industriestadt des Deutschens Reiches.14 Dementsprechend anziehend wirkte die Stadt auf andere Regionen und Länder – zahlreiche Menschen zogen nach Hamburg, um hier in der Industrie, im Handwerk, in den Büros oder am Hafen zu arbeiten. Eine zunehmende Ausdifferenzierung von Arbeits- und Wohnstätte, wie man sie in vielen Großstädten jener Jahre beobachten konnte, setzte um 1900 auch in Hamburg ein:15 während die Wohnungen zunehmend in die Vororte ausgelagert wurden, konzentrierte sich das Arbeitsleben auf die Innenstadt. Damit einher ging die Ausweitung der Stadt in Richtung der ländlichen Peripherien, die eine „lebhafte Entwicklung“16 derselben zur Folge hatte. Der Eisenbahn-Ingenieur Alfred Birk erläuterte, dass sich durch diese „natürliche, hygienische, sozialpolitisch und moralisch überaus wichtige Entwicklung unserer modernen Städte […] das ganze in Betracht kommende Gebiet immer schärfer und schärfer in drei Zonen gliedert: die Zone der Arbeitsstätten – die Geschäftsstadt oder ‚City‘; die Zone der Arbeits- und Wohnstätten – die gemischte Zone; die Zone der Wohnstätten – das reine Wohngebiet“.17 10 11 12 13 14 15
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Melhop 1895, S. 486. Kopitzsch/Tilgner 1998, S. 298. Seit 1912 entstand in Langenhorn die Siedlung Siemershöh (vgl. Kopitzsch/Tilgner 1998: 298). Birk 1904, S. 2. Jochmann 1986, S. 23. Birk 1904, S. 2 f.; Sammet 2006. Diese Trennung von Arbeits- und Wohnstätte schien vor allem mit Blick auf die Cholera-Epidemie von 1892 von enormer Wichtigkeit gewesen zu sein, die im Sommer in den Armenvierteln der Hamburger Innenstadt auf Grund der schlechten und unhygienischen Wohnungsverhältnisse und des verschmutzten Trinkwassers ausgebrochen war und sich in den engen und dicht besiedelten Straßen leicht ausbreiten konnte (Wischermann 1983: 82). Birk 1904, S. 2. Brink 1904, S. 3.
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Zur Zeit der Gründung der „Irren-Colonie“ Langenhorn war das Gebiet, auf dem die Anstalt errichtet wurde, noch außerhalb dieser drei Zonen, zählte noch nicht zum Hamburger Wohngebiet und war als solches für die Hamburger Bevölkerung auch noch nicht von Interesse. Zwischen Langenhorn und Hamburg gab es kaum Berührungspunkte. Und wie sollte es auch, gab es doch auch noch keine Linie, die diese beiden Punkte – Langenhorn und Hamburg, die Anstalt und die Stadt – miteinander verband und sie einander näher führte oder aber, zuallererst, ihrer Distanz eine Gestalt, eine konkrete Form gab. ZENTRUM ODER PERIPHERIE? FRAGEN ZUR LAGE EINER ANSTALT „Es ist eine sonderbare Empfindung, wenn man aus dem Gewühle einer großen Stadt auf einmal in ihr Tollhaus tritt“.18
Fragen nach der geeigneten Lage für die Errichtung einer psychiatrischen Anstalt, Fragen danach, ob diese in einem städtischen Zentrum oder in der ländlichen Peripherie errichtet werden sollte, beschäftigten Psychiater zu unterschiedlichen Zeiten und sie kamen – den Gegebenheiten ihrer Zeit entsprechend und auf die Erfordernisse derselben reagierend – zu unterschiedlichen Ansichten und Vorschlägen: Dem romantischen Naturideal von der heilenden und beruhigenden Wirkung des Landlebens verpflichtet,19 forderte der Mediziner Johann Christian Reil (1759–1813) zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass die „Irrenanstalt […] in einer anmutigen Gegend liegen [muß], die Seen, Flüsse, Wasserfälle, Berge und Felder, Städte und Dörfer in der Nähe hat“.20 „Sie muß“, so Reil weiter, „Ackerbau, Viehzucht und Gärtnerey besitzen“. So könne man, die Prinzipen der Diätetik berücksichtigend, den Kranken „zerstreuen und […] beschäftigen, wie es seine Krankheit erfordert. Man kann ihm alle Lebensgenüsse, die stillen Freuden des Landes und die Ergötzung der Stadt verschaffen; ihn durch Gärtnerey und Feldbau oder durch Professionen und Künste des Städters beschäftigen, nach seinem Bedürfnis.“ (Ebda.)
Hier ist einzuräumen, dass die Stadt, die der Mediziner Reil vor Augen hatte, sich noch gänzlich anders darstellte als jene Stadt, die der Psychiater Emil Kraepelin (1856–1926) hundert Jahre später in seinem Lehrbuch als eine Stätte des „Kampfes ums Dasein“ beschrieb.21 Für den Psychiater Richard Krafft-Ebing (1840–1902) war die moderne Großstadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts ebenfalls ein Ort, der die Nerven schwächte und psychische Krankheiten verursachen konnte: der hektische Rhythmus, die ständigen Reizüberflutungen, die allgemein „schädigenden Bedingungen“ der modernen Großstadt waren für Krafft-Ebing die Ingredienzien 18 19 20 21
Reil 1803, S. 7. vgl. Vanja 2006. Reil 1803, S. 459. Kraepelin 1903, S. 104.
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eines „nervösen Zeitalters“, sie führten dazu, wie er konstatierte, dass der Mensch „bleich, verdrossen, aufgeregt, unstet“ erschien.22 Was waren aber nun die Anforderungen, die an eine moderne Anstalt des ausgehenden 19. Jahrhunderts gestellt wurden? Wo sollte eine psychiatrische Anstalt zu dieser Zeit errichtet werden, um ihre positiven Wirkungen entfalten, um heilsam auf den kranken Geist ihrer Patienten wirken zu können? Welcher Ort konnte auf der einen Seite vor den Gefahren der Großstadt schützen, und auf der anderen Seite vor einer zu stark empfundenen Isolation bewahren? Welche Aspekte mussten in dieser Hinsicht auch Bezug nehmend auf Fragen der Erreichbarkeit der Anstalt – für Angehörige, aber auch für die dort Beschäftigten – berücksichtigt werden? Und auch die Frage nach den Möglichkeiten der Versorgung der Anstalt mit Nahrungsmitteln und Sachgütern – sofern diese nicht selbst hergestellt werden konnten – sollte bezogen auf die Wahl eines geeigneten Geländes für die Errichtung einer Anstalt nicht unerheblich sein. Einer der Wegbereiter der modernen Psychiatrie, Wilhelm Griesinger (1817– 1868), stellte in seinem 1868 publizierten Aufsatz Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland Überlegungen zur Standortfrage psychiatrischer Anstalten an. In seinen Ausführungen erhob er die Lage der Anstalt zu einem wesentlichen Kriterium ihrer Differenzierung und wies den Einrichtungen – in Abhängigkeit zu ihrer Lage – unterschiedliche Funktionen im Rahmen psychiatrischer Versorgung zu. Griesingers Konzept sah Stadt-Asyle und Land-Asyle vor. Das Stadt-Asyl sollte nicht direkt im Zentrum, aber doch an der unmittelbaren Peripherie einer größeren Stadt errichtet werden, abseits von „Geräusch und Treiben“ sollte sie „Stille und Schutz vor der Ueberfluthung durch die grosse Stadt bieten“ – allerdings, wie Griesinger hinzufügte, „ohne die Affectation, als ob hier Geheimnisse verborgen würden“.23 Dennoch sollte, wie er weiter ausführte, „[d] ie Nähe der grossen Stadt […] den unschätzbaren Vortheil biete[n], dem ruhig gewordenen Kranken das Bewusstsein der Nähe seiner Familie und seiner Freunde […] zu gestatten“24 und damit das Gefühl der Isolation mildern. Auf Grund seiner Lage war das Stadt-Asyl für die Aufnahme akuter Fälle vorgesehen. Die hohen Grundstückspreise im städtischen Raum zwangen zu einer überschaubaren Größe der Einrichtung, die aus diesem Grund auch nur für einen transitorischen Aufenthalt vorgesehen war: die Patienten sollten nach einiger Zeit entweder entlassen oder in eine andere Anstalt überwiesen werden. Auch wenn Griesinger für die Genesung der Kranken ihre Entfernung aus dem städtischen Zentrum für notwendig erachtete, so war es ebenso notwendig bzw. aus praktischen Gründen unumgänglich, für die Behandlung akut Erkrankter die Anstalt an den unmittelbaren Grenzen dieses Zentrums zu errichten. Dahingegen sollte das Land-Asyl, wie die Bezeichnung deutlich macht, entfernt von urbanen Zentren liegen, wenn auch – wie Griesinger einräumte – eine ländliche Abgeschiedenheit kein Muss darstellte.25 Sollte einmal, so Griesinger, „in 22 23 24 25
Krafft-Ebing 1885, S. 9. Griesinger 1868/69, S. 273 f. Ebda. 1868/69, S. 276. Ebda. 1868/69, S. 296.
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der Entfernung weniger Stunden von einer grossen Stadt ein geeignetes Terrain gewonnen werden, so stände dem nichts entgegen“ (Ebda.). Die Wahrnehmung von Distanz ist relativ, sie ist abhängig von den Möglichkeiten, sie zu überwinden, sie hinter sich zu lassen, aber auch von den gewohnten Gegebenheiten, von vertrauten Verhältnissen – des Gehens, des Fahrens, des Reisens. Für Griesinger bedeutete eine Distanz von wenigen Stunden zwischen einem zentralen und einem peripheren Raum nicht, dass letzterer gänzlich abgeschieden oder gar unerreichbar war. Fünfzig Jahre später, bedingt durch Prozesse der städtischen Modernisierung mitsamt ihren verkehrstechnischen Entwicklungen, sollten sich die Wahrnehmungen darüber, was nah und was entfernt war, was als noch erreichbar und was als schon unerreichbar empfunden wurde, zusehends ändern, wie am Beispiel der Anstalt Langenhorn noch zu zeigen sein wird. Die Punkte auf der Landkarte verdichteten sich, die Linien zwischen ihnen vermehrten sich und der Sinn sowie der Bezug zu denselben veränderten sich. Das von Griesinger konzipierte Land-Asyl sollte den meist chronisch Kranken alle Vorzüge des Landlebens bieten, unter anderem ausreichend Platz, freiere Bewegung sowie Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft, in den Werkstätten und auf den Feldern. Die Patienten mit Arbeiten zu beschäftigen, erachtete Griesinger als ein wichtiges Mittel ihrer Behandlung: „Alle müssen arbeiten“ (Ebda. 296). Bauliches und therapeutisches Konzept des Land-Asyls bedingten sich, griffen ineinander. Land-Asyle, wie sie Griesinger darstellte, waren vor allem auf längere bzw. dauerhafte Unterbringungen ausgerichtet. Die Medizinhistorikerin Maike Rotzoll formulierte, dass sich – bezogen auf Griesingers Konzept der Stadtund Land-Asyle – die „Funktionen Heilen und Verwahren […] zu einem Schema von Zentrum und Peripherie [ordneten]“.26 1907 – also fast vierzig Jahre, nachdem Griesinger seine Überlegungen zu Stadt- und Land-Asylen verfasst hatte – veröffentlichte der Psychiater Gustav Kolb (1870–1938), bekannt durch sein Engagement für die offene Irrenfürsorge, einen Sammel-Atlas für den Bau von Irrenanstalten, mit dem Untertitel Handbuch für Behörden, Psychiater und Baubeamte. Ausführlich widmete sich Kolb darin der Frage nach den Verhältnissen, die bezüglich der Lage einer neuen Anstalt zu berücksichtigen seien.27 Im Gegensatz zu Griesinger spielen bei Kolb Fragen der Erreichbarkeit der Anstalt eine zentrale Rolle – Prozesse der Urbanisierung sind bereits in vollem Gange. In Kolbs Ausführungen manifestieren sich seine Ideen einer offenen (familialen) Versorgung und freieren Behandlung der Kranken. Für die Umsetzung seiner Ideen war die Lage der Anstalt in der Nähe einer kleinen Stadt ideal, da die Stadtbewohner wesentlichen Anteil an einer erfolgreichen Umsetzung des Konzepts haben sollten: „An der Kontrolle der Kranken, welchen freier Ausgang in die Stadt gewährt wurde, betheiligt sich mehr oder minder die ganze Stadt, deren Bewohner jeden einzelnen Kranken kennen.“ Die Funktion der Kontrolle, so sieht es das Konzept von Kolb vor, sollte von der ganzen Stadt übernommen werden und
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Rotzoll 2007, S. 26 f. Hier und im Folgenden: Kolb 1907, S. 115–117.
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sich nicht mehr auf Ärzte und Pflegende beschränken. Was die Entfernung zur Stadt anbelangte, so sollte diese „so weit hinausgeschoben [werden], dass einestheils eine Störung oder Beeinträchtigung der angrenzenden Stadttheile und ihres Verkehrs durch die Stadt vermieden wird, anderntheils so nahe gewählt, dass der nothwendige Verkehr zwischen Stadt und Anstalt leicht und rasch von Statten gehen kann“.28
Kolb sah eine maximale Entfernung zwischen den Krankengebäuden und den letzten Gebäuden der Stadt von 1,5 Kilometer vor: hier setzte er die Grenze für eine unbeschwerte und rasche Erreichbarkeit an. Die Nähe der Anstalt zu einer Bahnlinie sowie die Errichtung einer eigenen Haltestelle seien vor allem dann ideal, wenn der Zugang zu anderen öffentlichen Verkehrsmitteln – wie beispielsweise der städtische Bahnhof – nicht unmittelbar erreichbar bzw. nicht gegeben war. Kolb fügte seinen Ausführungen schließlich noch hinzu, dass, sofern „die Möglichkeit gegeben [sein sollte], sich an der der Stadt abgewendeten Seite an ein kleines Dorf anzulehnen“, dies wünschenswert sei. Aber auch in diesem Fall sollte das für die Errichtung der Anstalt gewählte Terrain nicht weiter als 1.000 Meter von der Stadt entfernt liegen. Abschließend ging Kolb noch auf die Erfordernisse einer Anstalt ein, die in der Nähe einer Großstadt gebaut werden sollte. Fragen der Erreichbarkeit waren auch hier für Kolb zentral. So sollte die Anstalt in jedem Fall „im Bereiche des Vorort- (Nahe-)-Verkehrs gelegen sein“.29 Eine Großstadt in der Größenordnung Hamburgs schien für Kolb, der zur Zeit der Veröffentlichung seines Buches Leiter der Anstalt Kutzenberg war, allerdings außerhalb des Vorstellbaren, zählten doch für ihn die „grössten Grossstädte“, wie er anmerkte, eine Einwohnerzahl von maximal 300.000. Die Errichtung einer Anstalt würde in diesem Fall eine „annähernd centrale Stadtlage“30 erfordern. Vieles bleibt in Kolbs Vorschlägen, im Gegensatz zu Griesingers Ausführungen, allgemein und – was beispielsweise die Berücksichtigung unterschiedlicher Anstaltstypen anbelangt – undifferenziert. Bezug nehmend auf die „Irren-Colonie“ Langenhorn greifen hier mehrere Aspekte, die Kolb ausführte, ineinander: So wählte man für die Errichtung der Kolonie zwar die Nähe eines kleinen Dorfes, dem Dorf Langenhorn, allerdings war die Anstalt – da sie bis Ende der 1920er Jahre keinen eigenen Aufnahmebezirk hatte – zugleich auf die Großstadt ausgerichtet, auf diese angewiesen. Im Konzept für die Anstalt Langenhorn waren Peripherie (das Dorf Langenhorn, der für die Errichtung ausgewählte Raum) sowie das Zentrum (die Stadt Hamburg, der Wohnort des überwiegenden Teils der Patienten und Patientinnen) miteinander verbunden, wenn auch – im Realen – die Linie zwischen den beiden Punkten noch nicht gegeben war. In Hamburg entschied man sich dafür, die zweite Anstalt – neben der 1864 eröffneten Heil- und Pflegeanstalt Friedrichsberg – in einer ländlichen Peripherie zu errichten, um dem für die neue Anstalt vorgesehenen Konzept einer landwirtschaftlichen Kolonie, Griesingers Idee des Land-Asyls entsprechend, gerecht zu werden. So wurde die Anstalt im Norden der Stadt auf einem 75 Hektar großen Ge28 29 30
Ebda. S. 116. Ebda. S. 117. Ebda. S. 117.
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biet errichtet, das seit 1830 der Stadt Hamburg gehörte.31 Das Baukonzept sah eine Anstalt im Pavillonstil vor, d. h. die Krankengebäude wurden auf dem Anstaltsareal verteilt errichtet und mit einer Landwirtschaft verbunden. In der „Irren-Colonie“ Langenhorn sollten ausschließlich sogenannte „arbeitsfähige“ Männer und Frauen aus der Anstalt Friedrichsberg Aufnahme finden. Diese sollten in der Anstalt mit landwirtschaftlichen, handwerklichen und häuslichen Arbeiten beschäftigt werden, damit die Anstalt sich weitgehend selbst versorgen konnte. Anfangs bestand die „Irren-Colonie“ aus vier Krankengebäuden und war für 200 Kranke vorgesehen, die von einem Arzt und vierzehn Pflegepersonen betreut wurden. 1905 wurde die Anstalt um 700 Plätze vergrößert und nach einer dritten Erweiterung, die 1913 abgeschlossen wurde, konnten in Langenhorn 1.700 Patienten aufgenommen und mit vielfältigen Arbeiten beschäftigt werden.32 Langenhorn zählte damit zu einer der größten Anstalten des Kaiserreichs. Das ländliche Areal, das für den Bau der „Irren-Colonie“ gewählt wurde, bot eben jenen Vorteil, dass seine Grenzen flexibel erweitert werden konnten, wenn es der Bedarf erforderte. Wie Anstaltsleiter Theodor Neuberger betonte, wurde architektonisch eine „strenge Gruppierung der Baulichkeiten vermieden […], um der Anlage […] ein mehr dorfartiges Gepräge zu geben“.33 Es gab eine Mittelachse, die die Frauen- von der Männerseite trennte und der entlang die Gebäude kreisförmig angeordnet wurden. In vielen Anstaltsbeschreibungen aus der Zeit um 1900 findet man den expliziten Verweis darauf, dass beim Bau sogenannter moderner Anstalten in dem für die Zeit typischen Pavillonsystem darauf geachtet wurde, alles Anstalts- oder Gefängnisartige zu vermeiden. Oder es wurde darauf hingewiesen, dass das für eine Einrichtung gewählte ländliche Areal, wie in Langenhorn, den Vorteil bot, durch Wälder, Moore, Flüsse etc. natürlich begrenzt zu sein, was das Errichten einer Mauer oder einer Umzäunung als Abgrenzung nach außen hinfällig machte.34 Modellcharakter für die spätere Erweiterung der „Irren-Colonie“ zu einer colonialen Irrenanstalt hatte die Landes-Heilund Pflegeanstalt Rittergut Alt-Scherbitz in der Provinz Sachsen, die sich durch das sogenannte „Offen-Tür-System“ auszeichnete – einer freieren Verpflegungsform mit dem Verzicht auf Korridorsysteme, Mauern und Gitter.35 Albrecht Paetz (1851– 1922), der die Anstalt von 1880 bis zu seinem Tod im Jahr 1922 leitete, beschrieb die Vorzüge dieses Anstaltsmodells mit folgenden Worten: „Es lag also das Neue und Eigenartige der Anstalt Alt-Scherbitz in der engen Vereinigung einer grossen landwirtschaftlichen Kolonie mit einer, nach den modernen Grundsätzen der freien Krankenbehandlung auf dem gemeinsamen Terrain eines grösseren Landgutes errichteten Anstalt, in dem grundsätzlichen Verzicht auf das Korridorsystem und alle durch dasselbe mehr oder weniger bedingten Beschränkungen durch Mauern und Gitter, sowie in der weitgehendsten Ausbildung der freien Behandlung der Kranken im Anschluss an das Offen-Tür-System.“.36 31 32 33 34 35 36
Wulff 1993, S. 14. Vgl. dazu StAHH 352-8/7, Sig 16a: Verschiedene Anstaltsangelegenheiten: Quartalsberichte für 1899 bis 1920 (unvollständig), Jahresberichte für 1906 bis 1931, 1937, 1938 (1899–1939). Neuberger 1910, S. 128. Vgl. Bresler 1910. Paetz 1910, S. 344 f. Ebda.
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Diese „modernen Grundsätze der freien Krankenbehandlung“ sollten auch in Langenhorn realisiert werden und sich in der Anlage der Gebäude manifestieren. Doch ihren offenen, dorfartigen Charakter konnte die einstige „Irren-Colonie“ und nur so lange wahren, solange das städtische Zentrum entfernt und die unmittelbare Umgebung kaum besiedelt war. Mit der zunehmenden Urbanisierung der ländlichen Peripherien sowie mit der dadurch bedingten verkehrstechnischen Erschließung derselben wurde die Anstalt, im wahrsten Sinne des Wortes, nach und nach in ihre Schranken gewiesen: 1931 vermerkte schließlich der Anstaltsleiter Gerhard Schäfer im Jahresbericht, dass „infolge der in der Umgebung der Anstalt zunehmenden Bebauung und des stetig wachsenden Verkehrs die vollständige Abschließung der Anstalt eine zwingende Notwendigkeit geworden [war]“.37 Doch wann und wodurch hat sich die Veränderung der Umgebung, die Auflösung des peripheren Raumes, vollzogen? Welche Verschiebungen bedingten diese Entwicklungen im Verhältnis von Zentrum und Peripherie, von Großstadt und Anstalt? Und welche Impulse gingen von der „Irren-Colonie“ Langenhorn auf die zunehmende Urbanisierung der einstigen Peripherie aus? Diese Fragen sollen im Folgenden mit Blick auf die eingangs beschriebene Linie zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt und Anstalt, zwischen Hamburg und Langenhorn erörtert werden. DIE LINIE, DER RAUM, DIE AKTEURE Wie eingangs bereits erwähnt, führte zur Zeit der Anstaltsgründung im Jahr 1893 lediglich eine schlecht zu befahrene Landstraße zur „Irren-Colonie“ nach Langenhorn. Die nächstgelegene Anbindung an das städtische Verkehrsnetz befand sich in Ohlsdorf, einem Hamburger Vorort, der seit 1879 Endhaltestelle einer aus der Stadt kommenden Pferdeomnibuslinie war.38 Grund für die Einrichtung dieser Omnibuslinie, die von einem Fuhrunternehmer aus Altona durchgeführt wurde, war der zwei Jahre zuvor in Ohlsdorf eröffnete Friedhof, der größte Zentralfriedhof der Welt, der eine entsprechende Verkehrsanbindung – vor allem auch für den Transport der Leichen aus der Stadt – erforderte. Der Pferdeomnibus fuhr viermal täglich von Hamburg über das nördlich der Stadt gelegene Winterhude nach Ohlsdorf. Betrachtet man die Topographie der Stadt Hamburg, so scheint es nicht unerheblich, dass der Friedhof an der unmittelbaren Peripherie des Zentrums, die Irrenanstalt jedoch außerhalb dieser in Abhängigkeit zu ihrer Erreich- bzw. Unerreichbarkeit definierten Grenze errichtet wurde.39 Der Wahnsinn wurde, wenn man so will, aus der Stadt ausgelagert. 1895 wurde die Omnibuslinie nach Ohlsdorf schließlich durch eine elektrische Straßenbahn ersetzt, die ebenfalls aus der Stadt kommend beim Friedhof endete. Von der Haltestelle Ohlsdorf waren es noch einmal circa sechs Kilometer bis Langenhorn, und Angehörige der dort untergebrachten Patienten mussten einen – abhängig von den Wetterverhältnissen – oft beschwerlichen 37 38 39
StAHH 352-8/7, Sig. 16 a: Jahresbericht der Staatskrankenanstalt Langenhorn 1931. Achilles & Möller 1993, S. 10. Vgl. Philo 2012.
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Fußmarsch auf sich nehmen, um an ihr Ziel zu gelangen und die „Irren-Colonie“ Langenhorn zu erreichen. Allerdings war um die Jahrhundertwende der Fußverkehr noch die übliche Art der Fortbewegung: Wollte man von A nach B kommen, ging man zu Fuß.40 Noch hatten die Autos die Straßen nicht erobert, noch gehörten diese den Fußgängern. Und was die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel anbelangte – sofern sie zur Verfügung standen –, so waren diese teuer und fuhren nicht immer zu den gewünschten Zeiten. In Hamburg wurde um 1900 – trotz der Möglichkeit, Verkehrsmittel zu benutzen – der Weg von den Wohnstätten in den Vororten zu den Arbeitsstätten im Zentrum vielfach auch weiterhin zu Fuß bewältigt.41 Der Autor Heidmann schätzte, dass „im Durchschnitt der Jahre 1895 bis 1910 bei heutigen Verhältnissen etwa 50 000 Arbeiter gezwungen sein werden, jeden Morgen und jeden Abend eine 1 bis 1 ½ stündige Reise anzutreten.42 Was nun die Strecke zwischen dem Hamburger Vorort Ohlsdorf und der in der Peripherie gelegenen Gemeinde Langenhorn bzw. zwischen dem städtischen Friedhof und der „Irren-Colonie“ anbelangte, so fehlte um die Zeit der Anstaltsgründung eine regelmäßige Fahrverbindung. 1902 teilte der Hamburger Senat der Bürgerschaft mit, dass „[s]eit der Eröffnung der dortigen Irrenanstalt […] der Wunsch, diesem Mangel in geeigneter Weise abzuhelfen, wiederholt laut geworden [ist] und insbesondere hat das KrankenhausCollegium sowohl im Interesse der Pfleglinge und der Angehörigen derselben wie auch im Interesse der Angestellten der Anstalt die Herstellung einer regelmäßigen Fahrverbindung nach Eppendorf43 als dringend wünschenswerth bezeichnet“.44
Der Wunsch nach einer regelmäßigen Fahrverbindung von Langenhorn in Richtung der Hamburger Vororte und damit in die Innenstadt wurde im Interesse der Anstalt – ihrer Angestellten und Pfleglinge sowie deren Angehörigen – formuliert. Es ist die vom Hamburger Staat in die Peripherie ausgelagerte Anstalt, deren Bewohner und Bewohnerinnen von dort aus den Wunsch nach einer Anbindung an das Zentrum vorbringen; die Bevölkerung Langenhorns spielte in den diesbezüglichen Ausführungen des Senats (noch) keine Rolle, zu dünn besiedelt war das Gebiet, auf dem die Anstalt errichtet wurde. Die Linie, die eingangs beschrieben wurde, wird hier angedacht, entworfen, auch eingefordert. Sie besteht zu diesem Zeitpunkt jedoch nur in Ansätzen, sie ist Vision, die gestaltet werden will, aber noch keine Realität. In Folge dieses Senatsantrags wurde dem Fuhrmann Fritz Wachtmann vorerst für drei Jahre die Konzession erteilt, eine Pferdeomnibuslinie von Eppendorf bzw. wegen der schnelleren Verbindung in die Stadt ab 1903 von Ohlsdorf nach Langenhorn in Betrieb zu nehmen. Für einen staatlichen Zuschuss von 1.500 Mark sollte der Omnibus an Wochentagen dreimal, an Sonn- und Feiertagen – wenn die Patienten vermehrt Besuch von ihren Angehörigen erhielten – viermal in beide Richtun40 41 42 43 44
Vgl. Wehap 1997. Vgl. Wischermann 1983, S. 375. Heidmann 1891, S. 7; vgl. auch Wischermann 1983, S. 369. Der Hamburger Stadtteil Eppendorf war seit 1871 Vorort und wurde 1894 eingemeindet. StAHH 111-1, Sig. 238: Mittheilung Nr. 101 des Senats an die Bürgerschaft. Hamburg, den 20. Juni 1902. Antrag betreffend Bewilligung einer staatsseitigen Unterstützung für eine Omnibuslinie zwischen Eppendorf und Langenhorn.
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gen verkehren. Für die Strecke Ohldsorf-Langenhorn brauchte der Omnibus eine Stunde bis eineinhalb Stunden – vor allem bei schlechten Witterungsverhältnissen, wenn der Boden der Landstraße aufgeweicht und schlammig war, verzögerte sich die Fahrt.45 Es stellt sich hier die Frage, ob man nicht weiterhin zu Fuß schneller am Ziel, sprich in Langenhorn, war – wenn es auch die beschwerlichere Art war, dorthin zu gelangen. 1904 reichte Wachtmann einen Antrag auf Erhöhung der staatlichen Subvention seines Pferdeomnibusses auf 3.000 Mark ein, mit dem Argument, dass der Betrieb zwar notwendig, bei den gegenwärtigen Einnahmen aber nicht existenzfähig sei.46 Hier lohnt es sich, einen Blick auf seine Argumentation zu werfen: Denn seine Forderungen legitimierte der Unternehmer diesmal mit Bezug auf die geplante und 1905 realisierte Erweiterung der Anstalt Langenhorn. Die Gewährleistung einer verkehrstechnischen Anbindung derselben an die Innenstadt müsse, so Wachtmann, – da es sich um eine staatliche Institution handle – auch im Interesse des Staates liegen: „Durch die beabsichtigte Vergrößerung der Irrenanstalt Langenhorn und die damit verbundene Vermehrung der Beamten hat ja der Staat ein erhöhtes Interesse an der Aufrechterhaltung der Omnibuslinie.“47
Auf das Schreiben des Unternehmers Wachtmann folgten wenige Monate später zwei weitere Schreiben von offizieller Seite, welche die Forderungen Wachtmanns unterstützten und bekräftigten: das eine war ein Schreiben der Landherrenschaft der Geestlande an die Hamburger Finanzdeputation, die sich ebenfalls für eine Erhöhung der staatlichen Subvention der Omnibuslinie zwischen Ohlsdorf und Langenhorn aussprach, da „die Aufrechterhaltung der Linie im öffentlichen Interesse liegt“;48 und das zweite war ein Schreiben des Anstaltsleiters Theodor Neuberger der sich gegen eine etwaige Einschränkung der Fahrtenzahl „in Anbetracht der rasch wachsenden Anstalt“ aussprach und seiner Position mit folgenden Erläuterungen Nachdruck verlieh: „Durch die Omnibusverbindung soll den Angehörigen der hier untergebrachten Geistesgestörten der Besuch ihrer erkrankten Verwandten möglich und den in der Anstalt isoliert und abgeschieden wohnenden Beamten und dem Personal der Verkehr mit Hamburg, woselbst sie persönliche Angelegenheiten zu erledigen, oder Einkäufe zu machen haben, erleichtert werden. Bei fehlender oder mangelnder Fahrgelegenheit sind die in Frage stehenden Personen bei schlechtem Wetter und zur Winterszeit von einem Verkehr mit Hamburg geradezu abgeschnitten.“49
In seinen Beschreibungen führte Neuberger noch einmal sehr deutlich die Abgeschiedenheit der Anstalt vor Augen, das Gefühl der Isolation, das sich vor allem dann zu verstärken schien, wenn die bestehende Linie zwischen Zentrum und Pe45 46 47 48 49
Vgl. StAHH 111-1, Sig. 240: Schreiben von Wachtmann an den Senat vom 01.01.1907. StAHH 111-1, Sig. 238: Schreiben von F. Wachtmann vom 11.07.1904 Ebda. StHA 111-1, Sig. 238: Schreiben der Landherrenschaft der Geestlande an die Finanzdeputation vom 28.09.1904. StAHH 111-1, Sig. 238: Schreiben der Irrenanstalt Langenhorn vom 23.09.04 an den Herrn Senator Schröder, Dr., Präses des Krankenhauskollegiums Hamburg.
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ripherie ihrer Funktion, zu verbinden, nicht mehr nachkommen konnte. In dem Wissen darüber, dass die Linie verbindet, wird der Umstand, dass sie trennt, umso intensiver als Gefühl der Isolation und des Abgeschnittenseins erlebt. Neuberger forderte in seinem Schreiben auch eine Herabsetzung der Fahrpreise mit dem Argument, dass dadurch eine stärkere Benutzung der Omnibusverbindung zwischen Ohlsdorf und Langenhorn erreicht werden könne, denn, wie er schrieb, „bedeutet die Hinterlegung des Fahrgeldes für den Omnibus eine nicht unwesentliche Ausgabe, die nur gemacht wird, wenn schlechte Witterungsverhältnisse es verbieten, den Weg zwischen beiden Orten zu Fuss zurückzulegen“. Hier wird noch einmal deutlich, welchen Stellenwert der Fußverkehr nach wie vor einnahm – und dass dieser (noch) in Konkurrenz zu den modernen Verkehrsmitteln stand. Aber trotz aller Bemühungen der unterschiedlichen Akteure (Wachtmann, Anstalt, Landherrenschaft) wurde die Erhöhung der Subvention nicht genehmigt, als ob es von Seiten der Stadt kein Interesse gab, die Anstalt, die man vor Jahren an die Peripherie ausgelagert hatte, nun an das Zentrum anzubinden und diesem näherkommen zu lassen. Zugleich steht allerdings zu vermuten, dass mit jeder Erweiterung und Vergrößerung der Anstalt auch der Druck zunahm, den diese von der Peripherie aus auf das Zentrum ausüben konnte. Hier sei noch einmal darauf verwiesen, dass zur Zeit der Anstaltsgründung ein Arzt und vierzehn Pflegepersonen 200 Patienten betreuten. Um 1914 waren es bereits knapp 2.000 Kranke, 300 Pflegepersonen und fünf Ärzte. Hinzu kamen noch weitere in der Anstalt beschäftigte Personen wie Handwerker, Gärtner etc., denen ebenfalls eine Anbindung an das städtische Zentrum wichtig war. Wenige Jahre später, 1907, brachen erneute Diskussionen um besagte Omnibuslinie aus, die Langenhorn mit dem Vorort Ohlsdorf verband. Der Unternehmer Wachtmann suchte beim Senat ein weiteres Mal um eine Erhöhung der Subvention und um eine Verlängerung seiner Konzession an. Doch er änderte diesmal seine Argumentation: Sein tragendes Argument bezog sich nun nicht mehr auf die Anstalt Langenhorn und deren Bedürfnisse, sondern auf den Umstand, dass wenige Wochen zuvor der Ausbau der elektrischen Bahn nach Ohlsdorf abgeschlossen worden war und in Zukunft – so Wachtmann vorausschauend – mit einer Bevölkerungszunahme in den peripheren Gebieten, sprich auch in Langenhorn, zu rechnen sei.50 Nun schaltete sich auch der Kommunalverein der Gemeinde Langenhorn ein, denn die Gemeinde wurde vom Hamburger Senat aufgefordert, einen Teil der Subventionen für die Omnibuslinie zu übernehmen. Die Gemeinde weigerte sich allerdings strikt und führte als ihr Argument wiederum die Interessen und Bedürfnisse der Angestellten sowie der Besucher der Irrenanstalt an: „Man hat die große Hamburgische Irrenanstalt hierher verlegt, aber eine, wenn auch noch so schlechte Verbindung will man aufheben, ohne etwas Besseres zu schaffen.“51 Die Gemeinde wünsche sich einen „für den erforderlichen Verkehr zeitgemäße[n] Betrieb, der eines hamburgischen Vorortes würdig ist“.52 50 51 52
StAHH 111-1, Sig. 240: Schreiben von Wachtmann an den hohen Senat vom 01.01.1907. StAHH 111-1, Sig. 238: Schreiben des Langenhorner Kommunalvereins an den Hohen Senat vom 5.3.1907. Ebda.
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Immer wieder wurde, wie in der im Folgenden zitierten Morgenausgabe der Hamburger Nachrichten, beklagt, dass der Pferdeomnibus „alle Schattenseiten eines derartigen Fahrzeuges, Unbequemlichkeit, Langsamkeit und teure Preise neben unpraktischen Fahrzeiten in lieblicher Weise verbindet“ und mit ein Grund sei, warum „Langenhorn in Hamburg in weiten Kreisen der Bevölkerung unbekannt geblieben ist“.53 In der Hamburger Innenstadt verkehrten Pferdeomnibusse um 1900 nicht mehr, und sie kamen – wenn überhaupt – nur mehr zwischen den Endhaltestellen der Straßenbahnen und den benachbarten Dörfern zum Einsatz.54 Sie waren schlichtweg unmodern, nicht mehr zeitgemäß. An den Diskussionen über die Verbindungsstrecke zwischen der Anstalt Langenhorn und der Innenstadt lässt sich zugleich die langsame Besiedlung – sprich die Ausweitung des Zentrums in Richtung Peripherie – nachvollziehen. In den Argumentationen für den Ausbau und die Verbesserung der Strecke nahmen – neben der Anstalt – nun zunehmend auch die (künftigen) Bewohner Langenhorns, das als Wohngebiet erschlossen werden sollte, eine gewichtige Position ein. Wie der ehemalige Eisenbahn-Oberingenieur Alfred Birk 1904 schrieb und wie am Beispiel des folgenden Zitats deutlich wird, bildete die Frage nach geeigneten Verkehrsmitteln auch einen Kernpunkt der Wohnungsfrage.55 So wurde 1907 in einer Sitzung der Hamburger Bürgerschaft mit folgenden Argumenten die Bedeutung der Verbindungslinie zwischen Ohlsdorf und Hamburg hervorgehoben: „Die Verbindung zwischen Hamburg bezw. Ohlsdorf und Langenhorn ist nicht nur für Langenhorn, sondern auch für den Staat von Wichtigkeit, der die Irrencolonie so weit von der Stadt errichtet hat. Er darf den Angehörigen der Kranken nicht die Gelegenheit nehmen, diese auch besuchen zu können. Bessere Verkehrsmittel erschließen auch das Landgebiet und könnten manchen Hamburger Bürger, der das Wohnen auf dem Lande dem Wohnen in der Stadt vorziehen würde, bewegen, sich auch in Langenhorn anzusiedeln.“56
Wachtmanns Vertrag wurde 1907 dennoch vorläufig nicht verlängert. Stattdessen wurde ein Vertrag mit einem Automobilunternehmer geschlossen, der sich allerdings bei der Durchführung der Fahrten als unzuverlässig erwies. Um die Verbindungsstrecke zwischen der Gemeinde bzw. der Anstalt Langenhorn und Ohlsdorf weiter aufrecht zu erhalten, wurde Wachtmann schließlich 1909 erneut eine Subvention von 3.000 Mark und eine auf drei Jahre befristete Konzession erteilt, die 1912 und 1915 jeweils für weitere drei Jahre verlängert wurde – auch wenn der Unmut über das unmoderne Verkehrsmittel, das der Pferdeomnibus im Zuge der zunehmenden Modernisierung städtischer Verkehrsmittel57 darstellte, unter den Fahrgästen groß war. Die Anstalt Langenhorn hatte sich daher bereits 1906 von der oft unzuverlässigen Verkehrsverbindung unabhängig gemacht und sich ein eigenes Automobil, 53 54 55 56 57
StAHH 111-1, Sig. 238: „Langenhorn und seine vortrefflichen Verkehrsverbindungen.“ In: Hamburger Nachrichten Nr. 259 (Morgenausgabe), 15.04.1907. Birk 1904, S. 4. Birk 1904, S. 3. StHA 111-1, Sig. 238: Aus der Sitzung der Bürgerschaft vom 27.03.1907. Am 15.2.1912 wurde in Hamburg die Hochbahn eröffnet, vgl. http://www.100-jahre-hochbahn. de/ (eingesehen am 22.04.2013).
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einen Opel-Landaulet, angeschafft, um die „durch die abgeschiedene Lage der Anstalt […] von der Stadt […] bedingten Uebelstände“58 zu mildern: „Das Automobil ist, bei der weit entfernten Lage der Langenhorner Anstalt von Hamburg – 15 km bis zum Mittelpunkt der Stadt – bestimmt, den Aerzten den Verkehr nach der Stadt zu erleichtern. Durch Benutzung des Automobils wird ferner vermieden, dass die Beamten, wenn sie dienstlich in der Stadt zu tun haben, allzu lange Zeit ihrer regelmässigen Tätigkeit in der Anstalt entzogen bleiben.“59
Arbeitseffizienz wurde zu einem wichtigen Argument, das für den Kauf des OpelLandaulets sprach. In den „Vorschriften für die Benutzung des Automobils“ wurde festgelegt, dass „[d]as Automobil nur den Verkehr zwischen der Irrenanstalt und Ohlsdorf bis zur Endstation der Strassenbahn [vermittelt]“.60 Es stand den Ärzten und der Oberschwester zur Verfügung, die für jede Fahrt einen polizeilich geprüften Chauffeur benötigten. Für Krankentransporte war das Automobil nicht vorgesehen, diese oblagen auch weiterhin der Polizei. Dennoch: Das Anstaltsautomobil löste in keiner Weise die Probleme, mit denen sich die Angestellten der Anstalt, die Angehörigen der Patienten sowie die Bewohner der Gemeinde Langenhorn auf Grund der unregelmäßigen und unbequemen Verkehrsverbindung konfrontiert sahen, auf die sie für eine Fahrt in die Innenstadt bzw. nach Langenhorn angewiesen waren. In der Frage der Anbindung von Langenhorn an das Hamburger Stadtzentrum bildeten die zuvor genannten Akteursgruppen eine Allianz auf Basis gemeinsamer Interessen. Erst 1918, also 25 Jahre nach der Eröffnung der Anstalt, wurde bezüglich der verkehrstechnischen Anbindung an die Stadt eine einigermaßen zufriedenstellende Lösung realisiert, als – laut Vermerk im Jahresbericht der Anstalt – „[d]urch Eröffnung der Eisenbahnlinie Ohlsdorf-Langenhorn-Ochsenzoll im Januar 1918 […] die so lange vermisste Bahnverbindung mit der Stadt hergestellt [wurde]. Die bisher ungünstigen Verkehrsverhältnisse der Anstalt erfuhren hierdurch eine erhebliche Verbesserung“.61
Bereits 1913, im Jahr der Eingemeindung Langenhorns in die Stadt Hamburg, wurde mit den Bauarbeiten für die sogenannte Langenhorner Bahn begonnen, die mit einer provisorischen Dampflokomotive 1918 in Betrieb genommen wurde. Pro Tag wurden vier Zugfahrten durchgeführt, da für die Bahnstrecke nur eine Lokomotive zur Verfügung stand. Um die Innenstadt zu erreichen, musste in Ohlsdorf von dieser Dampflok in die Hochbahn umgestiegen werden. Dem Jahresbericht von 1925/26 zufolge, konnte die Verbindung der Anstalt mit der Innenstadt allerdings erst als „befriedigend“ bezeichnet werden, als der Dampflokbetrieb eingestellt wurde und am „1.8.1922 (sic!)62 eine Linie der Hochbahn bis zur Station Och58 59 60 61 62
StAHH 352-8/7, Sig. 131: Vorschriften für die Benutzung des Automobils. Genehmigt von der Verwaltung in der Sitzung in Friedrichsberg am Freitag den 31. August 1906. StAHH 352-8/7, Sig. 131: Schreiben der Irren-Anstalt Langenhorn an den Herrn Senator Dr. Schröder, Präses des Krankenhauskollegiums, vom 29.04.1907. StAHH 352-8/7, Sig. 131. StAHH 352-8/7, Sig. 16a: Jahresbericht der Staatskrankenanstalt Langenhorn 1918. Ochsenzoll bezeichnet den nördlichsten Punkt Langenhorns. Das Datum der Eröffnung der Hochbahn nach Ochsenzoll war der 1.7.1921. Vgl.: http://www. hamburger-untergrundbahn.de/met-hh-oz.htm (27.05.2012).
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senzoll, 10 Minuten von der Anstalt entfernt, durchgeführt wurde“.63 Über diese Optimierung der Verbindung zwischen Stadt und Anstalt äußerten sich auch die Patienten sowie deren Angehörige positiv, wie aus Briefen derselben hervorgeht. So schrieb der Arbeiter Hermann P. in einem Brief vom 22. Februar 1922 an sein „liebes Mariechen“: „Du wirst wohl erstaunt sein von mir ein Lebenszeichen zu erhalten, nun befinde ich mich momentan in der Nervenstation Langenhorn nun hätte ich liebes Mariechen eine bescheidene Bitte ich hätte mit dir gerne eine Unterredung sei so gut wenn du kannst und komme mal zu mir, […] es sollte mi[r] eine große Freude sein wenn wir uns mündlich aussprechen können, die Hochbahn fährt ganz hin also wäre es doch nicht so schwer mir mit einen Besuch zu überraschen“.64
Und auch der Patient Franz K. ließ im September 1924 in seinem Schreiben mit der Bitte um Besuch nicht unerwähnt, dass „[d]ie Fahrt zu uns heraus mit der Hochbahn bis Ochsenzoll […] ja ganz bequem [sei]“.65 Diese beiden Briefe sind nicht die einzigen schriftlichen Dokumente von Patienten aus den 1920er Jahren, in denen diese ihre Angehörigen auf die verhältnismäßig gute Anbindung der Anstalt an das städtische Verkehrsnetz aufmerksam machen und um Besuch bitten. Detailliert wurden in den Briefen die Anfahrt nach Langenhorn, die Benutzung der jeweiligen Verkehrsmittel, die zu beachtenden Haltestellen und Umstiege beschrieben – die verbesserte Erreichbarkeit der Anstalt schien Anfang der 1920er Jahre noch nicht hinlänglich bekannt. Viele Jahre galt Langenhorn als schwer erreichbar, als ein Landgebiet irgendwo in der Hamburger Peripherie. Ein weiteres Mal verbessert wurde die Verbindung nach Langenhorn im Jahr 1926: Von nun an war es möglich, von der Anstalt bzw. von der Station Ochsenzoll – ohne in Ohlsdorf umsteigen zu müssen – mit der Hochbahn in die Hamburger Innenstadt zu fahren. Doch mit der nun modernisierten und im Vergleich zu früher schnellen Verkehrsverbindung zwischen Hamburg und Langenhorn kam es – unter anderem bedingt durch die allgemeine Wohnungsnot in Hamburg nach dem Ersten Weltkrieg – zu einem vermehrten Zuzug der Stadtbevölkerung in die einstmalige Peripherie. 1919 wurde in Langenhorn unter der Leitung des Oberbaudirektors Fritz Schumacher mit dem Bau einer Wohnsiedlung für Arbeiterfamilien, Kriegsversehrte und Kriegsteilnehmer begonnen.66 Zwei Jahre später, 1921, waren 660 Wohnungen und Wirtschaftsgebäude der Siedlung bezugsfertig. Die Besiedelung Langenhorns bzw. die Ausweitung des Stadtzentrums in Richtung Peripherie blieb nicht ohne Folgen für die Anstalt. Im Jahresbericht 1926 wurde festgehalten, dass „[d]ie immer näher heranrückende Großstadt […] es erforderlich [macht], die Einzäunung der völlig offenen Anstalt zu beginnen“.67 Was 1926 begonnen wurde, wurde schließlich 1931 vollendet, als „infolge der in der Umgebung der Anstalt zunehmenden Bebauung und des stetig wachsenden Verkehrs die vollständige Abschließung der Anstalt eine 63 64 65 66 67
StAHH 352-8/7, Sig. 16a: Jahresbericht der Staatskrankenanstalt Langenhorn 1925/26. StAHH 352-8/7, Sig. 13809: Brief an „Mariechen“, 22.2.1922. StAHH 352-8/7, Sig. 13753: Brief an den Landesgerichtsdirektor vom 18.9.1924. Wulff 2007. StAHH 352-8/7, Sig. 16a: Jahresbericht der Staatskrankenanstalt Langenhorn 1926.
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zwingende Notwendigkeit“68 wurde. Im Jahresbericht von 1931 hieß es diesbezüglich: „Die Errichtung eines Pförtnerhäuschens und einer Pforte am Tannenzuschlag, als Aus- und Eingang für den südlichen Teil der Anstalt und hauptsächlich als Zugang für den Wirtschaftsbetrieb, wurde erforderlich, da die Unsicherheit auf dem Anstaltsgelände in den letzten Jahren entschieden zugenommen hatte. Die Abschliessung gibt der Anstalt nunmehr die Möglichkeit, Unbefugte vom Anstaltsgelände fernzuhalten. Der Verkehr auf der Anstalt kann genauer kontrolliert, die Entwendung von Anstaltseigentum besser verhindert werden.“
Das ursprüngliche Konzept der Anstalt, das vorsah, den Kranken durch die ländliche Lage und das kaum besiedelte Gebiet eine freiere Verpflegung im Sinne des „Offen-Tür-Systems“ zu bieten, erfuhr mit der Ausweitung des Zentrums bzw. mit der Auflösung der Peripherie seine zunehmende Einschränkung. „Zentrum und Peripherie verschmelzen miteinander und ergänzen einander, sobald sie die trennend zwischen ihnen liegende Entfernung bestätigen“, wie Hans Ulrich Gumbrecht schreibt.69 Die Linie, die zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen der Hamburger Innenstadt und der Anstalt Langenhorn zuerst anvisiert, später ausgebaut und verfestigt wurde, führte schließlich zu der von Gumbrecht beschriebenen Verschmelzung dieser beiden geographischen Punkte. Die Folge dieser Verschmelzung war allerdings, dass an einem dieser Punkte (Anstalt) die Grenzen erneut deutlich gezogen, sprich eine trennende Linie errichtet werden musste, um so – zumindest ein Stück weit und dem Konzept folgend, dass psychiatrische Institutionen (scheinbar) bedingten – Peripherie zu bleiben: Peripherie in dem Sinne, wie es Meyers Konversationslexikon in der Ausgabe von 1885–1892 definierte, als eine Fläche, die durch eine Linie begrenzt wird.70 LITERATUR Achilles, Lutz & Möller, Erwin: 75 Jahre Langenhorner Bahn. Zur Geschichte einer Lebensader. Hamburg 1993. Birk, Alfred: Zur Frage der elektrischen Stadt- und Vorortsbahn in Hamburg (Sonderdruck aus der ‚Zeitschrift für das gesamte Lokal- und Strassenbahnwesen‘). Wiesbaden 1904. Bresler, Johannes (Hrsg.): Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild. 1. Bd. Halle a. d. Saale 1910. Brusatin, Manlio: Die Geschichte der Linien. Zürich. 2003. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen [engl. Erstpubl. 1961]. Übersetzt v. Nils Lindquist, Frankfurt a. M. 1972. Gumbrecht, Hans Ulrich. 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt a. M. 2001. Griesinger, Wilhelm: Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland. In: Wilhelm Griesinger’s Gesammelte Abhandlungen (1872), 1. Bd., Psychiatrische und Nervenpathologische Abhandlungen. Berlin. 1868/69, S. 266–309. Heidmann, J. H.: Hamburg’s Verkehrsmittel und Wohnungsverhältnisse. Hamburg 1891. Jochmann, Werner (Hrsg.): Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner (hrsg. v. Jochmann, Werner & Losse, Hans-Dieter). Band II: Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Hamburg 1986. 68 69 70
StAHH 352-8/7, Sig. 16a: Jahresbericht der Staatskrankenanstalt Langenhorn 1931. Gumbrecht 2001, S. 380. Meyers Konversationslexikon 1885–1892, S. 849.
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Kolb, Gustav: Sammel-Atlas für den Bau von Irrenanstalten. Ein Handbuch für Behörden, Psychiater und Baubeamte. Teil A. Halle a. S. 1907. Kopitzsch, Franklin & Tilgner, Daniel (Hrsg.): Hamburg Lexikon. Hamburg. 1998. Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, 1. Bd. [1883] 7. vielf. umgearb. Aufl. Leipzig 1903. Krafft-Ebbing, Richard: Über gesunde und kranke Nerven. Tübingen 1885. Kreßin, Arthur: Das Allgemeine Krankenhaus Langenhorn in Hamburg. Hamburg 1950. Melhop, Wilhelm: Historische Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg von 1880 bis 1895 (nebst vielen Nachträgen aus älterer Zeit). Hamburg 1895. Meyers Konversationslexikon: 12. Bd., 4. Aufl. Leipzig und Wien 1885–1892. Neuberger, Theodor: Langenhorn-Hamburg. In: Bresler, Johannes (Hrsg.): Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild. 1. Bd. Halle a. d. Saale 1910, S. 127–140. Paetz, Albrecht: Landes-Heil- und Pflegeanstalt der Provinz Sachsen Rittergut Alt Scherbitz. In: Bresler, Johannes (Hrsg.): Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild. 1. Bd. Halle a. d. Saale. 1910, S. 344–345. Philo, Chris: Troubled proximities: Asylums and cemeteries in nineteenth-century England. In: History of Psychiatry 23 (2012) S. 91–103. Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. 1803 (Nachdruck Amsterdam 1968). Rotzoll, Maike: Verwahren, verpflegen, vernichten. Die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland und die NS-‚Euthanasie‘. In: Fuchs, Petra & M. Rotzoll & U. Müller & P. Richter & G. Hohendorf (Hrsg.): „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst.“ Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“. Göttingen 2007, S. 24– 35. Sammet, Kai: Imaginäres Objekt, mentale Topographien. Hamburgs Planungen für eine ‚dritte Irrenanstalt‘ 1909–1916. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 92 (2006) S. 85–111. Schäfer, Gerhard & Schubert, Max: Beschreibung der Staats-Krankenanstalt Langenhorn Hamburg. Düsseldorf 1931. Vanja, Christina: Der Irrenhausgarten als Therapeutikum. In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 12 (2006) S. 287–313. Wehap, Wolfgang: Gehkultur: Mobilität und Fortschritt seit der Industrialisierung aus fussläufiger Sicht (= Grazer Beiträge zur europäischen Ethnologie, Bd. 7). Frankfurt a. M. 1997. Wischermann, Clemens: Wohnen in Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg (= Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 2., hrsg. v. Teuteberg, Hans J. & Borscheid, Peter). Münster 1983. Wulff, Günter: Gründung und Entwicklung des Krankenhauses. In: Böhme, K. (Hrsg.): 100 Jahre Allgemeines Krankenhaus Ochsenzoll. 1893–1993. Hamburg 1993, S. 3–80. Wulff, Günter: Siedlungsgeschichte. Von der Planung bis zur Fertigstellung. 2007. Siehe (http:// www.genossenschaft-fss-langenhorn.de/1.%20Siedlungsgeeschichte/Planung%20bis.htm, zuletzt eingesehen am 20.04.2013).
WAHNSINN ZWISCHEN KOLONIALER PERIPHERIE UND EUROPÄISCHER METROPOLE Patienten aus den deutschen „Schutzgebieten“ Afrikas in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg (1900–1915)1 Stefan Wulf Als Friedrich R. am 15. Dezember 1911 in die Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg2 eingeliefert wurde, fiel dort vor allem sein Äußeres auf. In seiner Krankenakte heißt es dazu: „Der Kranke kommt in einem sehr malerischen Aufzuge. Gestützt auf einen langen Wanderstab, in der andern Hand ein Bambusrohr, auf dem in primitiver Weise Längenmaße angebracht sind. Um den breitgekrempten Hut ist ein blaues Tuch gewunden usw. Pat. betrachtet mit kindlichem Stolz das Interesse, das ihm entgegengebracht wird.“3 Im Gegensatz zu den meisten anderen Friedrichsberger Patienten war R. nicht irgendwo in Hamburg aufgegriffen oder aus seiner Wohnung in die Anstalt gebracht worden, sondern einen Tag zuvor mit dem HAPAG-Dampfer „Rhenania“ aus Deutsch-Ostafrika zurückgekommen. Was in der Friedrichsberger Aufnahmestation stattfand, war die Konfrontation der imperialen Metropole mit Spuren der kolonialen Peripherie. Friedrich R. kam aus einer völlig anderen Welt. Das war die Wahrnehmung des anwesenden Friedrichsberger Personals. Und das erklärt das besondere Interesse, das ihm an einem Ort entgegengebracht wurde, an dem Abweichungen aller Art immerhin die Regel und nicht etwa die Ausnahme waren. Friedrich R. war einer von 32 Patienten, die zwischen 1900 und 1915 in Friedrichsberg eingeliefert wurden, nachdem sie wegen psychischer Störungen aus Afrika nach Europa zurücktransportiert worden und im Hafen von Hamburg gelandet waren. Diese Patienten werden hier als „Kolonial-Patienten“ oder „Afrika-Rück-
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Der Aufsatz ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten und von Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach geleiteten Projekts „‚Irre‘ in Hamburg. Psychische Devianz auf See und in den Kolonien (1880–1920)“ am Hamburger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) entstanden. Das Hamburger Projekt ist Teilprojekt der ersten Förderphase der DFG-Forschergruppe 1120 „Kulturen des Wahnsinns (1870–1930). Schwellenphänomene der urbanen Moderne“. Zum Forschungszusammenhang „Psychiatrie und Hafen“ vgl. u. a. Wulf & Schmiedebach 2010; Wulf & Schmiedebach 2012. Die Irrenanstalt Friedrichsberg war die zentrale psychiatrische Versorgungsanstalt in Hamburg. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie in Staatskrankenanstalt Friedrichsberg umbenannt und fungierte gleichzeitig als psychiatrische Universitätsklinik (Schnitzer 1901; Weygandt 1910; Weygandt 1922; Weygandt 1928). Akte Friedrichsberg Nr. 34299.
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Stefan Wulf
kehrer“ bezeichnet. Ihre Friedrichsberger Krankenakten4 stehen im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes. Von diesem Aktenbestand ausgehend, möchte ich versuchen, unter psychiatriehistorischen Gesichtspunkten verschiedene Perspektiven auf das Thema „Zentrum und Peripherie“ zu entwickeln und zu diskutieren. Dabei werden die relationalen Raumbegriffe als analytisches Instrumentarium verstanden, sich diesem Quellenbestand zu nähern und seine Spezifika deutlich zu machen. Unter kolonialer Peripherie wird hier die Gesamtheit der sog. deutschen „Schutzgebiete“ in Afrika verstanden. Ihr wird jene europäische Metropole gegenübergestellt, die – wie Hamburg – nicht nur Großstadt, sondern in erster Linie auch Zentrum kolonialpolitischer, -wirtschaftlicher und -wissenschaftlicher Aktivitäten und entsprechender Diskurse war. Das Hamburger Kolonialinstitut5 als Vorgänger der Hamburgischen Universität sowie das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten6, das international bekannte Hamburger Tropeninstitut, sind zwei markante Beispiele für die Bedeutung der Kolonialwissenschaften in der Hansestadt. Der Themenkomplex „Psychiatrie und Kolonialismus“ ist in der internationalen Forschung inzwischen breit konnotiert und diskutiert.7 An einschlägigen Publikationen zum britischen oder französischen Kolonialreich fehlt es nicht.8 Dem Wahnsinn in den ehemaligen deutschen Kolonialgebieten hat sich die historische Forschung bislang in weit geringerem Maße genähert. In Wolfgang U. Eckarts Standardwerk zur deutschen Kolonialmedizin finden sich psychiatrische Aspekte nur am Rande erwähnt.9 Das liegt nicht zuletzt am Gegenstand selbst und am verfügbaren Quellenmaterial. Der Stellenwert der Psychiatrie war im deutschen Kolonialreich, das zudem von relativ kurzer Dauer war, ein geringerer als im britischen Empire oder in den französisch kontrollierten Gebieten Nordafrikas. In den deutschen Kolonien gab es zum Beispiel so gut wie keine Spezialklinik für psychische Erkrankungen. Eine Ausnahme ist das Irrenasyl in Lutindi (Deutsch-Ostafrika), das von Diefenbacher untersucht worden ist.10 Dennoch mangelt es für das Deutsche Reich in Bezug auf seine Kolonien an psychiatriehistorischen Zugängen, etwa auf der Grundlage einschlägiger Krankenakten der deutschen Kolonialmetropolen, wie sie in der vorliegenden Untersuchung für Hamburg ausgewertet werden sollen. Ein fruchtbarer Ansatz, sich dem Wahn in den deutschen Kolonien zu nähern, liegt in der Heranziehung von literarischen Quellen und von Zeugnissen öffentlicher Diskurse zu kolonialen Themen wie dem „Tropenkoller“. Hier gilt die Aufmerksamkeit allerdings meist nur einzelnen bekannten Persönlichkeiten und ihren 4
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Die Friedrichsberger Akten befinden sich im Historischen Krankenblatt-Archiv des Hamburger Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE. Zitiert wird ohne Korrektur und Vereinheitlichung der Rechtschreibung und der Zeichensetzung. Auslassungen sowie Anonymisierungen von Namen im Zitat sind durch eckige Klammern gekennzeichnet, ebenso notwendige Auflösungen von Abkürzungen. Ruppenthal 2007; Paul 2008. Wulf 1994; Mannweiler 1998. Keller 2001; Mahone & Vaughan 2007. Ernst 1991; Mahone 2006; Keller 2007; Heaton 2013a; zum Themenkomplex „Psychiatrie, Kolonialismus und Migration“ vgl. Heaton 2013b. Eckart 1997, S. 66, 314, 317, 370–372, 476 u. 493. Diefenbacher 1985.
Wahnsinn zwischen kolonialer Peripherie und europäischer Metropole
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Verfehlungen im kolonialen Kontext. Stephan Besser hat in seiner Untersuchung des Falls Prosper von Arenbergs die Bedeutung und die Funktion des Begriffs „Tropenkoller“ in den kolonialpolitischen Debatten des Kaiserreichs und für eine breitere Öffentlichkeit, gerade im Kontext der Kolonialskandale11, anschaulich herausgearbeitet und auf seine „konstitutive Uneigentlichkeit“ hingewiesen. Der „Tropenkoller“ ist ein mediales Konstrukt, kein medizinischer Fachterminus. Der Begriff habe es ermöglicht, so Besser „die verschiedenen am Kolonialismus beteiligten Diskurse des Kaiserreichs im Zeichen eines pathologischen Syndroms zusammenzuführen“.12 Genannt werden müssen in diesem Zusammenhang auch zwei deutsche Kolonialromane. 1896 veröffentlichte Frieda von Bülow ihr Buch „Tropenkoller. Episode aus dem deutschen Kolonialleben“.13 Und 1904 erschien „Tropenkoller. Ein Kolonial-Roman“ von Henry Wenden.14 Erwähnt seien hier auch die Arbeiten von Thomas Schwarz, der sich über Robert Müllers Roman „Tropen. Der Mythos der Reise“ (1915) dem Wahn des Europäers in den Tropen zu nähern versucht.15 Schauplatz ist in diesem Fall allerdings Südamerika. Wie sehr sich Schriftsteller mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, belegen auch die Romane „Heart of Darkness“ (1902, dt. „Herz der Finsternis“) von Joseph Conrad16 und „Le coup de lune“ (1933, dt. „Tropenkoller“) von Georges Simenon17, die wiederum in Afrika spielen. Nach dieser kurzen Einführung in das Thema folgt zunächst eine knappe Vorstellung der Friedrichsberger Patientengruppe der „Afrika-Rückkehrer“. Anschließend sollen unter dem Aspekt „Peripherie und Zentrum“ einige Fälle näher betrachtet werden, bei denen die Malaria als den Wahn verursachendes bzw. auslösendes Moment gedeutet und verhandelt wurde. Es folgt die Diskussion einer in Afrika diagnostizierten Induktionspsychose und einer aus dieser Diagnose resultierenden Kontroverse zwischen einem Arzt in Victoria (Kamerun) und einem Psychiater in Hamburg. Danach wird es um psychische Störungen gehen, die aus der für den Einzelnen mental mitunter kaum zu überbrückenden Unterschiedlichkeit der sexuellen Praktiken und Erfahrungen in Afrika und Europa resultierten bzw. durch entsprechende moralische Konflikte ihre spezifische Ausprägung erhielten. Am Beispiel der psychiatrischen Akte eines „verrückten“ Kolonialoffiziers soll anschließend versucht werden, die Schiffspassage zwischen Afrika und Hamburg als dritte relevante Wahrnehmungs-, Deutungs- und Beschreibungsebene des Wahns zu diskutieren. Abschließend folgt ein kurzes Fazit.
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Vgl. Bösch 2009, S. 225–327. Besser 2004, S. 309. Bülow 1911. Wenden 1904. Schwarz 2004; Schwarz 2006. Conrad 2005. Simenon 1979.
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1. DIE FRIEDRICHSBERGER PATIENTENGRUPPE DER „AFRIKA-RÜCKKEHRER“ Bei den insgesamt 32 Friedrichsberger Patienten, die zwischen 1900 und 1915 aus Afrika zurückgekehrt und in Hamburg der psychiatrischen Anstalt zugeführt worden waren, handelte es sich ausschließlich um Männer. Sie hatten am Aufnahmetag im Durchschnitt ein Alter von etwa 30 Jahren. 27 dieser Patienten waren Deutsche, drei waren Italiener und einer war Schweizer. In einem Fall fehlt ein direkter Hinweis auf die ursprüngliche Herkunft. 18 der 32 Patienten waren aus Deutsch-Südwestafrika18 zurückgekehrt, sechs aus Kamerun19, fünf aus DeutschOstafrika20 und einer aus Togo21. Nur zwei Patienten kamen also nicht aus den deutschen „Schutzgebieten“ nach Europa zurück, sondern aus Südafrika und Portugiesisch-Westafrika. 30 der 32 Patienten waren kaum mehr als ein Jahr oder kürzer in Friedrichsberg. Für sie ergibt sich eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer von 111 Tagen. Zwei Patienten hielten sich mehr als zwei bzw. annähernd drei Jahre in der Hamburger Anstalt auf. Unter Berücksichtigung dieser beiden untypischen Werte beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer für die gesamte Patientengruppe 163 Tage. Zwei Patienten starben in der Anstalt. Auf die Diagnosen wird in den einzelnen Kapiteln näher einzugehen sein. Es fällt auf, dass elf der 32 Fälle, also mehr als ein Drittel, in die Jahre 1906 und 1907 fallen und dass es sich bei diesen Patienten ausschließlich um Bedienstete der sog. deutschen „Schutztruppe“ handelte. Zehn von ihnen kamen aus DeutschSüdwestafrika22, einer aus Deutsch-Ostafrika. Bei diesem handelte es sich um einen Hauptmann aus adliger Familie und damit um den in der militärischen und sozialen Hierarchie „ranghöchsten“ Patienten. Weiterhin aufgeführt finden sich drei Unteroffiziere, zwei Gefreite, zwei Reiter, ein Pferdetreiber, ein Bausekretär sowie ein Depotverwalter der „Schutztruppe“.23 Unter den anderen 21 Patienten war die berufliche Struktur eher heterogen. Neben einem promovierten Bezirksrichter aus Lomé, dem einzigen Patienten aus Togo, hielten sich auch ein Regierungskapitän und ein Schiffsoffizier der Hamburger Woermann-Linie in Friedrichsberg auf. Drei Patienten hatten als Bürogehilfen bzw. Kanzlisten in Afrika gearbeitet, andere auf Pflanzungen, auf Diamantenfeldern, im Bahn- oder Schiffbau. 18 19 20 21 22
23
Kaulich 2003. Schaper 2012. Pesek 2005. Zurstrassen 2005; Sebald 2013. In den einschlägigen Akten haben auch die Auseinandersetzungen mit den Herero bei der Diskussion von Krankheitsursachen ihren Niederschlag gefunden. So hatten sich bei dem 24-jährigen Florian C., einem Reiter der „Kaiserlichen Schutztruppe“, nach einem Überfall einer größeren Zahl von Hereros auf eine von ihm bewachte Pferdesammelstelle Verwirrtheit und starke Angstgefühle eingestellt (Akte Friedrichsberg Nr. 26598). Der Friedrichsberger Psychiater Albert Buchholz stellte 1908 fest: „So sind uns allein aus unseren Kolonien seit 1906 17 Kranke zugeführt worden, darunter nicht weniger als 4 Offiziere und 12 Angehörige der Schutztruppe.“ (Buchholz 1909, S. 109 f.) Stichtag war der 31. August 1908. Für diesen Zeitraum sind im Hamburger Krankenblatt-Archiv 15 einschlägige Krankenakten von „Kolonial-Patienten“ überliefert.
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Die einschlägigen Friedrichsberger Akten weisen eine interessante Besonderheit auf. Knapp zwei Drittel von ihnen enthalten – neben den Hamburger Akteneinträgen – Abschriften der zum Teil sehr ausführlichen Krankengeschichten, Gutachten, Berichte über den jeweiligen Patienten aus der Feder der in Afrika involvierten Stabs- bzw. Regierungsärzte oder Bezirksbeamten. Hier werden die psychischen Störungen des Patienten jeweils aus „afrikanischer“ Sicht dargestellt und gedeutet. Eine besondere Quellenkategorie sind zudem die in Einzelfällen sehr detaillierten Berichte über die Ereignisse an Bord der Schiffe während der mehrere Wochen dauernden Seepassage nach Hamburg. Nach Landung der Schiffe sind insgesamt 15 der 32 „Kolonial-Patienten“ zunächst ins Hafenkrankenhaus24, seit 1900 das Hamburger Polizeikrankenhaus, gebracht worden, von wo aus man sie weiter nach Friedrichsberg überwies. In sechs Fällen waren sie zuerst am Hamburger Tropeninstitut (bzw. dem angegliederten Seemannskrankenhaus) untersucht oder auch behandelt und von dort dann in die Irrenanstalt überwiesen worden. Vier Patienten kamen über das Garnisonslazarett Altona nach Friedrichsberg, sieben direkt vom Schiff. Auf der Grundlage der einschlägigen Friedrichsberger Krankenakten ist es möglich, die Symptome und Ausprägungen des Wahns, seine Wahrnehmung, Deutung sowie Be- und Verhandlung durch Ärzte und andere beteiligte Instanzen auf drei Ebenen zu fassen: 1. in der Kolonie, 2. in der Hamburger Anstalt sowie 3. während der Schiffspassage als einer spezifischen Schwellenphase zwischen kolonialer Peripherie und imperialer Metropole. (Da zum Teil auch die Krankengeschichten aus dem Hamburger Tropeninstitut oder dem Hafenkrankenhaus in den Akten überliefert sind, ist eine zusätzliche Differenzierung auf der Ebene der deutschen Kolonialmetropole möglich.) 2. MALARIA UND PSYCHOSE IM SPANNUNGSFELD VON KOLONIALER PERIPHERIE UND EUROPÄISCHEM ZENTRUM25 Im Rahmen dieses Kapitels geht es um „Kolonial-Patienten“, bei denen die Malaria als den Wahn verursachendes bzw. auslösendes Moment gedeutet und verhandelt wurde. Bei den betreffenden Kranken waren ausgeprägte Selbstvorwürfe und Versündigungsideen vorherrschend. Selbstmordversuche wurden wiederholt unternommen bzw. Selbstmordgefahr von ärztlicher Seite konstatiert. Es soll hier der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die Rolle der Malaria von den deutschen Stabs- oder Regierungsärzten in Afrika anders wahrgenommen und interpretiert wurde als von den Psychiatern in Hamburg. Anders gefragt: Lassen sich zwischen kolonialer Peripherie und europäischem Zentrum Unterschiede in der Auffassung davon feststellen, was eine Infektionspsychose ist und wie sie entsteht? Betrachtet man zunächst die in Deutsch-Ostafrika, und zwar in Pangani, Tanga und Daressalam, verfassten Krankengeschichten des 21-jährigen Bureaugehilfen 24 25
Hafenkrankenhaus 1904; Hafenkrankenhaus 1975. Vgl. Wulf & Schmiedebach 2014, S. 104–119.
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Karl K.26 aus dem Jahre 1904, so fällt auf, dass der Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Malaria und den schweren psychischen Störungen ungemein dicht und detailliert beschrieben wird. Die klare und unmissverständliche Darstellung des kaum zweifelhaft erscheinenden Zusammenhangs von Malaria und Psychose basierte auf der unmittelbaren Erfahrung der behandelnden Kolonialärzte, die die frühen Symptome und den Krankheitsverlauf in Afrika persönlich miterlebten, vor allem auch die Malaria-Anfälle auf ihrem Höhepunkt. Entsprechende Berichte finden sich mitunter auch in medizinischen Fachzeitschriften, etwa im Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. Hier veröffentlichte 1908 Hans Ziemann, Ober-Stabsarzt der kaiserlichen „Schutztruppe“ von Kamerun, unter dem Titel „Bleibende Wahnvorstellungen nach Malaria-Fieberdelirien“ in komprimierter Form vier Fälle aus seiner praktischen Arbeit in der Kolonie, die kaum Zweifel lassen über die elementare Einwirkung der Malaria auf die geistige Verfassung der betrachteten Patienten.27 Der Plastizität und Klarheit entsprechender Krankenberichte aus der kolonialen Peripherie stehen andererseits ärztliche Einschätzungen, Diagnosen und Gutachten aus Hamburg gegenüber, in denen der Stellenwert der Malaria bei der Entstehung psychischer Störungen in Übersee oftmals nur noch undeutlich und gebrochen erkennbar ist. In der Krankengeschichte des Hamburger Seemannskrankenhauses findet sich K.s Malaria interessanterweise mit keinem Wort erwähnt, obwohl man dort bzw. am Tropeninstitut auf diese Krankheit spezialisiert war. Ausschlaggebend waren eine strikte fachliche Abgrenzung gegenüber psychiatrischen Symptomen und das Bedürfnis, den Kranken umgehend in die Irrenanstalt weiterzuüberweisen. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch ein anderer Aspekt, der an zwei Fallbeispielen verdeutlicht werden soll. Auch bei Dr. Konrad P.28, der in Lomé, dem Sitz der deutschen Kolonialverwaltung in Togo, als Bezirksrichter gearbeitet hatte, war ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Malaria und seiner psychischen Erkrankung wahrscheinlich. Aufgrund der vom Schiffsarzt des Dampfers „Eleonore Woermann“ mitgeteilten Beobachtungen und Fakten wurde er wegen „Manie nach Malaria“ aus dem Hafenkrankenhaus umgehend weiter nach Friedrichsberg überwiesen, wo er am 16. November 1911 aufgenommen wurde. Dort erkrankte er gleich in den ersten Tagen an Malaria und erhielt Chinin. Im Blut wurden „typische Halbmonde“ (der Tropica, also der schwersten Form der Malaria) nachgewiesen. Im März 1912 erstellte der Friedrichsberger Psychiater Georg Glüh29 ein 37-seitiges psychiatrisches Gutachten über P. und unterstrich darin – auf Grundlage einer äußerst dubiosen Begründung –, dass dieser weitgehend hereditär 26 27 28 29
Akte Friedrichsberg Nr. 24557. Ziemann 1908. Akte Friedrichsberg Nr. 34189. Über ihn wissen wir nur, dass er seit 1. Januar 1910 in der Friedrichsberger Anstalt tätig war (Weygandt 1922, S. 6). Im Juli 1912 wurde er als Abteilungsarzt vereidigt (StAHH, Akte Glüh). In dem hier angeführten Gutachten unterzeichnet Glüh bereits als Abteilungsarzt. Weygandt erwähnt ihn auch 1928 noch als einen von fünf Abteilungsärzten in Friedrichsberg (Weygandt 1928, S. 17). Viele Friedrichsberger Gutachten sind ohne Unterschrift und somit keinem bestimmten Psychiater zuzuordnen. Die ärztlichen Einträge in den Friedrichsberger Krankenakten sind zu dieser Zeit grundsätzlich noch nicht mit den Namen der behandelnden Psychiater
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belastet sei. Der Gutachter kam zu folgendem Schluss: „Gerade bei der in Frage stehenden Psychose des Herrn Dr. P[…], welche die innigen Beziehungen zur Malaria hat, […], ist das Moment der Prädisposition wichtig.“ Auch wenn der Gutachter in der Infektionskrankheit eindeutig den auslösenden Faktor der Psychose sah, lag das ausschlaggebende Moment für P.s psychische Störungen für ihn doch woanders: „Bestehen bleibt immer die Prädisposition des Kranken durch die Heredität.“ Als neben der Malaria begünstigende Aspekte für das Auftreten der Krankheit werden auch die „tropische Sonnenbestrahlung“ und die allgemeinen „Schädlichkeiten des Tropenlebens“ angeführt. Greifbar wird hier ein Erklärungskonzept, das von einem Primat der heimischen, familiären Zusammenhänge (Erblichkeit) gegenüber dem tropischen Kontext ausgeht. Erkennbar wird eine kausale Unbestimmtheit zwischen Irrsinn und Malaria durch deren zweifache Unterordnung: Die Malaria wird erstens gegenüber dem Endogenen (innere Konstitution) nachrangig behandelt und sie wird zweitens nur noch als einer von mehreren (gegebenenfalls zusammenwirkenden) exogenen Faktoren betrachtet, die unter bestimmten Umständen und bei bestimmten Menschen psychische Störungen und Erkrankungen auslösen konnten. Dieses psychiatrische Erklärungsmodell findet sich auch in der Krankenakte eines anderen „Kolonial-Patienten“. Der 27-jährige Bureaugehilfe Paul L.30 wurde am 2. Oktober 1913 in die Irrenanstalt Friedrichsberg eingeliefert. L. war zuvor längere Zeit in Kamerun tätig gewesen. Auch über ihn wurde – im Auftrag des Reichs-Kolonialamtes – in Hamburg ein Gutachten erstellt, in dem L. als „Psychopath“31 bezeichnet wird, der aus einer psychopathischen Familie stamme. Sein Vorleben lasse den „Rückschluss auf einen gewissen Grad einer geistigen Minderwertigkeit wohl rechtfertigen“. Der Friedrichsberger Gutachter glaubte, dass bei der geschwächten Widerstandskraft der psychopathischen Natur L.s unter dem Einfluss der Tropen, d. h. der klimatischen Verhältnisse, der ganz anderen Lebensbedingungen dort und schließlich auch schwächender Fieberanfälle, sich „eine stärkere psychische Alteration“ zunächst bemerkbar gemacht habe, bis durch bestimmte Ereignisse in L.s Umfeld die akute Erkrankung zum Ausbruch gekommen sei. Dieses Konstrukt nun drängte den Verfasser zu der „Annahme einer psychogenen Grundlage der psychischen Krankheitserscheinungen“. Auch hier ist – wie im letzten Fall – die Malaria bzw. das Fieber in ein multikausales und mehrstufiges Erklärungskonzept eingebunden. Besonderer Bezugspunkt ist wiederum die vermeintliche erbliche Belastung des Patienten, seine unterstellte „Minderwertigkeit“. Derartige Theorien und Ausdeutungen von Krankheit32 werden als zentrale Argumentationsmuster in der deutschen Kolonialmetropole greifbar. In den hier herangezogenen Dokumenten der kolonialen Peripherie kommen sie in dieser Form
30 31
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versehen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Akteneinträge in der Regel unterzeichnet. Akte Friedrichsberg Nr. 36910. Der Begriff der „Psychopathie“ im Sinne eines psychatrischen Konzepts der Persönlichkeitsstörungen des Menschen geht ursprünglich auf die Arbeit Julius L. A. Kochs über die „Psychopathischen Minderwertigkeiten“ zurück. Koch ging dabei von organpathologischen Schädigungen des Gehirns aus (Koch 1891–93). Vgl. Krämer 2012.
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nicht zum Tragen. Ziemann stellt im Gegenteil fest, „daß bei Malaria zuweilen Wahnvorstellungen, die während der Fieberdelirien entstehen, auch bei geistig gesunden bzw. nicht gerade als geistig krank zu bezeichnenden Menschen nach Heilung der Malaria bestehen bleiben können“.33 Doch im Fall von Paul L. wurde die Theorie von der Realität eingeholt. Einige Tage später bekam er in der Friedrichsberger Anstalt Malariafieber, wodurch sich sein körperlicher und vor allem psychischer Zustand erheblich verschlechterte. Er wurde daraufhin einer Chininbehandlung unterzogen und das Gutachten über ihn interessanterweise einer Revision. Die Diagnose lautete nun „Infektiöser Schwächezustand“34, nachdem vor Ausbruch des Fiebers noch Dementia praecox in Erwägung gezogen worden war. Die unerwartete Konfrontation mit der Wirkung der Fieberattacken auf L.s Psyche und seine Gesamtkonstitution provozierte eine Verschiebung der ärztlichen Perspektive. Wurde ursprünglich in dem Friedrichsberger Gutachten von den Lebensumständen und Gesundheitsrisiken in Afrika in gewisser Hinsicht abstrahiert, so führte die unmittelbare Erfahrung, wie stark die Malaria – als quasi kolonialer Kontext in der Anstalt – auf L.s geistige Verfassung wirkte, zu einem höheren Grad an Kontextbezogenheit in der Deutung seiner psychischen Probleme, zu einer den tropischen Kontext der Krankheitsgenese stärker betonenden Diagnose. Hier nun trat die Malaria als spezifischer, den Wahn generierender Faktor in das Zentrum der Betrachtung und das Konstrukt der „psychopathischen Natur“ in gewisser Hinsicht in den Hintergrund. Allerdings maß Kraepelin auch bei Entstehung der Erschöpfungspsychosen nach Malaria, Typhus oder Pocken der „krankhaften Veranlagung“ eine weit größere Bedeutung zu als bei Fieberdelirien und ging davon aus, dass in erster Linie die „weniger widerstandsfähigen Persönlichkeiten“ den krankmachenden Einflüssen unterliegen.35 Doch die Diagnose L.s war hier ohne Zweifel neu justiert worden. Im Spannungsverhältnis zwischen kolonialer Peripherie und europäischem Zentrum oder anders gesagt: zwischen dem unmittelbaren Erleben des tropischen Kontexts und seiner Abstraktion wird ein spezifisches Changieren der Wahn-Figuration „Malaria und Psychose“ sichtbar, das primär aus der Wahrnehmung und Beschreibung verschiedener Krankheitsstadien und unterschiedlichen fachlichen Deutungsmustern resultierte. Greifbar wird ein Unschärfebereich bei der Deutung der Malaria als Auslöser bzw. Ursache einer bestimmten Psychoseform. Bestimmend sind hier jedoch keineswegs Gegensätze oder Widersprüche zwischen Zentrum und Peripherie, sondern vielmehr Verschiebungen der ärztlichen Perspektive, der Krankheitsphasen und der räumlichen Zusammenhänge. Dies gilt auch für das nächste Kapitel.
33 34 35
Ziemann 1908, S. 501. Vgl. Kraepelin 1904, S. 27–33. Kraepelin 1903, S. 43.
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3. EIN FALL VON INDUKTIONSPSYCHOSE? – KONTROVERSE ZWISCHEN ZENTRUM UND PERIPHERIE Es soll nun auf zwei Fälle eingegangen werden, die im Jahre 1909 Gegenstand einer fachlichen Kontroverse zwischen dem Kaiserlichen Regierungsarzt Adalbert Raebiger (Victoria/Kamerun) und dem Friedrichsberger Psychiater Max Sierau in der Deutschen medizinischen Wochenschrift (DmW) waren. Am 19. Oktober 1908 wurden der 31-jährige Pflanzungsleiter Carl H.36 und sein 27-jähriger Assistent Anton S.37 in die Irrenanstalt Friedrichsberg eingeliefert. Beide waren zuvor auf demselben Schiff, dem Dampfer „Hans Woermann“, aus Kamerun zurück nach Deutschland gekommen. Sie hatten bereits gut ein Jahr als einzige Europäer auf einer kleinen Pflanzung im Südwesten Kameruns gelebt und gearbeitet, als H. im August psychisch erkrankt war. Unmittelbar darauf war S. in eine schwere seelische Krise geraten, hatte die Arbeiter auf der Plantage ihre Arbeit einstellen lassen, weil alles keinen Sinn mehr habe, und schließlich dem einheimischen Aufseher seine Browning mit der Aufforderung in die Hand gedrückt, ihn zu erschießen. Raebiger als zuständiger Arzt in Victoria hielt die psychische Erkrankung von Anton S. für einen „Schulfall von sogenannter Induktionspsychose“ und veröffentlichte beide Fälle Mitte 1909 in der DmW. Interessant ist seine Begründung für die eher ungewöhnliche Diagnose: Die an sich nachdenklich stimmende Einsamkeit des afrikanischen Urwaldes wird einen psychisch nicht gerade robusten Menschen, der allein, als einziger Weißer, mit einem Geisteskranken zusammenleben muß, selbstverständlich leichter über die Grenze psychischer Gesundheit hinweggleiten lassen als die heimische europäische Umgebung, die, auch unter denkbar unkultivierten Verhältnissen, stets mannigfache Gelegenheit zu geistiger Ablenkung bietet.38
Raebiger plädierte also angesichts der besonderen Bedingungen einer einsamen Pflanzungsstation in Kamerun für eine besondere Form des Wahnsinns, nämlich eine induzierte wahnhafte Störung.39 Er verortete die Krankheitsgenese bei Anton S. ursächlich im tropischen Kontext. Zwar räumt Raebiger der deutschen Leserschaft gegenüber ein, dass eine gewisse Prädisposition immer Voraussetzung für die Entstehung derartiger Erkrankungen sei, doch fehlt seinem Begriff der Prädisposition die nötige kategoriale Schärfe, wenn er etwa auch „religiös besonders tief veranlagte Individuen“ zu dem gefährdeten Personenkreis zählt, der in höherem Maße 36 37 38 39
Akte Friedrichsberg Nr. 29630. Akte Friedrichsberg Nr. 29631. Der Nachname des Assistenten beginnt wie der seines Vorgesetzten mit dem Buchstaben H. Um eine gute Lesbarkeit zu ermöglichen, wird dieser Patient auf den folgenden Seiten als Anton S. bezeichnet. Raebiger 1909, S. 1094. Die Literatur über dieses Phänomen ist relativ unübersichtlich und widersprüchlich. Es geht grundsätzlich um Fälle, bei denen im Anschluss an die primäre Erkrankung einer Person eine zweite, mit jener eng zusammenlebende Person psychisch erkrankt. Vor allem die Frage, ob in solchen Fällen die Übertragung durch die erste Person oder die Aneignung durch die andere das stärkere Moment darstellt, wurde kontrovers diskutiert. Auch in der Frage, ob beide Geisteskrankheiten beim „induzierten Irresein“ in ihrem Wesen identisch sein müssen oder die sekundäre Erkrankung durchaus eigene Züge annehmen könne, waren die Meinungen gespalten. Vgl. zur Literatur Anm. 44.
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empfänglich für Geisteskrankheiten sei. Wenn Raebiger am Schluss seines Artikels betont, dass bei beiden Patienten, die er in seinem Beitrag vorstellt, „erbliche Belastung oder sonstige psychische Minderwertigkeit mit Sicherheit nicht nachweisbar“ seien, im Fall von S. aber sicherlich „ein gewisses Maß psychischer Labilität von Hause aus“ wahrscheinlich sei40, so erweisen sich die vorherigen Überlegungen zur Prädisposition als im Wesentlichen spekulativ. Sie verweisen eher allgemein auf die gängigen psychiatrischen Erklärungsmuster der Metropole, die Diagnose „Induktionspsychose“ im Fall von S. demgegenüber aber ganz konkret auf den tropischen Kontext, die Lebensbedingungen in der kolonialen Peripherie. In den beiden Friedrichsberger Krankenakten von H. und S. finden sich ausführliche Explorationen überliefert. Im Subtext lassen sich beide Patientenbefragungen auch als Untersuchung einer möglichen homosexuellen Beziehung41 lesen, also als eine Art Verhör zu einer Straftat.42 Schließlich veröffentlichte der zuständige Hamburger Arzt, der bereits erwähnte Friedrichsberger Psychiater Max Sierau43, im Dezember 1909 in der DmW eine „Epikrise“, wie er es nannte, zu den von Raebiger im gleichen Fachorgan zuvor mitgeteilten Fällen und suchte dessen Annahme einer „Induktionspsychose“ bei Anton S. zu widerlegen. Diese definierte Sierau nicht nur anders44, was hier nicht im Detail dargelegt werden kann, sondern er kam – und dies ist der entscheidende Punkt – letztendlich zu dem Schluss, dass es sich, so wörtlich, „um einen rein zeitlichen, in keinerlei kausalem Zusammenhange miteinander stehenden Zusammenfall zweier sich unabhängig voneinander entwickelnden Psychosen“ handele.45 Sierau spricht viel im Konjunktiv. Er weiß eigentlich vieles nicht genau, legt aber dar, wie das Irresein von Anton S. nach den zeitgenössischen psychiatrischen Erklärungsmodellen zu deuten sei. Sierau vermutete, dass die Aufregung des Assistenten über den Wahnsinn seines Vorgesetzten (neben der Anstrengung durch Nachtwachen) allenfalls eine „Gelegenheitsursache“ der Krankheit gewesen sei, vielleicht aber auch nur ein auslösendes Moment, insofern als möglicherweise bei beiden Erkrankten gleichermaßen zur Wirkung gelangende äußere Schädlichkeiten (Klima, Abgeschlossenheit von der Außenwelt, einseitige Ernährung, Malariaanfälle, fortgesetzter Chiningebrauch) die Psychose herbeiführten, während unbekannte endogene Faktoren die Prädisposition zu derselben abgegeben haben dürften.46
Während Raebiger mit dem Begriff der „Induktionspsychose“ das Irresein von Anton S. ursächlich in den Kontext einer einsamen afrikanischen Pflanzung stellen 40 41 42 43 44
45 46
Raebiger 1909, S. 1095. Vgl. Aldrich 2003; Schmidt 2008. § 175 (RStGB). Max Sierau (1874–1931): 1901–1910 Assistenz-, später Abteilungsarzt an der Irrenanstalt Friedrichsberg; Oberarzt an der Hamburger Anstalt Langenhorn (StAHH, Personalakte Sierau; Weygandt 1922, S. 6). Sierau stützt sich primär auf die Arbeiten von Wollenberg (1889) und Schönfeldt (1894), nicht aber auf die einschlägige Abhandlung seines Vorgesetzten Wilhelm Weygandt (1905), der seit 1908 Direktor der Friedrichsberger Anstalt war. Zur heutigen Diskussion vgl. u. a. Jabs (et al.) 2008. Sierau 1909, S. 2263. A. a. O.
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wollte, definierte Sierau die Ursachen, besser gesagt die Auslösung der aufgetretenen Erkrankung zwar nicht kontextunabhängig, aber doch in einer Form, welche die in Frage stehenden Zusammenhänge nur sehr mittelbar erfasste. Wie im Fall der Malaria wurde auch die Isolation einer abgeschiedenen Pflanzung dem Endogenen untergeordnet. Dabei störte es Sierau nicht, dass er über die von ihm hervorgehobenen, vermeintlich ausschlaggebenden endogenen Faktoren überhaupt nichts anzuführen wusste. Sie wurden einfach vorausgesetzt. Und ebenso wie die Malaria verlor auch die Einsamkeit auf der Plantage ihren für den fraglichen Fall singulären Stellenwert und wurde summarisch, quasi als eine Art Allgemeinplatz für solche Fälle, neben andere „Schädlichkeiten“ der Tropen gestellt, die aber allesamt nur als sekundäre Faktoren für die Entstehung psychischer Störungen in den Kolonien definiert wurden. Raebiger scheint demgegenüber in Kamerun einen weniger dogmatischen Blick auf das psychiatrische Konstrukt der Prädisposition gehabt zu haben. Erkennbar wird hier für die europäische Metropole erneut – wie schon bei den Malaria-Fällen im vorigen Kapitel – ein höheres Maß an Abstrahierung von konkreten externen Einflüssen im Kontext der Krankheitsgenese und eine Fokussierung auf die vermeintliche „Minderwertigkeit“ bzw. erbliche Belastung des Betroffenen. Da diese in den bisher betrachteten Fällen entweder gar nicht oder nur sehr unzulänglich belegt bzw. begründet wurden, bleibt der gesamte Erklärungsansatz der Hamburger Psychiater diffus. Greifbar werden weniger konkrete Wissensbestände als vielmehr Deutungsexperimente und ein gewisser Dogmatismus, der die Zusammenhänge zwischen den Lebensformen und -umständen und den Figurationen des Wahns in der kolonialen Peripherie eher nivelliert als hervorhebt. 4. SEX, MORAL UND PSYCHOSE IM SPANNUNGSFELD VON KOLONIALER PERIPHERIE UND IMPERIALEM ZENTRUM Die Kolonien bildeten zweifellos eine wichtige Projektionsfläche für sexuelle Phantasien, Sehnsüchte, Träume, aber auch Ängste. Viele Männer gingen gerade auch deshalb nach Afrika, weil sie glaubten, dort ihre sexuellen Vorlieben, gerade auch in Abweichung von den europäischen Normen, in freizügiger Atmosphäre und weitestgehend außerhalb gesellschaftlicher Kontrolle befriedigen zu können.47 Äußerst interessant in diesem Zusammenhang ist die Hamburger Krankenakte des Ludwig Freiherrn von R.48, Hauptmann der deutschen „Schutztruppe“ in Ostafrika. Sexuell sei er, so teilte er dem behandelnden Psychiater in Friedrichsberg mit, als junger Leutnant in Deutschland nicht allzu aktiv gewesen. Es sei ihm oft passiert, dass der erigierte Penis im entscheidenden Moment, so wörtlich, „einfach zusammengeklappt sei“. Schließlich habe er sich „direkt gefürchtet zum Weib zu gehen“. Er wollte sich nicht blamieren. In Afrika habe er dann alles nachgeholt. Bei den „schwarzen Weibern“ habe er stets Erfolg bei Ausführung des Coitus gehabt. Was R. hier mit stolzgeschwellter Brust in der Hamburger Anstalt über seine Afrika47 48
Vgl. Hyam 1990. Akte Friedrichsberg Nr. 28552.
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Abenteuer erzählte, brachte andere Patienten, wie gleich gezeigt werden soll, in größte Gewissensnöte. Doch auch R. wurde schließlich von Irritationen eingeholt, die primär in seinem Geschlechtsleben wurzelten. Seine psychischen Störungen, die zu seiner Ausweisung aus Ostafrika führten, hatten ihren Bezugspunkt nämlich vor allem in der „Wahnidee, von einer Dame unglücklich geliebt zu sein“, wie der Stabsarzt in Daressalam es formulierte. Auch in Afrika konnte R. den weißen Frauen nicht völlig aus dem Weg gehen und kam in diesem Fall nun überhaupt nicht mehr zurecht. Nicht wenige der aus Afrika zurückgekehrten Friedrichsberger Patienten litten unter schweren Depressionen, Selbstanklagen und Versündigungsideen. Gerade hier spielten sexualmoralische Fragen hinein. Mit leiser, ängstlicher Stimme gab etwa der aus Kamerun zurückgekehrte 36-jährige Regierungskapitän Karl W.49 in der Hamburger Anstalt zu Protokoll, dass er ein sehr schlechter Mensch sei. Er habe sich in Afrika mit „schwarzen Weibern“ abgegeben, und zwar in einer Art und Weise, wie es sich nicht gehöre. Er sei inzwischen auch geschlechtskrank gewesen. Nun werde er dafür bestraft. Er werde wohl nicht mehr lange leben. Seine Familie müsse durch ihn leiden. Seine Ehefrau habe er angesteckt, als er in Deutschland auf Urlaub gewesen sei. Er bereue alles, wolle so gern sich wieder mit seinen Verwandten aussöhnen. Einen Tag später wird in Friedrichsberg notiert, dass er über weitere, so wörtlich, „perverse Sexualvergehen“ berichtet habe. Schlimmes, so W., habe er auch mit einem Schiffs-Steward namens Gustav gemacht. Er wolle gern wieder in anständige Gesellschaft, sei aber wohl dem Tode geweiht. W. war zuvor wegen „Melancholie“ aus dem Hafenkrankenhaus in die Friedrichsberger Anstalt überwiesen worden. An Bord des Dampfers „Eleonore Woermann“ hatte er, aus Duala kommend, vor seiner Ankunft in Hamburg noch versucht, sich zu erschießen. Dieser Fall zeigt die Schwierigkeiten eines aus Kamerun zurückgekehrten Patienten, das sexualmoralische Wertesystem in Europa mit den eigenen sexuellen Erfahrungen und Handlungen in Afrika mental vereinbaren zu können. Der moralische Konflikt äußert sich bei Karl W. auf der Familienebene. Mit der Ansteckung seiner Ehefrau bleibt die Schuld nicht moralisch-abstrakt, sondern wird auf eine für ihn erschreckende Art konkret. Sie wird zudem schmerzlich spürbar durch die daraus resultierende soziale Isolierung, den familiären Boykott seiner Person. Wie sehr die Wahnvorstellungen einiger aus den Kolonien zurückgekehrter Friedrichsberger Patienten in dieser Richtung bestimmt waren, zeigt auch der Fall des 29-jährigen Kanzlisten Thomas S.50 aus Daressalam. Dort hatte er Stimmen gehört, die ihm, wie er in Hamburg erzählte, „perversen Verkehr mit schwarzen Weibern vorwarfen“. Ähnlich erging es dem etwa gleichaltrigen Adolf B.51, einem Unteroffizier der deutschen „Schutztruppe“ in Deutsch-Südwestafrika. Seiner Krankengeschichte aus dem Garnisonslazarett in Windhuk ist zu entnehmen, dass B. in Afrika zunehmend das Gefühl hatte, man spreche über ihn und zeige mit den Fingern auf ihn. Man verdächtige ihn, an einem – so der damalige Jargon – 49 50 51
Akte Friedrichsberg Nr. 28577. Akte Friedrichsberg Nr. 29210. Akte Friedrichsberg Nr. 27986.
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„Kafferweib“ Notzucht begangen zu haben. In Friedrichsberg diagnostizierte man „Paranoia“. Die Gewissensnöte der zitierten Friedrichsberger Patienten infolge ihrer Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungen in der kolonialen Peripherie sollten nicht nur vor dem Hintergrund der in Deutschland herrschenden christlichen Sexualmoral interpretiert, sondern müssen ebenso in den Kontext der deutschen Kolonialskandale gestellt werden, die angesichts schwerwiegender sexueller Verfehlungen, Gewalt und Korruption in den sogenannten deutschen „Schutzgebieten“ eine zunehmend sensibilisierte, kritische und empörte Öffentlichkeit in der europäischen Metropolregion zur Folge hatten und den moralischen Druck zusätzlich erhöhten. In diesem Zusammenhang ist das imperiale Zentrum also primär als moralisches Referenzsystem von Bedeutung, dessen Einfluss und Wirkmächtigkeit nicht immer an den Küsten Europas endete. Inwieweit allerdings sexuelle Handlungen und Erlebnisse möglicherweise sogar konstitutiv für die Entstehung von Irrsinn in der kolonialen Peripherie waren und inwieweit es sich hier lediglich um bloße Ausformungen und Inhalte von Selbstanklagen und Versündigungsideen handelte, deren Ursachen doch eher woanders lagen, kann an dieser Stelle im Einzelnen nicht diskutiert werden. 5. DIE SCHIFFSPASSAGE ALS SCHWELLENPHASE ZWISCHEN KOLONIALER PERIPHERIE UND EUROPÄISCHER METROPOLE – DAS BEISPIEL DES FREIHERRN VON R. Während in den bisherigen Teilen dieses Beitrags auf der Grundlage von Krankenakten der Friedrichsberger „Kolonial-Patienten“ eine psychiatriehistorische Perspektivierung auf die relationalen Räume imperiales Zentrum und koloniale Peripherie vorgenommen wurde, soll in diesem abschließenden Kapitel auch das Dazwischen ausgelotet werden. Im Sinne einer Erweiterung der Perspektive um eine dritte Ebene wird die Schiffspassage als Schwellenphase zwischen Afrika und Hamburg Berücksichtigung finden. Dies soll mit Hilfe eines der interessantesten Friedrichsberger „Kolonial-Fälle“ geschehen, nämlich dem des bereits wiederholt genannten Hauptmanns der deutsch-ostafrikanischen „Schutztruppe“, des Ludwig Freiherrn von R.52 Die Krankengeschichte des 38-jährigen Offiziers ist durch seine Hamburger Patientenakte sehr gut dokumentiert. Ein Kernstück dieser Akte ist der mehr als 20 Seiten umfassende „Krankheitsbericht“ eines Stabsarztes, der von R. während der vierwöchigen Überfahrt von Tanga nach Neapel und von dort nach Hamburg Ende 1907 an Bord des Reichspostdampfers „Feldmarschall“53 der Deutschen Ost-Afrika-Linie begleitete. Aus dem Bericht erfahren wir, wie der Patient 52 53
Akte Friedrichsberg Nr. 28552. Die „Feldmarschall“ (Reiherstiegwerft, Hamburg) hatte am 21. Februar 1903 ihren Stapellauf und wurde am 24. Juni desselben Jahres in Dienst gestellt. Sie war 126,7 m lang und 15,4 m breit. Der Dampfer hatte 136 Mann Besatzung und konnte 113 Personen erster Klasse, 75 Passagiere zweiter Klasse und 80 Reisende dritter Klasse transportieren (Kludas 1975, S. 50; vgl. Kludas 1994, S. 20–35). Siehe auch die Abbildung des Schiffes in diesem Kapitel.
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untergebracht war, wie er sich an Bord des Schiffes verhielt, welche Freiheiten er dort genoss, welche Kontrollen notwendig waren und wie er seine Situation selbst empfand. Mit diesem und anderen Berichten über die Schiffspassage zwischen Afrika und Europa wird eine eigene Beschreibungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsebene in Bezug auf den „Tropen-Wahn“ von Europäern greifbar, die gerade bei der Analyse des psychiatrischen Einzelfalls nicht außer Acht gelassen werden sollte. Zwischen Peripherie und Zentrum, zwischen Afrika und die deutsche Hafenmetropole Hamburg tritt die Seereise als ein mehrwöchiges Übergangsstadium in einer außergewöhnlichen räumlichen Konstellation.54
Abb. 1: Reichspostdampfer „Feldmarschall“ 1903. Mit diesem Schiff wurde Hauptmann von R. zurück nach Deutschland gebracht. Quelle: Deutsches Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven.
Der den überaus manischen Hauptmann von R. während der Seereise begleitende Stabsarzt Dr. Gross war ein weitgehend passiver Beobachter. Er berichtete, was der Patient aß, trank, sagte und tat. Der Bericht ist chronologisch geordnet, relativ übersichtlich und inhaltlich homogen. Gross hatte von R. zu begleiten und zu beaufsichtigen. Für das leibliche Wohl des Hauptmanns an Bord sorgte ab Mombasa ein dort zugestiegener Sanitäts-Unteroffizier und außerdem sein afrikanischer Boy Hamich. Das, was Gross verfasste, war nicht mehr als ein Protokoll. Er hatte weder – wie der Stabsarzt in Daressalam – über R.s weitere Tropendienstfähigkeit oder 54
Foucault bezeichnet das Schiff als „Heterotopie“ par excellence (Foucault 2005, S. 21 f.). Schiffe seien ein Stück schwimmender Raum, „Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert“.
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seine Tropenuntauglichkeit (mit Ausweisung) zu befinden noch erwartete man von ihm eine psychiatrische Diagnose oder ein fachmedizinisches Gutachten, etwa für das Reichs-Kolonialamt. Damit hatten sich die Hamburger Psychiater zu beschäftigen. Während der Berichterstatter den Kranken auf dem Schiff nicht explorierte, geschah genau das nach Ankunft in Hamburg in der Friedrichsberger Anstalt. Hier wurde von R. wohl auch nicht nur von einem Psychiater, sondern von mehreren wahrgenommen, befragt und in seinem Verhalten beschrieben. Hier sprach er über sich und sein Leben. Zudem gab es in der Anstalt immer wieder längere Zeiträume, in denen keine ärztlichen Einträge in R.s Akte vorgenommen wurden. Die Hamburger Krankengeschichte ist dementsprechend inhaltlich sprunghafter, auch vielschichtiger und kompakter als der Schiffsreport. Dies hat auch Auswirkungen auf die jeweils beschriebene Wahnfiguration. Der in Daressalam für Ludwig von R. zuständige Stabsarzt Exner war kein Psychiater. Patienten mit Nerven- oder Geisteskrankheiten waren in seinem Garnisonslazarett die Ausnahme. Die Bevölkerungsstärke der weißen Bewohner lag bei 2.734. Zwischen dem 1. April 1907 und dem 31. März 1908, dem Zeitraum also, in dem auch der Fall des Freiherrn von R. sich ereignete, wurden dort insgesamt 2.261 Patienten behandelt. Der Zahl von 791 behandelten Personen mit Infektionskrankheiten, davon 617 mit Malariafieber, stehen 62 Patienten gegenüber, die wegen Erkrankung des Nervensystems behandelt wurden, davon einer wegen Geisteskrankheit, einer wegen Krankheit des Gehirns und zwei wegen Hysterie. Genau die Hälfte der Fälle, nämlich 31, wurde der Kategorie Neurasthenie zugeordnet. Dabei dürfte es sich um nicht allzu schwere nervöse Störungen gehandelt haben. Für diese Patienten ergibt sich eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Krankenhaus von fünf Tagen bzw. in der Poliklinik von elf Tagen. 18 der Patienten mit Krankheiten des Nervensystems hatten „Erkrankungen im Gebiete einzelner Nervenbahnen“ und dürften in psychiatrischer Hinsicht kaum relevant gewesen sein.55 Diese Zahlen aus den amtlichen Statistiken der „Medizinal-Berichte über die Deutschen Schutzgebiete“ machen deutlich, dass die Stabsärzte in Daressalam wohl in der Regel nicht allzu oft mit schwerwiegenderen Formen von psychischen Erkrankungen konfrontiert waren. Demgegenüber hatten die Psychiater in der Friedrichsberger Anstalt täglich mit einer großen Zahl schwerster Formen von Geisteskrankheit zu tun. Sie behandelten und begutachteten den ganzen Tag nichts anderes als den Irrsinn ihrer Patienten. Als Ludwig von R. am Weihnachtstag 1907 in Friedrichsberg eingeliefert wurde, hatte die Anstalt einen Krankenbestand von rund 1.400 Personen.56 Es liegt auf der Hand, dass die Beurteilungskriterien sowie die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsschwellen bei dem verantwortlichen Stabsarzt in Daressalam andere waren als bei einem Psychiater in Hamburg. Hier spürt man im Hintergrund das – man könnte sagen – „Rauschen“ der Routine, des Wissens um die vielen Formen von Irrsinn und des Prozesses einer Einordnung von R.s Wahn in die gängigen psychiatrischen Raster der Zeit. Hauptmann von R. sah sich in Hamburg angesichts der sicherlich 55 56
Medizinal-Berichte für 1907/08, S. 123–128. Ärztliche Statistik für 1907, S. 71–74. Am 31. Dezember 1907 wird in Friedrichsberg ein „Bestand“ von 730 männlichen und 697 weiblichen Patienten verzeichnet.
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irritierend großen Zahl von Geisteskranken, mit denen er auf dem Anstaltsgelände interniert war, plötzlich einer völlig veränderten Situation gegenüber, die natürlich etwas mit ihm machte. Und er sah sich einer anonymen Instanz gegenüber, dem Psychiater, der sich auch noch um viele andere wie ihn zu kümmern hatte. Seine Stellung in Afrika und auf dem Schiff erscheint dazu auffallend different. Am Vorabend seiner Abreise aus Daressalam unternimmt der ihn behandelnde Stabsarzt Dr. Exner mit dem erkrankten Hauptmann eine Spazierfahrt „im Rickschau am Strande entlang“ und führt ein angeregtes Gespräch mit ihm. Arzt und Patient gehören beide der relativ kleinen Gruppe der führenden deutschen Handlungsträger in Daressalam an. Trotz von R.s Erkrankung gehören sie weiterhin der gleichen Seite an. Man kennt sich. Die koloniale Herrschaftsstruktur setzt sich an Bord des Dampfers „Feldmarschall“ fort. Während der Schiffsüberfahrt steht von R. weiterhin sein schwarzer Boy zur Verfügung – zu seiner Bedienung und zur Misshandlung. Zunächst genießt der verrückt gewordene Offizier eine gewisse Freiheit an Bord, die allerdings bald zu Konflikten führt: „Gegen 5 Uhr früh brachte man mir die Nachricht, daß von R[…] wieder sehr aufgeregt sei, im Speisesaal Ballett getanzt und jongliert habe, überall im Schiff herumlaufe und mit Passagieren sich streite.“ Herbeigerufen, sah Gross von R. in ein Rettungs- oder Brandungsboot steigen und ein Glas mit großer Wucht auf Personen schleudern, die in der Nähe standen. Danach verschärfte Gross die Kontrolle. Angesichts der von Exner in Daressalam festgestellten Selbstmordideen R.s war dessen unbeaufsichtigtes Herumlaufen auf dem Schiff nicht gerade ungefährlich. Er hätte über Bord springen können.57 Dies mag hier als eine erste Annäherung an diesen besonderen Fall von „Tropen-Wahn“ genügen. In R.s Krankenakte wird gerade im Zusammenspiel aller drei Textebenen, der Krankengeschichte aus Afrika, dem Reisebericht und den ärztlichen Einträgen in Friedrichsberg, das fesselnde Bild eines „verrückten“ Kolonialoffiziers greifbar. Besonders durch den Bericht des R. begleitenden Stabsarztes an Bord der „Feldmarschall“ gewinnt dessen Friedrichsberger Akte fast literarische Qualität, erhält R.s Wahn entscheidende Konturierung. Durch den Irrsinn des Offiziers, dargestellt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, wird der Habitus des 57
Hier ist auch der Bericht des Schiffsarztes des Dampfers „Kanzler“ der Deutschen Ost-AfrikaLinie in der Akte des in Kapitel 2 erwähnten Patienten Karl K. (Akte Friedrichsberg Nr. 24557) von Interesse, welcher infolge seiner Malariaerkrankung unter schweren Geistesstörungen litt: „Er versuchte an Bord 2mal Selbstmord, einmal sprang er über die Reling, wurde aber wieder aufgefischt. Daraufhin wurde das Lazarett ausgeräumt und Patient unter dauernde[r] Wache gestellt. Jeden Tag wurde er mehrere Stunden an Deck spazieren geführt.“ An anderer Stelle heißt es: „Das Hospital wird jetzt ganz ausgeräumt u. in eine Irrenzelle verwandelt. Der Kranke wird durch ein Loch in der Tür beobachtet u. tgl. 2 Stunden an Deck spazieren geführt.“ Im Gegensatz zum Bureaugehilfen Karl K. hielt sich Ludwig von R. immerhin in einer Kabine II. Klasse auf, was trotzdem wiederholt massive Entrüstungsausbrüche hervorrief. Am 30. November 1907 legte er sich seine Uniform an, schimpfte lauthals und sagte schließlich: „Der Passagier Freiherr v. R[…], – Passagier I. Klasse, wünscht seine Kabine I. Klasse jetzt sofort, keine 5 Minuten bleibe ich länger hier, sonst gibt es Krach; der Sturm wird sofort wieder los gehen, wenn ich, der Baron v. R[…], der Passagier I. Klasse, binnen 2 Minuten diese Kabine nicht verlassen kann.“ Anschließend pfiff er und klatschte in die Hände.
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deutschen Herrenmenschen ins geradezu Groteske gesteigert: „Ich will so rasch wie möglich zurück nach Afrika, um meine Pflicht zu erfüllen für seine Majestät den Kaiser, Hurrah; […].“ Sprach es, nachdem ihm kurz zuvor noch der Schaum vom Mund gewischt werden musste. R.s zunehmende Erregung und Irritation, seine ins Pathologische sich steigernde Herrschsüchtigkeit und Verachtung für andere und sein maßloser gesellschaftlicher Dünkel erscheinen im Kontext der wilhelminischen Gesellschaft, ihrer kolonialen Arroganz, ihres Militarismus und Rassismus aus heutiger Sicht weniger wie der Beginn einer individuellen Erkrankung als vielmehr wie eine erhellende Steigerung des ganz „normalen“ Wahnsinns dieser Zeit. So lässt sich R.s Akte denn auch als eine verblüffende Satire auf den Wilhelminismus lesen. 6. FAZIT Eine Betrachtung der relationalen Räume der kolonialen Peripherie und des europäischen Zentrums unter psychiatriehistorischen Gesichtspunkten wird – zumindest auf der Grundlage des herangezogenen Hamburger oder vergleichbaren Quellenmaterials – immer auch die Seepassage als eine dritte Wahrnehmungs-, Beschreibungs- und Deutungsebene des in den afrikanischen Kolonien aufgetretenen Wahnsinns von Europäern mit einbeziehen müssen. Greifbar wird eine mehrwöchige Schwellenphase in einer außergewöhnlichen räumlichen und sozialen Konstellation, die den Wahn mit figuriert und – im Falle von Suizidgefahr – vor allem durch besondere Gefährdungen und entsprechende Schutzvorkehrungen charakterisiert wird. Das Beispiel des Hauptmanns von R. aus Ostafrika zeigt, dass der Wahn im Wechsel der drei Ebenen erkennbar changiert. Dennoch ist im Sinne eines analytischen Zugriffs der Vergleich von Peripherie und Zentrum (ohne ein Dazwischen) insofern erkenntnisleitend, als Verschiebungen der ärztlichen Perspektive, der Krankheitsstadien, der räumlichen Kontexte klarer hervortreten und Unschärfebereiche in der Deutung von Krankheit sichtbar machen. Sowohl die besprochenen Fälle der Wahn-Figur „Malaria und Psychose“ als auch der ungeklärte Fall einer vermuteten Induktionspsychose verweisen im Verständnis der Krankheit erstens für die koloniale Peripherie auf eine stärkere Orientierung am natürlichen und sozialen Kontext in Afrika (Malaria, einsame Plantage) und zweitens für die deutsche Hafen- und Kolonialmetropole Hamburg auf diverse, von diesen Kontexten eher abstrahierende Krankheitsmodelle. Begriffe wie „Prädisposition“, „hereditäre Belastung“, „Psychopathie“ oder „psychische Minderwertigkeit“ verweisen auf eine Diagnosefindung, die sich von unmittelbar erfahrbaren Zusammenhängen weitestgehend gelöst und sie durch häufig unbestimmte, z. T. diffuse Diskurse ersetzt hat, die vielleicht weniger etwas mit den Erkrankten selbst als mit den gesellschaftlichen Entwürfen und Erklärungsmodellen in immer differenzierteren und umfassenderen sozialen Figurationen zu tun haben. Die deutschen Ärzte in Afrika waren keine Psychiater. Gerade letztere aber waren federführend an der Entwicklung der breit gefächerten Degenerations- und Entartungstheorien und der auf ihnen basierenden Prädispositionsvorstellungen in
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Bezug auf Krankheit beteiligt. Hintergrund dieser Theorien war vor allem die Frage nach den Folgen der sozialen und hygienischen Probleme in den rasant wachsenden Ballungszentren Europas. Die alltäglichen Erfahrungen in den ungleich geringer ausdifferenzierten gesellschaftlichen Zusammenhängen Afrikas unterschieden sich von diesen Realitäten fundamental. Außerdem stand hier die Unterscheidung zwischen Schwarzen und Weißen, weniger die Differenzierung der „Herrenrasse“ nach „minderwertig“ oder „vollwertig“ im Vordergrund. Wichtig aber war vor allem der differente Erfahrungshorizont der Ärzte in Afrika im Vergleich zu denen des imperialen Zentrums, d. h. die unmittelbare Wahrnehmung, das eigene Erleben des Zusammenhangs von Malaria und psychischer Devianz bei den betroffenen Patienten im Frühstadium der Krankheit. Schließlich ist unter psychiatriehistorischen Gesichtspunkten noch eine weitere Perspektive auf das Thema „Zentrum und Peripherie“ anzuführen, nämlich die Betrachtung der vom sexualmoralischen Bezugssystem des imperialen Zentrums deutlich abweichenden sexuellen Praktiken vieler Europäer in Afrika und der seelischen Störungen, die eine Verletzung der europäischen Moral in der kolonialen Peripherie bei einigen deutschen Kolonialbediensteten hervorrief oder die dadurch zumindest inhaltlich konturiert wurden. REFERENZEN Ungedruckte Quellen Akte[n] Friedrichsberg: Historisches Krankenblatt-Archiv des Hamburger Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Patientenakten der Irrenanstalt, später Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. StAHH, Akte Glüh: Staatsarchiv Hamburg, 111–1 (Senat), Cl.VII Lit.Qb No.8 Vol.103 Fasc.16 Inv.1o. StAHH, Personalakte Sierau: Staatsarchiv Hamburg, 352–10 (Gesundheitsverwaltung – Personalakten), 207.
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SEKTION III: PSYCHIATRIEGESCHICHTE JENSEITS DER NATION UND DES EUROPÄISCHEN KONTINENTS
CENTRES AND PERIPHERIES IN THE PERIPHERY Medicine and Psychiatry in British India, c. 1920–1940 Waltraud Ernst Issues of power and the relationship between centre and periphery are defining elements of a colonial context. Any aspect within this realm, including medicine and psychiatry, requires positioning within its structural framework. The restrictions, challenges and opportunities faced by colonial agents need examination and their role in the transformation of existing structures has to be considered. Psychiatry in early twentieth-century British India constitutes an intriguing example of the shifting boundaries of colonial rule that go along with the establishment of a new imperial order during the decades prior to Indian Independence in 1947.1 This period was characterised by de-centralisation of the structures of governance by means of ‘provincialisation’ – the devolution of power to individual provinces – and the ‘Indianisation’ of administrative and professional agency through the appointment of Indians to senior positions in the colonial service. This chapter focuses on some aspects of the processes of structural de- and re-centring and on how they impacted on and were shaped by Indian psychiatrists. MAPPING MULTIPLE AND SHIFTING CENTRES AND PERIPHERIES Postcolonial writers such as Chakrabarty2 have argued that what we consider the ‘centre’ depends on our vantage point and on the provenance of the particular map we are looking at. Even within the confines of directly ruled British India, some areas were more peripheral than others. From the late eighteenth century, when the East India Company not only pursued trade but also engaged in military aggression and territorial occupation, Bengal developed as the supreme province of the Raj and the seat of the governor general and, from 1858, the viceroy. Governors in other provinces such as Madras and Bombay did not always appreciate their less prominent position within the colonial scheme of governance. The British decision to move the capital from Calcutta to Delhi in 1911 highlights the symbolic importance accorded to it as the centre of power. Delhi had been the capital of the Mughal Empire, whose last ruler, Bahadur Shah Zafar, the British had ousted in 1858. Reinstating Delhi as the centre of governance was an attempt to legitimise alien rule by linking it with the older ‘imaginary’ of Mughal power.3 At the same time, from the perspective of Calcutta and the context of the realpolitik in Bengal during the early 1 2 3
For an account of the situation in early nineteenth-century British India, see Ernst 1997. Chakrabarty 2000. Castoriadis 1987 [1975].
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twentieth century, the British move to Delhi could be seen as a flight from a centre of fierce anti-colonial resistance. The map of the British Empire was traditionally shaded in pink as a realm on which the sun never set. By the early twentieth century the legitimacy of Britain as the centre of this world became strongly contested. The British Raj, an area over 20 times the size of Britain, consisted of diverse regions that included parts of present-day Pakistan, Bangladesh, Burma as well as India proper. Although the cartographer’s pink signalled political hegemony by the metropolitan centre, the situation was more complex on the ground. About two fifths of South Asia was made up of a little over 600 separate Princely States. These were areas ruled by indigenous Rajas and Nawabs. One of these, like Hyderabad, was similar in size to Great Britain, while others were no bigger than a village. The term ‘princely’ signals that the rulers were considered as peripheral, with the British monarch alone deserving the supreme title of queen or king. Although the political power these Indian rulers possessed was greatly circumscribed by British influence, these states constituted centres of their own on the Subcontinent – real, in the case of some, and imagined in Benedict Anderson’s sense,4 in others. Centres and their peripheries are shifting constellations that are as often real in terms of military and economic power as they are imagined and redolent with symbolism. Multiple constellations co-exist even within hegemonic and seemingly clearly bifurcated contexts of power such as during British colonial rule in South Asia. Depending on the balances of power and resistance, particular centre – periphery constellations are actualised or privileged at specific times and localities, even if only in the realm of the imagined. LOCATING PSYCHIATRY IN THE PERIPHERY How can we locate psychiatry on the various maps of multiple centres and peripheries within the context of early twentieth-century British India? Given the historical shifts and the diverse perspectives that can be assumed from the vantage points of the powers that be and from varied subaltern positions, respectively, it is important to avoid undue generalisations. Focusing on the case of a psychiatrist enables us to trace the ways in which centres and peripheries in ‘the periphery’ that was colonial India had a bearing on, and were navigated by, one particular, and possibly other, medical professionals. J. E. Dhunjibhoy (1889–1972) was one of the first Indians trained in western medicine who was accredited as a senior member of the supreme Indian Medical Service (IMS). Prior to the policy of Indianisation, designed to replace European with Indian staff in key positions in the administrative and professional services, only Europeans were allowed to assume senior positions. Dhunjibhoy was made director of a newly built mental hospital in Ranchi, in north-east India, in 1925. Ranchi was considered an ideal location for a mental hospital. Its climate was sig4
Anderson 1982.
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nificantly cooler than the places where the mentally ill had previously been held in Calcutta (Kolkata), Dacca (Dhaka), and Berhampore. A favourable, soothing effect on patients’ minds was expected. Ranchi was also situated ‘up-country’, namely in a rural area and removed from large conurbations. A pastoral setting had been the location of choice for lunatic asylums in Britain from at least the nineteenth century. Alas, mental institutions in British India had tended to be close to urban centres such as Madras, Calcutta and Bombay (Mumbai). An island location, as in the case of the Colaba Asylum on Salsette, at Bombay, was as far removed from the hustle and bustle of town as a medical institution got during the nineteenth century. But, even here city life was still close as is attested by frequent complaints about the noise of the horn on the light tower that secured safe passage for the many ships heading for the busy harbour.5 Although within towns asylums were as far as possible placed in the peripheral suburbs, practicalities dictated that the distance to the centre should not be excessive. Lunatic asylums were one of many responsibilities of a city’s civil surgeon and his proximity to the institutions under his charge was crucial. Only once large-scale institutions such as Ranchi (catering for around 1,400 patients) emerged, did their superintendence become the responsibility of a specialist medical officer. Ranchi was in an area called Chota Nagpur, with a high proportion of tribal people, and relatively untouched by the amenities that went along with western elite social life. It was considered a ‘provincial’ backwater. Dhunjibhoy and his family escaped from it periodically to immerse themselves in the culture and socialising offered by Calcutta some 850 kilometres to the east. Even today the area has to work hard to raise its profile as a modern and vibrant metropolis. Ranchi became part of a new state, Jharkhand, in 2000, but its population remains among the poorest in the Indian Union, despite the rich mineral resources that make it a centre of mineral production in South Asia. Its hinterland is also infiltrated by Maoist rebels (Naxalites) who repeatedly challenge the state and central government by means of violent action. Ranchi is both a centre (industry) and part of the periphery (poverty and distribution of wealth). As we shall see, Dhunjibhoy turned the Ranchi Indian Mental Hospital into a centre of clinical excellence, despite financial restrictions and the unfavourable composition of the patient intake, which was mainly made up of the violent and dangerous. At the same time he was sidelined and snubbed by many of his European peers who found it difficult to relinquish their deeply ingrained colonial attitude to Indians. People like Dhunjibhoy who constituted the vanguard of Indianisation during the 1920 and 1930s were perceived by ‘old India hands’ as upstarts and competitors for the scarce senior positions that had previously been earmarked for Europeans. Although some Europeans openly supported Indians’ anti-colonial activities and the colonial government’s Indianisation policy and devolution of power to the provinces, racism remained rife. For example, The Indian Gentleman’s Guide to Etiquette, published in 1919, contended:
5
Ernst 1992.
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Waltraud Ernst The Indian gentleman, with all self-respect to himself, should not enter into a compartment reserved for Europeans, any more than he should enter a carriage set apart for ladies. Although you may have acquired the habits and manners of the European, have the courage to show that you are not ashamed of being an Indian, and in all such cases, identify yourself with the race to which you belong.6
Segregation of Europeans and Indians remained an important principle for a vocal group of Britons. This was evident also in continued institutional separation of Europeans and Indians. Since the late eighteenth century, when the British established the first few, small-scale lunatic asylums in India, European and Indian patients were kept in separate institutions or at least in different wards, with the former experiencing highly superior conditions, adapted to their social class status. The separation of the mad along lines of race and social class continued right until Independence. Dhunjibhoy was therefore in charge only of Indians, while a European, Owen Berkeley-Hill (1879–1944), was responsible for Europeans and Eurasians of the higher classes in a separate institution a kilometre or so away.7 That Europeans and their institutions were still considered superior and closer to the centre of power is epitomised not least by the fact that Berkeley-Hill’s institution remained a charge of the central government, while Dhunjibhoy’s reported to the provincial government following the devolution of power. Perhaps not entirely coincidentally, the public and clinical profile of the former has remained high, while Dhunjibhoy’s professional achievements have largely been ignored or forgotten, even in terms of posthumous historiographic accreditation.8 In the case of Dhunjibhoy and his hospital, the devolution of power from the centre to the peripheries has been a not entirely advantageous process. Dhunjibhoy’s successor institution, the Ranchi Institute of Neuro-Psychiatry and Allied Sciences, remains less liberally funded and overshadowed in terms of professional kudos by Berkeley-Hill’s former hospital, now aptly named the Central Institute of Psychiatry. Dhunjibhoy’s career trajectory was framed by wider processes of re-centering, namely the re-structuring of governance by means of provincialisation and of administrative and professional agency through the Indianisation of the medical service. However, despite these formal processes, which were designed to establish a new imperial order, there was also continuity in regard to the predominance of British power and the inferior status of Indians. Indian medical systems, too, as we shall see, continued to be regarded as peripheral to western medical practice. WESTERN AND INDIGENOUS MEDICINES During the decades leading up to the Second World War, racial prejudice was rife. So was belief in the superiority of European civilisation. The latter manifested itself in Europeans’ derogatory views of the Subcontinent’s varied medical practices. Eminent medical doctors fully subscribed to Britain’s putative civilising mission 6 7 8
Hardless 1919. Hartnack 2001. Ernst 2013.
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and warned against support of indigenous modes of healing. Sir Leonard Rogers, president of the Royal Society of Tropical Medicine and Hygiene (1933–1935), expounded in the British Medical Journal (BMJ) in 1914 that “Indians must sacrifice some of their pride of the past, and adopt what was best in the Western system, which had gone far ahead in scientific methods”.9 In a similar vein, a professor of physiology argued in 1921: “The financing of Unani [Muslim] and Ayurvedic [Hindu] institutes by Government in the hope of finding some soul of goodness in them is precisely on a par with the same government financing archery clubs to find out the possibilities of the bow and arrow in modern warfare”.10 R. H. Elliot, a retired member of the IMS and formerly a highly regarded ophthalmologist with extensive India experience, described indigenous medicines in 1936 as “an abnegation of scientific medicine, and an attempt to substitute effete and worn-out rubbish in its stead”.11 Furthermore, even Indian doctors, like Dhunjibhoy, who were trained in either Britain or in British-run medical colleges in India, attributed value to the indigenous systems only in respect to some of its pharmacopoeia. Western drugs were the treatments of choice, while Indian herbs, so Dhunjibhoy suggested, could be used as cheap and convenient, if less efficacious, substitutes in remote places when the former were not available.12 For binary mindsets that contrasted western and eastern medicine, and science and tradition, the British and Indian agents of colonial power fulfilled a vital role in the dissemination of western theories and practices from the centre to the periphery. However, things were more complex, because there is also evidence that cuts across these ideological polarisations. The establishment of a School of Indian Medicine in Madras in 1925, for example, attests to the colonial government’s acquiescence to Indian demands for the official recognition and support of indigenous healing systems. A committee had been appointed in 1921 by the government of Madras to investigate the matter and “afford exponents of Unani and Ayurveda systems an opportunity to state their case fully in writing for scientific criticism and to justify state encouragement of these systems”.13 Admittedly, western science remained the acknowledged yardstick against which indigenous practices had to be measured in order for their practitioners to gain accreditation. Government support also implied integration into the sticky web of colonial control and surveillance as well as clinical quality assurance and administrative scrutiny. However, it could be argued that within the wider context of Indianisation and the devolution of power from central government to the various provinces during the 1920s and 1930s, Indian political agency and previously marginalised practices came closer to the newly emerging centres of power. Another issue further complicates bifurcated definitions of where the centre of officially recognised medical expertise within a colonial context is to be located. This concerns the persistent insistence by India-based British practitioners that 9 10 11 12 13
See p. 787. On Leonard Rogers, see Power 1993. Kumar 1997, p. 170. Elliot 1936, p. 1061. Report 1936, p. 12. Wujastyk 2008, p. 50.
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those lacking any Indian experience would be unable to comprehend the intricacies of practice within the colony. This view had a long history and constituted the mirror image of the common perception among the British in the UK that those who had made their career in the colonies were not only somewhat peculiar, if not a bit mad or ‘doolally’, but also found it difficult to fit in with life back home in Britain on their return. They were seen to have become ‘Anglo-Indians’, a breed of people English in blood and colour but Indian in tastes and opinions. In other words, they had strayed off and become somewhat ‘ex-centric’ during their time in India. On their part, the Anglo-Indians considered any newcomer to India as a ‘griffin’, namely ‘one newly arrived in India and unaccustomed to Indian ways and peculiarities; a Johnny Newcome’.14 Such seemingly light-hearted mutual attributions played themselves out in political debates, such as when Anglo-Indians challenged the judgement of UK or centre-bred policies. The latter tended to focus on moves towards gradual colonial disengagement, while Anglo-Indians were more inclined to lobby against such reforms, citing their assumed superior insight into Indian affairs in the periphery. Here, India-experience was turned into a qualification that entitled Anglo-Indians to rise above and press against reformist measures of a particular section of UK-based officialdom. Despite the high profile of UK-based research on tropical medicine and the belated establishment of the Calcutta School of Tropical Medicine in 1920,15 some prominent Anglo-Indians considered only practitioners with long-standing Indian experience competent to engage in India-related research. In this, as in many other cases, ‘griffins’, however well-qualified in their specialist field, were seen as unsuitable tyros lacking the crucial longstanding exposure to India. On the other hand, Indians themselves were not necessarily acceptable as specialists by hardcore Anglo-Indians, as they were felt to be too immersed in Indian ways and too fluent in its idioms. Lacking the assumed superior qualities of the Anglo-Saxon character, they were not impartial and objective, and hence were unable to arrive at scientifically grounded insights. The public exchange between a retired member of the IMS, a UK-based author and Dhunjibhoy in the BMJ in 1928 illustrates these points. W. S. J. Shaw, previously superintendent of the mental hospital near Poona (Pune) in Bombay province, had written on seemingly narrowly clinical matters, namely the prevalence of Dementia Praecox among the Parsi (Zoroastrian) community of India. The Parsi were a small community of not more than 100,000 people at the time and most of them lived in Bombay. From the ‘Western point of view’ they were, as Shaw put it, ‘far more in touch with our civilization than any other Indian people’. They had a strong ethos of philanthropy, being engaged in the provision of mental health care facilities in Bombay.16 During his time at the mental hospital in Poona, Shaw had seen a number of public and private Parsi patients. On the basis of his general observations (but no reliable qualitative or quantitative data), he pos14 15 16
Yule 1902, p. 395. Chakrabarti 2012; Power 1996. Shaw 1928, p. 567. For example, there was the Sir Cowasjii Mental Hospital and a dedicated Parsi ward at the Yeravda Mental Hospital.
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tulated that the Parsi had a higher incidence of Dementia Praecox than Hindu and Muslim patients. The issue that particularly irked two readers of his article was that he not only claimed that there was consensus among researchers that schizophrenia was indeed a hereditary disease but also that cousin marriage among Parsi, or ‘inbreeding’, was ‘a very definite cause‘, and that ‘moral imbecility’, ‘feeble-mindedness’ or ‘mental deficiency’ as well as epilepsy were also implicated.17 Shaw held, ‘Nowadays at all events, the common Parsee [Parsi] stock is seriously tainted with Dementia Praecox.’ Because of Parsis’ ‘proverbial’ trait of ‘jealous family secretiveness’, he suggested, quite offensively, that research ought to be ‘carried out by a Parsee of an unusually altruistic type’. Shaw concluded saying that he considered the subject of ‘immense importance sociologically and eugenically’. The first letter of outrage and criticism was printed just a week later. Its author, Arthur Brock (1879–1947), argued that Shaw had in fact, ‘inadvertently’, demonstrated a ‘more important cause’ for the high incidence of Dementia Praecox, namely ‘”Western” education and civilization generally’.18 Brock was a medical doctor with an M. D. from Edinburgh and also an advocate of the emergent field of sociology. He was the author of Health and Conduct (1923) in which he argued that there were ‘parallels between human diseases and diseases of the body politic‘ and that current discontents were mainly a mental condition – a ‘psycho-sociological upset comparable to “shellshock” ’.19 Brock had close connections with the renowned Scottish biologist, sociologist and town planner Patrick Geddes (1854– 1932), who not only wrote the introduction to his book, but had also been professor of civics and sociology at Bombay University from 1920 to 1923, when Shaw still worked in nearby Poona.20 Geddes claimed a relationship between spatial form and social processes (or ‘regionalism’ and ‘civics’) and, in his role as town planner, believed that Indian cities ought not to simply imitate European ones but should find their own expression of civic pride. Brock mirrored Geddes’s contention when he suggested that not inbreeding but western education was to blame for the ‘breaking up of these young people’s minds’. Furthermore, he noted: ‘If we are to advise the Parsees against anything, it is rather against their too wholesale acceptance of Western civilization.’ Shaw was quick to respond. In a letter written the day after Brock’s views were published, he rejected the Brock-Geddes position and affirmed that ‘the peculiar incidence of schizophrenia among Parsees was not traceable to any faulty education or environment’.21 (He took issue also with the sociological habit of putting quote marks around particular phrases, even if these were not direct quotes but referred to the gist and implicit assumptions of an opponent’s argument.) Brock’s reference to Shaw’s alleged view that, in contrast to Parsis, Hindus and Muslims were at a ‘lower’ stage of civilisation, was strongly refuted. Shaw also dismissed other com17 18 19 20 21
Shaw 1928, p. 566, 568. Brock 1928, p. 634. Devine 1924, p. 454. Home 1997; Meller 1990; Renwick 2009. Shaw 1928, p. 728.
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ments by Brock that, although based on speculation and inference, captured the flaws and prejudice that underpinned both Shaw’s argument and the wider debates on eugenics and the heredity of particular races’ assumed predispositions. The most significant comment, intended as a coup de grace by Shaw, was his reference to Brock as ‘a correspondent, who does not appear to have any personal knowledge of Indian conditions’. Shaw had worked at the mental hospital near Bombay from 1912 to 1926 and had known of many challenges by outsiders of imperial and medical policies – not least by Geddes during his time at Bombay.22 He was also aware of Indian demands and agitation for political and medical reforms, for example in relation to the provincialisation of medical services in 1919. Debates had been particularly heated in Bombay during the 1910s and 1920s, as the Bombay Medical Union (the interest group of independent medical professionals), with support from the Indian National Congress, had challenged the monopoly of the IMS. Shaw would have known very well how contentious his ideas published in the BMJ were. The BMJ was the mouthpiece of the British Medical Association and tended to support IMS views. Given the wider political, medical and social context, Shaw’s views could not but be read as allegations of inferiority levelled against a community that had acquired the necessary skills, expertise and social influence to compete at the highest level for medical and political positions with Europeans. Brock seems to have put his finger on Shaw’s underlying agenda, and was discredited for it by reference to his lack of Indian experience. Dhunjibhoy, too, contributed to the debate as soon as he received the relevant copies of the journal some weeks later. Unlike Brock, being an Indian, he did have ‘personal knowledge of Indian conditions’. He was also an expert in psychiatry and, as he belonged to the supreme IMS, he was officially well qualified. What is more, he was also a Parsi and hence belonged to the very community Shaw had speculated about and from whom he had elicited a volunteer to shine more light on the matter of the alleged heredity of schizophrenia. One of the central arguments in Dhunjibhoy’s brief published extract was that the incidence of Dementia Praecox was high also in England, Germany, France, Italy and America – ‘yet none of these nations is known to practise inbreeding like the Parsees‘.23 Dhunjibhoy was able to back this up with statistics.24 Shaw had selected one potential causative factor, attributing it to one select group only. About the possible cause for schizophrenia Dhunjibhoy, too, could only speculate. His assumption was that it was related to ‘the stresses of present-day civilization and education’, but he warned against undue generalizations, pointing out that this may not be ‘the sole cause’, but may ‘at least have something to do with it’. Dhunjibhoy also quite correctly argued that the relationship between inbreeding and schizophrenia ‘has never been definitely established’. His objections were well-grounded in the scientific evidence available at the time. He also did not fail to point out that a ‘greater hereditary predisposition in manic-depressive psychoses than in Dementia Praecox’ was assumed by researchers, so that inbreeding was more likely to produce a higher incidence of the former condi22 23 24
Aspengren 2010, p. 112. Dhunjibhoy 1929, p. 382. Dhunjibhoy 1931.
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tion – not seen in the diagnoses of Parsi patients. And, finally, referring to statistics from the various mental hospitals, Dhunjibhoy pointedly noted that schizophrenia was not as rare amongst other communities in India as Shaw ‘imagines’. Like Brock, Dhunjibhoy put his finger on one particular flaw of Shaw’s logic. A specific diagnosis shared by highly educated Indians and westerners had been attributed to an inherited defect (based on custom) in the former but not the latter. An Indian community like the Parsi that had competed successfully with Europeans, operating at the same level with them, was considered by Shaw to be tainted by virtue of persistent cultural preference, inevitably leading to hereditary decline. Shaw’s pathologisation of a particular ethnic community on grounds of its cultural habits resonated more closely with the tenets of racial hygiene than those of mental hygiene subscribed to by Dhunjibhoy. Like Brock, Dhunjibhoy too had identified the agenda implicit in Shaw’s arguments: although some Indians may have been equals in terms of their formal positions and achievements within the imperial order, they were nevertheless, as had been the case during the nineteenth century, ‘not looked upon by the other [European] Officers of the service as on an equality in a social sense’.25 Shaw merely provided a seemingly scientific rationale for his social sentiments at a time when mental and racial hygiene were part of scientific mainstream thinking. The publication of Shaw’s views on the mental profile of the Parsi community in two of the most high-profile British expert journals pathologised the very group that had closely interacted and collaborated with the British since the late eighteenth century and become their single most successful competitor in trade and industry.26 As the Shaw-related exchange shows, influential Anglo-Indians strove to put Indian competitors and Britain-based critics alike into their place. They were intent on remaining in control locally and lobbied for the continuation of British rule, while central colonial governance was fiercely contested by the Indian pro-independence movement. What and where the ‘centre’ of power and expertise was, and who was entitled to act for it, remained highly contested during the period leading up to the Second World War, in the realms of politics and medicine alike. DE- AND RE-CENTERING Recent research on transnational connections and scientific networks has highlighted the importance of locating local medical developments within a wider global context. At the same time it has been suggested that a narrow focus on British hegemony and the privileging of western medicine in historical writing fails to recognise other important connections. Mukharji27 has titled his book ‘nationalising the body’, suggesting a different perspective to Arnold’s earlier ‘colonizing the 25 26 27
Ballhatchet 1980, p. 107. Shaw published an amended version of his original BMJ article in the Journal of Mental Science (see Shaw 1930) to which Dhunjibhoy responded, providing statistics to back up his argument (Dhunjibhoy 1931). Mukharji 2009.
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body’.28 He argues that existing studies of ‘colonial medicine’ put the colonial state and its formally accredited medical practices at the centre of analysis. These fail to engage with the important dynamics of indigenous agency and the varied ways in which practitioners vernacularised western modes of healing in accordance with the specifics of local contexts as well as wider socio-political developments. As Ernst pointed out:29 ‘Western medicine as well as indigenous systems are more appropriately conceived of and investigated as dynamic processes rather than clearly bounded entities. They are subject to continuous change, adapt to variations in social, cultural and economic circumstances, and incorporate concepts and procedures from related or competing traditions.’ This is not to suggest that the economics and politics of medicine, and the ideologies of control inherent in colonial hegemony and in the political economy of modernity and nationalism should be neglected. Rather, the history of medicine is not just, but also, a history of power relations and needs to be cognisant of both local and global developments. During Dhunjibhoy’s period, Indian psychiatrists engaged not only with British blueprints of science-based medicine but also with new ideas and practices mooted by their peers in a wide range of western countries, particularly the United States. Dhunjibhoy travelled abroad on various occasions, making himself familiar with new discoveries and treatments in a variety of places. In the early 1930s, he visited colleagues and institutions in the USA, Belgium, France, Germany, Austria and Hungary as well as Britain. He acknowledged that England had “many modern mental hospitals”, but he was fascinated by close contact with people such as “Dr Ladislaus v. Meduna of Budapest”, the originator of Cardiazol Therapy”30 and with the inventor of Dermotubin treatment, and his wife, “Herr Professor and Frau Dr Loewenstein” in Vienna.31 He visited and was hosted by them and considered them his friends. The place that impressed him most, was not the colonial centre, i. e. Britain, but America. He proclaimed that “No country in the world has made such rapid progress in mental science as America”.32 American influence became increasingly prominent in India at that period. The Rockefeller Foundation provided financial support for development projects and overseas visits to the United States for Indians. Visits by representatives of the League of Nations to health and welfare institutions in India were another way in which Indians’ overseas connections were widened beyond interactions with the colonising power alone. It is not surprising then that on the library shelves at Dhunjibhoy’s institution, the American Journal of Psychiatry, the Psychological Bulletin and the Psychoanalytic Review could be found alongside the UK-based Journal of Mental Science, The Lancet and the British Medical Journal. For Dhunjibhoy, the centre of scientific excellence in psychiatry was located in “the west”, of which Britain was a part, but no longer the main point of reference. The Indianisation of the colonial medical services, along with the gradual move 28 29 30 31 32
Arnold 1993. Ernst 2007, p. 517. Report 1938, p. 9. Report 1936, p. 13. Report 1936, p. 24.
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towards decolonisation in the early twentieth century and the heightened influence in South Asia of the United States and of Continental European interest groups and clinicians, led to a shift in medical orientation. These processes of de- and re-centring resulted, within the wider context of the globalisation of western scientific medicine, in the westernisation of what had previously been a more narrowly, but never exclusively, configured ‘colonial medicine’. The process of de-centering is relevant also in regard to clinical practices and nomenclatures. In regard to the latter, concerted efforts were made during the 1920s and 1930s to standardise the categories to be used for the registration of deaths and for diseases and diagnoses of mental conditions. In the British context, debates on the desirability of taxonomies can be traced back to Sauvage’s (1706–1777) Nosologia Methodica, Linnaeus’s (1707–1778) Genera Morborum and William Cullen’s (1710–1790) Synopsis Nosologiae Methodicae, if not John Graunt’s (1620–1674) work on the ‘Bills of Mortality’. Drawing mainly on Cullen’s categories, William Farr (1807–1883), statistician in the General Register Office of England and Wales, developed a classification for the International Statistical Congress (1853 in Brussels, 1855 in Paris). This system eventually informed – alongside French, German and Swiss nomenclature – the development under Jacques Bertillon (1851–1922) of the International List of Causes of Death. This list was to result in the modern International Classification of Diseases (ICD), a standardised and regularly revised classification system that now encompasses not only causes of death (mortality) but also diseases and injuries (morbidity). The process of standardisation – however conceptually fraught and contested its various metamorphoses may have been (and still are considered to be) – dealt with the even more unsatisfactory situation prior to 1893, before Bertillon’s system was adopted by some countries. A commentator in the BMJ remarked in 1927: ‘As late as 1893 no two countries in the world used exactly the same forms and methods for the statistical classification of the causes of death’.33 Despite the seemingly similar nomenclature used in the UK-based schemes, there prevailed a considerable degree of variety in classification practices. Standardisation and conformity may have been ideals pursued by health policy makers, epidemiologists and professional associations. How this was implemented in individual institutions is a quite different matter. Lack of compliance by individual institutions and medical staff with official classification guidelines was but one issue that raised concerns among medical professionals. The German-born American psychoanalyst Martin Grotjahn (1904–1990) noted that the classification system clinicians were supposed to follow in German institutions from 1901 onwards was woefully dated by the time new diagnostic entities such as schizophrenia emerged, eventually causing institutions to develop their own unofficial housestyles pending a new scheme introduced in 1933.34 The fact that quite diverse classifications and medical codes were championed in different parts of Europe and in the United States did also not help to establish consensus across countries. For example, while 33 34
N. N. 1927, p. 200. Grotjahn 1933.
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a certain degree of equivalence of codes for Austria, Switzerland, The Netherlands and Scandinavia was considered achievable, discussants involved in the development of the new German classification system during the early 1930s surmised that any substantial synergy with other countries, especially in the English-speaking world, were nigh impossible.35 Given this wider context of putative conformity, it should not surprise us that Dhunjibhoy formally adhered to the official nomenclature that was prescribed by the central and, from the 1930s, the provincial medical authorities, yet employed particular diagnostic categories in idiosyncratic ways. There were also differences between Ranchi and other institutions in South Asia. At the Madras Mental Hospital in south-east India, the most frequently assigned category on admission was Dementia Praecox (23 percent), which is in striking contrast to Ranchi’s 7 percent.36 What is more, mania and melancholia appeared with only 18 and 2 percent respectively (30 and 13 at Ranchi). These are significant differences. There are other, less significant but still important, differences. For example, unlike Ranchi, at Madras syphilis is represented in the reports, with a rate of 1 percent for GPI and 4 percent for dementia from cerebral syphilis.37 This warns us against over-confident assertions regarding the extent to which standardised psychiatric nomenclature reflects actual classification practices during the interwar period. The diagnostic categories listed in the annual report forms in Ranchi and Madras were identical, but the frequency with which they were used by staff in charge at these places differed considerably. This cannot be considered to have been due to lack of expertise on the part of the Indian superintendents in contrast to their British colleagues. The Indian doctors were well qualified in the same mode of western-style psychiatry, imparted to them by European doctors at accredited medical colleges. The limited extent to which apparently standardised terminology and conformity of nomenclature can be taken as an indication of uniform conceptualisations and consistent classification practices was particularly poignant in regard to diagnostic categories and the presumed aetiology of the different types of disorder. Dhunjibhoy worked eclectically across a range of seemingly discrete if not irreconcilable conceptualisations of particular conditions mooted by psychiatrists in India, Britain, Continental Europe and North America. His diagnostic mindset was flexibly cosmopolitan and transnational and cannot adequately be captured by reference to any single approach, let alone be restricted to ‘colonial psychiatry’. The shifts in his own thinking do not dovetail with those of the official nomenclature of annual reports either. Nor can they be mapped in a straightforward way onto changing practices at other institutions in India. The plural and changing meanings of diagnostic categories have consequences for any inter-institutional comparison as well as longitudinal inner-institutional assessments. The heterogeneity of practices reflects the difference between terms and meanings, nomenclature and nosology. 35 36 37
Doerries and Vollmann 1997. Madras Report 1931; Report 1936. Ernst 2013.
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Dhunjibhoy was not alone in transcending the referential framework of any particular ‘national style’ of psychiatric theory and practice. This was common among psychiatrists across the globe. He did however break new ground in the context of the Indianisation of the IMS. He had been appointed to the coveted and prestigious senior position of superintendent of a large, newly-built institution. Dhunjibhoy’s career was facilitated by the British and marked by professional success. Yet he was also caught up in the hidden as well as structural racism that persisted during a period formally characterised by the reconfiguration of the imperial order and gradual disengagement by the British from South Asia. CONCLUSION The case of Dhunjibhoy highlights the shifting boundaries between and the multiple manifestations of centres and peripheries, which prevail even within a colonial context anchored in seemingly clear lines of command and demarcation between the colonisers and the colonised. Within the structural confines of colonial governmentality, Indian medical professionals assumed multiple roles during the period of the pro-Independence movement. As a senior IMS officer, Dhunjibhoy was an official representative of the colonial power. As an Indian he was still subjugated to continued social inferiorisation, and his clinical achievements tended to be belittled by his European peers. At the same time he shaped the processes of de-and re-centering that went along with the Indianisation of the colonial services and the reconfiguration of ‘colonial medicine’ into a vernacularized form of the western model of science-based medicine that spread across the globe during the early twentieth century. Dhunjibhoy can be said to have been right at the centre of things that mattered to Indians at the time – he played an eminent role in the process of destabilising British colonial and medical predominance on the Subcontinent.
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Waltraud Ernst
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JAPANISCHE PSYCHIATER „ZWISCHEN“ DEN AKADEMISCHEN ZENTREN DER PSYCHIATRIE DER WESTLICHEN HEMISPHÄRE Uchimura Yushi (1897–1980) und seine Zeitgenossen Akira Hashimoto Die Orientierung und Ausrichtung an der deutschen Psychiatrie scheint ein bemerkenswerter Trend vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gewesen zu sein, insbesondere in der „Peripherie“ Europas, den osteuropäischen Ländern, oder am „Rand“ Europas, wie in Russland und der Türkei (Howells 1975). Zum einen ist die deutsche Dominanz in der internationalen Psychiatrie auf die preußische Kolonialisierung im europäischen Osten (Conrad und Osterhammel 2004) zurückzuführen. Zum anderen trugen aber auch die Studierenden, die aus der „Peripherie“ oder dem „Rand“ Europas nach Deutschland kamen, dazu bei. Sie brachten die Wissenschaft des vermeintlichen Zentrums (Spivak 2006: 145) Deutschland in zumeist modifizierter Form ins Heimatland zurück. Die Situation im Fernen Osten ist damit durchaus vergleichbar: In Japan ist eine deutliche Bevorzugung deutscher Konzepte der Psychiatrie bereits nachweisbar seit der Öffnung des Landes während der sogenannten Meiji-Restauration, ab 1868. Die medizinischen Aufsichtsbeamten der zentralen Regierung setzten sich für eine Adaptation an die Entwicklungslinien der deutschen Medizin insgesamt ein. Die deutsche Medizin war das Modell der Wahl für Japans medizinische Entwicklung. Japanische Entscheidungsträger der Zeit argumentierten, dass die deutsche Medizin führend in der Welt sei, und dass die niederländische Medizin, die schon in Japans feudaler Edo-Zeit (1603–1868) eingeführt, ins Japanische übersetzt, und viel gelesen worden war, in ihren Ursprüngen ohnehin auf der deutschen Medizin basiere. 1870 wurden neun Pionierärzte im Regierungsauftrag zum Studium der Medizin nach Preußen beziehungsweise in das im Werden begriffene junge Kaiserreich entsendet. Im Zuge der Etablierung der Universität Tokio im Jahr 1877, bis zur Gründung der Universität in Kioto 1897 zunächst die einzige Universität in Japan, wurden mehrere dieser entsandten und in Deutschland ausgebildeten Ärzte mit Professuren an der medizinischen Fakultät versehen. Initial griff diese Fakultät sogar auf medizinische Lehrer zurück, die direkt aus Deutschland kamen. In den ersten Jahren bestand etwa die Hälfte des Lehrkörpers der medizinischen Fakultät Tokios aus deutschen Ärzten. Unterricht im Fach Psychiatrie fand seinerzeit noch nicht statt. Ab 1879 dozierte Erwin Bälz (1849–1913) aus Bietigheim bei Stuttgart in seinen Vorlesungen zur Inneren Medizin jedoch zum Thema der späteren Disziplin Psychiatrie. 1893 wurde die aus Deutschland bekannte Struktur von Lehrstühlen in der Tokioter Universität eingeführt. Insgesamt 20 Lehrstühle für die medizinischen
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Subdisziplinen einschließlich Psychiatrie wurden vergeben. Bereits zu diesem Zeitpunkt konnten jedoch fast alle Lehrstühle von geborenen Japanern besetzt werden. Dennoch ist der Einfluss der deutschen Medizin, und insbesondere der Psychiatrie, auf die Entwicklung dieser Disziplin in Japan noch lange nachweisbar (Tokyo daigaku igakubu 1967). Im Zuge der Etablierung und Entwicklung des japanischen Hochschulwesens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus besuchten mehr und mehr Mediziner aus Japan zu Studium und Weiterbildung Deutschland oder Österreich. Im Folgenden möchte ich mich auf die Beschreibung des Prozesses beziehen, im Rahmen dessen sich die Entscheidungsfindung japanischer Ärzte zwischen den akademisch-psychiatrischen Zentren der westlichen Hemisphäre vollzog. DIE ERSTE GENERATION In Bezug auf die Zeiträume wissenschaftlicher Aufenthalte der japanischen Ärzte in Deutschland und Österreich kann man zwei Generationen unterscheiden. Als die erste Generation definieren wir diejenigen Japaner, die diese beiden europäischen Länder bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs besuchten. Hier sind zwei Vertreter besonders prominent. Zunächst ein Schüler des erwähnten Erwin Bälz namens Sakaki Hajime (1857–97), der direkt im Anschluss an ein Studium in Berlin von 1882 bis 1884 zum ersten Professor für Psychiatrie an der Universität Tokio berufen wurde. Ein zweiter Vertreter dieser Gruppe ist Sakakis Schüler, Kure Shuzo (1865–1932), der die Psychiatrie Österreichs und Deutschlands vor Ort zwischen 1897 und 1901 studierte.1 Während man einerseits bilanzieren kann, dass diesen beiden Psychiatern die zentrale Rolle in der Etablierung der seinerzeit modernen westlichen Psychiatrie in Japan zukam, so muss man andererseits konstatieren, dass sich diese Rolle allein auf den Wissensimport, die Einführung der deutschen (und europäischen) Psychiatrie in ihr Heimatland Japan beschränkte. Anders gesagt, produzierten diese beiden Vertreter des Fachs Psychiatrie fast keine eigenen und originalen Forschungsarbeiten. Die erste Generation der psychiatrischen Akteure versuchte also, allein die gewonnenen Vorgaben und Erkenntnisse des Zentrums (Europa) in der Peripherie (Japan) zu reproduzieren, wie zumindest Erwin Bälz 1901 bei einem feierlichen Anlass kurz vor Verlassen der Universität Tokio kritisiert hatte (Bälz 1937: 120–121). Der Erste Weltkrieg stellte auch in den Beziehungen zwischen Japan und Europa eine vorübergehende Zäsur dar. Aufgrund des Kriegsausbruchs migrierten diejenigen Japaner, die schon zum Studium auf dem europäischen Kontinent weilten, oder dort studieren wollten, in die USA weiter – seinerzeit nur eine Art Ausbildungsort zweiter Wahl, wo außer Matsubara Saburo2 kein japanischer Arzt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Psychiatrie studiert hatte (Okada 1994). 1 2
Für Kurzbiographien von Sakaki und Kure, siehe Hashimoto (2010, 2013). Matsubara Saburo (1877–1936) war tätig als Assistent an der Universität Tokio. Nach dem Medizinstudium an der Hochschule in Kanazawa und studierte dann bei Adolf Meyer in New York, von 1903 bis 1908. Anfängliche Pläne, nach dem Aufenthalt in den USA nach Europa
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Das deutschsprachige Europa wurde für viele japanische Kollegen zum Ausbildungsort, so beispielweise auch für einen Schüler von Kure Shuzo, Sugita Naoki (1887–1949), der seit 1913 bei Walther Spielmeyer (1879–1935) in München studierte, und zur Pathologie der Alzheimer-Erkrankung forschte. Sugita verließ München nach London im August 1914 und kehrte von dort im Oktober des Jahres nach Japan zurück. Im April 1915 verließ er den Hafen Yokohama erneut, nun in Richtung der nordamerikanischen Pazifikküste, nach San Francisco. Doch Sugita übte Kritik an der amerikanischen Psychiatrie, die er vorfand: Sie betone zu sehr die Psychoanalyse, und die Zahl der Wissenschaftler, die sich mit chemischen oder pathologisch-anatomischen Untersuchungen beschäftigten, sei nur sehr gering. Arbeitsbedingungen wie in Deutschland vorzufinden, sei in den USA sehr schwierig, so Sugita. Sugita konnte jedoch offenbar dennoch histologische Arbeiten unter Anleitung von Henry H. Donaldson (1857–1938) umsetzen – dies am Wistar Institute of Biology and Anatomy in Philadelphia. Er publizierte eine vergleichende Studie zu Wachstumsvorgängen der Großhirnrinde.3 Sugita kehrte im Mai 1918 nach Japan zurück. 1931 wurde er zum Professor für Psychiatrie an der neu gegründeten Medizinischen Hochschule Nagoya (später die Medizinische Fakultät der Universität Nagoya) ernannt (Hori 1981; Okada 1994). Saito Tamao (1880–1972), ein weiterer Schüler von Kure Shuzo, hatte ebenfalls die Absicht, in Deutschland zu studieren. Im Mai 1914, etwa zwei Monate vor dem Ausbruch des Weltkriegs, kam er in Frankfurt am Main an, um bei Ludwig Edinger (1855–1918) im Neurologischen Institut die Forschung aufzunehmen. Dort hatte er jedoch nur einen kurzen Forschungsaufenthalt. Kurz danach verließ er Deutschland und reiste über Den Haag und London nach Baltimore. Saito Tamao studierte später bei Adolf Meyer (1866–1950) an der Johns Hopkins University. Saito erinnerte sich später, dass die damalige amerikanische Psychiatrie seinem persönlichen Eindruck nach weniger entwickelt gewesen sei, als die europäische. Dies sei ein Eindruck, der sich ihm früh offenbart habe (Saito 1973: 50–56). 1916 kehrte er nach Japan zurück und war in mehreren privaten psychiatrischen Krankenhäusern des Landes tätig. Von 1931 bis 1938 wurde er zum Vizedirektor des Psychiatrischen Krankenhauses Matsuzawa der Präfektur Tokio ernannt (Saito 1973; Okada 1994). Diejenigen Psychiater aus Japan, die das Land zu Studienzwecken während der Jahre des Ersten Weltkriegs verließen, migrierten häufig direkt in die Neue Welt: Auch Marui Kiyoyasu (1886–1953) studierte in Baltimore bei Adolf Meyer – dies von 1916 bis 1919 – ähnlich wie zuvor Saito Tamao. Maruis Hauptarbeit bezieht sich auf den Bereich der Histologie des Gehirns. Anders als viele seiner Zeitgenossen galt er jedoch als ebenfalls von der Psychoanalyse beeinflusst. Im Anschluss an seine Rückkehr nach Japan wurde er 1919 zum Professor für Psychiatrie an der Universität Tohoku, in Sendai, berufen. Marui soll der erste Psychiatrieprofessor
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resien, zerschlugen sich jedoch offenbar. Zu beachten ist hier, dass Matsubara das Kraepelinsche System selbst in dessen Blütezeit der Kritik würdig empfand, vermutlich unter dem Einfluss von Adolf Meyer (Okada 1994). Sugitas Studie wurde insgesamt in nicht weniger als acht Aufsätzen in der amerikanischen Zeitschrift The Journal of Comparative Neurology publiziert (Sugita 1917a, 1917b, 1918a, 1918b, 1918c, 1918d, 1918e, 1918 f).
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des Landes gewesen sein, der in einer akademischen Institution Japans zur Psychoanalyse las. Das starke Interesse und die hohe Identifikation japanischer Psychiater mit der Psychiatrie Emil Kraepelins jedoch, verhinderte, dass die Psychoanalyse in diesem Land viele Anhänger fand – von Marui Kiyoyasu 4 einmal abgesehen (Yamamura 1984; Okada 1994). DIE ZWEITE GENERATION Nach dem Ersten Weltkrieg studierte die neue Generation der japanischen Wissenschaftler wieder in Deutschland und Österreich. Diese Japaner kann man als die zweite Generation bezeichnen. Wenn man die Rolle der ersten Generation japanischer Wissenschaftler im deutschsprachigen Europa als Wissensimport mit dem Ziel der Einführung der deutschen Psychiatrie in Japan im Sinne einer „Reproduktion des Zentrums in der Peripherie“ bezeichnen kann, so bestand die Motivation der zweiten Generation dieser reisenden Psychiater im Streben nach Originalität. Kure Shuzos jüngster und zugleich letzter identifizierbarer Schüler Uchimura Yushi (1897–1980), der von 1925 bis 1927 bei Walther Spielmeyer in München studierte, beschrieb in seiner Autobiographie die Blütezeit der deutschen Psychiatrie, die seiner Auffassung nach in die 1920er Jahre zu verorten war: Er nannte hierfür plausibilisierende Beispiele, wie die Entdeckung der Encephalitis lethargica durch Constantin von Economo (1876–1931), die Malaria-Behandlung der progressiven Paralyse durch Julius Wagner von Jauregg (1857–1940), die Publikation Körperbau und Charakter von Ernst Kretschmer (1888–1964), oder die Allgemeine Psychopathologie von Karl Jaspers (1883–1969), neben anderen weiteren Beispielen.5 Einerseits kann als gesichert gelten, dass japanische Psychiater ein Studium in Deutschland als bereichernd bilanzierten. Dennoch wandelte sich die Haltung, und das Vorhaben eines Studiums im Nachkriegsdeutschland schien für japanische Ärzte keine Selbstverständlichkeit mehr dargestellt zu haben. Uchimura schrieb in seinem Buch: „Damals betrachteten es Japaner als sehr mutig nach Bayern zu reisen, wo die antijapanische Stimmung stark gewesen sein soll. Wenn dies auch übertrieben dargestellt worden ist, so fühlte ich mich dennoch sehr unruhig, als ich am Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug ausstieg“ (Uchimura 1968: 35–37). 4
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Maruis Kenntnisse über Psychoanalyse entstanden allein autodidaktisch, anhand der Lektüre von Texten. Allerdings besuchte Maruis Schüler Kosawa Heisaku (1897–1969) 1932 Wien und traf auf Sigmund Freud persönlich; Studien der Psychoanalyse sollen sich angeschlossen haben. Kosawa übergab Freud einen eigenen Aufsatz, Freud jedoch soll kein Interesse gezeigt haben. Dies ist sehr interessant, sollte sich diese Begegebnheit derart zugetragen haben, denn der Aufsatz handelte vom sog. Ajasekomplex (dem Todeswunsch des Kindes gegenüber seiner Mutter), den der Autor als im Gegensatz zum Ödipuskomplex stehend konzeptioniert hatte. Nachdem Kosawa in Japan zurück war, etablierte er eine Privatklinik in Tokio. 1955 gründete er die Japanische Gesellschaft für Psychoanalyse und wurde zum deren ersten Präsidenten ernannt (Miyoshi 2012). Uchimura nannte noch weiter: die Publikation Zur Lehre der Erkrankungen des striären Systems von Cécile Vogt (1875–1962) und Oskar Vogt (1870–1959) und Histopathologie des Nervensystems von Walther Spielmeyer (Uchimura 1968: 35–36).
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Jenseits aller japanophoben Demagogie berichtete jedoch Saito Mokichi (1882–1953) von einer zweifellos peinlichen Erfahrung für ihn mit Emil Kraepelin (1856–1926), die vermutlich vom nationalistischen Gefühl des letzteren hervorgebracht worden war. Saito studierte unter Kure Shuzo Psychiatrie und hielt sich zum Studium von 1921 bis 1924 in Wien und München auf. In Japan ist Saito heute mehr als Dichter denn als Arzt bekannt.6 Saitos Erfahrung mit Kraepelin lautet wie folgt: Die lange ersehnte Begegnung mit Kraepelin ereignete sich bei einer Filmaufführung in München. Ein Treffen mit Kraepelin erschien Saito seinerzeit als Wunschtraum. Saito näherte sich Kraepelin, um ihm die Hand zu reichen, wurde jedoch von ihm zurückgewiesen, während Kraepelin zwei Gästen aus Java die Hand reichte, die neben Saito gestanden hatten. Im Anschluss an die Filmaufführung versuchte Saito ein weiteres Mal, sich Kraepelin zu nähern, um ihm die Hand zu schütteln, dies wurde ihm jedoch erneut abgelehnt. Der genau Grund, weshalb Kraepelin ablehnte, ist nicht bekannt. Saito jedenfalls unterstellte feindliche Gefühle gegen Japan (Uchimura 1968: 54–56; Okada 2000: 223–224). Wir kehren zu Uchimura Yushi zurück. Der Grund, weshalb wir Uchimura unsere Aufmerksamkeit schenken sollten, liegt darin, dass er als ein Vertreter der zweiten Generation eine entscheidende Rolle spielte, die bisher in der Beziehungsgeschichte der Psychiatrie zwischen Japan und Deutschland nicht ausreichend beachtet wurde. UCHIMURA UND DIE DEUTSCHE PSYCHIATRIE Uchimura wurde 1897 in Tokio als Sohn des berühmten christlichen Essayisten Uchimura Kanzo (1861–1930) und seiner Frau Shizu geboren. Eine nebenberufliche Karriere während seiner Zeit als Medizinstudent an der Universität Tokio, trägt zu seiner Bekanntheit in Japan bei: er war ein begeisterter Baseball-Spieler, und als solcher ein prominenter Werfer der Universitäts-Mannschaft. Von 1925 bis 1927 studierte er, wie schon erwähnt, in München7(Abb.1). Kurz nach seiner Rückkehr nach Japan verzog es ihn nach Hokkaido, wo er als Psychiatrieprofessor an der Universität Hokkaido tätig war. Auf dieser Nordinsel Japans wurde 1927 ein weiterer Lehrstuhl für Psychiatrie geschaffen. 1936 wurde Uchimura zum ordentlichen Professor der Psychiatrie der Universität Tokio ernannt, wo er wiederum bis zu seinem Ruhestand 1958 tätig war. Uchimura beschäftigte sich weiterhin mit Fragen der Hirnpathologie, ein Thema, dass bereits während seiner Studien in München seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er wählte dieses Thema auch aufgrund der Arbeiten Spielmeyers aus. 6 7
1951 erhielt Saito den Bunkakunsho (Orden für Kunst und Wissenschaft von der japanischen Regierung) für seine literarischen Aktivitäten (Okada 2000). Nach Uchimura selbst war er der letzte Psychiater aus Japan, der theoretisch und praktisch in der Lage war, mit Kraepelin Kontakt zu haben. Er gestand jedoch, dass er sich hingegen entschied, Kraepelins Bekanntschaft zu vermeiden, nachdem er von der oben genannten, peinliche, Erfahrung von Saito Mokichi gehört hatte (Uchimura 1968: 55).
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Auch in Hinsicht auf erfolgversprechende Forschungen schien ihm dieses Thema ergiebig (Uchimura 1968: 42–46). Hirnanatomische und hirnpathologische Arbeiten wurden in Japan jedoch bereits vor den Beiträgen Uchimuras unternommen: Der wesentliche Akteur der ersten Generation, Kure Shuzo, hatte ebenfalls zu diesem Thema gearbeitet, und bei Franz Nissl (1860–1919) in Heidelberg dessen Färbemethoden von Hirnschnitten erlernt, die er in Japan bekannt machte (Okada 1982: 265). Psychiatrische, psychopathologische und hirnanatomische Originalarbeiten aus Japan erschienen doch erst mit der Publikationstätigkeit der zweiten Generation, im Laufe der 1920er Jahre. Auch Uchimura konnte hier Erfolge verbuchen: zwei seiner Aufsätze über die Erkrankungen des Ammonshorns des Gehirns 1928, waren jeweils im 112. und 114. Band der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie publiziert worden. Uchimura konnte später unter Beweis stellen, dass diejenige psychiatrische Forschung Japans, die zuerst Weltniveau erreicht hatte, dem Gebiet der Hirnpathologie8 zuzuordnen sei (Uchimura 1954). Im Gegensatz zur Hirnpathologie muss das Feld der vergleichenden Psychiatrie anders beurteilt werden. Während im ersteren Bereich japanische Wissenschaftler als Nachläufer bezeichnet wurden, lässt sich im letzteren Bereich ein Einfluss auf die deutsche Psychiatrie nachweisen. Zum Beispiel verursachte, wie unten erwähnt, die einheimische ethnopsychiatrische Forschung über das Ainu-Volk in Nordjapan offenbar erst den Anstoß, sich in der deutschen Psychiatrie, und hier insbesondere in der klinischen Hysterielehre, mit dem Gegenstand indigener Krankheitsformen zu beschäftigen (Kretschmer 1958: III–IV, Uchimura 1968: 156–159). Das Wort „vergleichende Psychiatrie“, hinter dem eine sozialdarwinistische Denkweise in Bezug auf die Entwicklung zwischen West und Ost auszumachen ist, weist in diesem Zusammenhang auch zivilisatorische Wertungen auf. Ein Beispiel der Entwertung fremder Ethnien findet sich unter anderem an den Begriff der Primitivität geknüpft (Ogino 2010), der von Emil Kraepelin eingeführt worden war. Kraepelins Interesse an diesem Gebiet ist seiner Beschäftigung mit den volkspsychologischen Arbeiten seines Lehrers Wilhelm Wundt (1832–1920) an der Universität Leipzig zuzuschreiben (Steinberg 2001: 232–233). 1904 hielt Kraepelin sich in Java auf und beobachtete die psychisch Kranken in der Anstalt Buitenzorg. Im gleichen Jahr publizierte er im Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie den Aufsatz „Vergleichende Psychiatrie“. Dabei zitierte er Amok und Latah, die besonders der malaiischen „Rasse“ zugeschriebene Krankheitsformen sein sollten. Kraepelin nahm jedoch zugleich an, dass es sich bei diesen beiden Formen „um eigenartige Gestaltungen uns ebenfalls bekannter Krankheiten handelt“ (Kraepelin 1904). Gegenwärtig wären diese Phänomene, bei aller Vorsicht hinsichtlich retrospektiver Diagnostik, wohl zuerst unter dem Terminus „culture-bound syndromes“ des DSM-IV zu rubrifizieren. Für Kraepelin war es jedoch wichtig, dass die beiden Krankheitsformen als seinem System einordenbar verstanden werden konnten.9 8 9
Zum Beispiel außer Uchimura publizierten in den 1920er Jahren Hayashi Michitomo (1885– 1973) und Onari Kiyoshi (1885–1939), die beide in Hamburg studierten, in deutschen medizinischen Zeitschriften ihre Aufsätze über Hirnpathologie (Ishii 1979; Tamura 1984). Der holländische Psychiater P. K. M. Travaglino, der in einer Anstalt bei Lawang in Java arbeitete, kritisierte in seinem Aufsatz im Jahr 1920 Kraepelins Diagnosen. Bevor er nach Nieder-
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Ähnlich wie die Phänomene Amok und Latah im beschriebenen geographischen Kontext, existierte in Japan das Problem von Imu (oder Imubacco10), einem eigenartigen Verhalten der Ainu, der Ureinwohner Nordjapans. Japanische Vertreter in der Fachdiskussion der Zeit neigten dazu, Imu unter dem Gesichtspunkt der vergleichenden Psychiatrie zu betrachten. Doch worum handelt es sich bei den Phänomenen Imubacco und Imu? Uchimura schrieb hierzu: „Die Ainus sind ein nur in Japan und zwar auf dessen nördlicher Insel Hokkaido und teils auf Sachalin wohnendes Naturvolk (…). Nach Aussage von Rassenkundlern sollen sie zwar in alten Zeiten weit in Japan verbreitet gewesen, aber allmählich durch die südlichen Rassen nach Norden verdrängt worden sein.“ Nach Uchimura sei das „Imu“ neben den ähnlichen Zustanden unter den amerikanischen Indianern (Jumping), Malaien (Latah) usw. den deutschen Autoren längst bekannt, wohl durch die kurze Beschreibung von Sakaki Yasusaburo (1870– 1929) am Beginn des 20. Jahrhunderts (Uchimura 1956a). Sakaki Yasusaburo war ein jüngerer Bruder Sakaki Hajimes, des oben genannten, ersten Professors für Psychiatrie der Universität Tokio. Im Sommer 1900 unternahm Sakaki Yasusaburo eine Forschungsreise nach Hokkaido und diagnostizierte 12 Patientinnen mit Imu – dies in einigen Ainu-Dörfern. Sein deutschsprachiger Aufsatz, der 1902 in Japan publiziert wurde (Sakaki 1902), wurde später auch in Lehrbüchern von Hermann Oppenheim (1858–1919) und Emil Kraepelin zitiert.11 Nach Sakaki sind „die Hauptsymptome der Imu-Krankheit abnorme Schreckhaftigkeit, Echolalie, Echomimie und Echokinesie. (…) Ferner einerseits die genaue Ausführung aller Handlungen auf Befehl (Befehlsautomatie), andererseits auch die negative, gegenteilige Ausführung des Befehls (negative Befehlsautomatie)“. Sakakis Beschreibung des Ainu-Volks und das Leben in dessen Dörfern ist allerdings sehr negativ und pejorativ: Das Volk sei so unvernünftig, dass es nicht einmal sein eigenes Alter wisse und nur dem Essen und Trinken fröne. Ferner pflege der Ainu, der trotz des kalten Klimas seiner Armut wegen in schlechten Häusern wohne, sich durch starke alkoholische Getränke zu erwärmen und, besonders das männliche Geschlecht, verbringe für gewöhnlich Tag und Nacht im Rausche ohne zu arbeiten (Sakaki 1902, 1905). Wie oben erwähnt, wurde Uchimura kurz nach der Rückkehr nach Japan 1927 in Hokkaido mit einer Professur für Psychiatrie an der Universität Hokkaido ausgestattet. In Hokkaido beschäftigten sich Uchimura und seine Kollegen auch mit
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ländisch-Ostindien fuhr, besuchte Travaglino Kraepelin, um sich nach Kraepelins Erfahrungen in Buitenzorg zu erkundigen. Damals akzeptierte er sie für „on the authority of his [Kraepelin] personality“, aber bezüglich Java fand er, dass Kraepelin geirrt habe (Porath 2008). Imubacco bedeutet „Oma von Imu“. Im postumen Lehrbuch der Nervenkrankheiten siebte Auflage (1923) von Oppenheim wird Sakaki zitiert: „Mit dem Jumping der Amerikaner, dem Latah (in Malaysia), dem Meriatschenje (Sibirien) und dem Imubacco (Sakaki) ist es wahrscheinlich identisch oder ihnen doch sehr verwandt“. Kraepelin beschreibt in seinem Lehrbuch Psychiatrie, in der achten Auflage (1915): „Endlich ist zu betonen, dass bei Naturvölkern nicht selten hysterische Störungen vorkommen, wenn wir auch über ihre wirkliche Häufigkeit nichts wissen. So sind das bei den Malayen verbreitete Latah, das Jumping der Indianer, das Meriatschenje der Sibirier und das von Sakaki genauer geschilderte Imubacco der Ainos wohl zweifellos Erscheinungsformen der Hysterie“.
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der ethnopsychiatrischen Untersuchung des Imu-Phänomens. Die Untersuchung dauerte mehrere Jahre an und soll fast den gesamten Lebensraum (Osten der Insel Hokkaido) der Ainu umfasst haben. Dabei fanden die Psychiater nach eigenen Erhebungen insgesamt 110 Fälle von Imu (Uchimura et al. 1938). Uchimuras Aufsatz zum Phänomen des Imu gilt als die bis dahin detaillierteste psychiatrische Studie zu diesem Gegenstand (Uchimura 1968: 142–159). Dass Uchimura seinen Münchner Kollegen, den Psychiatrieprofessoren Kurt Kolle (1898–1975) und Willibald Scholz (1889–1971) vorgeschlagen habe, den 100. Geburtstag Emil Kraepelins zu feiern, soll der eigentliche Anlass zur Konferenz am 23. und 24. Februar 1956 in München gewesen sein.12 Dabei trug Uchimura mit einem Vortrag über Imu zum Programm der Feierlichkeiten bei, der anschließend Aufnahme in die Zeitschrift Der Nervenarzt gefunden hat (im gleichen Jahr). Dort ist zu lesen: „Das typische Imu betrifft gegenwärtig ausschließlich das weibliche Geschlecht und zwar jenseits des 30. Lebensjahrs. Aber nach Angaben der Imu-Frauen selbst oder ihrer Verwandten soll der Beginn der Erscheinungen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr liegen. Daraus kann man entnehmen, dass es zur ausgebildeten „Reifung“ der Symptome eines mehr oder weniger langen Zeitraumes bedarf.“ Ferner verglich Uchimura die akute Verwirrung des Imu einerseits mit dem sogenannten Bewegungssturm, der von Ernst Kretschmer sinngemäß als die wichtigste Abwehrreaktion der niederen Organismen auf störende Außenreize dargestellt worden sein soll. Darüber hinaus behauptete Uchimura jedoch: „Jedenfalls aber ist sicher, dass das gesamte Bild des Imu im Rahmen der von Kretscher benannten „hypobulischen Mechanismen“ liegt und ich finde in den Imu-Erscheinungen den ursprünglichen Sinn der Abwehrreaktion, die im Menschen vorgebildet ist.“ Illustrierend stellte er einen typischen Erregungszustand der Erscheinung fotografisch dar, in dem eine Imu-Frau sich auf Uchimura, den Reizgebenden, stürzte. Sie reagierte auf das Reizwort Tokkoni! 13 Uchimura hierzu erläuternd in der zitierten Quelle: „Wenn irgendein Schreckreiz auf eine „gereifte“ Imu-Frau ausgeübt wird, verfällt sie ganz automatisch in mehr oder weniger schwere Erregung. Falls sie aus gewisser Entfernung gereizt wird, schüttelt sie ihre Glieder mit ängstlichem Gesichtszug und läuft öfters davon. Wenn sich aber der Reizgebende in der Nähe der Imu-Frau befindet, so stürzt sie sich ge12
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Diesen Vorschlag betreffend schrieb Uchimura Kolle und Scholz einen Brief (Uchimura 1968: 62–63). In diesem Brief äußerte er sich über Kraepelin wie folgt: „Obwohl die neuere deutsche Psychiatrie am meisten von Jaspers beeinflußt worden zu sein scheint, war doch Kraepelin, wie ich meine, großartig, als der Einführer der vielseitigen naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden in der Psychiatrie und der Begründer der exakten objektiven Beobachtungsweisen des psychischen Abnormen und vor allem der Heranbilder hervorragender Forscher. Es fragt sich, wie ich meine, ob selbst Jaspers ohne Kraepelin vorangekommen wäre“. Kolle zitiert diese Äußerung Uchimuras in seinem Buch, das sich wiederum auf Kraepelin bezieht (Kolle 1956: 184). Auch der deutsch-amerikanische Psychiater Eugen Kahn (1887–1973), der einst als Oberarzt bei Kraepelin und Oswald Bumke (1877–1950) in München tätig war, erwähnt die aus dem Deutschen ins Englische übersetzte Äußerung Uchimuras in seinem Artikel über Kraepelin (Kahn 1959: 29–30). Tokkoni bedeutet in der Sprach des Ainu-Volks Schlange.
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wöhnlich auf ihn, den Stock oder etwas, was zufällig dort liegt, ergreifend“ (Uchimura 1956a). Bei der erwähnten Feierlichkeit zu Ehren Kraepelins waren auch die Psychiater Ernst Kretschmer und Ludwig Binswanger (1881–1966) anwesend, beide ganz offensichtlich um ihrerseits mit der „Goldenen Kraepelin-Medaille“ geehrt zu werden. Kretschmer soll Uchimuras Vortrag inhaltlich sehr begrüßt haben. Nach dem Vortrag kam er zu Uchimura, um ihn persönlich mit Handschlag zu begrüßen (Uchimura 1968: 156–157). Darüber hinaus bezog sich Kretschmer auch im Vorwort zur 6. Auflage seines Buchs Hysterie, Reflex und Instinkt auf Uchimura: „Zum Problem der Hypobulik und der genormten reaktiven Instinktformeln boten die sorgfältigen Beobachtungen von Uchimura an dem „Imu“ der nordjapanischen Ainufrauen wertvolle Ergänzungen und Bestätigungen zu unseren eigenen Arbeiten. Sie wurden entsprechend in diese Auflage eingebaut“ (Kretschmer 1958: III–IV). Für Uchimura wiederum stellte die Zustimmung Kretschmers zu den Ergebnissen seiner Forschung eine Bestätigung von nicht zu unterschätzender Bedeutung dar. Zwanzig Jahre nach Beginn der ethnopsychiatrischen Untersuchungen Uchimuras schienen seine Beobachtungen zum ersten Mal zu einem wissenschaftlichen Widerhall in der internationalen scientific community geführt zu haben (Uchimura 1968: 156–159). Uchimuras Ansatz einer vergleichenden Psychiatrie fand in den ehemaligen japanischen Kolonialgebieten seine Fortsetzung. In den 1940er und 1950er Jahren untersuchte Uchimuras „Schüler“ Lin Tsung-yi (1920–2010) die psychiatrischen Zustände der Ureinwohner Taiwans (Lin 1968). Lin wurde in Taiwan, in der Zeit unter japanischer Herrschaft (1895–1945), geboren. Er studierte vor dem Zweiten Weltkrieg als einer der „ausgewählten Einwohner aus der Peripherie (selective inhabitants of the margin)“ (Spivak 2006: 145) an der Universität Tokio Medizin. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine erfolgreiche akademische Karriere zu verzeichnen, im Rahmen derer Lin mit einer Professur für Psychiatrie an der Nationalen Universität Taiwan ausgestattet worden war. In seiner späteren Karriere war Lin als Direktor im Bereich Mental Health bei der World Health Organization (WHO) tätig, ebenso – als Professor für Psychiatrie – an der British Columbia University in Kanada (The New York Times 2010). Hier ist jedoch zu beachten, dass die damaligen Imu-Forschungen von Sakaki und Uchimura unter postkolonialistischem Gesichtspunkt heute zu kritisieren sind. Sie ignorierten die zwischen Ainu und Japanern bestehenden (ungleichen) Machtverhältnisse gänzlich: Das traditionelle Leben in der Ainu-Dörfern, die Sakaki und Uchimura untersuchten, interferierte bereits früher mit den herrschaftlichen Vorstellungen der feudalen Edo-Zeit. Durch den nicht gleichberechtigten Handel stärkten die Japaner die Herrschaft über die Ainu und verletzten die Lebensräume dieses Volks auf der Nordinsel.14 Das eigentliche Jägervolk der Ainu,15 das in der Folge 14
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Der Shakushain-Krieg (Kanbun kunen ezo no ran), der 1669 von einem Ainu-Führer Shakushain verursacht wurde, ist als eine der großen Revolten der Ainu gegen die japanische Herrschaft bekannt geworden. Für die englischsprachige Literatur zu diesem Krieg, siehe Walker (2001: 48–72). Das traditionelle Bild vom „Jägervolk der Ainu“ wurde zuletzt um den Aspekt des Seehandels
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gezwungen war, an festen Wohnorten zu siedeln, verlor, ähnlich der nordamerikanischen indigenen Völker, damit quasi die Produktionsmittel und seine Lebensgrundlage. Die Ainu-Gesellschaft und Kultur wurden derart nach und nach vernichtet.16 Die Erscheinungen, die von den Psychiatern im Laufe der Modernisierung Japans als Imu beobachtet wurden, könnten allerdings auch eine Inszenierung der gegenüber Japanern sich unterordnenden Ainu-Frauen darstellen oder sogar eine posttraumatische Reaktion auf eine stattgehabte Vergewaltigung durch dieselben repräsentieren (Otsuki 2000, 2011). Diese Debatte ist längst nicht abgeschlossen. PERIPHERISIERUNG DER DEUTSCHEN PSYCHIATRIE Will man die oben erwähnte Äußerung von Uchimura verallgemeinern, so scheinen sich die Beziehungen zwischen japanischen und deutschen Wissenschaftlern bis in die Jahre der Nachkriegszeit hinein gut entwickelt zu haben. Doch dieser Eindruck täuscht, denn die vorherrschende Position der deutschen Psychiatrie begann in Japan bereits seit Beginn der 1930er Jahre zu bröckeln. Der erste internationale Kongress für Psychische Hygiene (International Congress on Mental Hygiene), der – unter der Initiative des ehemaligen Patienten und Aktivisten der Mental Hygiene-Bewegung Clifford W. Beers (1876–1943) – im Mai 1930 in Washington D. C. stattfand, symbolisiert den hegemonialen Wandel der Psychiatrie in der Welt: Während der zunehmende globale Einfluss der USamerikanischen Psychiatrie immer deutlicher wurde, wurde der Einfluss der deutschen Psychiatrie wenn nicht marginalisiert, so doch nach und nach zurückgedrängt, wenn auch Wilhelm Weygandt (1870–1939), Japanreisender und amerikanischer Kongressvertreter aus Deutschland, behauptete, dass das Konzept der Mental Hygiene aus Nordamerika ihm nicht neu sei, und in Deutschland lange realisiert worden sei (Hashimoto 2013). An diesem Kongress nahmen etwa 3.600 Expertinnen und Experten aus 53 Ländern teil. Zumindest zwei der psychiatrischen Experten stammten aus Japan: Miyake Koichi (1876–1954), Psychiatrieprofessor an der Universität Tokio und Nachfolger von Kure Shuzo, der aus gesundheitlichen Gründen von seiner Reise nach Washington absehen musste, und Uematsu Shichikuro (1888–1968), Psychiatrieprofessor an der Universität Keio. Wie Sakaki Hajime und Kure Shuzo gehörte Miyake zum Kreis etablierter Psychiater der ersten Generation. Er stammte aus einer gelehrten Familie und wurde 1925 zum Professor der Universität Tokio berufen.17 Im Gegensatz zu den nach „deutscher Schule“ ausgebildeten japanischen Psychiatern studierte Uematsu, Sohn einer Bauernfamilie aus Nagano, von 1918
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in Nordostasien erweitert und damit in gewisser Weise auch revidiert. Siehe Segawa (2015). 1997 ließ die japanische Regierung das Gesetz für Förderung der Ainu-Kultur zustande kommen. Damit ist beabsichtigt, dass das Leben der heute noch in Hokkaido wohnenden Ainu unterstützt und gefördert wird. Sein Vater Miyake Hiizu (1848–1938) und sein Sohn Miyake Masashi (1908–69) waren ebenfalls Professoren der Medizin an der Universität Tokio (Muramatsu 1979).
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bis 1922 in den USA, nachdem er als Assistenzarzt an der Universität Tokio tätig gewesen war (Hosaki 1981). Miyakes Rolle und Position im Feld der in Washington versammelten Psychiater mag nur schwer einzuordnen sein: Beim „Internationalen Dinner“ als Eröffnungszeremonie hielt er als Vertreter des asiatischen Kontinents vor etwa 1.100 Teilnehmern eine Rede. Da er nicht gut mit der englischen Sprache vertraut war, sprach er auf Japanisch. Die Rede wurde durch seinen Kollegen Uematsu übersetzt (Uematsu 1929/1930). Am dritten Konferenztag war darüber hinaus Miyakes englischsprachiger Vortrag zur Bewegung der Mental Hygiene in Japan vorgesehen. Doch Miyake erschien nicht am Tagungsort. Sein Vortragsmanuskript wurde von einem US-Amerikaner verlesen.18 Im Gegensatz zu Miyake war Uematsu, der durch sein Studium in den USA die englische Sprache glänzend beherrschte, während des Kongresses ein sehr aktiver Teilnehmer. Als Mitglied des Komitees über Institutionen (The Committee on Institutions) äußerte er ebenfalls seine Meinung (Williams 1932: 57–58). Seine Redebeitrag in der Morgensitzung des zweiten Kongresstages ist in der Kongressdokumentation hinterlegt: er steuerte einen Kommentar zum Thema der Syphilis und der Mental Hygiene bei (Williams 1932: 438–439). Im Anschluss an diesen Kongress reiste Uematsu nach New York, um in einer dortigen medizinischen Akademie und in Vertretung Kure Shuzos einen Vortrag19 zur Familienpflege in Iwakura, Kioto, zu halten (Uematsu 1929/1930). Im Vergleich mit den nach „deutscher Schule“ ausgebildeten Psychiatern, deren Forschungen biologisch-histologisch und psychopathologisch betont waren, dehnte Uematsu sein Interesse auch auf soziale und sozialpsychiatrische Themen der Zeit, einschließlich der Mental Hygiene Bewegung, aus. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs spielte Uematsu eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer neuen nationalen Psychiatriegesetzgebung, die ihren Abschluss im Jahr 1950 fand (Gesetz für Psychische Hygiene). Ebenso engagierte er sich bei der Organisierung des Verbandes der privaten psychiatrischen Krankenhäuser Japans, der in der Nachkriegsperiode als eine der wesentlichen Interessensgruppen der Psychiatriepolitik sehr einflussreich wurde (Okada 1994). An dieser Stelle ist noch auf einen anderen Psychiater der „amerikanischen Schule“ einzugehen, der in der Zwischenkriegszeit in den USA studiert hatte und in der japanischen Nachkriegspsychiatrie eine wesentliche Rolle spielte: Miyakes Schüler Muramatsu Tsuneo (1900–81). Muramatsu war ab 1933 Fellow der Rockefeller Foundation, mit Hilfe derer er von 1933 an, für eineinhalb Jahre klinische 18
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Bezüglich der Rede und des Vortrags von Miyake bemerkte der Chairman Frankwood E. Williams (1883–1936): „Those of us who attended the dinner on Monday evening enjoyed, I am sure, the remarks of Dr. Koichi Miyake, of Japan. I wish that Professor Miyake had come this afternoon because I think we would have enjoyed hearing him speak again in Japanese, even though we might not understand every word of it (laughter); but instead he has sent a manuscript in English, which I am asking Mr. Bedinger to read to us for Dr. Miyake.“ (Williams 1932: 108). Der Text für diesen Vortrag in New York wurde von Tsuchiya Eikichi (1877–1957), Psychiater und Direktor des psychiatrischen Krankenhauses in Iwakura, bearbeitet. Tsuchiya scheint jedoch in doppelter Weise einem Missverständnis unterlegen zu sein, da dieser Vortrag weder von Kure als Person, und auch nicht am Ort Washington D. C. gehalten wurde (Tsuchiya 1930).
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Psychiatrie und Neuropathologie an der Bostoner Harvard University studieren konnte. Die zeitgenössische, sozialpsychiatrische Denkweise der US-amerikanischen Psychiatrie findet in seinem Werk einen deutlichen Nachweis und Niederschlag (Muramatsu und Sato 1978). Als Muramatsu 1948 zum Direktor des nationalen psychiatrischen Krankenhauses Konodai Byoin in Chiba ernannt wurde, gelang es ihm das „Nationale Zentrum für Psychische Hygiene“ zu etablieren. 1952 entwickelte sich dieses Zentrum zu einem „Nationalen Institut für Psychische Hygiene“ nach Vorbild des US-amerikanischen NIMH (National Institute of Mental Health). Kurz zuvor, 1950, war Muramatsu zum Psychiatrieprofessor an der Universität Nagoya ernannt worden, wo er sich mit der Organisierung des neu gegründeten Social Service Department der Universitätsklinik beschäftigte (Nagoya daigaku seishin igaku kyoshitsu 1960). Während seines Studiums in den USA identifizierte sich Muramatsu auch mit der wichtigen Rolle, die dem Psychiatric Social Worker (PSW) im psychiatrischen Bereich zunehmend zugestanden wurde. Er gilt als Pionier Japans in der Stärkung dieser Berufsgruppe im Rahmen psychiatrischer Arbeit und forcierte die Etablierung eines Junior College für Sozialarbeit in Nagoya, im Jahr 1953 (spätere Bezeichnung: Nihon Fukushi University) (Hashimoto 2012). UCHIMURA, DER ZWEITE WELTKRIEG, UND DIE NACHKRIEGSZEIT Im Japan der 1930er Jahre ist eine sehr aktive Diskussion zur Sterilisationsgesetzgebung zu verzeichnen. Zentrale Institution war hier die im Jahr 1930 gegründete Japanische Gesellschaft für Rassenhygiene, die vorwiegend aus Biologen, Medizinern, Juristen und Politikern bestand. Ihr Vorsitzender war der Physiologe Nagai Hisomu (1876–1957), Professor der Universität Tokio, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland studiert hatte. Das im Jahr 1933 etablierte deutsche Sterilisationsgesetz regte auch die einschlägige Debatte in der japanischen Gesellschaft an. Mehrmals waren durch Abgeordnete Gesetzesentwürfe vergebens eingereicht worden. 1940 jedoch trat ein Sterilisationsgesetz in Kraft (Suzuki 1983). Uchimura war von diesem rassenhygienischen Trend nicht überzeugt. Ebenso wie andere zeitgenössische Psychiater Japans hatte er Zweifel daran, ob man die psychisch Kranken, die stigmatisiert worden waren, die Besitzer „negativ zu bewertender Erbanlagen“ zu sein, um sie dann aus der Gruppe fortpflanzungsfähiger psychisch Kranker auszusondern, und zu sterilisieren. Als Professor der Universität Tokio, der seitens der zentralen Regierung eine wichtige Rolle in Bezug auf Medizinpolitik zugestanden wurde, musste er sich zwangsläufig mit dem geplanten Sterilisationsgesetz auseinandersetzen. Als Folge davon, dass die Meinung der Psychiater angenommen wurde, sollte die freiwillige Sterilisation im Gesetz bestimmt worden sein an Stelle der zwingenden (Uchimura 1968: 196–199). Andererseits betrachtete er es als „unerträglich“ (Uchimura 1968: 199), dass das Gesetz nur aufgrund von medizinischen und epidemiologischen Daten in Kraft treten sollte, die sämtlich aus dem Ausland stammten. Aufgrund dessen wurden unter der Leitung von Uchimura zwischen 1939 und 1941 umfangreiche Untersuchungen zur Erb-
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lichkeit von Erkrankungen initiiert, die sich geographisch wesentlich auf die entfernten Inseln Hachijojima, Ikebukuro (Tokio) und Komoro (Nagano) bezogen. Mit den eigenen, in Japan gesammelten Daten, konnte er bestätigen, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Japan und Europa ähnliche Maßstäbe erreichte. War Uchimura auch mit dem Ergebnis seiner epidemiologischen Untersuchung zufrieden, so hatte er doch erhebliche Zweifel an der Berechtigung, aus solchen Daten eine Sterilisationsgesetzgebung herzuleiten, unabhängig davon, ob dies in Japan oder auch in Nazideutschland geschehen solle. In seiner Autobiographie beschrieb Uchimura das deutsche Sterilisationsgesetz und den Münchner Rassenhygieniker Ernst Rüdin (1874–1952), „Ich kenne Rüdin persönlich, aber ich bezweifle, dass er gezwungen wurde, Nazi-regierungstreu zu sein“ (Uchimura 1968: 196–214). Der Psychiatrieprofessor der Universität Tokio wurde in jenen Jahren auch zum Direktor am Psychiatrischen Krankenhaus Matsuzawa der Präfektur Tokio berufen. Als Direktor in der Zeit des Zweiten Weltkriegs stellte Uchimura die allgemeine Krise in Matsuzawa wie folgt dar: Die etwa 1.000 Patientinnen und Patienten waren mit dem Hungertod bedroht, gleichzeitig drohten Luftangriffe vor Ort, auf die man sich vorbereiten musste. Offenbar erst nach dem Krieg erfuhr Uchimura von der zentralen „Euthanasie“ („Aktion T4“) – dies durch das 1953 von Elie A. Cohen publizierte Buch Human Behavior in the Concentration Camp.20 Uchimura war offenbar von diesen Taten sehr überrascht, und betrachtete es jedoch als glücklichen Umstand, dass solche Ermordungen in Japan nicht geschehen waren. Er gestand jedoch ein, dass er sich mit der Frage, wie man sich als Arzt zu verhalten habe, wenn man von der militärischen Behörde den Befehl erhalten würde, psychisch Kranke in Matsuzawa zu ermorden durchaus besorgt beschäftigt habe. (Uchimura 1968: 232–235). Während das Interesse der ersten Generation der Japaner sich auf die biologische Psychiatrie oder das Kraepelin-System konzentrierte, war Uchimura schon Jahre vor seinem Studium in München auch mit der psychopathologischen Lehre deutscher Provenienz vertraut. Uchimura beklagte, dass den meisten japanischen Psychiatern nach wie vor allein das Kraepelin-System bekannt sei, und der Phänomenologie der Diagnose zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden würde. Er bezog sich hierbei offenbar insbesondere auf die verstehende Psychopathologie der Heidelberger Schule. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs publizierte er mit seinen Kollegen die japanische Übersetzung der 1948 in Deutschland erschienenen Allgemeinen Psychopathologie (in 5. Auflage) von Karl Jaspers (Uchimura 1968: 273–276). Im Vorwort der japanischen Übersetzung wird auch Jaspers’ ablehnende Haltung gegenüber der Psychoanalyse sehr deutlich (Jaspers 1953–1956). Ähnlich wie Jaspers, hegte auch Uchimura große Zweifel an der Wirksamkeit der Psychoanalyse. Im Präsidentenvortrag der Jahrestagung der Japanischen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie21 im Jahr 1954 stellte er dar, dass seine größten Zweifel 20 21
Wahrscheinlich liest Uchimura die japanische Übersetzung, die per Iwanami shoten publiziert wurde (Cohen 1957). Nihon seishin shinkei gakkai (Die Japanische Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie) ist die älteste und größte Assoziation über Psychiatrie, die 1902 von Kure Shuzo und Miura Kin’nosuke (1864–1950) gegründet wurde.
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darin bestünden, dass die Psychoanalyse ein zu großes Gewicht auf Erfahrungen und Umgebungsbedingungen der Kindheit lege, und dass es ein reiner Gedankensprung sei, sie mit nachherigem Verhalten und Symptomen zu verbinden (Uchimura 1954). Aber es scheint, dass er diesen Verdacht in Bezug auf die US-amerikanische Psychiatrie im Allgemeinen hegte. So schreibt Uchimura im Nachwort der schon erwähnten japanischen Übersetzung des Lehrbuchs von Jaspers: „Seit 1945 ist eine neue Wissenschaft nach Japan gekommen, die in den USA erwachsen wurde. Dort gibt es Ehrgeiz und Überzeugung das Unvernünftige im Menschen mit vernünftigem Maß zu messen“. Ferner kritisiert er das Verhalten der japanischen Psychiater: Sie verehren das neue Wissen aus den USA als „eine einzige Wahrheit“, aber eigentlich müsse dies nur als „ein Wissen“ in der Vielfalt der akademischen Genealogie betrachtet werden (Uchimura 1956b). Wie jedoch ordnete Uchimura die jüngere Generation deutscher Psychiater nach dem Zweiten Weltkrieg ein? Während er zum Einen die US-amerikanische Psychiatrie, die wenig Aufmerksamkeit auf die in Europa seit langem erforschten Ergebnisse richtete, kritisierte (Uchimura 1968: 280), war er dennoch auch nicht zufrieden mit dem neuen Trend im Deutschland der 1960er Jahre. Uchimura selbst: „Die neulich publizierten Aufsätze über Psychopathologie, die von den Autoren insbesondere in Heidelberg, Frankfurt oder Mainz geschrieben wurden, sind sehr auffällig und übereifrig. (…) Es scheint mir, dass sie übereilt Schlüsse ziehen, bevor sie die Fragestellung gut beforscht haben“. In seiner Autobiographie zitiert Uchimura folgende Episode: Als er den Düsseldorfer Psychiater Friedrich Panse (1899–1973), Gutachter der sogenannten Aktion T4, in Japan traf, habe er von Panse die Bezeichnung „zornige junge Leute“ für die jüngere Generation genannt bekommen, die Uchimura kurios vorkam. Als solche nannte Panse Karl Peter Kisker (1926–1997), Heinz Häfner (geb. 1926), sowie Paul Matussek (1919–2003), die später, zusammen mit Anderen, maßgeblich die deutsche Psychiatriereform in den 1970er und 1980er Jahren prägten (Uchimura 1968: 281–284). Nachdem 1958 Uchimura offiziell in den Ruhestand trat, übernahm er andere Funktionen: Direktor des Instituts für Neurologie (eine rechtsfähige Stiftung in Tokio), Direktor des Nationalen Instituts für Psychische Hygiene, sowie Commissioner (Bevollmächtigter) des professionellen Baseballs, und andere mehr. Uchimura starb am 17. September 1980, noch bevor er eine neue Übersetzung des Werkes Geniale Menschen von Ernst Kretschmer vollenden konnte (Akimoto et al. 1982). SCHLUSS Vor dem Ersten Weltkrieg versuchte die erste Generation japanischer, im Ausland ausgebildeter Ärzte die Früchte des als wissenschaftlichem Zentrum der psychiatrischen Welt wahrgenommenen deutschsprachigen Raums in der Peripherie (dem heimischen Japan) mehr oder weniger zu reproduzieren und zu adaptieren. Nach Ende des Ersten Weltkriegs bereits erschienen Originalarbeiten auch in Japan selbst, dies insbesondere im Gebiet der Hirnforschung, der vergleichenden Psychiatrie, und der psychiatrischen Epidemiologie. Hier kommt dem Werk Uchimura
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Yushis eine zentrale Bedeutung zu. Trotz seiner Kenntnisnahme der Entwicklung in der nationalsozialistischen Psychiatrie („Aktion T4“) hielt er an seiner Sympathie für die deutsche Entwicklung in der Psychiatrie fest, auf der auch Uchimuras eigene wissenschaftliche Identität basierte. Hingegen kritisierte Uchimura neuere Entwicklungen der Psychiatrie in den USA. Auch distanzierte er sich von der Haltung vieler Protagonisten der jungen Generation an Psychiatern im Deutschland der 1960er Jahre. Galt also die amerikanische Psychiatrie vor dem Zweiten Weltkrieg für viele japanische Psychiater als eine Psychiatrie „zweiter Wahl“, so ließen sich dennoch einige der dieser Generation zuzurechnenden Psychiater in den USA ausbilden. Derart bereiteten sie nolens volens auch die Umgestaltung der japanischen Psychiatrie zu einer sozialpsychiatrisch orientierten Psychiatrie nach dem Zweiten Weltkieg vor. Zuallerletzt ist hier der Psychiater Doi Takeo (1920–2009), der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA studierte, zu erwähnen. Er wäre als ein Vertreter der neuen Generation zu betrachten, die zwar initial von einer „westlichen Psychiatrie“ (deutsch oder amerikanisch) beeinflusst war, jedoch nun eigene Wege in der Entwicklung der Psychiatrie ging. Einer ihrer Erfolge stellt die Popularisierung der Psychiatrie in Japan dar. Nach einem zweijährigen Studium der Psychoanalyse an der Karl Menninger School of Psychiatry (1950–1952), war Doi als Assistenzarzt bei Uchimura tätig, obwohl Letzterer keine psychoanalytische Denkweisen akzeptierte und Doi immer mit kritischen Bemerkungen zur Psychoanalyse konfrontiert haben soll (Doi 1982). Dois wissenschaftliche Arbeit ist möglicherweise von Uchimura jedoch nie verstanden worden. Doi kann als weit mehr denn allein als ein Nachahmer der amerikanischen Psychiatrie, insbesondere der Psychoanalyse, beschrieben werden. Er war vielmehr ein hervorragender Kulturkritiker der japanischen Gesellschaft, der den Anspruch einer eigenen japanischen Psychopathologie durch seine Erfahrungen in Amerika bestätigt sah. Das im Jahr 1971 von Doi publizierte Buch Amae no kozo (Die Struktur von Amae) wurde als Fachbuch ein Publikumserfolg, zugleich ein populärer Bestseller. In diesem Buch analysierte Doi das japanische Konzept Amae (Verwöhntheit, Abhängigkeit, siehe Doi 1971) in psychologisch-soziologischer Perspektive, und trug derart zum Verständnis kultureller Konflikte im modernen Japan maßgeblich bei. Dois Interessen und Arbeitsgebieten folgten weitere Psychiater und Psychologen nach,22 die – die westlichen Theorien integrierend – zum Verständnis der japanischen Mentalität von einem interdisziplinären Standpunkt aus substantiell beitrugen. Man könnte sagen, dass sich die Vertreter der japanischen Psychiatrie an diesem Punkt aus dem Zauberbann der Zentrum-Peripherie-Beziehung zu ihren westlichen Kolleginnen und Kollegen befreiten und begannen, auf eigenen Füßen zu stehen. 22
Zum Beispiel kann man die folgenden Personen nennen: der Psychiater Kimura Bin (1931–), der von Binswanger beeinflusst wurde und persönlichen Kontakt mit ihm hatte, und der Psychologe Kawai Hayao (1927–2007), der als Jungianer Psychologie in Zürich studierte. Die beiden waren Professoren an der Universität Kioto. Ferner der Psychiater Okonogi Keigo (1930–2003), Professor an der Universität Keio, bekannt für seinen Bestseller über japanische Mentalität und Psychoanalyse.
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Abb.1: Uchimura (hintere Reihe, zweiter von links) und Spielmeyer (vordere Reihe, Mitte) an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München 1926.
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PSYCHIATRIC SURVEYS AND EUGENICS IN THE FAMILY AND COMMUNITY IN JAPAN 1935–1945 Akihito Suzuki Eugenics was an international currency in the late nineteenth- and early twentieth-century. It spread from England in the late-Victorian and Edwardian period to the rest of the world, via international conferences, scholarly networks, and translations of books and journal articles. 1 The basic ideas of eugenics such as the quality of the population and the necessity to manage the reproduction of the populace for the benefit of the nation were shared by many countries. The actual implementations were very different by nations, however. Although eugenics was a common language, the goals, ambitions and methods of the policies and projects of countries were often radically different: sterilization, pronatalism, puériculture, and laboratory genetics were all projects of eugenics embraced by countries. Research into the history of eugenics thus has revealed both the similarities and differences in countries in the early twentieth century. In other words, countries expressed their societal and cultural characteristics through making their own eugenic projects through the common language of eugenics. This paper tries to compare the eugenic psychiatry of Japan with that of Nazi Germany in order to delineate some crucial aspects of Japanese social practice of caring for the mentally ill in the early twentieth century. The most notorious among the eugenic practices was that of Nazi Germany. “Euthanasia” of adult psychiatric patients in Germany during the Nazi period was conducted within the system of psychiatric hospitals. Each asylum was asked to select seriously diseased inmates, who were sent to the special institutions designed for mass killing.2 The project was mostly centred around the transportation of the selected patients from one institution to another.3 Psychiatric hospitals in Nazi Germany acted as the matrix of the euthanasia programme. What would have happened in the euthanasia programme if there had been no (or very few) psychiatric hospitals and those who suffered from severe mental diseases had remained in their families or communities? In what ways could psychiatrists have identified and selected the patients under such a situation? These are the questions this paper wants to ask through examining psychiatric surveys that were undertaken in Japan during the period when German psychiatric patients were exterminated. The crucial point was the absence of psychiatric hospitals in Japan at that time. Confining mental patients in asylums or psychiatric hospitals was a social 1 2 3
Levine, Philippa and Bashford, Alison, 2010, p. 3–24; Moore, James 2004, p. 266–297. Aly, Goetz; Chroust, Peter and Pross, Christian, 1994; Burleigh, Michael 1994. One needs to acknowledge, however, that there existed other routes and the euthanasia of handicapped children mainly followed a different route of transportation from the family to the place of killing.
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and cultural practice that was almost totally alien for early modern Japan, where the patients stayed with their families and only a small fraction of them were confined at their own home. Although Japanese society and medicine was westernized from the late nineteenth century, psychiatric hospitals did not start to grow rapidly. In 1905, among 24,000 individuals who were registered at police as mentally ill, 1,300 were in hospitals and 2,900 were under home-confinement, while 19,500 or 80 percent lived in their family or communities, neither hospitalized nor home-confined. In 1935 the situation had not changed very much, despite the growth in the size: the registered patients grew to 83,000, the hospitalized patients increased to 10,500, home-confined patient were 7,200, and the patients who lived in the family and community without any restraint were 65,000, still making up the 78 percent of the registered patients. Japanese psychiatrists had to conceptualize their eugenics in a very different framework from psychiatrists in Germany and other European and North American countries. From the late 1930s until the 1960s, a specific type of psychiatric surveys was conducted in Japan, its empire and the areas occupied during the Second World War (1941–1945). The majority of the surveys were made in a short period between 1940 and 1943 during the Asia-Pacific War (1931–1945), while an important prototypical survey was made in the 1930s on the mental diseases of the Ainu, an ethnic group in the northern parts of Japan. Strong emphasis was placed on the mental illnesses of highly isolated populations of islands and very remote rural areas. These surveys of small populations were developed into two major national surveys in 1954 and 1963, which surveyed about 24,000 and 44,000 people respectively. The surveys were conducted in highly invasive manners. Instead of examining the patients at psychiatric hospitals, a number of psychiatrists visited the place and stayed there for about ten days. They discovered and diagnosed the people who suffered from mental illnesses through the cooperation with local offices, police, doctors, and notable persons who played important roles in the community. Local residents were asked to name the persons in the neighborhood whom they thought mentally ill and to give information about the mental states of the persons’ families and relatives to specify the heredity of the disease in the family trees. The surveys were a project to hunt down all cases of mental diseases by psychiatrists, local officers, families, and communities. Through these surveys, Japanese society was forming psychiatry of population, which coexisted and combined with psychiatry of individual, making psychiatry as a two-fold enterprise that understands, treats, and deals with the troubles of both the suffering individual patients and the problems of the certain subgroup of the populace to which the patients belong. The issues of gender, class, and race or ethnicity were integrated into the individual patient treated by the doctor and cared for by the family. In the early and mid-twentieth century, psychiatry in Japan was being transformed from a clinical activity of treating and segregating the individual patients to a more complex double enterprise that dealt both with the patients and their population subgroups. Psychiatry of population started rather badly in Japan in the 1930s, revealing that the Japanese psychiatry at that time was not ready for the national compilation
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of the data. The first important and major work that discussed mental illnesses of the Japanese nation appeared in 1937, as a special issue of the Japanese Journal of Psychiatry and Neurology, the official journal of the Japanese Association of Psychiatrists.4 The editor of the special issue was Miyake Koichi, the former professor of psychiatry who had just moved to the Institute of Brain Science at University of Tokyo. Miyake was a committee member of the International Society of Mental Hygiene, and conceived the plan of an international and comparative epidemiology of mental illnesses. Miyake tried to collect data from all over Japan, and asked university clinics and departments of psychiatry to send the data of their patients to Tokyo, which would be compiled and analyzed. This plan did not work, however. The university clinics used different systems of diagnosis. They returned answers that used different diagnostic labels and, worse still, different definitions for the labels. Facing this complete lack of standardized diagnostic system, Miyake gave up the national statistics and concentrated on his own data from the clinic of the University of Tokyo and its hospital. This failure might have been a reason why in the same year 1937 the Association started to standardize the diagnostic labels used by Japanese psychiatrists.5 Apart from the lack of a nationally standardized diagnostic system, there was a further obstacle for the psychiatric epidemiology of the Japanese nation. Psychiatric beds in Japan at that time were so small in number and they covered only the urban parts.6 The number of psychiatric beds in Japan was miserably small, despite the rapid growth during the Interwar period. If one compares the number of psychiatric beds per population, Japan was about one-twentieth of countries such as Germany, England, or the U. S. Moreover, the psychiatric facilities existed only in city areas. The hospitalized patients were thus strongly biased toward residents of cities, while Japan at that time was still an agricultural society about two-thirds of the population living in rural parts. Data obtained through psychiatric hospitals were too small in size and heavily biased for the psychiatric epidemiology of the Japanese nation. In other words, psychiatric hospitals could not become an apparatus of measuring and examining the mental illnesses of the Japanese nation. Another method was badly needed. The method was provided by Uchimura Yushi, a professor of psychiatry of University of Tokyo.7 Uchimura introduced psychiatric research methodologies practiced in Munich, Germany, where he studied from 1925–27: particularly important was the imperial psychiatry of Emil Kraepelin and eugenicist psychiatry of Ernst Rüdin, from which he developed a new method in the psychiatry of population which consisted in fieldwork. Instead of relying on psychiatric hospitals or university clinics as his predecessor Miyake had done, Uchimura conducted field researches: he visited actual communities, examined people living there, diagnosed their mental diseases, measured the rates of mental diseases, and analysed the he4 5 6 7
Miyake, Kōichi, Seishinshinkeigaku Zasshi [Japanese Journal of Psychiatry and Neurology, hereafter JJPN], 1937. See also Miyake, Kōichi 1938); Kaneko, Junji 1988. Hayashi, Michitomo (1938), p. 446–457; Ishikawa, Sadakichi (1938), p. 440–445. Suzuki, Akihito, 2003, p. 193–225. Uchimura, Yūshi, 1973 and 1977.
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reditary pattern of the diseases within the family and the hereditary lineage. Most importantly, he conducted fieldwork in peripheral regions in Japan, selecting an ethnic minority and the group of residents who had been isolated from the rest of the population in terms of reproduction. First Uchimura conducted extensive fieldwork on the mental illnesses of the Ainu people in Hokkaido and Karafuto in the early- and mid-1930s, and then examined the populations of the isolated islands of Hachijojima and Miyakejima in 1940.8 In so doing, he combined the methodologies of imperial psychiatry of different races and the eugenic study of the hereditary nature of mental diseases. The survey of the Ainu was the exploration of the contrasts and the similarities of mental illness in civilized and uncivilized races in the theoretical framework of German imperial psychiatry, while the researches in Hachijojima and Miyakejima were conceived as the eugenic study of the Japanese nation. Imperial psychiatry was first conducted within Japan, and eugenics of the Japanese nation examined those populations that were almost distinct races, living in isolated peripheral parts of Japan. I will now examine the interconnections between empire and eugenics in Japan in the 1930s and 40s in the making of the psychiatry of population. Uchimura Yushi walked “in the sunny part of Japanese psychiatry”, as one of his students remarked.9 Fame, success, and prestige smiled upon him from childhood. He was a son of Uchimura Kanzo, one of the famous Christian educationists. At high school, he was the ace pitcher of the baseball team of the best high school in Japan, and his victories were reported in national newspapers. He first studied medicine at University of Tokyo, and then studied in Munich, which was at that time the world-centre of psychiatry. He first taught psychiatry at Hokkaido, where he was the youngest professor and moved to Tokyo, where again he was the youngest professor. After retirement, he became a commissioner of Japanese Professional Baseball Society, realizing his childhood dream also in terms of sports. As soon as he returned from Munich and assumed the professorship in Hokkaido in 1927, he started research into the mental illness of the Ainu, the indigenous people who lived in Northern Japan, Sakhalin, and Kurile islands.10 The Ainu people lived in the northern part of Japan. From the seventeenth century, they were harshly exploited by the Japanese traders and they were exposed to the lethal diseases brought by the Japanese, such as smallpox, syphilis, and tuberculosis. Alcoholic drinks imported from Japan ravaged their bodies and souls. The economic exploitation, new diseases, and the alcoholism led to the social disintegration and the decline of the Ainu from the eighteenth- and nineteenth century. At the time of Uchimura’s research, there were about 20,000 Ainu people who lived in separate villages or Ainu communities and were regarded as the “disappearing species”, a loser in the struggle for existence. Uchimura picked up the mental diseases of this diminishing ethnic group as the first topic of research after he returned from Munich, partly because the newly 8 9 10
Uchimura Yūshi et. al.(1938) p. 1–69; Uchimura Yūshi et. al. (1940) p. 745–782; Uchimura Yūshi et. al. (1942) p. 1–151. Utena Hiroshi (1984) p. 1259–1265. Siddle, Richard M., 2009, p. 21–39. See also Weiner, Michael, 2009, p. 1–20.
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established department of psychiatry was not equipped with facilities for advanced laboratory research. A more important reason was that in Munich Uchimura became familiar with the German imperial psychiatry, which became a major research subject under Emil Kraepelin. From the early twentieth century Kraepelin had a major research project of comparative cultural psychiatry.11 He tried to examine the mental illness of different races and nations using his newly proposed diagnostic categories of dementia praecox, manic-depressive diseases, neuro-syphilis, and other diseases.12 In 1904 he visited Java and observed the mental illnesses of the Javanese and wrote a famous paper on Latah. Kraepelin and other German psychiatrists tried to develop this scheme, and Japan was an important part of this research project: in 1914 Kraepelin planned a huge round-the-world research trip which would start from Japan and end at Egypt via China, Burma, Singapore, and India. Although Kraepelin’s ambition of the Eurasian psychiatric atlas was given up due to the First World War, he resumed a research conceived in a similar framework after the war. In 1923, Kraepelin made a three-month journey in the U. S., Mexico and Cuba with the neurocerologist Felix Plaut to conduct comparative research of psychiatric diseases and neuro-syphilis among Euro-Americans, African-Americans and American-Indians. Kraepelin visited St. Elizabeth Hospital in Washington D. C., a federal hospital for American Indians in South Dakota, and the Mazorra Mental Institute near Havana, Cuba, as well as learning culture of the American Indians from Franz Boas at Columbia University in New York.13 In his study of the Ainu, Uchimura followed the plan and conducted a part of the research agenda of the German master, so to speak. The young Uchimura, at the age of 30, was excited at the research into the mental diseases of the Ainu, later calling Hokkaido as a virgin land of psychiatry obviously styling himself as an explorer of the uncharted part of the empire of psychiatric research.14 The Japanese government, which was concerned with the medical and anthropological study of the Ainu backed up the research, and the Japan Society for the Promotion of Science sponsored a large-scale project from 1934 to 1936. Uchimura and his team trajected Kraepelin’s psychiatry of different races onto the Ainu. GPI and neurosyphilis provided an ideal material for the study of the difference of constitutions among different races: Kraepelin and other German psychiatrists had discovered that the rate of GPI patients per syphilitic patients differed among races.15 Generally speaking, the incidence of GPI was low in the peripheral parts of Europe and its white colonies. Places like Bosnia, Algeria, Persia, Transvaal, and Mongolia exhibited exceedingly low incidence of neurosyphilis, even if they had high incidence of syphilis. Uchimura’s research into the Ainu confirmed this pattern. They conducted serum test of Wasserman reactions on about 1,700 subjects, which were about 10 percent of the Ainu population, and the positive rate reached the astonishingly high rate of 40 percent. The appearance of the symptoms 11 12 13 14 15
Roelcke, Volker; Weindling, Paul J. and Westwood, Louise 2010. Kraepelin, Emil, 2006. Eric J. Engstrom, 2010, p. 48–66. Uchimura, Yūshi, 1977, p. l25. Uchimura, Yūshi et.al. (1941), p. 49–100; Uchimura et.al (1938), p. 811–848.
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of GPI and neurosyphilis was rather low, however. The prediction of Kraepelin and German psychiatrists was right in the Ainu, the uncivilized race did not often show the symptoms of GPI. The same framework of putting the Ainu in imperial psychiatry of different races was also used in Uchimura’s work on “imu”, the culture-specific mental illness of the Ainu.16 It was mainly suffered from by middle-aged women and extremely rare among men. Younger women exhibit not fully developed form of imu. The illness starts when the woman was suddenly surprised, most typically, by the word of “tokkoni”, meaning a snake. The woman was thrown into a violent fit, and she attacked people around her with sticks or stones. This state would not last long and soon succeeded by interesting states of echo-reaction, in which the patient automatically imitates or reverse what is told to her. The patient loses her own will and just imitates closely what other people told to her, or she would follow what other people told her to do: the patient runs, dances, or sings just as she was told. Or, conversely, the patient counter-imitates others. When the word “man” is mentioned, she answers “woman”; when told to go right, she goes left. About one hundred cases of this strange mental illness was discovered by Uchimura’s team through extensive research into Ainu communities, helped by the police and the collaborative part of the Ainu people. The research was so thorough that Uchimura was confident that he had discovered almost all cases of imu which were present at that time. In this strange mental illness, Uchimura read two things which were both highly relevant to psychiatry in the early 20 percent. First, Uchimura regarded the symptoms in an evolutionary framework. Imu was a kind of hysteria among the uncivilized people, caused by impulsive and instinctive reflex to avoid death. The question of the fear of death was the major topic of discussion around shellshock or war neurosis in the First World War, and German psychiatrists tried to read the symptoms of shellshock as a battle between instinct and reason, a tension between lower mental faculties and higher ones. Through this evolutionary framework, the mind of the Ainu women was integrated into the evolutionary view of the different races around the civilized imperial power. The other point is the contrast between the hysteria of the contemporary Japanese women (and men) and the imu of the Ainu women. Uchimura argued that there existed a crucial difference, which was the desire of the individual and the rule of the community. Hysterics of the modern world suffered from the disease due to their own desire and will, whereas the Ainu suffered from imu not because of their egocentric desires. Being a person suffering from imu was to accept the will or the desire of the community. Imu thus expressed the collective will to the disease of the communities of the Ainu, who had not developed the modern individualistic desire. In other words, what mattered in imu was the suggestibility of individuals in a community or a race. Uchimura’s observations resonated with those of German psychiatrists who observed that uneducated people such as the northern Slavs, Czechs, and the Bosnians were more prone to hysteria. Quite interestingly, after the defeat in World War II, Uchimura commented that the Japanese single-minded welcome of the American and their values reminded him of 16
Uchimura, Yūshi et.al. (1938), p. 1–69.
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the automatic suggestibility of the Ainu women. For Uchimura, the defeated nation looked like a highly suggestible uncivilized ethnic minority. When Uchimura moved from Hokkaido to Tokyo in 1936 to take up the position of the professor of psychiatry at the University of Tokyo, he was immediately involved into the national policy and research on eugenics. The 1930s was the decade of intense discussion over eugenics in Japan.17 In 1930, the government first set up a committee of racial hygiene or eugenics. Between 1934 and 1938, the parliaments discussed five eugenics bills prepared by the Japanese Society for Racial Hygiene. In 1940, the parliaments passed the Act of National Eugenics. As the professor of psychiatry of the University of Tokyo, Uchimura was inevitably drawn into the discussion of eugenics. His aim was to give a scientific basis for the new policy of the prevention of psychiatric diseases through the intervention into the marriage and reproduction of those with hereditary taints of mental diseases.18 To do that, one needed to have an estimate of the number of those who suffered from hereditary mental illnesses. Uchimura again took up the research methodology from Munich in Germany, following the works of Ernst Rüdin, who was a professor of Psychiatry and Population at the Institute of Psychiatry in Munich.19 More importantly, he used the methodology of field research and he selected regions which closely resembled Ainu communities: communities which were geographically peripheral and had a long history of cultural, social, and genetic isolation from surrounding communities. The first sites of Uchimura’s research, which became a flagship for following psychiatric surveys were Hachijo Island and Miyake Island. These islands presented an ideal situation for the eugenic study of the heredity of mental diseases, and Uchimura himself remarked that Hachijojima and Miyakejima were “a laboratory of the study of human heredity”.20 The islands were not just geographically isolated: they had been used as penal colonies for about two hundred years during the Edo period. Between the seventeenth century and the 1870s, about four thousand convicts were sent to the islands: almost all died in the islands, many married with the inhabitants of the islands and left children there. At the time of Uchimura’s research, the people of the islands were still highly isolated population in terms of marriage. Within the villages in the islands, everybody knew each other, and they knew very well about the family members of the villages and identified who in which family were and had been mentally ill. This situation presented an ideal condition for the study of the family tree of the heredity of mental diseases. Note well that the residents were isolated in terms of reproduction for several centuries, and the only marriage connection with the world outside was the marriage with the transported criminal convicts.
17 18 19 20
Suzuki, Zenji, 1983; Matsubara, Yōko, 2000, p. 169–236. Uchimura, Yūshi, 1977, p. 196–200, where he mentioned Ruedin and others. Uchimura, Yūshi (1943) p. 271–273. See also Weber, Matthias M. (1996) p. 323–331; Zerbin-Ruedin, Edith and Kendler, Kenneth S. (1996) p. 332–337; Gejman, Pablo V. (1997) p. 455–456. Uchimura, Yūshi (1940), p. 745–782 and (1942), p. 1–151.
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The actual surveys were intensive, intrusive, and thorough. Uchimura brought a team of about ten psychiatrists to the islands and stayed there for about ten days.21 They examined the patients who had been already selected by village officers, local doctors, and teachers of the schools. Uchimura asked the village officers to provide the genealogies of the patients. Teachers at school selected the pupils whose performance was poor as possible candidates for further study of mentally retardation. Most interestingly, village people were also drawn into the survey, not just as the object of the study but as informants. Doctors asked villagers who were suffering from mild forms of psychiatry and villagers reported about their personalities, behaviours, and conducts. When their reports contained certain negative remarks about the personalities about the person in question, the doctors classified him or her as a “psychopath”. Accordingly, Uchimura’s paper and the family trees contained remarks expressed in the everyday language of the people such as “lazy”, “sticky-fingered”, “sleeping with anybody”, “non-achievers”, and “hated man/ woman”.22 Villagers thus contributed to the finding and identification of the psychopathic, which became one of the bases of psychiatrists’ analysis and arguments about the lineages with tainted blood. The entire islanders collaborated with the psychiatrists for the discovery of mental patients. Although there were occasional glimpses of the incidence of indifference or antipathy, local people were generally ready to work for the psychiatrists. Psychiatrists were able to hunt down mental patients, both in the present and in the past, and were able to put them down on the genealogical tree. They achieved this intensive, intrusive, and exhaustive survey of the mental illness of the islands through the help of village officers and common villagers. From this survey, Uchimura and his team found that the distribution of mental diseases were extremely uneven in the islands and their villages which “condensed” burdens of specific psychiatric diseases. Hachijojima was an island of schizophrenics, while Miyakejia had an enormously high concentration of epileptics. Within each village, one village had a high concentration of epilepsy, another suffered from a large number of manic-depressive patients. Moreover, these cases concentrated in certain specific lineages. Genealogical studies showed that certain lineages had multiple cases of the same psychiatric disease, as well as psychopathic individuals with abnormal characters. They attributed this picture of uneven distribution and strong concentration of the hereditary burden of mental diseases in certain lineages to endogamous marriages practiced in the villages, although the survey could not find any hard evidence of extensive endogamous marriage in the villages. Since the islands and its villages were closed worlds in terms of marriage and breeding, the hereditary burden of psychiatric diseases were “condensed” through in-breeding and expressed in actual patients suffering from the diseases or other mental disorders.23 High rates of mental diseases resulted from the breeding practice of isolated population groups. 21 22 23
Uchimura, Yūshi (1940), p. 745–782, here p. 746–7 and (1942), p. 1–151, here p. 5–7. Uchimura, Yūshi (1940), p. 745–782 and (1942), p. 1–151, passim. Uchimura, Yūshi (1942), p. 1–151, here p. 136–145.
Psychiatric surveys and eugenics in the family and community in Japan 1935–1945
197
Uchimura’s fieldwork was to provide the basis and the model for the psychiatry of population in Japan during and after the war. During the war against the U. S., his disciples at University of Tokyo conducted surveys in Tokyo and a small city.24 Communities which had been isolated for a few centuries were chosen also by another team of psychiatrists researching the hereditary nature of mental diseases, led by Shimoda Mitsuzo, an influential professor of psychiatry at Kyushu University who pioneered important subjects such as depression in Japan and post-traumatic disorders in coal mines. Shimoda and his team studied the population of Gokanosho villages, which had a long history of complete isolation from the people in surrounding communities due to steep mountains and mutual distrust. Another student of Shimoda selected Koshiki Island which was also isolated and with high degree of consanguineous marriage. Isolated communities in remote peripheral regions where people married within the communities thus formed the major basis of psychiatric studies of population in Japan. Uchimura and Shimoda selected small subgroups of people who had a long history of marrying and reproducing within themselves. Other teams from the Brain Institute of the University of Tokyo and the Ministry of Health examined small communities between 1941 and 1943.25 After the war, surveys of the same spirit were pursued by Arai Naokata, a disciple of Uchimura.26 More importantly, the surveys of mental diseases of population were conducted in massive scales. In 1954, the Ministry of Health surveyed about 24,000 residents in randomly selected one hundred districts. The next survey in 1963 was even larger, covering two hundred districts and 44,000 residents. The methodologies of these massive researches were almost identical with those used by Uchimura. In the 1970s, this highly intrusive psychiatric survey was resisted and given up in the 1980s, but the methodologies of imperial psychiatry and eugenics pioneered by German psychiatrists and transformed by Uchimura in the early twentieth century in Japan continued to be used long after the war. This paper has argued that psychiatric surveys in Japan around the National Eugenics Act (1940) articulated eugenic practice without the matrix of the asylum and embodied psychiatry of the family and the community. Uchimura incorporated psychiatric population studies of Ernst Rüdin in Munich, who was one of the guiding forces of German laws of eugenic sterilization during the Nazi period, into the Japanese context where the system of public asylums was underdeveloped and the family and the community were still the major framework of psychiatric care. Racial hygiene (Rassenhygiene) of Germany was transformed into the hygiene of the family and community, incorporated as a eugenic study of the hereditary mental diseases of the long succession of consanguineous marriages in isolated rural areas. Japanese psychiatry collaborated with families and communities for the purpose of eugenic research to discover, count, and analyze the cases of hereditary mental diseases. The contrast between the population of the inmates of psychiatric hospital 24 25 26
Okada, Keizō et. al. (1942) p. 204–218; Akimoto, Haruo et. al. (1943) p. 351–374. Hiratsuka, Shunsuke and Nomura, Akichika (1941) p. 436–453; Hagio, Ryō and Nagao, Shigeru (1943) p. 529–536. Arai, Naokata et. al. (1961) p. 1–11; Arai, Naokata et. al. (1958) p. 475–486; Arai, Naokata et.al. (1959) p. 200–210.
198
Akihito Suzuki
and that of small, isolated, and genetically related communities had striking and profound impact on the characterization of the subjects of eugenic concern. Within the eugenic programme in Germany and other countries with highly developed asylum system, patients suffering from allegedly hereditary mental diseases were made into an abstract mass of dangerous population displaced from their original families or communities. This type of the rhetoric of the dangerous and anonymous other was to a certain extent found in the discourse of eugenics in Japan. In practice, however, Japanese psychiatrists went in the opposite direction of localizing the subject of eugenics firmly into the family, extended kin group, and community in which he or she lived. Instead of an abstract space of the psychiatric hospital with its displaced and anonymous patients, Japanese psychiatrists conceived eugenics through the actual locus, a small world with its densely connected families and communities.27 This eugenics of a small world also had imperial and national dimensions. One should note that the surveys in the 1940s were modeled after Uchimura’s research of the mental diseases of the Ainu, the first ethnic minority that Japanese Empire (or its prototype) controlled. The sense of difference and periphery persisted through the subjects of the surveys in the 1940s, which were small islands to send convicts and remote corners of the country isolated in terms of both geography and social integration. The entire project had an unmistakable sense of imperial psychiatry over the “other”. The trajectory of the psychiatry of population in Japan followed a path which started from the survey of the ethnic minority in the peripheral part of Japan and then moved to the people living in communities which had a long history of different culture and distinct inbreeding with those convicted. Somewhat paradoxically, these populations in the periphery became the basis to discuss eugenics for the Japanese population. After the war, the surveys in the 1940s developed into two surveys which targeted the entire nation. Imperial psychiatry in Japan was not just applied to the people in Taiwan, Korea, Manchuria and other parts of Asia which was occupied by Japan, but also on the people in isolated Japanese peripheries, and to the entire Japanese nation. Unlike the police under totalitarian regimes which was on hand when the government tried to arrest a certain category of the population as Hannah Arendt has characterized, psychiatric surveys did not involve any effort to capture and confine the discovered cases into a psychiatric hospital.28 There was almost no sign that suggests doctors’ willingness to promote confinement into the hospital. The coercive power of psychiatric confinement in Japan during the totalitarianism was exercised by and incorporated into the family and the community where the patients lived.
27
28
Some caution is necessary here in the dualistic framework of the institutionalized patients and the patients in the family and community. One should not exaggerate the separation of the asylum inmates from the society. Recent studies by David Wright, Catherine Coleburn, Joseph Melling and Bill Forsythe have challenged the model of “total institution” of Erving Goffman and successfully revised the picture of the asylum system into a node of the network that connected the families and local communities. Arendt, Hannah, 2004.
Miyake Island (Tokyo)
1963
1963
1960
1960
1958
1956
1956
1954
1943
1943
1942
1942
1942
1942
1941
1941
1941
1941
1941
1941
1941
1941
51 areas (Osaka)
203 areas (Japan)
Togane, Tama (Chiba)
Kujukuri, Toyoumi (Chiba)
Ukishima (Ibaraki)
Showa, Tomita (Saitama)
Oganomachi, Kurao (Saitama)
100 areas (Japan)
Two settlements (Burma)
Hinohara (Tokyo)
Settlement in Kanton (China)
Koshiki Island (Kagoshima)
Bunun settlements (Taiwan)
Bouze Island (Hyogo)
Si’ina (Chiba)
Imajuku (Saitama)
Imaoka (Kanagawa)
Kuroshima (Nagasaki)
Gokanosho (Kumamoto) b
Gokanosho (Kumamoto) a
Komoro (Nagano)
Ikebukuro (Tokyo)
Hachijo Island (Tokyo)
1940
1940
Ainu settlements (Hokkaido)
Area
1934
Year
Public Health Section, Osaka
Institute of Mental Health
Arai (Toho U)
Arai (Toho U)
Arai (Toho U)
Arai (Toho U)
Arai (Toho U)
Institute of Mental Health
Kato (Tokyo U. and Army)
Institute of Health and Welfare
Kasamatsu (Tokyo U. and Army)
Okabe (Kyushu U)
Okumura et.al. (Taipei U)
Ogino et.al. (IHW)
Institute of Health and Welfare
Institute of Health and Welfare
Hiratsuka et.al. (Brain Institute)
Mukasa et.al. (Kyushu U)
Mukasa et.al. (Kyushu U)
Mukasa et.al. (Kyushu U)
Akimoto et.al. (Tokyo U)
Tsugawa et.al. (Tokyo U)
Uchimura et.al. (Tokyo U)
Uchimura et.al. (Tokyo U)
Uchimura et.al. (Hokkaido U)
Surveyer
10,894
44,092
3981
2578
2403
2464
2401
23993
1412
1758
7186
6783
3864
1651
-
-
1704
2115
1006
1322
5207
2712
5286
8313
c.8000
Population
0.23
0.23
0.39
0.94
0.5
0.28
1.12
0.23
-
0.82
0.08
1.68
0.13
0.52
-
0.99
0.98
0.59
1.09
0.68
0.5
0.49
0.64
0.91
0.16
Schizophrenia (%)
0.02
0.02
0.04
0.15
0
0.08
0.12
0.02
-
0.86
0.03
0.26
0
0.14
-
0.14
0.37
0
0
0
0.87
0.23
0.28
0.28
0.15
Bipolar (%)
0.1
0.1
0.08
0.22
0.12
0.12
0.12
0.14
-
0.18
0.02
0.16
0.27
0.89
-
0.65
0.16
0.29
0.62
0.12
0.4
0.35
0.43
0.1
-
Epilepsy (%) Psychiatric surveys and eugenics in the family and community in Japan 1935–1945
199
Table 1: Psychiatric surveys of populations in Japan, 1935–1965
200
Akihito Suzuki
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SEKTION IV: PSYCHIATRIEGESCHICHTE ERFORSCHEN UND ERKLÄREN. MUSEOLOGISCHE ANSÄTZE UND PUBLIC HISTORY JENSEITS AKADEMISCHER PRINTMEDIEN
DIE MITGENOMMENE GESCHICHTE ODER IM ZENTRUM: DIE PERIPHERIE
Zur Rezeption der Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und dem Trentino“ Celia Di Pauli, Lisa Noggler, Eric Sidoroff Die deutsch-italienischsprachige Ausstellung Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und dem Trentino1 wurde für fünf Monate im württembergischen Zwiefalten, im Verwaltungsgebäude des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg, gezeigt. Es war der sechste Ort dieser Wanderausstellung, die in Österreich und Italien entwickelt wurde. Sechs weitere Orte folgten.2 Im ersten Eindruck und in der Reihe dieser psychiatrischen Lebenswelten gibt sich das Psychiatrische Krankenhaus in Zwiefalten wie ein Pendant zu Hall in Tirol. Zunächst fallen die architektonischen Ähnlichkeiten der ersten, ältesten Anstaltsgebäude auf. Aber auch die an beiden Orten unternommene historische Forschung dieser Institutionen richtet ihren Blick auf vergleichbare medizinische und therapeutische Auffassungen, sowie auf die Verflechtungen und Vernetzungen der Orte im Sinne einer „Psychiatrischen Landschaft“3, in der sich Patientinnen 1 2
3
Non vi permetterò più di farmi passare per matto. Una mostra sulla storia della psichiatria in Tirolo, Alto Adige e Trentino. Ausstellungsorte: Landeskrankenhaus Hall 30.6.–9.9.2011 (Therapieräume), Freie Universität Bozen 15.9.–8.10.2011 (Verwaltungsgang), Toni-Knapp-Haus Schwaz 21.10–18.11.2011 (Privatgalerie), Universität Innsbruck 24.11.–14.3.2012 (Foyer Atrium), Schloss Landeck 16.3.– 15.4.2012 (Sonderausstellungsräume), ZfP Südwürttemberg in Zwiefalten 17.4.–15.10.2012 (Verwaltungstrakt / Württembergisches Psychiatriemuseum), Kurhaus Hall Gesamttiroler Museumstag 17.10.2012 (Veranstaltungssaal), Kunsthaus Meran 19.10–19.11.2012 (Sonderausstellungsraum), Freie Universität Brixen 22.11.–19.1.2013 (Foyer Hinterausgang), Krankenhaus Bruneck 24.1.–16.3.2013 (Foyer), Theodor von Hörmann Galerie Imst 21.3.–11.5.13 (Sonderausstellungsräume), Ex-Ospedale psichiatrico Pergine Valsugana ab September 2013. Erfreulicherweise konnte die Ausstellung anlässlich des Jubiläums des Psychiatrischen Zentrums in Zwiefalten 2012 als bisher einzigem deutschen Ausstellungsort gezeigt und thematisch eingebunden werden. „Psychiatrische Landschaften“ lautet der Titel des interdisziplinären universitären Forschungsprojektes zur Geschichte der Psychiatrie im historischen Tirol. Erklärtes Ziel des gesamten universitären Forschungsprojektes war von Beginn an die Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse an eine breite Öffentlichkeit. Dafür wurden verschiedenste Formate gewählt: eine Homepage, eine zweisprachige Publikation, ein Film über die Pflege in Psychiatrischen Einrichtungen, eine Wanderausstellung – und als noch zu verwirklichendes Ziel, die Schaffung eines Lern- und Gedenkortes im Landeskrankenhaus Hall auf Grundlage des erarbeiteten Ausstellungskonzeptes. Das Vermittlungsprojekt, finanziert als In-
206
Celia Di Pauli, Lisa Noggler, Eric Sidoroff
und Patienten bewegten – auch: „bewegt wurden“. Denn auch in der hier thematisierten Ausstellung wird von einigen Personen erzählt, die Teile ihres Lebens in der Psychiatrie in den württembergischen Einrichtungen Zwiefalten oder Schussenried verbracht haben. Hierher wurden im Zuge der „Option“ ab 1939 Südtiroler Patientinnen und Patienten aus Hall zwangsweise übersiedelt – und überlebten in der Zeit des Nationalsozialismus, Hartheim oder andere Vernichtungsorte, jedoch starb fast die Hälfte jener PatientInnen an Hunger, medizinischer Unterversorgung und Krankheit.4 Von hier aus wurden in einer beispiellosen Initiative rund um den Pflegevorstand Albert Altherr in den 1970er Jahren ebenso die „losen“ Enden einzelner Lebenslinien mit der ehemals unfreiwillig verlassenen Heimat Südtirol wieder verknüpft. Beim Aufbau der Ausstellung erzählten pensionierte Mitarbeiter des Pflegepersonals aus Zwiefalten von einzelnen Südtiroler Patientinnen und Patienten, an die sie sich noch erinnern konnten und deren Krankenakten im Zuge des universitären Forschungsprojektes einbezogen wurden. Eine gute Woche nach Ausstellungsbeginn kam die telefonische Nachricht: Eine „Geschichte“ aus der Ausstellung war entwendet, mitgenommen, gestohlen worden! Ausgerechnet oder bezeichnenderweise jene, die von einer Patientin erzählt, die aus Zwiefalten stammte. Mit der entwendeten „Geschichte“ ist eines von 31 petrolfarbigen, in Leinen gebundenen Büchlein der Ausstellung gemeint. Ein jedes erzählt eine historiographisch aus den Krankenakten recherchierte Geschichte einer Patientin, eines Patienten aus dem Untersuchungsraum des übergeordneten Forschungsprojekts. Sie sind die Leitobjekte und gleichzeitig die zentralen Inhaltsträger der Ausstellung. Sie akzentuieren, nuancieren, interpretieren die klare Struktur der acht thematischen Schwerpunkte in der Ausstellung mit unterschiedlichen Sichtweisen und geben auf eine höchst individuelle Weise Einblick in etwa 150 Jahre Psychiatriegeschichte. Auch diese eine entwendete Geschichte fügt in der Ausstellungserzählung dem Gewebe unterschiedlichster Perspektiven und Informationen einen weiteren Aspekt hinzu. Doch so einzigartig, so wichtig und so unverwechselbar sie als authentischer Informationsträger mit Zeugnischarakter5 ist – steht sie gemeinsam mit den anderen
4 5
terregprojekt IV, konnte auf eine breite Basis wissenschaftlicher Vorarbeiten zurückgreifen, die im Umfeld vor allem der Universität Innsbruck (Institut für Geschichte und Ethnologie und Institut für Erziehungswissenschaft) aber auch von der Fondazione Museo Storico del Trentino mit Blick auf Pergine und „Geschichte und Region / Storia e regione“ und dem Südtiroler Landesarchiv entstanden sind. „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und im Trentino“ ist im Rahmen dieses Forschungsprojektes entstanden. Kuratierung: Lisa Noggler und Celia Di Pauli, Szenografie: Celia Di Pauli und Eric Sidoroff. Wissenschaftliches Leitungsteam: Maria Heidegger, Siglinde Clementi, Elisabeth Dietrich-Daum, Hermann Kuprian, Michaela Ralser; wissenschaftliches Team: Angela Grießenböck, Sabine Mirrione, Andreas Oberhofer, Oliver Seifert, Anselmo Vilardi. Siehe Fiebrandt, Maria, 2011, S. 165–171, hier S. 168. In: Dietrich-Daum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W.; Clementi, Siglinde; Heidegger, Maria; Ralser, Michaela, 2011. Sowie Fiebrandt, Maria; Rüdenburg, Bodo; Müller, Thomas, 2012, S. 297–329. Pomian, Krzysztof, 1988, S. 49 f. Roth, Martin, 1990, S. 17 f. In: Korff, Gottfried; Roth, Martin, 1990. Korff, Gottfried; Rogoff, Irit, 1993, S. 41–49.
Die mitgenommene Geschichte oder Im Zentrum: die Peripherie
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30 Fallgeschichten vor allem als beispielhafte Zeichenträgerin, die Assoziationen evozieren und Brücken zu selbst Erlebtem, zu gegenwärtigen Mustern und Verhaltensweisen schlagen soll. Für wen ist sie jedoch persönlich so wichtig, dass sie an sich genommen werden muss? Wofür steht sie für diesen Ausstellungsbesucher, diese Besucherin, dass daran ein persönlicher Besitzanspruch gestellt wird? Vermutlich werden diese Gründe nie bekannt – aber es ist ein, wenn auch ungewöhnliches Beispiel, das von der „Benutzung“ der Ausstellung zeugt. Die entwendete biografische Fallgeschichte wurde nachgedruckt, neu gebunden, die „Lücke“ in der Ausstellung geschlossen. „I have found ‚Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten‘ immensely useful (and quite painful). I’m very glad to have it [the catalogue]; […] I would be interested in hearing your observations on the visitors’ experience of the exhibition itself.“6 Glücklicherweise verhält es sich mit der „Aneignung“ der Ausstellung – im geschilderten Fall im konkreten Sinn des Wortes – nicht immer so radikal besitzergreifend. Aufgrund der bisher zweieinhalbjährigen Wanderung der Ausstellung bleibt die Rezeption durch die Be-NutzerInnen – wie sonst so oft – für die AusstellungsmacherInnen kein völlig unbekanntes Feld. Einhergehend mit der langfristigen Begleitung an vielfach „periphere“ Standorte, den immer wieder neuen Veranstaltern und deren Erwartungen, mit der Einbettung der Ausstellung in örtliche kulturelle oder historische Schwerpunktsetzungen und den daraus oftmals resultierenden Publikumserwartungen – und nicht zuletzt mit den Vermittlungsangeboten – ergeben sich spannende Rezeptionsaspekte. Publikumsbefragungen beziehungsweise umfassende Evaluierungen liegen nicht vor, aber das BesucherInnen-Buch erfährt gerade eine Auswertung im Zuge einer universitären Arbeit. Darüber hinaus wurden mit Studierenden im Rahmen der Lehrveranstaltung „Hier wird gezeigt“7 verschiedene Möglichkeiten der Rezeption und Analyse von Ausstellungen angewandt, wie die semiotische (Jana Scholze) und semantische Analysemethode (Sabine Offe)8. 6 7 8
Kommentar von Edmund Leites, em. Professor für Philosophie an der City University in New York zum Begleitband zur Ausstellung: Heidegger, Maria; Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Clementi, Siglinde; Ralser, Michaela; Dietrich-Daum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W., 2012. Lisa Noggler; Celia Di Pauli, Lehrveranstaltung Wintersemester 2011/12 an der Universität Innsbruck. In der semiotischen Analysemethode, entwickelt von Jana Scholze, werden Denotation, also Funktion oder Gebrauch von Objekten und Präsentationsmitteln, Konnotation – das Eingebundensein eines Gegenstands in kulturelle wie auch individuelle Kontexte, Norm- und Wertsysteme, und die Metakommunikation, also der institutionelle Kontext und individuelle Bezugssysteme (z. B. Intentionen der AusstellungsmacherInnen) analysiert. Die semantische Analysemethode von Sabine Offe beschäftigt sich einerseits mit der so genannten syntagmatischen Operation, nämlich der Beschreibung einer kleinen Ausstellungseinheit in einer Art „Narration“ und Reihung und analysiert die Veränderungen, wenn weitere Ausstellungsdisplays wie Objektbeschriftungen, Bildmaterial, ein Audioguide etc. einbezogen werden. Andererseits wird die paradigmatischen Operation angewandt, bei der versucht wird, einen eine Ausstellungsein-
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Denotation, Konnotation, Metakommunikation der Ausstellung wurden dabei gedeutet und diskutiert, wie „allgemein gültige“ Erzählungen entstehen und sich in der musealen Präsentation manifestieren. Einige der vielen kleinen und größeren Beobachtungen und „Wirkungen“ sollen im Folgenden kurz skizziert werden. „Alles so ordentlich hier und so übersichtlich – aber ehrlich gesagt, ein bisschen unbequem […].“9 Das für psychiatrische Ausstellungen bekannte Gitterbett, ein unbequemes Zugabteil, enge Sitzgelegenheiten am Esstisch, eine Badewanne, eine Drehbank, das Stehpult, der Arztschreibtisch: Für die formale Gestaltung der Ausstellung waren allgemeine VorstellungsKlischees von psychiatrischen Heilanstalten, für die täglichen Routinen nötige Möbel, die Zwangssituationen der Betroffenen und nicht zuletzt die Farbe Weiß Ansatzpunkte, die in eine sehr reduzierte, abstrahierte und kodifizierte Szenografie mündeten. Die Formensprache der Ausstellungsmöbel muss auf den ersten Blick gelesen und verstanden werden können.10 Sie soll für unterschiedliche Besuchergruppen funktionieren, für die Schulklasse genauso wie für Angehörige, als auch für fachlich geschultes Personal. Das Format einer Wanderausstellung stellt als Möglichkeit, viele Menschen an unterschiedlichen Orten zu erreichen, neben den funktionalen Gestaltungsanforderungen, flexibel und robust, zerlegbar und transportabel zu sein, eine besondere Herausforderung für die Szenografie dar. Die Ausstellung soll sich an öffentlich zugänglichen, meist unverschließbaren Räumen, oftmals in Durchgangs- oder Warteorten „integrieren und sich in den gegebenen Orten gleichzeitig ‚behaupten‘, oder anders ausgedrückt einen ‚Raum‘ im Raum bilden, in dem sich die Besucherinnen und Besucher auf die Ausstellung einlassen können“.11 Das weitgehende Fehlen von emotional aufgeladenen Räumen, wie Museen oder Gedenkstätten erfordert von der Ausstellungsszenografie, einen sinnlich erfahrbaren Ort zu schaffen – unabhängig vom räumlich gegebenen Kontext. Es geht um mehr, als eine Ausstellung zu einem schwierigen Thema zu gestalten. Es soll vielmehr „überall“ die Einladung ausgesprochen sein, sich mit einem diffizilen Thema auseinanderzusetzen und ein Ort des Erinnerns, Verstehens und Lernens geschaffen werden.
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heit umschreibenden Begriff durch einen anderen zu ersetzen und so die Assoziationen hinterfragt werden (z. B. statt erziehen wird disziplinieren eingesetzt – welche Unterschiede ergeben sich dadurch?) Kursive Texte sind Zitate einzelner AusstellungsbesucherInnen, die uns entweder schriftlich ins BesucherInnen-Buch, via email oder mündlich in oder nach Führungen / Workshops oder anderen Veranstaltungsformaten erreichten. Diese Aussage tätigten vor allem viele Erwachsene, denen einerseits die Klarheit der Gestaltung auffiel, und die andererseits das gewollt Unbequeme der Möbel bewusst wahrnahmen. Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Sidoroff, Eric, 2013, S. 181–192. In: Dander, Valentin; Gründhammer, Veronika; Ortner, Heike; Pfurtscheller, Daniel; Rizolli, Michaela, 2013. Ebd., S. 186–187.
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Die Ausstellung wirkt tatsächlich in jeder Umgebung als selbständige Inszenierung. Dennoch scheint sie sich beispielsweise in das Foyer des Krankenhauses Bruneck, Südtirol, so gut integriert zu haben, dass mehrmals die Frage gestellt wurde, ob diese „Möbel“ nun für immer hier stehen würden und Teil der Eingangshalle wären. Ganz anders verhielt es sich z. B. mit der Ausstellung im Schloss Landeck, wo sie vor dem räumlichen Hintergrund und den vorherrschenden Materialien, wie gezundertem Stahl und rohen Burgmauern einen weniger nüchternen Rahmen erhielt und sich daraus für verschiedene Teile der Ausstellung ganz spezielle Atmosphären ergaben. Je nach Umgebung werden die Themen zueinander positioniert, oder nacheinander aufgefädelt, die „Geschlossenheit“ des Ausstellungsraumes wird daher sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Raumbilder wirken in der Art, zueinander zu stehen, in jeder Umgebung anders: Nüchtern, wenn mit dem Thema „begutachten“ beginnend jedes Möbel regelmäßig hintereinander in langen schmalen Gängen verortet ist; großzügig und raumgreifend, wenn die Themen und damit die jeweiligen Möbel jeweils einen eigenen Raum bespielen – und fast klaustrophob, wenn die gesamte Ausstellung in einem einzigen Raum eng gestellt Platz finden muss.12 Nicht zuletzt das konsequente Streben danach, auch in der Szenografie die Perspektive der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, folgert eine Gestaltung, die die Besucherinnen und Besucher gleichsam in Rollen, in Situationen von behandelndem Personal und Betroffenen bringen sollen. Die Betrachterinnen und Betrachter treten mit dem Gezeigten in eine Art Dialog, in eine aktive Rolle und erhalten aufgrund eines stark wirkenden, eingängigen Raumbildes, eines betret- und benutzbaren Möbels die Möglichkeit des Verweilens und der tieferen Auseinandersetzung mit dem Gezeigten.13 Reduziert auf eine sehr rudimentäre Formensprache stehen als „pars pro toto“ das ärztliche Stehpult für das Thema „begutachten – valutare“ – neben einem Regal gefüllt mit Selbstdarstellungen der Anstalten, ausgewählten historischen und rezenteren diagnostischen Lehrbüchern und Manualen. Am ärztlichen Schreibtisch sitzend, sehen die Besucherinnen und Besucher originale Krankenakten und Selbstbeschreibungen von Patientinnen und Patienten. Eine Werkbank verweist auf das vielschichtige Thema „arbeiten – lavorare“ als Beschäftigung, als Therapie – die Grenzen zwischen Aufgabe und Ausbeutung sind oftmals fließend. In der Werkbank wird auch auf die Unterhaltung und Zerstreuung hingewiesen, Klaviernoten, Zeitschriften, Literatur, Einladungen zu Theateraufführungen und Festveranstaltungen zeugen davon. Zum Thema „essen – mangiare“ am gedeckten Tisch sitzend, findet sich als Besteck nur ein Löffel. Mit originalem Essgeschirr, Speiseplänen und Beschwerdebriefen werden hier Aspekte des „Anstalts-Alltags“ gezeigt. Die Bade12 13
Siehe Abbildungen der verschiedenen Ausstellungsräume und -orte im Begleitband zur Ausstellung, s. Anm. 5. Aktuelle Sichtweisen aus der Szenografie, etwa Marshall McLuhan: „Everybody experiences far more than he understands. Yet it is experience, rather than understanding, that influences behavior. […] When faced with a totally new situation, we tend always to attach ourselves to the objects, to the flavor of the most recent […] . We shape our tools and then our tools shape us.“ McLuhan, Marshall, 1964 und 2003, S. 277.
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wanne bei „behandeln – curare“ verweist auf die in vielen Geschichten beschriebenen Badtherapien, umgeben von Exponaten, die für weitere Behandlungs- (oder Disziplinierungs-)methoden stehen. Das häufig mit psychiatrischem Gewahrsam assoziierte Bild des Gitterbettes thematisiert das „verwahren – custodire“, das lange Verbleiben in einer der Anstalten und nicht zuletzt das Vergessen-Werden. Der in der Ausstellung gezeigte Schlüsselbund eines Pflegers als Symbol der Macht, die Freiheit von Patientinnen und Patienten einzuschränken, steht Briefen, Tagebüchern und Zeichnungen von Betroffenen gegenüber, die ihr Verwahrt-Sein kommentieren. In der beengten Raumsituation beim Thema „erziehen – disziplinare“ sehen sich die Betrachterinnen und Betrachter unvermittelt einer in Pergine bei Trient verwendeten (und von Patientinnen genähten) Zwangsjacke gegenüber. Ein Zugabteil für das „verschicken – trasferire“ steht als Transportmittel stellvertretend und bildet den Ausstellungs- und Erfahrungsraum für Geschichte und Objekte der Südtiroler Option 1939/1940 und des Verschickt-Werdens, ein Metallschrank aus Hall für vergessene oder nicht mehr abgeholte Gegenstände ehemaliger Patientinnen und Patienten. Beim Thema „töten – uccidere“ findet die räumliche Interpretation ausschließlich durch den Farbwechsel zu Schwarz ihren Ausdruck und stellt die Objekte aus der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz in den Mittelpunkt. Die Ausstellungsmöbel sind jedoch minimal falsch proportioniert – etwas zu eng, etwas zu hoch, etwas zu gerade. So soll beim Publikum, das diese Möbel nutzt, um beispielsweise eine der 31 Fallgeschichten zu lesen, keinesfalls das Gefühl entstehen, in einem bequemen Umfeld zu sitzen, sondern unbewusst eher die beklemmenden Lebensumstände der Betroffenen spürbar machen. Gemeinsam mit den emotionalen Lebensgeschichten in den Büchern, den Exponaten in den Vitrinen und den sachlichen Forschungsergebnissen auf den Informationstafeln entsteht eine ganzheitliche Wahrnehmung und Kontextualisierung neuer Blickwinkel mit bisher Bekanntem. „In meiner Fallgeschichte war das so […]“ In der personalen Vermittlung der Ausstellung werden die Besucherinnen und Besucher nach einer allgemeinen Einführung manchmal aufgefordert, eine Fallgeschichte zu lesen, aufgrund der sich oftmals die weitere Führung durch die Ausstellung dialogisch gestalten lässt. Wird beispielsweise über die Aufenthaltsdauer in der Psychiatrie gesprochen oder von den häufigen Verlegungen der Patientinnen oder Patienten erzählt, folgt meist die Rückkoppelung auf die gerade gelesene „Geschichte“ und es entstehen Diskussionsrunden innerhalb der Gruppe. Der Ausstellung zugrunde liegt die wissenschaftliche Befragung14 der Krankenakten in den psychiatrischen Einrichtungen Hall, Pergine und der Psychiatrisch14
Siehe Forschungsprojekt „Psychiatrische Landschaften“, Anm. 3. Sehr wichtig und fruchtbringend war und ist die frühe, intensive und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den WissenschaftlerInnen an der Universität, allen voran der Leiterin des wissenschaftlichen Teams, Maria Heidegger, und den Gestaltungs- und Ausstellungsexpertinnen und -experten.
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Neurologischen Abteilung der Universitätsklinik Innsbruck – die ältesten stammen aus dem Jahr 1830, die jüngsten, die eingesehen wurden, etwa aus dem Jahr 1970. Die Krankenakten sind das Aufschreibsystem der psychiatrischen Einrichtungen, von und für Fachpersonal, von Ärzten für Ärzte zusammengestellte Dossiers, die die psychiatrische Praxis mit ihren unterschiedlichen Facetten, die Zwangsmethoden ebenso wie die therapeutischen Maßnahmen und die Aspekte der Fürsorge dokumentieren. Sie enthalten Gutachten und Untersuchungsberichte, Verlaufsprotokolle zur Behandlung und immer wieder auch biografische Fragmente der Patientinnen und Patienten selbst. Fallweise finden sich Briefe, Tagebücher, Zeichnungen – Selbstzeugnisse, in denen Frauen und Männer über ihre Verwahrung, Behandlung, ihre Krankheit, über Hunger, Heimweh, Angst erzählen.15 Jenseits der Verarbeitung inhaltlicher Erkenntnisse dieser erstmaligen Beforschung der Quellen legt die Ausstellung auch konzeptuell einen ganz speziellen Fokus auf die Psychiatriegeschichte, nämlich auf die Sicht der betroffenen Patientinnen und Patienten. Über den öffentlichen Diskurs und die Entwicklung der Psychiatrie als medizinische Disziplin und Institution ist schon vieles bekannt. Die Sicht der betroffenen Patientinnen und Patienten allerdings ist erst in der jüngeren sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung eingehender thematisiert worden – im Rahmen einer Wanderausstellung aber wurde sie bislang noch nie gezeigt.16 Um diese an Patientinnen und Patienten orientierte Perspektive sichtbar zu machen, gilt es, dem Ausstellungspublikum eine neue Rezeption des Themas einschließlich der damit einhergehenden politischen und sozialen Bedingungen und Wirkungen zu ermöglichen. Wesentlich ist, auszuwählen, welche Aspekte der Forschung und welches „Wissen“ vermittelt werden sollte – und darüber hinaus die kuratorischen und szenografischen „Gesten des Zeigens“ 17, den – wie Mieke Bal
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Bruno B. etwa, dessen Tagebuch von Rodolfo Taiani in der Schriftenreihe des Museo Storico publiziert wurde, war Patient der Anstalt Pergine in den 1970er Jahren mit der Diagnose „Epileptische Psychose“. Das Tagebuch zeigt eindrücklich, wie der Alltag von einem Patienten wahrgenommen wurde und welche Funktion auch das tägliche Schreiben darüber haben konnte. Gemeinsam mit Objekten wie Anstalts-Tagesordnungen, Speiseplänen oder persönlichen Gegenständen der Betroffenen, eröffnet sich aus der Handlungsstruktur der Ausstellung ein neuer Erzählstrang, ein anderer Blick. Die vom wissenschaftlichen Team ausgewerteten Krankenakten – z. B. Auszüge aus den Pflegeprotokollen, geben auch Einblick in die Sprache, mit der Menschen diagnostiziert, kategorisiert, bewertet und Behandlungen zugeführt wurden. Maria S., eine so genannte „Jenische“, wird 1942 mit der Diagnose „Erblicher Schwachsinn“ nicht nur psychiatrisiert sondern auch zwangssterilisiert. Die Sprache, mit der Maria S. beschrieben wird, ändert sich auch nach der Zeit des Nationalsozialismus nicht, im selben Wortlaut manifestiert sich die fortgeschriebene und fortgedachte Abwertung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Maria S. Einige der von Patientinnen oder Patienten selbst verfassten Dokumente wurden für die Ausstellung vertont. Heidegger, Maria; Noggler, Lisa, 2012, S. 10. In: Heidegger, Maria; Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Clementi, Siglinde; Ralser, Michaela; Dietrich-Daum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W., 2012. Der Begleitband zur Ausstellung entstand erst nach der Eröffnung und wurde vom Südtiroler Landesarchiv finanziert. Muttenthaler, Roswitha; Wonisch, Regina, 2006.
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ihn nannte – Sprechakt18 der AusstellungsmacherInnen zu entwickeln und sichtbar zu machen. Das Ziel, Menschen und deren Sichtweisen ins Zentrum zu stellen, ohne jedoch Menschen „auszustellen“ oder schlimmer noch: sie als Patientin und Patient „auszustellen“, folgert, dass die Ausstellung nicht aus der, sondern über die PatientInnen-Perspektive erzählt. Deren Perspektive soll in das bisherige Wissen über regionale Psychiatriegeschichte eingefügt werden, gleichsam als „Gegenerzählung“ zu großen Narrationen wie zum Beispiel der Institutionen- oder der Medizingeschichte. Die Perspektive der Betroffenen zu zeigen, stellt eine Gratwanderung dar. Einerseits ermöglicht dies, die Besucherinnen und Besucher sehr unmittelbar anzusprechen, andererseits läuft die Fokussierung dieser Perspektive Gefahr, dass eine Rezeption ausschließlich auf der emotionalen Ebene erfolgt und zu viele einzelne Perspektiven keine Zusammenschau mehr ermöglichen. Aber aus der Vielzahl dieser Einzelbetrachtungen entsteht gleichsam eine Art abstrahierter Einzahl, ein Gesamteindruck und der intendierte Blickwechsel auf die PatientInnen-orientierte Perspektive kann gelingen. Im Sinne des in der kulturwissenschaftlich-volkskundlichen Forschung diskutierten Begriffs eines „Emotional Turn“, Zugänge zu Gefühlen / Gefühlswelten, zu persönlichen, emotionalen Sichtweisen zu schaffen, ist die empathische Einbindung des Ausstellungspublikums in die Lebensgeschichte der Betroffenen unbedingt zu kontextualisieren und bietet damit eine Ergänzung, manchmal auch eine Neuerzählung bisheriger Narrationen psychiatriegeschichtlichen Inhalts. „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten.“19 Die wissenschaftlich erforschten Quellen, die Krankenakten, bilden nicht nur die inhaltliche Basis der Ausstellungsnarration und stehen als Objekte, als Exponate, im Mittelpunkt der Ausstellung, sondern aus ihnen heraus werden eben diese eingangs erwähnten 31 anonymisierten Geschichten von Männern, Frauen und Kindern – Psychiatriepatientinnen und -patienten neu erzählt. Sorgfältig als kleine, innerhalb der Ausstellung farbig hervortretende Büchlein in Leinen gebunden, sind sie jene Exponate, welche die Ausstellung und den zu erfahrenden Raum strukturieren und ihn für die Betrachterinnen und Betrachter inhaltlich erschließen. Die Gestaltung dieser kleinen biografisch verarbeiteten Bücher soll den betroffenen Patientinnen und Patienten Respekt zollen. Gleichzeitig bietet das Medium Buch die nötige Ruhe und Intimität, sich diesen Einzelschicksalen anzunähern.20 Die räumliche Gestaltung und die Präsentation der Exponate folgen dem Konzept, das alltägliche Handeln und mehrdeutige Behandeln der Patientinnen und 18 19 20
Bal, Mieke, 2002, S. 72–117. In: Bal, Mieke, 2002. Bal, Mieke, 1996. Zitat des Jagdgehilfen Josef B., aus Sankt Andrä bei Brixen, ab 1903 in Hall für 24 Jahre mit der Diagnose „Alcoholismus chronicus“ verwahrt, aus dessen zum größten Teil in nicht entzifferter Geheimschrift abgefaßten Tagebüchern das Zitat für den Ausstellungstitel stammt. Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Sidoroff, Eric, 2013, S. 181–192. In: Dander, Valentin; Gründhammer, Veronika; Ortner, Heike; Pfurtscheller, Daniel; Rizolli, Michaela, 2013.
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Patienten in den Fokus zu rücken. Die Auswahl der Themen und ihre Benennung durch scheinbar banale Verben unter bewußtem Verzicht auf große Schlagworte der Medizingeschichte, verdeutlichen und unterstützen den intendierten diskreten Blickwechsel. Die oben kurz zur Sprache gekommenen acht Verben benennen Handlungen von und an Patientinnen und Patienten und rücken den Alltag der als psychisch krank diagnostizierten Menschen in den Vordergrund. begutachten valutare behandeln curare erziehen disciplinare
arbeiten lavorare verwahren custodire verschicken trasferire
essen mangiare töten uccidere
Die 31 Geschichten erzählen zu diesen 8 Themen aus 150 Jahren Psychiatriegeschichte. Der zeitliche Bogen verkürzt sich bei den Themen „töten – uccidere“ – das vor allem die Zeit des Nationalsozialismus behandelt und „verschicken – trasferire“, das insbesondere die Südtiroler Option 1939/40 und deren weitreichenden Folgen thematisiert. Der geografische Raum des historischen Tirol im Hinblick auf die faktischen Verbindungen zwischen Pergine / Stadlhof, Hall, der Klinik in Innsbruck und später Zwiefalten bzw. Schussenried und Weissenau ist in fast allen Krankenakten Thema – im Verschickt-Werden, in Diskussionen um Zuständigkeiten, in unterschiedlichen Auffassungen zum Umgang mit Patientinnen und Patienten. Das Ringen um diese Verben, sowohl im Deutschen, als auch im Italienischen, hieß, sich genau zu deklarieren, was gesagt und gezeigt werden soll – und welchen Titel die Zusammenschau der gezeigten zwei- und dreidimensionalen Objekte bekommen soll. Der Diskussion um den „richtigen“ Begriff in der deutschen Sprache – drei Begriffe wurden schließlich immer auf einen reduziert (z. B. arbeiten – beschäftigen – zerstreuen fokussierte sich auf den Begriff „arbeiten“) – folgte die Auseinandersetzung um die adäquate Übersetzung. Bedeutete zum Beispiel „curare“ dasselbe wie „behandeln“? Oder ist der Begriff zu kurz gefasst? Oder weiter gedacht – gelten dieselben Definitionen eines Themas dann auch für die „Psychiatrischen Landschaften“ in der jeweilig anderen Sprache?21 Die wissenschaftliche Basis der Ausstellung ist bei vielen Besucherinnen und Besuchern ausschlaggebend, den Blickwechsel zuzulassen. Die Kontextualisierung bedeutet, ein vertrauenerweckendes Terrain zu betreten und die teilweise starken Emotionen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ein Beispiel, das bei Gesprächen mit Besucherinnen und Besucher immer wieder diskutiert wurde, ist das Ausstellungsthema „töten – uccidere“: Die historische Kontextualisierung des Themas im gleichnamigen Ausstellungsbereich zur NSEuthanasie wird vom Publikum zum Teil bewusst rezipiert. Es ist gerade hinsichtlich dieses Themas ein besonderes Anliegen, rund um die beiden dort erzählten 21
Eco, Umberto, 2006, S. 9 ff. Markaris, Petros, 2008, S. 42 ff. Mit sämtlichen Übersetzungen für die Ausstellung, das Begleitbuch – sowie den gesamten Publikationen des Projekts „Psychiatrische Landschaften“ wurde dieselbe Übersetzerin betraut, die sich konsequent und engagiert mit dem Finden genauer Begrifflichkeiten beschäftigt hat.
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Geschichten und dem oftmaligen Entsetzen und der Sprachlosigkeit, die seitens des Publikums folgt, den historischen Kontext zu erklären. Die aktuelle wissenschaftliche Tendenz „behandeln – verwahren – und töten“ („curare – custodire – uccidere“) in Beziehung zu setzen, führt in der Konzeption der Ausstellung dazu, sich mit den vielschichtigen, eben nicht plötzlich auftauchenden Ideologien zu „unwertem“ Leben auseinander zu setzen und versucht zu verhindern, dass die fatale Zuspitzung im Nationalsozialismus als unerklärlicher Sonderweg beiseite geschoben werden kann. „Wir hatten dann schon die bessere Form der Elektroschocker – für uns Pfleger viel leichter zu bedienen […]“.22 Der Umgang mit historischen Objekten, die Form der Präsentation und vor allem die Intentionen der Ausstellungsmacherinnen sind keineswegs allgemein verbindlich oder zeitlos gültig – das zeigen besonders historische oder kulturwissenschaftliche Ausstellungen. Darüber hinaus knüpft jede Besucherin, jeder Besucher an ihren/seinen eigenen Erfahrungsschatz in der Ausstellung an, hat unterschiedliche Assoziationen und nimmt umgekehrt aufgrund der spezifischen Lebenssituation auch wiederum sehr individuelle Erfahrungen mit. In einer Führung mit pensioniertem Pflegepersonal trafen deren Erlebnisse aus dem beruflichen Alltag und unser Bestreben, die Sichtweise der Betroffenen zu thematisieren, vor allem in einer Diskussion im Thema „behandeln“ aufeinander. Während einige Besucher auf ausgewählte Exponate reagierten und die eigene Sichtweise ihres gelebten Alltags erzählten, ließen andere die Perspektive der Betroffenen auf dieselben Objekte zu – so entstand fast ein Rollenspiel, in dem mehrere Erzählungen zum selben Ding erfahren, diskutiert und auch ernst genommen wurden.23 Gerade die Themen Diagnose und Behandlungsmethoden sind angesichts der patienten-orientierten Perspektive umso stärker zu kontextualisieren. Persönlichen Gegenständen der Betroffenen sind beispielsweise medizinische Zeitschriften, die vordergründig über Diagnose- und Behandlungsmethoden berichten und gleichzeitig subtil auch die Norm- und Wertesysteme in Bezug auf kranke Menschen in der Gesellschaft festschreiben, gegenübergestellt. Es werden unterschiedliche Sichtweisen, wie beispielsweise zum so genannten medizinischen Fortschritt, die vielfältigen Beziehungsebenen zwischen Patientinnen und Patienten, Ärzten, Pflegepersonal, Angehörigen und Behörden kommuniziert, der fließende Übergang zwischen Disziplinierung und Behandlung, gesellschaftlicher Akzeptanz oder Ausschluss und Stigmatisierung aufgezeigt, um verstehen zu können und gleichzeitig den Erinnerungen einen Rahmen zu geben. 22 23
Bemerkung eines ehemaligen Pflegers zum ausgestellten Elektroschockgerät, Hall Juli 2011. Die am meisten diskutierte Texttafel der Ausstellung war jene beim Elektroschockgerät – und zwar bereits in der Entstehung des Textes, in dem mit Medizinern, Historikerinnen und Psychologinnen darüber befunden wurde. Darüber hinaus konnten an diesem Text, an diesem Exponat genau jene subtilen Blickwechsel zum Thema „behandeln“ – je nachdem ob Arzt, Pfleger oder PatientIn sich damit auseinandersetzten – die Kontextualisierung ins historische Setting, sogar die Rolle von Historikerinnen und Historiker in der Aufarbeitung mit den Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern diskutiert werden.
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Die Verknüpfung zu einem heutigen Umgang mit psychisch als krank diagnostizierten Menschen herzustellen, wird – aus Sicht der Vermittlung in der Ausstellung – häufig an genau jenen Objekten diskutiert, die an persönliche Erfahrungen, an eigene Wertesysteme oder individuelles Wissen anknüpfen. Solche Objekte sind etwa jenes Elektroschockgerät, die Tagebücher der Betroffenen, die „vergessenen Objekte“ von Patientinnen und Patienten und vor allem aber die Geschichten in den 31 Büchlein selbst. „Der Tate aß aus diesem Napf“.24 Für das von den Ausstellungsmacherinnen und -machern gewünschte handlungswirksame Ziel, von den in der Ausstellung erlebten Erfahrungen ausgehend, weiterführend auch bestehende heutige (Vor-)Urteile zu hinterfragen und sie zu modifizieren, müsste es gelingen, bei den Besucherinnen und Besuchern eine intrinsische Motivation hervorzurufen. Mit den Worten von Maja Storch gesagt25: „Ziele, die das unbewusste System in eine handlungswirksame Stimmung bringen können, müssen aus Worten bestehen, die starke und eindeutige Bilder erzeugen, an die wiederum starke und eindeutig gute Gefühle in der Welt des Körpers gekoppelt sind. Und weil man starke und eindeutige Bilder braucht, steigt man am besten gleich auf der Bildebene ein und nicht auf der Sprachebene. Erst ein Bild suchen – dann zu dem Bild die passenden Worte erarbeiten – aus diesen Worten ein Ziel bauen und dieses Sprachgebilde, das ursprünglich aus der Bilderwelt stammt, mit den daran gekoppelten Gefühlen aus der Körperwelt auf Maß schneidern“.
Die persönlichen und emotionalen Rückmeldungen vieler Besucherinnen und Besucher erfolgen oft unmittelbar während oder direkt im Anschluss an die personale Vermittlung bzw. Veranstaltungen in der Ausstellung. Sie zeugen von Betroffenheit und Empathie – von der Bereitschaft des Verstehens und des Erinnerns. Wie sehr die Ausstellung hinsichtlich individueller, aber auch und vor allem kollektiver Verhaltensweisen und dem Umgang mit Krankheit, mit der Ausgrenzung und Stigmatisierung der Schwächeren unserer Gesellschaft auch ein Ort des Lernens sein kann, ist nur vereinzelt deutbar. Viele Besucherinnen und Besucher erfahren aufgrund der starken räumlichen, inhaltlichen Bilder und persönlicher Anknüpfungspunkte – einer Emotion, eines vertrauten Exponats – die Ausstellung auf einer sehr emotionalen Ebene, die dann auch mit persönlichen Zielen des eigenen Lebens verknüpft werden. Einige etwa kontaktieren nach dem Besuch der Ausstellung oder dem Lesen des Begleitbuches die Archive, insbesondere des Landeskrankenhauses Hall, um über ihre eigene Familiengeschichte zu recherchieren. Sehr häufig stellt der Ausstellungsbesuch einen 24 25
So hieß eine Lesung, die Annemarie Regensburger aus ihrem Manuskript „Gewachsen im Schatten – Geschichte einer Befreiung“, in der Ausstellung hielt, während sie in Imst gezeigt wurde, 4.4.2013. Maja Storch bezieht sich auf Wilma Bucci, wenn sie Überlegungen zum Bau von handlungswirksamen Zielen (auch Lernzielen) anstellt: Storch, Maja; Cantieni, Benita; Hüther, Gerald; Tschacher, Wolfgang, 2011, S. 133.
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positiven „Tabubruch“ dar, um sich verdrängten, verborgenen Familiengeschichten und Halbwahrheiten anzunähern. Eine ganz besondere Rezeption der Ausstellung stellt das im September 2013 erscheinende Buch der österreichischen Literatin Annemarie Regensburger dar. In „Gewachsen im Schatten – Geschichte einer Befreiung“, aus dem auch das obige Zitat stammt, erzählt die Autorin Teile ihrer Autobiografie. Ein Besuch der Wanderausstellung in Hall, dort ausgestellte Gegenstände, die mit Erinnerungsfragmenten verbunden sind und die darauffolgenden Einblicke in die Krankenakte ihres Vaters lösten die sehr persönlichen Erinnerungen insbesondere an ihre Kindheit, die durch die psychischen Erkrankungen von Vater und Schwester und den frühen Tod ihrer Mutter stigmatisiert war, aus. Ihre Art, in der dritten Person zu erzählen, schafft jene Distanz, die über das Verstehen und Berichten weit hinaus geht – die Reflexion auf das eigene Erlebte ist Motivation und Handlungsanleitung gleichzeitig, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die Gegenwart zu nutzen. „Hier ist es genauso wie dort, nur anders…“ Zwischen Nord- und Südtirol scheint es einen großen Unterschied hinsichtlich des Interesses an diesem Thema zu geben, der nicht ausschließlich der guten Bewerbung und Vermittlung der Ausstellung in Südtirol geschuldet ist.26 Der Publikumsandrang in Bozen führte dazu, dass Südtiroler Schulklassen sogar nach Innsbruck kamen, um die Ausstellung zu sehen, und dass sie auch in Meran, Brixen und Bruneck gezeigt wurde.27 Das Thema „Psychiatrie“ war und ist südlich des Brenners sehr präsent. Das zeigen die engagierten Lehrpersonen, sehr interessierten Schulgruppen, öffentlichen Medien, die Presse und viele Fachverbände, die beispielsweise bei jeweiligen Eröffnungen oder Veranstaltungen ihre Sichtweise auf das Thema äußerten. Diese Präsenz wird auch belegt durch die hohe Zahl an Vermittlungsnachfragen. Es wäre interessant, die Gründe dafür zu recherchieren – bisherige Vermutungen führen von den unterschiedlichen historischen Traditionen einerseits (Stichworte Lex Basaglia 1978, offene versus geschlossene Anstalten, Elektrokrampftherapie, Südtiroler Option und der Umgang mit Faschismus und Nationalsozialismus), über andere Bildungsrahmenpläne, bis zu Neugier auf den Teil der Geschichte, in der die psychisch Kranken der eigenen Gesellschaft aus der jeweils eigenen Region hinaus nach Hall, Pergine, oder in andere Orte verschickt wurden. Große Unterschiede in der Rezeption der Ausstellung bestehen hinsichtlich verschiedener Generationen. Pergine ist in der Erinnerungskultur der Menschen über 40 noch präsent, während nach der Schließung 2002 die jüngeren Besucherinnen und Besucher keine gedankliche Verbindung dazu mehr herstellen können und eher Themen wie Freiheitsentzug, Zwang und heutige Rahmenbedingungen 26
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Die Ausgrabungen am Friedhof in Hall brachten zunächst auch der Ausstellung mediale Aufmerksamkeit. Letztlich scheinen die JournalistInnen jedoch stärker daran interessiert zu sein, zu erfahren, ob Hall nun eine Euthanasieanstalt war oder nicht – sie berichten kaum zur Psychiatriegeschichte der letzten 200 Jahre. Die „Wanderung“ der Ausstellung wurde vom Südtiroler Landesarchiv finanziert.
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interessieren. Die Drohungen „Hall einfach!“ oder „So kommst du nach Pergine!“ lösen bei jungen Menschen kaum mehr Erinnerungen aus. Für Nordtirol bildete die Stadtgemeinde Imst eine erfreuliche Ausnahme, die mit zwei Ausstellungen, vielen sehr gut besuchten Veranstaltungen, etlichen Vermittlungsangeboten und dichter medialer Berichterstattung einen spannenden kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt anlässlich der 75. Jährung des Einmarsches nationalsozialistischer Truppen in Österreich setzte. Das Format der Wanderausstellung unterstützt die Absicht, Menschen an unterschiedlichen Orten zu erreichen. Die Universität als Zentrum der Forschung, erfährt im Ziel, Forschung direkt zu vermitteln und sich so der „Peripherie“ öffnend, gleichsam eine Umdeutung: Die Peripherie – als räumliches Pendant zum universitären Zentrum – steht für diese Ausstellung nunmehr im Zentrum, ist Zentrum des Wissenstransfers, der Vermittlung, der Bemühung um Erinnern, Verstehen, Lernen und Aufarbeitung. Aus diesem Blickwinkel gesehen, beginnt Peripherie vor den Türen der Universität, der Universitätsklinik in Innsbruck. Das „Periphere“ im Sinne von „am Rand stehend“ steht gleichsam als Synonym für das Ausstellungsthema: Nicht nur inhaltlich gesehen standen und steht das Thema Psychiatrie und psychische Erkrankungen an der Peripherie gesellschaftlicher Akzeptanz. Im übertragenen Sinn führt auch die Ausstellung immer wieder in periphere Gegenden, an Orte, die nicht eine gesellschaftliche oder räumliche Mitte symbolisieren – selbst wenn sie in der „Psychiatrischen Landschaft“ Zentren darstellen. Zwiefalten ist – an die geografische Herkunft der PatientInnen denkend, die in dieser Ausstellung besondere Präsenz erfahren – sogar weit entfernte Peripherie, von der aus zu den ursprünglichen Herkunftsorten auch aus politischen Gründen lange Zeit keine Verbindunglinien geknüpft waren. Gerade deshalb ist der Ort Zwiefalten ein wichtiger entlang der Wanderung dieser Ausstellung – nicht zuletzt aufgrund der rezeptionellen Wirkung, die bei den AusstellungsmacherInnen auf besonderes Interesse stößt. Jenseits der Orientierung an der wissenschaftlichen Forschung treffen Ausstellungsmacherinnen und -macher, Kuratoren und Szenografinnen Aussagen, schließen Aspekte ein oder aus – konzeptuell oder räumlich.28 In dieser Ausstellung ist intendiert, dass Besucherinnen und Besucher in der Einheit von Szenografie und Inhalt neue individuelle Erfahrungen29 machen, um über Erinnern und Verstehen
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Wenn man davon ausgeht, dass jede Ausstellungserzählung, jede Darstellungsweise Teil einer symbolischen Praxis ist, mit der sich eine Gesellschaft ihrer kulturellen Bedeutung und Vergangenheit versichert – dann spiegeln sich in Museen und Ausstellungen gesellschaftliche Selbstkonzeptionen und wissenschaftliche Positionen wider. Ausstellungen sind Teil kultureller Praktiken, in denen sich Repräsentationsbedürfnisse, individuelle und kollektive Narrationen sowie gesellschaftliche Diskurse und Wissensformen manifestieren. Muttenthaler, Roswitha; Wonisch, Regina, 2003, S. 117–133. In: Lutter, Christina; Musner, Lutz, 2003. „Experiencing and knowing are two dimensions that mutually reinforce each other. […] Finding the right balance between cognitive and sensory experience is a major issue […] because at times the experience may induce a deeper understanding, while at others it is aquired knowledge that may lead to a new experience […].“ Kossmann, Hermann; Mulder, Suzanne; Ousten, Frank, 2012, S. 100.
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den eigenen gegenwärtigen Umgang mit den gesellschaftlich „Schwächeren“ zu reflektieren.30 Die Rezeption, die wir mitverfolgen können, bestätigt uns darin.31 LITERATURVERZEICHNIS Bal, Mieke: Double Exposures, The Subject of Cultural Analysis. London/New York 1996. Bal, Mieke: Sagen, Zeigen, Prahlen. In: Bal, Mieke: Kulturanalyse. Frankfurt am Main 2002, S. 72–117. Bal, Mieke: Kulturanalyse. Frankfurt am Main 2002. Dander, Valentin; Gründhammer, Veronika; Ortner, Heike; Pfurtscheller, Daniel, Rizzolli, Michaela (Hrsg.): Medienräume: Materialität und Regionalität. Innsbruck 2013. Dietrich-Daum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W.; Clementi, Siglinde; Heidegger, Maria; Ralser, Michaela (Hrsg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. Innsbruck 2011. Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Sidoroff, Eric: Das unbequeme Zugabteil oder die beängstigende Badewanne. Das Medium Ausstellung und sein Raum in der Wanderausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“. In: Dander, Valentin; Gründhammer, Veronika; Ortner, Heike; Pfurtscheller, Daniel, Rizzolli, Michaela (Hrsg.): Medienräume: Materialität und Regionalität. Innsbruck 2013, S. 181–192. Eco, Umberto: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. München/Wien 2006. Fiebrandt, Maria: „ … mit Krankentransporten und Krankenwagen ins Reich abgewandert“. Das Schicksal der Südtiroler PsychiatriepatientInnen im Rahmen der Umsiedlung 1939–1943. In: Dietrich-Daum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W.; Clementi, Siglinde; Heidegger, Maria; Ralser, Michaela (Hrsg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. Innsbruck 2011, S. 165–171. Fiebrandt, Maria; Rüdenburg, Bodo; Müller, Thomas: Von Südtirol nach Württemberg. Die „Umsiedlung“ Südtiroler Psychiatriepatienten im Rahmen des deutsch-italienischen Optionsvertrages ab 1939. In: Gesnerus. Schweizerische Zeitschrift für die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Heft 2, 69 (2012), S. 297–329. Heidegger, Maria; Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Clementi, Siglinde; Ralser, Michaela; DietrichDaum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W. (Hrsg.): Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten – Eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und im Trentino. Bozen 2012. Heidegger, Maria; Noggler, Lisa: Historische Blickwinkel. In: Heidegger, Maria; Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Clementi, Siglinde; Ralser, Michaela; Dietrich-Daum, Elisabeth; Kuprian, Hermann J. W. (Hrsg.): Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten – Eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und im Trentino. Bozen 2012, S. 10.
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31
Über diese „Transformation“ sprach auch Irene Zauner-Leitner, Leiterin des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim, am Gesamttiroler Museumstag in ihrem Vortrag „Vom Umgang mit der Geschichte der Psychiatrie und NS-Euthanasie, über Möglichkeiten und Grenzen des Lernens und Gedenkens. Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim – historische und aktuelle Perspektiven“. Der Museumstag fand zum Thema „Im Schatten der Geschichte. Psychiatrie und NS-Euthanasie im historischen Raum Tirol und deren Relevanz für die Museumspraxis“ am 17.10.2012 im Kurhaus Hall in Tirol statt. Die Ausstellung stand dort im Mittelpunkt von Vorträgen und Workshops. Di Pauli, Celia; Noggler, Lisa; Sidoroff, Eric, 2013, S. 181–192. In: Dander, Valentin; Gründhammer, Veronika; Ortner, Heike; Pfurtscheller, Daniel; Rizolli, Michaela, 2013.
Die mitgenommene Geschichte oder Im Zentrum: die Peripherie
219
Korff, Gottfried; Roth, Martin (Hrsg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt am Main/New York 1990. Korff, Gottfried; Rogoff, Irit: Der unverantwortliche Blick. Kritische Anmerkungen zur Kunstgeschichte. In: kritische berichte 4 (1993), S. 41–49. Kossmann, Hermann; Mulder, Suzanne; Ousten, Frank: Narrative Spaces. On the Art of Narrative Exhibiting. Rotterdam 2012. Lutter, Christina; Musner, Lutz (Hrsg.): Kulturwissenschaften in Österreich. Wien 2003. Markaris, Petros: Wiederholungstäter. Ein Leben zwischen Istanbul, Wien und Athen. Zürich 2008. McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man. Berkeley (CA, USA) 1964 und 2003. Muttenthaler, Roswitha; Wonisch, Regina: Grammatiken des Ausstellens. Kulturwissenschaftliche Analysemethoden musealer Repräsentation. In: Lutter, Christina; Musner, Lutz (Hrsg.): Kulturwissenschaften in Österreich. Wien 2003, S. 117–133. Muttenthaler, Roswitha; Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld 2006. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988. Roth, Martin: Einleitung. In: Korff, Gottfried; Roth, Martin (Hrsg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt am Main/New York 1990. Storch, Maja; Cantieni, Benita; Hüther, Gerald; Tschacher, Wolfgang: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Bern 2011.
ZENTRUM UND PERIPHERIE AUS DER PERSPEKTIVE MEDIZINHISTORISCHER FORSCHUNG Das Beispiel der Psychiatrie im Nationalsozialismus Thomas Müller EINFÜHRUNG Zentrum und Peripherie – in ihren Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Dynamiken – war das Motto der Tagung, die den in diesem Band versammelten Beiträgen im Sinne einer interdisziplinären Diskussion vorausging. Dieses Begriffspaar beschäftigt historisch Forschende spätestens seit Arbeiten der Milleniumwende, wie denjenigen von Dipesh Chakrabarty, die aus den „Subaltern Studies“ und den Studien zum Postkolonialismus entstanden, und der die Geschichtsschreibung der Kolonialzeit und die mit dieser betrauten Forschenden – bei Chakrabarty mit dem Blick auf Südasien – dazu aufrief, sich mit der Herausforderung zu konfrontieren, genau jene geopolitischen Komplexe zu „provinzialisieren“, die sich selbst als Zentren wahrnahmen,1 und deren (Selbst)Wahrnehmung dergestalt auch die Geschichtswissenschaft beeinflusst und geprägt hatte. Man begann nun, starre Stereotypien dessen, was als vermeintlich zentral oder peripher zu klassifizieren sei, vermehrt zu hinterfragen. Das zunächst geographisch-topographisch anmutende Themenfeld „Zentrum und Peripherie“, dessen vielfältigere Schichtung und Bedeutung erst bei näherer Betrachtung sichtbar wird, hat seither weder seine Relevanz und Bedeutung, noch Beachtung und Attraktivität eingebüßt. Tagungen im Jahr der Drucklegung dieses Beitrags beschäftigen sich so beispielsweise mit „asymmetrischen Begegnungen“ in europäischen und anderen Kontexten, die zwischen Zentren und Peripherien entstehen.2 Im Feld forschende Autorinnen und Autoren untersuchen in ihren Beiträgen „interne Peripherien“,3 in Anlehnung an Studien des Sozialwissenschaftlers und Sozialhistorikers Immanuel Wallerstein, und unter der plausiblen 1
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Im Englischen erschien: Chakrabarty, Dipesh 2000. Eine deutschsprachige Zusammenstellung zentraler Texte Chakrabartys zu diesem Themenkomplex erschien durch diesen Autor 2010. Siehe zur Anwendung dieser Thesen auf die Geschichte der Psychiatrie auch bei: Ernst, Waltraud and Mueller, Thomas (2015) S. VIII–XXII. Remapping Centre and Periphery: Asymmetrical Encounters in European and Global Context, 1500–2000. Tagung des Centre for Transnational History am University College London sowie weiterer Zentren dieser Universität sowie der Universität Utrecht, in: H-Soz-Kult, 23.– 24.06.2016 , zuletzt 22. Mai 2017. Siehe u. a. die am 20.–21. Oktober 2017 stattfindende Tagung „Internal peripheries in global comparison, 1500–2015“, die die Abteilung für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, zusammen mit dem Verein für die Geschichte des Weltsystems e. V. in Hannover organisiert. Internal peripheries in global comparison, 1500–2015, 20.10.2017–21.10.2017 Vi-
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Annahme, Nationalstaaten und andere Gebilde seien äußerst komplexer Struktur und verfügten neben den Möglichkeiten grenzüberschreitender Vorgänge auch über räumliche – und insbesondere wirtschaftlich folgenreiche – Ungleichheiten. Unzählige weitere Beispiele der Diskussion und Anwendung dieses Gegensatzpaars im Design historischer Studien finden sich ohne jede Schwierigkeit. Eine im herkömmlichen Wortsinn periphere Position beispielsweise kann dabei von politischen Grenzen, von militärischen oder geographischen Gegebenheiten verursacht sein. Sie ist stabil, wird zum Teil transgenerational reproduziert, oder kann unter Veränderung der Rahmenbedingungen diese Charakteristika auch „verlieren“, sogar spezifische Bedeutung erlangen, diese hinzu gewinnen. Auch die Bezugsgröße, der vermeintlich beständige „counterpart“ der Peripherie – das Zentrum – ist einem potentiellen Wandel unterworfen. Dichotome Beziehungen erfahren selbstverständlich durchaus Brüche und sind nicht ausnahmslos von Dauer. Grenzen, Wertigkeiten und Wertzuschreibungen sind modifizierbar, unterliegen Handel, Kultur, Politik oder auch einmal: den Moden. Im hier vorliegenden Kapitel werden zwei Themen zu Gegenständen der Betrachtung: Zum einen die periphere, geographisch-strukturelle Situation des Autors als historisch Arbeitendem an einem Forschungsbereich für Geschichte der Medizin, der an einer Psychiatrischen Klinik am südlichen Ende der Bundesrepublik Deutschland entstand, deren universitärer Campus als strukturelle Bezugsgröße sich in etwa achtzig Kilometern Entfernung befindet. In Erweiterung dessen: die Verbreitung des an einer solchen Forschungseinheit generierten Wissens in die breitere Öffentlichkeit, und die Wege und Möglichkeiten für diese. Hier dominiert das Bild, auch das Argument der Verzahnung von Forschungsaufgaben mit musealen Aufgaben und regionalen Bildungsaufträgen. Neben den eigeninitiativ generierten Ergebnissen von Forschung und deren Formen der Präsentation ermöglichen vor allem die der geographisch-politischen Peripherie entspringenden Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit die Nachteile einer geographisch peripheren Lage einer Einrichtung zu relativieren, oder teilweise sogar in Begünstigung zu wandeln. Zum Zweiten werden die Vorgänge in der medizinischen Disziplin der Psychiatrie zum Gegenstand der Betrachtung dieses Beitrags, die die Jahre des Nationalsozialismus in dieser geographischen Grenzregion im Süden des ehemaligen Deutschen Reiches recht singulär geprägt haben. Erneut – und nun in historischer Perspektive – führte die periphere geographische Lage des südlichen Württemberg beziehungsweise die räumliche Nachbarschaftsbeziehung zu Österreich und Italien in den späten 1930er Jahren dazu, dass Württemberg zum Ort der historischen Handlung einer insgesamt wenig beachteten Bevölkerungsmigration wurde. Mehr noch: Der gesellschaftlich stigmatisierte und innermedizinisch selbst marginalisierte Bereich der Psychiatrie, das Studium derselben in historischer Perspektive, enthüllt auf das Deutlichste die Konsequenzen der Ereignispolitik: Die Folgen zwischenstaatlicher, biopolitischer Verhandlungen und Verträge der 1930er und 1940er
enna, in: H-Soz-Kult, 08.05.2016, , zuletzt 22. Mai 2017.
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Jahre werden in hohem Maß und auf sehr plastische Art und Weise im Feld der Psychiatrie sichtbar, worauf unten zurückzukommen sein wird. ABSEITS DES ZENTRUMS. DIE PERIPHERIE ALS ORT DER HISTORISCHEN FORSCHUNG Es waren spanische Medizinhistorikerinnen und Medizinhistoriker, die im November 2010 die Frage der Verbreitung medizinhistorischen Wissens in der Gesellschaft zur Herausforderung werden ließen, indem sie diese selbstauferlegte Bildungsaufgabe zum Thema des Jahres in ihrer Fachgesellschaft machten, und dieser Aufgabe eine mehrtägige Jahrestagung in Córdoba umfassend widmeten. Luis Montiel Llorente, seinerzeit Präsident der spanischen Fachgesellschaft, sowie seine spanischen Kolleginnen und Kollegen veranlassten mich in Vorbereitung dieser Tagung erstmals, über die Frage der Verbreitung medizinhistorischen Wissens in der Öffentlichkeit nachzudenken, und meine diesbezüglichen Erfahrungen mit den spanischen Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren. Clemens Wischermann und Stefan Haas haben mich anlässlich einer Tagung im Göttinger Lichtenberg-Kolleg im November 2011 dazu angeregt, die Beziehung zwischen den Inhalten meiner Forschung einerseits und der Funktion und Geographie meines Arbeitsortes systematischer zu reflektieren, und über Wechselwirkungen wie Synergieeffekte zwischen diesen beiden Topoi nachzudenken.4 Ihnen allen bin ich für die bereichernden Diskussionen vor, während und nach diesen Tagungen, wie auch zu später entstandenen Texten sehr zu Dank verpflichtet. Die Implikationen des gewählten oder zum Teil auch unbewussten Eingebunden-Seins von wissenschaftlich Tätigen in ihre professionelle Umgebung und persönliche Lebenswelt stellen keine geringere Einflussgröße auf die Ergebnisse und Entwicklung historisch-wissenschaftlichen Arbeitens dar, als etwa diejenige methodologisch-theoretischer Entwicklungen in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Auch der akademische Ort der Entstehung historischer Forschung, sowie die disziplinäre Anbindung ihrer Akteurinnen und Akteure sind eine Betrachtung wert. Der Einfluss dieser lebensweltlichen Aspekte, auch auf das medizin- und psychiatriehistorische Arbeiten, ließe sich an Beiträgen zur Institutionsgeschichte, an internationalen Betrachtungen nationaler Forschergruppen, und ohnehin an der Arbeit mit Zeitzeugen, sowie an vielen anderen historischen Themen und Forschungsperspektiven zeigen. Die Forschungskonzeption der historiographischen Akteurinnen und Akteure und ihre lebensweltliche Wirklichkeit interagieren also auf interessante Art und Weise und mitunter in erstaunlich hohem Maße.5 Ein Beispiel: Die in unserem Forschungsbereich für die Geschichte der Medizin in Ravensburg Tätigen beeindruckt so zunächst das Ausmaß, in dem insbesondere Angehörige von Opfern des Nationalsozialismus, hier wiederum der sogenannten Euthanasie, auch jedoch der Zwangssterilisationen unter nationalsozialistischer Gesetz4 5
Müller, Thomas, 2015, S. 127–148. Siehe wiederum Müller, Thomas, 2015, S. 127–148, hier S. 138–145.
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gebung, sowie Angehörige von Opfern anderer Maßnahmen der Gesundheits- und Bevölkerungs-Politik korrespondierend oder persönlich an uns herantreten. In lebensweltlicher Hinsicht war dies für mich als ehemaligen Mitarbeiter eines klassisch-universitären, medizinhistorischen Instituts der bundesdeutschen Hauptstadt eine neue Erfahrung: die Anfragenden wenden sich mit mehr oder weniger präzisen Vorinformationen zu einschlägigen Archivierungsregelungen und Datenschutzgesetzen – jedoch folgerichtig – direkt an die rechtlichen Nachfolgeeinrichtungen der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten, meinen heutigen Arbeits- und Forschungsort: eine Großklinik, deren Standort die Funktionen und den Auftrag einer psychiatrischen Universitätsklinik mit denjenigen eines psychiatrischen Landeskrankenhauses verbindet. Ihre Informationen, auch ihre Erinnerungen, sind deutlich getragen von einem als Familiengedächtnis bezeichenbaren Konstrukt und stehen nicht zwangsläufig im Einklang mit den Setzungen einer – ohnehin sich dynamisch verändernden – kollektiven Erinnerung(-spolitik).6 Die Haltung der sich an uns Wendenden ist darüber hinaus intergenerational verschieden. Meine Tätigkeit in einem großen und traditionsreichen universitären Institut für Geschichte (und Ethik) der Medizin in der bundesdeutschen Hauptstadt – und damit spätestens seit den Jahren der friedlichen „Wende“ der deutschen Vereinigung in einem europäischen Wissenschaftszentrum ersten Ranges gelegen – einer Stadt, deren akademische Netzwerke wesentlich dazu beigetragen haben, unter dem „Eindruck von Mauerfall und Zusammenbruch der Sowjetunion […]“7 historiographische Konzepte ganz grundsätzlich zu überdenken, war von einer solchen gesellschaftlichen Nähe zu den Angehörigen von Opfern ärztlichen Fehlverhaltens, medizinischer Verbrechen und Missbrauchs der Psychiatrie damals dennoch weit weniger geprägt.8 Was also kennzeichnet das Forschen in der Peripherie, und in diesem Fall? Und worin bestehen in der Peripherie – neben vielen Gemeinsamkeiten – auch Unterschiede zur Forschungstätigkeit in einem Zentrum der Wissenschaft? DIE SÜDWÜRTTEMBERGISCHE REGION IM NATIONALSOZIALISMUS – FORSCHUNG IN DER POLITISCHEN PERIPHERIE Im hier zu skizzierenden medizinhistorischen Forschungsprojekt zu einem deutschösterreichisch-italienischen Gegenstand interagieren Öffentlichkeit, Zeitzeugen und Angehörige der historisch in die Folgen des Nationalsozialismus involvierten Gruppen ebenfalls mit der Tätigkeit der Forschenden.9 Dieses Szenario birgt Chan6 7 8
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Vgl. die Problematisierung dieses Themenkomplexes bei Wischermann, Clemens, 2002, S. 9–23, hier v. a. S. 13–15, 22–23. Hertel, Patricia; Baumeister, Martin und Sala, Roberto (2015) S. 7–17, hier S. 9. Dies obwohl das Forschungsfeld der Medizin im Nationalsozialismus einen Schwerpunkt des institutseigenen Forschungsprofils darstellte und Forschungsdesigns und Fragestellungen ganz zweifelsfrei einer beeindruckenden Breite und stringenten Logik historischen Arbeitens folgten wie folgen. Das Forschungsprojekt trägt den Titel „Von Südtirol nach Württemberg. Die ‚Umsiedlung‘ Südtiroler Psychiatriepatienten im Rahmen des deutsch-italienischen Optionsvertrags“ (Kurz-
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cen zur Umsetzung historischer Forschung sowie bezüglich der Verbreitung der Ergebnisse dieser Forschung. Die Forschungsfragen des im Folgenden skizzierten Projekts selbst zielen inhaltlich auf eine Analyse der Verflechtungen zwischen den Themenfeldern Psychiatrie, Nationalsozialismus und Holocaust ab. Das Projekt hat hierbei seinen geographischen Schwerpunkt im südwestdeutschen Raum, doch sind die deutsch-österreichisch-italienische sowie die deutsch-französische Beziehungsgeschichte darüber hinaus ebenfalls von hoher Bedeutung. Die Fragestellungen betreffen die Zusammenhänge zwischen der nationalsozialistischen Gesundheitsgesetzgebung und Bevölkerungspolitik, sowie diejenigen zwischen den Patientenmorden in der Psychiatrie dieser Zeit und der Vorbereitung des Holocaust, die noch weit weniger als ‚vollständig bearbeitet‘ gelten dürfen.10 Der Historiker Peter Steinbach führte vor einiger Zeit als Argument und Maßstab für seine Beurteilung eines Forschungsstands unter anderem die bisher nicht erfolgte Auswertung umfangreicher und äußerst relevanter nationaler Aktenbestände zum Thema des Nationalsozialismus an. Anlass für Vorstudien zum hier skizzierten Projekt waren bisher nur auszugsweise beachtete regionale Aktenbestände, deren bisherige, kaum erschöpfende Nutzung unter anderem geographisch und infrastrukturell zu erklären ist: Die wesentlichen Faktoren hierfür stellen – in sachlicher Beschreibung und ohne Kritik – die regionale räumliche Situation der Universitäten im Bundesland Baden-Württemberg, ihre wissenschaftlichen Beziehungen zu Staats- und anderen Archiven dar, auch die Ausstattung einschlägiger Fakultäten an diesen Universitäten, sowie die inhaltliche Orientierung der jeweiligen akademischen Disziplinen und mit derlei Forschungsfragen befassten universitären oder außeruniversitären Institute. Nicht zuletzt die Forschenden selbst. Unabhängig davon jedoch, ob man nun die erwähnte Argumentation Steinbachs oder die Kriterien der Wissenschaftshistorikerin Ludmila Jordanova11 zur Anwendung bringen möchte, sind die Themenfelder Nationalsozialismus und Holocaust, die Zusammenhänge zwischen den Patientenmorden der „Euthanasie“ einerseits, und den Genoziden, die mit dem Begriff Holocaust verbunden sind, andererseits, in dieser Region Deutschlands bisher nicht umfassend untersucht. Dies gilt für sehr verschiedene Aspekte dieser Thematik, wie die Schicksale der Opfer der „Euthanasie“, für biographische Studien zum Personal in den Tötungseinrichtungen, oder für die psychiatrischen Einrichtungen selbst, die vor dem Hintergrund bereits veröffentlichter, auch überregionaler bzw. internationaler Forschungsarbeiten zu den genannten Themen,12 historiographisch aufgearbeitet werden. Nicht minder gilt dies für die Zwangssterilisation psychisch Kranker und verfolgter Ethnien in den 1930er
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bezeichnung: ZWIE 18/ EUROPA 7), siehe: http://www.forschung-bw.de/history.html, unter: Forschungsprojekte. In Übertragung dessen, was der Historiker Peter Steinbach zum Forschungsstand der Themen Nationalsozialismus und Holocaust, auch deren Vorbedingung und Vorbereitung, feststellte. Vgl. Steinbach, Peter (2009) S. 337–351. Jordanova, Ludmila (1993) S. 437–449. Vergleichsweise gut untersucht sind Einrichtungen im geographischen Raum Badens. Die hier untersuchten Einrichtungen sind vor allem im Württembergischen zu verorten.
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Jahren.13 Diese Aufarbeitung erfolgt unter anderem, um Erkenntnisse zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Sinne des interregionalen Vergleichs im deutschen Raum, auch bezüglich regionaler Besonderheiten der Strukturen und Handlungsspielräumen der Akteure zu gewinnen: Die Untersuchung der für die Region maßgeblichen „Euthanasie“-Anstalt Grafeneck14 fokussiert insbesondere auf ihre inneren Strukturen und Handlungsabläufe, sowie auf die Migration ihres Personals in andere Einrichtungen, sowohl solche des Patientenmords, als auch in Konzentrations- und Vernichtungslager im Inland und den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten. Auch die Dokumente der bundesrepublikanischen Rechtsprechung zur Verantwortung der Täter aus dem Kreis des medizinischen Personals („Grafeneck-Prozess“) werden einer Revision unterzogen.15 In Ergänzung hierzu werden biographische Fallstudien bedeutender regionaler Verantwortlicher der sogenannten Euthanasie aus verschiedenen Berufsgruppen,16 quasi als mikrohistorische Tiefenbohrungen, dem aktuellen Forschungsstand beigestellt. Hier interessieren zum Einen Untersuchungen zur Moral nationalsozialistischer Ärzte, in Übertragung der Fragestellung von Gross zur nationalsozialistischen Moral im Allgemeinen.17 Zum Anderen zielen diese biographischen Studien auf die Ausmessung sogenannter Handlungsspielräume von Akteuren,18 insbesondere von bisher identifizierten Tätern in regionalen medizinischen Strukturen.19 Auch die Handlungsspielräume der Verantwortlichen in regionalen psychiatrischen Institutionen, sowie diejenigen der Familien der Opfer selbst harren noch einer genaueren Erkun13 14 15
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17 18 19
Vergleiche hierzu demnächst Spohr, Marc und Müller, Thomas (2017, S. 171–195). Siehe hierzu auch die jüngst erschienen Publikation von Steinbach, Peter; Stöckle, Thomas; Thelen, Sibylle und Weber, Reinhold, 2016. Eine erste Kooperation besteht zwischen unserem medizinhistorischen Forschungsbereich und dem Dokumentationszentrum / Gedenkstätte Grafeneck, die auch rechtshistorische Aspekte umfasst. Vgl. u. a. Müller, Thomas; Kinzig, Jörg und Stöckle, Thomas (2010) S. 29–60, sowie Kinzig, Jörg und Stöckle, Thomas, 2011. Nur ein Bruchteil der von C. F. Rüter und D. W. De Mildt allein im Sinne der Beurteilung der „Euthanasie“ 1998 gelisteten Strafverfahren ist historiographisch aufgearbeitet. Vgl. Rüter, C. F. und De Mildt, D. W., 1998. In dieser Forschung kooperiert unser Forschungsbereich für Geschichte der Medizin ebenfalls mit Anika Wendelstein (vormals Burkhardt). Eine Publikation ist in Vorbereitung. Siehe: u. a. Burkhardt, Anika, 2015. Von Interesse sind, neben der Gruppe der Ärztinnen und Ärzte, hier nicht allein die nicht-ärztlichen (zum Beispiel Pflegende), sondern auch die nicht-medizinischen Berufsgruppen (wie u. a. Ökonomen und Verwalter) der damaligen psychiatrischen Einrichtungen im Untersuchungsgebiet vor allem des südlichen Württemberg. Dieses Interesse unsererseits wurde bereichert durch die Forschungen, Publikationen und Diskussionsbeiträge von Raphael Gross, auch zusammen mit Werner Konitzer. Siehe u. a. die Publikation von Gross, Raphael 2010/2012. Verwendung findet dieser Begriff auch in der Forschung von Gerrit Hohendorf zur „Euthanasie“, vgl. Hohendorf, Gerrit, 2011, S. 53–82. Diese Art von „Täter“-Studien verstehe ich im Sinne Schultes als Versuche differenzierter Täteranalysen zur Erweiterung des Verständnisses der Rolle der Mehrheitsgesellschaft im Nationalsozialismus (siehe Schulte, Jan Erik, S. 24–51, für das Zitat s. S. 49), oder der „‚Volksgemeinschaft‘ vor Ort“, wie dieses Interesse an sozialer Praxis im Rahmen der einschlägigen Forschung eines Niedersächsischen Forschungskollegs an der Universität Oldenburg bezeichnet wurde.
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dung. Eine auch in anderen Bereichen der historischen Forschung zur deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus inzwischen hinterfragte Auffassung, die von Unvermeidlichkeit und Linearität in Bezug auf nationalsozialistische Befehls- und Ordnungsstrukturen geprägt ist, erschien im Verlauf unserer zunehmenden Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Ärzteschaft immer mehr in Zweifel gezogen werden zu müssen. Nicht zuletzt sind die Schicksale einer bedeutenden Zahl an Patienten bis heute ungeklärt: Sehr deutlich zeigt dies beispielsweise das bisher nur ansatzweise erklärbare Schicksal bereits zur Deportation in die Vernichtung der „Euthanasie“ verlegten Patientinnen und Patienten, die von der für diese Region zentralen Tötungsanstalt zurück „verlegt“ worden waren,20 also die sogenannte zentrale Euthanasie überlebten. Die Situation der historisch Forschenden an einem Klinikstandort, der in Bezug auf eine Heilanstalt im Nationalsozialismus durch topographische Kontinuität und juristische Nachfolge zugleich charakterisiert ist, weist, wie oben beschrieben, bereits eine deutliche Nähe zur Gesellschaft, zum Interesse der Bevölkerung, auch zu den Recherchen der Angehörigen von Patientinnen und Patienten auf, die zu Opfern des Nationalsozialismus wurden. Weitere, wesentliche Veränderungen dieser lebensweltlichen Situation zur Forschung an Instituten in klassischer Campus- oder Hochschulsituation ergaben sich – über das Gesagte hinaus – nach der Übergabe eines an unserer hiesigen Klinik entstandenen Mahnmals21 zum Gedenken an die Opfer der zentralen „Euthanasie“ an die Öffentlichkeit: Auch aus der dieser Klinik vorausgehenden Heilanstalt waren 691 Patientinnen und Patienten deportiert worden. Hatten Anfragen, Anschreiben, oder telefonisch vorgetragene Gesuche an die seinerzeitige Leitung dieser Klinik vereinzelt auch bereits seit den 1980er Jahren zur Auseinandersetzung überwiegend der zweiten Generation der Angehörigen von Opfern der „Euthanasie“ mit dem Schicksal ihrer Familienmitglieder gehört, und waren seither von Mitarbeitern der Klinik bearbeitet worden, so führte nun in der ersten Dekade der 2000er Jahre ein deutlich erhöhtes Aufkommen der Recherchetätigkeit der nachfolgenden dritten Generation, zusammen mit einer in der Öffentlichkeit sichtbaren Veränderung der Haltung der psychiatrischen Einrichtung und ihrer Vertreter selbst dazu, dass sich dieser Art Anfragen um ein Vielfaches erhöhten: Die Klinikleitung rief eine Arbeitsgruppe ins Leben, als deren Ziel, zusammen mit den Vertretern der Stadt Ravensburg, die Auslobung eines künstlerischen Wettbewerbs formuliert wurde, dessen Auswertung die Umsetzung eines von Juroren ausgewählten „Mahnmals“ ergeben sollte.22 Ein nicht allein zeitlicher Zusammenhang dieser 20 21
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In der Einrichtung des Verfassers hat sich Rüdenburg (Rüdenburg, Bodo, 2010, S. 152–155) mit dieser Thematik beschäftigt. Aus veränderter Perspektive im gleichen Jahr: Rauh, Philipp, 2010, S. 54–74. Zum Denkmal der grauen Busse siehe: Stadt Ravensburg, ZfP Südwürttemberg, Landschaftsverband Rheinland bzw. Schmidt-Michel, Paul-Otto; Müller, Thomas; Schwarzbauer, Franz; Hoheisel, Horst und Knitz, Andreas, 2012. Eine nachfolgende Publikation, die die erste Dekade des Umgangs der Öffentlichkeit mit diesem Denkmal kritisch untersuchen will, ist zurzeit in Vorbereitung, und wird 2017 erscheinen. Müller, Thomas; Schmidt-Michel, PaulOtto; Schwarzbauer, Franz, 2017. Die Ursachen für ein erhöhtes Aufkommen von Anfragen nach dem Schicksal der Opfer der „Euthanasie“ am Standort werden im subjektiven Eindruck wesentlich mit den beiden im Text
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Zunahme kommunikativer Beziehungen zwischen Vertretern der Klinik einerseits und der breiteren Öffentlichkeit und Angehörigen von Opfern der NS-Verbrechen anderseits – spätestens ab dem Zeitpunkt der Übergabe des beschriebenen Mahnmals an diese Öffentlichkeit – scheint aus unserer Sicht auf der Hand zu liegen. Unsere Forschungsfragen haben hierdurch neben den oben beschriebenen Fragestellungen und zunächst fast unmerklich eine deutlichere Positionierung zugunsten von Fragestellungen erfahren, die in historiographischer Perspektive der sogenannten Patientengeschichte zugeordnet werden können. Die von außen seitens Angehöriger an uns herangetragenen personengebundenen Fragen zum Schicksal ehemaliger Patientinnen und Patienten betreffen in quantitativer Hinsicht überdurchschnittlich stark die Jahre des Nationalsozialismus, reichen jedoch ins 19. Jahrhundert zurück oder berühren die jüngste Geschichte. Zuletzt trat die Thematik sogenannter Heimkinder, auch der im Raum stehende Missbrauch dieser Schutzbefohlenen, ins Zentrum der Kritik, der Forschung und auch der Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit.23 Hier sei nur an zwei Beispielen verdeutlicht, dass sich aus der Bearbeitung solcher externen Anfragen an eine Forschungseinrichtung noch weitere, der Forschung selbst wiederum förderliche Konsequenzen ergeben: Die Anfragen zur Klärung des Schicksals ehemaliger Patientinnen und Patienten, von denen die mit der Zeit des Nationalsozialismus verbundenen hier im Vordergrund stehen sollen, betreffen einesteils die erwähnte Gruppe von Opfern der sogenannten zentralen „Euthanasie“. Zweitens betreffen sie den Verbleib derjenigen Menschen, die im Rahmen des sogenannten Optionsvertrags zwischen dem Deutschen Reich und Italien zwischen 1939 und 1942 aus dem Gebiet des historischen Tirol und angrenzender Provinzen nach Württemberg gelangten. Im eingangs erwähnten deutsch-österreichisch-italienischen Projekt, das auf ein beeindruckendes System transnational verflochtener wie internationaler Geschichte verweist, vergleichen wir diesen Teil der Migration aus dem italienischen Staatsgebiet mit der Einwanderung minderjähriger Schülerinnen und Schüler, die ebenfalls aus Italien in das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg, darüber hinaus jedoch auch ins besetzte Elsass verbracht, und dort angesiedelt (und beschult) wurden. Diese, nicht anders denn als biopolitische Maßnahme zu beschreibenden Bevölkerungsbewegungen deutsch optierender Menschen („Heim ins Reich“) im politischen Ausland dienten utilitaristischen Zwecken der deutschen Seite ebenso, wie der Italianisierungspolitik in den benannten norditalienischen Regionen seitens der Regierung Mussolini. Allerdings wurden durch drohende Nichterfüllung vertraglich ver-
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beschriebenen Faktoren in Zusammenhang gesehen, können in quantitativer wie qualitativer Hinsicht jedoch kaum differenziert werden. Das Mahnmal wurde 2007 der Öffentlichkeit übergeben. Der Beginn der Aufarbeitung der NS-Psychiatrie innerhalb der eigenen Einrichtung reicht jedoch bis in die 1980er Jahre zurück. Siehe unter anderem Steinert, Tilman, 1985. Kretschmer, Manfred, 1983, S. 337–354; Kretschmer, Manfred, 1997, S. 361–379, oder Jockusch, Ulrich und Scholz, Lothar, 1992 u. a. Beiträge mehr. Sie haben unsererseits Aktenziehungen im eigenen Archiv des Hauses, in regionalen Teilen des Landesarchivs oder einschlägigen Registern des Bundesarchivs zur Folge. Siehe hierzu auch Pilz, Nastasja; Seidu, Nadine und Keitel, Christian, 2015.
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einbarter „Quoten“ der zunächst selbst gewählten Abwanderung der Bevölkerung aus italienischem Gebiet nach wenigen Monaten zum Einen alte Menschen ohne medizinische Begründung psychiatrisiert. Zum Zweiten wurden zur vertraglichen Erfüllung vereinbarter Abwanderungsquoten bereits in italienischen Psychiatrien untergebrachte Patientinnen und Patienten aus Tirol beziehungsweise den Provinzen Bolzano, Trento, Belluno, Vicenza, Verona und Udine damals – zum Teil gegen ihren Willen und jedenfalls unter Umgehung einer formalen oder auch nur informellen „Option“ – in württembergische psychiatrische Einrichtungen transportiert beziehungsweise deportiert.24 Die näheren Umstände der Tatsache, dass diese Menschen, von denen offenbar niemand Opfer der zentralen „Euthanasie“-Verbrechen wurde, in großer Zahl vor Ende des Zweiten Weltkriegs dennoch verstorben waren, ist gegenwärtig Gegenstand der Forschung. Diese Thematik wurde an anderer Stelle vertieft.25 Im Rahmen dieses Beitrags interessieren uns beispielhaft die kooperativen Beziehungen, die sich um diese Forschung gruppieren: Die Anfragen zu diesen beiden Gruppen von ehemaligen Insassen württembergischer, psychiatrischer Einrichtungen erreichen uns zum Einen aus privaten Kreisen des In- und Auslands und zum Teil unter Einbeziehung von Übersetzern. Zum Anderen erreichen sie uns aus Forschungseinrichtungen und -gruppen im In- und Ausland. Ihre Beantwortung lenkte unsere Aufmerksamkeit auf Aktenbestände, die in anderem Fall später, oder nicht in absehbarer Zukunft einer Auswertung unterzogen worden wären. Sie lässt Anteil haben an Forschungen Dritter, oder es entstehen – in Erweiterung des Beschriebenen – neue Kooperationen mit Forschenden von dritter Seite.26 Die Beantwortung historischer Fragen, auch in Korrespondenz mit historischen Laien, Zeitzeugen oder Angehörigen, liefert uns qua Personenbeschreibung und vermittels Personen- oder Finddaten – insbesondere solche privater Anfragender – Informationen zu Patienten, die häufig nicht Gegenstand oder Inhalt zugehöriger Akten unserer eigenen Einrichtungen, oder der italienischen Herkunftseinrichtungen sind. Die Zusammenführung dieser von externer Seite an uns übermittelten Informationen mit denjenigen, in den für unsere Einrichtung zuständigen Staats- und Landesarchiven vorgehaltenen Aktenbeständen zu diesen Personen ermöglicht häufig erst eine Beantwortung der an uns adressierten Fragestellungen. In jedem Fall erhöhen jedoch diese weiteren, uns nun erreichenden Dokumente und Unterlagen aufgrund der in ihnen enthaltenen Informationen die Dichte der Informationen zu Patientinnen und Patienten sowie die 24
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Die detailgenaue Beschreibung dieser Vorgänge hier wiederzugeben ist nicht der Ort. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden offenbar auch Prostituierte in diese „Verlegungen“ einbezogen. Für den aktuellen Forschungsstand siehe Fiebrandt, Maria; Rüdenburg, Bodo und Müller, Thomas, 2012, S. 154–190. Siehe Müller, Thomas, 2016, sowie Müller, Thomas und Kanis-Seyfried, Uta, (2016, im Druck). So entstand nach Vorarbeiten ein inzwischen ins Deutsche übertragenes und 2016 publiziertes Theaterstück als Buchpublikation in der Folge des wissenschaftlichen Austausches zum oben genannten Forschungsthema quasi zusätzlich. Das ursprünglich italienische Stück des Autors und Theaterregisseurs Pietro Floridia, ein Drama in zwei Akten, behandelt fiktional das Thema der „Euthanasie“ in Deutschland. Siehe Müller, Thomas, 2016.
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Plastizität der historischen Ereignisse deutlich.27 Im Fall anfragender Institutionen und Forschungsgruppen kann die in der Kooperation vorangetriebene Recherche aufgrund einer initiierten Zusammenarbeit gegebenenfalls in gemeinsame Publikationen oder die gegenseitige Verleihung von in der Öffentlichkeit umfassender wirksam werdenden Ausstellungen – im Sinne der kooperierenden Präsentationen von Forschungsergebnissen – münden. Eine gemeinsame Wanderausstellung zur Bedeutung der ehemaligen Anstalt Zwiefalten als Vorschalteinrichtung der Verbrechen der „Euthanasie“ in Grafeneck auf der schwäbischen Alb, die seitens des dortigen Dokumentationszentrums und unserer Forschungseinrichtung 2012 gemeinsam erarbeitet wurde und den Titel „Zwangssterilisation, ‚Euthanasie‘ und Patientenmord in der deutschen Psychiatrie“ trug, stellt hier ein erstes Beispiel dar.28 Diese dreimonatige Kooperation, initiiert vom Personal des von unserem Forschungsbereich verantworteten Württembergischen Psychiatriemuseums, als Leihgabe des Kooperationspartners in Grafeneck, der seit 2003 über eine Wanderausstellung als neuem und in dieser Dimension für eine Gedenkstätte in Baden-Württemberg bis dato einzigartigem Medium verfügte, war ursprünglich mittels der Gedenkstättenförderung des Bundes und des Landes Baden-Württemberg gefördert und ermöglicht worden. Konzipiert wurde die Ausstellung der Gedenkstätte – Dokumentationszentrum Grafeneck e. V. als Wanderausstellung, um das Thema der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Im Rahmen der „Historischen Forschung“ am Forschungsbereich für Geschichte der Medizin in Ravensburg wurde nachfolgend eine Reihe von Forschungsprojekten initiiert, deren Ergebnisse zum Teil bereits in eine erweiterte Fassung dieser Wechselausstellung integriert wurden und die in absehbarer Zeit weitere Forschungsergebnisse zum Thema zutage fördern werden. In der Präsentation dieser Ergebnisse, auch jenseits der medizinhistorischen Fachöffentlichkeit, arbeiten „Historische Forschung“ und Gedenkstätte / Dokumentationszentrum Grafeneck e. V. weiterhin kooperativ. Ein zweites Beispiel ist die etwa sechsmonatige Präsentation einer Wanderausstellung als Teilergebnis eines österreichisch-italienischen EU-Projekts zur Geschichte der Psychiatrie des historischen Tirol, installiert in dem zu unserer Einrich27
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Dergestalt bereichern diese zusammengeführten Daten auch die Unterrichtssituation, in der historische Inhalte verschiedenen Zielgruppen vermittelt werden können, ebenso wie übereignete persönliche Dokumente willkommene Objekte im Rahmen der musealen Repräsentation dieses Forschungsthemas im Württembergischen Psychiatriemuseum sind. In Personalunion geleitet wird der Forschungsbereichs des Verfassers dieses Beitrags zusammen mit dem Württembergischen Psychiatriemuseum (http://www.forschung-bw.de/history/psychiatricmuseum. php) sowie dem Verlag Psychiatrie und Geschichte (http://www.forschung-bw.de/history/ VerlagPsychGesch.html). Zur konzeptionellen Zusammenarbeit dieser drei Strukturen siehe auch: Müller, Thomas und Kanis-Seyfried, Uta, (2015) S. 11–18. Die Ausstellung trägt den Titel: „Zur Geschichte der südwestdeutschen „Euthanasie“ mit besonderer Berücksichtigung der Rolle Grafenecks und Zwiefaltens“. Ausstellungsbearbeitung: Thomas Stöckle, Franka Rößner (Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Grafeneck: http:// s522790709.online.de/315.htm; E-Mail: [email protected]), sowie Thomas Müller und Uta Kanis-Seyfried (in der Einrichtung des Verfassers, http://www.forschung-bw. de/history.html).
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tung gehörigen Württembergischen Psychiatriemuseum, die ebenfalls im Jahr 2012 präsentiert worden ist.29 Das Institut für Geschichtswissenschaften & Europäische Ethnologie sowie das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck erarbeiteten die vom Südtiroler Landesarchiv getragene Ausstellung im Rahmen des Interreg IV-Projekts (Italien/Österreich) „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol-Südtirol von 1830 bis heute“.30 Diese Ausstellung war in den letzten Jahren, neben einigen Stationen in Österreich, vor allem im nördlichen Italien zu sehen. Die Wanderausstellung trug den Titel: „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“. Dieses Zitat stammte von einem historischen Patienten, einem ehemaligen Jagdgehilfen mit Namen Josef B., der 1903 hiermit – bilanzierend – seine Behandlung und Einsperrung in der österreichischen Psychiatrie beschrieben hatte. Im Rahmen dieser außergewöhnlichen Ausstellung wurde auch seine Geschichte rekonstruiert, ebenso wie jene von 30 weiteren Frauen und Männern, die im historischen Raum Tirol zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und den 1970er Jahren psychiatrisch behandelt worden waren. Die mit Möbeln arbeitende und ästhetisch gestaltete, biographische „Fallgeschichten“ präsentierende Ausstellung als Teilergebnis des erwähnten EU-Projekts widmet sich solchen Psychiatriepatientinnen und -patienten, die im historischen Raum Tirols, unter anderem in den Anstalten Hall in Tirol, der Universitätsklinik Innsbruck und der Anstalt Pergine, im Trentino, behandelt worden waren. Dem Sample an Biographien sind – zumeist passive – Verben zugeordnet, die das Schicksal der Betroffenen charakterisieren sollen: begutachten – arbeiten – essen – behandeln – verwahren – töten – erziehen – verschicken. „Verschickt“ wurden im Rahmen des deutsch-italienischen Optionsvertrages zwischen Hitler und Mussolini in den 1940erJahren viele Patienten aus dem heutigen Südtirol nach Württemberg – in die Heil- und Pflegeanstalten Zwiefalten, Schussenried und Weissenau. Hier berührt dieses Subthema der Ausstellung direkt die am Forschungsbereich in Ravensburg vorgenommene, oben beschriebene Forschung zum Schicksal der im Rahmen des Optionsvertrags ab 1940 nach Württemberg gelangten Patientinnen und Patienten. Diese und andere thematische Aspekte machten für die kooperierenden Forscherinnen und Forscher selbst interessante und zum Teil auch überraschende Verbindungen zwischen der Psychiatriegeschichte Tirols im 19. und 20. Jahrhundert, sowie derjenigen Württembergs, und insbesondere Zwiefaltens, sichtbar.31 29
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Die hier beschriebene Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ ist Teilergebnis dieses EU-Projekts. Das Institut für Geschichtswissenschaften & Europäische Ethnologie sowie das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck erarbeiteten die vom Südtiroler Landesarchiv getragene Ausstellung im Rahmen des Interreg IV-Projekts (Italien/Österreich) „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol-Südtirol von 1830 bis heute“ (Weitere Informationen sowie Publikationen unter: www.psychiatrische-landschaften.net). Weitere Informationen unter: www.psychiatrische-landschaften.net. Eine zugehörige Publikation (Elisabeth Dietrich-Daum et altri, 2011) liegt vor, ebenso ein Katalog der Ausstellung. Siehe zur genannten Literatur das gesonderte Kapitel in diesem Sammelband von Di Pauli, Noggler-Gürtler und Sidoroff. Eine Patientin aus dem biographischen Sample der Ausstellung beispielsweise nahm einen um-
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Beide historische Ausstellungen porträtieren wesentliche historisch-politische Entscheidungen und ihre Folgen in der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, die in den politischen Zentren der Macht beschlossen, in der geographischen Peripherie umgesetzt und vor allem dort auch sichtbar wurden.32 Die Aufarbeitung der Geschehnisse in der geographischen Peripherie führte im historiographischen Arbeitsprozess zur Erarbeitung von Ausstellungen, deren Ziel neben einer möglichst großen Verbreitung der gewonnen Ergebnisse dieser Forschung in den Ereignisregionen selbst auch Präsentation in den (damaligen wie heutigen) Zentren der Politik ist. LEBENSWELT UND WIRKLICHKEIT DER HISTORISCH FORSCHENDEN – UND DIE ÖFFENTLICHKEIT. EIN AUSBLICK Die beiden zuvor dargestellten Initiativen der Kooperation unserer Einrichtung mit Dritten – dem Team einer regionalen Gedenkstätte einerseits, und einer ausländischen, selbst internationalen Forschergruppe andererseits – stellen zugleich Beispiele der musealen Arbeit wie auch der Erarbeitung und Verarbeitung von Forschungsergebnissen dar, die zum Spektrum der Aktivitäten unseres Forschungsbereichs um die Aufarbeitung der eigenen institutionellen, wie der regionalen und nationalen Geschichte zu rechnen sind. Die beschriebenen Wanderausstellungen, wie auch ein Museum in Regie dieses Forschungsbereichs, verändern wiederum die Bedeutung der Strukturen des geographischen Orts, der Außenwahrnehmung der psychiatrischen Klinik sowie der Binnenstruktur als psychiatrischer Einrichtung selbst: letzteres im Sinne eines Ausbildungsorts in verschiedenen Gesundheitsberufen mit einer internen Öffentlichkeit einerseits, sowie im Sinne eines außerschulischen Lernorts – auch mit den Möglichkeiten emotionalen historischen Lernens und Verstehens – andererseits, der von einer breiteren Öffentlichkeit angenommen wird, zu der Besuchergruppen, Angehörige von Patientinnen und Patienten und regelmäßig auch Schulklassen der 9. bis 11. Klassenstufe gehören.33 Studierende der
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gekehrten Weg, wie die sogenannten „Südtiroler“ in Württemberg: sie stammte aus Zwiefalten, lebte in Südtirol, und erkrankte dort später. Die historischen Gegenstände dieser Forschung erfuhren dabei eine Peripherisierung in mehrfacher Hinsicht: Nicht allein wurden gesundheits- und bevölkerungspolitische Maßnahmen und Verbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jenseits urbaner Zentren umgesetzt, wie beispielsweise die Ansiedlung volksdeutscher Bevölkerung und ihrer psychisch kranken Angehörigen an den Rändern des Deutschen Reiches nach 1939, oder die Ermordung psychisch Kranker und körperlich Behinderter in Grafeneck, einem entlegenen Ort auf der Rauen Alb (nicht unähnlich vielen späteren Konzentrationslagern des Nationalsozialismus). Sondern diese Ortswahl der historischen Akteure steht selbst in einer medizinhistorischen Tradition, die nicht erst seit dem 19. Jahrhundert und den Anfängen der institutionalisierten Psychiatrie, auch im deutschsprachigen Raum die „Versorgung“ psychisch Kranker, beispielsweise aus den urbanen Zentren von Stuttgart, Ulm oder Tübingen und Reutlingen an entlegene Orte mit therapeutischen Zwecken begründete und seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dort auch umsetzte. Das Ausmaß, in dem diese Schulklassen die Migrationsgesellschaft repräsentieren, stellt dabei eigene Forderungen an die Anpassung der musealen Angebote, auch zu den genannten historischen Themen.
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Medizin und Absolvierende von akademischen Qualifikationsarbeiten stellen im Sinne dieser Aufzählung eine weitere und dritte Öffentlichkeit dar. Die Akzeptanz durch sowie die Zuweisung solcher Bildungsaufgaben an akademische Einrichtungen sowie der hiermit verbundene Bildungsauftrag haben in dem skizzierten Umfang im medizinhistorischen Forschungsfeld des deutschsprachigen Raums noch keine Selbstverständlichkeit erlangt. Mit den auch im internationalen Vergleich hochrangigen medizinhistorischen Forschungen interagieren in den letzten Jahren mitunter auch negativ die Debatten um medizinhistorische versus medizinethische Schwerpunktsetzungen in Forschung und Lehre,34 und dies, obschon die deutsche Medizingeschichte über die Milleniumwende hinweg herausragende andere Charakteristiken ausgebildet hat, wie den hier hervorzuhebenden musealen Ast der Institutionalisierung, beispielsweise in Form der Weiterentwicklungen des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt, des neu gegründeten Hamburger Medizinhistorischen Museums sowie des expandierenden Berliner Medizinhistorischen Museums an der Charité. Bereits umgesetzt werden solche Bildungsaufträge also unter anderem dort, wo medizinhistorische Sammlungen und Museen entweder autonom von universitären Strukturen operieren können, oder bereits Teil des Profils einer größeren Forschungseinrichtung, einer Universität oder einer anderweitigen Hochschuleinrichtung sind. Diese Akzeptanz ist in anderen nationalen Kontexten, auch aufgrund verschiedener Kulturen und Strukturen, durchaus höher,35 und Anleihen an Modellen internationaler Provenienz wären möglicherweise auch der nationalen Entwicklung hierzulande förderlich. Die oben beschriebenen Aktivitäten unserer Forschungseinrichtung stellen zunächst also den Versuch dar, gewonnene Forschungsergebnisse zeitnah auch museal zu präsentieren, und über die Nutzung akademischer Printmedien hinaus breiteren gesellschaftlichen Feldern zugänglich zu machen. Die Wege, die die Forschungseinrichtung in Ravensburg verfolgt, sind an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben worden.36 Diese Wege mit dem Ziel historisch-ethischer Bildung entlang demokratischer Ideale und anhand der Forschungsergebnisse zur Sozial- und Ereignisgeschichte des Nationalsozialismus zu beschreiten, gilt inzwischen als zentrales Ziel des Geschichtsunterrichts in Bildungseinrichtungen jedweder Art. Der umfassende Versuch der Kommunikation der hier beschriebenen medizinhistorischen 34 35
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Vergleiche neben vielen anderen Beiträgen zuletzt Fangerau, Heiner und Gadebusch Bondio, Mariacarla, (2015) S. 33–52, hier insbesondere S. 46–47. Ein Vergleich, beispielsweise mit der angelsächsischen Kultur, ergäbe eventuell, dass die Teilnahme an einschlägigen Debatten in der breiteren Öffentlichkeit unter britischen Forschern üblicher ist, als hierzulande, wo jedoch Veränderungen ebenfalls spürbar sind. Britische Einrichtungen positionieren sich m. E. jedoch noch immer deutlicher und identifizieren sich mit Aufgaben der Public History, was zum Teil auch seitens drittmittelgesteuerter Evaluation gefordert sein mag und sich in Begrifflichkeiten wie public outreach manifestiert. Die kompetitive und universitätspolitische Motivation dieser Bewertungen wiederum kann im Rahmen dieses Beitrags nicht diskutiert werden, ebenso wenig wie der Aspekt der „Aufmerksamkeitsökonomie“, der sich Forschende, wie mit der Forschung verbundene Einrichtungen nicht entziehen können. Siehe hierzu: Frank Bösch und Constantin Goschler 2009, S. 7–23, hier S. 22. Siehe wiederum Müller, Thomas und Kanis-Seyfried, Uta, (2015) S. 11–18.
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Forschungsergebnisse berührt dabei die Themenfelder „Public History“,37 „Popular History“38 und „Geschichtsjournalismus“.39 Wir möchten uns der Kommunikation mit Akteurinnen und Akteuren in diesen Feldern öffnen, deren Entwicklung in den letzten Jahren als rasant beschrieben werden kann,40 und die im Übrigen nicht mehr trennbar voneinander sind. Vielmehr können diese sich unserer Erfahrung nach nicht allein in didaktischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht gegenseitig befördern.41 Eine egalitär geführte und auf inhaltliche Aspekte der Forschung und Vermittlung von Forschungsergebnissen fokussierte Beziehung zwischen Geschichtswissenschaft und Public History, ihren Vertreterinnen und Vertretern, sowie mit Akteurinnen und Akteuren im öffentlichen Raum selbst,42 kann darüber hinaus die Diskussion um die Konstruktion von Geschichte überaus bereichern. Der Befund, demzufolge die Bedeutung von Public History in beiden Feldern zunimmt, den akademischen Geschichtswissenschaften und des schulischen Geschichtsunterrichts, stützt diese These ebenfalls.43 Ist also die zunehmende Praktik der Akteurinnen und Akteure in medizinhistorischen Forschungseinrichtungen, mit mehr Öffentlichkeit und Teil-Öffentlichkeiten aktiv in Beziehung zu treten, zurzeit und bisher nur eine Praktik? Und könnte oder sollte aus dieser Praktik, die – um einen Gedanken aus den cultural studies aufzugreifen – eine weniger reflektierte Vorstufe zur Praxis darstellt, zukünftig eine intendierte Praxis werden – eine Praxis der Public Medical History?
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Vgl. wiederum Bösch, Frank und Goschler, Constantin 2009. Zu den Fallstricken der popular history, die ihrerseits wiederum nicht ‚frei‘, oder gar demokratisierend allein wirken kann, sondern in gewisser Weise auch inhärent nationalistisch gestaltet ist, siehe De Groot, Jerome, 2012, S. 281–295, hier v. a. S. 292–293. Anforderungen und Fragestellungen, die wiederum aus in diesen Feldern generierten Debatten resultieren, haben mit der Herstellung nicht immer sinnvoller und plausibler Bezüge der präsentierten Geschichte mit der Gegenwart der Konsumenten einschlägiger Formate zu tun. Auch stellen geschichtsjournalistische Produkte sehr machtvolle Strategien der Wissensvermittlung dar, deren Anforderung sich nicht in einem Popularisieren bzw. didaktischen Anpassung des von ‚Experten‘ Gefundenen erschöpft (vgl. Bösch, Frank, 2010, S. 46–47). Wiederum Korte, Barbara und Paletschek, Sylvia, hier S. 7–11. Hierin sehen wir eine Bestätigung der bereits von Frank Bösch und Constantin Goschler formulierten Auffassung, siehe Bösch, Frank und Goschler, Constantin 2009, S. 6–23, hier v. a. S. 9 ff. u. S. 22–23, die in Bezug auf das Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung und Public History von einer „interaktionistischen“ Beziehung sprechen. In dieses Bild passt folgerichtig die Gründung einer Arbeitsgruppe für Angewandte Geschichte / Public History des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) auf dem 49. Deutschen Historikertag 2012. Siehe hierzu die an der Universität Koblenz-Landau initiierte Tagung, ebenfalls im Jahr 2016, mit dem Titel „Wissenschaftskulturen im Vergleich. Wissenstransfers zwischen akademischer Forschung und öffentlichem Raum“, die sich diesem neu entstehenden Feld auch sehr kritisch näherte. Weiteres unter: , zuletzt 22. Mai 2017. Siehe hierzu auch die Ergebnisse der Tagung: Public History International. Beyond school? Comparative Perspectives. Basel, 02.10.2015–03.10.2015.URL: , zuletzt 22. Mai 2017.
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KURZBIOGRAPHIEN Dr. phil. Ankele Monika, Historikerin. Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg und Initiatorin der wechselnden Themenreihen des Medizinhistorischen Museums Hamburg. Forschungsschwerpunkte: deutsche Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (raumtheoretische und materiale Ansätze; Kunst, Selbstzeugnisse und Alltagspraktiken von PatientInnen; Objektgeschichte(n); Arbeit als Therapie) Aktuelles DFG-Projekt: „Bett und Bad. Räume und Objekte therapeutischen Handelns in der Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts. Grundzüge einer materialen Psychiatriegeschichte.“ Publikationen u. a.: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn (2009); Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit als Therapie in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit (2015, mit Eva Brinkschulte). Ass. Prof. Dipl. Ing. Celia Di Pauli, Studium der Architektur in Innsbruck und Berlin. Celia Di Pauli lebt und arbeitet in Innsbruck. Assistenz Professorin am Institut für Gestaltung der Universität Innsbruck. In Ihrer Arbeit am studio1 setzt sie sich u. a. mit der Wechselwirkung von Bild und gestaltetem Raum und Architektur als Kommunikationsmittel und Vermittlungsträger auseinander. Ihre Arbeit ist national sowie international präsentiert und ausgestellt, wie z. B. Deutsches Architektur Zentrum, Van Alen Institute New York, Museum of Contemporary Art Denver, Architekturgalerie am Weißenhof, Designforum Wien & Vorarlberg. In Berlin realisierte sie den Museumsshop im Jüdischen Museum und verwirklichte mit Stadtblind u. a. die Ausstellung und Publikation „Die Farben Berlins“. 2009 realisiert sie gemeinsam mit Dr. Silke Ötsch für Attac Deutschland die Ausstellung und Publikation zum Thema Steueroasen und Offshore-Zentren unter dem Titel „Räume der Offshorewelt“. 2011 wurde erstmals die von Celia Di Pauli und Eric Sidoroff gestaltete und mit Lisa Noggler kuratierte Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol – Trentino „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ eröffnet, die bis 2013 auf Wanderschaft in Deutschland, Österreich und Italien war. Di Pauli ist Mitherausgeberin verschiedener Publikationen, wie „Räume der Offshorewelt“ (2009) und „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten / Non vi permetterò più di farmi passare per matto,“ (2012) sowie Coautor von „Die Farben Berlins / The Colors of Berlin“ (2005). Zurzeit arbeitet sie mit Lisa Noggler und Eric Sidoroff an der Szenografie für das World Nature Forum, dem Informations- und Besucherzentrum des UNESCO-Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch, der Szenografie für „Alles Tirol – alles fremd“ im Volkskunstmuseum Innsbruck sowie „Wege ins Vergnügen“ im Jüdischen Museum Wien.
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Waltraud Ernst, BA, MA, Dipl-Psych, PhD ist Professorin für Medizingeschichte (1700–2015) an der Oxford Brookes Universität in Großbritannien. Sie hat sich auf Psychiatriegeschichte, insbesondere in Südasien, spezialisiert. Sie ist die Autorin von Colonialism and Transnational Psychiatry (2013) und Mad Tales from the Raj (1991; 2010) und Herausgeberin von Work, Psychiatry and Society (2016), Transnational Psychiatries (2010; 2015, zusammen mit Thomas Müller), India’s Princely States (2007, mit Biswamoy Pati), Plural Medicine, Tradition and Modernity (2002) sowie Race, Science and Medicine (1999, mit Bernard Harris). Prof. Dr. med. Heiner Fangerau hat seit 2016 den Lehrstuhl für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf inne. Vorher war er in gleicher Funktion an den Universitäten Köln und Ulm tätig. Seine Forschungsthemen umfassen die Geschichte und Ethik der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere die Geschichte der medizinischen Diagnostik, die Geschichte und Ethik der Psychiatrie sowie die medizinhistorische Netzwerkanalyse. Er ist Autor u. a. von Spinning the Scientific Web: Jacques Loeb (1859–1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung (2010) und Mitherausgeber vom Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen (2014, zusammen mit Christian Lenk und Gunnar Duttge). Dr. med. Julia Grauer (geb. Sievers-Engler) wurde 1980 in Bad Urach geboren und wuchs in Münsingen, Baden-Württemberg auf. Sie studierte Humanmedizin an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und promovierte 2012 am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin. Seit 2008 ist sie als Ärztin in der Inneren Medizin für das Zollernalb Klinikum tätig. Mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt sie in Tübingen. Prof. Dr. Akira Hashimoto studierte Biologie und Gesundheitswissenschaft an der Universität Tokio 1980–1988. Er promovierte im Fach Gesundheitswissenschaft an der Universität Tokio und studierte an der Universität Düsseldorf als DAADStipendiat 1992–1994. Seit 2003 hat er eine Professur am Department der Sozialarbeit der Aichi Präfektur Universität, in Japan, inne. Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Geschichte der Psychiatrie in Asien und Europa zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen zur Psychiatriegeschichte sind u. a. Der Ort der Behandlung und die Geschichte der Psychiatrie (Tokio, 2011), Der psychisch Kranke und die Privatpflege im modernen Japan (Tokio, 2012), Psychiatry and religion in modern Japan: traditional temple and shrine therapies. In Christopher Harding et al. (eds.): Religion and Psychotherapy in Modern Japan (London, 2014), sowie Work and activity in mental hospitals in modern Japan, c. 1868–2000. In Waltraud Ernst (ed.): Work, Psychiatry and Society, c. 1750–2015 (Manchester, 2016). Dr. rer. soc. Uta Kanis-Seyfried, M. A., Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Empirischen Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen (1979–1986) Ausbildung zur Zeitungsredakteurin (Volontariat Print-
Kurzbiographien
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medium 1987–1989), Redakteurin (Printmedium 1989–2001); freie Journalistin (2001–2009). Promotion Dr. rer. soc. im Fach Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen 1999. Seit 2009 Akademische Mitarbeiterin am Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin, Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg/Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm. Forschungsschwerpunkte: Patientengeschichte, Mentalitätsgeschichte/Historische Anthropologie, Rechtliche Volkskunde/Historische Kriminalitätsforschung, Frauen- und Geschlechtergeschichte. Seit 2016 Leitung der Wissenschaftlichen Bibliothek am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg/Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm in Ravensburg. Dr. Sebastian Kessler ist Politikwissenschaftler mit Spezialisierung auf das Gesundheitswesen. Er hat an der Goethe Universität Frankfurt a. M. sowie an der Universidad de Complutense de Madrid studiert. Nach der Koordination eines Netzwerks von Klinikpartnerschaften mit Instituten in Afrika und Osteuropa für das HIV-Center der Uniklinik Frankfurt in den Jahren 2008 und 2009 wechselte er 2009 als wissenschaftlicher Koordinator des Zentrums Medizin und Gesellschaft und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an die Universität Ulm. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Public Health (insbesondere soziale Ungleichheit in der Gesundheit), der Psychiatriegeschichte und im Bereich Global Health. Promotion im Juni 2016. Prof. Dr. med. Thomas Müller, M. A., Arzt und (Medizin-) Historiker, forschte und lehrte von 1998–2006 an der Charité Berlin, der Freien Universität sowie der Humboldt-Universität zu Berlin. 2006 Begründung eines Forschungsbereichs für Geschichte und Ethik der Medizin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm / Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg. Leitung des Württembergischen Psychiatriemuseums und des Verlags Psychiatrie und Geschichte. Koordinator „Historische Forschung“ der Zentren für Psychiatrie in Baden-Württemberg. Mitgestaltung des Reformcurriculums der Humanmedizin der Charité Berlin zw. 1988–1996, 1999–2006, sowie der Universität Ulm, 2006–2007. Forschungsschwerpunkte: Soziale und Vergleichende Geschichte der Medizin, Wissenschaftswandel und internationaler Wissenstransfer, Medizin und Judentum. Mag. Lisa Noggler-Gürtler, Althistorikerin und Kulturwissenschaftlerin, Kuratorin und Kulturmanagerin: Ethnografisches Museum Schwaz, Schloss Matzen, Technisches Museum Wien (Gesamtprojektleitung für die Neueinrichtung der Dauerausstellung „Alltag – Eine Gebrauchsanweisung“), ZOOM Kindermuseum, vorarlberg museum, wienmuseum, Jüdisches Museum Wien, WNF-Aletsch Jungfraujoch. Kultur- und Bildungsprojekte im In- und Ausland (Wanderausstellung Psychiatriegeschichte in Tirol), Lehrlings- und Vermittlungsprojekte mit MED EL, der ANDRITZ AG, der Industriellenvereinigung und im Rahmen von „sparkling science“, Landschaftsbespieglungen für Familien in Serfaus und St. Anton, Lehrtätigkeit, Publikationen zu Kulturgeschichte, Museologie und Wissensvermittlung.
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Kurzbiographien
Prof. Dr. Livia Prüll lehrt am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Mainz. Sie studierte Geschichte, Philosophie und Humanmedizin an der Universität Giessen und arbeitet zur Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts, speziell zur Geschichte der Psychiatrie, zur Geschichte von Transidentität und Transsexualität und ferner zum Verhältnis von Medizin und Öffentlichkeit nach 1945. Neuere Veröffentlichungen, u. a.: Making Sense of Diabetes: Public Discussions in early West Germany, 1945 to 1970, in: Jörg Rogge (Hrsg.) Making Sense as a Cultural Practice. Historical Perspectives (Mainz Historical Cultural Sciences, Vol. 18), Bielefeld 2013, S. 225–239; Trans* im Glück. Geschlechtsangleichung als Chance. Autobiographie, Medizingeschichte, Medizinethik, Göttingen 2016. Ass.-Prof. Arch. Dr. techn. Dipl.-Ing. Eric Sidoroff, Studium der Architektur in Innsbruck, an der Städelschule in Frankfurt am Main sowie der Architectural Association in London. Er lebt und arbeitet seit 2000 in Innsbruck, wo er am Institut für Gestaltung_Studio2 als Assistenz-Professor beschäftigt ist. Darüber hinaus arbeitete er als Dozent für Entwurf und Konstruktion an der Universität in Liechtenstein und unterrichtete als Gast in London, Melbourne, Tiflis sowie als Lehrbeauftragter am MCI in Innsbruck. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Raumwahrnehmung und Raumwirkung sowie der Wechselbeziehung zwischen Mensch und gestalteter Umwelt mit dem Schwerpunkt auf kulturell genutzter Architektur. Dissertation zum Thema „Entwicklungsmöglichkeiten für Museen für Handwerk und Handwerkskunst“. 2011 wurde erstmals die von Celia Di Pauli und Eric Sidoroff gestaltete und gemeinsam mit Lisa Noggler kuratierte Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol – Trentino „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ eröffnet, die bis 2013 auf Wanderschaft in Deutschland, Österreich und Italien war. Seither wurden gemeinsam mit Celia di Pauli und Lisa Noggler verschiedene Ausstellungen gestaltet. Aktuelle Arbeiten mit Celia di Pauli und Lisa Noggler an der Szenografie für das World Nature Forum, dem Informations- und Besucherzentrum des UNESCO-Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch, der Szenografie für „Alles Tirol – alles fremd“ im Volkskunstmuseum Innsbruck sowie „Wege ins Vergnügen“ im Jüdischen Museum Wien. Prof. Dr. phil. Akihito Suzuki Ph.D.,studierte Wissenschaftsgeschichte an der Universität von Tokio und anschließend Geschichte der Medizin am Wellcome Institute for the History of Medicine in London. Er publizierte eine Vielzahl von Veröffentlichungen in Buchform und als Originalarbeiten in Zeitschriften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Psychiatrie in England und Japan. Er publizierte unter anderem Madness at Home (2006), Reforming Public Health in Occupied Japan, 1945–52 (mit Christopher Aldous, 2012), and zahlreiche Beiträge zur Geschichte der Medizin im Allgemeinen. Zurzeit arbeitet er an einer Monographie zum Thema Mental Illness and Psychiatry in Modernist Tokyo. Demnächst erscheint, zunächst in japanischer Sprache und zusammen mit Junko Kitanaka, History and Anthropology of Psychiatry bei University of Tokyo Press.
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Dr. phil. Stefan Wulf, geb. 1958, Historiker; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Medizin (Psychiatrie, Tropenmedizin, Medizin und auswärtige Kulturpolitik) sowie Geschichte des Musiktheaters. 2008–2015 Mitglied der DFG-Forschergruppe FOR 1120 „Kulturen des Wahnsinns (1870–1930) – Schwellenphänomene der urbanen Moderne“. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Hamburger Tropeninstituts, die Hamburger Irrenanstalt/Staatskrankenanstalt Friedrichsberg sowie zur Malariabekämpfung u. a.
Igor J. Polianski
Das Schweigen der Ärzte Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik
kulturanamnesen – Band 8 Unmittelbar nach dem Sieg des Roten Oktober haben die bolsche wistischen Machthaber eine beispiellose Umwälzung des von dem alten Regime hinterlassenen Gesundheitssystems gestar tet. Diese war vom Bestreben getragen, die ethische Kultur der „bürgerlichen Medizin“ zu zerstören und insbesondere das Arzt geheimnis aufzuheben – jenes Symbol der Professionsautonomie, das seit langem Ängste vor einem Verschwörerkreis ärztlicher Auguren nährte, um sich im Sowjetrussland im Gegenphantasma eines „gläsernen Arztzimmers“ zu kristallisieren. Während das Schweigen der Ärzte dem politischen Bemühen zuwiderzulaufen schien, den „Neuen Menschen“ dem ärztlichen Blick und durch diesen dem der Regierung und Partei zu unterwerfen, rief das Volkskommissariat für Gesundheitsschutz dazu auf, den Arzt unter der „Glasglocke der ArbeiterundBauernÖffentlichkeit“ arbeiten zu lassen. In der Folgezeit zeigte sich jedoch immer deut licher, wie weit dieser Kontrollanspruch und reale Möglichkeiten, ihn auszuüben, auseinanderlagen und wie eng die Auseinander setzung um die ärztliche Ethik mit dem heute noch ungelösten Dilemma zwischen gesamtgesellschaftlicher und funktioneller Rationalität der Medizin zusammenhing.
439 Seiten mit 45 s/w-Fotos und 10 s/w-Abbildungen 978-3-515-11005-1 kart.
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Verschiedene Perspektiven der Psychiatriegeschichte zusammenzuführen – dieses Ziel haben sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zur Aufgabe gemacht. In ihren Beiträgen thematisieren sie die regionale Ebene ebenso wie die nationale oder die globale, immer mit dem Blick auf die multipolaren Dynamiken zwischen Zentren und Peripherien. Hierzu gehören unter anderem die Beziehungen zwischen den Wissenszentren der Psychiatrie sowie transnationale Netzwerke der Akteure und deren wissenschaftliche Konzepte mit ihren medizinischen und therapeutischen Funktionen. Das Spannungsfeld zwischen globalen und lokalen psychiatrischen Praktiken findet in den einzelnen Beiträgen ebenso Beachtung wie
ein Vergleich akademischer und nicht-akademischer Psychiatrie oder die Frage nach den Konsequenzen staatlicher oder privater Verantwortlichkeit für einschlägige Institutionen. Nicht zuletzt wird auch der Einfluss medizinischer Laien auf psychiatrische Lebenswelten untersucht. Die thematische Vielfalt der Beiträge findet ihre Entsprechung in den verschiedenen disziplinären Perspektiven, die dieser Band versammelt – von der Allgemeingeschichte, der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, der Empirischen Kulturwissenschaft, den Medienwissenschaften und der Museologie bis hin zur Kunstgeschichte, Architektur und Anthropologie.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10833-1
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