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German Pages 201 [202] Year 2020
Guglielmo Gabbiadini Tugend und Kraft
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung
Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Herausgegeben von Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth Décultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Ottfried Fraisse, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Till Kössler, Andreas Pečar, Jürgen Stolzenberg, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann M. Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens
Band 66
Guglielmo Gabbiadini
Tugend und Kraft
Zu einer Wechselbeziehung in Literatur, Moral und Geschichte der deutschen Spätaufklärung
Redaktion: Andrea Thiele
ISBN 978-3-11-070544-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070578-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070584-3 ISSN 0948-6070 Library of Congress Control Number: 2020937728 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druckvorlage: Nancy Thomas / Michael Peschke Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier www.degruyter.com
Vorbemerkung Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse von Forschungsarbeiten, die ich am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchführen durfte. Mein Dank gilt zuallererst Professor Dr. Elena Agazzi und Professor Dr. Daniel Fulda, die alle Phasen dieser Arbeit mit wissenschaftlichen Ratschlägen, wertvollen Gesprächen und großzügiger Unterstützung begleitet haben. Für die Gewährung eines anderthalbjährigen Forschungsstipendiums in den Jahren 2016/17 bin ich der Alexander von Humboldt-Stiftung zu tiefem Dank verpflichtet. Zu danken habe ich außerdem dem Personal der Universitäts- und Landesbibliothek SachsenAnhalt für die großartige Unterstützung. Dem Direktorium des IZEA und den Herausgebern der Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung danke ich für die Bereitschaft, meine Arbeit in dieser auszeichnenden Schriftenreihe erscheinen zu lassen. Dr. Anja-Simone Michalski sowie Frau Susanne Rade, Frau Marta Dossi und Frau Sabrina Dabrowski vom Walter de Gruyter-Verlag gilt mein herzlicher Dank für einsichtsvolle Hinweise und die professionelle Betreuung. Für das Personenregister danke ich Herrn Nils Kellner. Der gedankliche Vorlauf, der dieser Monographie über „Tugend und Kraft“ in der deutschen Spätaufklärung zugrunde liegt, hat sich über einige Jahre erstreckt. Eine Reihe von Vorstudien, Vorträgen und Referaten ist in ihr aufgehoben, und dies in mehr oder weniger einschneidender Überarbeitung, Raffung und Vernetzung der behandelten Thematik. Für Förderung und wegweisende Ratschläge möchte ich Professor Dr. Wolfgang Adam, Professor Dr. Werner Frick und Professor Dr. Friedrich Vollhardt herzlich danken. Besonderer Dank für klärende Gespräche und Hinweise auf entlegene Quellen gebührt Professor Dr. Vincenzo Ferrone, Professor Dr. Hans-Jürgen Schings und Professor Dr. Heinz Thoma. Für sachliche Ratschläge danke ich Professor Dr. Giovanni Bottiroli, Professor Dr. Thomas Bremer, Professor Dr. Raul Calzoni, Dr. Simon Dagenais, Professor Dr. Elisabeth Décultot, Dr. Gesa von Essen, Dr. Frank Grunert, PD Dr. Frank Hatje, Herrn Daniel Janz, Dr. Jana Kittelmann, Professor Dr. Albert Meier, Professor Dr. Andreas Pečar, Dr. Frank Ejby Poulsen, Professor Dr. Gabriele Taugner†, Dr. Andrea Thiele und Professor Dr. Helmut Zedelmaier. Für optimale Betreuung und Hilfe gilt mein Dank Josephine Zielasko und Nancy Thomas. Dankbar bin ich schließlich Katharina Tugend und Robert Bernath für ihre freundschaftliche Unterstützung. Calcinate, im Sommer 2019 G. G. https://doi.org/10.1515/9783110705782-201
Inhalt Einleitung
1
Erstes Kapitel
Tugend aus Kraft. Stationen einer Motivgeschichte zwischen mittlerer und Spätaufklärung 11 1
„Die Kraft ist die Basis aller Tugend“. Ansatzpunkte im Lichte Rousseaus 13
2 Tugend und Entscheidungsfähigkeit: Spuren des Erhabenen
18
3
Tugend als „taugende Kraft“. Zur Erkundung einer verschütteten Landschaft der deutschsprachigen Spätaufklärung 23
4
„Virtus in frondibus“, oder die Allianz von Kämpfen und Gedeihen am Leitfaden einer Ovid-Stelle und ihrer Rezeption im 18. Jahrhundert 36
5 Politisierte natura naturans?
46
Zweites Kapitel
Die Revolution der Bürgertugend. Schicksale einer Figur des Politischen um 1794 51 1
Die Stürme der Revolution und der Kompass der Tugend: Facetten eines epochalen Schiffbruchs (mit rhetorisch versierten Zuschauern) 53
2
Welche Tugend?
3
Kritik durch rhetorische Demontage: Sternstunden paradiastolischer Umschreibung 73
4 Coda
89
64
VIII
Inhalt
Drittes Kapitel
Eine Poetik im Zeichen von Tugend und Kraft? Untersuchungen zu Friedrich Maximilian Klingers Spätwerk 91 1
Tugend, Kraft – und poetische Virtuosität
2
Roman und Zeitgeschichte
3
Poetisch-moralische Kraft in Zeiten einer allgemeinen Umwälzung
93
102
4 Klingers Faust, oder die Grenzen der vita activa 5
111
Abschluss der Dekade, Desavouierung der Tugend?
129
Viertes Kapitel
Endspiele der Tugend. Schnittstellen von Leben und Literatur beim späten Wieland (mit einem Seitenblick auf Seume) 145 1
Übersetzen als Erzählstrategie in schwierigen Zeiten
2 Virtus amissa 3
157
Die „Chimären“ der Tugend
Eine Aufklärung der Tugend? Schlussbetrachtung 167 Literaturverzeichnis Personenregister
169 187
162
147
108
Einleitung Die Tugend ist alles andere als ein neues Thema für die Forschung. Im 18. Jahrhundert erfährt dieses traditionsreiche Wort bekanntlich eine massive Aufwertung und avanciert zu einem Schlüsselbegriff der Aufklärungskultur. Diesem Sachverhalt hat die internationale Dixhuitiémistik seit geraumer Zeit große Aufmerksamkeit entgegengebracht, und dies zumeist im Rahmen von interdisziplinär angelegten Studien, die insbesondere die Verflechtungen von Moral, Politik und Literatur zwischen 1789 und 1815 in mehrfacher Hinsicht offengelegt haben.1 Es gibt kaum eine Epoche, so hat man kurz und bündig festgestellt, in der die Tugend so viel Resonanz wie in der Aufklärung erhalten hat.2 Zugegeben: Es handelt sich bei Tugend um einen denkbar weiten Begriff, der vertraut und doch zugleich schwer fassbar anmutet. Seine lexikalischen Wurzeln reichen bis zu den Ursprüngen der schriftlichen Überlieferung zurück und werden immer wieder neu aktualisiert bzw. interpretiert, je nach der Sprechergemeinschaft und dem historischen Kontext, in denen die Arbeit an der Tugendsemantik – vor allem an ihrer Etymologie – stattfindet. Sprachkontakt, sprachliche Interferenzen, Lehnwörter und Lehnübersetzungen sowie der allgemeine Umgang mit der Vielfalt andersartiger Traditionen zeugen allenthalben von andauernden tugendsemantischen Kontaminationen. Im neuhochdeutschen Wortverständnis des Terminus ‚Tugend‛ sind verschiedenste Ansichten zusammengeflossen, 1 Es sei hier beispielsweise verwiesen auf: Inge Stephan: Die Debatte über die Beziehungen zwischen Literatur, Aufklärung und Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. In: Julius H. Schoeps u. Immanuel Geiss unter Mitw. v. Ludger Heid (Hg.): Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Zum 60. Geburtstag von Walter Grab. Duisburg 1979, S. 41–59. Besonders wichtig: Hans-Jürgen Schings: Revolutionsetüden. Schiller · Goethe · Kleist. Würzburg 2012 und Ders.: Klassik in Zeiten der Revolution. Würzburg 2017. Ferner: Laura Anna Macor: La fragilità della virtù. Dall’antropologia alla morale e ritorno nell’epoca di Kant. Mailand u. Udine 2011, bes. S. 97–108. Über das ,lange‘ 18. Jahrhundert: Marisa Linton: The Politics of Virtue in Enlightenment France. Basingstoke u. New York 2001, bes. S. 204–213; Giulia Delogu: La poetica della virtù. Comunicazione e rappresentazione del potere in Italia tra Sette e Ottocento. Mailand u. Udine 2017, bes. S. 56–58; Alviera Bussotti: Forme della virtù. La rinascita poetica da Gravina a Varano. Alessandria 2018, bes. S. 1–14. 2 Henri Plard: Morale et vertu: les Lumières et le désarroi de l’éthique. In: Ders. (Hg.): Morale et vertu au siècle des Lumières. Bruxelles 1986, S. 7–16, hier S. 7: „Si la vertu n’est qu’un mot, il n’est guère de siècle où il ait autant résonné et été affecté de tant de sens que celui des Lumières“. Siehe ferner Christopher J. Berry: Virtue. In: Alan Charles Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment. Vol. 4. Oxford 2003, S. 225–230. Zum Verständnis von Aufklärung als Epoche sowie zu ihrer Periodisierung und Reichweite vgl. Stefanie Stockhorst: Aufklärung – Epoche, Projekt und Forschungsaufgabe. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013, S. 7–23 sowie Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung. Zweite Auflage. Berlin 2017, S. 9–22. https://doi.org/10.1515/9783110705782-001
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Einleitung
Spuren von kritischen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Befruchtungen, die sich nicht zuletzt auf dem Weg durch die verschlungenen, bereits im 18. Jahrhundert zum Teil vergessenen Pfade der Wortgeschichte nachvollziehen lassen.3 Man sagte „Tugend“ und konnte damit vieles meinen, bewusst oder unbewusst. Damals wie heute.4 Erfreulicherweise hat die historische Forschung neuerdings der Erkundung tugendsemantischer Zusammenhänge neuen Elan verliehen und dabei die hermeneutischen Herausforderungen noch einmal klar konturiert, die insbesondere mit der Untersuchung von historischen Erscheinungsformen politischer, d.h. ‚bürgerlicher‛ Tugend, wie es im 18. Jahrhundert hieß, einhergehen. Mit den Worten eines ihrer wichtigsten Vertreter: It is never easy to trace the history of a word, especially if it has gone out of use. In fact, every time we hear someone using the term virtue, it sounds inappropriate, anachronistic, inaccurate, even annoying and irritating. When employed by contemporary political leaders, it makes their whole sentence sound deceiving and rhetorical. The historical period between 1789 and 1815 was crucial for the modern concept of virtue as well as for its progressive fading and final disappearance. We all know that during those years the Enlightened
3 Zur Stammbildung und Bezeugung von „Tugend“ in den älteren Sprachstufen des Deutschen vgl. Erich Aumann: Tugend und Laster im Althochdeutschen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 63 (1939), S. 143–161, bes. S. 147: „Für die Geschichte des Wortes Tugend werden erst seine Begegnungen mit virtus als Übersetzungswort für ἀρετή und δύναμις wichtig“. Vgl. ferner Heinz Rupp: Tugend. In: Saeculum 2 (1951), S. 465–472, bes. S. 466: „Das gilt auch für das althochdeutsche tugend, das damit folgenreich in den Bannkreis von virtus gerät und neben seinem alten, heimischen Begriffsinhalt die ganze Vielfalt der Inhaltsbezüge von virtus mitaufnimmt oder mindestens sich mit ihnen auseinandersetzt. Denn das von vir abgeleitete virtus, mit dem ursprünglich in Rom der republikanischen Zeit die Mannhaftigkeit, Tapferkeit, die für den Staat so wichtige Tüchtigkeit des römischen Bürgers gemeint war, hatte in der Auseinandersetzung mit dem griechischen Geisteserbe, besonders in und seit der Zeit Ciceros den Inhalt von ἀρετή und später den von δύναμις (besonders in der Bibel) mitübernommen. […] [v] irtus im Sinne von kriegerischer Tüchtigkeit wird oft mit deganheit, im altrömischen Sinn von Tüchtigkeit aber auch mit tugend übersetzt […], virtus als δύναμις mit kraft, megin oder tugend. Aber auch virtus als sittliche Tugend wird nicht nur mit tugend, sondern gerade in den frühen Quellen […] mit kraft wiedergegeben“. Siehe außerdem Anton Hönig: Zum Ausdruck des Begriffs Tugend in einer Reihe von Sprachen. In: Leopold Auburger u. Peter Hill (Hg.): Natalicia Johanni Schröpfer octogenario a discipulis amicisque oblata. München 1991, S. 213–223. 4 Siehe beispielsweise: Josef Pieper: Das Viergespann. Klugheit · Gerechtigkeit · Tapferkeit · Mass. München 1964; Alasdair Macintyre: After Virtue. A Study in Moral Theory. Bristol 1981; Andreas Preußner: Die Komplexität der Tugend. Eine historisch-systematische Untersuchung. Würzburg 1997; Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral, oder: Macht Tugend glücklich? München 2007, bes. S. 126–138; Christoph Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik. Berlin 2013; Remo Bodei u.a.: Le virtù cardinali. Rom u. Bari 2017.
Einleitung
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culture experienced a turbulent confrontation with the French Revolution, a confrontation that left it deeply shaken and put it on an endless trial that still endures today.5
Theoretischer Brennpunkt der vorliegenden Arbeit ist eine besondere Auffassung von Tugend, die im deutschsprachigen Bereich vorwiegend gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihre Verwandtschaft mit dem polysemischen Begriff der ‚Kraft‛ in den Vordergrund rückt. Tugend und Kraft bezeichnen dabei sehr nahe Verwandte, die in erster Linie auf die Vorstellung einer Interdependenz hinweisen, die im Schrifttum des späten 18. Jahrhunderts erneut zur vollen Entfaltung kommt.6 „Die Tugend, (virtus, ἀρετή) was ist sie im Grund, anders als Kraft gegen Widerstand?“ – so heißt es beispielsweise bei Johann Caspar Lavater.7 „Ihr Wesen ist Kraft gegen andre Kraft! Uebergewicht, Sieg nützlicher Kraft über schädliche.“8 Die Folgerung lautet: „Güte ohne Kraft, Demuth ohne Muth, Keuschheit ohne feine Empfindlichkeit wird nie Tugend seyn!“9 Die neuere deutsche Poesie weiß ebenfalls prägnante Formulierungen dafür zu finden: Tugend sei „Gefühl der Kraft“,10 „Gefühl des absolut schöpferischen Vermögens, der produktiven Freiheit“.11 Ihr Gegenteil: „Weichheit, Unentschlossenheit, und üppige[s] Zagen“.12 5 Vincenzo Ferrone: Virtues and Rights of Man from the Late Enlightenment to the French Revolution. In: Le Siècle des Lumières / Век Просвещения 6 (2018), S. 46–53, hier S. 46. 6 Zwischen Tugend und Kraft besteht eine komplexe Verwandtschaftsbeziehung semantischer und logischer Natur. Diese Beziehung schließt Verbindungen von Affinität und gleichzeitiger Gegensätzlichkeit mit ein. Tugend und Kraft sind weder konträre noch komplementäre Antonyme. Nach der klassischen (d.h. aristotelischen) Typologie der Gegensatzbeziehungen (Kategorien 10) handelt es sich dabei vielmehr um eine ‚Korrelation‛: Ihre Beziehung erweist sich als eine gegenläufige Zusammengehörigkeit oder widerstrebende Aufeinanderbezogenheit, bei der das Bedeutungsspektrum beider Ausdrücke sich stets wechselseitig beeinflusst hat. Eine solche Zusammengehörigkeit lässt sich historisch gut beobachten. Das Begriffspaar ‚Tugend und Kraft‛ avanciert zu einem Topos im Gelehrtendiskurs der Spätaufklärung. Die Konjunktion ‚und‛ birgt eine Pluralität von Verbindungsarten. Sie führt zusammen, was zusammengehört, und hebt dabei zugleich die komplexe Beziehung der zwei Bestandteile einschließlich ihres Spannungsverhältnisses hervor. Zur klassischen aristotelischen Typologie vgl. Aristoteles: Organon. Band 2: Kategorien. Griechisch-Deutsch. Hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg 1998, S. 2–94. Für eine Auswertung und kritische Erweiterung dieser Typologie vgl. Giovanni Bottiroli: La ragione flessibile. Modi d’essere e stili di pensiero. Turin 2013, bes. S. 158–183. 7 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Erster Versuch. Leipzig u. Winterthur 1775, S. 128. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Novalis: Fragmente und Studien. In: Ders.: Werke in einem Band. München 1981, S. 309. 11 Ebd., S. 558. 12 Johann Gottfried Herder: Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. In: Abhandlungen der Baierischen Akademie über Gegenstände der schönen Wissenschaften. Erster Band. München 1781, S. 25–138, hier S. 134.
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Einleitung
Die Lexikographen der Zeit heben den Konnex zwischen Tugend und Kraft mit beglückender Klarheit hervor und lassen dadurch eine semantische Filiationsgeschichte des Wortes ‚Tugend‛ aufscheinen, bei der sich die landläufige Bedeutung von „moralischer Güte“13 als Derivationsprodukt eines ursprünglicheren, eher außermoralischen Wortsinns herausstellt, dem Vorstellungen von Kraft zugrunde liegen. Johann Christoph Adelung fächert beispielsweise die verschiedenen Bedeutungen von Tugend um 1800 analytisch auf und erkennt in „körperliche[r] Stärke“ und „Kraft“ eine zwar „veraltete Bedeutung[,] welche indessen doch die erste und ursprüngliche ist“.14 Ähnlich signalisiert Joachim Heinrich Campe einige Jahre später einen Erschöpfungszustand der zeitgenössischen Tugendsemantik und verweist auf eine ,ursprüngliche‘ Bedeutungsschicht, bei der Tugend als „Kraft[,] etwas zu bewirken“ erscheint.15 Damit tritt eine gewisse Ambivalenz oder gar Amphibolie des Ausdrucks zutage, bei der Moralität und Kraft als zwei heterogene Grund elemente nebeneinander bestehen und je nach historischem Kontext in unterschiedlicher Proportion und Gewichtung auftreten. In der Verbundenheit von Tugend und Kraft sieht man geradezu eine Wurzelverbundenheit. Etymologisch gleichberechtigt und womöglich komplementär gehen also Tugend und Kraft im Schrifttum des späten 18. Jahrhunderts gleichsam ein komplexes Bündnis ein, das zum Ausdruck tüchtigen Handelns wird und sich primär in der Aktion des Menschen für die Mitmenschen äußern kann. Mehrfach hervorgehoben wird die Ansicht, dass „Tugend eine Gewalt über sich selbst ist zum Vortheile der Mitmenschen.“16 Dabei geht es grundsätzlich um ein dynamisches Tugend-Verständnis als Wirken einer Grundkraft, die sich als ein endloses Her13 Von Voltaire auf den Punkt gebracht: „Qu’est-ce que vertu ? Bienfaisance envers le prochain. Puis-je appeler vertu autre chose que ce qui me fait du bien ?“ In: Ders.: Dictionnaire philosophique. In: Les œuvres complètes de Voltaire. Bd. 36. Sous la direction de Christine Mervaud. Oxford 1994, S. 581 (darin weitere Hinweise auf Tugenddefinitionen in Voltaires Werk). 14 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Vierter Theil: von Seb – Z. Leipzig 1801, Sp. 717–719, hier Sp. 717. Textidentisch in der Wiener Ausgabe von 1811. 15 Wörterbuch der deutschen Sprache. Veranstaltet und herausgegeben von Joachim Heinrich Campe. Vierter Theil: S und T (nebst einer Beilage). Braunschweig 1810, S. 907f. 16 Alexander Graf Savioli Corbelli: Über die Stärke des Menschen im gesellschaftlichen Stande. In: Abhandlungen der Baierischen Akademie über Gegenstände der schönen Wissenschaften. Erster Band. München 1781, S. 1–24, hier S. 8. Zum wort- und ideengeschichtlichen Hintergrund vgl. Vincenzo Ferrone: Il mondo dell’Illuminismo. Storia di una rivoluzione culturale. Turin 2019, S. 225: „Da sempre [parola] polisemica, ma cruciale per definire il nuovo patriottismo repubblicano degli illuministi che ne legavano la cifra autentica ai diritti dell’uomo inesistenti nel mondo antico“.
Einleitung
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vorbringen und Umwandeln offenbart.17 Tugend erscheint daher in erster Linie als Steigerung des kreativen Potentials des Menschen, als Energiequelle, die die unendliche Annäherung an das Leitbild seines vernunftgemäßen Sein-Sollens erst ermöglicht. Durch den im Zeitalter der Spätaufklärung besonders stark gemachten Hinweis auf ein ursprünglicheres Kraft-Substrat gewinnt der Wortbegriff ‚Tugend‛ einen anderen Glanz und eine andere Qualität. Dies sichert ihm einen Rang und einen Stellenwert, die an die Tugend-Nobilitierung der Renaissance erinnern könnten.18 Tugend verweist dabei in ihrer kraftaffinen Grundbedeutung unmittelbar auf eine Lebenskraft, die die Aneignung besonderer moralischer Vorzüge ermöglicht und diese zugleich steigert. Erst mittels seiner dynamischen Veranlagung könne der Mensch einen Anspruch auf sittliche Vervollkommnung erheben. Tugend erweist sich daher als Sammelname für jede gute Eigenschaft, die man an sich hat oder erwirbt – so das argumentative Grundmuster der erwähnten Lexikographen. In ihrer etymologischen Arbeit enthüllt sich jedoch auch eine zumeist vergessene Bedeutungsebene von Tugend. In einem ursprünglicheren Sinn stelle Tugend nämlich eine Kraft dar, die das Leben glücken lässt, und dies nicht als Gehorsam gegenüber einer wie auch immer gearteten moralischen Gesetzgebung, sondern als energische Umsetzung eines individuellen Potentials, als allgemeine „Aufgelegtheit“, gegenüber Chancen und Widerfahrnissen des Lebens „das je Angemessene“ zu tun,19 oder, noch präziser, als eine „Stimmung des Gemüths 17 Formulierungen in Anlehnung an Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008, bes. S. 46 u. 61f. 18 Vgl. dazu Thomas Leinkauf: Möglichkeit, Potential und Kraft (possibilitas, potentia, potestas, virtus/vis). In: Frank Fehrenbach, Robert Felfe u. Karin Leonhard (Hg.): Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst. Berlin u. Boston 2018, S. 31–51, bes. S. 42: „die lateinischen Begriffe vis und virtus [weisen] eine komplexe Semantik auf, deren Spektrum von Kraft über Vermögen bis zu Mächtigkeit reicht“. Zu den politischen Interpretationen des Tugendbegriffs in der Renaissance siehe beispielsweise Matthias Roick: Pontano’s Virtues. Aristotelian Moral and Political Thought in the Renaissance. London u.a. 2018, bes. S. 123–156. 19 Nach Karl Eibl ist das der Sinn von Lessings kühnem Satz aus einem Brief an Nicolai vom November 1756: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste.“ Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1995, S. 69–74. Es gehe dabei um eine Tugendauffassung, die „keine Tugendkataloge mehr zuläßt, dafür aber um so mehr die individuelle Bereitschaft fordert, in unterschiedlichen, nicht mehr typisierbaren Situationen das je Angemessene zu tun. […] Nicht einzelne Tugenden machen den ,besten Menschen‘ aus, sondern die ,Aufgelegtheit‘ zu allen Tugenden“ (Ebd., S. 72). Zum Umgang mit dem Schicksalsbegriff in der Aufklärung siehe die grundlegende Studie von Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Teile. Tübingen 1988. Ferner: Franziska Rehlinghaus: Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg. Göttingen 2015, bes. S. 35–44. Zum erwähn-
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Einleitung
[…], nach vorher gegangener Ueberlegung freywillig, selbstständig immer gut, thätig zu seyn“.20 Das späte 18. Jahrhundert gibt also die soeben skizzierte Bedeutungs tradition nicht preis, sondern setzt sie fort. Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, wird die Zusammengehörigkeit von Tugend und Kraft vorrangig durch Denker und Schriftsteller der mittleren und Spätaufklärung in Anspruch genommen, die im Dialog mit verschiedenen Sprachkulturen ihrer Gegenwart sowie mit den Schriften der Antike direkt oder indirekt darum bemüht waren, die Tugendbegrifflichkeit ihrer Zeit zu berichtigen und sie dadurch zu erneuern. Dies bedeutete keineswegs die Stigmatisierung eines vermeintlichen Sprachverfalls als Indiz einer immer mehr um sich greifenden gesellschaftlichen Dekadenz.21 Die qualitative Sprachkritik, die sich am Beispiel des semantischen Eigenwegs der Tugendbegrifflichkeit artikuliert, versteht sich vielmehr als Mittel zur Neuentdeckung eines sprachschöpferischen Potentials, von dem man sich Berichtigung und Verbesserung im Bereich der Moral und der Politik versprach. Das Pathos der Distanz von entrückten Zeiten und der kritische Abstand zur aktuellen Lage der Tugendsemantik mündeten also nicht (oder nicht nur) in eine abwertende Diagnose des gesellschaftlichen Ganzen, sondern präsentierten sich als Beiträge zu einer konstruktiven Sprachpflege, verstanden als wirksames Werkzeug der Vernunft. Das Unterfangen verstand sich daher ganz im Zeichen einer energischen Aufklärungskultur, denn, wie es damals hieß, „Berichtigung der Begriffe ist noch besser, als trösten“.22 Erkennen und Verändern bilden dabei die Leitmaximen jener Denker und Schriftsteller, die sich aus der Erneuerung der Tugendbegrifflichkeit eine kaum zu unterschätzende Triebfeder für die Sache ten Lessingsatz eingehend: Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. Zweite, durchgesehene Auflage. Würzburg 2012 und Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 139–146. 20 Johann Georg Schlosser: Vorrede statt der Einleitung. In: Aristoteles. Politik und Fragment der Oeconomik. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und einer Analyse des Textes versehen von J. G. Schlosser. Erste Abtheilung. Lübe[c]k u. Leipzig 1798, S. XXIX. Dazu siehe Verf.: L’esercizio della virtù civica. Letteratura politica, pratiche traduttive e transfert culturale nel tardo Illuminismo tedesco. In: Raul Calzoni (Hg.): La circolazione del sapere nei processi traduttivi della lingua letteraria tedesca. Mailand u. Udine 2018, S. 79–96, bes. S. 94–96. Über Aristoteles und die Bürgertugend vgl. Rolf Geiger: Aristoteles über die Tugend von Bürgern. In: Dagmar Kiesel u. Cleophea Ferrari (Hg.): Tugend. Frankfurt a.M. 2016, S. 37–58. 21 Vgl. dazu Theo Jung: Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2012, bes. S. 297–300. 22 [Rez. von] F. W. J. Dillenius. Ueber Seelengröße und Standhaftigkeit im Unglück. Leipzig 1790. In: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung über diejenigen Dinge, die dem Menschen unangenehm sind oder sein können, und zur nähern Kenntniß der leidenden Menschheit. Hg. v. Johann Samuel Fest. Zweiten Bandes drittes Stück. Leipzig 1791, S. 832–841, hier S. 837.
Einleitung
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der Aufklärung, in erster Linie für die ,Emanzipation‘ des Menschen aus eigener Kraft,23 versprachen. Die Struktur der vorliegenden Untersuchungen ist drei Hauptrichtlinien gefolgt. Sie kreisen allesamt um unterschiedliche Textsorten, die das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem jeweils anders codieren: die politische Rede, der Roman, die Übersetzung. Ihnen entsprechen drei Kapitel, die, als Fallstudien konzipiert, das Motiv von Tugend und Kraft aus verschiedenen Perspektiven erhellen möchten. Ein erstes Kapitel versucht den ideengeschichtlichen Hintergrund und die begrifflichen Voraussetzungen der Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft herauszuarbeiten. Ausgehend von Jean-Jacques Rousseaus Emile wird dabei zunächst ein ideengeschichtlicher Weg eingeschlagen, der wichtige Stationen der semantischen Entwicklungsgeschichte von Tugend und Kraft im Übergang von der mittleren zur Spätaufklärung berührt. Mit Blick auf die deutsche Rezeption erweist sich Rousseaus Emile geradezu als ein Gründungstext des aufgeklärten Diskurses über die Zusammengehörigkeit zwischen Tugend und Kraft, enthüllt er doch als Kernstück seiner Botschaft eine Auffassung von Tugend aus Kraft, die Übersetzer und Kommentatoren in deutscher Sprache adäquat wiederzugeben versuchten. Vor allem im Dialog mit antiken Quellen – herausgestellt wird dabei exemplarisch die Rolle Ovids – zeichnet sich da eine Auffassung von Tugend als spontane, immerwährende Erhaltungs- und Antriebskraft ab, die bei Denkern wie Kant, Spalding, Schiller und Humboldt Spuren hinterlassen hat, die es zu identifizieren und auszuwerten gilt (I.). Von hier aus mündet der spätaufklärerische Weg von Tugend und Kraft ein in die Gefilde der politischen Kommunikation. Es kristallisieren sich subjektive Tugendvisionen heraus, denen vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse im Zeitraum von 1789 bis 1815 nachgespürt wird. Die Tugend, die in den Moraldiskursen der Aufklärung mit ihren Katalogen, ihren bevorzugten Gegenständen und Assoziationen ubiquitär anwesend ist,24 hält nun durch die erneute 23 Dazu Vincenzo Ferrone: Die Aufklärung – Philosophischer Anspruch und kulturgeschichtliche Wirkung. Göttingen 2013, S. 7: „In diesem offenen Kampf gegen die seit Jahrhunderten lang verfestigte Denkweise des alten Europa ging es um nichts weniger als um Emanzipation: der Traum war die Überwindung des Ancien Régime allein durch die geistigen Fähigkeiten des Menschen selbst, durch Erkenntnis und Erarbeitung neuen Wissens“. Siehe ferner Stockhorst: Aufklärung (wie Anm. 2), S. 9: „Die anhaltende Resonanz der Aufklärung beruht auf ihrer vorerst durch kein leistungsfähigeres Konzept ersetzten emanzipatorischen Kraft“. Wichtig auch Meyer: Die Epoche (wie Anm. 2), S. 183–198. 24 Vgl. Jacques Domenech: Vertu. In: Michel Delon (Hg.): Dictionnaire européen des Lumières. Paris 1997, S. 1085–1088. Vgl. außerdem Michel Delon: Morale. In: Vincenzo Ferrone u. Daniel Roche (Hg.): L’Illuminismo. Dizionario storico. Rom u. Bari 2007, S. 31–39. Für eine Zusammenschau über die Epoche aus dem Blickwinkel der Literaturgeschichte nach wie vor unentbehrlich:
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Einleitung
Allianz mit der Kraft Einzug in die Politik des Revolutionszeitalters und ruft dabei sowohl Zustimmung als auch Ablehnung hervor. Die Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft zeigt sich politisierbar, und das Zeitalter der Französischen Revolution bietet dafür ein äußerst ergiebiges Beobachtungsfeld. Das zweite Kapitel sucht daher insbesondere die Spannungen aufzunehmen, die der politische Streit um die Tugend während der Terreur ausgelöst hat. Es beginnt mit der Analyse zentraler Passagen aus Maximiliens Robespierres Reden um 1794 und untersucht die Reaktionen auf diese in deutschsprachigen Territorien unter besonderer Berücksichtigung der rhetorischen Anlage der besprochenen Revolutionsreden und ihrer Gegenspieler. Sichtbar werden Beziehungen, die der Arbeit am politischen Begriff der Bürgertugend ihre eigentümliche Kohärenz, aber auch ihre Sprengkraft verleihen. Es wird außerdem zu zeigen sein, wie am Leitfaden der vehementen Debatten über die Tugendsemantik und ihre politisch gesteuerten Anverwandlungen um 1794 ideologische Konstellationen eine Form gewannen, die die Auseinandersetzung mit denselben epochalen Ereignissen und Umständen zu denkbar unterschiedlichen Urteilen führen konnten. Der Fall Robespierre und seiner deutschen Kommentatoren im Für und Wider (darunter Georg Forster, Ferdinand Beneke und Friedrich Gentz) öffnet vollends den Blick dafür (II.). Es zeichnet sich dabei eine neue Epoche in der Geschichte des spätneuzeitlichen Tugendbegriffs ab, von der vorliegende Arbeit einige exemplarische Facetten beleuchten möchte. Die Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft erwirbt ihren Platz somit nicht nur in Moral und Politik, sondern ist darüber hinaus in der Lebenswelt einzelner Individuen zu Hause. Wie ein solches Konzept grundlegend für die Lebens- und Werkgestaltung mancher Schriftsteller der deutschsprachigen Spätaufklärung werden konnte, möchten das dritte und vierte Kapitel über das Romanwerk Friedrich Maximilian Klingers (III.) und die Cicero-Übersetzungen Christoph Martin Wielands (IV.) zeigen. Wie sich eigenes Leben, öffentlich und privat, erhöht, wenn es sich in wissender Erinnerung an versunkene Konzepte von Tugend und Kraft oder im waghalsigen Vergleich mit früheren Weltaltern anders gestalten möchte, sollen beide Kapitel, jedes auf seine Art, zeigen. Literatur wird dabei von den behandelten Autoren vorrangig als eine Form des Lebens verstanden – eine Form seines Genusses, seiner Erkundung, seiner Aufarbeitung. Methodologisch gesehen, erweist sich die Partnerschaft von Tugend und Kraft als ein topisches Motiv, das wie eine literaturgeschichtliche Wünschelrute verschiedene Akteure, Werke und historische Zusammenhänge zusammenGerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. 2 Teile. München 1983 bzw. 1989 und Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. 1789–1815. Zweite Auflage. München u. Wien 2008.
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führt.25 Die Erörterung einer wie auch immer gearteten Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft seitens der erwähnten Autoren bildete daher ein möglichst rigoroses Auswahlkriterium, das bei Konzipierung und argumentativer Gestaltung der verschiedenen Kapitel dieser Studie für Orientierung und Stringenz – hoffentlich ist der Ausdruck nicht zu vermessen – gesorgt hat. Die Thematisierung einer Wechselwirkung zwischen Tugend und Kraft hat also zusammengeführt, was zusammengehört. Und fest stand von Anfang an, dass die Literatur in dieser Hinsicht ein besonders ergiebiges Beobachtungsfeld bietet, zumal sie mithilfe der Vielfalt ihrer Stile eine besondere Form der Reflexion darstellt und den Blick auf die subjektive Aufarbeitung kollektiver und epochaler Ereignisse eröffnen kann. Die minutiöse Untersuchung ausgewählter Textpassagen und Lebensabschnitte, die sich in den nächsten Kapiteln entfaltet, wird vorrangig im Lichte einer literaturwissenschaftlich relevanten Wortkunde vonstattengehen, die in der Neigung zur Detailanalyse einen möglichen Weg zur Auslotung größerer kulturgeschichtlicher Szenarien weist und damit den geduldigen Lesern zumindest eine kleine Prise jener Lessing’schen ,Hefen der Erkenntnis‘26 mitgeben möchte, die zu weiteren Erkundungen und womöglich gesicherteren Ergebnissen ermutigen soll. * 25 Wie ergiebig und analytisch-scharf die Topos-Forschung sein kann, zeigt konkret im besonderen Bereich des Visuellen die Studie von Daniel Fulda: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“. Eine deutsch-französische Bild-Geschichte. Halle a.d.S. 2016. Zur Vorgehensweise besonders erhellend dabei: „Die Beschreibung der Geschichte als Fackelträgerin entwirft ein deutungsoffenes Bild, dessen Bedeutung im jeweiligen Verwendungskontext zu bestimmen ist. Sie verlangt eine ihrerseits historisch verfahrende Interpretation“ (Ebd., S. 8). 26 Gottlob Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Zweiter Band. Hamburg 1769, S. 344: „Ich bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bey welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis ausstreuen“. – Die Lessing’sche Metapher war um 1800 offensichtlich noch aktuell, wie das Fragment Nr. 259 in Schlegels Athenaeum (1798) zeigt: „A. Fragmente, sagen Sie, wären die eigentliche Form der Universalphilosophie. An der Form liegt nichts. Was können aber solche Fragmente für die größeste und ernsthafteste Angelegenheit der Menschheit, für die Vervollkommnung der Wissenschaft, leisten und sein? – B. Nichts als ein Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische lanx satura im Styl des alten Lucilius oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters“. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes zweites Stück. Berlin 1798 S. 72. Für einen Stellenkommentar siehe: Athenaeum [1798–1800]. Tutti i fascicoli della rivista di August Wilhelm Schlegel e Friedrich Schlegel. A cura di Giorgio Cusatelli, Elena Agazzi e Donatella Mazza. Postfazione di Eugenio Lio. Mailand 2009, S. 238.
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Einleitung
Anmerkung zur Zitierweise Die Quellenzitate halten sich an die Originalorthographie. Um der Einheitlichkeit willen wurde die Zeichensetzung zum Teil dem gegenwärtigen Gebrauch des Deutschen angepasst, jedoch nicht stillschweigend, sondern mittels eckiger Klammern, die jeden Texteingriff signalisieren.
Erstes Kapitel Tugend aus Kraft
Stationen einer Motivgeschichte zwischen mittlerer und Spätaufklärung
https://doi.org/10.1515/9783110705782-002
1 „Die Kraft ist die Basis aller Tugend“. Ansatzpunkte im Lichte Rousseaus Im Fünften Buch von Rousseaus Emile macht sich der erzählende Erzieher anheischig, seinem lernbegierigen Zögling die wohl wichtigste Lektion seiner moralischen Unterweisungen weiterzugeben.1 Die abschweifende Redseligkeit, die den Grundtenor dieses epochalen „Roman[s] der Erziehung“2 ausmacht, der auch im Deutschland der Spätaufklärung eine staunenswerte Wirkungsgeschichte zeitigte,3 weicht dabei mit einem Mal dem Duktus einer kargen und dichten Prosa, die mit schlagender Knappheit den begrifflichen Schlussstein von Rousseaus pädagogischem Unterfangen zu legen weiß. Sprachkraft duldet keine Floskeln, und der „Gouverneur“ kann pointieren. Seine endgültige Ansicht über die Tugend bildet einen Höhepunkt des Gesamtwerks und hat folgenden Wortlaut: „Mon enfant, il n’y a point de bonheur sans courage, ni de vertu sans combat. Le mot de vertu vient de force; la force est la base de toute vertu“,4 zu Deutsch: Mein Kind, es gibt kein Glück ohne Mut und keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend kommt von dem Wort Kraft; die Kraft ist die Basis aller Tugend. In der lakonischen Diktion des moralischen Vormunds verdichtet sich eine gedankliche Brisanz, die sich unvermerkt ansammelt, um desto offener und herausfordernder zum Vorschein zu kommen. Die Engführung von Tugend und Kraft spielt uns den zentralen Begriff zu, der unsere Überlegungen in diesem Kapitel und darüber hinaus anleiten soll. Konturiert wird dabei ein Phänomen begrifflicher Zusammengehörigkeit, in der sich das Kernstück der moralischen Botschaft von Rousseaus Erzieher verdichtet. Im Parallelismus von „vertu“ und „force“ schimmert zunächst einmal Altrömisches durch. „Appellata est enim a viro 1 Vgl. J[ean] J[acques] Rousseau: Émile, ou de l’éducation. Tome Quatrième. Amsterdam 1762, S. 319–335. Rousseaus Texte werden fortan, wenn nicht anders angegeben, nach dem Originalwortlaut der Erstdrucke ohne Normalisierungen oder Anpassungen an die heutige Rechtschreibung in Fußnoten zitiert. Für die deutsche Übersetzung vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang, unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Schkommodau. Stuttgart 1965. 2 Stefan Zweig: Einleitung zu einer zusammengefaßten Ausgabe von Jean-Jacques Rousseau’s ,Emil oder Über die Erziehung‘. In: Ders.: Begegnungen mit Büchern. Aufsätze und Einleitungen aus den Jahren 1902–1939. Hg. u. mit einer Nachbemerkung versehen v. Knut Beck. Frankfurt a.M. 1983, S. 156–163, hier S. 158. 3 Wilhelm Voßkamp: „Un Livre Paradoxal.“ J.-J. Rousseaus ,Émile‘ in der deutschen Diskussion um 1800. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin u. New York 1995, S. 101–114, bes. S. 108–111. 4 Rousseau: Émile, ou de l’éducation (wie Anm. 1), S. 324.
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virtus“, so heißt es – volks- oder paretymologisch – in Ciceros Tusculanae Disputationes (II, 18, 43), also: Tugend (virtus) ist von Mann (vir) abgeleitet.5 Wenn „alle rechten Verfassungen der Seele“ (rectae animi adfectiones), so fährt Cicero fort, „Tugenden“ genannt werden, so ist dies „nicht der Eigenname von allen, sondern sie haben vielmehr ihren Namen von einer, die in besonderer Weise Tugend heißt“ (ab ea quae una ceteris excellebat).6 Solche besondere Tugend im Singular bezeichne im Kern tapfere Mannhaftigkeit und lebenspraktische Tüchtigkeit.7 Rousseau folgt dieser Denkfigur, der reductio ad singularem: „Die Tugend ist eins, […] liebt man sie, so liebt man sie in ihrer Ganzheit“, so heißt es im Fünften Buch des Emile.8 Der Jüngling Emile stellt gleichsam die Verkörperung dieser Tugend dar und avanciert zum Idealtyp einer ebenso menschenfreundlichen wie energischen Aufklärung: Seht meinen Emile an, über zwanzig Jahre alt, schön, an Leib und Seele gesund, stark, offenherzig, gewandt, kräftig, voller Geist, Vernunft, Güte, Menschlichkeit, sittsam, unverbildeten Geschmacks, voll Liebe zum Schönen, Gutes tuend, frei von grausamen Leidenschaften und dem Joch der Meinung, aber dem Gesetz der Weisheit untertan und der Stimme der Freundschaft gefügig […].9
5 Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Tusculanae disputationes. Mit ausführlichen Anmerkungen neu herausgegeben von Olof Gigon. Düsseldorf u. Zürich 1998, S. 150. 6 Ebd. 7 Dazu im Allgemeinen: Werner Eisenhut: Virtus romana. Ihre Stellung im römischen Wertsystem. München 1973, bes. S. 57–66 und Catalina Balmeceda: Virtus Romana. Politics and Morality in the Roman Historians. Chapel Hill 2017, bes. S. 33f. Siehe außerdem: Virtus. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Bd. 12/2. Stuttgart u. Weimar 2002, Sp. 248f. sowie: Tugend. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Bd. 12/1. Stuttgart u. Weimar 2002, Sp. 894–896. Ferner: Toon Van Houdt, Gert Partoens u. Geert Roskam: The Semantics and Pragmatics of Virtus. In: Dies. (Hg.): Virtutis Imago: Studies on the Conceptualisation and Transformation of an Ancient Ideal. Louvain u.a. 2004, S. 1–26. Für eine weitere ausführliche Darstellung: Myles McDonnell: Roman Manliness. Virtus and the Roman Republic. Cambridge 2006, bes. S. 12–16. Spezifisch und besonders erhellend zur Etymologie: Alfred Ernout: Les noms latins en -tūs. In: Ders.: Philologica. Paris 1946, S. 225–232. Nicht zu vergessen die grundlegenden Beobachtungen zum Suffix -tūt(i)in Karl Brugmann u. Berthold Delbrück: Grundriss der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Zweiter Band: Lehre von den Wortformen und ihrem Gebrauch. Erster Teil: Allgemeines. Zusammensetzung (Komposita). Nominalstämme. Zweite Bearbeitung. Strassburg 1906, S. 453: „Die Ansicht, dass -tūt(i)- ein Substantivum mit der Bedeutung ,Kraft‘ (zu ai. tavī·ti ,er ist kräftig, vermag‘) gewesen sei und lat. juventūs ursprünglich ,Jugendkraft‘ bedeutet habe […], ist zwar nicht zu widerlegen, aber auch nicht glaubhaft zu begründen“. 8 Rousseau: Emile oder Über die Erziehung (wie Anm. 1), S. 773; Original: „La vertu est une […]. Quand on l’aime, on l’aime dans toute son intégrité.“ (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 108.) 9 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 837f.; Original: „Considérez mon Emile, à vingt ans passés, bien formé, bien constitué d’esprit & de corps, fort, sain, dispos, adroit, robuste, plein de sens,
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Ähnliche Ansichten über die Lebenskraft der Tugend hatte Rousseau bereits in früheren Werken zum Ausdruck gebracht, und er bestätigte sie, öffentlich und privat, auch nach dem Erscheinen des Emile. Die Idee von Tugend als Kraft kommt beispielsweise im Discours über Kunst und Wissenschaft von 1750 bereits voll zur Geltung. Da wird „vertu“ als „Kraft und Stärke der Seele“ bezeichnet. Fast in Winckelmann’scher Manier wird dabei der tugendhafte Mensch als ein „Athlet“ dargestellt, der „nackt zu kämpfen liebt“; er verachte „all die eitele Kleiderzier, die bloß den Gebrauch seiner Kräfte hemmen würde und größtenteils nur erfunden wurde, um irgendeine Mißbildung zu verdecken“.10 Von Tugend als Kraft spricht Rousseau ferner in einem Brief an den Abbé Carondelet vom 6. Januar 1764, und dies im Rahmen einer Unterredung über den „Grundsatz“ der Moral und der Tugend.11 Die konzise Tugenddefinition lautet dort: „Tugend ist nichts anderes als die Kraft, unter schwierigen Umstän-
de raison, de bonté, d’humanité, ayant des mœurs, du goût, aimant le beau, faisant le bien, libre de l’empire des passions cruelles, exempt du joug de l’opinion, mais soumis à la loi de la sagesse, & docile à la voix de l’amitié […]“. (Rousseau: Émil, wie Anm. 1, S. 230). Zur politischen Valenz der kraftvollen Jünglingsfigur bei Rousseau siehe Dieter Thomä: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Berlin 2016, bes. S. 82. 10 Jean Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik (die zwei Diskurse von 1750 und 1755). Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Kurt Weigand. Hamburg 1964, S. 11; Original: „la force & la vigueur de l’ame [sic]“; „Athléte qui se plaît à combattre nud: Il méprise tous ces vils ornemens qui gêneroient l’usage de ses forces, et dont la plus part n’ont été inventés que pour cacher quelque difformité.“ ([Jean Jacques Rousseau:] Discours qui a remporté le prix à l’Académie de Dijon. En l’année 1750. Sur cette question proposée par la même Académie: si le rétablissement des Sciences & des Arts a contribué à épurer les Mœurs. Par un citoyen de Genève. Genève [1750 oder 1751], S. 11f.). Dazu grundlegend: Heinz Thoma: Politesse und Kulturkritik: Rousseaus Erster Diskurs im Kontext. In: Anne Amend-Söchting u.a. (Hg.): Das Schöne im Wirklichen – Das Wirkliche im Schönen. Festschrift für Dietmar Rieger zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2002, S. 391–403, bes. S. 397–400. Ferner: Albert Schinz: La pensée de Jean-Jacques Rousseau. Essai d’interprétation nouvelle. Paris 1929, S. 135–157. Rousseaus Gedanken über die Genealogie von Tugend und Kraft werden aufgegriffen unter anderem in Alexander Graf Savioli Corbelli: Über die Stärke des Menschen im gesellschaftlichen Stande. In: Abhandlungen der baierischen Akademie über Gegenstände der schönen Wissenschaften. Erster Band. München 1781, S. 1–24, bes. S. 6 u. 8: „Nackend, aber der Heftigkeit der Witterung, dem Wechsel der Jahreszeiten ausgesetzet, wurde sein Körper gehärtet, und der Vertheidigung fähig. Seine Kräfte mit den Kräften der Thiere gemessen, setzten Gewalt der Gewalt entgegen. […] Tugend und Weisheit mangelten dem Menschen, weil Tugend eine Gewalt über sich selbst ist zum Vortheile der Mitmenschen.“ 11 Über die Frage des „Grundsatzes“ in den Moralkulturen der Aufklärung siehe Jacques Domenech: L’éthique des Lumières. Les fondements de la morale dans la philosophie française du XVIIIe siècle. Paris 1989, bes. S. 9–14.
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den die eigene Pflicht zu erfüllen“.12 Als Variation der oben erwähnten EmileStelle liest sich außerdem folgende Passage aus einem Brief an Franquières vom 15. Januar 1769: „Dieses Wort Tugend bedeutet Stärke. Es gibt keine Tugend ohne Kampf; und es gibt keine ohne Sieg. Tugend heißt nicht nur gerecht sein, sondern gerecht sein, indem man über seine eigenen Leidenschaften triumphiert und seines eigenen Herzens Herr wird“.13 In der Encyclopédie wird Louis de Jaucourt ähnlichen Gedankengängen folgen: „Es ist bekannt“, so heißt es dort in seinem Tugendartikel, „dass das Wort Tugend in seinem Ursprung dem von Stärke und Mut entsprach“; festzuhalten gelte es außerdem: „[D]ie Tugend ist eins, einfach und unveränderlich in ihrem Wesen“.14 Spekulative Definitionsansprüche, die jahrtausendealte Debatten über die Tugend gekennzeichnet haben, werden flott durch die Lakonie der Rousseau’schen Bestimmungen abgelöst. Dies lässt sich besonders deutlich am Erzählduktus des Emile ablesen. „Erwarte keine langatmigen Moralvorschriften von mir“, sagt Emils Erzieher, „ich habe dir nur eine einzige zu geben, und diese umfaßt alle anderen. Sei Mensch“.15 Menschsein heißt im Emile seinem eigenen Werdedrang folgen und bedeutet vernunftgemäße Verwirklichung seines eigenen Potentials. Gelehrt und doch erfrischend unbekümmert unterläuft der Gouverneur die ganze Schwere langwieriger Abhandlungen und stößt noch einmal zum Herzstück seiner fundamentalen Betrachtung vor: Tugend und Kraft gehören zusammen. Rousseau konturiert dabei das Bild einer ausgeprägt aktiven und dynamischen Tugend, die von Vorstellungen reglementierender Unterdrückung denkbar weit entfernt ist. In der suggerierten Begegnung mit altrömischem Gedankengut scheint „vertu“ ihren modernen, rein moralischen Klang zu verlie12 Rousseaus Brief Nr. 3098, 6. Januar 1764 (Rousseau à l’Abbé Alexandre-Louis-Benoît de Carondelet). In: Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau. Edition critique établie et annotée par R. A. Leigh. Tome XIX: janvier-avril 1764. Banbury (Oxfordshire) 1973, S. 12f., hier S. 13: „[L]a vertu n’est que la force de faire son devoir dans les occasions difficiles“. 13 Rousseaus Brief Nr. 6529, 15. Januar 1769 (Rousseau à Laurent Aymon de Franquières). In: Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau. Edition critique établie et annotée par R. A. Leigh. Tome XXXVII: janvier 1769-avril 1770. Oxford 1980, S. 13–24, hier S. 21: „Ce mot de vertu signifie force. Il n’y a point de vertu sans combat; il n’y en a point sans victoire. La vertu ne consiste pas seulement à être juste, mais à l’être en triomphant de ses passions, en régnant sur propre cœur“. 14 [Louis de Jaucourt]: Vertu. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts, et des Métiers. Tome XVII. Neufchastel 1765, S. 176–185, hier S. 176: „On n’ignore pas que le mot de vertu répondoit dans son origine, à celui de force & de courage“, „la vertu est une, simple & inaltérable dans son essence“. 15 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 889; Original: „N’attends pas de moi de longs préceptes de morale, je n’en ai qu’un seul à te donner, & celui là comprend tous les autres. Soit homme.“ (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 329).
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ren. Sie unterscheidet sich dabei deutlich von Vorstellungen natürlicher Güte, die von Konflikt und Kampf nichts wissen wollen und, wie Montaigne schrieb, als Prädikat nur Gott zustehen:16 Nur ein von Natur schwaches und durch seinen Willen starkes Wesen ist tugendhaft; nur darin besteht der Wert des rechtschaffenen Menschen; und obgleich wir Gott gut nennen, nennen wir ihn nicht tugendhaft, weil es für ihn keiner Anstrengung bedarf, das Gute zu tun.17
Die Tugend bilde daher vielmehr eine gesteigerte Option der Lebensführung für den „schwachen“, aber vernünftigen Menschen, der frei sein möchte. Eine solche Tugend unterscheide ihn zugleich vom Göttlichen und vom ,bloß lebenden‘ Geschöpf: Solange es nichts kostet, die Tugend zu üben, braucht man kaum zu wissen, was sie ist. Das Bedürfnis danach erwacht mit den Leidenschaften: Für dich ist es bereits gekommen. […] Wer aber nur gut ist, bleibt es nur so lange, wie es ihm angenehm ist: Die Güte zerbricht und vergeht unter dem Schock der menschlichen Leidenschaften.18
Die Irrwege der Leidenschaften stellen also die wohl mächtigste Anfechtung dar, mit der Emile auf einmal schockiert und ohne Orientierung konfrontiert wird. Die Tugend soll ihn aus der Verwirrung herausführen. Aus dem Kontrastschema „bonté“ vs. „vertu“ zieht der Erzieher kühnste Folgerungen. Dabei schimmert wiederum eine antike Bedeutung von Tugend als „virtus“ durch, also eine neorömische Vision der Tugend, verstanden in erster Linie als „vis“, d.h. als Kraft, Stärke und Standhaftigkeit eines Geistes, der des Guten mächtig wird und somit in den Dienst menschlicher Emanzipation treten kann.
16 Dazu Pierre Villey: L’influence de Montaigne sur les idées pédagogiques de Locke et de Rousseau. Paris 1911, S. 258 („Montaigne est sans aucun doute l’un des principaux maîtres auprès desquels la pensée de Rousseau s’est formée“). Montaigne schrieb: „Il semble que le nom de vertu presuppose de la difficulté et du contraste, et qu’elle ne peut s’exercer sans partie. C’est à l’aventure pourquoy nous nommons Dieu bon, fort, et liberal, et juste, mais nous ne le nommons pas vertueux: ses operations sont toutes naifves et sans effort“ (zit. nach Villey, S. 253). 17 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 887. Original: „La vertu n’appartient qu’à un être foible par sa nature & fort par sa volonté; c’est en cela que consiste le mérite de l’homme juste; & quoique nous appellions Dieu bon, non ne l’appellons pas vertueux, parce qu’il n’a pas besoin d’effort pour bien faire.“ (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 324f.). 18 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 887. Original: „Tant que la vertu coûte rien à pratiquer, on a peu besoin de la connoître. Ce besoin vient quand les passions s’éveillent: il est déja venu pour toi. […] celui qui n’est que bon, ne demeure tel qu’autant qu’il a du plaisir à l’être: la bonté se brise & périt sous le choc des passions humaines.“ (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 325f.).
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2 Tugend und Entscheidungsfähigkeit: Spuren des Erhabenen Im Motiv der Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft laufen – in einer Gesamtschau betrachtet – die Hauptlinien des Emile zusammen. Zwar ist die semantische Allianz von Tugend und Kraft nicht dominant in den Moraldiskursen der Spätaufklärung, sie markiert jedoch einen ebenso bedeutenden wie randständig gebliebenen Entwicklungsgang ihrer (Wort-)Geschichte.19 Spezifisch aufklärerisch ist dabei der Versuch, die Erinnerung an ferne, ursprüngliche Bedeutungsbestände von Tugend wieder wachzurufen, die ein fahrlässiger Sprachgebrauch hatte vergessen lassen. Ursprüngliche Vorstellungen von sittlicher Strenge, Ernst und einfacher Anständigkeit, die der altrömischen „virtus“ anhaften, werden nun metaphorisch ausgespielt zur Konturierung eines aktiven Verhaltens, das dem Eleven zur Selbsterhaltung, zur Beharrung in schwierigen Lagen und zum eigentlichen Lebensgenuss verhelfen soll.20 Um die Wirkungskraft seiner Ideenrüstung nicht zu verspielen, weiß Emiles Erzieher den günstigen Augenblick zur Enthüllung und Mitteilung seiner Tugendansichten abzuwarten: „Um dir dieses so oft mißbrauchte Wort zu erklären“, so fährt er fort, „habe ich gewartet, bis du in der Lage wärest, mich zu verstehen“.21 Der Ton bleibt gemessen und beherrscht, die Metaphorik setzt hingegen dezidiert auf waghalsige Kampfbilder, die seiner agonalen Auffassung der Tugend („force“, Kraft; „combat“, Kampf; „victoire“, Sieg) vollends entsprechen und den zögernden Zögling vor eine neue Herausforderung stellen: „Jetzt ist der Augenblick, deine Stärke zu erproben […]. Man übt sich nicht im Kampf vor dem Feind, man bereitet sich vor dem Krieg darauf vor; man stellt sich vollkommen vorbereitet zum Kampf“.22 Die Zeit der Tugend ist also nicht die langsame Zeit eines allmäh19 Zum „arc-en-ciel sémantique“ der Tugend vgl. im Allgemeinen: Henri Plard: Morale et vertu: les Lumières et le désarroi de l’éthique. In: Ders. (Hg.): Morale et vertu au siècle des Lumières. Bruxelles 1986, S. 7–16, hier S. 8. 20 Zum vielschichtigen Genussbegriff bei Rousseau siehe: Helmut Pfeiffer, Elisabeth Décultot u. Vanessa de Senarclens (Hg.): Genuss bei Rousseau. Würzburg 2014. Zum Zusammenhang von Genuss, Freude und Moral insbesondere: Michel Delon: Rousseau et la quête d’un plaisir nouveau. In: ebd., S. 63–74. Grundlegend zum Begriff der Selbsterhaltung in der Neuzeit: Hans Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität. Wiesbaden 1970. 21 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 887. Original: „Pour t’expliquer ce mot si profané j’ai attendu que tu fusses en état de m’entendre“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 325). 22 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 888. Original: „C’est à présent le moment d’essayer tes forces […]. On ne s’exerce point au combat devant l’ennemi; on s’y prépare avant la guerre; on s’y présente déja tout préparé“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 328).
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lichen Entwicklungsprozesses, sondern die Zeit des kairós, des günstigen Augenblicks, den es wahrzunehmen gilt und der Entscheidungsfähigkeit voraussetzt. Vor einem neuen, besonders gefährlichen Feind gewarnt, wird der kaum zwanzigjährige Emile aufgefordert, Herr seiner selbst zu werden. „Nun sei wahrhaft frei; lerne, dein eigener Herr zu werden“, so lautet die Devise.23 Dies erfordert nicht zuletzt „eine andere Lehrzeit […], mühevoller als die erste“24 – eine Lehrzeit im Zeichen des Erhabenen, bei der Autonomie des Subjekts in erster Linie Tugendhaftigkeit, d.h. eine freie Entscheidung für die Umsetzung der Tugend bedeutet.25 Eine agonale Färbung durchzieht nicht von ungefähr die Exposition der besonderen Sachlage: [I]ch mochte deine Seele in den Styx tauchen, soviel ich wollte, ich hätte sie nicht ganz und gar unverletzbar machen können; ein neuer Feind taucht auf, den zu besiegen du noch nicht gelernt hast und vor dem ich dich nicht schützen konnte.26
Beunruhigende Worte, keine Frage. Der Präzeptor erzielt damit eine radikale Revision der Botschaft, die der Kupferstich im Ersten Buch des Emile kolportiert, der als Frontispiz des ganzen Werks dient: Das Bild der Thetis, die ihren Sohn Achilles in das Wasser des Styx stürzt, um ihn unverwundbar zu machen. Diese Unverwundbarkeit ist den Menschen nicht zuteil geworden, sie werden nun als unvollständig erklärt. Eine anthropologische Schwachstelle in der Konstitution des Menschen wird identifiziert bzw. diagnostiziert. In der Kluft zwischen Sein und Seinsollen wurzelt das Tugendprojekt des aufgeklärten Erziehers. Er ist ein Krisenbeschreiber von Format, streng im Ton und kompromisslos in der Sache. 23 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 887; Original: „Maintenant soit libre en effet; apprends à devenir ton propre maître“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 326). 24 Ebd.; Original: „un autre apprentissage [...] plus pénible que le premier“. 25 Zum Zusammenhang von Erhabenheit und Entscheidungsfähigkeit siehe die Studie von Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 183 („Das Interesse am Erhabenen ist […] durch die Situation der Entscheidung [motiviert]“) u. S. 151 („Die Wende nach Innen führt nur in die Konfrontation mit einem neuen Kriegsschauplatz – den der eigenen Seele“). Zur Ikonographie der Tugend und der Entscheidung vgl. Erwin Panofsky: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst. Leipzig u. Berlin 1930, bes. S. 83: „[Dargestellt werden] zwei verschiedene Denkungsarten und Lebensformen […]: unter der Voraussetzung, daß die ‚Voluptas‛ – zur bloßen Lebensfreude abgemildert – sich freiwillig der ‚Virtus‛ unterordnet, d.h. daß sie den moralischen Forderungen nicht hindernd in den Weg tritt, sondern im Gegenteil das, was die Tugend gebietet, durch ihre Gegenwart verschönt, läßt sich, mit Goethe zu reden, ein ‚positiver Mittelzustand‛ denken, der das ‚Entweder-Oder‛ in ein ‚Sowohl-Als auch‛ verwandelt zeigt“. 26 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 884; Original: „[J]’ai eu beau tremper ton ame dans le Stix; je n’ai pu la rendre par-tout invulnérable; il s’élève un nouvel ennemi que tu n’as pas encore appris à vaincre, & dont je ne puis plus te sauver.“ (Rousseau: Émile, wie. Anm. 1, S. 320).
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Kurz und bündig stellt er den neuen Feind vor, und sein Befund könnte drastischer und unanfechtbarer kaum sein: „Dieser Feind bist du selbst“.27 Der Kampf, um den es dabei geht, gilt also vorrangig den eigenen Affekten. Er nimmt allmählich die Gestalt einer Einübung („exercice“) in die Tugend an, die den ,perturbationes animi‘, wie man mit kühlem Blick unter Seelenkundlern zu sagen pflegte,28 Einhalt gebieten soll. Emile soll sich nun in die „vertu“ einhüllen, er soll sie wie einen Schutzmantel sich umlegen. Sie bedeutet festes Beharren gegen die Widrigkeiten des Lebens, vor allem aber gegen die Risiken der eigenen Passionen. Es geht jedoch nicht darum, die Leidenschaften als Gemütskrankheiten auszurotten, sondern – gut aufklärerisch – darum, sie gleichsam in Dienst zu nehmen: „Alle sind gut, wenn man ihrer Herr bleibt; alle sind schlecht, wenn man sich von ihnen beherrschen läßt“.29 Stoisches Gedankengut – das SenecaMotto im Emile weist explizit darauf hin – geht hier in neuen Gewändern, und vor allem mit neuen Zwecken, umher. Anvisiert wird dabei die Emanzipation des Subjekts aus eigener Kraft: [D]ie Natur erlöst uns von den Übeln, die sie uns auferlegt, oder lehrt sie uns ertragen; aber zu denen, die aus uns selber kommen, hat sie nichts zu sagen; sie überläßt uns uns selbst; sie läßt uns, die Opfer unsrer Leidenschaften, unsren fruchtlosen Leiden erliegen und uns sogar der Tränen rühmen, über die wir hätten erröten müssen.30 27 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 884; Original: „Cet ennemi, c’est toi-même“. (Rousseau: Émile, wie. Anm. 1, S. 320). 28 Dazu Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, bes. S. 71f. u. S. 226– 234. 29 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 888. Original: „Toutes sont bonnes quand on en reste le maître, toutes sont mauvaises quand on s’y laisse assujettir“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 328). 30 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 888: „[L]a nature nous délivre des maux qu’elle nous impose, ou nous apprends à les supporter; mais elle ne nous dit rien pour ceux qui nous viennent de nous; elle nous abandonne à nous-mêmes; elle nous laisse, victimes de nos passions, succomber à nos vaines douleurs, & nous glorifier encore des pleurs dont nous aurions dû rougir“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 326f.). Über Seneca bei Rousseau vgl. Louis Thomas: Sénèque et Jean-Jacques Rousseau. In: Bulletin de la Classe des Lettres et des Sciences Morales et Politiques et de la lasse des Beaux Arts. Académie royale de Belgique 2 (1900), S. 391–421. Zur stoischen und neustoischen Tradition bis in das Zeitalter der Spätaufklärung hinein siehe Elena Agazzi: L’intreccio di Classicismo ed esperienza tardo-illuministica nella riflessione sull’arte di Wilhelm Heinrich Wackenroder e di Ludwig Tieck. In: Alessandro Costazza (Hg.): Il romantico nel Classicismo / Il classico nel Romanticismo. Mailand 2017, S. 105–118, bes. S. 108. Zum ideen- und kulturgeschichtlichen Hintergrund von Rousseaus Natur-Begriff siehe jetzt Heinz Thoma: Jenseits der Vernunft? – Natürliche Religion und Religion der Natur. In: Ders.: Ende einer Epoche? Zu Geschichte und Kritik der Bürgerlichen Formation seit der Aufklärung. Halle a.d.S. 2019, S. 149–183, bes. S. 171–176.
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Unter der Schirmherrschaft der Tugend kündigt sich also nichts weniger als eine radikal neue Lebensführung als Veränderung und Steigerung der Naturanlage an: „Wir müssen wohl oder übel unser Leben ändern“, heißt es prägnant im Emile.31 Die dementsprechende Leitmaxime lautet: „Was ist nun der tugendhafte Mensch? Derjenige, der sein Verlangen zu besiegen weiß“.32 Der Tugendhafte soll „gegen sich selbst“ kämpfen, „eines […] wünschen und ein anderes […] wollen“,33 er soll jener bereits erwähnten Kluft zwischen Sein und Seinsollen erst gewahr werden. Hierin besteht jene zweite, eigentliche Geburt, die „zweite Geburt“, die das Buch seinen praktizierenden Lesern verheißt: „Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal, um zu existieren, das andere Mal, um zu leben“.34 Eigentliches Leben könne nur im Zeichen der Tugend statthaben. Ein solches Nachdenken über Grundfragen vernunftgemäßer Lebensführung zählt bekanntlich zu den Hauptanliegen der Aufklärung35 und findet bei Rousseaus Emile ein Beispiel schlagender Klarheit. Unmittelbar damit verbunden sind Reflexionen über die pädagogische und soziale Funktion der Tugend. Ihre Paarung mit dem Begriff der Kraft bietet gleichsam eine praktische Anleitung zur Umsetzung der neuen Lebensführung: Man müsse „den Wunsch der Pflicht opfern und deinem Herzen widerstehen, um deiner Vernunft zu gehorchen“.36 Aus dem Glück der Kindheit soll Emile also unverzüglich heraus, um es gegen ein anderes einzutauschen, das ihm zunächst einmal keines zu sein scheint, heißt: sich selbst und die eigenen Neigungen zugunsten der Vernunft überwinden. Diese Lehre geht in tiefere Schichten der Persönlichkeit Emiles. Denn für den „jeune homme“ bedeutet dies zunächst einmal, die geliebte Sophie zu verlassen. Rousseaus imaginierter Zögling avanciert dadurch volens nolens zu einem neu stoischen Exempel, das in Zeiten zunehmenden Lichtes der Nacheiferung würdig scheint. Nirgends lässt sich sein Erzieher bei Sentimentalitäten ertappen: „Du mußt Sophie verlassen, Emile“, so lautet die grausame Aufgabe, die jetzt lebhaft
31 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 892; Original: „il faut bien malgré nous changer de maniére de vivre“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 27, S. 336). 32 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 887; Original: „Qu’est-ce donc que l’homme vertueux? C’est celui qui sait vaincre ses affections“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 326). 33 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 894f.; „lutter contre lui-même“; „desirer une chose et […] en vouloir une autre“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 340). 34 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 438; Original: „Nous naissons, pour ainsi dire, en deux fois: l’une pour exister, & l’autre pour vivre“. (J[ean] J[acques] Rousseau: Émile, ou de l’éducation. Tome second. Amsterdam 1762, S. 172). 35 Dazu Wolfram Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, bes. S. 7–16. 36 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 886; Original: „sacrifier le penchant au devoir, & résister à ton cœur pour écouter ta raison“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 323f.).
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vor seiner Seele steht und ihn erbleichen lässt.37 Er wird sie am Ende des Romans wiederfinden und heiraten. Amputationsmetaphern rücken jedoch die Schilderung seines Gemütszustands beim Hören der Entscheidung seines Lehrers in den Bereich des Grässlichen: „Wie ein Verwundeter, der beim Anblick des nahenden Chirurgen erbebt, glaubt er schon auf seiner Wunde die schmerzende, aber heilende Hand zu fühlen, die ihn vor dem Verderben schützt“.38 Allein die Kraft der Tugend vermag solche Wogen zu glätten. Mögen sie auch umso höher schlagen – sie werden zum ermutigenden Stimulans eigener Tugend und Kraft gemacht. „Le rôle du précepteur“, so hat man festgestellt, „est de retourner la menace en virtualité positive, de transmuter nos faiblesses en forces“.39 Jetzt erst fängt Emiles höhere Erziehung an. Sie ist eine unaufhaltsame Einübung in die höheren Möglichkeiten der Tugend, verstanden als gesteigerte Form der Lebensführung. Darin verdichtet sich nicht nur die besondere Botschaft Rousseaus, sondern vielmehr eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Moraldiskurse der Spätaufklärung. Diese erlernbare Einübung in die Tugend hebt, wie zutreffend gesagt wurde, „innen im Menschen“ an und endet nicht „im Bürger“, sondern „wieder im Menschen: in dem freien Menschen“.40 Die Kraft der Tugend weist dem einsichtigen Eleven den Weg zur Freiheit und zur Verwirklichung seiner individuellen Rechte als Mensch – es handelt sich dabei also um einen Denkund Handlungsweg, der, einmal eingeschlagen, nicht zuletzt den erzählenden Erzieher selbst von seiner Leitfunktion befreit und den (nicht nur anagraphisch) gereiften Jüngling als mündigen Mensch erscheinen lässt.
37 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 894; Original: „Émile, il faut quitter Sophie“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 339). 38 Rousseau: Emile (wie Anm. 1), S. 891; Original: „[C]omme un blessé qui frémit en voyant approcher le Chirurgien, il croit déja sentir sur sa plaie la main douloureuse, mais salutaire, qui l’empêche de tomber en corruption“. (Rousseau: Émile, wie Anm. 1, S. 333). 39 Michel Delon: Homo sum, humani nihil a me alienum puto. Sur le vers de Terence comme devise des Lumières. In: Plard (Hg.): Morale et vertu (wie Anm. 19), S. 17–31, hier S. 20. Siehe ferner Maurizio Bettini: Homo sum. Essere „umani“ nel mondo antico. Turin 2019. 40 Zweig: Einleitung (wie Anm. 2), S. 163. Zur Zentralität des Menschen gegenüber dem Bürger bei Rousseau sowie zum problematischen Spannungsverhältnis beider Begriffe: Vincenzo Ferrone: Storia dei diritti dell’uomo. L’Illuminismo e la costruzione del linguaggio politico dei moderni. Bari u. Rom 2014, S. 156–215.
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3 Tugend als „taugende Kraft“. Zur Erkundung einer verschütteten Landschaft der deutschsprachigen Spätaufklärung Rousseaus Emile hatte geistigen Sprengstoff in Umlauf gebracht. Das Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 1762 vor dem Grand Palais öffentlich verbrannt. Gegen den Autor wurde ein Haftbefehl erlassen. Er habe einen Umsturz des Denkens, der Sitten und des Glaubens verursacht. Die Neugier der Leser war geweckt, und für Resonanz europa- und amerikaweit war nicht zuletzt durch den Haftbefehl reichlich gesorgt. Eine deutsche Übersetzung des Gesamtwerks erschien erst im Revolutionsjahr 1789. Betreut vom schreibwütigen Revolutionsfreund Carl Friedrich Cramer,41 bildet sie einen zentralen Bestandteil, in vier Bänden, der von Joachim Heinrich Campe herausgegebenen Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, die zwischen 1785 und 1792 insgesamt in sechszehn Bänden erschien.42 Campe wollte damit die „Gemeinnützigkeit und Vollständigkeit“ seiner Sammlung durch eine historische „Zugabe merklich vergrößern“.43 Locke und Rousseau galten ihm als die großen Vorläufer, „deren pädagogische Lehrgebäude am meisten bekannt und am meisten gelesen worden sind“.44 Ihre epochale Bedeutung, so unterschiedlich sie auch sein mag, steht für Campe außer Frage: „Sie machten Bahn, wir andern folgten“.45 Die Übersetzung des Emile wird also Cramer umstandslos anvertraut und das Manuskript allen pädagogisch kundigen Projektmitarbeitern zugesandt, damit jeder „seine berichtigenden, verbessernden und erläuternden Anmerkungen hinzufügen“ kann.46 Es entsteht dadurch 41 Dazu Rüdiger Schütt (Hg.): Ein Mann von Feuer und Talenten: Leben und Werk von Carl Friedrich Cramer. Göttingen 2005. 42 Emil; oder ueber die Erziehung. Von J. J. Rousseau, Bürger zu Genf. Aus dem Französischen übersetzt von C. F. Cramer. Mit erläuternden, bestimmenden und berichtigenden Anmerkungen der Gesellschaft der Revisoren, aus dem Revisionswerke besonders abgedruckt und herausgegeben von Joachim Heinrich Campe. Vier Theile. Braunschweig 1789–1791. Gleichzeitig erschien das vierbändige Werk unter dem Titel: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesen von einer Gesellschaft practischer Erzieher. Theil 12-15. Braunschweig u. Wien 1789–1791 sowie als Teil der Gesamtausgabe: Jean-Jacques Rousseaus sämtliche Werke. Theil 7-10. Berlin 1789–1791. 43 [Joachim Heinrich Campe]: Vorrede, welche zugleich den Plan des Werks enthält. In: Ders. (Hg.): Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesen von einer Gesellschaft practischer Erzieher. Erster Theil. Wien u. Braunschweig 1785, S. III–L, hier S. XLVIII. 44 Ebd. 45 Ebd., S. XLIX. 46 Ebd., S. L.
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zwischen 1789 und 1791 eine vollständige Übertragung, polyphonisch kommentiert, die heute noch mit Gewinn gelesen werden kann.47 Cramer erweist sich als ein feinfühliger Übersetzer und sucht in der Zielsprache Ausdrücke und Begriffe, die eine adäquate Wiedergabe des Originals gewährleisten können. Die zentrale Emile-Stelle über die Tugend als Kraft – wir erinnern uns: „Mon enfant, il n’y a point de bonheur sans courage, ni de vertu sans combat. Le mot de vertu vient de force ; la force est la base de toute vertu“ – gibt er folgendermaßen wieder: Mein Kind, es giebt kein Glück ohne Muth, keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend kömmt von taugen; taugende Kraft ist die Grundfeste aller Tugend“.48
Die etymologische Ableitung von „vertu“ aus „force“ im Original stützt sich auf die Wurzel von lat. virtus. Campe operiert ebenfalls mit etymologischen Hilfsmitteln, muss allerdings unterschiedliches Wortmaterial bearbeiten, das von der germanischen Herkunft des Terminus herrührt. „Tugend“ gehe auf „taugen“ zurück, was an sich „eine bestimmte Güte, einen bestimmten Wert oder Nutzen haben“ bedeutet und dadurch „sich für einen bestimmten Zweck, eine bestimmte Aufgabe eignen“. Um den Horizont der Kraft nicht einzubüßen, fügt er seiner Übersetzung den periphrastischen Ausdruck „taugende Kraft“ hinzu. Fazit: Tugend sei taugende Kraft. Cramer war nicht allein mit seiner Überzeugung. In seiner Wortwahl schimmert eine spezifische Auffassung von Tugend durch, auf die bereits die zeitgenössische deutschsprachige Lexikographie aufmerksam machte. Starken Rückhalt erhält diese Ansicht in erster Linie durch Johann Christoph Adelungs Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart. „Taugen“, so liest man in der Ausgabe von 1780, bedeute: „Brauchbar zu etwas seyn, die erforderlichen Eigenschaften zu Erreichung einer Absicht haben; in welcher Bedeutung es jetzt am gangbarsten ist“.49 Daher die Nebenbedeutung des Verbs: „Nützlich seyn, nützen. […] In welcher Bedeutung es noch im gemei-
47 Zum Gesamtprojekt: Christa Kersting: Rousseaus Einfluß auf die Philanthropen. Zum „Émile“-Kommentar in der Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens. In: Dieter Jedan u. Fritz Peter Hager (Hg.): Educational thinkers on the Enlightenment and their influences in different countries. Pecs 1987, S. 132–154. Zu Rousseau in Deutschland: Claus Süßenberger: Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Bern u. Frankfurt a.M. 1974. 48 Emil; oder ueber die Erziehung (wie Anm. 42), Vierter Theil. Braunschweig 1791, S. 385. 49 [Johann Christoph Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Vierter Theil, von Sche–V. Leipzig 1780, Sp. 625.
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nen Leben und bey wässerigen Poeten vorkommt“.50 Es folgt eine lexikalische Präzisierung etymologischer Natur, die für unsere Belange wichtig ist: „Tugend und tüchtig stammen unstreitig von diesem Worte her, welches ursprünglich zu gedeihen, Nieders. dijen, dick u.s.f. gehöret, und nöthige körperliche Stärke bedeutet zu haben scheinet“.51 Gedeihen heiße nämlich „der Ausdehnung, dem äußern Umfange nach größer werden, von Menschen und Thieren“, „an äußerm Wohlstand zunehmen“,52 aber auch grundsätzlich „[b]leiben, fortdauern“.53 In seiner Übersetzung erweist sich Cramer als philologisch sorgfältig und scharfsichtig. Sein etymologischer Spürsinn erlaubt es, nicht nur das definitorische Wortspiel des Originals, sondern auch die ihm zugrundeliegende Argumentationsstrategie im Deutschen adäquat wiederzugeben. Aus dem Acker philologisch-historischer Forschung blüht das Wunderpflänzchen der semantischen Erneuerung auf. Dabei handelt es sich also nicht um ein etymologisch unverantwortliches Treibhausgewächs: Aus der lexikalischen Beschäftigung mit älteren Sprachstufen verspricht man sich Impulse zur Wiederbelebung und Berichtigung der gegenwärtigen Tugendbegrifflichkeit. Gefahndet wird insbesondere nach ursprünglichen Sinnschichten, die zur Wiederentdeckung eigentlicher Bedeutungen verhelfen sollen und dadurch dem Verschleißprozess oder gar dem Missbrauch der Worte im gegenwärtigen Gebrauch Einhalt gebieten können. Es resultiert daraus eine Auffassung bzw. eine Definition von „Tugend“, die durch das etymologisierende Verfahren frisch und unverbraucht wirkt. Demgegenüber erscheinen die umständlich-pedantischen Visionen der theologischen und moralphilosophischen Traktate als verblüht und abgewelkt. Die Wiederentdeckung einer früheren Bedeutungsschicht durch Etymologie stürzt gleichsam das definitorische Problem um, so dass seine Fundamente offen liegen, und dies verleiht dem Wort und seiner Bedeutung neuen Elan. Von diesem Verfahren machte nicht zuletzt die Phalanx der kritischen Philosophie im späten 18. Jahrhundert reichlich Gebrauch. Als Immanuel Kant bei50 Ebd. 51 Ebd. Textidentische Einträge in der Ausgabe Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Vierter Theil: von Seb – Z. Leipzig 1801, Sp. 545. 52 [Johann Christoph Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyter Theil: von F–K. Leipzig 1775, Sp. 458. 53 Ebd., Sp. 459. Textidentische Einträge in der Ausgabe Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung. Zweyter Theil: von F–L. Leipzig 1796, Sp. 463f.
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spielsweise im Jahr 1797 die Summa seiner jahrzehnte-, womöglich sogar lebenslangen Reflexion über die Tugend zu Papier brachte und in Königsberg drucken ließ, konnte er nicht umhin, das Wort selbst mit einem Hinweis auf seinen antiken Vorfahren zu begleiten: „Tugend (virtus)“, schrieb er. Diese begriffliche Verdoppelung begegnet dem Leser von Kants Einleitung zur Tugendlehre auf Schritt und Tritt, und die Vermutung, es liege dabei ein tugendsemantisches Zwillingspaar vor, scheint in mehrfacher Hinsicht berechtigt zu sein. Immerhin ist die Tugend bei Kant „das Vermögen und der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu thun“. Solcher Widerstand heißt „Tapferkeit (fortitudo) und, in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns, Tugend (virtus, fortitudo moralis)“.54 Es kehrt dabei die Terminologie, aber auch die Metaphorik wieder, die Rousseau seinem erzählenden Erzieher anvertraut hatte. Nebenbei bemerkt, ist die Anekdote bekannt, dass Kant durch die Lektüre des Emile, so fesselnd sie war, zum ersten Mal seinen täglichen Spaziergang vergessen hatte. Gegner, Widerstand, Tapferkeit – in Kants Dreiklang hallen die Bilder des „ennemi“, der „résistance“ und des „courage“ nach, die bereits bei Rousseau und der neustoischen Tradition die Chiffre oder genauer den Grundtenor der Tugend als Kraft ausmachten. Zwischen „Tugend“ und „Virtus“ besteht daher auch bei Kant nicht nur eine direkte Verbindung, sondern geradezu Identität. Sprachgeschichtlich Vorangehendes wird nachträglich in die neuere Semantik von Tugend integriert. Es vollzieht sich dabei ein hermeneutischer Kraftakt, der in die stillschweigende Empfehlung mündet, die gegenwärtige Tugendsemantik möge sich ursprünglichen Tugendansichten zuwenden, um über die eigenen Verhärtungen hinweg zu finden. Ähnliche Gedankengänge findet man in den weiten Provinzen des aufgeklärten Protestantismus. Die spitze monologische Feder Johann Joachim Spaldings bringt dies in seiner Bestimmung des Menschen deutlich zum Ausdruck. Erst in der Ausgabe von 1794 umschreibt Spalding die Tugend als die „glückliche Bekämpfung der mächtigsten Reize“, sie bezeichne eine „Selbstüberwindung“, die Spalding selbst „bisweilen, als etwas über die Menschheit Erhabenes, angestaunet“ habe.55 Noch eindrucksvoller spricht er in der Ausgabe von 1763 von „Scenen […] 54 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen. Zweyter Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Königsberg 1797, S. 380. Besonders instruktiv dazu: Jeanine Grenberg: What is the enemy of virtue? In: Lara Denis (Hg.): Kant’s Metaphysics of Morals. A Critical Guide. Cambridge 2010, S. 152–169. Grundlegend über die Energie des Widerstandes in der Spätaufklärung: Michel Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières (1770–1820). Paris 1988, bes. S. 183–191. 55 [Johann Joachim Spalding]: Die Bestimmung des Menschen, nebst einigen Zugaben. Neue, vermehrte Auflage. Leipzig 1794, S. 83. Zur Grundhaltung der Tugend bei Spalding siehe Giusep-
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der standhaftesten Selbstüberwindung“, die darin bestehe, „Neigungen zu verläugnen, Beschwerden zu verachten, Widerwärtigkeiten Trotz zu bieten“.56 Der „Kampf“ lasse sich daher „nicht vermeiden“, es sei vielmehr „eine sehr geschäfftige Stärke des Geistes nöthig, um […] gut zu handeln“,57 d.h. um „der Vergeltungen, die des höchsten Liebhabers der Tugend würdig sind, fähig zu werden“.58 Kampfbilder gehen da mit Visionen der Liebe einher. Martialische Metaphorik, verbunden mit wonnigen Panzerungsphantasien, durchzieht Spaldings Text und evoziert einen Wertehorizont, den man mit traditionellem Vokabular als fortitudo oder auch constantia bezeichnet hätte: „Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich mit Standhaftigkeit auf alle die Fälle zu waffnen, wo ich, in dem ehrenvollen Dienste der Tugend, Feinde außer oder in mir bestreiten soll“.59 Einem Zitat aus Horazens Episteln (I, 6) wird der Abschluss dieser Ausgabe anvertraut: Vis recte vivere? Quis non? Si virtus hoc una potest dare, fortis omissis, Hoc age deliciis.60
Der Bezug auf die römische Antike bildet, in einer Gesamtschau über das ganze Jahrhundert betrachtet, eine Konstante bei der Herausbildung einer Tugendsemantik im Zeichen der Kraft. Erst im expliziten oder verschwiegenen Dialog pe Landolfi Petrone: „Una certezza che scaturisce dalla ricerca“. Spalding e la Bestimmung des Menschen nel dibattito del Settecento. In: Johann Joachim Spalding: La vocazione dell’uomo. Prima traduzione con testo tedesco originale a fronte delle edizioni 1748, 1763 e 1794. Traduzione, introduzione alla lettura e apparati di Laura Balbiani. Saggio introduttivo e note di Giuseppe Landolfi Petrone. Mailand 2011, S. 5–69, bes. S. 54f. Zum ideengeschichtlichen Hinter- und Vordergrund: Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart u. Bad Cannstatt 2013, bes. S. 130–139 u. 208–212. 56 [Johann Joachim Spalding:] Die Bestimmung des Menschen. Siebente, vermehrte Auflage mit einigen Zugaben. Leipzig 1763, S. 128. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 132. 59 Ebd., S. 131. Zur Funktion der constantia in der Neuzeit siehe Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung. Hg. u. eingeleitet v. Nicolette Mout. Göttingen 1989. 60 [Spalding:] Die Bestimmung des Menschen (wie Anm. 56), S. 132. Hier in der Übersetzung Christoph Martin Wielands: „Du möchtest glücklich seyn? Wer will das nicht? / Und wenn die Tugend nun, und sie allein / dich glücklich machen kann: wohlan, so laß es Ernst dir seyn, entschließe dich der Tugend / dich ganz zu weyhn, und weg mit allen Ueppigkeiten!“ (Horazens Briefe aus dem Lateinischen übersetzt und mit historischen Einleitungen und andern nöthigen Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Erster Theil. Neue, verbesserte Ausgabe. Leipzig 1790, S. 121). Zur Bedeutung von „virtus“ in dieser Epistel siehe Eisenhut: Virtus romana (wie Anm. 7), S. 89f.
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mit der Antike und ihren mannigfaltigen Wortüberlieferungen entfaltet sich die Arbeit an dieser besonderen Semantik der Tugend. Vorherrschend ist dabei der häufig variierte Eindruck von einer vergreisenden, rückständigen Gegenwart, die alle Frische und Fähigkeit zur Erneuerung auszulöschen droht. Man legt sein Ohr an die ehrwürdige Muschel der Antike, um dort die Stimme einer längst versunkenen Vorstellungswelt zu vernehmen, die zugleich den Gegenstand eigener Sehnsüchte bildet. Die Etymologie bietet dafür, wie bereits mehrfach gesehen, gleichsam ein Laboratorium zum Experiment. Es entsteht gleichsam eine Argumentationspoetik der Etymologie, bei der Erkenntnisdurst und historische Energie zu den Ursprüngen der Phänomene vordringen möchten.61 Aus Schutt und Vergessenheit wird viel von dem wieder ans Licht gebracht, was eine bestimmte Auslegung von Tugend als äußerlicher Befolgung von Pflichtkatalogen und Geboten dem Untergang preisgab. Das Heranrücken der Kraft an die Tugend verweist dabei jedoch nicht auf die ominöse Vermengung von Tugend und Brutalität, die man mit Sparta zu assoziieren pflegte.62 In den Vordergrund tritt vielmehr eine dynamisch-erhabene Auffassung von Tugend, verstanden als energisches Prinzip, das individuelle Entscheidungsfähigkeit fördert. Der Zusammenhang von Tugend und Kraft wird in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike mehrfach hervorgehoben. „Eine veraltete Bedeutung, welche indessen doch die erste und ursprüngliche ist“, so heißt es wiederum bei Johann Christoph Adelung unter dem Lemma „Tugend“, setzt diese mit dem Zustand von „körperliche[r] Stärke“ und „Kraft“ gleich; Tugend sei „ehedem auch häufig für Tapferkeit gebraucht“, denn sie bezeichne die spezifische Kraft oder Fähigkeit, „gewisse Veränderungen, besonders heilsame Veränderungen hervorzubringen“.63 Weitere genealogische Vergleiche mit antiken Lexemen sollen diese Ansicht befestigen: Fast in allen Sprachen ist der engere moralische Begriff der Tugend eine Figur der Leibesstärke, Virtus, von Vis, Vires, Kraft, Gewalt, ἀρετή, von ἀρες, stark; nicht weil die Tugend moralische Kraft gegen einen Widerstand, gegen sinnliche Kraft ist, sondern, weil in dem
61 Formulierung in Anlehnung an Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin 2003. Zur Auslegung von Etymologie als Wiederentdeckung „vergessener Pfade“ siehe Davide Del Bello: Forgotten Paths. Etymology and the Allegorical Mindset. Washington, D.C. 2007. 62 Besonders eindrucksvoll ist diesbezüglich Schillers Beschreibung der spartanischen Verhältnisse, bei denen es „nichts als Bürger, nichts als bürgerliche Tugend gab“, zit. nach: Hans-Jürgen Schings: Revolutionsetüden. Würzburg 2012, S. 21. 63 [Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches (wie Anm. 49), Sp. 1099–1101, hier Sp. 1099.
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rohen Jugendalter der Welt und der Nationen Leibeskräfte und darin gegründete Tapferkeit die einige [sic] bürgerliche Tugend, wenigstens der einige [sic] bürgerliche Vorzug, war.64
Die Semantik moderner Tugend wird konsequent am Leitbild von ἀρετή- und virtus-Vorstellungen kritisch gemessen. Die pauschale Aneignung griechischer und/ oder römischer Vorbilder versteht sich dabei weder als etymologischer Zierrat noch als Hommage an altmodische Gelehrsamkeit. In der breiten Bedeutungspalette der antiken Tugend tritt nun die rein moralische Nuance etwas in den Hintergrund und hervorgehoben wird die Idee einer ,Güte‘ im Sinne einer Vortrefflichkeit. Wie mit Blick auf die platonische ἀρετή festgestellt wurde, bezeichnet die Tugend zunächst einmal die Fähigkeit, eine Funktion in vollkommener Weise auszuführen.65 Bezogen auf die Sphäre menschlicher Lebensgestaltung bedeutet die so verstandene Tugend einen Prozess rastloser Vervollkommnung. Attribute stilistischer Vortrefflichkeit und glanzvoller Wirkung, die als Signum überzeitlicher 64 Ebd., Sp. 1100. Adelungs Einsicht kehrt in Eberhards Synonymik sowie in Campes Wörterbuch wieder. Vgl. Johann August Eberhard: Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik in einem kritisch-philosophischen Wörterbuche der sinnverwandten Wörter der hochdeutschen Mundart, Fünfter Theil, Halle u.a. 1800, S. 161–164 bzw. Wörterbuch der deutschen Sprache. Veranstaltet und herausgegeben von Johann Heinrich Campe, Vierter Theil: S und T (nebst einer Beilage). Braunschweig 1810, S. 907f. Zur semantischen Analyse: Wolfgang Beutin: Das Weiterleben alter Wortbedeutungen in der neueren deutschen Literatur bis gegen 1800, 2., überarb. u. erw. Aufl., mit einem Beitrag v. Ulrich Knoop u. Michael Mühlenhort. Frankfurt a.M. 2013. 65 Dazu Franco Ferrari: Un „microcosmo“ della filosofia di Platone: il Menone. In: Platone: Menone. Introduzione, traduzione e commento di Franco Ferrari. Testo greco a fronte. Mailand 2016, S. 9–94, hier bes. S. 24–26. Siehe ferner: Linda M. Napolitano Valditara: Un passo del Menone sulla phronesis: verso la scienza pratica aristotelica? In: Arianna Fermani u. Maurizio Migliori (Hg.): Attività e virtù. Anima e corpo in Aristotele. Mailand 2009, S. 231–253: „Nel I libro della Repubblica (352 E – 353 D), l’areté è il requisito per cui un essere animato (come il cavallo o l’occhio), o inanimato (come la roncola per potar le viti) può svolger al meglio, in modo eccellente (352 E 3: ἄριστα), il compito [funzione] o èrgon per natura spettantegli e più oltre, a 601 D, la virtù, bellezza, regolarità di ogni manufatto, animale, azione, è in funzione dell’uso (πρóς τήν χρείαν, 601 D 5) per cui esso è prodotto o generato. L’areté per Platone (e per Socrate prima di lui) non è allora solo un tratto staticamente appartenente e ascrivibile come tale, una volta per tutte, al virtuoso, in una pura, neutra, esaustiva descrizione: essa – legata come si mostra qui all’èrgon o chreìa naturale di ogni essere – è semmai tratto intrinsecamente dinamico per chi la possiede, e dunque bene nel senso di bonificante, cioè tale da ottimizzare l’agire del virtuoso stesso, colmando, di tempo in tempo e in misura auspicabilmente sempre maggiore, il gap fra quanto quell’ente per natura è abilitato a fare e quanto di fatto e di volta in volta vien facendo. L’areté così intesa è, allora, l’attività che fa consistere pienamente un ente nel proprio essere naturale.“ Zur breiten Bedeutungspalette von Tugend in der griechischen Antike siehe nach wie vor Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 2., ungekürzter photomechanischer Nachdruck in einem Band. Berlin 1989, bes. S. 23–37.
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Klassizität gelten, werden auf den Bereich der Moral übertragen. Daraus resultieren Konzepte der Lebensführung, die nicht selten in polemischer Absicht gegen Tendenzen der Gegenwart – vor allem gegen das Gefühl von leibseelischer Zerrissenheit und epochalem Weltschmerz – ausgespielt werden.66 Friedrich Gedike, ein Kenner und Übersetzer frühgriechischer Kultur, bringt dies lakonisch auf den Punkt: „Die ἀρετή Pindars sowol als Homers ist noch lange nicht der abgezogne, entsinnlichte Begrif, der sie nachher bey den spekulirenden Philosophen ward“; er bezeichne „bloß körperliche Stärke mit Kraft und Muth der Seele vereint, [...] wo Stärke und kühner Muth das höchste Ziel der Menschheit waren“.67 Das Wort habe zwar den Lauf der Jahrhunderte durchgestanden, trage jedoch die Zeichen ihrer erosiven Kraft: Die folgenden Zeitalter behalten alsdann zwar dasselbe Wort, verfeinern aber den Begrif [sic]; und so wie ihre Begriffe überhaupt sich immer weiter ausdehnen, und vom individuellen zum allgemeinern stuffenweis aufsteigen, so verhält sich’s besonders mit diesem Begrif. So ging’s mit der Virtus der Römer, so mit der Tugend der Deutschen, die ursprünglich und etymologisch nichts mehr als die αρετη der Griechen und die Virtus der Lateiner ist.68
66 Ich führe hier Gedanken aus, die im Keim bereits enthalten waren in: Verf.: Tugend, Kraft und die Wonnen des Lebens. Semantischer Klassizismus und Visionen energischer Lebensführung in der Literatur der Spätaufklärung. In: International Review of Eighteenth-Century Studies (IRECS) 3 (2017): Enlightenment and classicism. Edited by Jean-Christophe Abramovici and Daniel Fulda, S. 127–152. 67 Pindars Olympische Siegshymnen. Verdeutscht von Friedrich Gedike. Berlin u.a. 1777, S. 10. 68 Ebd., S. 11. Gegen Ende des Jahrhunderts konnte die Kritik an der landläufigen Tugendsemantik manche Publizisten dazu veranlassen, sich in der Spätaufklärung in einer Dekadenzsituation zu sehen. So beispielsweise im Artikel: Ueber die Verderbung der Sitten, durch die immer gewöhnlicher werdende Art der feinen Welt über sittliche Gegenstände sich auszudrücken. In: Deutsche Monatsschrift (1798), Band 3, S. 143–159. Der Autor, ein gewisser „G. P.“ (ebd., S. 159), brandmarkt darin eine auffällige „Frivolité“ (ebd., S. 146) beim gegenwärtigen Gebrauch des Wortes „Tugend“, dessen authentische Bedeutung allmählich verloren gehe. Es sei in der zeitgenössischen Publizistik nur noch die „Larve der Tugend“ (ebd., S. 154) zu sehen. Für die Tugend wird das Prädikat der Kraft mehrfach eingeklagt: „Tugend und Laster können beyde mit Kraft und Schwäche bestehen. Es ist gar kein natürlicher Zusammenhang zwischen Kraft und Laster, zwischen Schwäche und Tugend“ (ebd., S. 156). Eine Missdeutung der Tugendsemantik wird insbesondere den Sprachkulturen der Romania zugeschrieben, insbesondere der französischen (Stichwort „Frivolité“) und der italienischen: „Auf einem solchen Wege werden wir bald dahin gelangen, wohin der Italiäner schon längst gelangt ist, jeden in irgend einer auch noch so unnützen Kunst oder Geschicklichkeit erfahrenen Menschen tugendhaft (virtuose) zu nennen“ (Ebd., S. 154). Zur pessimistisch gefärbten Diagnostizierung einer Dekadenzsituation bei manchen Denkern der Spätaufklärung vgl. Theo Jung: Zeichen des Verfalls. Göttingen 2012, bes. S. 292–297.
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Ähnliches bei Adelung: In „engerer und höherer Bedeutung“ bezeichne energische Tugend eine Form von „Vortrefflichkeit“,69 die man in den Begriffen ἀρετή und virtus wiederfinden könne. Jede Entscheidung zu tugendhaftem Handeln verstand sich daher als Gestus einer radikalen Umkehr, die zur allmählichen Vollendung der eigenen Existenz hinführen sollte. Solch einer Lebensführung im Zeichen von Tugend und Kraft kommt nicht zuletzt das Prädikat des „Classischen“ zu, bezeichnet es doch am Ende des 18. Jahrhunderts unter anderem etwas, das „die möglichste Vollkommenheit“70 erreicht hat und „in seiner Art vortrefflich ist“, so „daß es andern zum Muster und zur Richtschur dienen kann“.71 Als Beispiel zitiert Adelung den Ersten Brief des Petrus (2, 9), in dem Gottes „Vortrefflichkeit“ als „Tugend“ bezeichnet wird. Für das Original ἀρετὰς – eine Pluralform, übersetzt von Hieronymus mit „virtutes“ und in der Luther-Bibel mit „Wohltaten“ – wählt Adelung den Kollektivsingular „Tugend“.72 Durch den Hinweis auf Gottes virtus generalis wird eine Form von Vortrefflichkeit veranschaulicht, die nun in einem säkularen Kontext zum Tragen kommt. Im Paragone mit antiken Tugendbegriffen stellen sich bestimmte Lebensformen der eigenen Gegenwart als unzulänglich heraus und alternative Modelle werden vorgeschlagen. In einer Epoche, in der Vorstellungen von Tatkraft bzw. 69 [Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches (wie Anm. 49), Sp. 1100. 70 Ebd., Sp. 1208. 71 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders der Oberdeutschen. Erster Theil: von A – E. Leipzig 1793, Sp. 1338. Prominente Interpreten unserer Gegenwart haben ebenfalls auf den Zusammenhang von Tugend, Kraft und Vortrefflichkeit wiederholt hingewiesen. Gegen eine gewisse Traditionsvergessenheit, jedoch ohne expliziten Bezug auf das Zeitalter der Aufklärung, ist ihr Ausgangspunkt zumeist in der Auseinandersetzung mit Aristoteles zu verorten. „Zu Beginn der Begriffsgeschichte“, schreibt Otfried Höffe, „zeichnet die Tugend all das aus, was in seiner Art nicht übertroffen werden kann“, sie bedeute eine „generelle Bestheit oder Vortrefflichkeit“. Virtuosität „zeichnet den Menschen, sofern er Mensch ist, aus, so daß man auch von Humanität sprechen mag“. Entgegen der mainstream-Auffassung von Tugend als Kompromiss zwischen Affekten oder Leidenschaften oder gar als Synonym von Keuschheit sollte man eher „das Mittlere im Sinne einer Höchstform menschlicher Lebensführung“ verstehen und den „goldenen Mittelweg“ als eine „neue und zugleich vortreffliche Qualität, eine Souveränität“ auffassen (Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral. München 2007, S. 128–135). Bestimmte Philosophen der Antike gelten in dieser Hinsicht als Ikonen der Vollkommenheit. Sie sollen durch Bewunderung ethisch mobilisieren und, wie Christoph Halbig schreibt, einen guten Grund bieten zu einer „vollständigen Verwirklichung“ der Tugend (Christoph Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik. Berlin 2013, S. 106f.). 72 [Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches (wie Anm. 49), Sp. 1099f.
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Energie zu wichtigen Denkfiguren des Gelehrtendiskurses avancieren,73 erblickt man also in der Paarung von Tugend und Kraft geradezu eine Triebfeder der Aufklärung. Man denke – um nur ein prominentes Beispiel zu nennen – an Friedrich Schiller, der im 10. Brief seiner Ästhetischen Erziehung die „Energie des Charakters“ zur „wirksamste[n] Feder alles Großen und Trefflichen im Menschen“ erklärt.74 „Kraft und Energie des Entschlusses“, so Schiller weiter, „gehört also dazu, die Hindernisse zu besiegen, welche teils die natürliche Trägheit des Geistes teils die Feigheit des Herzens der Aufnahme der Wahrheit entgegen setzen“.75 Erst im Zeichen tapferer „Mannhaftigkeit“76 feiere das „sapere aude“ der Aufklärung den Eintritt in die Sphäre emanzipativer Kultur: „[I]n so fern also Energie des Entschlusses nötig ist, um aus dem Zustand verworrener Begriffe zu deutlichsten Erkenntnissen überzugehen, muß der Weg zu der theoretischen Kultur durch die praktische geöffnet werden“.77 Nur so könne eine „große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit, und bürgerlicher Tugend“ Hand in Hand gehen.78
73 Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières (wie Anm. 54), bes. S. 55–57 u. 114–119. Ferner: Bénédicte Abraham: Au commencement était l’action. Les idées de force et d’énergie en Allemagne autour de 1800. Villeneuve d’Ascq 2016, bes. S. 45–80. Zur Synonymie von ‚Kraft‛ bzw. ‚Tatkraft‛ und ‚Energie‛ um 1800: Deutsche Wortgeschichte. Hg. v. Friedrich Maurer u. F. Stroh, 2., neubearb. Aufl. Bd. 2. Berlin 1959, S. 313f. Zum philosophischen Hintergrund: Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Berlin 22017, S. 108–127. 74 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8. Hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt a.M. 1992, S. 591. 75 Friedrich Schiller: Briefe an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg. In: Ebd., S. 512. Zu Schiller und dem Energiebegriff: Wolfgang Bethge: Das energische Princip. Ein Schlüsselbegriff im Denken Friedrich Schillers. Heidelberg 1995, bes. S. 481–505. 76 Entsprechend dem ἀνδρεία- bzw. fortitudo-Ideal. Hierzu Josef Pieper: Das Viergespann. München 1964, S. 163-198. Über das Verhältnis von Tugend und Religion bei Schiller vgl. Jeffrey L. High: Revolutionary Virtue: Schiller and Freedom from Religion. In: Philosophical Readings IX/2 (2017), S. 76–86. 77 Schiller: Briefe an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg (wie Anm. 75), S. 514. 78 Schiller: Über die ästhetische Erziehung (wie Anm. 74), S. 590. Zu Schiller und der Aufklärungskultur: Dieter Borchmeyer: Aufklärung und praktische Kultur. Schillers Idee der ästhetischen Erziehung. In: Helmut Brackert u. Fritz Wefelmeyer (Hg.): Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt a.M. 1984, S. 122–147; Laura Anna Macor: La fragilità della virtù. Mailand und Udine 2011, bes. S. 151–163; Giovanna Pinna: Introduzione a Schiller. Rom u. Bari 2012, S. 59–89; Maria Carolina Foi: La giurisdizione delle scene. I drammi politici di Schiller. Macerata 2013, S. 57–64; Wolfgang Riedel: Philosophie des Schönen als politische Anthropologie. In: Olivier Agard u. Françoise Lartillot (Hg.): L’éducation esthétique selon Schiller. Paris 2013, S. 67–125.
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„Meiner Idee nach“, schreibt ferner Wilhelm von Humboldt 1792, „ist Energie die erste und einzige Tugend des Menschen“.79 Als Möglichkeit progressiver Daseinssteigerung lasse sich diese Tugendenergie weder auf einen Katalog von Geboten und Verboten noch auf ein System von Pflichten und Verbindlichkeiten reduzieren. „Tugend“ bezeichne vielmehr das „hohe und schöne Gefühl“, das „die Thätigkeit unsrer Kräfte in ihrer vollen und natürlichen Energie immer begleitet“.80 Als Synonym von „Geist“ bezeichne „ἀρετή“ die „volle, ächte, und eigenthümliche Kraft“ und könne ebenso gut als Bezeichnung „von der innern, als äussern Bildung gebraucht“ werden.81 In der Tugend erblickt Humboldt ein höheres Wesensmerkmal des „Lebendigen“, das „in sich und durch sich beweglich“ ist, „wechselnd und vorschreitend“.82 Das Leben sei „Dasein mit Energie belebt“ und könne „nur aus der Kraft begriffen werden“, der sich nicht zuletzt die „weiche Biegsamkeit, der fliessende Glanz, das duftende Ansehn der gründenden Pflanze, des lebenden Thiers“ verdankt.83 Pindars Chorlieder über die Siege der Athleten, die Humboldt bestens kannte,84 sowie die „Fechterkörper“ in den klassizistischen Galerien Europas seien die beste Veranschaulichung dieses besonderen Tugendverständnisses: „Arbeit und Kraftübung leuchten aus ihnen hervor“.85 Dieser Auffassung zugrunde liegt einerseits das Leitbild harmonischer Ganzheit des „vollendeten Menschen“, das das Kernstück der anthropologischen Reflexion der Spätaufklärung darstellt: „So“, schreibt Humboldt, „beruhte Tugend auf dem richtigen Gleichgewichte aller Seelenfähigkeiten“, d.h. „Lebhaftigkeit der Sinnlichkeit, Feuer der Einbildungskraft, Wärme des moralischen Gefühls, Stärke des Willens, alle geleitet und beherrscht durch die Kraft der prüfenden Vernunft“.86 Andererseits ermöglicht der Rückgriff auf die griechischen Quellen die Loslösung von sämtlichen präskriptiven Auffassungen der Tugend, mit denen dieser Begriff behaftet war. Man erlaube nur dem Menschen, als Mensch zu wirken, dann würde auch seine „wahre Tugend“
79 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Abt. I, Bd. 1. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1903, S. 97–254, hier S. 166. 80 Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Abt. I, Bd. 2. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1904, S. 1–112, hier S. 96. 81 Wilhelm von Humboldt: Von dem Geist der Menschheit. In: Ebd., S. 334. 82 Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert (wie Anm. 80), S. 2. 83 Ebd., S. 2f. 84 Humboldt: Zweite Olympische Ode. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Abt. I, Bd. 8, S. 2. 85 Humboldt: Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (wie Anm. 79), S. 345. 86 Humboldt: Über Religion. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Abt. I, Bd. 1. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1903, S. 45–76, S. 61.
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vollends zutage treten, so Humboldt weiter. Denn die „Tugend stimmt so sehr mit den ursprünglichen Neigungen des Menschen überein, [...] dass es weit weniger nothwendig ist neue Triebfedern zu tugendhaften Handlungen hervorzusuchen, als nur denen, welche schon von selbst in der Seele liegen, freiere und ungehindertere Wirksamkeit zu verschaffen“.87 Man gewähre der Energie des Menschen freien Lauf: „Ohne sie wird der Mensch Maschine. Man bewundert, was er thut; man verachtet, was er ist“.88 Am Leitfaden des Zwillingspaars Tugend–Kraft lässt sich, aus der Vogelperspektive betrachtet, die Bedeutung des aufgeklärten Neuhumanismus, eines „Humanismus der Modernen“,89 aus vielleicht ungewohnter Perspektive und in seiner ganzen Tragweite gut einschätzen. Ein behutsames Aber scheint jedoch an dieser Stelle geboten: Ist denn die spätaufklärerische „Tugend“ tatsächlich deckungsgleich mit der antiken römischen virtus, wie ihre terminologische Paarung so unverfänglich klar nahezulegen scheint? Das semantische Spektrum beider Termini ist – will man sich auch nur auf die Aussage von einschlägigen Wörterbüchern und Lexika einlassen – erstaunlich breit. Und dennoch ist die Neigung, beide gleichzusetzen und als Synonyme füreinander zu betrachten, beinahe unauslöschlich. Ließ sich das Verhältnis (und Verständnis) von Tugend und virtus am Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt anders erfassen? Bis jetzt sind zwei Hauptrichtlinien innerhalb der semantischen Entwicklung des Begriffspaars ‚Tugend und Kraft‛ deutlich an den Tag getreten. Einerseits bedeutet der Zusammenhang von Tugend und Kraft eine martialisch gefärbte Disposition zur Agonalität, in welchem Bereich auch immer sie zur Anwendung gebracht werden mag. Andererseits wird die Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft mit Bildern organischen Gedeihens assoziiert. Diesen Sachverhalt hat Adelung in aller Schärfe gesehen und konzise dargelegt: Sowohl „Tucht“ (als Archaismus für „Tüchtigkeit“) als auch „Tugend“, so ruft er uns noch einmal in Erinnerung, „stammen von taugen her, so fern es ehedem ursprünglich stark seyn bedeutete, und zu dem veralteten degen, groß, stark, tapfer, gehörete“; „Tucht“ sei ein „Intensivum“ von „digen, dihen, deihen“, d.h. Gedeihen. Vorstellungen von „Ausdehnung“, „Fortgang“, sowie das Zunehmen „an äußerem Wohlstande“, aber auch das „Bleiben und fortdauern“ gehen damit einher und
87 Ebd., S. 73. 88 Ebd., S. 81. 89 Dazu grundlegend: Vincenzo Ferrone: Die Aufklärung – Philosophischer Anspruch und kulturgeschichtliche Wirkung. Göttingen 2013, S. 157–192.
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kennzeichnen das Bild vom fließenden Glanz des lebenden Organismus, das beispielsweise Humboldt vorschwebte.90 Bilder organischen Wachstums dienen dabei der Veranschaulichung einer anthropologischen Überzeugung: Durch die mutige Kraft der Tugend eröffnet sich dem Menschen ein Pfad durch die dynamische und energische Welt der natura naturans.91 Eine kreative Landschaft zeichnet sich da ab, die im Werden begriffen ist und zur aktiven Partizipation einlädt. Energische Tugend stellt den Idealzustand des tätigen Menschen dar, sie bildet den Motor seiner Bildung. Folgende Betrachtungen möchten daher zu einer kleinen bild- und begriffsgeschichtlichen Reise einladen, die in erster Linie darauf abzielt, weitere Wege zum Verständnis antiker virtus und ihrer Bedeutung für die kulturelle Praxis der Spätaufklärung freizulegen. Und dies anhand einer Erkundung, die beide soeben erwähnten Richtlinien in einem einzigen Topos zusammenführt. Das topische Motiv führt zusammen, was zusammengehört. Auf dieser kleinen Reise wird der Dichter Ovid die Rolle des Gewährsmanns übernehmen, und das Schicksal einer besonderen Passage aus seinem epischen Hauptwerk, den Metamorphosen, wird sich dabei als aufschlussreicher Leitfaden erweisen.
90 [Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches (wie Anm. 49), Sp. 1098. 91 Ferrone: Die Aufklärung (wie Anm. 89), S. 221f. Delon: L’idée d’énergie (wie Anm. 54), bes. S. 402–408.
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4 „Virtus in frondibus“, oder die Allianz von Kämpfen und Gedeihen am Leitfaden einer OvidStelle und ihrer Rezeption im 18. Jahrhundert Das XV. Buch von Ovids Metamorphosen birgt für viele moderne Interpreten den hermeneutischen Schlüssel zur Gesamtdeutung des Epos.92 Wie dem auch sei, fest steht, dass da kein geringerer als der Philosoph Pythagoras das Wort ergreift und in rund vierhundert Versen (XV 75–478)93 ein Weltbild präsentiert, das sich durch immerwährenden Wandel auszeichnet. „Omnia mutantur, nihil interit“ (XV 165): „alles verändert sich nur, nichts stirbt“94 – so lautet die Devise des universalen Wandels. In ewiger Transformation sieht Ovids Pythagoras das Wesensmerkmal des Kosmos. Die Seelenwanderung, vor allem aber die Fähigkeit zur Verwandlung, zur Metamorphose, stellen dessen wohl spektakulärste, zugleich poetisch fruchtbarste Erscheinungsformen dar. Und die fünfzehn Bücher des Epos beweisen dies mit glänzender Sprachkraft. Die Rede des Pythagoras, in ihrem popularphilosophischen Grundtenor einzigartig in der Gesamtökonomie von Ovids Epos, hat man daher nicht zu Unrecht als einen „didaktische[n] Vortrag über die Verwandlung als kosmisches Prinzip“95 bezeichnet. Ihr poetischer Wert ist gleichwohl nicht hoch genug zu veranschlagen: „le philosophe fait place à l’amuseur“96 und die Funktion des delectare äußert sich in einer Reihe kleiner Szenen, deren Bilder zur Veranschaulichung des eklektischen Gedankenguts beitragen. Denkbar fern von starrer Systematik 92 Vgl. Ulrich Schmitzer: Reserare oracula mentis – abermals zur Funktion der Pythagorasrede in Ovids Metamorphosen. In: Studi Italiani di Filologia Classica 99/1 (2006), S. 32–56, bes. S. 34: „In der Metamorphosen-Forschung jedoch wird seit Jahrzehnten immer wieder just darüber debattiert, ob Pythagoras und seine gut vierhundert Verse lange Rede vom universalen Wandel in Ovids Metamorphosen für das Verständnis des Gesamtwerks eine zentrale, wenn nicht die entscheidende Rolle spielen“. 93 Vgl. Ovidio: Metamorfosi. A cura di Alessandro Barchiesi. Vol. VI (Libri XIII–XV). A cura di Philip Hardie. Testo critico basato sull’edizione oxoniense di Richard Tarrant. Milano 2015, S. 150–180. Fortan beziehen sich sämtliche Ovid-Zitate auf diese Ausgabe. 94 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Mit den Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Lateinischen nach der Übersetzung von Reinhart Suchier. Nachwort und Anmerkungen von Ernst Günther Schmidt. Leipzig 1986, S. 375. Aus dieser Ausgabe stammen die Übersetzungen, die im Fließtext zitiert werden. 95 Michael von Albrecht: Die Verwandlung bei E. T. A. Hoffmann und bei Ovid. In: Antike und Abendland 10 (1961), S. 161–180, hier S. 171. 96 Eugène de Saint-Denis: Le génie d’Ovide d’après le livre XV des Métamorphoses. In: Revue des Etudes Latines 18 (1940), S. 111–140, hier S. 124.
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bringt Ovid dabei seine poetische Intelligenz vollends zur Geltung. Der Grundgedanke nimmt sich – unter Verwendung von Wasser- und Fluss-Metaphorik – als Variation von Heraklits πάντα ῥεῖ-Motto aus: „nihil est toto quod perstet in orbe; / cuncta fluunt, omnisque uagans formatur imago“ (XV 177f.), zu Deutsch: nichts ist von Bestand in der Weite des Weltalls. Rings ist Fluß, und jedes Gebild ist geschaffen zum Wechsel. Es wechselt also jede Gestalt, die sich bildet, und hierin verdichtet sich die Kernbedeutung der Welterklärung. Der Wandel umgreift alles bis zu den einfachsten Elementen: ipsa quoque adsiduo labuntur tempora motu, non secus ut flumen. neque enim consistere flumen nec leuis hora potest, sed ut unda impellitur unda urgeturque prior ueniente urgetque priorem, tempora sic fugiunt pariter pariterque sequuntur et noua sunt semper. nam quod fuit ante relictum est, fitque quod haud fuerat, momentaque cuncta nouantur. (XV 179–185) [Selber die Zeit auch gleitet dahin in beständigem Gange, anders nicht als ein Strom; denn Strom und flüchtige Stunde stehen im Lauf nie still. Wie Woge von Woge gedrängt wird, immer die kommende schiebt auf die vordere, selber geschoben, also fliehen zugleich und folgen sich immer die Zeiten, unablässig erneut; was war, das bleibt dahinten; was nicht war, das wird, und jede Minute verjüngt sich.]
Die Semantik der erwähnten Passage – man könnte allerdings von der Pythagorasrede in ihrer Ganzheit sprechen – stützt sich auf zwei auseinanderstrebende Wortfelder: Das Wortfeld des Gleitens und Dahinfließens durchzieht den Ausschnitt (labuntur 179; flumen 180; unda 181) und bildet gleichsam einen Gegenpol zum Bild des Stillstands (consistere 180), das dadurch für schlechtweg unmöglich erklärt wird. Rhetorische Kunstgriffe wie Polyptota (unda … unda 181; urgeturque prior … urgetque priorem 182) und Anaphern (flumen … flumen 180) befördern dabei ein schwingendes Tempo und befestigen die Idee einer wirbelnden Bewegung (adsiduo … motu 179).97 Alles wandelt sich, keinem bleibt seine Gestalt. Als Nachweis exemplarisch herangezogen werden die Phänomene von Tag und Nacht (XV 186f.), Himmelsfärbung (188–191), Sonnenaufgang und -untergang (192–195), Land und Meer (262– 269), Quellen (270–272) sowie, übertragen auf das Wirkungsfeld der Menschen, die Schicksale von Völkern und Städten wie Troja, Sparta und Rom (418–481). 97 Für eine eingehende Textanalyse siehe Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Kommentar von Franz Bömer. Buch XIV–XV. Heidelberg 1986, S. 268–273 sowie, ad XV 179–185, bes. S. 306f.
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Solche conditio ewigen Wandels, die Alternanz von Aufbau und Niedergang, die bei Ovid nicht zuletzt naturwissenschaftlich und historisch begründet wird, betrifft die Götter selbst, wie das Beispiel der Diana, der Personifizierung des Mondes, metonymisch nahelegt: nec par aut eadem nocturnae forma Dianae esse potest umquam semperque hodierna sequente, si crescit, minor est, maior, si contrahit orbem. (XV 196–198) [Nie auch bleibt die Gestalt der bei Nacht sichtbaren Diana völlig dieselbe und gleich; denn stets ist kleiner als morgen heute das Bild, wenn die Scheibe sich dehnt, doch engt sie sich, größer].
Kein Wunder: Der Mensch bildet keine Ausnahme im Kosmos und Vergänglichkeit zeichnet sich da als Merkmal ab. „Nostra quoque ipsorum semper requieque sine ulla / corpora uertuntur (XV 214f.): „An uns selber erfährt ja auch rastlose Verwandlung / immer der Leib“, und das Dasein selbst, ja die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft sind ebenfalls von stetigem Wandel gekennzeichnet, ihre Existenz ist historisch, ihr Gedächtnis vielschichtig: „nec quod fuimusue sumusue / cras erimus“ (216): „und was wir gewesen und sind, wir verbleiben / morgen es nicht“. Corpora uertuntur – die Wendung ist drastisch, verweist sie doch nicht nur auf eine einfache, reibungslose Änderung der Leiber, sondern vielmehr auf einen kontinuierlichen Umbruch, bei dem der Zusammenhang von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem sowie das Wechselspiel von Schein und Sein sichtbar werden und gegebenenfalls die beunruhigenden Konturen der Ambivalenz annehmen können.98 Bemerkenswert ist dabei zunächst einmal die Passivform uertuntur: Dem Wandeln ist jeder Körper unterworfen, und Ursache der unumkehrbaren Wandlung, die jeden trifft, ist in erster Linie das tempus edax rerum (XV 234), die „aufzehrende Zeit“, die „abwärts auf der Bahn hinfälligen Alters“ geht. Die Kräfte des Lebens und die gefräßige Gier der Zeit treten in Ovids Worten, pythagoreisch verbrämt, als Antagonisten auf. Ein Kampf wird dabei ausgetragen, dessen Ausgang von vornherein festgelegt ist: Der Säugling (infans 221) wächst, „stark und rasch“ (ualens ueloxque 225) geht er über die „Strecke der
98 Zur Semantik von uertere s. Maurizio Bettini: Vertere. Un’antropologia della traduzione nella cultura antica. Torino 2012, hier bes. S. 37–51: „verto permette di definire anche tutte quelle circostanze in cui viene ,rovesciata‘ la natura o la sostanza di una cosa o di una persona, che subiscono in questo modo una decisa mutazione“ (S. 38); „L’identità dell’oggetto metamorfico consiste proprio, paradossalmente, nell’assommarne due“ (S. 50).
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Jugend“ (spatium iuuentae 225), bis ihm das Alter die rüstigen Kräfte der früheren Jahre „zunichte macht“ (demolitur prioris robora 228f.). Eine nüchterne und ernüchternde Anthropologie zeichnet sich da allmählich ab, eine durchaus realistische Vision des Menschenlebens, die jedoch das Hochgefühl, das mit der Empfindung und Ausübung der eigenen Kräfte zusammenhängt, reichlich und wortgewandt zu würdigen weiß. Zu einer solchen Würdigung dient der berühmte Vergleich der vier Jahreszeiten mit den Lebensaltern des Menschen, der ein poetisches Glanzstück der Pythagorasrede darstellt, ein Kleinod allegorisch-metaphorischer Ausdrucksweise und ekphrastischer Kunst, bei dem nicht zuletzt das Wort „virtus“ samt einer ganz besonderen Richtung seiner Semantik in Erscheinung tritt. Die Pythagorasrede hat dazu folgenden Wortlaut: Quid? non in species succedere quattuor annum aspicis, aetatis peragentem imitamina nostrae? nam tener et lactens puerique simillimus aeuo uere nouo est; tunc herba recens et roboris expers turget et insolida est et spe delectat agrestes. omnia tum florent, florumque coloribus almus ludit ager, neque adhuc uirtus in frondibus ulla est. transit in aestatem post uer robustior annus fitque ualens iuuenis; neque enim robustior aetas ulla nec uberior nec quae magis ardeat ulla est. excipit autumnus, posito feruore iuuentae maturus mitisque inter iuuenemque senemque temperie medius, sparsus quoque tempora canis. inde senilis hiems tremulo uenit horrida passu, aut spoliata suos aut quos habet alba capillos. (XV 199–213, Hervorhebung hinzugefügt) [Wie, und siehst du nicht in vier abwechselnde Formen / treten das Jahr, nachahmend den Gang von unserem Leben? / Saftreich ist es und zart, ganz ähnlich dem Alter des Knaben, / in dem erwachenden Lenz. Dann strotzen die neuen Gewächse, / Kraft noch missend und Halt, und ergötzen mit Hoffnung den Landsmann. / Dann blüht alles umher, und fröhlich im Schmelze der Blumen / prangt das Gefild, doch fehlt noch festes Beharren dem Laube. / Tüchtiger geht nach dem Lenz nun über das Jahr in den Sommer, / rüstigem Jüngling gleich; denn es ist kein anderes Alter / reicher in Fülle der Kraft, keins heißer in drängendem Streben. / Danach folget der Herbst, der ohne das Feuer der Jugend / reif dastehet und mild und zwischen dem Greis und dem Jüngling / mäßig inmitten sich hält, schon grau an den Schläfen gesprenkelt. / Schaurig mit wankendem Schritt kommt endlich der greisende Winter, / völlig der Haare beraubt, und trägt er sie, weiß an dem Haupte.]
Das Leben des Menschen wird mit dem Ablauf der Jahreszeiten verglichen und vor dem metaphorischen Hintergrund pflanzlicher Üppigkeit interpretiert. Das
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Motiv stellt eine direkte Verbindung zu altem Pythagoreertum dar und ist seit dem Hellenismus als Darstellung von Vergänglichkeit und Wiedergeburt in Verbindung mit der Verherrlichung der schönen Gaben und Wonnen des irdischen Lebens beinahe ubiquitär.99 Bei Ovid ist es also nicht neu. Bis dahin beispiellos ist hingegen die kunstvolle Verflechtung dreier Bildfelder – Jahreszeiten, Lebensalter und pflanzliches Wachstum – zur Konturierung eines einzigen Sachverhaltes. Den vier Jahreszeiten (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) entsprechen nicht nur die vier Lebensstufen (Knabe, Jüngling, Mann, Greis), sondern auch vier besondere Erscheinungsformen der Vegetation, vier Manifestationen des Naturlebens, die den Verlauf der Zeit augenfällig versinnbildlichen sollen. Aus der Wechselwirkung dieser drei Bildfelder ergibt sich eine präzise Charakterisierung von vier Lebenszuständen, bei der sich die Attribute und Prädikate eines besonderen unter den drei Bildfeldern metaphorisch auf die restlichen zwei übertragen lassen. Das menschliche Leben, hier als eine Reihe verschlungener Übergänge veranschaulicht, lässt sich daher als ein Fall metamorphischen Wandels schlechthin auslegen, und dies nicht zuletzt dank der semantischen Interaktion zwischen den Bildern der Jahreszeiten, der Lebensalter und des Naturlebens. Die Anreihung der vier beschriebenen Lebenszustände erfolgt bei Ovid nicht linear, sondern ihre Reihenfolge scheint eher dem Gang einer Parabel zu folgen. Wie in einem visuellen Crescendo entfaltet zunächst der Frühling seine ganze Blütenpracht, das Jahr ist zart (tener 201) wie ein gut gedeihendes Kind, der fruchtbare Acker „spielt“ (ludit 205) mit dem Gras, den Kräutern und allen neuen Gewächsen und erfreut den Blick der Bauern. Eine Welt voller Kraft und Lebensfreude eröffnet sich somit vor dem inneren Auge der Leser. Sie erreicht ihren Höhepunkt mit den Bildern des Sommers. Was im Frühling nur im Keim anwesend war, kommt nun zur Vollendung. Mit dem Übergang in den Sommer wird das Jahr „tüchtiger“ (robustior 206), die Gewächse – im Unterschied zu ihrem frühen Stadium (roboris expers 202) – nehmen nun an Kraft und Halt zu. „Üppiger“ (uberior 208) kann das Leben der Natur nicht erscheinen, wird sie doch im Sommer von einer Art von Glut (ardeat 208) und Eifer (feruore 209) getragen, die seinesgleichen sucht. Auf diesen Höhepunkt der Lebensfülle folgen die absteigenden Bilder des Herbsts und des Winters, denen jedoch – im Unterschied zur oben zitierten Passage – der traurige Unterton fehlt. Im Zentrum der poetischen Verarbeitung steht hier der Sommer und mit ihm die Fülle der Lebenskraft. Der Sommer mit seinen soeben erwähnten Attributen markiert gleichsam
99 Vgl. Erika Simon: Art. „Stagioni“. In: Enciclopedia dell’arte antica classica e orientale. Bd. VII. Rom 1966, S. 468–473, hier bes. S. 472.
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ein Maximum in der Lebensparabel der Natur und die virtus in frondibus ist die Eigenschaft schlechthin, die ihn vom frühlingshaften Erwachen unterscheidet. Was bedeutet hier „virtus“? Die Verbindung von frons und virtus ist ohne Parallele und signalisiert wörtlich die „Kraft“ des ausgewachsenen Laubes.100 Bis in den Frühling hinein gilt: „virtus in frondibus ulla est“ – „virtus“ ist also die im zeitigen Frühjahr noch fehlende Kraft, welche die Pflanzen später zum Grünen bringt, sie bezeichnet daher die im Frühjahr noch nicht ganz entwickelte ,Kraft‘ der Pflanzen, die im Sommer erst zur vollen Entfaltung kommt. „Viridis“, das Grüne, steht als Farbprädikat allem Blühenden zu und bezeichnet die Kraft der gedeihenden Vegetation.101 Die ,Haupttugend‘ der Naturformen ist in diesem Sinn ihre Fähigkeit zum kräftigen Blühen. Von „virtus herbarum“ ist bei Ovid beispielsweise bereits in XIV 357 die Rede, wo der Dichter die Wirkung von Kirkes Zaubertränken schildert. Da bezeichnet das Wort ‚virtus‛ die magische ‚potentia‛, die der metamorphischen Kraft bestimmter Kräuter zugrunde liegt. Der Ausdruck „virtus in frondibus“ verweist auf etwas anderes. Diese Differenz wahrzunehmen und adäquat einzuordnen ist entscheidend. Denn neben den traditionellen Bedeutungsgehalten von ‚virtus‛ als Tüchtigkeit und Tapferkeit eignet diese Form der ‚virtus‛, losgelöst von jedwedem moralischen Bezug, einer Landschaft, die zunächst nicht auf Nutzen und Zweck ausgelegt wird, sondern bloßer Ausdruck der generativen Kraft der Natur ist.102 Eine geradezu kosmische, lebenserhaltende Kraft tut sich da kund. Der aufzehrenden Macht der Zeit gebietet solche ‚virtus‛ Einhalt, sie leistet Widerstand gegen die auflösenden Kräfte der Vergänglichkeit. Bei Ovid als Synonym für robur (XV 202) verwendet, bezeichnet sie also jene gestaltgebende Kraft, die den Lebensvorgängen der Erde voransteht. So verstanden, gehört ‚virtus‛ unmittelbar in die Tradition einer spezifischen Auffassung der natura naturans, die bereits in der aristotelischen Physik die immanente ‚virtus‛ als Schöpfungsprinzip anerkannte. Als Angel- und Drehpunkt in der Generationstheorie der Scholastik taucht sie bei naturkundigen Dichtern wie Dante Alighieri wieder auf – man denke an die „virtute informativa“ („die Bildungskraft für menschliche Gestalt“) sowie, noch deutlicher, an die „virtute attiva / qual d’una pianta“ („Die Seel entsteht aus tät’ger Kräfte Streben / Wie die 100 Ovidius: Metamorphosen. Kommentar von Franz Bömer (wie Anm. 97), S. 311. 101 Verherrlicht wird die Grünkraft der Natur beispielsweise in der Dichtung der Hildegard von Bingen. Man denke an Verse wie „O nobilissima viriditas / quae radicas in sole / et quae in candida serenitate luces in rota” (O edelste Grünkraft / die du in der Sonne verwurzelt bist / und in heller Ruhe im Rad leuchtest. In: Dies.: Lieder. Salzburg 1969, S. 39) oder „O tu, suavissima virga, / frondens de stirpe Iesse, / o quam magna virtus es” (Du lieblichstes Reis, / du Spross vom Stamm Isais, welch große Kraft ist das. In: Dies.: Lieder. Lateinisch und Deutsch. Aus dem Lateinischen neu übersetzt von Bruno Kern. Wiesbaden 2009, S. 44f.). 102 Vgl. Eisenhut: Virtus romana (wie Anm. 7), S. 110.
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der Pflanze“) in Pg XXV 41 bzw. 52f. und, womöglich in Anlehnung an die antike Vorstellungswelt, an den Vergleich mit dem Laub und dessen ‚virtus‛ in Pd XXVI 85–87: „Come la fronda che flette la cima / nel transito del vento, e poi si leva / per la propria virtù che la soblima“ („Gleichwie der Baum, an dem der Sturmwind reißt, / Den Gipfel beugt, dann, wenn der Sturm vergangen, / Sich wieder hebt, wie innre Kraft ihn reißt“).103 Auf solche „virtus“-Ansicht berufen sich auch Philosophen der Renaissance104 wie Giordano Bruno und später Baruch Spinoza, um schließlich im 18. Jahrhundert infolge einer „unaufhaltsamen Durchsetzung einer neuen, naturalistisch geprägten Auffassung aller Wissensbereiche“105 in den Kreisen der Spätaufklärung epistemische und ästhetische Triumphe zu feiern. „Die dynamische Auffassung einer temporalisierten Natur voll unbezähmbarer und vitalistischer Energie“, so hat man beobachtet, „regte überall Reflexionen und einen radikalen Wandel bezüglich der Grenzen, der Stellung und des Potentials des Menschen an“.106 Denis Diderot hat wie kaum ein zweiter diese Auffassung der Naturwelt auf den Punkt gebracht: Die Welt sei ein „Composé sujet à des Révolutions, qui toutes indiquent une tendance continuelle à la destruction; une Succession rapide d’Etres qui s’entresuivent, se poussent & disparoissent, une Symétrie passagère, un Ordre momentané“,107 also: ein heterogenes Wesen, das Revolutionen unterworfen ist, die allesamt auf eine kontinuierliche Tendenz zur Zerstörung hinweisen; eine rasche Abfolge von Wesen, die ineinander übergehen, wachsen und verschwinden, eine vorübergehende Symmetrie, eine momentane Ordnung. Die Vorstellung kontinuierlichen Wandels, Entwicklung, Untergangs und neuerlicher Transformation, die sich bei Ovid als Prozess allumfassender Metamorphose manifestiert, wird also im 18. Jahrhundert aufgegriffen und metaphorisch auf die tätige Freiheit des Menschen übertragen. Indem die Natur den ihr 103 Dante Alighieri: Commedia [secondo il testo curato da Giorgio Petrocchi. Edizione Nazionale, 1966/67]. In: Dante. Enciclopedia dantesca. Hg. v. Umberto Bosco. Edizione speciale per la collana Orsa Maggiore. Bd. VI: Appendice. Biografia, Lingua e stile, Opere. Rom 1996, S. 833–964, hier S. 910 bzw. S. 954. Deutsche Übertragung von Karl Steckfuß: Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Berlin 2005, S. 286 bzw. S. 457. Zur virtù bei Dante: Riccardo Morosini: Virtù. In: Enciclopedia dantesca. Hg. v. Umberto Bosco. Bd. 5. Rom 1996, S. 1050–1058. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund von Tugend als Wirkmacht siehe: Silke Schwandt: Virtus. Zur Semantik eines politischen Konzepts im Mittelalter. Frankfurt u. New York 2014, S. 171–191. Zur virtus im Mittelalter besonders prägnant: Sibylle Mähl: Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit. Köln u. Wien 1969, bes. S. 99f. 104 Vgl. Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350– 1600). Band 1. Hamburg 2017, S. 639–646 u. 1677–1685. 105 Ferrone: Die Aufklärung (wie Anm. 89), S. 225. 106 Ebd. 107 Denis Diderot: Lettre sur les aveugles. In: Ders.: Œuvres choisies. Bd. 1. Paris 1901, S. 80.
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innewohnenden Gesetzen folgt, führt sie in fortwährender Erzeugungstätigkeit ihr ununterbrochenes Werden aus. Im Bild einer „lebendigen, mit Energie durchströmten Natur, also in der Loslösung von einer statisch aufgefassten, transzendentalen Ordnung“ erkennt man den Spielraum für aktive Gestaltung.108 Erst wenn der Mensch sich in die unendliche Bewegung der Natur planvoll einschreibt und versucht, ihre Dynamik zu reproduzieren, entsteht Kunst und Lebenskunst. Die „virtus“, von der Ovid spricht, ist in dieser Hinsicht eine besondere Erscheinungsform dessen, was man später als natura naturans bezeichnet hat.109 Sie ermöglicht jenen „ordre momentané“, der als widerstrebende Ausnahme im wirbelnden Treiben der Naturkräfte erscheint. Kein Zufall daher, geschweige denn eine kapriziöse Ausdeutung, wenn deutschsprachige Übersetzer im Zeitalter der Aufklärung Ovids „virtus in frondibus“ mit kraftaffinen Umschreibungen in sehr ähnlicher Bedeutung wiedergegeben haben. Bereits 1738 erscheint in Halle eine Ausgabe von Ovids Metamorphoseon Libri XV. „mit Teutschen Anmerckungen“, die auf diesen Sachverhalt explizit hinweist: In einer Fußnote zum Ausdruck „virtus in frondibus“ heißt es: „Kraft und Stärke“, womit zur Klarheit in einer Frage von nicht geringer Unübersichtlichkeit verholfen wird.110 In dieser besonderen Wortwahl schimmert eine besondere Überlieferungslinie der weit verzweigten Semantik von „virtus“ durch, die es offensichtlich hervorzuheben galt – und immer noch gilt. So lesen wir beispielsweise in der Ausgabe von Ovids Verwandlungen, übersetzt von Johann Balthasar Sedletzki (1763), über Frühling und Sommer: Seht, also ändern sich die Zeiten in dem Jahr, Wie eure Lebenszeit, stets vierfach. Nehmet wahr: Im Frühling ist es Zart, und gleichet jungen Knaben, Die vielen Nahrungssaft und Milch vonnöthen haben. Da stehn die Kräuter schön und schwellen frisch, doch schwach. Die Hofnung zeigt sich nur. Der Nuz kommt erst hernach. Da blüht der Acker frech. Doch er bedarf erst Kräfte. Denn in den Kräutern stehn noch nicht die vollen Säfte. Hierauf stärkt sich das Jahr. Da tritt der Sommer ein. Der scheint von Jünglingsart, und mehr erstarkt zu seyn. Kein Alter wird so sehr vom heißen Trieb zum Lieben, Wozu es Kräfte fühlt, gereizt und umgetrieben.111 108 Ferrone: Die Aufklärung (wie Anm. 89), S. 227. 109 Vgl. Thomas Leinkauf: Implikationen des Begriffs natura naturans in der Frühen Neuzeit. In: Natascha Adamowsky, Hartmut Böhme u. Robert Felfe (Hg.): Ludi naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft. Paderborn u. München 2011, S. 103–118. 110 Pvblii Ovidii Nasonis Metamorphoseon Libri XV. oder Bücher der Verwandelungen. Mit teutschen Anmerckungen. Halle 1738, S. 646. 111 Ovids Verwandlungen aus dem Lateinischen übersezt von J. B. Sedlezki. Eilftes bis Fünfzehendes Buch. Augsburg und Leipzig 1763, S. 192 (Hervorhebung hinzugefügt).
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Sedletzki verfährt etwas freier als die Hallesche Ausgabe von 1738 und versieht die betreffende Stelle dadurch mit einer physiologischen Erklärung der Gründe, die für die „virtus in frondibus“ verantwortlich sind: „in den Kräutern stehn noch nicht die vollen Säfte“. Ein Jahr später erscheint wiederum in Leipzig ein Lehrreicher Zeitvertreib in Ovidianischen Verwandlungen von Johann Gottlieb Lindner, in dessen stark paraphrasierender Prosa die Passage über Frühling und Sommer um den „virtus in frondibus“-Versteil gekürzt wird und unter nachdrücklicher Betonung der „Stärke“ des Sommers folgendermaßen lautet: Die Veränderung der vier Jahreszeiten ist ein Bild unsers Lebens. Der Frühling ist nichts anders, als unsere Kindheit. Alles ist da noch weich und zart, und zeiget bloß die Hoffnung der Früchte. Auf diesen folgt der heiße Sommer, die Stärke des Jahres. Eben so ist der Zustand eines Jünglings. Bey diesem zeigt sich die meiste Stärke und die größte Hitze.112
Philologisch getreuer ist hingegen die Ausgabe von Ovids Verwandlungen, metrisch übersetzt von Johann Georg Karl Schlüter und 1786 ebenfalls in Leipzig erschienen: […] Und siehst du nicht, wie sich in vier Theile Eintheilt das Iahr, und unsers Lebens Stufen nachahmet? Denn in dem jungen Frühling ist es saugend und zart noch, Wie das Alter des Kindes. Dann brausen die jungen und schwachen Kräuter, und ergözzen durch Hofnung den Landmann. Dann blühet Alles, und der ergiebige Acker freut sich der bunten Blumen: dann ist noch keine Stärk’ in den Zweigen. Das stärkre Iahr geht über zum Sommer, und wird ein kräftiger Iüngling; Denn kein Alter ist stärker und voller, und keins, das so brause.113
Schlüter respektiert taktvoll die Semantik des Originals. Der „virtus in frondibus“ entspricht bei ihm wortwörtlich die „Stärk’ in den Zweigen“. Die Auswahlausgabe von Johann Heinrich Voß (1798)114 verzichtet auf die Übersetzung der Pythagorasrede. Die fehlenden Ovid-Stellen wurden erst 1862 von Reinhart Suchier ergänzt. Die betreffende Passage lautet dort:
112 Johann Gottlieb Lindner: Lehrreicher Zeitvertreib in Ovidianischen Verwandlungen. Leipzig 1764, S. 283. 113 Ovids Verwandlungen metrisch übersezt von Iohann Georg Karl Schlüter. Leipzig 1786, S. 623. 114 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. 2 Theile. Berlin 1798.
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Wie, und siehest du nicht in vier abwechselnde Formen Treten das Jahr, nachahmend den Gang von unserem Leben? Saftreich ist es und zart, ganz ähnlich dem Alter des Knaben, In dem erwachsenden Lenz. Dann strotzen die neuen Gewächse, Kraft noch missend und Halt, und ergötzen mit Hoffnung den Landmann. Dann blüht alles umher, und fröhlich im Schmelze der Blumen Prangt das Gefild, doch fehlt noch festes Beharren dem Laube. Tüchtiger geht nach dem Lenz nun über das Jahr in den Sommer, Rüstigem Jüngling gleich; denn es ist kein anderes Alter Reicher in Fülle der Kraft, keins heißer in drängendem Streben.
Diese wenigen Beispiele sollen zeigen, dass die ‚virtus‛ nicht zuletzt als „männliche Festigkeit“ (Michael von Albrecht) in den Blättern einer Pflanze gelten konnte.
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5 Politisierte natura naturans? Bei der Wiedergabe in deutscher Sprache von „virtus“ als Kraft im 18. Jahrhundert ist eine gewisse Kontinuität festzustellen. Noch bei Goethe ist eine ideengeschichtlich affine Umschreibung desselben Sachverhaltes zu beobachten. In § 33 seiner Schrift Die Metamorphose der Pflanzen heißt es beispielsweise: „[W]ir sehen in der ersten Kindheit dieser Pflanze schon diejenige Kraft der Natur gleichsam angedeutet, wodurch in ihrem höheren Alter der Blüten- und Fruchtstand gewirkt werden soll“, während er in § 111 bemerkt: „Die zweyte Rinde ist es, welche alle Kraft des Lebens und Wachsthums enthält“.115 Bei Ovid verdichtet sich der Höhepunkt der Kraft, wie gesehen, im Bild des kräftigen oder tüchtigen Jünglings (ualens iuuenis, XV 207). Ein Vergleich mit Rousseaus Emile bietet sich förmlich an. Durch die Entscheidung, dieser Figur das Ideal der Lebenskraft bildlich anzuvertrauen, rückt ein ungewöhnliches, normalerweise randständiges Anthropologicum in den Focus der Aufmerksamkeit, dem die Aufklärung große Aufmerksamkeit schenkte, machte sie ihn doch sogar zum titelgebenden ,Helden‘ einer erfolgreichen Wochenschrift um die Jahrhundertmitte.116 Mit der Figur des Jünglings kommt nicht der Mensch als Gattung im Allgemeinen, sondern eine besondere Erscheinungsform derselben zum Vorschein, die den Status – und auch die Freiheit – einer Übergangsfigur genießt. Ovids pythagoreischer Jüngling, eine Figur auf der Grenzscheide zwischen Kindheit und Erwachsenenalter wie seine späten aufgeklärten Nachfahren, hält die Mitte zwischen Vergleich und Personifikation. Er wird zum Fahnenträger in nuce einer anthropologischen Betrachtung, bei der ‚virtus‛ Hingabe an das Leben und Partizipation an den Lebenskräften des Universums bedeutet. ‚Virtus‛ nimmt sich dabei weniger als Gegensatz von ‚vitium‛, denn vielmehr als Gegenpol zu einer entkräfteten Lebensführung aus. Die Vorstellung eines von wirbelnden Kräften animierten Kosmos pythagoreischer Färbung, in den der Mensch seine Existenzweise einschreibt, war im publi115 Johann Wolfgang Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. 11., durchgesehene Auflage, München 1994, S. 64–101, hier S. 73 bzw. S. 98. 116 Vgl. Der Jüngling. Zwei Bände. Leipzig 1747/48. 2. Aufl. Königsberg, Mietau und Leipzig 1768. Dritte Aufl. Königsberg 1775. Dazu vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, S. 125–127. Ferner: Verf.: Pferde, Hunde und Philosophie. Antike Jugendbilder und zeitgenössische Anthropologie in der Leipziger Moralischen Wochenschrift Der Jüngling (1747–1748). In: Misia Sophia Doms u. Bernhard Walcher (Hg.): Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Bern u.a. 2012, S. 137–168.
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zistischen Milieu der deutschsprachigen Spätaufklärung keineswegs exotisch.117 Für Verbreitung und hohes Ansehen hatte nicht zuletzt Christoph Meiners, Professor der Philosophie in Göttingen, mit seiner Geschichte der Pythagoreischen Gesellschaft gesorgt. Er lobt darin Pythagoras’ „tiefe Menschen-kenntniß“, die vor allem darin bestehe, „daß Körper, Geist und Herz gleichförmig und verhältnismäßig geübt und entwickelt wurden“.118 In Pythagoras’ diätetischen Vorschriften zu einer ganzheitlichen, d. h. leib-seelischen Übung erblickt Meiners ein bemerkenswertes Novum, d. h. den Ansatz zu einer ganzheitlichen Anthropologie, bei der der Mensch seine Kraft aus der Interaktion von Leib und Seele bezieht. Kraft heißt dabei nicht Gewalt oder Exzess. Im Gegenteil: Sie entstammt einer „Methode, nach welcher er [Pythagoras] sie [seine Freunde] zur unerschütterlichen Gleichmüthigkeit, zur Herrschaft über die heftigsten Empfindungen, zur männlichen Stärke und Erhabenheit der Seele über äußere Zufälle gewöhnte und hinleitete“.119 Zwischen Leib und Seele besteht da offensichtlich eine symme trische und wohltemperierte Kommunikation: Die traditionellen cartesianischen Dichotomien und Dualismen werden in diesem anthropologischen Konzept120 nicht länger als einander entgegengesetzte Prinzipien, sondern als aufeinander bezogene, ja komplementäre Kräfte begriffen, die fürs Gedeihen des Lebewesens sorgen. Meiners erblickt darin schließlich ein Ideal gut nachvollziehbarer und empfehlenswerter Lebensführung und hält dazu fest: Unter allen eigenthümlichen Vorzügen der menschlichen Natur, und allen Tugenden eines vollkommenen Mannes schätzte, wie es scheint, Pythagoras keine mehr, als eine gewisse Sanftheit und Milde des Gemüths, die uns gegen Freunde diensteifrig und ergeben, gegen Fremde und gleichgültige Personen gefällig, und gegen Feinde versöhnlich macht. Er nannte sie Harmonie oder harmonische Stimmung der Seele, und hielt sie für die Mutter der Bescheidenheit, Verschämtheit und allgemeinen Menschenliebe.121
Die pythagoreisch verbrämte Tugend des „vollkommenen Mannes“ verbindet also die „Vorzüge der menschlichen Natur“ mit der Harmonie der Milde und der Bescheidenheit. Die ovidische „virtus in frondibus“ leuchtet dabei im semanti117 Vgl. Hanns-Peter Neumann: Atome, Sonnenstäubchen, Monaden. Zum Pythagoreismus im 17. und 18. Jahrhundert. In: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008, S. 205–281. 118 Christoph Meiners: Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissenschaften in Griechenland und in Rom. Erster Band. Lemgo 1781, S. 408. 119 Ebd., S. 441. 120 Vgl. Elena Agazzi: Alcune riflessioni sul concetto di ,ganzer Mensch‘ nel tardo Illuminismo tedesco“. In: Cultura tedesca 50 (2016), S. 75–99. 121 Meiners: Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissenschaften (wie Anm. 118), S. 443.
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schen Hintergrund nach und geht gleichsam eine semantische Allianz mit der gesellschaftlichen Tugend der Sanftheit und Milde ein. Die Tugend erscheint daher sowohl als Kraft, die aus der Natur des Menschen kommt, als auch als Freundlichkeit, die aus der Verfeinerung im gesellschaftlichen Umgang resultiert. Der Rückgriff auf antike Denkfiguren eröffnet wiederum einen Zugang zu einer versunkenen Sprach- und Vorstellungswelt. Am Tugendbegriff vollzieht sich eine Arbeit, die Aspekte seiner Semantik funktional neu akzentuiert und Auswirkungen auf die Anthropologie zeitigt. Jedoch nicht nur darauf. Die scheinbar unpolitische Bildlichkeit von Pflanzen, ablaufenden Lebensaltern, alles erhaltenden Naturkräften und anmutigen Jünglingen wird spätestens im Zeitalter der Spätaufklärung schließlich politisierbar.122 Als Chiffre oder Allegorie eines vielversprechenden Erwachens und einer kraftvollen Erneuerung weist eine solche Bildlichkeit den Weg zur Verwirklichung von Humanität.123 Und die Kraft der Tugend wird zur Triebkraft zur Verwirklichung diesseitiger Humanität schlechthin. Ein Beispiel, das besonders aussagekräftig ist, soll hier genügen. 1791 erscheint im Neuen deutschen Museum, herausgegeben von Heinrich Christian Boie, ein Beitrag mit dem Titel: „Blüte. Reife“. Beide Momente des Pflanzenlebens werden als Symbole gegeneinander ausgespielt. Die Präferenz des anonymen Verfassers offenbart sich unverzüglich und gleich auf der zweiten Seite kann man dazu lesen: Die schönste Jahreszeit der Natur ist der Frühling; mit ihm lebt das Herz auf, das Blut fließt wärmer, die Hofnung lächelt und vor ihm fliehen die Sorgen. […] Und wie heiter ist das Bild der rosigen Jugend, ehe noch die Knospe zur vollen Blüte aufbricht, der reifenden Frucht Platz zu machen! Ehrwürdige Tugenden des weisen Alters! Zwar, wer kan [sic] euch Ehrfurcht versagen? […] aber Liebe – Liebe ist nur für die Jugend!124
Allem Anschein zum Trotz beabsichtigt hier der Verfasser nicht nur eine generische Verherrlichung des erwachenden Frühlings im Gegensatz zum reifen, aber hinfälligen Spätjahr mit der Schar seiner Tugenden. Die Jahreszeiten sind vielmehr auch bei ihm Anlass zu einer Reihe von Überlegungen, die viel weitere Bereiche umfassen und geschichtsphilosophische Betrachtungen umstandslos mit einbeziehen, die durchaus als zeitkritisch zu verstehen sind:
122 Zur Politisierung des neunaturalistischen Diskurses im 18. Jahrhundert siehe Ferrone: Die Aufklärung (wie Anm. 89), S. 221–238. 123 Grundlegend hierzu die neuen einschlägigen Forschungen von Vincenzo Ferrone: Virtues and Rights of Man from the Enlightenment to the French Revolution. In: Le siècle des Lumières 6 (2018), S. 46–53. Zum Humanitätsbegriff vgl. Volker Gerhardt: Humanität. Über den Geist der Menschheit. München 2019, bes. S. 272–291. 124 Blüthe. Reife. In: Neues deutsches Museum 4 (1791), S. 531–536, hier S. 532.
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Auch unser Jahrhundert ist vorübergegangen. Alles scheint fertig zu stehen zur Reife der Ernte, und nur sparsam blühen noch Blumen unter dem Vorrath. Die Idylle ertönt nicht mehr auf dem Lager von Moos, die sanfte Moral kleidet sich nicht mehr im Gewande der Fabel, der Strom der Leidenschaften ergießt sich nicht mehr im Labyrinthe der Gefühle, bald von Melpomene beseelt, bald von Thalien. […] Alles ist reif, überreif, oder – Härlinge, die nie zur Reife gelangen. Blüte! Jugend! Reize des Lebens! – ihr seid dahin!125
In einer solchen Welt ohne Idylle gibt sich die Stimme des Verfassers einer Rückbesinnung hin, die den Elan der Frühe als Möglichkeit moralischer, anthropologischer und politischer Erneuerung heraufbeschwört. Das Zeitalter der Französischen Revolution kommt da abschließend zum Vorschein und liefert damit eine neue brisante Metaphorik für eine Kritik am Zeitgeist der Gegenwart, womit nicht zuletzt das Projekt der Aufklärung zur Selbsterneuerung und zu neuer Energie angestachelt wird: „Da war ein Rosenhain die états généraux der Menschheit, Damon hieß der Staatsmann der Schönen und ein Kuß war ihr Contract social“.126 Die Arbeit an der Tugend im Sinne einer Neuentdeckung ihrer ursprünglichen lebensbefördernden Bedeutung fügt sich nahtlos in ein zeitkritisches Projekt ein, das jedoch bei aller Kritik einen gewissen Grundoptimismus nicht preisgeben will. Die grünende Pflanze im Frühling oder der schmunzelnde Jüngling in der ihn umhegenden Natur sind rekurrierende Sinnbilder eines solchen wohltemperierten Optimismus, „O Menschen, mildert den traurigen Ernst! Kehrt, so viel ihr könt, zur Blüte und zur Jugend zurück“ – dieser Aufruf beendet die kleine Schrift im Neuen deutschen Museum.127 Mit der antiken ovidischen Bedeutung von „virtus“ nun im Hinterkopf wird es vermutlich nicht allzu schwerfallen, hinter jener Einladung, zurück zur Blüte und zur Jugend zu gehen, die sanfte Aufforderung zur Einübung einer Form von Tugend zu erblicken, die in erster Linie Kraft und Lebensfreude bedeutet. Tugend bedeutet dabei schöpferische Lebenserhöhung und übernimmt eine neue Funktion in der geistigen Energiewirtschaft der Zeit. Sie ist, um es emphatisch zu sagen, das Tor, durch das man zu höheren Lebensstufen aufsteigt.
125 Ebd., S. 533. 126 Ebd., S. 534. 127 Ebd., S. 535.
Zweites Kapitel Die Revolution der Bürgertugend
Schicksale einer Figur des Politischen um 1794
https://doi.org/10.1515/9783110705782-003
1 Die Stürme der Revolution und der Kompass der Tugend: Facetten eines epochalen Schiffbruchs (mit rhetorisch versierten Zuschauern) Im Hochsommer 1794 erscheint in Altona eine schmale Broschüre, die in unscheinbarer Aufmachung und ohne Verlagsangabe politischen Sprengstoff wie damals vermutlich kaum eine zweite enthält.1 Unter dem Titel Reden von Robespierre, gehalten im Nationalconvent präsentiert ein anonymer Übersetzer2 drei Texte, die zu den Meilensteinen der französischen Revolutionsrhetorik gehören: „Ueber den gegenwärtigen Krieg“3 gibt in deutscher Sprache Robespierres „Réponse au manifeste des rois ligués contre la République“,4 geliefert am 5. Dezember 1793, sowie die damit verbundenen Redebeiträge im Nationalkonvent wieder. Der zweite Text, „Ueber die Grundsätze der revolutionären Regierung“,5 stellt die Übersetzung von Robespierres Rede „Sur les principes du gouvernement révolutionnaire“6 vom 25. Dezember 1793 dar. Der dritte, „Ueber die Prinzipien der innern Regierung“,7 entspricht Robespierres Rede „Sur les principes de morale politique qui doivent guider la Convention nationale dans l’Administration intérieure de la République“ vom 5. Februar 1794.8 Die unpaginierte Vorrede zu den drei deutschen Übersetzungen trägt das Datum vom 25. Juli 1794. Drei Tage später wurden Robespierre, Saint-Just sowie
1 Vgl. Reden von Robespierre, gehalten im Nationalconvent. Altona 1794. 2 Hinter der Anonymität verbirgt sich höchstwahrscheinlich Georg Friedrich Rebmann. Vgl. dazu: Peter Fischer (Hg.): Reden der Französischen Revolution. München 1974, S. 428. Zu Rebmann als Übersetzer der Revolutionsreden siehe außerdem Hedwig Voegt: Robespierres Reden im Spiegel der Publizistik Georg Friedrich Rebmanns. In: Walter Markov (Hg.): Maximilien Robespierre 1758–1794. Beiträge zu seinem 200. Geburtstag. Berlin 1958, S. 505–517. 3 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 1–16. 4 Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X: Discours (5e partie: 27 juillet 1793–27 juillet 1794). Édition préparée sous la direction de Marc Bouloiseau et Albert Soboul. Paris 1952, S. 227f. Zur Rhetorik Robespierres: Albert Mathiez: Robespierre orateur. In: Ders.: Études sur Robespierre. Paris 1958, S. 39–61 sowie im Allgemeinen zur Revolutionsrhetorik: Hans Ulrich Gumbrecht: Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer historischen Textpragmatik. München 1978, bes. S. 98f. Zur Frage der Übersetzung von Bürgertugend: Verf.: L’esercizio della virtù civica. In: Raul Calzoni (Hg.): La circolazione del sapere nei processi traduttivi della lingua letteraria tedesca. Mailand und Udine 2018, S. 79–96. 5 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 17–38. 6 Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X (wie Anm. 4), S. 272–282. 7 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 39–84. 8 Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X (wie Anm. 4), S. 350–367.
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Zweites Kapitel Die Revolution der Bürgertugend
zwanzig weitere ihrer Helfer auf dem ehemaligen Platz der Revolution, heute Place de la Concorde, guillotiniert.9 Die Übersetzung entfaltet also ihre Wirkung in den deutschen Territorien erst nach dem Thermidor. Die sogenannte Schreckensherrschaft gehörte bereits der jüngst vergangenen Zeit an,10 die grauenhaftesten Vermutungen und Verdächtigungen hallten aber noch gewaltig nach und nötigten zum Schweigen: Man erwartete nichts Gutes – Wertungsenthaltsamkeit schien in jeglicher Hinsicht ratsam. Der Übersetzer, ein aufmerksamer und witterungsfeiner Beobachter der erschütternden Zeitereignisse, macht es sich zu seiner Hauptaufgabe, das deutsche Publikum darüber zu informieren, „was im französischen Nationalconvent, der einen so entschiedenen Einfluß auf das Wohl und Wehe des Menschengeschlechts hat und noch mehr haben dürfte, vorgeht“ und insbesondere, „was in demselben von den Männern, die ihrer Seits wiederum den größten Einfluß auf den Convent, und gewissermaßen die Leitung der revolutionistischen Angelegenheiten, und die Regierung des ganzen Staats in Händen haben, […] gesagt wird“.11 Man will also Robespierres politische Hauptreden, die bereits der Konvent „in alle Sprachen“12 übersetzen lassen wollte, im Unterschied zu den meisten Zeitungen und Wochenblättern der Zeit in ihrer Vollständigkeit und möglichst getreu gegenüber dem Originalwortlaut darbieten. Was die höchstbrisanten Inhalte angeht, beansprucht der Übersetzer Neutralität für sich. Größte Behutsamkeit sei dabei geboten: „In Ansehung der Wahrheit oder Falschheit der darin aufgestellten Grundsätze“, so kündigt er in der Vorrede an, „wollen wir dem Publikum nicht mit unserm Urtheile vorgreifen“.13 Erwartung wird erzeugt, dann Beruhigung geboten: Die Übersetzung möchte „keinen Beweis“ darstellen, „weder von den democratischen noch von den aristocratischen Gesinnungen und Grundsätzen des Verlegers oder des Uebersetzers“.14 Es
9 Vgl. Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. München 2014, S. 581. 10 Dazu: Bronislaw Baczko: Comment sortir de la Terreur. Thermidor et la Révolution. Paris 1989, bes. S. 191f. Jean-Jacques Tatin-Gourier: Procès du „philosophisme révolutionnaire“ et retour des Lumières des lendemains de Thermidor à la Restauration. Québec 2008, bes. S. 37f.; Heinz Thoma: Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts (1794–1914). Heidelberg 1976, bes. S. 29f. 11 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), unpaginierte Vorrede [S. iv-v]. 12 Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X (wie Anm. 4), S. 366: „La Convention nationale décrète que le rapport du Comité de salut public sera imprimé, envoyé à toutes les autorités constituées, aux sociétés populaires et aux armées, et traduit dans toutes les langues“. 13 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), unpaginierte Vorrede [S. iii]. 14 Ebd., unpaginierte Vorrede [S. ix].
Die Stürme der Revolution und der Kompass der Tugend
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soll angeblich um eine möglichst neutrale politische Bestandsaufnahme gehen, die sich im Medium der Übersetzung entfaltet. Alle drei übersetzten Texte stammen aus einer äußerst kritischen Phase der Revolution, in der epochale Ereignisse rasch aufeinander folgten.15 Die Macht der Gegenrevolution war in bedrohlichem Anwachsen begriffen. Am 6. Oktober 1793 trat der neue republikanische Kalender mit seinem Dekadensystem in Kraft, die „neue Ära“ begann. Die Levée en masse und die militärischen Leistungen sorgten dafür, dass gegen Ende des Jahres 1793 die äußere Gefahr der Koalition eingedämmt wird.16 Die Regierung wird bis zum Friedensschluss für revolutionär erklärt.17 An der inneren Kriegsfront registriert man eine Reihe von Niederlagen der Aufständischen in der Vendée.18 Hektik herrscht vor: Die führenden Männer des An II (September 1793 bis September 1794, mit dem Höhepunkt des 9. Thermidor/27. Juli) hatten kaum Zeit, über sich selbst und ihr Schicksal nachzudenken. Man hat festgestellt, daß keiner von ihnen Memoiren hinterlassen hat. Von außen betrachtet waren sie schwer kompromittiert. Taine hat sie als Ensemble von Kriminellen
15 Albert Soboul: La Révolution française. Nouvelle édition revue et augmentée du „Précis d’histoire de la Révolution française“. Avec un avant-propos de Claude Mazauric et une bibliographie de l’œuvre d’Albert Soboul par Françoise Brunel. Paris 2003, S. 337: „Subordonnant tout aux exigences de la défense nationale, le Comité de salut publique n’entendait céder ni aux revendications populaires au détriment de l’unité révolutionnaire, ni aux réclamations modérées aux dépens encore de la Terreur qui lui assurait l’obéissance de tous. Mais entre ces exigences contradictoires, où trouver le point d’équilibre? […] Il périt finalement de n’avoir pu retrouver l’appui confiant du peuple, victime de la contradiction qui dès sa formation pesa sur son destin“. 16 R[obert] R[oswell] Palmer: Twelve who ruled. The year of the terror in the French Revolution. Princeton 1941, S. 57: „[Terror] was made necessary by circumstances, but the chief of these circumstances was the internal chaos which the Revolution had produced. It began as a means of defence against the menace of invasion, but invasion was a menace because of the disunity in France“. Ähnlich wird die „Entscheidung“ zum Terror hervorgehoben in: Marisa Linton: Choosing Terror. Virtue, Friendship, and Authenticity in the French Revolution. Oxford 2013, S. 10: „The Terror had two aims: winning the war, and imposing conformity to revolutionary ideology. [It] arose in part from a position of weakness and the lack of authority with which the Jacobins were widely regarded. […] It was contingent, and derived from circumstances, above all war, and civil war, and counter-revolution“. 17 Antoine-Louis de Saint-Just: Rapport sur la nécessité de déclarer le gouvernement révolutionnaire jusqu’à la paix. In: Oeuvres complètes. Hg. v. Michèle Duval. Paris 1984, S. 520–530, bes. S. 522: „Il est impossible que les lois révolutionnaires soient exécutées, si le gouvernement lui-même n’est constitué révolutionnairement“. 18 Vgl. Jean-Clément Martin: Dénombrer les victimes de la Terreur. La Vendée et au-delà. In: Michel Biard u. Hervé Leuwers (Hg.): Visages de la Terreur. L’exception politique de l’an II. Paris 2014, S. 155–165.
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Zweites Kapitel Die Revolution der Bürgertugend
und Monstern geschildert. Die zeitgenössischen deutschen Revolutionsberichterstatter verfahren kaum anders.19
In seiner Rede vom 25. Dezember 1793 rechtfertigt Robespierre im Namen des Wohlfahrtsausschusses die Revolutionspolitik unmittelbar durch den Kriegszustand und konturiert vor dem Nationalkonvent zugleich eine ‚Theorie der revolutionären Regierung‛ von Weltformat,20 wie der außerordentliche Charakter der historischen Lage sie verlange.21 Dies bedeutet zunächst einmal die Aufhebung der wenige Wochen zuvor entworfenen Konstitution.22 Hauptzweck der Revolutionsregierung sei die praktische Gründung der Republik, die Umsetzung des Ideals in tagtägliche Wirklichkeit, und dazu sei eine „activité extraordinaire“ erforderlich, eine „ausserordentliche Thätigkeit, eben darum, weil sie im Kriege ist“.23 Das Wort „énergie“ durchzieht die Mehrheit von Robespierres Redebeiträgen vor dem Konvent in den ersten Monaten des „An II“ der Revolution.24 Aufs Engste 19 Hans-Jürgen Schings: Revolutionsetüden. Würzburg 2012, S. 128. 20 In der Rede „Über die politische Lage der Republik“, von Rebmann ins Deutsche übersetzt, hatte Robespierre das Weltformat der Revolution hervorgehoben: „O! wer von uns fühlt nicht jede Kraft in sich veredelt, wem schlägt nicht das Herz höher, wer glaubt sich nicht über die Menschheit selbst erhaben, wenn er bedenkt, daß es nicht nur ein Volk ist, für welches wir streiten, sondern das Weltall, nicht nur die jeztlebenden Menschen, sondern auch alle die, die noch je werden sollen“. (Neustes Manifest der Frankenrepublik an alle Völker der Welt; oder Bericht des öffentlichen Wohlfahrtsausschusses über die gegenwärtige Lage und Verhältnisse Frankreichs gegen ganz Europa, hauptsächlich gegen die Schweizer Kantone und die vereinigten Staaten von Amerika; nebst einer Enthüllung des tieffsten Planes des englischen Cabinets. Vom Bürger Robespierre. Das wichtigste Aktenstück unserer Zeit. Auf Verordnung des Nationalconvents. [S.I.], [ca. 1793], S. 33f.). 21 Dazu einschlägig, gleichsam im Streitgespräch mit den Thesen François Furets und anderer Geschichtsschreiber: Dan Edelstein: Do We Want a Revolution without Revolution? Reflections on Political Authority. In: French Historical Studies 35/2 (2012), S. 269–289. 22 Dan Edelstein: The Terror of Natural Right. Republicanism, the Cult of Nature, and the French Revolution. Chicago u. London 2009, S. 221: „The revolutionary government was not born under the purest auspices […]: It was an ad hoc solution to a political quandary, namely, the Jacobin fear of losing their majority in a future National Assembly. While it also reflected a natural-republican indifference to constitutionality – the jusnaturalist Declaration of Rights, after all, remained in force – the perpetual postponement of elections appears to have been motivated primarily by political concerns. If the revolutionary government was indeed a stalling tactic, it would not amount to much more than a de facto dictatorship“. 23 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 19; Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X (wie Anm. 4), S. 274. Vgl. François Furet: Revolutionsregierung. In: Ders. u. Mona Ozouf (Hg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution. Band 2. Frankfurt a.M. 1996, S. 864–881. 24 Zur Bedeutung dieses Wortbegriffs in der Spätaufklärung siehe Michel Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières. Paris 1988, bes. S. 455–461.
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damit verbunden ist seine lapidare Definition der Revolution.25 Sie stellt gleichsam eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation dar sowie einen Ausblick auf den erwünschten nächsten Schritt der revolutionären Bewegung: „Die Revolution ist ein Krieg der Freyheit gegen ihre Feinde; die Constitution ist die Regierung der siegreichen und friedlichen Freyheit“.26 Die deutsche Übersetzung folgt weitgehend dem Wortlaut Robespierres, hebt jedoch durch Kursivierungen die zwei einander gegenübergestellten Hauptbegriffe hervor und transformiert den bestimmten Artikel des Originals – „la guerre“ – in einen unbestimmten – „ein Krieg“. Dadurch entfällt nicht zuletzt das Prädikat der Einzigartigkeit, das Robespierre für das revolutionäre Unterfangen reklamiert hatte. Mit rhetorischer Raffinesse weiß Robespierre immer wieder in seinen Reden die kritische Lage der Revolution zu schildern. Dazu bedient er sich konsequent einer Metaphorik, die sich auf Bilder von Seesturm und -not stützt. Deutlich gemacht werden soll in erster Linie der außerordentlich ungewöhnliche Zustand, in dem sich die revolutionäre Regierung befindet. Sie sei „weniger einförmigen und weniger strengen Regeln unterworfen, weil die Umstände, in denen sie sich befindet, stürmisch und veränderlich sind“.27 In der Grundsatzrede vom 5. Februar 1794 spricht Robespierre wiederholt von „so stürmischen Lagen“28 und damit gemeint ist wiederum der „Sturm der Revolution“, der „glücklich überstanden werden“ soll.29 25 Für eine historischen Überblick siehe Reinhart Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 67–86, bes. S. 80: „[A]lle neuzeitlichen Ausprägungen der ,Revolution‘ intendieren räumlich eine Weltrevolution; zeitlich, daß sie permanent bleibt, bis ihre Ziele erreicht sind“. Siehe außerdem David Armitage: Civil wars. A history in ideas. New Haven 2017, S. 148: „After 1789, revolutions in the plural became revolution in the singular. What had been natural, unavoidable, and beyond human control became instead voluntary, calculated, and repeatable. Revolution as an occurrence gave way to revolution as an act. […] In the years after 1789, revolution also developed into an authority in its own right, in whose name political violence could be legitimated. […] These elements constituted a novel conception of revolution as a process by which the world could be made over again“. Besonders erhellend auch Hans-Jürgen Lüsebrink u. Rolf Reichardt: Révolution à la fin du 18e siècle. In: Mots 16 (1988), S. 35–68. 26 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 19; Original: „La Révolution est la guerre de la liberté contre ses ennemis: la Constitution est le régime de la liberté victorieuse et paisible“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 274). 27 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 19; Original: „Il est soumis à des règles moins uniformes et moins rigoureuses, parce que les circonstances où il se trouve sont orageuses et mobiles“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 274). 28 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 39; Original: „circonstances si orageuses“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 351). 29 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 45; Original: „traverser heureusement les orages de la Révolution“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 353).
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Das vorwiegend maritime Wortfeld, auf das sich die Bildlichkeit seiner Argumentation stützt, wird auch in den weiteren Reden stets angereichert und erhält in denselben, wie bereits bei Platon (Republik, IV. Buch, 488b–489a) und traditionell in der katholischen Kirche,30 eine spezifisch nautische Komponente: „Das constitutionelle Schiff ist nicht gebauet worden, um immer auf dem Werfte zu bleiben; aber mußte man es im stärksten Sturme und beym widrigsten Winde ins Wasser lassen?“31 Man achte auf die Formulierungen: Die Syntax ist bei Robespierre besonders aufschlussreich. Das „Aber“ („mais“), das beide Sätze im adversativen Modus verbindet, setzt dem allgemeinen Prinzip, das im ersten Satz formuliert wird (hier: die konstitutionell legitimierte Regierung), eine beschränkende Klausel hinzu, gleichsam einen Ausnahmefall (die „widrigsten Winde“), der dem allgemeinen Prinzip nicht subsumiert werden kann und daher eine ganz andere Vorgehensweise, ja, ganz andere „Regeln“ erfordert.32 Diesen anderen Regeln folgen die Maßnahmen der revolutionären Regierung. Wiederum als Schiff veranschaulicht, muss sie nämlich „sich zwischen zwey Klippen halten, der Schwachheit und der Verwegenheit, dem Moderantismus und der Ausschweifung“.33 Vor dem Hintergrund herkömmlicher Regeln und Konventionen, führt das „Aber“ – zumeist zu Absatzbeginn – das Szenario der Ausnahme ein. Samt ihren Folgen. Wovon sollen also die besonderen Regeln für den außerordentlichen Notfall abgeleitet werden? Der Rückgriff auf Vorbilder der Antike soll für Orientierung
30 Vgl. Eckart Schaefer: Das Staatsschiff. Zur Präzision eines Topos. In: Max Baeumer (Hg.): Toposforschung. Darmstadt 1973, S. 259–292. 31 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 20f.; Original: „Le vaisseau constitutionnel n’a point été construit pour rester toujours dans le chantier; mais falloit-il le lancer à la mer au fort de la tempête, et sous l’influence des vents contraires?“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 275). 32 Diese syntaktische Eigenschaft scheint die Mehrheit von Robespierres Reden um 1793/94 zu kennzeichnen. Über die Dialektik von Regel und Ausnahme bei Robespierre siehe Marcel Gauchet: Robespierre. L’homme qui nous divise le plus. Paris 2018, bes. S. 131–139 („Gouverner la Révolution: la règle et l’exception“). Es würde sich lohnen, das Verhältnis von Robespierres Argumentationsmustern zur Tradition der Kasuistik als Lehre der Ausnahmen näher zu untersuchen. Man denke beispielsweise an folgenden Passus: „Man mißbraucht die heiligsten Grundsätze; der Weisheit der Regierung kömmt es zu, die Umstände zu Rathe zu ziehen, die gehörigen Zeitpunkte zu ergreifen, und die erforderlichen Mittel zu wählen“. In: Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 50; Original: „On abuse des principes les plus sacrés; c’est à la sagesse du gouvernement à consulter les circonstances, à saisir les momens, à choisir les moyens“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 354). 33 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 22; Original: „Il doit voguer entre deux écueils, la foiblesse et la témérité, le modérantisme et l’excès“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 275).
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sorgen, denn sie stellen für die führende Revolutionselite eine Fundgrube von idealisierten Modellen strategischer Intelligenz unter erschwerten Bedingungen dar. Darüber ist sehr viel geschrieben worden.34 Mit Plutarch und Rousseau35 im Hinterkopf führt Robespierre in seiner Rede zunächst ein altgriechisches Exempel an. Gefahndet wird nach einem heroischen Ethos, das die politische Praxis der Gegenwart steuern soll. Es geht also nicht um erstarrte Gelehrtenerinnerungen, sondern gleichsam um Gebrauchsanweisungen für revolutionäre Tugend. Sie sollen die Hoffnung nähren und die Praxis leiten.36 Von den Bildern der antiken Helden werden konsequent deutliche Auskünfte abgelesen. Darin sucht man vor allem Tugend in verdichteter Form, antike Tugendpräparate für moderne Angelegenheiten. Dass es sich dabei um verwegene Vergleiche handeln könnte, sei grundsätzlich ausgeschlossen. Das Gefühl der Bewunderung,37 das Robespierres Umgang mit Ikonen der Antike charakterisiert, tilgt jedwede Tendenz zur historisierenden Kontextualisierung. Von Größenun34 Zur Bedeutung der Antike in Robespierres Reden siehe die klassische Studie von Claude Mossé: L’Antiquité dans la Révolution française. Paris 1989, bes. S. 121 u. 124: „si l’on s’efforce de regrouper les nombreuses références à l’Antiquité dans ses discours, il semble qu’on puisse les ordonner autour de trois thèmes principaux: la vertu, l’égalité, la foi religieuse. La vertu des Anciens n’est pas seulement référence obligée. Elle illustre le fait que partout et toujours les hommes vertueux ont été en butte aux sarcasmes de la majorité. […] Quant à la démocratie athénienne qu’il admirait, c’était celle de Solon, de Miltiade et de Thémistocle, et non l’Athènes ‚corrompue‛ du temps de Périclès et de Démosthène“. Für eine Gesamtdarstellung der Problematik bis 1789 siehe Chantal Grell: Le dix-huitième siècle et l’antiquité en France, 1680–1789. Oxford 1995. 35 Dazu einschlägig: Carol Blum: Rousseau and the Republic of virtue. The language of politics in the French Revolution. Ithaca u. London 1986, bes. S. 40–43. 36 Zum Begriff der revolutionären Praxis zwischen Geschichte und philosophischem Idealismus nach wie vor faszinierend: Delio Cantimori: Un parallelo letterario tra Kant e Robespierre. In: Walter Markov (Hg, in Verbindung mit Georges Lefebvre): Maximilien Robespierre. Beiträge zu seinem 200. Geburtstag. Berlin 1958, S. 655–664. 37 Zu dieser zentralen Kategorie im 18. Jahrhundert siehe Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, bes. S. 17: „Die Distanz zwischen dem tragischen Helden und seinem Publikum, ohne die es keine Bewunderung gibt, wird zugunsten einer empathetischen Identifikation (Einfühlung) aufgehoben, die ein auf Affinität beruhendes ,Interesse‘ voraussetzt“. Das Theater als Metapher der politischen Lage war Robespierre alles andere als fremd: „Man möchte sagen, […] daß Frankreich der Schauplatz dieses fürchterlichen Kampfes sey“. In: Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 55; Original: „On diroit que […] la France est le théâtre de cette lutte redoutable“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 356). Zu den Mechanismen der Bewunderung in Ästhetik und Politik siehe ferner Ronald G. Asch u. Michael Butter: Verehrungsgemeinschaften und Regisseure des Charisma. Heroische Figuren und ihr Publikum. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Bewunderer, Verehrer, Zuschauer. Die Helden und ihr Publikum. Würzburg 2016, S. 9–22.
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terschieden ist dabei keine Rede, die langwierigen Abwägungen der Querelle des Anciens et des Modernes erscheinen als ein müßiges Spiel für Privilegierte des Ancien Régimes. Das Identifikationsangebot der Antike geht nun ungebrochen aufs Ganze, verhindert historisch-kritische Distanz (Sparta war eigentlich eine Monarchie)38 und fordert zur sofortigen Intervention auf: Lasset uns unsere Seele zu der Höhe republikanischer Tugenden und der Muster des Alter thums erheben. Themistocles hatte mehr Genie als der alte Feldherr, welcher die Flotte der Griechen anführte. Als dieser, statt aller Antwort auf einen heilsamen Rath, der das Vaterland retten sollte, den Stock aufhob, um ihn zu schlagen, sagte Themistocles: schlage nur, aber höre; und Griechenland triumphierte über Asiens Tyrannen.39
Das Prinzip der Analogie ermöglicht Parallelisierungen und Vergleiche mit der gegenwärtigen Lage.40 Doch damit nicht genug. Robespierre will für sich, seine Gesinnungsgenossen und die ganze Nation die Modelle der Antike substantiell in Anspruch nehmen. Daher seine aemulatio in prallen Worten. Die berühmten Helden der Antike werden als Vorbilder einer Vorgehensweise angeführt, die es blitzartig ermöglicht, neue Handlungswege einzuschlagen, die den meisten als abwegig erscheinen und doch zum Triumph, d.h. zur Rettung des Staats führen. Ein weiteres Exemplum, diesmal altrömischer Herkunft, bekräftigt diese Ansicht:
38 Dazu einschlägig Daniele Di Bartolomeo: Nelle vesti di Clio. L’uso politico della storia nella Rivoluzione francese (1787–1799). Rom 2014, bes. S. 216–226 (über die „Kurzsichtigkeit“ der Jakobiner vor dem historischen Sparta). 39 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 28; Original: „Élevons nous âmes à la hauteur des vertus républicaines et des exemples antiques. Thémistocle avoit plus de génie que le Général lacédémonien qui commandoit la flotte des Grecs : cependant, quand celui-ci, pour réponse à un avis nécessaire qui devoit sauver la patrie, leva son bâton pour le frapper, Thémistocle se contenta de lui répliquer: ,Frappe, mais écoute’, et la Grèce triompha du tyran de l’Asie“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 277). 40 Vgl. Luciano Canfora: La tolérance et la vertu. De l’usage politique de l’analogie. Traduit de l’italien par Denise Fourgous. Paris 1989, bes. S. 37: „il faut considérer la tentative d’expliquer les phénomènes historiques récents en recourant aux grands exemples du passé, avant tout de l’époque classique, comme une forme d’analogie ‚intentionnelle‛, explicative. Ceci s’explique si l’on pense que des analogies avec des phases historiques achevées – dont on connaît clairement l’issue – apparaissent plus convaincantes“. Über die komparative Funktion der Antike siehe außerdem Theo Jung: Zeichen des Verfalls. Göttingen 2012, S. 24: „Die Charakterisierung des eigenen Kulturganzen entlehnt ihre Schärfe nicht zuletzt der Kontrastwirkung einer maßgeblichen, oft stark idealisierten Alternative. Ob explizit oder implizit, bei der Abwertung der eigenen Lebensform werden andere als vorbildlich inszeniert“.
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Scipio, der eben so viel Talente als jeder römische Feldherr besaß, machte sich eine Ehre daraus, nachdem er Hannibals und Carthago überwunden hatte, unter den Befehlen seines Feindes zu dienen.41
Robespierre geht offensichtlich auf die Spur von keinen Geringeren als antiken Feldherren und Staatsmännern und ermutigt seine Hörer bzw. Leser dazu, ihrem Beispiel nachzueifern. In ihrer Fähigkeit, eine widrige oder gar aussichtslose Situation durch von üblichen Verhaltensregeln abweichende Maßnahmen in eine positive umzuwandeln, erblickt er die Wurzel jeder eigentlichen Tugend. Um konkret wirken zu können, muss solche Tugend gleichsam als ,inkarniert‘ erscheinen42 und dabei als strukturierendes Prinzip erfolgreicher Lebens- und Staatsführung gut erkennbar sein. Der Körper der Antike wird dogmatisch. Das enthemmte Lob für sie kennt keine rhetorischen Grenzen, die Vokative häufen sich, die rhetorischen Fragen ebenfalls: O Tugend großer Männer! was sind alle Bewegungen und alle Ansprüche kleiner Seelen gegen dich? O Tugend! Bist du weniger nothwendig, um eine Republik zu gründen, als sie im Frieden zu regieren?43
Der Lobgesang der Tugend, hier als Kollektivsingular angehimmelt, erhebt sich fast ins Dithyrambische. Herausgestellt wird insbesondere ihr ursprünglicher, robuster, ja kraftvoller Charakter, und dies trägt nicht unwesentlich dazu bei, sie eine zentrale Stellung in der argumentativen Architektur der Rede einnehmen zu lassen. Der Bezug auf die Gegenwart wird dabei explizit: „[D]ie Republik hat nur die Tugenden auf ihrer Seite. Die Tugenden sind einfach, bescheiden, arm, oft unwissend, zuweilen ungeschliffen; sie sind das Eigenthum der Unglücklichen, und das Erbtheil des Volkes“.44
41 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 28; Original: „Scipion valoit bien un autre général romain: Scipion, après avoir vaincu Annibal et Carthage, se fit une gloire de servir sous les ordres de son ennemi“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 277). 42 Dazu vgl. Patrice Gueniffey: La politique de la Terreur. Essai sur la violence révolutionnaire 1789–1794. Paris 2000, bes. S. 313: „la preuve de la vertu exige en effet qu’il existe une autorité habilitée à en définir le contenu, et cette autorité peut même n’appartenir qu’à un seul: la vertu, notion vague et susceptible de bien des définitions, doit s’incarner“. 43 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 28; Original: „O vertu des grands cœurs! que sont devant toi toutes les agitations de l’orgueil et toutes les prétentions des petites âmes? O vertu, es-tu moins nécessaire pour fonder une République, que pour la gouverner dans la paix?“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 277). 44 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 29; Original: „La République n’a pour elle que les vertus. Les vertus sont simples, modestes, pauvres, souvent ignorantes, quelquefois grossières;
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Die Verbindung zwischen Tugend und Kraft erweist sich dabei als ein „Compaß“ mitten in den Stürmen der Revolution, der Leidenschaften und der Verschwörungen.45 Die Metapher ergänzt das Wortfeld der Navigation und stellt einen Ausweg aus der Krise in Aussicht oder, wie es noch heißt, einen Probierstein, an welchem Ihr alle eure Gesetze, und alle Vorschläge, die man euch macht, prüfen könnet. Ihr werdet künftig, wenn Ihr sie mit jenem Princip vergleichet, die gewöhnliche Klippe großer Versammlungen, nemlich [sic] die Gefahr der Ueberraschung, und des Entschlusses zu übereilten unzusammenhängenden und einander zuwiderlaufenden Maßregeln, vermeiden.46
Der rhetorische Aufwand könnte größer kaum sein. Robespierre ist darum bemüht, überzeugende Bilder zu finden, die seine Vorstellung von Tugend adäquat wiedergeben können. Auf der Tugend basiert nämlich der politische Entwurf „von einer genauen Theorie und bestimmten Regeln des Betragens“,47 die den Übergang zur realisierten Demokratie steuern soll. Die „Entwickelung der Tugend“48 bildet für ihn daher die erste Regel politischen Verhaltens in Zeiten der Revolution. Sie rückt dadurch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und erhält eine außerordentliche Brisanz als Kategorie des Politischen. Wie Albert Mathiez festhielt, „ist für Robespierre wie für die Philosophen des 18. Jahrhunderts die Politik nur ein Zweig der Moral, sie ist Moral in Aktion“.49 Der Rekurs auf die polielles sont l’apanage des malheureux, et le patrimoine du peuple“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 278). 45 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 50; Original: „boussole“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 355). 46 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 50; Original: „Vous avez la pierre de touche par laquelle vous pouvez essayer toutes vos lois, toutes les propositions qui vous sont faites. En les comparant sans cesse avec ce principe, vous pouvez désormais éviter l’écueil ordinaire des grandes assemblées, le danger des surprises et des mesures précipitées, incohérentes et contradictoires“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 355). 47 Reden von Robespierre (wie Anm. 154), S. 39; Original: „par une théorie exacte et des règles précises de conduite“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 157, S. 351). 48 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 48; Original: „le développement de la vertu“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 354). 49 Albert Mathiez: Études sur Robespierre (1758–1794). Préface de Georges Lefebvre. Paris 1958, S. 167f.: „Pour Robespierre comme pour les philosophes du XVIIIe siècle, la politique n’est qu’une branche de la morale, qu’une morale en action“. Zur Untermauerung der These zitiert Mathiez folgenden Passus von Robespierre: „Le fondement unique de la société civile, c’est la morale! […] L’immoralité est la base du despotisme, comme la vertu est l’essence de la République“ (Ebd., S. 168; Übers.: „Die einzige Grundlage der Zivilgesellschaft ist die Moral! [...] Unmoral ist die Basis des Despotismus so wie die Tugend das Wesen der Republik ist“). Über die Pflanzenmetaphorik im politischen Kontext siehe Giulia Delogu: The political functions of virtue in the Eighteenthcentury Italian debate. In: History of European Ideas 2017, S. 1–16, bes. S. 1: „Eighteenth-century
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tische Signifikanz tugendhaften Verhaltens samt seinem energetischen Potential gilt immer mehr als Rechtfertigung einer radikalen Handlungsweise und dementsprechend einer Notstandsgesetzgebung, die den Gegenstand offener Debatten und Auseinandersetzungen bis in unsere Gegenwart hinein gebildet hat.50
theorists agreed with the affirmation of Ludovico Antonio Muratori that virtue is a ,noble tree‘, but there was no consensus as to its species“. 50 Siehe beispielsweise Gauchet: Robespierre (wie. Anm. 32), bes. S. 181–196; Donatella Di Cesare: Terrore e modernità. Turin 2017, bes. S. 64–68; Sophie Wahnich: La liberté ou la mort. Essai sur la Terreur et le terrorisme. Paris 2003, bes. S. 70–75; Remo Bodei: Geometria delle passioni. Paura, speranza, felicità: filosofia e uso politico. Mailand 2003, S. 389f.; Canfora: La tolérance (wie Anm. 40), bes. S. 93–111.
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2 Welche Tugend? Die Tugend sei also an der Tagesordnung. Republikanische Bürgertugend. Oder, um es direkt mit Robespierre zu sagen, „die öffentliche Tugend, welche in Griechenland und Rom so viele Wunder erzeugte, und im republikanischen Frankreich noch weit erstaunlichere hervorbringen muß“.51 Unverkennbare Züge heroischen Stoizismus haften dieser Vorstellung an.52 Der Tugendbegriff wird in derselben Grundsatzrede vom 5. Februar 1794 näher präzisiert: Robespierre beruft sich auf die „Tugend, welche nichts anders als die Liebe zum Vaterlande und zu den Gesetzen desselben ist“.53 Sie sei daher das „Fundamental-Princip der democratischen oder populären Verfassung, daß heißt, die wesentliche Triebfeder, welche sie erhält, und in Bewegung setzt“.54 Poetischer und drastischer formuliert: „Die Tugend ist nicht nur die Seele der Democratie; sie kann auch nur in dieser Regierungsform bestehen“.55 Fundamentalprinzip, wesentliche Triebfeder, Seele der Demokratie – die ausgewählte Terminologie lässt keinen Zweifel daran, dass Robespierre hier still51 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 46; Original: „je parle de la vertu publique qui opéra tant de prodiges dans la Grèce et dans Rome, et qui doit en produire de bien plus étonnans dans la France républicaine“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 353). In Louis de Jaucourts Encyclopédie-Artikel über die „Vertu“ heißt es: „C’est par les mœurs qu’Athènes, Rome, Lacédémone ont étonné l’univers, ces prodiges de vertu que nous admirons sans les sentir“. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts, et des Métiers. Tome XVII. Neufchastel 1765, S. 176–185, hier S. 178. Zum Republikanismus grundlegend: Franco Venturi: Pagine repubblicane. a cura di Manuela Albertone. Con un saggio introduttivo di Bronisław Baczko Turin 2004. 52 Zu dieser Tradition siehe Barbara Beßlich: Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution. In: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Band 1. Berlin u. New York 2008, S. 365–392. 53 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 46; Original: „de cette vertu qui n’est autre chose que l’amour de la patrie et de ses lois“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 353). Zu den lexikalischen Belegen von „Tugend“ bei Robespierre vgl. Annie Geffroy: Le mot „vertu“ chez Robespierre. In: Michel Biard u.a. (Hg.): Vertu et politique. Les pratiques des législateurs (1789–2014). Rennes 2015, S. 413–417 sowie, zu den Lemmata ,vertus publiques‘ und ,vertus républicaines‘, Cesare Vetter, Marco Marin u. Elisabetta Gon (Hg.): Dictionnaire Robespierre. Lexicométrie et usages langagiers. Outils pour une histoire du lexique de l’Incorruptible. Tome I. Triest 2015, S. 547–549. 54 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 46; Original: „le principe fondamental du gouvernement démocratique ou populaire, c’est-à-dire le ressort essentiel qui le soutien et qui le fait mouvoir […]“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 353). 55 Ebd., S. 47; Original: „Non-seulement la vertu est l’âme de la démocratie ; mais elle ne peut exister que dans ce gouvernement“. (Ebd., S. 353).
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schweigend Grundgedanken aus Montesquieus L’esprit des lois einarbeitet.56 In einem ebenso knappen wie begrifflich dichten „Avertissement de l’Auteur“, der in den zeitgenössischen Übersetzungen nicht widergegeben ist, hatte Montesquieu klar definiert, was er mit dem Wort „vertu“ in seinem Werk meint. In Bezug auf die republikanischen Regierungsformen präsentiert er sie wie folgt: [W]as ich als Tugend der Republik bezeichnet habe, ist die Liebe zum Vaterland, das heißt die Liebe zur Gleichheit. Damit gemeint ist weder eine moralische Tugend noch eine christliche Tugend, sondern die politische Tugend; und sie ist die Triebfeder, die die republikanische Regierung antreibt.57
Als erhaltendes und bewegendes Prinzip eines politischen Gebildes erscheint hier die Tugend als eine Kraft, oder genauer: als die entscheidende Spannkraft, die eine vitale Funktion erfüllt. Eine solche Vorstellung war in staatstheoretischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts weit verbreitet. Nach Gottfried Achenwall beispielsweise seien „der Patriotismus und die politische oder bürgerliche Tugend“ gleichsam die „Grundsäulen der Erhaltung der Regierungsform und Grundverfassung eines Staats“,58 sie stellen geradezu die „Triebfedern“ dar, „welche den Staat vorzüglich würksam machen“.59 Ähnlich befand Johann Gottlob von Justi, wiederum in Anlehnung an Montesquieu: „Die Tugend, auf welche die eigentliche und beste Kraft der Gesetze ankommt, ist nicht die moralische, sondern die politische, oder bürgerliche Tugend“.60 Besonders hervorgehoben wird dabei die Verbindung zwischen Bürgertugend und Tätigkeit: „Die Tugend ist die erste und allgemeine Triebfeder aller Staaten; und die wahre Thätigkeit und Stärke eines 56 Einschlägig dazu: Céline Spector: La vertu politique comme principe de la démocratie. Robespierre lecteur de Montesquieu. In: Michel Biard u.a. (Hg.): Vertu et politique (wie Anm. 53), S. 61– 70. Zu Montesquieu und der Tugend siehe Marco Platania: Montesquieu e la virtù. Rappresentazioni della Francia di Ancien Régime e dei governi repubblicani. Turin 2007, bes. S. 203–212 sowie Bertrand Binoche: Introduction à De l’esprit des lois de Montesquieu. Paris 2015, bes. S. 133–141. 57 Montesquieu: De l’esprit des lois. In: Ders.: Œuvres complètes. Texte présenté et annoté par Roger Caillois. Vol. 2. Paris 1951, S. 227: „[c]e que j’appelle la vertu dans la république est l’amour de la patrie, c’est-à-dire l’amour de l’égalité. Ce n’est point une vertu morale, ni une vertu chrétienne, c’est la vertu politique; et celle-ci est le ressort qui fait mouvoir le gouvernement républicain […]“. 58 Gottfried Achenwall: Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen. Göttingen 1761, S. 55 (§ 19). 59 Ebd., S. 55 (§ 20). 60 Ebd., S. 287 (§ 175). Zum Bild der Triebfeder vgl. Stefanie Buchenau: Trieb, Antrieb, Triebfeder dans la philosophie morale prékantienne. In: Revue germanique internationale 18 (2002), S. 11– 24. Historiographiegeschichtlich grundlegend: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, S. 316–320.
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Staats kommt hauptsächlich darauf an“.61 Es sei ferner die Tugend allein, „welche die Selbstliebe der Menschen und die daraus entspringenden Leidenschaften in gerechten Schranken halten und vor allen der Wohlfahrt des Staats nachtheiligen Ausschweifungen bewahren“.62 Robespierre spricht von einer „Kraft der Seele“ und hebt damit ihre energetische Komponente hervor. Das Motiv der Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft erhält in seiner Rede eine erneute politische Relevanz und Brisanz. Als Basis demokratischer Lebensgestaltung werden solcher „Kraft der Seele“63 höchste Prädikate zuteil, die dazu beitragen, ihr Wesen und ihre politischen Implikationen näher zu konturieren. „Dieses erhabene Gefühl“, so Robespierre weiter, setze nämlich das „Vermögen“ voraus, „das allgemeine Interesse allem Privatinteresse vorzuziehen“. Und in solchem Vorziehen bestehe der Kraftquell „alle[r] andere[n] Tugenden“.64 Bei Montesquieu (Buch IV, Kapitel 5) heißt es beinahe identisch: Man kann diese Tugend durch die Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterlande beschreiben. Da diese Liebe ein beständiges Vorziehen des öffentlichen Nutzens vor seinem eignen erfordert, so ertheilet sie alle einzel[n]e Tugenden; sie sind nichts anders, als dieses Vorziehen.65
Die Tugend muss nach Robespierre aktiviert bzw. mobilisiert werden und als Abwehrkraft in den Dienst des republikanischen Projekts treten. Indem sie nun „auf die härteste Probe“66 gestellt wird, erweist sie sich als ein Verjüngungsfaktor im kollektiven Leben der Nation; ihre Kraft stimuliert den Freiheitsdurst der Bürger und führt sie zum Aufstand. Sie wirkt geradezu als kraftvolles Heilmittel gegen die Übel, die die Nation überfallen haben:
61 Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle aller Gesetze, abgehandelt. Berlin, Stettin u. Leipzig 1760, S. 286 (§ 174). 62 Ebd., S. 180 (§ 103). 63 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 47; Original: „force de l’âme“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 353). 64 Ebd., S. 46; Original: „ce sentiment sublime suppose la préférence de l’intérêt public à tous les intérêts particuliers; d’où il résulte que l’amour de la patrie suppose encore ou produit toutes les vertus“. (Ebd., S. 353). 65 Des Herrn von Montesquieu Werk vom Geist der Gesetze. Nach der neuesten und vermehrten Auflage aus dem Französischen übersetzt und mit vielen Anmerkungen versehen. Erster Band. Altenburg 1782, S. 54; Original: „On peut définir cette vertu, l’amour des lois et de la patrie. Cet amour, demandant une préférence continuelle de l’intérêt public au sien propre, donne toutes les vertus particulières; elles ne sont que cette préférence“. In: Montesquieu: De l’esprit des lois (wie Anm. 57), S. 267. 66 Neuestes Manifest der Frankenrepublik (wie Anm. 20), S. 38.
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Eine solche innere Lage muß euch alle eure Aufmerksamkeit zu verdienen scheinen, wenn Ihr bedenkt, daß Ihr zu gleicher Zeit die Tyrannen von Europa zu bekämpfen, und zwölfmahl hundert tausend Mann unter den Waffen zu unterhalten habet; und daß die Regierung durch Thätigkeit und Wachsamkeit, alle sie Uebel wieder gut zu machen verpflichtet ist, welche die unzählbare Menge unserer Feinde, uns im Laufe von fünf Jahren bereitet hat. Was ist das Mittel gegen alle diese Uebel? Wir kennen keine anderes, als die Entwickelung der allgemeinen Triebfeder der Republik, nehmlich der Tugend.67
Als Motor anthropologischer Regeneration agiert die „republikanische Tugend“ geradezu wie eine Wundermacht, die Außerordentliches bewirken kann. Mit glänzender Sprachkraft weiß Robespierre ein solches wundersames Erwachen der Menschheit zu schildern. Es kommt zustande, wenn […] ein Volk durch ausserordentliche Anstrengungen des Muthes und der Vernunft, die Ketten des Despotismus zerbricht, um daraus Trophäen der Freyheit zu machen; wenn es, vermöge seines moralischen Temperaments, gewissermassen den Armen des Todes entschlüpft, und alle Kräfte der Jugend wieder erlangt […].68
In der Präpositionalergänzung „vermöge seines moralischen Temperaments“ verdichtet sich die Idee einer Tugendenergie, die als Triebfeder emanzipativen Handelns dient. Die revolutionäre Tugend Robespierres strebt eine neue politische Ordnung an und versteht sich als eine Macht der Natur im Dienst des „salut du peuple“. Wieder stellt ein verschwiegenes Spiel mit der Intertextualität eine wichtige Ressource zur bewegenden Veranschaulichung moralisch-politischer Sachverhalte dar. Der Gewährsmann ist diesmal Rousseau, der im Zweiten Buch seines Contrat social über das Volk und die Kräfte der Jugend schrieb: [Es gibt] Epochen, wo der Abscheu vor dem Vergangenen die Stelle der Vergessenheit ersetzt, und wo der Staat, durch Bürgerkriege in Brand gesetzt, gleichsam aus seiner Asche
67 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 76; Original: „Une telle situation intérieure doit vous paroître digne de toute votre attention, sur-tout si vous réfléchissez que vous avez en même temps les tyrans de l’Europe à combattre, douze cent mille hommes sous les armes à entretenir, et que le gouvernement est obligé de réparer continuellement, à force d’énergie et de vigilance, tous les maux que la multitude innombrable de nos ennemis nous a préparés pendant le cours de cinq ans. Quel est le remède de tous ces maux? Nous n’en connoissons point d’autre que le développement de ce ressort général de la République, la vertu“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 364). 68 Ebd., S. 52; Original: „[…] lorsque, par des efforts prodigieux de courage et de raison, un peuple brise les chaînes du despotisme, pour en faire des trophées à la liberté ; lorsque par la force de son tempérament moral, il sort, en quelque sorte, des bras de la mort pour reprendre toute la vigueur de la jeunesse […]“. (Ebd., S. 355).
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wiedergeboren wird und kaum aus den Armen des Todes hervorgegangen die volle Kraft seiner Jugend wiedergewinnt.69
Diese Kraft der Tugend als Kraft der Jugend erhält bei Robespierre eine ausgeprägt magische Qualität. Immer wieder ist nämlich die Rede von den „Wundern“ der Tugend: Als Ausnahmeerscheinungen schlechthin stellen sie eine Alternative zum dominierenden Regelsystem dar. Das Wunder markiert eine Unterbrechung im erwartbaren Verlauf der Ereignisse. Robespierre verweist explizit auf die „immerwährenden, durch die Tugend eines großen Volkes bewirkten Wunder“.70 Die religiöse Vorstellungswelt der Mirakel gewinnt hier, im Zeichen republikanischen Civismus, eine rein säkulare Färbung.71 Das Hauptwunder der Tugend ist die Ausnahme, die die Rettung der Republik noch ermöglichen kann. Und noch einmal signalisiert ein adversatives „Aber“ die Macht und die Notwendigkeit der Ausnahme, ihren angeblich legitimen Vorrang angesichts der Krisenumstände. In der Tugend liegt die letzte Hoffnung: Hier würde die ganze Entwickelung unserer Theorie geendiget seyn, wenn Ihr das Schiff der Republik bloß in der friedlichen Ruhe zu leiten hättet; aber der Sturm brüllt, und der Revolutionszustand, in welchem Ihr euch befindet, schreibt euch eine andere Laufbahn vor.72
Wie diese „andere Laufbahn“ aussehen soll, erläutert Robespierre in einem berühmt-berüchtigten Absatz, der mit der Präzision einer geometrischen Demonstration eine besondere Erscheinungsform der Tugend ins Leben ruft. Die besonders schwierige Situation erfordert gleichsam eine potenzierte Tugend, ein Supplement derselben, und dies sucht Robespierre in einem beispiellosen Bündnis,
69 J[ean] J[acques] Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. Vierte Auflage. Leipzig 1862, S. 36f. Original: „il ne se trouve quelquefois dans la durée de États des époques violentes, où les révolutions font sur les peuples ce que certaines crises font sur les individus, où l’horreur du passé tient lieu d’oubli, & où l’État, embrasé par les guerres civiles, renaît, pour ainsi dire, de sa cendre, & reprend la vigueur de la jeunesse en sortant des bras de la mort“. (Ders.: Du Contrat social, ou Principes du Droit politique. Amsterdam 1762, S. 72). 70 Ebd., S. 73; Original: „aux miracles continuels opérés par la vertu d’un grand peuple“. (Ebd., S. 363). 71 Zum Säkularisierungsschub in der Französischen Revolution grundlegend: Carlo Ginzburg: David, Marat. Arte politica religione. In: Ders.: Paura reverenza terrore. Cinque saggi di iconografia politica. Mailand 2015, S. 81–114. 72 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 54; Original: „Ici se borneroit tout le développement de notre théorie, si vous n’aviez qu’à gouverner dans le calme le vaisseau de la République: mais la tempête gronde; et l’état de révolution ou vous êtes vous impose une autre tâche“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 356).
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in einer „alliance inouïe“73 der Tugend mit der „Terreur“, dem „Schrecken“, wie es im Deutschen des späten 18. Jahrhunderts hieß: So wie im Frieden die Triebfeder der Volksregierung die Tugend ist, so ist es in einer Revolution die Tugend und der Schrecken zugleich; die Tugend, ohne welche der Schrecken traurig, der Schrecken, ohne den die Tugend unmächtig ist. Der Schrecken ist nichts anders, als eine schleunige, strenge und unbiegsame Gerechtigkeit; er fließt also aus der Tugend; er ist also nicht ein besonderes Princip, sondern eine Folge aus dem Hauptprincip der Democratie, auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes angewendet.74
Die Passage stützt sich syntaktisch auf eine Reihe von Parallelstrukturen und -ausdrücken, die immer wieder zwei Szenarien einander entgegenstellen. Tugendhafter Schrecken sei in den Krisenzeiten der Revolution nicht nur notwendig, sondern als besondere Form von Gerechtigkeit legitim.75 Tugend und Terror gehören dabei zusammen. Das ‚Zugleich‛ indiziert solche begriffliche Zusammengehörigkeit, auf die es bei Robespierre ankommt. Begriffsgeschichtlich operiert er auch hier mit Termini, die auf Montesquieu zurückgehen. Denn nicht nur die Tugend, sondern auch der Schrecken war für Montesquieu ein politisches Prinzip, nämlich einer jeden Despotie. Robespierres Rückgriff auf Montesquieu erfolgt dabei jedoch mit größtem Innovationswillen – und diese Operation wird als eine begriffliche Kombination präsentiert. Neben den Montesquieu-Bezügen, seit langem bekannt, hat man neuerdings auf eine weitere, womöglich noch überraschendere intertextuelle Referenz aufmerksam gemacht, deren Indiz noch einmal in der syntaktischen Struktur und in der Wortwahl von Robespierres Passage zu suchen und zu finden ist. In Robes73 Spector: La vertu politique (wie Anm. 56), S. 69. Siehe ferner Catherine Kintzler: Terreur et vertu. Métaphysique, morale et esthétique au comble du politique. In: Catherine Kintzler u. Hadi Rizk (Hg.): La République et la Terreur. Actes du séminaire organisé par le Collège International de philosophie, novembre 1993–juin 1994. Paris 1995, S. 15–37, hier bes. S. 16: „L’équivalence entre Terreur et Vertu suppose une pensée politique forte, expressément désignée par le terme de Terreur (fait sans pareil dans l’histoire et qui pourrait seul suffire à distinguer la Terreur des terreurs ordinaires). Cette pensée conduit aux tréfond du politique, là où se nouent politique, morale métaphysique et esthétique“. 74 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 56; Original: „Si le ressort du gouvernement populaire dans la paix est la vertu, le ressort du gouvernement populaire en révolution est à la fois la vertu et la terreur: la vertu, sans laquelle la terreur est funeste; la terreur, sans laquelle la vertu est impuissante. La terreur n’est autre chose que la justice prompte, sévère, inflexible; elle est donc une émanation de la vertu; elle est moins un principe particulier, qu’une conséquence du principe général de la démocratie, appliqué aux plus pressans besoins de la patrie“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 357). 75 Dazu vgl. Helmut Kessler: Terreur. Ideologie und Nomenklatur der revolutionären Gewaltanwendung in Frankreich von 1770 bis 1794. München 1973, S. 110f.
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pierres auf Symmetrie aufbauendem Diktum „la vertu, sans laquelle la terreur est funeste; la terreur, sans laquelle la vertu est impuissante“ schimmert nämlich eine Passage aus Blaise Pascals Pensées durch, die folgenden Wortlaut hat: „La justice sans la force est impuissante, la force sans la justice est tyrannique“.76 Konturiert wird dabei die Idee einer Kraft als krátos, die ihr Durchsetzungspotential in den Dienst der Gerechtigkeit stellt und dieser dadurch zum Triumph verhilft. Aus der soeben erwähnten Prämisse folgert nämlich Pascal: „Il faut donc mettre ensemble la justice et la force; et pour cela faire que ce qui est juste soit fort, ou ce qui est fort soit juste“. Bei Robespierre – wir erinnern uns – lautet der begriffliche Kurzschluss: „La terreur n’est autre chose que la justice prompte, sévère, inflexible“. Beide Texte – in denkbar unterschiedlichen Kontexten und mit denkbar unterschiedlichen Absichten – verbinden miteinander, was traditionell unvereinbar war, und präsentieren die neuen Verbindungen als notgedrungene Steigerungen einer moralisch gerechtfertigten Handlungsnotwendigkeit. Was bei Pascal „mettre ensemble“ heißt, heißt bei Robespierre „combiner“. Die Revolution „kombiniert“ – der deutsche Übersetzer zieht das Verb „verbinden“ vor – Namen miteinander, die bei Montesquieu unvereinbar waren (Tugend und Terror) und bei Pascal eine unerwartete Allianz eingingen (Gerechtigkeit und Kraft). Die Schreckenstugend, so Robespierre, erscheint als das „Resultat des Geistes der revolutionären Regierung, verbunden mit den allgemeinen Grundsätzen der Democratie“.77 Bedenkt man, wozu die theoretische Allianz von Tugend und Terror in der Praxis der Schreckensherrschaft führen konnte (die Guillotine als Instrument der Politik), so wird man der historischen Relevanz gewahr, die dem Begriffswort „Tugend“ unter Robespierre zuteilwurde. Die theoretische Begründung und Rechtfertigung des Terrors im Februar 1794 hat man neuerdings auch in der germanistischen Forschung in ihrer problematischen Brisanz wieder in den Vordergrund gerückt. „Die unbeirrbare Begriffsmaschinerie des Doktrinärs“, so heißt es in der einschlägigen Studie von Hans-Jürgen Schings, die das argumentative Verfahren bestens erhellt, läßt Robespierre auch in einer ideologisch schwierigen Situation nicht im Stich. Die Rechtfertigung des Terrors betreibt er als ingeniöses Spiel mit Systematik und Begrifflichkeit Montesquieus. Die „principes“ Montesquieus werden so lange manipuliert, bis sie ins stählerne Gehäuse des Terrorregimes passen. Tugend, vertu, vertu politique, was für Montesquieu 76 Jean-Clément Martin: La Terreur. Vérités et légendes. Paris 2017, S. 44: „Sans préjuger des lectures de Robespierre et de Saint-Just, on ne peut que penser à Blaise Pascal“. 77 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 46; Original: „le résultat de l’esprit du gouvernement révolutionnaire, combiné avec les principes généraux de la démocratie“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 353, Hervorhebung vom Verf.).
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das Lebensprinzip der Demokratie, und zwar das einzige, Terror, terreur, dasjenige despotischer Regierungen. Jetzt aber macht ein entschlossener Einfall das bislang Undenkbare möglich, die Immigration des Terrors in die Republik, die Unterwanderung des republikanischen Grundprinzips durch sein Gegenteil. […] Das Demokratie-Prinzip Tugend geht mit dem Despotie-Prinzip Terror eine Zwangsvereinigung ein, die man nur als ideologische Maskerade bezeichnen kann. Denn natürlich verliert die „Tugend“ in dieser Gefangenschaft, was der „Terror“ gewinnt; die vertu gibt nur noch den Namen, die terreur bleibt, was sie ist und wird obendrein noch legitimiert.78
Die Schreckenstugend bildet de facto die wohl radikalste politische Eskalation der Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft. Im Namen revolutionärer Gerechtigkeit führt Robespierre das Wort Tugend in Territorien, in denen es mit mannhafter Gewalt und erbarmungsloser Strenge gleichbedeutend wird.79 Die abgründige Pointe besteht darin, dass solche Strenge als Höhepunkt republikanischer Moralität in Zeiten der Revolution deklariert wird: Die Unterdrücker der Menschheit bestrafen, ist Gnade; ihnen verzeihen, ist Grausamkeit. Die Strenge der Tyrannen hat nur sich selbst zum Princip; die Strenge der republikanischen Regierung hingegen fließt aus der Wohlthätigkeit.80
Robespierre rechtfertigt die „unvermeidlichen Irrthümer des Civismus“81 in fast missionarischem Hinblick auf den Endzweck der Revolution, und das ist: „der 78 Schings: Revolutionsetüden (wie Anm. 19), S. 130f. 79 Gérald Sfez hat interessanterweise Robespierres besonderes Verständnis von „vertu“ mit Machiavellis vielschichtigem Begriff von „virtù“ in Verbindung gebracht und, in Anlehnung an Hannah Arendts On Revolution (1963), die These vertreten, dass „la virtù cesse d’être contradictoire avec un certain usage de la terreur. Il apparaît bien qu’en pleine conformité avec ces déterminations Machiavel ait mis l’accent sur la nécessité du recours au mal jusqu’à l’emploi de la terreur, et tout particulièrement dans le gouvernement de la république“, vgl. Gérald Sfez: Les langues de la Terreur. In: Catherine Kintzler u. Hadi Rizk (Hg.): La République et la Terreur. Actes du séminaire organisé par le Collège International de philosophie, novembre 1993–juin 1994. Paris 1995, S. 129–159, hier S. 133. Es würde sich lohnen, ausgehend von intertextuellen Erkundungen, das Verhältnis zwischen Robespierre und Machiavelli näher zu untersuchen. Dazu nach wie vor lesenswert: Albert Cherel: La pensée de Machiavel en France. Paris 1935, bes. S. 238, der auf Rousseaus Diktum „le Prince est le livre des républicains“ im Contrat social (III.6) hinweist. Dazu auch Ginzburg: David, Marat (wie Anm. 71), S. 112. Einige interessante Hinweise auf die „contiguïtés“ zwischen Machiavelli und Robespierre in Nizar Ben Saad: Machiavel en France des Lumières à la Révolution. Préface de Michel Delon. Paris 2007, S. 222–236. 80 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 61; Original: „Punir les oppresseurs de l’humanité, c’est clémence; leur pardonner, c’est barbarie. La rigueur des tyrans n’a pour principe que la rigueur: celle du gouvernement républicain part de la bienfaisance“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 359). 81 Ebd., S. 61; Original: „les erreurs inévitables du civisme“. (Ebd., S. 359).
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ruhige Genuß der Freyheit und Gleichheit; die Herrschaft jener ewigen Gerechtigkeit, deren Gesetze nicht in Marmor oder anderm Stein, sondern im Herzen aller Menschen […] geschrieben sind“.82
82 Ebd., S. 42; Original: „Quel est le but où nous tendons ? la jouissance paisible de la liberté et de l’égalité ; le règne de cette justice éternelle, dont les lois ont été gravées, non sur le marbre ou sur la pierre, mais dans les cœurs de tous les hommes […]“. (Ebd., S. 352).
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3 Kritik durch rhetorische Demontage: Sternstunden paradiastolischer Umschreibung Der Wortlaut von Robespierres Rede „Sur les principes de morale politique qui doivent guider la Convention dans l’administration intérieure de la République“ wird am 7. Februar 1794 im Moniteur universel abgedruckt.83 Er findet schnell Eingang auch in die Publikationsorgane der deutschen Presse, insbesondere am Rhein.84 Die meisten Zeitungen, Zeitschriften und Flugblätter bieten allerdings nur kompendiöse Paraphrasen des Originals, obendrein bespickt mit klaren, ablehnenden Stellungnahmen gegenüber ihrem Inhalt.85 Die Verbindung von „Tugend“ und „Schrecken“ sorgt für Empörung und Alarm. Wenige Beispiele mögen hier genügen. Am 13. Februar referiert der Aachener Zuschauer über Robespierres Grundsatzrede und ihre Folgen. Sein Herausgeber Franz Dautzenberg86 nimmt kein Blatt vor den Mund und schreibt: Am 5. d[ieses] M[onats] trat Robespierre, der Diktator der sog. Französischen Republik, im Nationalkonvent auf, um die Mittel vorzutragen, wodurch während der Verfechtung der Revolution gegen die Feinde von außen selbige auch im Innern befestigt werden sollte.87
83 Discours de Robespierre sur les principes de morale politique qui doivent guider la Convention dans l’administration de la république. In: Gazette Nationale ou Le Moniteur Universel 139 (Nonidi 19 Pluviôse, l’an 2e; Vendredi 7 février 1794, vieux style), S. 401–408. Zur Editionsgeschichte siehe Reden von Robespierre (wie Anm. 4), S. 350. 84 Dazu grundlegend: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801. Gesammelt und herausgegeben von Joseph Hansen. Dritter Band: 1794– 1797. Bonn 1935, bes. S. 12*–30*. 85 Für einen informativen Pressespiegel siehe Susanna Böhme-Kuby (Hg.): Das Neueste aus Paris. Deutsche Presseberichte 1789–1795. München 1989, S. 316–362. 86 Siehe dazu Will Hermanns: P. J. Franz Dautzenberg und sein „Aachner Zuschauer“ (Politischer Merkur) 1790–1798. Ein Beitrag zur rheinischen Zeitungskunde, Kulturgeschichte und Geisteshaltung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Aachen 1931. Für eine konzise Charakteristik von Dautzenbergs politischem Credo siehe Joseph Hansen: Einleitung. In: Quellen (wie Anm. 84), S. 13*: „Der von Jugend auf für Rousseau erwärmte Publizist, der sich nach wie vor als ,Philosoph und Menschenfreund‘, als ,philosophischer Weltbürger‘ fühlte, änderte indessen seine Haltung, als einerseits im September 1794 die Franzosen zum zweitenmal seine Vaterstadt besetzten, […] anderseits die Schreckensherrschaft der Jakobiner in Frankreich durch den am 28. Juli 1794 erfolgten Sturz von Robespierre beseitigt erschien. Dem beharrlichen Anhänger der Ideen der Revolution schien jetzt […] die Französische Republik zuverlässige Aussichten auf die Wiederaufnahme eines friedlichen und humanen Programms im Sinne der Ideen von 1789 durch die gemäßigten Republikaner zu bieten“. Eine aktualisierte Darstellung von Dautzenbergs Leben im Lichte neuerer Untersuchungen zur rheinischen Aufklärung wäre ein Desiderat der Forschung. 87 Aachener Zuschauer. Nr. 19 (13. Februar 1794), S. 149, zit. nach: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes (wie Anm. 84), S. 68.
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Es folgt, in Anführungszeichen gesetzt, eine längere Wiedergabe der von Robespierre erläuterten Prinzipien, die bei Dautzenberg folgenden Anfang und folgendes Ende hat: „Es ist Zeit (sagte er), daß wir an Tag legen, wie weit wir gehen wollen, um zum Frieden zu gelangen. […] Unsere Stärke ist in der Erhabenheit unserer Grundsätze, und darum werden uns die Könige nicht besiegen. Man leitet das Volk nur durch die Vernunft und die Feinde des Volks durch Schrecken. Das Ressort der Revolutionen ist daher Tugend und Schrecken“.88
Der Kommentator behält hier das Fremdwort „Ressort“ bei, um die „Triebfeder“ zu bezeichnen. Erblickt wird darin das Kennzeichen nicht nur der französischen Revolution, sondern aller politischen Umwälzungen: „Das Ressort der Revolutionen ist daher Tugend und Schrecken“. Die neuen unerhörten Allianzen von Robespierres Tugend marschieren fortan an der Spitze der politischen Diskurse der jakobinischen Faktion und dienen nicht zuletzt zur Rechtfertigung bestimmter Handlungsweisen, die im Namen der Revolution und im Rahmen einer Notstandsgesetzgebung menschenrechtskonforme Verfahren suspendieren. Stigmatisiert werden von Dautzenberg gleich darauf die „Greue[l] der Revolutionsanarchie“,89 die Gefängnisse seien voll, das Revolutionstribunal reise mit Guillotinen herum. Mit Bitterkeit muss er feststellen: „So werden Tugend und Philosophie und wahre Freiheit ungestraft verunglimpft“.90 Evident erscheint dabei sogleich die Kluft, die sich zwischen aufklärerischem Erbe und konkreter politischer Praxis aufgetan hatte. Tugend bezeichnete für die Spätaufklärung eine neue Humanität, wie man unlängst formuliert hat, „determined to pursue its happiness through the exercise of its rights“.91 Nun erscheint sie geradezu als revolutionäre Notstandsgefährtin des Schreckens.92 Am 11. Februar berichten die Neuwieder Politischen Reden über die Gewalttaten: „Niemals war der Greuel so drohend, und niemals tötete so der Würgeengel. Die Volksvertreter […] sollen die Anführer dieser Unmenschlichkeiten sein“.93 Wenige Tage später, am 16. Februar, bringt auch der Aachener Wahrheitsfreund, ein konservatives und reichstreues Blatt, einen kurzen Auszug aus Robespierres Rede. Mit Entsetzen 88 Ebd., S. 68f. 89 Ebd., S. 69. 90 Ebd. 91 Vincenzo Ferrone: Virtues and Rights of Man from the late Enlightenment to the French Re volution, S. 46–53, hier S. 52. 92 Zur Wahl des Terminus „Schrecken“ und dessen Bedeutung siehe Andreas Musolff: Krieg gegen die Öffentlichkeit: Terrorismus und politischer Sprachgebrauch. Opladen 1996, S. 116–119. 93 Politische Reden. Nr. 6 (11. Februar 1794), unpaginiert, zit. nach: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes (wie Anm. 84), S. 68.
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rückt der dortige Kommentator in seiner paraphrasierenden Vorgehensweise die neue Gestalt der „Tugend“ in den Vordergrund. Die übliche Ressort-Metapher wird durch eine architektonische ersetzt. Von Rücksicht auf das Original kann auch in diesem Fall nicht die Rede sein: Es ist Zeit, sagte Robespierre, daß jeder wisse, daß die jetzige Regierung in Frankreich nur die Sitten des Volks zur Tugend wiedergebären will. Nichts soll unterscheiden als diese einzige Tugend, die das Reich der Freiheit und Gleichheit einführt und jenes der Tyrannen vertilgt. Wir müssen fest und standhaft in unseren Wirkungen sein, und jeder Feind der Revolution muß fühlen, daß der Tod dem ersten Schritte folgt, der zur Empörung gegen unser Werk gewagt wird. Die Vernunft und der Schrecken sind also die Grundpfeiler der Revolution.94
Offensichtlich versucht der Kommentator sinngemäß den Inhalt der Rede wiederzugeben. Die rhetorische Geschliffenheit des Originals wird dabei nicht gewürdigt. Die moralische Verurteilung ist das Hauptziel der Wiedergabe. Es gilt, die politische Botschaft Robespierres als ein absolutes Übel zu vernichten. Über Robespierres Prinzipien der politischen Moral war man also in den deutschen Territorien gut informiert. Im Für und Wider. Die meisten Blätter offerieren detaillierte Berichte über Gräuel und Gewalt. Sie dokumentieren in dichter Abfolge die Eskalation der Schreckenstaten.95 Eine intellektuell ambitioniertere Auseinandersetzung mit dem gedanklichen Horizont von Robespierres Reden war allerdings eher selten zu finden. Eingehende Analysen der Zeitgeschichte und vor allem der programmatischen Prinzipien, die dabei zur Anwendung kamen, verstehen die wenigsten Publizisten zu liefern. Revolutionären Enthusiasmus, gekoppelt mit stilistischer Vortrefflichkeit, zeigt bekanntlich Georg Forster in seinem letzten Werk, den Parisischen Umrissen von 1793–1794, die in den Friedens-Präliminarien Ludwig Ferdinand Hubers erscheinen.96 Im März 1793 von Mainz nach Paris gezogen, tritt Forster in der französischen Hauptstadt als Anwalt der Revolution und insbesondere der revolutionären Regierung auf. Den Standpunkt der Revolutionsführer von 1793/94 nimmt er ohne Bedenken ein und hebt in seinen Umrissen mehrfach die „Kraft“ hervor, die das revolutionäre Unterfangen charakterisiert. „Ich würde sie die echte vim inertiae nennen, wenn ich es mit einem Physiker zu tun hätt; denn einmal überwunden von der Stoßkraft, dürfte
94 Aachener Wahrheitsfreund. Nr. 19 (16. Februar 1794), S. 148, zit. nach: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes (wie Anm. 84), S. 68. 95 Siehe die entsprechenden Auszüge in Böhme-Kuby (Hg.): Das Neueste aus Paris (wie Anm. 238). 96 Dazu Hans-Jürgen Schings: Klassik in Zeiten der Revolution. Würzburg 2017, S. 192–205.
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dennoch in ihr selbst der Grund jener langen Dauer liegen, womit die Revolutionsbewegung so manchen unerfahrnen Beobachter in Erstaunen setzte“.97 Bilder revolutionärer Energie durchziehen Forsters letzte Texte. Herkömmliche Bildspender gehen dabei mit Bildern von überwältigender Naturkraft einher. Von einer „ungeheure[n] Triebfeder“98 ist da die Rede, die „wie eine Schneelawine, mit beschleunigter Geschwindigkeit dahinstürzt, stürzend an Masse gewinnt, und jeden Widerstand auf ihrem Wege vernichtet“.99 Doch damit nicht genug. Die unaufhaltsame Kraft der Revolution entspreche keinem blinden Zufall, sondern sie sei geradezu metaphysisch gerechtfertigt und daher legitim. Forster spricht von einem „Artikel der Theodicee“, nach dem „unsre Revolution, als Werk der Vorsehung, in dem erhabenen Plan ihrer Erziehung des Menschengeschlechts gerade am rechten Orte steht“.100 An der Wortwahl – „Erziehung des Menschengeschlechts“ – darf man Anspielungen auf Lessing ablesen, und der Lessing von Ernst und Falk wird im ersten Umriss auch direkt zitiert, um auf die Grenze hinzuweisen, „wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört“.101 Angesprochen ist damit das brisante und hochproblematische Verhältnis von Civismus und Tugend, insbesondere unter dem Prägestock des Terrors. Der prorevolutionäre Forster hat keine Zweifel: „[D]er Wille des Volks hat seine höchste Beweglichkeit erlangt, und die große Lichtmasse der Vernunft, die immer noch vorhanden ist, wirft ihre Strahlen in der von ihm verstatteten Richtung“.102 Ähnliche enthusiastische Reaktionen findet man in studentischen Kreisen.103 Das Tagebuch als intimes Forum privater Überzeugung ist ihr bevorzugtes Medium. So bietet beispielsweise Ferdinand Benekes Diaristik ein interessantes Beispiel, an dem man ablesen kann, wie sich studentischer Alltag, klassische Lektüren und revolutionäre Begeisterung im Sommer 1794 miteinander verbinden: 97 Georg Forster: Parisische Umrisse. In: Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker. Hg. v. Horst Günther. Band 2: Georg Forster und die deutschen Publizisten. Frankfurt a.M. 1985, S. 601. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 600. Zur Metaphorik: Marita Gilli: L’interprétation du processus révolutionnaire grâce à la métaphore scientifique chez Georg Forster. In: Elena Agazzi (Hg.): Tropen und Metaphern im Gelehrtendiskurs des 18. Jahrhunderts. Hamburg 2011, S. 47–56, bes. S. 55: „[L]a violence se justifie par le but de la révolution qui était de créer un monde meilleur permettant à l’homme la victoire de la vertu sur les passions. Il est persuadé que la Révolution permettra le perfectionnement moral de l’homme“. 100 Forster: Parisische Umrisse (wie Anm. 97), S. 602. 101 Ebd., S. 603. 102 Ebd., S. 601. 103 Dazu vgl. die Zusammenschau von Axel Kuhn u. Jörg Schweigard: Freiheit oder Tod. Die deutsche Studentenbewegung zur Zeit der Französischen Revolution. Köln, Weimar u. Wien 2005.
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[…] Nachmittags war ich bis 4 Uhr im Gartenhause; ich – las Cic. de. Off – !!! Dann zu Hause, – geschrieben – gearbeitet pp. bis 7 Uhr […]. Mit Vergnügen las ich heute Abend die französ: Nachrichten, so falsch, u. unvollst: sie auch seyn mögen, so beweisen sie doch im Durchschnitt dß [sic] sich Convent, Jakobiner, u. Korderliers immer mehr reinigen, u. ihre Hefen von sich geben, u. so glücklichere Zeiten für die Republ. erwartet werden können. Die in ihren Aeusserungen so wüthenden Demokr. u. Sanskulottes sind doch am Ende vermummte Royal. u. Verräther. Der wahre Demokrat geht seinen Gang ohne vielen Spektakel, aber er hält aus – s. z.B. Robertspierre [sic].104
In der subjektiven Wahrnehmung der epochalen Ereignisse gewinnt die Figur Robespierres die Konturen einer nüchternen Ikone, die als Modell einer konsequenten, ja kompromisslosen politischen Gesinnung gelten kann.105 Angesichts derselben Phänomene konnte man allerdings auch in die entgegengesetzte Richtung argumentieren. Ein glänzendes Beispiel dafür findet man in den Schriften von Friedrich Gentz. Während im Pariser Nationalkonvent die Beratungen über den Krieg vonstattengehen und in Preußen unter Friedrich Wilhelm II. das Allgemeine Landrecht in der letzten Redaktionsphase steht, tauscht sich der „Kriegsrath“ Gentz mit Freunden und Kollegen über Zeitgeschichte, Antike und Staatsverfassungen gedanklich aus. Sein Ziel besteht unter anderem darin, „die Fundamentalbegriffe alles politischen Raisonnements mit hohem Ernst zu prüfen, und mit aller Anstrengung, deren er fähig ist, auf’s Reine zu bringen“.106 Bereits im Januar 1792 schreibt ihm Wilhelm von Humboldt: Die Menschen „wollen in Gesellschaft leben“ und in der Gesellschaft fühlen sie das „Bedürfniß gemeinschaftlicher Führung“ – „was verlangt man von der Regierung?“107 An dieser Stelle ruft sich Humboldt zweierlei in Erinnerung: die libertas der altrömischen Republik und Montesquieus Überlegungen in De l’esprit des lois zu den besonderen „Triebfedern“, die das „Band zwischen dem Staat und 104 Ferdinand Beneke: Die Tagebücher. Band I/1: Tagebücher 1792 bis 1795. Im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur herausgegeben von Frank Hatje und Ariane Smith […] unter wissenschaftlicher Beratung von Franklin Kopitzsch. Göttingen 2012, S. 168. 105 Dazu siehe Frank Hatje: Jakobiner, Demokraten, Republikaner? Französische Revolution, Aufklärung und deutsches Bürgertum in den Tagebüchern Ferdinand Benekes. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 24 (2012), S. 29–63. 106 Friedrich Gentz: Ueber politische Freyheit, und das Verhältniß derselben zur Regierung. In: Betrachtungen über die französische Revolution. Nach dem Englischen des Herrn Burke mit einer Einleitung, Anmerkungen und politischen Abhandlungen von Friedrich von Gentz. Zweiter Theil. Dritte Auflage. Braunschweig 1838, S. 1–30, hier S. 5. 107 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. I: Briefe bis zum Beginn der diplomatischen Laufbahn 1781–1802. Bd. 2: Juli 1791–Juni 1795. Hg. u. komment. v. Philip Mattson. Berlin 2015, S. 35.
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der Nation“ befestigen können.108 Bezeichnenderweise übersetzt Humboldt den vertu-Begriff Montesquieus nicht lediglich als „Tugend“, sondern er umschreibt ihn. Seine Version lautet: „reiner Enthusiasmus für die Konstitution“.109 Erste Erscheinungsformen eines postrevolutionären Verfassungspatriotismus zeichnen sich da ab. „Dieser Triebfeder Meister zu werden“, schreibt Humboldt, sei alles andere als einfach, denn „für eine bloße Idee haben sich wohl Philosophen, aber nie Nationen erwärmt“.110 Das Bild der Wärme verweist eindeutig, wie üblich in der Metaphorik der Aufklärung, auf den Bereich der Sinnlichkeit, auf das Herz und damit indirekt auf einen Zuständigkeitsbereich der Ästhetik. Erst wenn der staatlichen Gewalt Grenzen gesetzt werden, kann die Beförderung der Kräfte der Menschen einen authentischen Enthusiasmus für die Verfassung hervorrufen, in der sich jeder Einzelne als freier Mensch und freier Bürger wiedererkennen kann. In jeder ungehinderten „Kraftäußerung“111 verdichte sich, so Humboldt, „das Genie der thätigen Tugend“ und diese entfalte sich dann nach dem klassischen Schema von Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß.112 Man „bewundert“ die „kühne Beharrlichkeit in der Vertheidigung seiner angegriffenen Rechte“, man staunt vor der „weise[n] Mäßigung im Gebrauch der wiedererlangten“, an der „verhältnißmäßigen Mischung“ von „Sinnlichkeit und Vernunft“ erkennt man den „Weisen“.113 Zur Tugend des Weisen gehören aber in erster Linie Kraft und Energie: „Ohne sie wird der Mensch Maschine. Man bewundert, was er thut; man verachtet, was er ist“.114 Diese Tugend im Singular lässt sich nicht unmittelbar als ein Katalog von Pflichten, Anweisungen und Geboten auslegen. Sie scheint vielmehr eine freie Tätigkeit zu bezeichnen, eine Selbsttätigkeit, die dem Bild des „geniessenden“ Menschen dasjenige des „thätigen“ entgegenstellt. Die Tugend soll nicht primär von äußeren, das heißt staatlichen Ansprüchen gelenkt werden, sondern sie erscheint als die besondere Ausprägung eines individuell-selbstgewählten Bildungsideals. „Daher erscheint der also gebildete Mensch in seiner höchs-
108 Ebd., S. 35–37. Zur Bedeutung der Antike in den Diskursen der deutschsprachigen Aufklärung vgl. Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn u. Steffen Martus (Hg.): Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung. Bern u.a. 2016. Zu Montesquieu und dem Prinzip der vertu vgl. Bertrand Binoche: Introduction à De l’esprit des lois de Montesquieu. Paris 2015, S. 132–141 und Platania: Montesquieu e la virtù. Turin 2007, bes. S. 218–224. 109 Humboldt: Briefe I/2 (wie Anm. 107), S. 36. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 33. 112 Joseph Pieper: Das Viergespann. München 1964. 113 Humboldt: Briefe I/2 (wie Anm. 107), S. 32f. 114 Vgl. ebd., S. 27.
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ten Schönheit, wenn er ins praktische Leben tritt“, so formuliert Humboldt das Junktim zwischen Ästhetik und Ethik.115 Seine Reflexion richtet sich in erster Linie an Gentz, der bereits daran ist, sie weiterzuentwickeln.116 Als spitze und elegante Feder der Zeitschrift Minerva,117 herausgegeben von Johann Wilhelm von Archenholz,118 kommentiert er im Frühjahr 1794 eingehend unter anderem Robespierres Grundsatzrede, er übersetzt eigenständig einige „Hauptpuncte“ davon und versieht sie mit einem „prüfenden Commentar“.119 Es ist ein kluger, gewichtiger Aufsatz, vermutlich in wenigen Tagen verfasst und doch mit so leichter Hand geschrieben, dass man ihn nicht zuletzt als Glanzstück begrifflicher Analyse und rhetorischer Kunst ansehen darf. Auf Einladung von Archenholz stellt er eine Antwort, in zwei Teilen, auf einen früheren Artikel der Minerva dar, in dem es unter anderem hieß, „daß es einer werdenden Republik nicht zu verdenken ist, wenn sie Vaterlandsliebe zur ersten Tugend, Mangel derselben zum größten Verbrechen macht; wenn sie immer nur das Wohl des Ganzen vor Augen hat, das Wohl des Einzelnen dem allgemeinen Wohl aufopfert“.120 Archenholz, der über den politischen Stand der Dinge bestens informiert war,121 hatte einige Wochen zuvor außerdem einen anonymen Brief prorevolutionärer Ausrichtung publiziert und ihn mit eigenen Kommentaren versehen, die eine Art ideologisches Gegengewicht darstellen sollten. Auf die Behauptung, die Jakobiner seien „doch die ächten Republikaner, die wahren Volks- und Menschenfreunde und wahre altrömische Tugendhelden“,122
115 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Abt. I, Bd. 1. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1903, S. 97–254, hier S. 165 u. 172. 116 Vgl. ebd., S. 172. 117 Zum biographischen Hintergrund siehe nach wie vor Golo Mann: Friedrich von Gentz. Gegenspieler Napoleons, Vordenker Europas. Frankfurt a.M. 2011, bes. S. 35–58 sowie Harro Zimmermann: Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik. Paderborn 2012, S. 33–68. 118 Dazu siehe Elisa Leonzio: Scrivere la storia, divulgare la storia: Archenholz e la rivista Minerva. In: Simone Messina u. Valeria Ramacciotti (Hg.): Metamorfosi dei Lumi. Vol. 8: L’età della storia. Turin 2016, S. 160–178. 119 Friedrich Gentz: Ueber die Grundprinzipien der jetzigen französischen Verfassung nach Robespierre’s und St. Jüst’s Darstellung derselben. In: Minerva (1794), S. 166–189 u. 232–300, hier S. 169f. 120 Bemerkungen eines Ungenannten über den Aufsatz im November der Minerva S. 321. u. f. den Zustand Frankreichs betreffend. In: Minerva (1794), S. 142–166, hier S. 157f. 121 Vgl. [Johann Wilhelm von Archenholz:] Historische Bemerkungen und Aufschlüsse über die neuesten Begebenheiten in Frankreich. In: Minerva (1793), S. 321–376. 122 Ueber den neuen Zustand Frankreichs. An den Herausgeber. In: Minerva (1794), S. 243–276, hier S. 254f.
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reagiert Archenholz in seinem Kommentar mit einem Katalog der „Jammer-Scenen“, die mit der Terreur zusammenhängen. Ein Beispiel: Was soll man zu dieser selstsamen Aeusserung sagen? Wenn also der vormals herumzihende Collot d’Herbois als Mord Dilettante den poetischen Einfall hat, und als Gesetzgeber ihn in Lyon ausführt, die Menschen in Massen wie tolle Hunde todzuschiessen, oder sie in grossen Gruppen zu ersäufen, wenn diese und andere noch nie von Geschichtsforschern ausgezeichnete Jammer-Scenen den lauten Beyfall von einer Societät erhalten, sol[l]te man denn deren Glieder wohl Menschenfreunde nennen können?123
Der These, „jede Politik ist – glühende Volksliebe und höchst strenge Sittlichkeit“,124 setzt Archenholz einen Vergleich mit der Antike entgegen, der zwar Kontinuitäten einräumt, aber in pejorativem Sinn: „Die neuern Jacobiner kannten den Machthebel eines Tiber und Caracalla und machten daher weißlich den Schrecken (la terreur) zur Tagesordnung“.125 Gentz greift seinerseits direkt zu den französischen Informationsquellen. Den Moniteur bezeichnet er als „das Hauptarchiv der Geschichte der französischen Revolution“.126 Angesichts der flamboyanten Beredsamkeit im Pariser Nationalkonvent setzt er ebenfalls auf die Ressourcen der Rhetorik und insbesondere auf deren Beziehungen zur Modellierung und Propagierung der Tugendsemantik – und dies in einer Zeit, in der er einen allgemeinen Verfall der Wissenschaften festzustellen meint: Philosophie läßt sich zur heillosen Sophisterei herabwürdigen. Geschichte verwandelt sich in ein Magazin mörderischer Waffen für rasende Faktionen. Beredsamkeit sinkt in das Complott, das Büberey mit Wahnsinn schloß, herunter; sie, die das Organ der Vernunft und die Gehülfin der Tugend seyn sollte wird das Sprachrohr wilder Leidenschaften, und die bestochene Dienerin der verworfensten Laster.127
Als Übersetzer arbeitet Gentz „mit allem Schmuck der Beredsamkeit“128 und zeigt sich dabei recht virtuos. Insbesondere durch eine bestimmte Wortstellungsstrategie unterzieht er das Original einem wertenden Verfahren, das zur Kritik dient. Es sei hier auf ein besonders auffallendes Beispiel hingewiesen. Die anthropologische Mutation, die Robespierre für die Zukunft der Französischen Republik her-
123 Ebd., S. 255. 124 Ebd., S. 271f. 125 Ebd., S. 275. 126 Zit. nach Günther Kronenbitter: Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller. Berlin 1994, S. 350. 127 Gentz: Ueber politische Freyheit (wie Anm. 106), S. 4f. 128 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 169.
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aufbeschwört, setzt die Substitution bestimmter Grundelemente im kollektiven Leben der Nation voraus. Das Original hat folgenden Wortlaut: Nous voulons substituer, dans notre pays, la morale à l’égoïsme, la probité à l’honneur, les principes aux usages, les devoirs aux bienséances, l’empire de la raison à la tyrannie de la mode, le mépris du vice au mépris du malheur, la fierté à l’insolence, la grandeur d’âme à la vanité, l’amour de la gloire à l’amour de l’argent, les bonnes gens à la bonne compagnie, le mérite à l’intrigue, le génie au bel esprit, la vérité à l’éclat, le charme du bonheur aux ennuis de la volupté, la grandeur de l’homme à la petitesse des grands, un peuple magnanime, puissant, heureux, à un peuple aimable, frivole et misérable, c’est-à-dire toutes les vertus et tous les miracles de la République, à tous les vices et à tous les ridicules de la monarchie.129
Die Passage soll den Austauschprozess darstellen, den die Revolution hervorbringt. Die alten Werte der Monarchie sollen den neuen Werten der Republik weichen.130 Laster und Torheiten der Vergangenheit sollen durch die Tugend und ihre Wunder ersetzt werden. Diese Dynamik schlägt sich augenfällig auch im Satzbau nieder. Auf Parallelstrukturen gestützt, entsteht dabei eine Reihe von Gegenüberstellungen, bei denen – syntaktisch betrachtet – auf das durchzusetzende Neue das wegzuräumende Alte folgt: „subsituer […] la morale à l’égoïsme, la probité à l’honneur, les principes aux usages“, usw.
129 Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X (wie Anm. 4), S. 352. Übersetzung (wie Anm. 1), S. 343: „Wir wollen in unserm Lande den Egoismus gegen die Moralität vertauschen; die Ehre gegen die Redlichkeit; die Gebräuche gegen die Grundsätze; die Manieren gegen die Pflichten; die Tyrannei der Mode gegen die Herrschaft der Vernunft; die Verachtung des Unglücks gegen die Verachtung des Lasters; den Übermut gegen den Stolz; die Eitelkeit gegen die Seelengröße; die Liebe zum Geld gegen die Liebe zum Ruhme; die gute Gesellschaft gegen die guten Menschen; die Kabale gegen das Verdienst; die Schöngeisterei gegen das wahre Genie; den Schein gegen die Wahrheit; den Überdruß der Wollust gegen den Reiz der Glückseligkeit; die Kleinheit der Großen gegen die Größe des Menschen; ein liebenswürdiges, leichtsinniges und elendes Volk gegen ein edelmütiges, mächtiges und glückliches; mit einem Wort, alle Laster und alle Torheiten der Monarchie gegen alle Tugenden und alle Wunder der Republik.“ 130 Dazu Schings: Revolutionsetüden (wie Anm. 19), S. 142: „Die alten ,ritterlichen‘ Tugenden, zur Abdankung gezwungen, machen neuen, ,bürgerlichen‘ Aufsteigern Platz, die alle Errungenschaften der Aufklärung für sich beanspruchen: Moral, Vernunft, Wahrheit, Glück. Abweichler werden nicht geduldet“. Zu den intertextuellen Bezügen dieser Rede siehe Peter McFee: Liberty or Death. The French Revolution. New Haven u. London 2017, S. 249: „[Robespierre] drew on a speech familiar to him from his schoolboy years, Cicero’s second oration against Lucius Catilina. Like Cicero, who had contrasted the virtues of the Roman Republic―honour, modesty, chastity, equity, temperance, fortitude, prudence, piety―with the vices of tyranny―wantonness, sordidness, fraud, wickedness, baseness, lust“.
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Die Altonaer Übersetzung von Rebmann invertiert die Strukturierung des Originals. „Substituer“ heißt dort „vertauschen“,131 dementsprechend wird zunächst das Alte genannt und das Neue folgt. Das Alte geht, das Neue kommt und bleibt: Wir wollen in unserm Lande den Egoismus gegen die Moralität vertauschen; die Ehre gegen die Redlichkeit; die Gebräuche gegen die Grundsätze; die Manieren gegen die Pflichten; die Tyrannei der Mode gegen die Herrschaft der Vernunft […]; mit Einem [sic] Worte, alle Laster und alle Thorheiten der Monarchie, gegen alle Tugenden und alle Wunder der Republik.132
Gentz übersetzt „substituer“ mit „umtauschen“,133 also mit einem Synonym von „vertauschen“, wobei die Inversion die Grenze von Bleibendem und zu Ersetzendem nun recht unscharf macht: Wir wollen in unserm Lande die Moralität gegen den Egoismus umtauschen; die Ehrlichkeit gegen die Ehre; die Grundsätze gegen die Gebräuche; die Pflichten gegen die Manieren; die Herrschaft der Vernunft gegen die Tyrannei der Mode […]; mit einem Worte, alle Tugenden und alle Wunder der Republick gegen alle Laster und alle Throheiten der Monarchie.134
Gentz’ Interesse für die Revolution ist alles andere als ephemer. Bis 1799 beschäftigt er sich intensiv mit der Französischen Revolution, insbesondere mit der Analyse ihrer Ursachen und Folgen, und dies in Form von Übersetzungen, staatsrechtlichen Betrachtungen und zeitgeschichtlichen Abhandlungen.135 Seine Aufgabe dabei empfindet er als eine aufklärende: Er möchte das deutsche Publikum über eine „Begebenheit von solcher Grösse“ informieren, „dass es kaum erlaubt seyn kann, sich in ihrer Gegenwart mit irgend einem geringfügigen Interesse zu beschäftigen“.136 Er erweist sich dabei jedoch sogleich als weit mehr als ein Informator. Als geschulter Kantianer weiß er die Begriffsarchitektur Robespierres subtil zu analysieren und die Tragweite ihrer Implikationen einzu131 Vgl. den Eintrag „Vertauschen“ in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart: mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Vierter Theil, von Seb – Z, Leipzig 1801, Sp. 1158: „verb. reg. act. durch Tausch in eines andern Besitz bringen. Waaren vertauschen. Eine Provinz gegen die andere vertauschen. In noch weiterer Bedeutung, ein Wort mit dem andern vertauschen, ein Wort für das andere setzen. So auch die Vertauschung“. 132 Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 43f. 133 Vgl. den Eintrag „Umtauschen“ in Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch (wie Anm. 131), Vierter Theil, von Seb – Z, Sp. 822: „verb. reg. act. ich tausche um, umgetauscht, umzutauschen, Dinge Einer Art gegen einander vertauschen, welches mit andern Nebenbegriffen vertauschen, austauschen, eintauschen genannt wird. Die Kleider umtauschen“. 134 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 174. 135 Vgl. Kronenbitter: Wort und Macht (wie Anm. 126), S. 341. 136 Ebd.
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schätzen. Was er anstrebt, ist eine stringente Analyse der Selbstinterpretation der Jakobiner-Herrschaft, eine kritische Auslotung der staatsrechtlichen und der empirischen Seite der Programmatik und der Praxis des Wohlfahrtsausschusses.137 „Mit aufgeklärtem Auge, unbefangenem Sinn, und gefühlvollem Herzen“ beobachtet Gentz das „tragische Schauspiel des Jahrs 1794“.138 Die Eskalation des Terrors und der Sturz Robespierres werden als ein epochaler „Wendepunkt“ der Revolution interpretiert.139 In seinen 1794 erschienenen Beiträgen für die Minerva macht sich Gentz insbesondere anheischig, den „Mißbrauch des Wortes Tugend“140 in Robespierres Grundsatzrede zu denunzieren. Zwar hatte dieser, in Anlehnung an Montesquieu, behauptet, es handele sich in seiner Rede um „politische Tugend“ und nicht um die moralische. Gentz unterstreicht jedoch, dass der Begriff trotzdem eine gewisse Ambivalenz zwischen Politischem und Moralischem in der Rede behalte: Offenbar also schleicht sich in diese Maxime wieder die moralische Bedeutung des Wortes ein, vermischt sich mit jener willkührlichen politischen, und giebt nun dem Satz die so brauchbare Zweydeutigkeit und Unbestimmtheit, die durchgehends in den Vorträgen der jetzigen französischen Redner, so wie in den Vorträgen eines jeden, der kein gutes Gewissen hat, herrschen.141
Ironischer Sarkasmus ist die erste Waffe, derer sich Gentz bedient, um die Argumentation des Gegners zu entkräften: „Wer hätte glauben sollen, daß Montesquieu, dessen Lehren seit einigen Jahren bey seinen Landsleuten in gänzlichen Verfall gekommen waren, zuerst in Robespierre’s Rede wieder aufleben würde!“142 Der nächste „Schritt“ ist eine offene Ablehnung im Namen einer Aufrichtigkeit, die etablierte Autorität hinterfragen will: „Ich muß aufrichtig bekennen, daß ich den Grundsatz des großen Montesquieu ,die Tugend sey das Princip der Republiken‘ von jeher, wo nicht für einen ganz falschen, doch für einen schiefen, schwankenden, dunkeln, und überdies für einen in mehrern Rücksichten gefährlichen Grundsatz gehalten habe“.143 Die Anhäufung wertender Adjektive schafft eine negativ wirkende amplificatio des ablehnenden Urteils. „Dies unphilosophische Gemisch muß geschie-
137 Vgl. ebd., S. 346f. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 348. 140 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 235 u. 282. 141 Ebd., S. 235. 142 Ebd., S. 182. 143 Ebd., S. 182f.
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den werden“,144 es geht also um eine Operation der distinctio, heißt: um das Auseinanderhalten zweier Begriffe, die vermischt worden seien: „man muß hier entweder von der politischen, oder von der moralischen Tugend reden wollen“.145 Erst nach der Wertung entfaltet Gentz die eigentliche Begriffsanalyse, die darin besteht, die Semantik des Tugendbegriffs streng zu definieren und sie in den Bereich des Moralischen zurückzuführen: „Der Sinn und der Werth dieses Worts geht nach meiner innigsten Ueberzeugung jedesmal verloren, wenn man ihm seine rein-moralische Bedeutung nimmt“.146 Gentz handhabt die Mittel der Rhetorik bestens und weiß Emphase und begriffliche Stringenz auszubalancieren. Was er für Schwächen der Argumentation des Gegners hält, kleidet er in Form von rhetorischen Fragen ein: „in einer Republik, selbst in einer sehr wohlconstituierten können unmoralische Gesetze, sogar unmoralische Grundgesatze [!] existiren: warum soll es denn Tugend heißen, für dergleichen Gesetze zu glühen?“147 Geschildert wird anschließend der aktuelle Zustand der Französischen Republik, ihre „revolutionistisch[e] Regierungsform“.148 Das Spiel mit den Adjektiven bei der Paraphrase des Originals stellt unmissverständlich klar, was Gentz davon hält. Sie sei aus der Sicht der Pariser Revolutionschefs ein „nothwendiges Uebel“, eine „schreckliche aber heilsame Vorbereitung zur künftigen Glückseligkeit“.149 Es fällt dann eine Bezeichnung, die die Charakterisierung der „Terreur“ in der historiographischen Tradition lange beeinflussen sollte: „soll denn etwa die Neigung zu diesem fürchterlichen Interim welches das Schrecken zur Tages-Ordnung […] machte, soll die Neigung zu dieser – horresco referens – sogenannten Staatsverfassung […] den Namen der Tugend führen?“150 Gentz unterstreicht dabei die Inkongruenz zwischen Zeichen (das Wort ‚Tugend‛) und Bezeichnetem (die deklarierte Notwendigkeit einer Schreckenspolitik). Im Gewand der Tugend verstecke sich die Beschreibung politischer Laster und Verbrechen. Als geschliffener Rhetor151 agiert er mit den denunziatorischen
144 Ebd., S. 235. 145 Ebd. 146 Ebd., S. 183. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 187. 149 Ebd. 150 Ebd., S. 187f. 151 Zu seiner rhetorischen Gewandtheit siehe Günther Kronenbitter: „Trüffeln oder Erdäpfel“. Friedrich Gentz und die politische Sprache. In: Archiv für Kulturgeschichte 77 (1995), S. 383–403, hier S. 385f.
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Instrumenten der paradiastolischen Umschreibung,152 d.h. er stellt den Missbrauch eines Wortes fest und kritisiert dessen schiefe Anwendung mittels eingehender Glossen, um die eigentliche Bedeutung und damit die Distanz zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem bloßzulegen. Als Teil der ornatus-Lehre in der klassischen Rhetorik ermöglicht es die Paradiastole, Handlungen oder Sachverhalte so umzuschreiben, dass jeder Begriffsdefinition, die der Redner gegen die vom Gegner vorgeschlagene ausspielen möchte, zusätzliche Kraft verliehen wird. Bei Gentz wird eine bestehende Beschreibung der Tugend mit der Begründung abgelehnt, dass sie sich auf irreführende, ja schiefe Begriffe derselben stütze. Es wird also eine Trennlinie gezogen, die die seinem Dafürhalten nach ungebührliche Überschneidung heterogener Begriffe verhindern soll. Die semantische Operation der Revolutionsführer sei, so sein Fazit, ein Fall von begrifflicher „Sophisterey“,153 sie stelle die „frechste und verderblichste aller Usurpationen“ dar;154 „dieses republicanisch[e] Tugend-Gepräng[e]“ verursache eine gravierende „Zerrüttung unter den moralischen Ideen“.155 Um daher die ideologische Operation zu entkräften bzw. zu diskreditieren, versucht Gentz, auf eine Definition der Tugend hinzuweisen, die den semantischen Missbrauch seitens der Revolutio152 Diese rhetorische Figur wird als „definitorische Unterscheidung benachbarter Begriffe“ bezeichnet in Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl., mit einem Vorwort von Arnold Arens. Stuttgart 1990, S. 869. Verwiesen wird dabei auf Quintilian IX, 3, 65 (Ebd., S. 373), wo das paradiastolische Verfahren als eine „Unterscheidung von scheinbar Ähnlichem“ bezeichnet wird. Vgl. Quintiliano: Institutio oratoria. Hg. v. Adriano Pennacini. Edizione con testo a fronte. Band. II. Turin 2001, S. 342: „distinctionem, cui dant nomen παραδιαστολήν, qua similia discernuntur“. Für eine gründliche Untersuchung dieser Figur, insbesondere in Bezug auf die Neuzeit, siehe Quentin Skinner: Paradiastole: redescribing the vices as virtues. In: Sylvia Adamson, Gavin Alexander u. Katrin Ettenhuber (Hg.): Renaissance Figures of Speech. Cambridge 2009, S. 149–163. Dass auch Robespierre sich der Macht der Umschreibung bewusst ist und von dieser rhetorischen Technik reichlich Gebrauch macht, erhellt aus folgenden Beispielen: „Die Unterdrücker der Menschheit bestrafen, ist Gnade; ihnen verzeihen, ist Grausamkeit“; „Der Einen Partey hat man den Nahmen der Moderirten gegeben; in der Benennung Ultrarevolutionisten, womit man die andere Partey bezeichnete, liegt vielleicht mehr Witz als Wahrheit“; „In treulosen Händen werden alle Mittel gegen unsere Leiden zu Gift“. In: Reden von Robespierre (wie Anm. 1), S. 61, 64 u. 74; Original: „Punir les oppresseurs de l’humanité, c’est clémence; leur pardonner, c’est barbarie“; „On a donné aux uns le nom de modérés; il y a peut-être plus d’esprit que de justesse dans la dénomination d’ultra-révolutionnaire, par laquelle on a désigné les autres“; „Dans des mains perfides, tous les remèdes à nos maux deviennent des poisons“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 359, 360 u. 363). 153 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 188. 154 Ebd., S. 288. 155 Ebd., S. 289.
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näre deutlich macht. Was sie unter dem Namen der Tugend propagieren, sei ein „Deckmantel demagogischer Büberey“,156 ein „merkwürdige[s] Product unsrer Tage“,157 „leerer Tand“,158 Ergebnis der „Beredsamkeit eines Bösewichts“.159 Das Fazit lautet: „Despotismus ist Despotismus, der Endzweck sey welcher er wolle“.160 Die zentrale Passage über das ingeniöse und bedenkliche Bündnis von Tugend und Schrecken in Robespierres Grundsatzrede übersetzt Gentz wie folgt: Hier würde die Entwickelung unsrer Theorie zu Ende seyn, wenn nicht der Sturm, der um uns tobt, und der Revolutions-Zustand, in welchem wir uns befinden, eine andre Laufbahn vorschriebe. – – So wie im Frieden die Triebfeder der democratischen Verfassung die Tugend ist, so ist es in einer Revolution das Schrecken in Vereinigung mit der Tugend. – – Die Regierungsform, welche sich für eine Revolution schickt, ist der Despotismus der Freyheit wider die Tyrannei.161
Robespierres gedankliche Erwägungen werden – in nicht gerade schmeichelhafter Absicht – der berühmt-berüchtigten Tradition der „Casuistik“ zugeordnet. Die Frage, „ob böse Mittel erlaubt sind, um einen guten Zweck zu erreichen? – hat zu allen Zeiten die, welche über die Sittlichkeit der menschlichen Handlungen speculirten, beschäftiget; und alle, alle ohne Ausnahme, die von reinen moralischen Grundsätzen ausgiengen, haben sie verneinend entschieden“.162 Gentz lässt damit Robespierres Argumentation ins Zwielicht einer Tradition geraten, die unter anderem mit Machiavelli und den Jesuiten zu weltbekannten Beispielen moralischer Rücksichtslosigkeit avanciert war.163 Mit Präzision und Geduld geht Gentz’ Analyse vonstatten. Wie in einer geometrischen Demon 156 Ebd., S. 185. 157 Ebd., S. 242. 158 Ebd., S. 189. 159 Ebd., S. 175. 160 Ebd., S. 249. 161 Ebd., S. 243. 162 Ebd., S. 244. 163 Grundlegend zu Theorie und Geschichte der Kasuistik: Carlo Ginzburg: Ein Plädoyer für den Kasus. In: Johannes Süßmann, Susanne Scholz u. Gisela Engel (Hg.): Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode. Berlin 2007, S. 29–48. In Bezug auf Machiavellis Principe stellt Ginzburg fest: „Man könnte annehmen, dass die anhaltende und konsequente Verletzung moralischer Normen auf Basis der Ausnahmeregelung schließlich eine Gegen-Norm etablieren würde“ (ebd., S. 40). Siehe auch Carlo Ginzburg: Machiavelli, l’eccezione e la regola. Linee di una ricerca in corso. In: Quaderni storici 112 (2003), S. 195–213. Über die Machiavelli-Rezeptionswege in Deutschland vgl. Cornel Zwierlein u. Annette Meyer (Hg.): Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit. Historische Zeitschrift. Beihefte 51 (2019).
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stration exponiert er zunächst einmal das Theorem, in diesem Fall: Robespierres Worte, und führt sodann, typographisch markiert, eine Widerlegung derselben vor, die nicht zuletzt darauf abzielt, das vermeintliche Theorem in seiner tendenziösen Falschheit zu demaskieren. „Kein Sterblicher kann es verbürgen, daß der letzte Zweck, welchen die Urheber dieses Systems in ihrem Herzen tragen, die höchste Freyheit und Glückseligkeit der französischen Nation sey“ – so bemerkt Gentz und lässt unmittelbar darauf eine Liste der Gräuel folgen, die in den ersten Monaten des Jahres 1794 begangen wurden und die die extremen Kollisionen zwischen Politik und Moral während der Revolution an den Tag brachten.164 Die Dialektik von Regeln und Ausnahmen wird identifiziert und als Novum in der Geschichte politischer Ungerechtigkeiten stigmatisiert: so behandelte man doch dies alles, als Ausnahme, als nothgedrungene, bittre, schmerzhafte Abweichung von dem regelmäßigen Laufe der Dinge. Nie kam es den Atheniensern, als eine Million Perser wie Heuschrecken über sie herfiel, nie den Römern als Hannibal vor den Thoren war, nie den Venetianern, als die Ligue von Cambray aufstand, in den Sinn, dergleichen schreckliche Ausnahmen in eine Regel zu verwandeln.165
Die Schlussfolgerung mit dem Urteil über Robespierres Vision ist emphatisch und ironisch zugleich: „O Schande! Schande über Frankreich und das achtzehnte Jahrhundert!“166 Sie signalisiert die Unmöglichkeit, das Wort ‚Tugend‛, politisch entweiht und pervertiert, weiterhin ohne Unbehagen zu verwenden.167 Die „Schrecknisse der Revolutions-Tyrannei“168 mit ihrem System von „Ausnahmen und Regeln“169 hätten die höchsten Errungenschaften der spätaufklärerischen Kultur („Billigkeit, Menschlichkeit, gemeine Moral“170) unterminiert und dafür eine „öde Einförmigkeit“, ein „todtes Verstummen alles Widerspruchs und aller
164 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 245. 165 Ebd., S. 248. 166 Ebd., S. 246. 167 Dazu vgl. Ferrone: Virtues and Rights (wie Anm. 91), S. 52: „How can we be surprised of the decline of the term virtue? In the culture of the Late European Enlightenment that word represented a new humanity determined to pursue its happiness through the exercise of its rights. Differences are self-evident“. 168 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 188. 169 Ebd., S. 248. 170 Ebd., S. 243. Zum zentralen Begriff der ,Billigkeit‛ siehe Wolfram Mauser: Billigkeit. Literatur und Sozialethik in der deutschen Aufklärung. Ein Essay. Würzburg 2007, bes. S. 228: „So trat eine paradoxe Situation ein: Einerseits wurden die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit als Voraussetzung eines fairen Miteinanders in der neueren Gesetzgebung festgeschrieben, andererseits ging der Terminus der ,Billigkeit‘, der das nicht formalisierbare Prinzip eines fairen Miteinanders sprachlich fasste, verloren.“
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Zweites Kapitel Die Revolution der Bürgertugend
Zweifel“171 herbeigeführt. Gentz’ Argumentation setzt Robespierres Kompass der politischen „Tugend“ außer Kraft. Die Kritik an der Metapher legt endlich den Schlussstein seiner Widerlegung: „Dieser so hochgepriesne Compaß ist aber nicht allein unzulänglich, sondern auch durchaus trüglich.“172
171 Gentz: Ueber die Grundprinzipien (wie Anm. 119), S. 180. 172 Ebd., S. 233f.
Coda
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4 Coda Robespierre selbst hätte von Gentz’ Meinung nicht einmal hören können. Sein rascher Sturz sorgte dafür. Bis zum Letzten hielt er jedoch an seinem Glauben an die Tugend fest. Ohne die Emphase des Fassungslosen, der vor seinem Niedergang steht, weiß er in seiner letzten Rede vor dem Nationalkonvent (26. Juli 1794) die Tugend und ihre Realität noch einmal, ja, zum letzten Mal eindrucksvoll zu schildern. Rhetorisch bedient sich Robespierre ähnlicher Mittel wie Gentz. Das Streitgespräch über die Tugend wird hier zu einer Sternstunde sprachlicher Brillanz. Die Rede wird im Auftrag von Archenholz ins Deutsche übersetzt und die entsprechende Passage lautet: Was sage ich Tugend? – Dieß ist eine natürliche Leidenschaft; wie sollten aber jene käuflichen Seelen sie kennen, bey denen nur niedrigen und grausamen Leidenschaften Eingang finden? Jene elenden Intriganten, die mit dem Patriotismus nie einen moralischen Begriff verbanden? Die in der Revolution immer irgend einer wichtigen oder ehrsüchtigen Person, irgend einem verachteten Prinzen folgten, so wie ehemals unsere Lakaien die Schritte ihrer Herren begleiteten? Doch sie existiert! Ich rufe euch deshalb zu Zeugen an, reine und empfindsame Seelen! Sie existiert, jene zärtliche, gebieterische, unwiderstehliche Leidenschaft, die Quaal und Ergötzlichkeit großmütiger Herzen; jener tiefe Abscheu gegen die Tiranney; jener mitleidsvolle Eifer für die Unterdrückten; jene heilige Liebe für das Vaterland; und jene noch erhabnere und heiligere Liebe für die Menschheit, ohne welche eine große Revolution nichts weiter ist, als ein glänzendes Verbrechen, das ein anderes Verbrechen vernichtet.173
Eine Reihe von rhetorischen Fragen schildert die äußerst schwierige Lage, mit der sich Robespierre konfrontiert sieht. Er ist nach wie vor überzeugt, für das Morgen zu arbeiten, und verlangt bis zum Letzten eine Vollmacht von dem Heute. Gräueltaten werden dabei nicht erwähnt. Die Beschwörung der Tugend geht vielmehr 173 Robespierre’s letzte Rede, gehalten im Convent am 26. July 1794. In: Miscellen zur Geschichte des Tages. Hg. v. J[ohann] W[ilhelm] v. Archenholz. Zweiter Band. Hamburg 1795, S. 35f. Original: „Que dis-je, vertu! C’est une passion naturelle, sans doute: mais comment la connaîtraient-elles, ces âmes vénales, qui ne s’ouvrirent jamais qu’à des passions lâches et féroces; ces misérables intrigants, qui ne lièrent jamais le patriotisme à aucune idée morale, qui marchèrent dans la Révolution à la suite de quelque personnage important et ambitieux, de je ne sais quel prince méprisé, comme jadis nos laquais sur les pas de leurs maîtres? Mais elle existe, je vous en atteste, âmes sensibles et pures; elle existe, cette passion tendre, impérieuse et irrésistible, tourment et délice des cœurs magnanimes; cette horreur profonde de la tyrannie, ce zèle compatissant pour les opprimés, cet amour sacré de la patrie, cet amour plus sublime et plus saint de l’humanité, sans lequel une grande révolution n’est qu’un crime éclatant qui détruit un autre crime“. (Œuvres de Maximilien Robespierre. Tome X, wie Anm. 4, S. 554).
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Zweites Kapitel Die Revolution der Bürgertugend
Hand in Hand mit Hochwertwörtern wie „natürliche Leidenschaft“, „Patriotismus“, „Liebe für das Vaterland“ und „Liebe für die Menschheit“, die im Begriffshaushalt der europäischen Aufklärung hohe Dignität besaßen. Als herrschender Gedanke wird die Tugend vor allem ausgespielt gegen eine Reihe von Dysphemismen, die nominell als Widersacher des Emanzipationsprojekts der „Unterdrückten“ in Erscheinung treten: „Intriganten“, „verachtet[e] Prinzen“, „Tiranney“. In Robespierres letzter Rede wird also noch einmal eine Wunschvorstellung inszeniert, bei der die „große Revolution“ trotz aller Widerstände die Oberhand behalten soll. Auf syntaktischer Ebene wird das unerwartete Überleben der „Tugend“ in Zeiten der „Tiranney“ noch einmal durch ein Adversativkonstrukt realisiert, das Robespierres unbesiegbare Überzeugung zum Ausdruck bringen soll: „Doch sie existiert!“ Mit diesen letzten Worten, schonungslos und rhetorisch kunstvoll, weigert er sich, die Zwecklosigkeit der historischen Ereignisse zu besiegeln. Wer aber eine feine Witterung hatte, wurde sogleich von dem Gefühl beschlichen, dass es sich dabei um Pyrrhussiege handelte. Robespierres Haupt fiel unter der Guillotine am 28. Juli, anno 1794 der alten Ära.
Drittes Kapitel Eine Poetik im Zeichen von Tugend und Kraft?
Untersuchungen zu Friedrich Maximilian Klingers Spätwerk
https://doi.org/10.1515/9783110705782-004
1 Tugend, Kraft – und poetische Virtuosität In den Jahren zwischen 1791 und 1803 arbeitet Friedrich Maximilian Klinger an einem groß angelegten Romanprojekt in zehn Bänden, von dem er sich nichts Geringeres verspricht, als mit den revolutionären Ereignissen und den widersprüchlichen Tendenzen der Zeitgeschichte ins Reine zu kommen. Seit 1780 unter anderem in der Gatschina-Residenz offiziell in russischen Diensten tätig1 strebt er eine Gesamtschau auf das weit verzweigte Feld der menschlichen Angelegenheiten an. Damit einher geht eine anthropologische Auslotung der unlösbaren Widersprüchlichkeiten, die „in der moralischen Welt“,2 d.h. in der Sphäre praktischen Handelns, in Erscheinung treten. Der Begriff der Tugend rückt dadurch in den Mittelpunkt seiner zeitgeschichtlichen Analysen – und damit auch unserer nächsten Erkundungen. In Klingers Werk ist Tugend kein Allerweltswort, das auf Vorstellungen moralischer Güte im Allgemeinen hinweist. Der Ausdruck hat vielmehr eine terminologische Bedeutung, die Klinger an verschiedenen Stellen ausdrücklich einschärft. Die Partnerschaft von Tugend und Kraft bietet auch in seinem Fall ein topisches Motiv, das als Leitfaden zur Untersuchung einiger Meilensteine seines Œuvres gelten kann. So wird beispielsweise in der Sammlung seiner Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur, für viele das
1 Klinger war durch Friedrich Eugen von Württemberg, Vater von Marija Fëdorovna, nach Russland vermittelt worden und war u.a. als Vorleser beim Großfürsten Paul, später Zar Paul I., tätig. Vgl. dazu die grundlegende Darstellung von Max Rieger: Friedrich Maximilian Klinger. Sein Leben und Werke. Zwei Bände u. Zugabe. Darmstadt 1880–1896, hier insbesondere Bd. II, S. 423– 445. Vgl. auch Gert Ueding: Ein verbannter Göttersohn. Friedrich Maximilian Klinger. In: Ders.: Die anderen Klassiker. Literarische Porträts aus zwei Jahrhunderten. München 1986, S. 59–77. Zu Klingers Verhältnis zu Russland vgl. Michael Schippan: Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2012, S. 161–168. Zum biographischen Hintergrund Klingers in Bezug auf seine schriftstellerische Tätigkeit vgl. Harro Segeberg: Friedrich Maximilian Klingers Romandichtung. Untersuchungen zum Roman der Spätaufklärung. Heidelberg 1974, bes. S. 19–38 u. 183–190. Ferner: Fritz Osterwalder: Die Überwindung des Sturm und Drang im Werk Friedrich Maximilian Klingers. Die Entwicklung der republikanischen Dichtung in der Zeit der Französischen Revolution. Berlin 1979, bes. S. 192–206 u. 223–226. Immer noch lesenswert: Olga Smoljan: Friedrich Maximilian Klinger. Leben und Werk. Weimar 1962, bes. S. 143–215. Zum Zusammenhang von Leben und Poetik bei Klinger siehe Verf.: Welttheater, Revolution und usurpierte Menschenrechte. Über Friedrich Maximilian von Klingers Fragment Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit. In: Yvonne Nilges (Hg.): Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert. Würzburg 2014, S. 49–66. 2 Friedrich Maximilian Klinger: Vorrede zu den philosophischen Romanen, zit. nach: Max Rieger: Friedrich Maximilian Klinger. Zugabe zum zweiten Teil (wie Anm. 1), S. 44–46, hier S. 44.
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Drittes Kapitel Eine Poetik im Zeichen von Tugend und Kraft?
Meisterwerk seiner Produktion, die Affinität von Tugend und Kraft durch einen Rückgriff auf antike Begriffe aperçuhaft hervorgehoben: Das Wort: Kraft, ist ein schönes, ausdrucksvolles Wort in der deutschen Sprache. Es schien mir oft wie das Wort: Tugend, in den Schriftstellern der Griechen und besonders der Römer zu lauten.3
In den Blick gefasst werden hier zwei Ingredienzien, die sich in den Moralkulturen der Spätaufklärung immer wieder mischen. Entsprechend einem Argumentationsverfahren, das oben in den einleitenden Beobachtungen nachgezeichnet wurde, legt auch Klinger die Verwandtschaft von Tugend und Kraft durch einen Hinweis auf antike Wort- und Bedeutungsbestände seinen Lesern nahe. Dadurch trägt er mit sicherem Gespür dazu bei, die Wirkung zu steigern, die das Wort ‚Tugend‛ auf das zeitgenössische Publikum auslöst. Als Hochwertwort markiert die ‚Tugend‛ bei Klinger gleichsam einen argumentativen Stützpunkt, auf dem er sein literarisches Denkgebäude errichten kann. Agonale Kampfmetaphern, wie kaum anders zu erwarten, begleiten sein Nachdenken darüber, dass „die Tugend immer etwas trotzig“ ist, „sie nimmt durch den ewigen Kampf, den immer wachsenden Widerstand, das Gefühl ihres Werths“, sie ist „etwas Kühnes“.4 Der kämpferische Habitus der Tugend soll allerdings stets im Dienst des Menschen und der Menschlichkeit bleiben.5 Die Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft liefert in erster Linie praktische Energie zum Widerstand gegen Miss3 [Friedrich Maximilian Klinger:] Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur. Zweiter Theil. In: Sämmtliche Werke. Bd. 12. Stuttgart u. Tübingen 1842, S. 18f. [Nr. 397]. Zu den stilistischen und rhetorischen Merkmalen der Sammlung vgl. Giulia Cantarutti: I dialoghi nelle Betrachtungen (1803–1805) di F. M. Klinger. In: Giulia Cantarutti u. Wolfgang Adam (Hg.): Prosa saggistica di area tedesca. Bologna 2011, S. 85–115. Dies.: La nozione di patriottismo nelle „Betrachtungen und Gedanken“ (1803–1805) di Friedrich Maximilian Klinger. In: Specilegio moderno. Letteratura, lingue, idee 19–20 (1985), S. 94–107. 4 [Friedrich Maximilian Klinger:] Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur. Erster Theil. In: Sämmtliche Werke. Bd. 11. Stuttgart u. Tübingen 1842, S. 37 [Nr. 50]. 5 Wie brutal der Missbrauch der Tugend sein kann, zeigt Klingers Trauerspiel in fünf Akten Aristodymos. Er lässt Lysandra die Tugendauffassung ihres Ehemanns Aristodymos folgendermaßen kritisieren: „Rauh ist Deine Tugend, und hart Dein Herz gleich dem Erz, woraus Dein Schwerdt geschmiedet ist; tolle Ruhmsucht erstickt in Dir die Stimme der Natur.“ (Friedrich Maximilian Klinger: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. VII: Medea in Korinth, Medea auf dem Kaukasos, Aristodymos. Hg. v. Karl-Heinz Hartmann, Ulrich Profitlich u. Michael Schulte. Berlin u. Boston 2012, S. 181). Aristodymos selbst bezeichnet die Tugend gegenüber seiner Tochter Hermione wie folgt: „Aufopfrung für’s Vaterland, ist der Tugend höchster Schwung; dadurch erwarben Deine Vorfahren unsterblichen Ruhm.“ (Ebd., S. 181).
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stände jeglicher Art, sie spornt zur Veränderung an, unter Umständen zur Emanzipation. Der Einfluss der moralischen Theoriebildung Johann Georg Schlossers, den Klinger in den Betrachtungen und Gedanken mehrfach lobend erwähnt, ist darin gut erkennbar.6 Noch einmal polemisch gegenüber dem landläufigen Sprachgebrauch hält Klinger fest: Selbst diejenigen, die unsre Tugend göttlich nennen, sagen etwas einfältiges; recht menschlich muß die Tugend seyn, wenn sie Menschen nutzen soll. Die göttlich Tugendhaften lassen gewöhnlich die Welt gehen, wie sie geht – seufzen und verhalten sich ganz ruhig in ihrem göttlichen Gefühl. Sie zahlen ihre Schuld an andre und die Welt, mit Wohlgefallen an sich selbst, ab.7
Als Instrument des Menschen im Dienste der Menschheit bietet sich die Tugend als säkulares Mittel zur Erschaffung einer besseren, womöglich menschenfreundlicheren Welt an, die zwar die Rolle der Religion nicht leugnen will, zugleich aber einen genauen Zuständigkeitsbereich für die Tugend reserviert, der sich ganz diesseitig ausnimmt und auf konkrete Umsetzung abzielt. Nicht Religion und Aufklärung stehen sich da gegenüber, sondern eine gewisse Weltfremdheit und eine Form von lebenspraktischer Weisheit, ja energischer Lebensklugheit. So verstanden, darf Tugend zum Werkzeug genuiner Aufklärung erklärt werden, erblickt letztere doch in der gelungenen Selbstbestimmung tugendhaften Handelns das wohl höchste Postulat vernunftgemäßer Moral. Tugend bedeutet also keineswegs einen Rückzug in die Gefilde innerlicher Frömmigkeit, sondern ein Mittel für jedes Gebrechen. Tugend gehört damit zu jenen „metaphysische[n] Begriffe[n], wodurch sich das sinnliche Thier zum Menschen, zum geistigen, bis zum selbstständigen Wesen ausbildete, es bleibt, geblieben ist und bleiben wird“.8 Die herausgestellte Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft ist, in dieser Hinsicht, das fassbare Zeichen der Autonomie des freien Menschen. Durch die Handlungsressourcen, die sie mobilisiert, befördert die Tugend außerdem nichts weniger als eine konkrete Erscheinungsform der Freiheit, „die man sich nur durch eigene Kraft praktisch erwerben kann“.9 Der scheinbare Zwang der
6 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 108. [Nr. 158]: „Ich habe viele große Männer und berühmte Schriftsteller genannt; aber noch nicht den reinsten, moralischen Menschen, der mir in einem Leben von beynahe funfzig Jahren vorgekommen ist. Dieser war Georg Schloßer aus Frankfurt am Mayn […]. Ich möchte sagen: nur die Tugend war sein Genie und machte es aus, so kräftig, so ganz und vollendet stellte er sie dar“ (Hervorhebungen hinzugefügt). 7 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 28f. [Nr. 32]. 8 Ebd., S. 228 [Nr. 720]. 9 Ebd., S. 21 [Nr. 402].
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Tugend schlägt damit in sein Gegenteil um und ermöglicht eine Form von Distinktion, die jedem Menschen, unabhängig von Stand und Herkunft, offen steht: Der Mann, der zum ersten Mal das Wort Tugend klar dachte und warm aussprach, hat dem Menschen das Diplom des Adels ausgestellt und das rechte Wort dazu gefunden. Die Roturiers dieser Art mögen nun machen was sie wollen, das Diplom werden sie wenigstens nicht zerreißen, denn die Bewachung des Archivs, wo es verwahrt liegt, wird ihnen nie vertraut werden, so sehr sie sich auch darum bemühen mögen.10
Unter der Schirmherrschaft der Tugend zeichnet sich da die sozialgeschichtlich innovative Idee eines ,Adels des Geistes‘ ab, der sich nicht mehr, wie traditionell, auf die Werte der ,Ehre‘ stützt, sondern Tugend und nobilitas in direkte Verbindung setzt und sie sogleich den „Roturiers“ erreichbar macht: „Die Fürsten haben dieses Diplom politisch nachgestochen; das konnten und mußten sie als Fürsten, es bewährt sie aber für uns nur durch jenes ächte“.11 Der wahrhaft Tugendhafte soll sich im Bereich des praktischen Lebens bewähren. Im Gleichtakt mit dem Fortschreiten seiner „Taten“ eröffnet sich allmählich sein Weg zur Freiheit: „Nicht die Gesinnungen, nicht das Entsagen führen darauf: bei der ersten muthig und verständig ausgeführten That betritt man erst den Pfad zu ihr“.12 Praktische Betätigung bildet also den Hauptweg zur Verwirklichung der Tugend, sie trägt sie vom Bereich des Idealischen in die Sphäre des Wirklichen und erscheint als Akt der Überwindung eines Risses, der die moralische Welt durchzieht. Eine astronomiegeschichtliche Metapher in derselben Maxime bringt dies kurz und bündig auf den Punkt: „Darum bleibt sie [d.h. die Tugend] für viele, sonst gute Menschen ein Nebelstern, dessen düsteres Licht man durch einen Herschelschen Teleskop erblickt – oder zu erblicken glaubt“.13 Wie der doppelbegabte Herschel, Astronom und Musiker, terra incognita erforscht und als Erster die Klassifizierung bestimmter kosmischer Objekte einführt, so erweist sich auch Klingers Tugendforscher als ein präziser Entdecker, der etwaige Nebelformationen in moralibus – vor allem Gemeinplätze und herkömmliche Auffassungen von Tugend als moralischer Güte – einer genauen Analyse unterzieht und ihnen dadurch Kontur verleiht. Im Unterschied zu anderen Denkern der Zeit gewinnt die Heraufbeschwörung der Tugend als Kraft eine dezidiert poetische Qualität. Die bisher angeführten Belege dürften für sich sprechen: Tugend und Kraft sind bei Klinger eng aufeinander bezogen, doch damit nicht genug. Gleich daneben gehören Betrachtungen, in denen das Wechselverhältnis zwischen Tugend und Kraft ein offenes Bündnis mit 10 Ebd., S. 65 [Nr. 491]. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 188 [Nr. 653]. 13 Ebd.
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der Poesie eingeht. Das dichterische Element fügt der Problematik etwas Wesentliches hinzu: Das Medium der Poesie, verstanden als höchste Äußerungsform des Lebens, wird zum eigentlichen Entfaltungsraum der Tugend. Klinger läuft damit Sturm gegen ein bloß dekoratives Verständnis von Dichtung, das ihm in der Gestalt des fügsamen Hofdichters und des unterhaltsamen Trivialliteraten entgegentritt. Viel wichtiger sei ihre Aufgabe. Denn Poesie „beweist den moralischen Sinn im Menschen, und diese schaffende, erhebende, beseligende Kraft konnte nur aus ihm entspringen“.14 Der Topos hat wiederum antike Wurzeln und kommt in Horazens Ars poetica (V. 306–308) zur vollen Entfaltung. Dabei erscheint „virtus“ als die Eigenschaft des Dichters oder Redners, die ihn zum vollendeten Vertreter seines Faches macht: munus et officium, nil scribens ipse, docebo, unde parentur opes, quid alat formetque poetam, quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error.15 [Aufgabe und Pflicht – selbst nichts schreibend – werde ich zeigen: wie man die Mittel bekommt, was den Dichter fördert und bildet, was passend ist, was nicht, wohin Können führt, wohin Irrtum.]
Tugend bezeichnet hier ein „Können“ oder eine Disposition, die alles am richtigen Ort und zu richtiger Zeit bringt, so dass man fast von einem Stil der Tugend sprechen möchte. Nicht der Mittelmäßigkeit, der mediocritas entspricht dieser Stil, sondern einem rechten Maß zwischen Extremen. Virtuose Dichtung soll der Bereich des Vortrefflichen sein (V. 368–373): […] certis medium et tolerabile rebus recte concedi: consultus iuris et actor causarum mediocris abest virtute diserti Messallae [...] [...] mediocribus esse poetis non homines, non di, non concessere columnae.16 [Gewissen Dingen werden ein Mittelmaß und Duldung zu Recht zugestanden; ein mittelmäßiger Rechtsberater und Prozeßredner fällt ab gegen das Können des beredten Messalla […] Mittelmäßigkeit haben den Dichtern nicht die Menschen und nicht die Götter noch die Ausstellungspfeiler erlaubt] 14 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 330), S. 4 [Nr. 3]. 15 Quintus Horatius Flaccus: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. mit einem Nachw. hg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 2008, S. 22 (Übers. ebd., S. 23). 16 Ebd., S. 28 (Übers. S. 29).
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Bei Klinger bildet das Streben nach ethisch-ästhetischer Vortrefflichkeit das begriffliche Bindeglied zwischen moralischer Kraft und Poesie. „Virtuosität“ ist der Ausdruck ihrer tiefgreifenden Gemeinschaft, ja der terminologische Vereinigungspunkt von Tugend, Kraft und Poesie: Alle Virtuosität, die Tugend selbst ist Poesie, und wird nur von den sanften, glänzenden Fittigen derselben emporgetragen und gehalten. Auch beweist der Lohn, den beyde in der Welt finden, ihre nahe Verwandtschaft.17
Will man sich vom Wortlaut dieser Stelle noch nicht ganz überzeugen lassen, dann lese man in Klingers Betrachtungen weiter, wie sich der Dreiklang von Tugend, Kraft und Poesie im Begriff der Virtuosität zusammenzieht. In der Betrachtung Nr. 307 inszeniert er beispielsweise einen imaginierten Dialog zwischen einem Fürsten und einem Philosophen. Es handelt sich dabei um ein politisches, moralisches und zugleich poetologisches Streitgespräch zwischen geistig ebenbürtigen Partnern, vermutlich nach dem Muster der Dialoge von Torquato Tasso.18 Der Philosoph behauptet: „Ich kenne mir keine Virtuosität“, und der Fürst entgegnet prompt: „Warum so ernst – Ist die Tugend etwas anders?“19 So werden die Weichen der Diskussion gelegt. Poesie wird dabei zur eigentlichen Tugendlehre des kreativen Menschen: Der Philosoph. […] Aber um wieder auf die Tugend zu kommen, die Sie beliebten eine Virtuosität zu nennen. Der Fürst. Und zwar die Ihrige – Der Philosoph. An die Sie dennoch glaubten? Der Fürst. Gerade wie an die Poesie.
17 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 4 [Nr. 3]. Zur Semantik der Virtuosität um 1800 siehe Ulrich Stadler: Vom Liebhaber in der Wissenschaft zum Meister in der Kunst. Über die verworrene Begriffsgeschichte des Virtuosen im England und Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Hans-Georg von Arburg, in Zusammenarbeit mit Dominik Müller, Hans-Jürgen Schrader u. Ulrich Stadler (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne. Göttingen 2006, S. 18–35, bes. S. 32f.: „Johann Hübner [hatte] schon 1715 in seinem Staats- Zeitungs- und Conversations-Lexicon festgehalten […]: „Virtuosi, Virtuenses, heißen die Italiäner diejenigen, so in einer gewißen Kunst, z. E. in der Music, Mahlerey etc. excelliren“. 18 Torquato Tasso: Dialoghi. A cura di Giovanni Baffetti. Introduzione di Ezio Raimondi. Mailand 1998. 19 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 247 [Nr. 307].
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Der Philosoph. Wie an die Poesie? Wie soll ich das verstehen? Der Fürst. Ist die Tugend etwa in unserm Alltagsleben etwas anders? Hat sie nicht alle Eigenschaften der hohen Poesie? Idealischen Sinn? Erhabenheit und Stärke der Seele? Schwebt sie nicht hoch über der Erde und ihren niedrigen Verhältnissen? Beruht nicht sie, wie jene, auf der innern selbstständigen Kraft des Menschen? Ist sie nicht eine Trennung von allem Gemeinen – Prosaischen –20
Damit solche Virtuosität nicht in „Pedanterei“ ausarte,21 bedarf es allerdings eines strengen Stils, der – wie bei guten Tänzern – die Anstrengung der Bewegungen kraftvoll verschleiert und daraus nur Anmut und Grazie hervorscheinen lässt. Bei Klinger heißt es (wiederum leicht martialisch gefärbt): 20 Ebd. Zur Textsorte siehe Cantarutti: I dialoghi (wie Anm. 3), S. 85–115. Das doppelte Verständnis von Tugend als Lebenskraft und Virtuosität bildet auch einen der Kernpunkte von Klingers Der Weltmann und der Dichter (vgl. Friedrich Maximilian Klinger: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. XVIII: Der Weltmann und der Dichter. Hg. v. Thomas Salumets u. Sander L. Gilman. Tübingen 1985). Klingers Weltmann ist eine ,kalte persona‘, die am Hof schaltet und waltet und nach den Lehren der französischen Moralisten und den Prinzipien der Raison d’Etat geschult wurde (ebd., S. 45–50). Der Dialog kreist u.a. um die Bedeutung des Wortes ‚Tugend‛. Als Provokation hält der Weltmann die Tugend als „das hohle, nichts sagende Wort“, das „aus dem Munde der Menge“ nur die Bedeutung von „Keuschheit“ mehr besitzt (ebd., S. 15). Für den Dichter ist „wahre Dichterey“ Ausdruck einer „innere[n] moralische[n] Kraft“, und Tugend versteht sich als „Augenblick“, in dem „das Recht der Natur“ seine Bahn bricht und sich in Taten äußert (ebd., S. 29f.). Tugend bedeute „das Nöthige, Nützliche, Bestmögliche, Gewöhnliche vor allem Überflüßigen, Großen, Weitaus[s]ehenden und Abentheuerlichen zu hüten“ (ebd., S. 73). In Klingers Dialog wird die Tradition des vollkommenen Weltmanns fortgeschrieben, die auf Baldassar Castigliones Il libro del Cortegiano zurückgeht. Diese Tradition sieht sich nun mit der Krise des Ancien Régimes konfrontiert. Aus der hochgesinnten Allianz von Weltmann und Dichter verspricht sich Klinger die Erneuerung der zeitgenössischen Poesie, die sich aus seiner Sicht in erster Linie den moralischen Ressourcen der Kraft verdankt. Zum Übergang vom „Cortegiano“ zum „Weltmann“ als anthropologischen Optionen vgl. Carlo Ossola: Dal „Cortegiano“ all’„Uomo di mondo“. Storia di un libro e di un modello sociale. Turin 1987, bes. S. 131–142. Über die Tradition der ,kalten persona‘ vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 72014, bes. S. 53–70. Über den „patriotischen Fürstendiener“ vgl. Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit. Weimar, Köln u. Wien 1996, bes. S. 304–311. Zur Tradition der französischen Moralistik in Deutschland vgl. Giulia Cantarutti: Die Rezeption der Maximes von La Rochefoucauld im „langen 18. Jahrhundert“. In: Wolfgang Adam, York-Gothart Mix u. Jean Mondot (Hg.): Gallotropismus im Spannungsfeld von Attraktion und Abweisung. Heidelberg 2016, S. 73–112. Zum Machiavellismus am Hof vgl. Philip Bobbitt: The Garments of Court and Palace. Machiavelli and the World that He Made. London 2013. 21 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 250 [Nr. 307].
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Wer die Tugend zu sehr als ein Abstraktum oder als ein volles, rundes, schweres Ganze ansieht und mit dieser steifen, strengen Anschauung tätig in der Welt sein will, der setzt sich zweierlei Gefahren aus: entweder daß sie ihm mit ihrem Gewicht so schwer wird, daß er sich darunter nicht bewegen kann und die andern durch den Anblick seiner Last niederdrückt, oder daß er, um sich die Last leichter zu machen, an gedachtem Ganzen so lange vereinzelt, zergliedert und verkleinert, bis sich aus den Trümmern gar nichts mehr zusammensetzen läßt. Um auf seinem Schwerpunkt zu stehen, bedarf man keiner Rüstung; auch die leichte, sanfte Gestalt einer Grazie ruht darauf. Ein tugendhafter Mann kann sich gar so leicht bewegen, daß ihm der Zuschauer nur im Augenblick des Bedürfnisses und der Not ansieht, er sei unter seinem Gewande bewaffnet.22
Vor der verdorbenen Trümmerlandschaft der Gegenwart erscheint der große Stil der Tugend als gleichbedeutend mit Realitätssteigerung, Entschlossenheit und absoluter formaler Strenge. Als „erhabenes Kunstwerk“ konnte die Tugend „nur in einer hoch kultivirten und moralisch verderbten Gesellschaft erdacht werden“.23 Mit dem Instrumentarium der ,Kulturkritik‘ Rousseaus, insbesondere des Discours sur les Sciences et les Arts von 1750, bewaffnet, den er gut kannte,24 unterzieht Klinger die Künste seiner Zeit einer ebenso konsequenten wie unerbittlichen Kritik: Alle Wissenschaften und Kenntnisse sind in unserm blühenden Europa verhältnißmäßig im Steigen. Die Chemie, Naturlehre, Kriegswissenschaft, Politik – ja selbst die Theologie schüttelt in Teutschland den Schulstaub ab, und scheint Religion werden zu wollen – und nun gar die Philosophie! Sollte dieß nicht die immer steigende Veredlung des Menschengeschlechts beweisen, an welcher so viele zweifeln? Oder werden wir nur reicher an Kenntnissen und ärmer an wirklichen Tugenden?25
Bevorzugte Feindbilder sind dabei friedfertige Tugenddarstellungen erbaulicher Art samt ihren frömmelnden Hohepriestern, „um so mehr, wenn solche tugendhafte Männer ihre Tugend nur aus deutschen Romanen und Gedichten neuer mystischer Art geschöpft haben“.26 In der Lebenskunst des Tugendhaften konkretisiere sich vielmehr eine als Disziplin aufgefasste Tätigkeit, die eine Auslese möglicher Welten trifft und sie der Virtualität der Einbildungskraft anvertraut, um 22 Ebd., S. 68 [Nr. 496]. 23 Ebd., S. 137 [Nr. 580]. 24 Siehe die Einträge im Katalogverzeichnis von Klingers Bibliothek, das heute in der Universitätsbibliothek Tartu aufbewahrt wird. Zusammengestellt wurde dieses Verzeichnis vor dem Jahr 1831 und wurde 1844 durch den Bibliothekssekretär der Universitätsbibliothek Tartu, Emil Andres, in St. Petersburg ergänzt. Für den freundlichen Hinweis danke ich Frau Malle Ermel (elektronische Mitteilung vom 5. Oktober 2016). 25 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 216 [Nr. 107]. 26 Ebd., S. 201 [Nr. 675].
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dadurch Modelle einer Lebensführung im Zeichen von Tugend, Kraft und Poesie zu liefern. „Ich hasse“, so heißt es in den Betrachtungen weiter, „die kränkliche sogenannte moralische Empfindsamkeit und Empfindlichkeit. […] Zum Leben gehört Kraft und Muth. Man mag auf dem Thron sitzen, in der Hütte wohnen, oder an dem Eckstein sein Brod erbetteln“.27 Daraus folgt eine direkte Kritik an der Fülle pädagogischer Abhandlungen nach empfindsamem Geschmack, die exzessive Sensibilität zur Quelle verheerender Melancholie werden lassen: „[W]as soll man nun zu den Lehrern und Büchern sagen, die unsern jungen Leuten den Muth so früh zerknicken, sie so herzens- und seelenkrank machen, daß sie körperlich und geistig zu nichts zu brauchen sind, als uns Ekel zu erwecken? Sie verschneiden sie zu Kapaunen, in der Geister- und der wirklichen Welt“.28 Eine Poesie im Zeichen von Tugend und Kraft soll vielmehr zu einem diesseitigen Idealzustand körperlicher und seelischer Blüte verhelfen.
27 Ebd., S. 7 [Nr. 375]. 28 Ebd.
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2 Roman und Zeitgeschichte In der flexiblen Gattung des Romans erblickt Klinger den Nährboden zur Entfaltung einer Poesie von epischem Format.29 Die ganze Erfahrungsfülle eines bereits früh in der Jugend von einem recht imposanten Publikumserfolg begünstigten Dichterjuristen30 schlägt sich in den russischen Jahren konsequent und rhetorisch gekonnt in einer kraftvollen, überraschenden Prosa nieder, die unter den zeitgenössischen spätaufklärerischen Autoren europaweit ihresgleichen sucht.31 Die Koordinaten seiner Poetik vertraut Klinger einer seiner wichtigsten Figuren in der Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit an: Die Spuren der Theorie der Dichtkunst, von welcher ich spreche, findet man ebenso selten in geistigen Darstellungen als in Taten und Handlungen; denn ich rede von der hohen moralischen Kraft, die allein den Helden und den Dichter macht, und ohne welche es zwar mancher durch Talente und glückliche Umstände scheinen, aber nie es wirklich in seinem Innern seyn kann.32
Sichtbar werden in Klingers Spätwerk Augenblicke der Verdichtung und epische Aperçus glänzender Sprachkraft, die das soziale und gesellschaftskritische Potential, aber auch die staats- und rechtsgeschichtliche Kompetenz des bisweilen ins exotische Gewand eingehüllten Romanzyklus vollends zutage fördern. „Diese so sehr unter sich verschiedne Werke“, bemerkt der Autor in der im Nachhinein geschriebenen und von einem gewissen Übermut getragenen Vorrede zu den philosophischen Romanen, „sollten des Verfassers, aus Erfahrung und Nachdenken entsprungene Denkungs Art, über die natürlichen und erkünstelten Verhältnisse des Menschen enthalten, sein ganzes moralisches Daseyn umfassen, und alle Punkte desselben berühren“.33 Die in Klingers Romanen dargestellten Lebenswelten sind aus diesem Grund von einer zum Teil bis ins Äußerste getriebenen räumlichen und zeitlichen Vielfalt gekennzeichnet: vom Europa der Gegenwart über das Europa des Spätmittelalters und der Renaissance im Dürerstil bis hin
29 Dazu Renato Saviane: „Kraftkerl“ e „Tugendheld“. F. M. Klinger dai drammi dello ,Sturm und Drang‘ ai romanzi della maturità. In: Studi germanici N.F. 7, Nr. 2–3 (1969), S. 186–236, bes. S. 192f. 30 Zu Klingers Studium der Rechtswissenschaft in Gießen und dessen Bedeutung für die Entwicklung seiner Poetik vgl. Rieger: Klinger (wie Anm. 1), S. 25–29. 31 Vgl. Thomas Salumets: Ein ,etablierter Außenseiter‘: Friedrich Maximilian Klinger und die Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit. In: Euphorion 96 (2002), S. 421–435. 32 Friedrich Maximilian Klinger: Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit. In: Werke. Bd. 8. Leipzig 1832, S. 13. 33 Klinger: Vorrede zu den philosophischen Romanen (wie Anm. 2), S. 44f.
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zum asiatischen Raum der Gegenwart oder einer nicht weiter präzisierten mythischen Vergangenheit.34 „Daher nun“, so Klingers Erläuterung, der bloß scheinbare Widerspruch dieser Werke unter und gegen einander, welcher manchen Leser irre leiten könnte; und darum scheint oft das folgende Werk niederzureissen, was das vorhergehende so sorgfältig aufgebaut hat. Beydes ist hier Zweck, und da uns die moralische Welt in der Wirklichkeit, so viele verschiedne, sich oft bis zur Empörung widersprechende Seiten zeigt, so mußte eine jede, weil jede in der gegebenen Lage die wahre ist, so und nicht anders aufgefaßt werden.35
Der Romancier sorgt freilich kaum für epische Integration oder Stimmigkeit. Dafür eröffnet er seinem Publikum ein erstaunlich mannigfaltiges und lebendiges Szenarium des Imaginären, in dem sich die Wirklichkeit der Zeitgeschichte, die Errungenschaften der spätaufklärerischen Anthropologie zusammen mit den Desiderata einer utopisch ausgerichteten Dichtungsweise widerzuspiegeln und zu verbinden vermögen. In den Brennpunkt der Aufmerksamkeit rücken grundsätzlich „Gesellschaft, Regierung, Wissenschaften, Religion, hoher idealischer Sinn, die süßen Träume von einer andern Welt, die schimmernde Hoffnung auf reinres Daseyn nach dieser Erde“.36 Diese sollten „in ihrem Werthe und Unwerthe, in ihrer richtigen Anwendung und ihrem Mißbrauche, aus den ausgestellten Gemählden hervortreten, die natürlich eben so vielfältig werden mußten, als sie sich uns in der moralischen Welt, durch ihren schneidenden Kontrast auffallend, darstellen“.37 Die hart erkämpfte Lebensweisheit (insbesondere während der Schreckensherrschaft unter Zar Paul I.) und der praktische Realismus, die den „General-Major“, Diplomatiker und Hofmann Klinger auszeichnen, kommen seinem schriftstellerischen Unternehmen zugute. Die Anthropologie liefert das notwendige Instrumentarium zur Nachzeichnung von komplexen Charakteren und zwielichtigen Figuren, die allenthalben Realitätsnähe aufweisen und zugleich Anspruch auf zeitlose, allegorische, ja ,typische‘ Allgemeinheit erheben dürfen.38 „Kontrast“, 34 Hierzu vgl. Michael Titzmann: Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung. In: Ders.: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Hg. v. Wolfgang Lukas u. Claus-Michael Ort. Berlin u. Boston 2012, S. 129–170. 35 Klinger: Vorrede zu den philosophischen Romanen (wie Anm. 2), S. 44. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Zum Anthropologiebegriff der deutschsprachigen Spätaufklärung siehe den Überblick von Jörn Garber: Anthropologie. In: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 23–40. Zur ,literarischen Anthropologie‘ (mit weiterführender Literatur) siehe Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008.
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„Kampf“, „Widerspruch“ – das sind die Hauptmerkmale in Klingers zwiespältigem Menschenbild. Dargestellt werden soll der Mensch „bald in seiner glänzendsten Erhabenheit, seinem idealischen Schwunge, bald wieder in seiner tiefsten Erniedrigung, seiner flachsten Erbärmlichkeit“.39 Die Identität der Hauptfiguren ist gespalten, geradezu von einem Riss durchzogen. Ihre Psyche erweist sich als ein singularkollektiver Schauplatz, auf dem ein unaufhörlicher Kampf konfligierender Instanzen ausgetragen wird. Die Tugend wird dabei als Hilfs- und Heilmittel konsequent eingesetzt, und dies sowohl in Bezug auf alle internen Unterdrückungsverhältnisse, die mit der doppelten Natur des Menschen einhergehen, als auch im Hinblick auf gesellschaftsbedingte Subordinationsformen, die politisch mündiges Handeln beeinträchtigen. Diese anthropologische Grundannahme über eine dem Menschen innewohnende Spaltung lässt sich für Klinger gerade anhand der historischen Ereignisse seiner Gegenwart ohne Weiteres bestätigen. Die Ursache davon trägt den Namen „Revolution“. Alte Zustände werden umgestoßen, radikal neue treten auf, sämtliche Gesetzgebungen wechseln blitzartig, widersprechende Gestaltungen ziehen rasch vorüber. „So“, unterstreicht der Autor, findet der Leser in diesen Werken den rastlosen, kühnen, oft fruchtlosen Kampf der Edlen, mit denen von dem Wahn gezeugten Gespenstern, die Verzerrungen des Herzens und des Verstandes, die erhabenen Träume, den verderbten, thierischen und den reinen, hohen Sinn, Helden Thaten und Verbrechen, Klugheit und Wahnsinn, Gewalt und seufzende Unterwerfung.40
Kurzum: „Die ganze menschliche Gesellschaft mit ihren Wundern und Thorheiten, allen ihren Scheußlichkeiten und Vorzügen“.41 Der betriebene Aufwand könnte größer kaum sein. Klinger geht mutig das intellektuelle Wagnis und das publizistische Risiko ein, sich dieser Aktualität zu stellen: „Hier nun muß die Erfahrung und nicht die Theorie das Urtheil sprechen, denn die Widersprüche zu vereinigen oder das Räthsel gar zu lösen, geht über unsre Kräfte“.42 Am Anfang der anspruchsvollen Romandekade sticht Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt (St. Petersburg, recte: Leipzig 1791) hervor. Es folgen deutlich weniger erfolgreiche, in einer Art Butzenscheibenton gehaltene Werke wie die Geschichte Giafars des Barmeciden (St. Petersburg, d.h. Leipzig 1792–1794), die Geschichte Raphaels de Aquillas (St. Petersburg, d.h. Leipzig 1793) und die Reisen vor der Sündfluth (Bagdad, d.h. Riga 1795). Zwei Jahre später gibt 39 Klinger: Vorrede zu den philosophischen Romanen (wie Anm. 2), S. 44. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd.
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Klinger den Faust der Morgenländer zum Druck. 1798 erscheint in Tiflis (sprich: Riga) Sahir, Eva’s Erstgeborener im Paradiese mit dem signifikanten Untertitel „Ein Beytrag zur Geschichte der Europäischen Kultur und Humanität“. Als deutlich erfolgreicher erweisen sich indes die im gleichen Jahr in Leipzig veröffentlichte Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit, für deren zweite Auflage die erwähnte Vorrede abgefasst wurde, sowie Der Weltmann und der Dichter, das einzige Werk der Klinger’schen Dekade, das im Leipziger Erstdruck nicht anonym erscheint. „So“, liest man weiter in der Vorrede, steht nun das ganze Menschengeschlecht in seiner Größe, Herrlichkeit und Erhabenheit, in seiner Niedrigkeit, Thorheit und Erbärmlichkeit, mit allen seinen hohen Tugenden, Eigenschaften u Fähigkeiten, scheußlichen Lastern und widrigen Verzerrungen und dem ganzen Gefolge aller Mißbräuche seiner Fähigkeiten, auf diesem so sonderbaren als schaudervollen Schauplatze […].43
Zwar rekurriert Klinger für sein groß angelegtes Projekt explizit auf das Medium des Romans, doch wurzelt seine poetische Gesinnung – bei näherer Betrachtung – tief im Bereich der theatralischen Vorstellungswelt, denn er spricht mehrfach von einer „sonderbaren Weltbühne“ und von einem „schaudervollen Schauplatz“ des Menschlichen, „über dem“ – so die illusionslose Pointe – das „tiefe, zermalmende Schweigen“ herrscht.44 Grundlegend ist dabei die auf eine alte Tradition zurückblickende Vorstellung von der historischen Welt als einer Bühne, auf der die Menschen ihre Rollen spielen. „Aus der scaena vitae“, so hat man festgestellt, „ist damit ein theatrum mundi geworden“.45 Bei Klinger erfährt der Schauplatz der Geschichte als einer unermesslichen Tragödie eine auffällige Ausdehnung auf den gesamten Erdkreis und findet im revolutionären Frankreich der Jahre 1792/94 gleichsam seinen Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund der Pariser Revolutionsgräuel – in Deutschland unter anderem dank der ausführlichen Korrespondentenberichte in Archenholz’ Zeitschrift Minerva oder in Girtanners Historischen Nachrichten und politischen Betrachtungen über die französische Revolution bestens bekannt und den meisten Literaten, zusammen mit dem offiziösen Moniteur, verhältnismäßig leicht zugänglich – entwickelt Klinger gleichsam eine dichterische Reaktion, die zwischen einem nüchternen bzw. ernüchternden Nihilismusverdacht46 („das tiefe, zermalmende 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Zu dieser Tradition vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern u. München 81973, S. 148–154, hier S. 150. 46 Man hat auch von „tapfere[m] Agnostizismus“ gesprochen. Vgl. Christoph Hering: Friedrich Maximilian Klinger. Der Weltmann und Dichter. Berlin 1966, S. 349.
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Schweigen“) und einem kantianisch gefärbten Rekurs auf die Gewissheit des kategorischen Imperativs als einzige Orientierungsinstanz und Stolzquelle in moralibus die Mitte hält: „Nichts beantwortet dieses schreckliche Schweigen, als unsre innere moralische Kraft, und auch sie selbst nur durch ihr Wirken“47 – so lautet die Devise. Die Dichtung leistet Beistand. Und das ist keine geringe Aufgabe. Das Wort ‚Tugend‛ taucht dabei nicht auf, ist jedoch mitgedacht. Wie Klinger am 1. März 1798 an Nicolovius schrieb, was ist die Dichtkunst, wenn sie nicht ein Balsam für die Wunden des Schicksals wird! Wenn sie uns nicht über die enge, ängstliche Lage erhebt. Wenn sie den Armen nicht reich macht – den gedrückten nicht emporhebt.48
Hier vernimmt man die Stimme eines überzeugten und praktizierenden Aufklärers, eines engagierten Literaten, der angesichts der schaurigen Beispiele strafender Grausamkeit und mordenden Terrors die Sache der Aufklärung von Grund auf hinterfragt, sie mit ihren Widersprüchen konfrontiert und neue Fragen aufwirft, ohne jedoch vorschnelle oder leichtfertige Antworten liefern zu wollen. Das betrifft insbesondere die letzten zwei Teile der Romandekade. Nach der Drucklegung von Weltmann und Dichter schreibt Klinger an Nicolovius: „Da haben Sie nun 8 Werke von den zehen – das Neunte wird sich bald hervordrängen; aber das Zehente?“49 Jenes Neunte, das sich hervordrängen sollte, war ursprünglich als eine Art Autobiographie gedacht, die jedoch „unter dem Drang der Gewalt“ des Zaren50 nie zustande kam, wohingegen der zehnte, abschließende Teil mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit51 zwischen 1798 und 1799 konzipiert und niedergeschrieben wurde. Dieses zehnte Werk erschien erst 1803 unter dem Titel Bruchstücke aus einer Handschrift: Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit, anonym und unauffällig genug am Ende des ersten Bandes von Klingers bedeutender Aphorismensammlung Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur.52 Im Folgenden werden zwei Statio-
47 Klinger: Vorrede zu den philosophischen Romanen (wie Anm. 2), S. 45. 48 Zit. nach Rieger: Klinger (wie Anm. 1), S. 38f., hier S. 39. 49 Ebd. 50 Brief Klingers an Nicolovius vom 16. Juni 1801, zit. nach Rieger: Klinger (wie Anm. 1), S. 53f. Vgl. ferner Max Rieger: Klinger in seiner Reife. Darmstadt 1896, S. 411. 51 Zur Datierung und Drucklegungsgeschichte: Matthias Luserke: Nachwort. In: Friedrich Maximilian Klinger: Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit. Saarbrücken 1989, bes. S. 43f. 52 Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur. [1. Teil] Nebst Bruchstücken aus einer Handschrift. Cöln, Peter Hammer [scil. Leipzig, Hartknoch], 1803, S. 285–415.
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nen aus Klingers Romandekade herausgegriffen, ihr Anfang und ihr Ende. Durch textnahe Erkundungen sollen dabei die komplexen Verflechtungen von Tugend, Kraft und Poesie deutlich zutage gefördert werden.
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3 Poetisch-moralische Kraft in Zeiten einer allgemeinen Umwälzung Aus den klassizistisch anmutenden Gartenanlagen von Pawlowsk, dem Sommersitz von Marija Fëdorovna, Witwe von Zar Paul I., schreibt Klinger am 26. Mai 1814 einen bedeutenden Brief an Goethe, in dem er mit kühlem Blick die verschiedenen Phasen seiner eigenen schriftstellerischen Laufbahn mustert.53 Nach einer raschen Erwähnung der frühen Theaterstücke54 der 1770er Jahre kommentiert Klinger eingehend seine „wichtigere Periode als Schriftsteller“ und bezieht sich damit auf die Zeit, als das großangelegte Projekt seines Romanzyklus in zehn Bänden zwischen 1791 und 1803 entstand und ausgeführt wurde.55 „Schon sehr früh“, bekennt Klinger, „machten die meinem innern Sinn widersprechenden Erscheinungen der um mich wirkenden moralischen und politischen Welt, einen düstern Eindruck auf mich“.56 Im wirbelnden Zeitalter zwischen Französischer Revolution und Restauration vollzieht sich das, was Klinger als eine „Abrechnung mit mir“ selbst bezeichnet.57 „Charaktere, im Kampfe, wie ich es selbsten war, mit der Welt und den Menschen“58 sollen die Signatur des Zeitalters versinnbildlichen. Eröffnet wird damit ein äußerst mannigfaltiges, geradezu agonales Szenarium, in dem sich die Wirklichkeit der Zeitgeschichte59 und die verschiedenen historisierenden Settings der einzelnen Romane mit den Instanzen einer anhaltenden Reflexion in Sachen der Moral zu verbinden wissen. Am Anfang der Romandekade steht Faust. Die Auseinandersetzung mit der Ästhetik und dem philosophischen Projekt der Stürmer und Dränger, die bereits wegen ihres Sammelnamens direkt mit Klinger assoziiert werden,60 ist scho53 Der Brief, zuerst abgedruckt im Goethe-Jahrbuch III (1882), S. 257–264, wird nach folgender Ausgabe zitiert: Briefe an Goethe. Bd. II, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow. München 1982, S. 147–153. 54 Hierzu Anna Poeplau: Selbstbehauptung und Tugendheroismus. Das dramatische Werk Friedrich Maximilian Klingers zwischen Sturm und Drang und Spätaufklärung. Würzburg 2012. 55 Friedrich Maximilian Klinger an Johann Wolfgang Goethe, 26. Mai 1814. In: Briefe an Goethe, Bd. II (wie Anm. 53), hier S. 149. 56 Ebd., S. 149f. 57 Ebd., S. 150. 58 Friedrich Maximilian Klinger an Johann Wolfgang Goethe, 26. Mai 1814. In: Briefe an Goethe. Bd. II (wie Anm. 53), hier S. 150. 59 Zum Begriff der Zeitgeschichte als poetologisch relevanter Kategorie siehe Iwan-Michelangelo D’Aprile: Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Mit einer Edition von 93 Briefen von Friedrich Buchholz an Johann Friedrich Cotta und Johann Georg Cotta 1805–1833, Berlin 2013. 60 Hierzu besonders ergiebig: Osterwalder: Die Überwindung (wie Anm. 1).
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nungslos. „Ich fing gleich mit Faust an“, so heißt es weiter in dem oben erwähnten Brief an Goethe, und stellte in demselben das Thema so auf, wie es mich, in den düsteren Stunden der Vergangenheit, geplagt hatte. Und so geht es natürlich wild, leidenschaftlich, gewaltsam darin her, wie es auf einem Kampfplatz hergehen mußte, worauf sich ein kraftvoller Geist, durch das ihn Empörende aufgeregt, aus innerm Grimm schlägt.61
Kraft, Kampf und Genie bilden den Rahmen, in den Klingers Faust eingebettet ist. Seine malkontente Figur sucht ,naturgemäß‘ „die Antwort auf seine kühne [!] Fragen“.62 Was bleibt, nachdem die Erwartungen einer stürmerischen Generation im mare magnum der Zeitgeschichte einen Schiffbruch erlitten haben? Als tentative Antwort auf „quälende Rätsel“ dieser Art lässt sich Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt adäquat auslegen. „Aus der wirklichen und redlichen eigenen Anwendung seiner moralischen Kraft“63 heraus soll sich für den Menschen eine tragfähige, ja praktikable ethische Vision ergeben, die befähigen soll, auf das „Schweigen“ herkömmlicher Muster in Zeiten einer allgemeinen Krise zu reagieren. Die Anfänge sind besonders farbig. Wie es in der späteren „Vorrede“ zu den zehn Romanen heißt: So steht nun das ganze Menschengeschlecht in seiner Größe, Herrlichkeit und Erhabenheit, in seiner Niedrigkeit, Torheit und Erbärmlichkeit, mit allen hohen Tugenden, Eigenschaften und Fähigkeiten, seinen scheußlichen Lastern, widrigen Verzerrungen und dem ganzen Gefolge aller Mißbräuche seiner Fähigkeiten auf diesem so wunderbaren, sonderbaren als schaudervollen Schauplatze, und über dem Schauplatze herrscht tiefes, zermalmendes Schweigen auf alle obige [!] Fragen.64
Die Reflexion über die individuelle Tugend, ihre Beschaffenheit und ihre Grenzen spielt in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Es wird also zunächst einmal darum gehen, eine Interpretation von Klingers Faust-Roman aus der Gesamtschau vorzuschlagen, die um eine besondere Auffassung des Tugendbegriffs kreist, die 61 Friedrich Maximilian Klinger an Johann Wolfgang Goethe, 26. Mai 1814. In: Briefe an Goethe, Bd. II (wie Anm. 53), S. 150f. 62 Ebd., S. 151. 63 Ebd. 64 Klinger: Vorrede, zit. nach Rieger: Klinger (wie Anm. 1), S. 44f. – Zur Poetik der Dekade siehe Harro Segeberg: Friedrich Maximilian Klingers Romandichtung. Untersuchungen zum Roman der Spätaufklärung. Heidelberg 1974. Ferner: Giulia Cantarutti, „,Da nichts diese Fragen beantwortet als unsere moralische Kraft‘. Der Weltmann und der Dichter di Klinger“. In: Cultura tedesca XIX (2002), S. 9–46 und Harro Segeberg: Friedrich Maximilian Klinger. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegen-Klassik. In: Ortrud Gutjahr und Harro Segeberg (Hg.): Klassik und AntiKlassik. Goethe und seine Epoche. Würzburg 2001, S. 279–293.
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sich gleichsam neben herkömmlichen Tugendvorstellungen aus dem Wortfeld der Keuschheit und frommen Askese im ausgehenden 18. Jahrhundert entfaltet hat.
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4 Klingers Faust, oder die Grenzen der vita activa Die „Bühne der Welt“65 präsentiert sich in Klingers Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt – erschienen zuerst 1791 anonym in Leipzig66 – als ein Panoptikum menschlicher Grausamkeit. Eine veritable Hölle auf Erden in den Händen rücksichtloser Tyrannen verschiedenster Provenienz zeichnet sich in den fünf Büchern des Romans, insbesondere in seinen mittleren Partien, mit entwaffnender Offenheit ab. „Scenen“ strafender Atrozität und stummer Gewalt markieren den Triumph einer grenzenlosen nequitia cordis, die zur Signatur der erzählten Epoche (16. Jahrhundert) avanciert, die aber auch als unverkennbares Spezifikum angeborener menschlicher Verwerflichkeit vorgestellt wird. Mag das Böse, nach dem berühmten Diktum Hegels, „kahl und gehaltlos“ sein,67 so wird es bei Klinger durch Hinweise auf herbste Wirklichkeitserfahrungen auf’s Lebendigste veranschaulicht und den Zwecken einer bewegten Narration dienlich gemacht. Ausführliche Darstellungen kaltblütiger Brutalität – darunter Szenen in Folterkammern, kannibalische Schmäuse, grausame Hinrichtungen68 – sollen zusammen mit der Schilderung religiöser und höfischer Missstände (Papst Alexander VI. Borgia ist das Paradebeispiel69) den Zusammenprall von anthropologischer Beobachtung und moralischen Ansprüchen bzw. Erwartungen indizieren. Denkbar fern von der Tradition der Fastnachtsspiele und der Teufelsschwänke gehört Klingers Faust-Werk, die erste deutschsprachige Verarbeitung des Faust-Stoffs in Romanform,70 zu den literarischen Entwürfen einer literari65 Friedrich Maximilian Klinger: Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt. Hg. v. Sander L. Gilman. In: Ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 11. Tübingen 1978, S. 43. Die von Gilman betreute historisch-kritische Ausgabe ermöglicht der Leserschaft durch einen sorgfältig redigierten Apparat eine exakte Wahrnehmung der Textbasis in der Ganzheit ihrer Varianten. 66 [Friedrich Maximilian Klinger:] Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt in fünf Büchern. St. Petersburg, bey Johann Friedrich Kriele [=Leipzig, Jacobäer], 1791. Im Jahr 1794 erschien eine „zweyte, mit umfangreichen Zusätzen“ versehene Ausgabe. Darauf folgte 1799 eine dritte, „neue verbesserte Ausgabe“. Der Faust-Roman bildete dann, nach gründlicher Bearbeitung in Zusammenarbeit mit Karl Morgenstern in Dorpat, den dritten Band von Klingers Ausgabe letzter Hand (1815). Zu Klingers Lebzeiten erfolgten nachweislich mindestens zwei Raubdrucke (1792 in „Carlsruhe“; 1810 in Wien). 67 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Ders.: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. XIII, Frankfurt a.M. 1986, S. 289. 68 Vgl. Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 159–164. 69 Vgl. ebd., S. 165–168. 70 Dazu besonders ergiebig: Hans Jürgen Geerds: Friedrich Maximilian Klingers Faust-Roman in seiner historisch-ästhetischen Problematik. In: Weimarer Beiträge 6 (1960), S. 58–75, besonders S. 72–74.
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schen Anthropologie des Bösen.71 Es bezieht seine diegetischen und imaginativen Ressourcen in erster Linie aus dem Reservoir der Schauerromane, sprich: der Gothic und Sensation novels (Shelley, Radcliffe, Lewis, Walpole). Zugleich teilt es die thematischen Interessen des sogenannten ,anthropologischen Romans‘ der deutschsprachigen Spätaufklärung72 und erweist sich dabei insbesondere als wesensverwandt mit den kühnen Experimenten eines Johann Karl Wezel oder – mutatis mutandis – mit dem späteren Faust-Versuch August Klingemanns.73 Die stilistischen Neuerungen, die sich aus Klingers Arbeit an einer prononcierten Dialogizität ergeben,74 verbinden sich außerdem mit den Darstellungsweisen einer traditionsbewussten Allegorese des Bösen mit ihrem Heer von Teufeln, Lastern, Schurken und Bösewichtern.75 Die erste Szene in der Hölle76 ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel allegorischer Darstellung. Als Garten der Schrecknisse und der Finsternis ist die Klinger’sche Hölle „auf militärischen Fuß eingerichtet“ und „gleicht darin jedem despotischen Reich“.77 Satan, der „Herrscher der Hölle“, erscheint traditionsgemäß „in erhabner, stattlicher und kraftvoller Gestalt“78 und praktiziert, gemeinsam mit seinen unterirdischen „Sclaven“ unentwegt ,Psychophagie‘.79 Es entsteht dabei sogleich ein düsteres Fresko, in dem die traditionelle metaphysische Ikonologie des Bösen (im Roman: ein von Leviathan inszeniertes „allegorische[s] Ballett“, in dem die „Moral“ ein „Trio“ mit den Personifizierungen von Tugend und Laster tanzt80) mit den Instanzen einer psychologisch-anthropologischen Auslotung der inneren Spannkräfte des Menschen einhergeht. Die „moralische Kraft“ des Protagonisten wird dadurch mehrfach im Roman auf die Probe gestellt – und das Grauen, das daraus erwächst, mag 71 Darauf aufmerksam macht Sabrina Habel: Die Signatur des Bösen. Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt von Friedrich Maximilian Klinger. Heidelberg 2012. 72 Besonders wichtig: Titzmann: Friedrich Maximilians Klingers Romane (wie Anm. 34) und Michael Müller: Philosophie und Anthropologie der Spätaufklärung. Der Romanzyklus Friedrich Maximilian Klingers. Passau 1992, bes. S. 182–240. 73 Dazu Elena Agazzi: Il Faust di Klingemann: un testo drammaturgico dimenticato. In: Hermann Dorowin, Rita Svandrlik u. Uta Treder (Hg.): Il mito nel teatro tedesco. Studi in onore di Maria Fancelli. Perugia 2004, S. 145–161. Zur Faust-Problematik siehe Carsten Rohde (Hg.): FaustHandbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Stuttgart 2018. 74 Vgl. Guy Stern: Dialogisiertes Epos: Betrachtungen zu Klingers Faust-Roman. In: Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann und Wolf Wucherpfennig (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. FS Wolfram Mauser. Würzburg 1993, S. 327–338, bes. S. 332–334. 75 Vgl. Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen. München 2010, bes. S. 78–86. 76 Vgl. Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 17–20. 77 Ebd., S. 18. 78 Ebd., S. 35. 79 Ebd., S. 17. 80 Ebd., S. 27–31.
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manchen Lesern als nicht unbedingt angenehm vorgekommen sein.81 Denn im Laufe der recht verschlungenen Handlung kommen nicht nur grausame Figuren vor: Die Sprache des Erzählers selbst wird in ihren kühnen Ballungen gleichsam zum Instrument der Grausamkeit. Für Klingers Faust ist keinerlei Rettung vorgesehen.82 Allerlei Schmerzliches, Schädigendes, Beängstigendes und Bedrückendes zeugt im Roman von einer durchkalkulierten, beklemmenden Negativität, die wie ein „Riß“ die ganze Schöpfung durchzieht. Man hat diesbezüglich nicht zu Unrecht von einer gewissen Einseitigkeit des Negativen im Roman gesprochen.83 Die Hebel des Bösen lassen jedenfalls die dunkle Seite der göttlichen Schöpfung, ja die entsetzliche Seite einer als geradezu verfehlt erscheinenden Schöpfung vollends zutage treten. Die metaphysische Präsenz Gottes wird dabei zwar nirgends angezweifelt.84 Es will jedoch Faust scheinen, als habe sich der Allmächtige in einen Bezirk überirdischer, möglichst menschenferner Erhabenheit stillschweigend zurückgezogen und auf jeglichen Eingriff in die menschlichen Angelegenheiten verzichtet. Resultat davon ist ein grundsätzlicher Zweifel am humanen Sinn der Geschichte, am Gang der moralischen Aufklärung.85 Unter Verwünschung des ganzen menschlichen Geschlechts […] fieng [Faust] endlich an zu glauben, alle diese Greuel gehörten nothwendig zu der Natur des Menschen, der ein Thier sey, das entweder zerreißen oder zerrissen werden müßte.86
81 Siehe Klingers Kommentare hierzu in einem Brief an Schleiermacher vom 22. Juni 1792. In: Rieger: Klinger. Bd. I (wie Anm. 1), S. 33–35. Zu den großen Linien der Klinger-Rezeption: Sandra Pott: Imbecillitas und Genius. Überlegungen für eine Interpretation der ,philosophische[n] Romane‘ Friedrich Maximilian Klingers vor dem Hintergrund differenzierender Wertungen in der Literaturhistoriographie des 19. (und 20.) Jahrhunderts. In: Thomas Lange und Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, S. 237–258. 82 Man sollte diesen fundamentalen Unterschied zu Goethes Faust niemals vergessen. Zu Goethes Faust-Projekt im Kontext siehe die Studien von Hans-Jürgen Schings: Fausts Verzweiflung. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 97–123 und Ders.: Zustimmung zur Welt oder Faust und die Schöpfung“. In: Ders.: Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien. Würzburg 2011, S. 437–456. 83 Vgl. Hering: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 1), S. 277. 84 Vgl. Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 21. 85 Dies heben folgende Studien besonders nachdrücklich hervor: Jörg Schönert: Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten 18. Jahrhunderts: Wezels ,Belphegor‘, Klingers ,Faust‘ und die ,Nachtwachen von Bonaventura‘. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft XIV (1970), S. 183–229; Tim Lörke: Die Hybris der richtenden Vernunft. Klingers Faust und die Aufklärung. In: Faust-Jahrbuch 1 (2004), S. 149–164. In Bezug auf Klingers Faust hat man außerdem von einer „Autopsie“ des aufklärerischen Denkens gesprochen. Vgl. Luca Zenobi: Faust: il mito dalla tradizione orale al post-pop. Rom 2013, S. 31. 86 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 165.
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Auf diese Überzeugung hin arbeitet Klingers Satanfigur mit rastlosem Eifer – und dies durchaus gemäß der Tradition moderner Teufelsdarstellungen mit poetischpsychologisierendem Anspruch. Fausts periskopische Erkundungen menschlicher Verwerflichkeit erfolgen stets in Begleitung teuflischer Gestalten und diese weisen unverkennbar anthropomorphe Züge auf. Klingers Teufel schreibt sich in die Tradition des ,Human Satan[s]‘ ein,87 die auch im 18. Jahrhundert europaweit florierte. Dabei übernimmt Klingers Leviathan meistens gewissermaßen die Rolle eines Anti-Chaperons, da er Faust durch das „Feuer der Wollust“ und das Dickicht der Versuchung hindurch führt. „Nur du“, sagt Satan zu seinem treuen Trabanten, „kannst das gierige Herz, den stolzen, rastlosen Geist dieses Verwegnen fesseln, sättigen, und dann zur Verzweiflung treiben“.88 Faust selbst wundert sich – mit kaum verhohlener, bitterer Ironie – über die menschliche Gestalt des Teufels, der nicht mehr „mit den Hörnern und den Bocksfüßen“ erscheinen will, sondern unter der „Maske“ der Menschlichkeit, um ihre Abgründe exakt darstellen zu können.89 Konsequent vorgeführt werden daher bedenkliche Überschreitungen des Menschlichen. Verquere Phantasien als Erzeugnisse unbändiger, krankhafter Einbildungskraft sollen das Gleichgewicht von Fausts Außen- und Innenleben von Grund auf zerrütten. „Er sehe Böses aus Gutem entspringen, das Laster gekrönt, Gerechtigkeit und Unschuld mit Füssen getreten, wie es der Menschen Art ist“90 – so lautet das satanische Junktim in Klingers Formulierung. Doch damit nicht genug: „[E]r verkenne den Zweck, verliere unter den Greueln den Faden der Leitung und Langmuth des Ewigen“.91 Zwischen dem Sollen moralischer Lebensführung und der Ruchlosigkeit wirklichen Seins sei keine Vermittlung mehr möglich – so ließe sich vielleicht des Teufels Hauptthese adäquat wiedergeben. Schöpfungstheologisches Vertrauen soll fortan als eine schwärmerische Erscheinungsform der Frömmelei abgetan werden. Fausts „gebieterischer Ruf“92 ertönt dreimal in der Hölle. Der „Hunger“ seiner Kinder,93 die „Schuldenlast“ einer „leichtsinnige[n] Lebensart“ sowie die Unfähigkeit, durch den Verkauf seiner gedruckten Bibel die eigene Familie zu „erhalten“,94 bilden die notwendigen Ingredienzien eines tragischen ,Schau-
87 Hierzu Nancy Rosenfeld: Introduction. In: Dies.: The Human Satan in Seventeenth-Century English Literature. From Milton to Rochester. Aldershot 2008, S. 1–3. 88 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 32. 89 Ebd., S. 36. 90 Ebd., S. 32. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 34. 93 Ebd., S. 14. 94 Ebd., S. 9.
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Spiels des Geldes‘95 kosmischen Formats, wie es Klingers Faust im ersten Buch inszeniert. Materielle Not, Mangel an Geld, ausbleibender „Ruhm“96 sowie die markanten Züge einer vertrackten Psychologie im ominösen Zeichen von voluptas, ambitio und avaritia,97 die „Durst nach Unabhängigkeit und Wissen, Stolz, Wollust, Groll und Bitterkeit“ in sich vereinigt, fügen sich auf der Ebene der Erzählung nahtlos ineinander und tragen zur Idee einer Invokation des Teufels entscheidend bei. „In diesem Mißmuth nahm er [Faust] seine Zauberformeln vor“; der „Gedanke, etwas kühnes zu wagen, und Unabhängigkeit von den Menschen, durch die Verbindung mit dem Teufel zu suchen, schoß lebhafter als je durch sein Gehirn“.98 Der ehrgeizige Buchdrucker aus Mainz – „so die Tradition, welcher man hier allein folgt“, wird zu Beginn der Romans präzisiert99 – geht als Ikone der Unruhe in seinem Zimmer auf und ab. „Schwarze Nacht liegt auf der Erde“, die „Natur ist im Aufruhr“. Faust kämpft „mit seinen innern, aufrührerischen Kräften“, die „kühn“ versuchen wollen, „das Dunkel zu durchbrechen, das uns umhüllt“.100 Für Faust, der sich lange „mit den Seifenblasen der Metaphysik, den Irrwischen der Moral, und den Schatten der Theologie herumgeschlagen“ hat,101 stellt der Drang nach ultimativer Erleuchtung, ja nach radikaler Aufklärung in Sachen der moralischen Verhaltenslehre den Grund dar, der ihn zur „Verbindung“ mit dem Teufel bewegt. Wissensdurst heißt im Klingerschen Faust Durst nach Wissen um die wirkliche moralische Beschaffenheit oder Veranlagung des Menschen jenseits herkömmlicher ,vernünftelnder‘ Theorien oder theologisch grundierter Trostbemühungen. Ein schonungsloses Experiment mit den Wahrheiten der Anthropologie – das strebt Klingers Faust also an. Und Satan stellt sich in dieser Hinsicht gern zur Verfügung. Es geht letzterem doch um nicht weniger als die Möglichkeit, den endgültigen Nachweis einer grundsätzlichen Negativität des Humanen zu erbringen. Satans Ziel ist daher die „Verzweiflung“ Fausts. Zunächst soll diese als intransitive Lage verstanden werden: hoffnungslos soll Faust seine letzten Tage auf Erden verbringen. Dann aber soll seine „Verzweiflung“ auch eine transitive Valenz zeigen und sich als Akt einer fundamentalen Anzweiflung seiner moralischen Disposition erweisen. „Und 95 Grundlegend hierzu: Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005. 96 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 8. 97 Zur Klärung dieser Laster und ihrer poetologischen Funktionalisierung im 18. Jahrhundert siehe Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 95), bes. S. 227–372. 98 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 14. 99 Ebd., S. 7. 100 Ebd., S. 14. 101 Ebd., S. 7.
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wenn er dann abgerissen steht“, so erläutert Satan die Pointe seines Vorhabens im Gespräch mit Leviathan, „von allen natürlichen und himmlischen Verhältnissen, zweifelnd an der edlen Bestimmung seines Geschlechts […], so zergliedere ihm mit höllischer Bitterkeit die Folgen seiner Thaten, Handlungen und seines Wahnsinns, und entfalte ihm die ganze Verkettung derselben, bis auf künftige Geschlechter“.102 War in der Tradition der Faust-Sage die „Verzweiflung“ eine Voraussetzung von Fausts überheblicher curiositas („vnnd ist dieser Abfall nichts anders / dann sein stoltzer Hochmuht / Verzweifflung / Verwegung vnd Vermessenheit),103 so erscheint sie nun bei Klinger umgekehrt als eine Folge derselben. Fausts Verzweiflung soll sich primär im Zweifeln an der eigenen „edlen Bestimmung“ manifestieren. Nur so kann der tote Punkt erreicht werden, von dem aus jegliche Sinngebung haltlos wird, da der „Sinn der Wollust und des Genußes in ihm verdampft ist“ und „er sich an nichts mehr halten kann“.104 Zu diesem Zweck sollen sämtliche Ressourcen des Terrors mobilisiert werden. Die Erfahrung des Bösen soll Faust in die düstere Quelle der Verzweiflung tauchen, „der Verwegne soll diese und die Stunde seiner Geburt verfluchen, und den Ewigen einst lästern!“.105 Psychische Gewalt und schreiende Ungerechtigkeiten – was Aristoteles in der Poetik (1452b36) als „miarón“, also als ,Verrucht-Blutbeflecktes‘, bezeichnet – bereiten den Boden zu einer spezifischen Form der Verzweiflung durch einschneidende Schocks.106 Zerstört werden soll Fausts moralische Resilienz. Zur Ernte gehören dementsprechend Schauer, Angst, Schrecken, Widerwille und Abscheu. Fausts Begehren, durch Unbefriedigtsein ermattet, steigert sich und nimmt allmählich die Züge der acedia an, jenes Gefühlszustan102 Ebd., S. 32. 103 Historia von D. Johann Fausten (Druck 1587). Kritische Ausgabe. Hg. v. Stephan Füssel u. Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 1988, S. 21. 104 Ebd., S. 32. 105 Ebd., S. 34. 106 Das Gräßliche ist eine Kategorie, die auch im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhundert zum Tragen kommt. Hans-Jürgen Schings hält dazu fest: „So hat der Ausdruck ‚gräßlich‛ in der Ökonomie des bürgerlichen Trauerspiels eine geradezu terminologische Bedeutung. Lessing hatte sie im Anschluß an Aristoteles ausdrücklich eingeschärft, in einer zentralen Passage der Hamburgischen Dramaturgie. […] Das ‚Gräßliche‛ ist dort Lessings Übersetzung für das aristotelische miaron. Es bezeichnet die Wirkung, die das „Unglück ganz guter, ganz unschuldiger Personen“ auslöst“, Hans-Jürgen Schings: Luise Millerin, die Aufklärung und das Gräßliche. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Als Festgabe zum 80. Geburtstag herausgegeben von Wolfgang Riedel. Würzburg 2017, S. 249–264, hier S. 261. „Graß“ bedeutete „fürchterlich, abscheulich, gräulich, schrecklich“ und wurde „in weiterer Bedeutung zur Bezeichnung eines jeden hohen und übertriebenen Grades“ verwendet. Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders der Oberdeutschen. Zweyter Theil: von F – L. Leipzig 1796, Sp. 784.
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des, in welchem Traurigkeit und Niedergeschlagenheit mit Langeweile, Mut- und Lustlosigkeit einhergehen. Faust nimmt dabei die Position des wissensdurstigen Zuschauers ein und überlässt sich der absoluten Verfügung des Teufels. Eine resigniert kontemplative, im engeren Sinne: eine passive Haltung begleitet seinen traumatisierenden Gang durch die grauenerregende Galerie menschlicher Gräuel, die der Roman reichlich präsentiert. In zahllosen Tableaus grässlicher Begebenheiten wird das Bild einer grellen, unanfechtbaren Herrschaft des Bösen ausgemalt, die sich in erster Linie an der Unfassbarkeit der Leidenserfahrungen ihrer Opfer erfreut. „Finstre Gedanken, wie plagende Dämonen der Nacht, ziehen in meinem Gehirne herum“, bekennt Faust. Man „mordet ohne Form und Recht, und so wird der Mensch gleich dem Stier gefällt, ohne zu wissen warum er bluten muß“.107 Edle Bestimmung des Menschen? Ein Hirngespinst. Verbrecherische Übertretungen jeglicher Art fügen harmonischen Weltvorstellungen schwerste Schäden zu. Um das Ausmaß der Grausamkeit möglichst lebendig zu veranschaulichen, bemüht Klinger nicht zuletzt die Mittel hochkarätiger Intertextualität. Die exquisite Grausamkeit Ludwigs XII. beispielsweise, des „Allerchristlichen“ Königs von Frankreich, und des Bischofs von Verdun im Vierten Buch, seines geistlichen Schurken, die „scheußliche Kefiche“ für ihre Opfer verfertigen ließen, wird mittels einer Anekdote aus der Antike beschrieben, die dank Schiller im ästhetischen Milieu der Stürmer und Dränger recht berühmt wurde. „Der König“, berichtet Klingers Bischof von Verdun, „ließ sogleich nach dem von mir gegebenen Muster zwey [Käfige] machen, und wies mir, dem Erfinder, den ersten zur Wohnung an. Hier büße ich nun schon vierzehn Jahre für meine Sünde, und flehe täglich den Tod, meiner Marter ein Ende zu machen“.108 Worauf Faust antwortet: „Ha! ha! Ew. Ehrwürden hat also, ein neuer Perillus, auch seinen Phalaris gefunden. Ihr wißt doch die Geschichte?“ und erzählt sie folgendermaßen als leuchtendes exemplum crudelitatis: Dieser Perillus, der nebenher weder ein Bischof noch ein Christ war, goß einen ehernen Ochsen, den er dem Tyrannen Phalaris als ein Meisterstück zeigte, und ihn versicherte, er habe ihn so zugerichtet, daß wenn seine Majestät einen Menschen hinein stecken, und ihn durch untergelegtes Feuer glühend machen ließen, das Geschrey des geplagten Menschen, das Brüllen eines Ochsen ganz genau nachahmen würde, welches Seiner Majestät viel Vergnügen machen könnte. Phalaris antwortete: wackrer Perillus, es ist billig, daß der Künstler sein Werk selber probe! Hierauf mußte der Künstler in den Ochsen kriechen, es ward Feuer darunter gelegt, er brüllte wie ein Ochs, und so spielte vor tausende Jahren Phalaris die Geschichte, die der Allerchristliche König mit euch, Ehrwürdiger Bischof von Verdün, nur wiederholt hat.109 107 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 162. 108 Ebd., S. 157. 109 Ebd., S. 157f.
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„Nur wiederholt“ – nichts Neues unter der Sonne der Grausamkeit. Die krude Geschichte, die Klingers Roman erzählt, weiß nur schreckliche alte Vorbilder aufzubieten, d.h. immer neue Aktualisierungen eines ‚Ewig-Bösen‛, das in einem historischen Längsschnitt durch die Jahrhunderte keinen Wandel durchläuft. Auf die selbe Geschichte des Erzgießers Perilaos (6. Jh. v. Chr.), der dem Tyrannen Phalaris von Agrigent einen hohlen Ochsen aus Erz schenkte, hatte bereits Schillers Karl Moor Bezug genommen, um daraus jedoch einen womöglich noch erschreckenderen Schluss zu ziehen: „Warum hat mein Perillus einen Ochsen aus mir gemacht, daß die Menschheit in meinem glühenden Bauche bratet?“ (IV, 5).110 Ein rätselhaftes Echo dieser Geschichte findet sich, gleichsam pluralisiert, auch in Schillers Rousseau-Gedicht, in dem „schlauere Perille“ ein „noch musikalischer Gebrülle“ erfanden, als „dort aus dem ehrnen Ochsen schrie“ (V. 58–60, S. 385). Fest steht: Solch verheerende Grausamkeit konfrontiert den Menschen mit Abgründen geradezu bramarbasierender Gewalt, angesichts derer selbst stoisch gefärbte Bewältigungsmuster an Überzeugungskraft verlieren müssen. Seelische Verirrungen, Perversionen, Schandtaten und Blasphemie rufen eine Krise des metaphysischen Optimismus hervor,111 die zu dramatischen Folgerungen bis zu Anflügen des Wahnsinns nötigt. Die Beschwörung des Grässlichen zerreißt das aufgeklärte Vertrauen in eine vernünftige Weltordnung. Und es trifft sich in dieser Hinsicht gut, dass 1791, im Erscheinungsjahr von Klingers Roman, auch Kants Abhandlung „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee“ in der Berlinischen Monatsschrift publiziert wurde.112 In beiden Fällen handelt es sich um eine anthropologische Besinnung, geleitet von den Erfahrungen und den Sorgen der gegenwärtigen Situation in moralibus. Beide ratifizieren, naturgemäß auf je eigene Art, eine fundamentale Desillusionierung. Was darüber hinweghelfe, wird in beiden Fällen nicht explizit verraten. Und Kant gibt – wenn man so will – die Handhabe, auf Klinger zurückzugreifen: er liefert die prägnante Formel, mit der
110 Friedrich Schiller: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781). In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 2. Hg. v. Gerhard Kluge. Frankfurt a.M. 1988, S. 131. 111 Diesem Aspekt widmet sich Mirjam Schaub: Grausamkeit und Metaphysik. Zur Logik der Überschreitung in der abendländischen Philosophie und Kultur. In: Dies. (Hg.): Grausamkeit und Metaphysik. Figuren der Überschreitung in der abendländischen Kultur. Bielefeld 2009, S. 11–33. 112 Immanuel Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VIII. Berlin u. Leipzig 1923, S. 255–271. – Zu Klingers Auseinandersetzung mit Kant weitläufig (ohne die hier behandelten Texte): Oskar Erdmann: Ueber die Stellung F. M. Klingers zur Kant’schen Philosophie. In: Altpreussische Monatsschrift. N.F. 15 (1878), S. 57–66.
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man die intrikate Handlung von Fausts „Verdamniß“113 und seiner „Höllenfahrt“ interpretatorisch rechtfertigen könnte. Im Laufe seiner Geschichte ist er nämlich, um zum Kant-Wort zu greifen, ein „contemplativer Misanthrop“ geworden, der „keinem Menschen Böses wünscht, wohl aber geneigt ist von ihnen alles Böse zu glauben“.114 Die Erfahrung in der irdischen Welt ist für Faust fortan einseitig geprägt durch radikal-pessimistische Töne. Jegliche Offenheit oder Aufnahmefähigkeit für Ausnahmeerscheinungen ist ihm abhandengekommen. Wie Satan am Ende feststellt: „Verzweiflung, Vermessenheit, Haß, Groll, Schmerz und Wahnsinn, haben tiefe Furchen in seine Seele gerissen“,115 die „rasende Verzweiflung rollte sich in scheußlichen Zügen, auf seiner Schattengestalt“.116 Klingers Satan ist im Roman der klügste Menschenkenner.117 Durchschaut hat er Fausts Naturell auf Anhieb. „Es ist Faust der da ruft; nur dem Kühnen konnte es gelingen, nur der Verwegne konnte es wagen, so gewaltsam an die ehernen Pforten der Hölle zu schlagen“.118 ‚Kühn‛ und ‚verwegen‛ sind also die einschlägigen Prädikate, die bei der Konturierung seines Profils verwendet werden. Der ausführliche Befund lautet dann folgendermaßen: Er ist einer von denen, die die Natur zum Großen geschaffen, mit allen heißen Leidenschaften ausstaffiert hat, und die sich gegen die alten Verträge empören.119
Der Teufel kennt das revolutionäre Potential, das in Fausts Charakter liegt; er spürt dessen leidenschaftliche Neigung, das Wirkliche im Namen des Möglichen radikal in Frage zu stellen und dies im Hinblick auf ein nicht zuletzt politisches Ideal notwendiger Gerechtigkeit, welche die Legitimität des status quo hinterfragt. Darin besteht sein ,Wagnis‘. Klingers Faust, hat man festgestellt, „gewinnt seine letzte und bleibende Identität in seiner Unversöhnlichkeit, seinem metaphysischen Trotz“.120
113 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 225. 114 Immanuel Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (wie Anm. 112), S. 270. 115 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 223. 116 Ebd., S. 226. 117 Vgl. ebd., S. 25. 118 Ebd., S. 31f. 119 Ebd., S. 34. 120 Helmut Kreuzer: Fragmentarische Bemerkungen zum Experiment des ,faustischen Ich‘. (Mit Schwerpunkt auf Klingers ,Faust‘-Roman). In: Ulrich Fülleborn u. Manfred Engel (Hg.): Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion. München 1988, S. 131–150 (Diskussionsprotokoll S. 150–154), hier S. 145.
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In der Literatur der Spätaufklärung steht er nicht allein als Vertreter dieses Menschentyps.121 Eine gewisse Familienähnlichkeit ließe sich zwischen ihm und Michael Kohlhaas oder Ignaz Denner nachweisen.122 Sicherlich teilt Klingers Faust jene Explosionen des Geistes, welche die meisten Figuren der Sturm-undDrang-Literatur auszeichnen und die Klinger selbstverständlich gut kannte. Mit Satans Worten: Wenn ein solcher Geist durch dieses Spinnengewebe reißt, so gleicht er einer Flamme, die durch ihre Heftigkeit den Stoff ihres Glanzes nur schneller aufzehrt. Er ist einer der Philosophen auf bel esprit gepfropft, die durch die Einbildungskraft faßen wollen, was dem kalten Verstand versagt ist, und die, wenn es ihnen mißlingt, alles Wissen verlachen, und den Genuß und die Wollust zu ihrem Gott machen.123
Die prägnante Schlussfolgerung des Teufels lautet: „wahrlich der Kerl ist ein Genie“.124 Man hat angesichts solch scharfer Worte – und insbesondere in Bezug auf das Verlachen des Wissens und die Hingabe an Wollust und Genuss – wiederholt von Nihilismus gesprochen,125 von einer nihilistisch-materialistischen Tendenz, die Fausts Einstellung restlos erklären soll. Das scheint jedoch die Substanz von Klingers spezifischer Arbeit am Fauststoff zu verkennen: Die Kühnheit von Klingers Faust besteht in erster Linie darin, die negative Anthropologie des Teufels widerlegen zu wollen. Ein solches Wagnis motiviert, als diegetische Grundkraft des Romans, die Aufeinanderfolge der schrecklichen Geschehnisse im Werk. Das ganze Werk lässt sich als ein Konflikt zweier entgegengesetzter Grundannahmen über den Menschen lesen. „[I]ch will dich zwingen“, sagt Faust zum Teufel, „an den moralischen Werth des Menschen zu glauben“,126 und dies führt ein 121 Über die Faust-Figur, die literarische Tradition und ihre Bezüge zu Leibniz vgl. die grundlegende Studie von Monika Fick: Faustische Monaden auf Welt-, Höllen- und Himmelfahrt. Leibniz im Spiegel der Literatur (1749–1832). In: Daniel Fulda u. Pirmin Stekeler-Weithofer (Hg.): Theatrum naturae et artium – Leibniz und die Schauplätze der Aufklärung. Internationale Konferenz der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Universität Leipzig und der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts in Kooperation mit der Stadt Leipzig und dem Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig, anlässlich des 300. Todestages von Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart u. Leipzig 2019, S. 453–471. 122 Vgl. ebd., S. 141. 123 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 34. 124 Ebd. 125 Siehe die souveräne Darstellung von Detlef Kremer: Skeptische Fragmente. Über den Zusammenhang von Skepsis und Fragment in der Spätaufklärung. In: Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen 2007, S. 45–54. 126 Ebd., S. 66.
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agonales Moment in die Beziehung zwischen den beiden ein, die wie zwei miteinander konkurrierende Argumentationskräfte den ideengeschichtlichen Hintergrund von Klingers Werk konturieren. Die „Bestimmung des Menschen“, die Bedeutung dieses zentralen Begriffs anthropologischer Reflexion im Zeichen der Aufklärung,127 ist ihr Hauptstreitpunkt, der Gegenstand der Auseinandersetzung, den es herauszuheben gilt. Verzweiflung als Zweifel an der eigenen ,edlen Bestimmung‘, an der Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung stellt, wie gesehen, die Grundthese des Teufels dar. Faust verlangt hingegen zunächst einmal ,dialogische Aufklärung‘ vom Teufel: Reden sollst du, und die dunkle Decke wegreißen, die mir die Geisterwelt verbirgt. […] Ich will des Menschen Bestimmung erfahren, die Ursach des moralischen Übels in der Welt. Ich will wissen, warum der Gerechte leidet, und der Lasterhafte glücklich ist. Ich will wissen, warum wir einen augenblicklichen Genuß durch Jahre voll Schmerzen und Leiden erkaufen müssen. Du sollst mir den Grund der Dinge, die geheime Springfeder der Erscheinungen der physischen und moralischen Welt eröffnen.128
Warum der Mensch also kein Gott sei – so ließe sich das Problem umformulieren. Keine einfache Aufgabe, einen Kompromiss mit ungenügenden Antworten zu finden. Fausts Fragen antizipieren in ihrem Kernstück das Vorhaben, das Klinger in der „Vorrede“ zu seiner Dekade – verfasst erst 1798 – zum Ausdruck bringen wird: Wahrheit und Mut sind des Mannes herrlichster Wert, und darum stellte ich den Menschen in diesen Werken bald in seiner glänzenden Erhabenheit, in seinem idealischen Schwunge, bald wieder in seiner tiefsten Erniedrigung, seiner flachsten Erbärmlichkeit auf. Hier leuchtet ihm die Tugend vor, das einzige wahre Bilde der Gottheit, durch welche sie sich uns allein offenbarte. […] Und so findet der Leser in diesen Werken […] die Verzerrungen des Herzens und des Verstandes; die erhabenen Träume; den tierischen, verderbten, den reinen und hohen Sinn; Heldentaten und Verbrechen; Klugheit und Wahnsinn; Gewalt und seufzende Unterwerfung; […] aber auch das in jedem dieser Werke vorzüglich bemerkte Glück der natürlichen Einfalt, Beschränktheit und Genügsamkeit, auf welchen hinzudeuten ich nirgends unterlassen habe.129
Entdecken will Klinger (und mit ihm sein Faust) die Triebfeder der moralischen Welt, den Motor moralischen Handels, das Prinzip, das die Bestimmung des Menschen charakterisiert. Begleitet vom Teufel, hat er nun „Gelegenheit, den Menschen, nach dem Ausdruck des Teufels, in seiner scheußlichen Nacktheit zu 127 Hierzu Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800), eine Begriffsgeschichte. Stuttgart und Bad Cannstatt 2013. 128 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 39f. 129 Klinger: Vorrede (wie Anm. 2), S. 45.
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beobachten“.130 Die „Reiche Quelle der Laster“, die er beispielsweise am päpstlichen Hof der Borgia im Vatikan studieren kann, führt ihn direkt in die „größte Schule der Verbrechen“ hinein.131 Daraus erwachsen jedoch keineswegs nur moralistische Betrachtungen, die das Laster im Namen der Tugend anprangern sollen. Vielmehr artikuliert Faust Überlegungen zum Sinn der „Freyheit“ des Menschen und ihres Verrats: er überzeugte sich nun völlig, der Mensch sey ein elender Sclave, und sein Herr und Schöpfer ein grausamer Despot, der an seinem Unsinn und seinem Frevel einen Gefallen hätte, um ihn desto schärfer bestrafen zu können, ja der ihm gefließentlich, alle diese, seinem Glücke widersprechende Neigungen in das Herz gelegt hätte um seiner Rache an ihm genug zu thun. Die Tugendhaften und Gerechten hielt er für Thoren, die den Bösen zum Raub und Fraße hingeworfen wären.132
Die Überzeugung, der Mensch sei ein „elender Sclave“, bezeichnet der Teufel als die „Seuche“133, die Fausts moralischen Sinn endgültig zugrunde richten soll, da sie jede andere Auslegung menschlichen Daseins als ein täuschendes „Märchen der Amme“134 erscheinen lässt. Faust sträubt sich heftig und mit glänzender Sprachkraft gegen diese Ansicht: Wie ich, der Topf, von fremder Hand gebildet, soll darum einst gewaltsam zerschlagen werden, weil er dem Werkmeister nicht nach seinem Sinn gelang, weil der dem niedrigen Gebrauch nicht entspricht, zu dem er ihn geformt zu haben scheint? Und immer nur Gefäß, immer nur Werkzeug, immer nur Unterwerfung; wozu denn dies widersprechende lautschreyende Gefühl, von Freyheit und eigner Kraft dem Sclaven?135
„Topf“, „Gefäß“ und „Werkzeug“ sind allesamt Bilder, die auf ein Verhältnis von Instrumentalisierung und konstitutiver Abhängigkeit gegenüber einer heteronomen Instanz, einem ›Herrn‹ anspielen. Darauf macht bereits das Motto des Romans, aus der Satyr against Mankind des Libertins Earl of Rochester136 bezogen, aufmerksam: All this with indignation have I hurl’d At the pretending Part of the proud World;
130 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 180. 131 Ebd., S. 165. 132 Ebd., S. 190. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 16. 135 Ebd. 136 Dazu: Earl of Rochester. The Critical Heritage. Ed. by David Farley-Hills. London u. New York 1972.
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Who, swol’n with selfish vanity, devise False Freedoms, holy Cheats, and formal Lies, Over their Fellow-Slaves to tyrannize.137
Die Einsicht in die Notwendigkeit der „Unterwerfung“, das Gefühl, einer „fremden Hand“, d.h. einer fremden Bestimmungsinstanz als „Sclave“ ausgeliefert zu sein, ist für Faust Anlass zur desperatio bezüglich der effektiven, d.h. sozial relevanten emanzipativen Fähigkeiten seiner „Kraft“. Sinnlos, sich dagegen zu wehren; zwecklos, die Defekte und Verirrungen der conditio humana sowie die Verderbnis der Gesellschaft durch tätige Sorge verbessern zu wollen – dies scheint die teuflische, ja die ‚dia-bolische‛ (in des Wortes wörtlichster Bedeutung von „Durcheinanderwerfer“, „Faktenverdreher“, „Verleumder“) Botschaft im Roman suggerieren zu wollen. Nur naheliegend daher die Vorstellung, beim Teufel selbst die Mittel einer vermeintlichen Befreiung zu suchen. Faust ist anscheinend frei von äußerem Zwang und durchaus in der Lage, positiv zu agieren. Sklaverei heißt bei ihm also in erster Linie Unmündigkeit und daher Abhängigkeit. Fausts Knechtschaft hängt tatsächlich mit seinem Status als abhängiges Geschöpf zusammen. Daher sein in Gewalt umschlagendes Unbehagen: Was ist Freyheit, Wille, der gerühmte Sinn, Böses und Gutes zu unterscheiden, wenn die Leidenschaften die schwache Vernunft überbrüllen, wie das tosende Meer die Stimme des Steuermanns, dessen Schiff gegen die Klippen treibt? Wozu das Böse? Warum das Böse? Er wollte es so; kann der Mensch den Saamen des Bösen aus der ungeheuren Masse herausreißen, den er mit Willen hineingelegt hat? Noch wüthender hasse ich die Welt, den Menschen und mich.138
Im Lichte solch radikaler Misanthropie muss auch die „Tugend“ als Betrug erscheinen, als ein „Fantom“139 korrupter und ängstlicher Menschen, die ihre verdorbene, verruchte Natur durch äußere Mittel und Betätigungen zu kaschieren versuchen. Fausts Hilfs- und Strafunternehmungen im Laufe des Romans verbessern nichts, sondern schaffen nur Übles. Sinnvolles, tugendhaftes Handeln als primäre Geste individueller Freiheit scheint grundsätzlich ausgeschlossen: „Ist das menschliche Leben etwas anders, als ein Gewebe von Pein, Laster, Quaal,
137 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 2. 138 Ebd., S. 219. 139 Ebd., S. 33.
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Heucheley, Widersprüchen und schielender Tugend?“,140 so lauten Fausts rein rhetorische Fragen in ihrer „elenden, scheußlichen Nacktheit“.141 Faust will jedoch als die große Ausnahme auftreten und sich als Beispiel kompromisslosen Widerstandes hinstellen. Hierin besteht vermutlich, ja wahrscheinlich seine letzte Verwegenheit, die reife Frucht seiner hybris. Kurz vor seiner grässlichen Hinrichtung durch den Teufel ruft er aus: Um der Freyheit, der Unabhängigkeit, zog ich dich aus der Hölle, am Rande der Hölle will ich sie behaupten, am Rande der furchtbaren Wohnung will ich noch meine Kraft gebrauchen, und fühlen, daß ich einst an meinem Zauberkreiße gefesselt sah, und dich zu geißeln drohte. Was du in meinen Augen siehst, sind Thränen der Verstockung, Thränen grimmigen Unwillens – Teufel, nicht du, mein eignes Herz siegt über mich!142
Zur Verzweiflung gesellt sich hier die verbositas, die „elende Prahlerey“.143 Und gerade in dieser Einstellung erblickt der Erzähler den ursprünglichen Fehler, der den ganzen Mechanismus des Faust’schen iter perditionis in Gang setzt. Fausts Titanismus bzw. „Aktionismus“144 wird als eine krankhafte Kopfgeburt verurteilt, die, anstatt tatkräftiges Handeln zu fördern, zu nichts führt. Aufs Korn genommen wird hier eine gewisse Theoretisierung der Tugend, d.h. die Neigung, über Tugend zu meditieren, eher als Tugend konkret auszuüben. Die Indienstnahme der Tugend als Lieblingsobjekt seitens der Vernunft und deren Entfernung von den erwärmenden Instanzen des Herzens sitzt hier auf der Anklagebank. Die Unfähigkeit, Tugend zu praktizieren, ist eine direkte Folge der Verzweiflung, die „peinigende Zweifel“ über die Bestimmung des Menschen als Bereitschaft zur tatkräftigen Intervention „einzuimpfen“ wusste. Die Aufgabe des Klinger’schen Teufels zielt letztlich darauf ab, den Menschen die Fähigkeit beizubringen, „über den Ewigen und die Tugend zu vernünfteln, damit sie vergessen möchten, diesen anzubeten, und jene auszuüben“.145 Klar wird dabei, dass der Fauststoff fortan eine doppelte Bewandtnis hat: Es geht nicht nur um eine theologisch-metaphysische Auseinandersetzung, sondern um jene eminente Frage der modernen praktischen Philosophie, die um die Bestimmung der Tugend als Krönung selbsttätigen Handelns kreist. Einerseits könne man nämlich über die Tugend der Menschen „vernünfteln“, d.h. über sie „kleinlich und unrichtig räson-
140 Ebd., S. 219. 141 Ebd., S. 221. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 30. 144 Helmut Kreuzer: Fragmentarische Bemerkungen zum Experiment des ,faustischen Ich‘ (wie Anm. 120), hier S. 148. 145 Klinger: Faust’s Leben (wie Anm. 65), S. 30.
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nieren“ (so die Definition im Grimm-Wörterbuch) und daraus eine ,sophistische‘ Auslegung derselben als Angelegenheit der Vernunft ableiten. Daraus resultiere, bei genauem Hinsehen, eine Zerstörung des Begriffs, die sich nicht zuletzt im transitiven Gebrauch des Verbs ,vernünfteln‘ bei Klinger kundtut. Hiervon zeugt, in einer späteren Variante des Romans, die Figur eines berühmten „Philosoph[en]“, der „durch scholastische Spitzfindigkeiten das Wesen der Wesen zu nichts vernünftelte“.146 Zu dieser Spezies gehören nicht zuletzt bestimmte „Sclaven des Teufels“, die im Zeichen der pusillanimitas, also des Kleinmuts, ihr Dasein fristen. Es sind „Schatten, die weder der Seeligkeit noch der Verdammniß wert sind“, Vertreter „von jener zweydeutigen Art, die aller Menschen Freund sind, ohne es von einem zu seyn“, Theoretiker der Tugend also, „[d]eren Zungen von den herrlichen Lehren der Tugend plappern, ohne daß ihr Herz sie fühlt“.147 Andererseits könne man Tugend ‚ausleben‛, sie im Herzen fühlen und konkret praktizieren. Es geht um hierbei eine sanfte, bescheidene Form von Tugend, die von „Enthusiasmus“, also von schwärmerischer Exaltation oder öffentlichen „Paraden“148 nichts wissen will. Hinweise auf die stoische Tradition wären dagegen irreführend. Denn nicht die rigorose Tugend eines Cato mit ihrem tragischen Ende im Freitod pro re publica wird hier als Alternative in Aussicht gestellt,149 sondern ein Ideal tätiger Tugend als unaufhörliche Tätigkeit, als „Figur der Leibesstärke“,150 ja, als die „sittliche Stärke des Individuums in Befolgung und Erfüllung seiner Pflicht“,151 die das jeweils Angemessene im Stillen umzusetzen weiß.152 Erst durch die unauffällige Erfüllung der Officia humanitatis könne der Mensch sich ein Stück weit vom Regiment der diabolischen Zwangsverzweiflung emanzipieren. Hierin lässt sich die Verblendung von Klingers Faust erkennen. Und der Teufel bringt es folgendermaßen auf den Punkt, als er am Ende die moralische Lebensparabel Fausts zusammenfasst:
146 Ebd., S. 17. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 50. 149 Hierzu siehe die Beiträge in Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. 2 Bände. Berlin u. New York 2008. 150 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Vierter Theil, von Seb – Z. Leipzig 1801, Sp. 717–719, hier Sp. 717. 151 Wörterbuch der deutschen Sprache. Veranstaltet und herausgegeben von Johann Heinrich Campe, Vierter Theil: S und T (nebst einer Beilage), Braunschweig 1810, S. 907f. 152 Hierzu Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a.M. und Leipzig 1995, S. 74.
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Die Herrscher der Welt, die Tyrannen mit ihren Henkersknechten, wollüstige Weiber, Pfaffen, die eure Religion als Werkzeug der Unterdrückung nutzen, die hast du gesehen, und nicht den, der unter dem schweren Joch seufzt, des Lebens Last trägt, und sich mit Hoffnung der Zukunft tröstet. Stolz bist du die Hütte des Armen und Bescheidnen vorüber gegangen, der die Namen eurer erkünstelten Laster nicht kennt, im Schweiß seines Angesichts sein Brod erwirbt, es mit Weib und Kindern treulich theilt, und sich in der lezten Stunde des Lebens freut, sein mühsames Tagwerk geendet zu haben.153
Als Anti-Faust und konträres Bild zur ,großen Welt‘ der Potentaten wird hier das genügsame Leben des „Armen und Bescheidenen“ nachgezeichnet, der die letzten Stunden des Lebens in „Freude“, nicht in Verzweiflung verbringt und dessen Kernwert sich in der Ausübung stiller Tugend verdichtet. Hättest du da angeklopft, so würdest du freylich euer schaales Ideal von heroischer, überfeiner Tugend, die eine Tochter eurer Laster und eures Stolzes ist, nicht gefunden haben; aber den Menschen in stiller Bescheidenheit, großmüthiger Entsagung, der unbemerkt mehr Kraft der Seele und Tugend ausübt, als eure im blutigen Felde, und im trugvollen Kabinete, berühmte Helden.154
Bezug genommen wird hier auf das ethische und politische Ideal einer friedlichen, an sich anspruchslosen vita activa,155 verstanden als Beschäftigung mit den Dingen der Welt, ja als Partizipation am Leben der Welt, die in der aristotelischen Philosophie wurzelt und deren Neubelebung im Jahrhundert der Aufklärung sich in erster Linie den Schriften Jean-Jacques Rousseaus verdankt, mit denen Klinger bestens vertraut war.156 Bei Rousseau lassen sich stets zwei miteinander konkurrierende Tugendauffassungen feststellen. Einerseits die Tapferkeit der ,Tugendhelden‘, die in der Ausübung ihrer Kraft ihr Wesensmerkmal erblicken dürfen.157 „La force“, schreibt Rousseau, „est le vrai fondement de l’Héroïsme; elle est la source ou le supplément des vertus qui le composent“.158 153 Ebd., S. 210. 154 Ebd., S. 221. 155 Vgl. Christian Trottmann: Vita activa/Vita contemplativa. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band XI, Sp. 1071–1075. 156 Hierzu besonders ergiebig: F. A. Wyneken: Rousseaus Einfluß auf Klinger. In: University of California Publications in Modern Philology 3/1 (1912), S. 1–85; Ferner: Segeberg: Friedrich Maximilian Klingers Romandichtung (wie Anm. 1), S. 38–46. 157 „Helden der Tugend“ spielen eine zentrale Rolle in Klingers Geschichte Giafars des Barmeciden. Ein Seitenstück zu „Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt“. Vgl. beispielweise Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. XII: Geschichte Giafars des Barmeciden. Ein Seitenstück zu „Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt“. Hg. v. Sander L. Gilman, Karl-Heinz Hartmann u. Thomas Salumets. Tübingen 2004, S. 53. 158 Discours de Mr. J. J. Rousseau […] sur cette question: Quelle est la Vertu la plus nécessaire aux Héros; & quels sont les Héros, à qui cette Vertu à manqué? Amsterdam 1769, S. 24.
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Il ne faut donc pas se représenter l’Héroïsme sous l’idée d’une perfection morale qui ne lui convient nullement, mais comme un composé de bonnes & mauvaises qualités salutaires ou nuisibles selon les circonstances.159
Auf der anderen Seite erhebt sich die Figur des ,Weisen‘, der keinen spezifischen Tugendinhalt aus einem Katalog empfehlenswerter Verhaltensweise für sich in Anspruch nimmt, sondern – in gut aristotelischer Manier – ein Gleichgewicht widerstrebender Instanzen anvisiert. „Toutes les vertus appartiennent au Sage“,160 und was in Bezug auf Klingers Faust noch relevanter ist: „Pour être grand il ne faut que se rendre maitre de soi“, denn „c’est au dedans de nous mêmes que sont nos plus redoutables ennemis“.161 Das Ideal der vita activa als Exerzitium, d.h. als Ausübung einer tätigen Lebensart, die – wie am Anfang dieses Kapitels gesehen – auch Klingers Betrachtungen durchzieht, erscheint als das einzig mögliche Gegenmittel gegen faustische Erscheinungsformen von Traurigkeit. Eine solche Auffassung von Tugend erhält dadurch gleichsam diätetische oder therapeutische Zwecke. Fausts Verzweiflung, die ihm durch keine vernünftige Kraft der Einsicht und des Willens abgenommen werden kann, hat ihren Grund nicht darin, dass sein Glaube an Gott verloren geht – Klingers Faust ist, genau genommen, kein Atheist –, sondern vielmehr darin, dass die Erfahrung des Bösen das innere Interesse am Leben zu vernichten und den Geist in unüberwindliche acedia zu verwandeln droht. Anders als der strahlende, weil öffentliche Ruhm „berühmter Helden“ erweist sich das bescheidene Konzept der vita activa als ein praktikabler Weg aufgeklärter Lebensführung im Zeichen einer tätigen Tugend.
159 Ebd., S. 10. 160 Ebd., S. 5. 161 Ebd., S. 26. Das Motiv kehrt als ein zentrales Element in Klingers Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit (1798) wieder. Darin sind die Rousseau-Bezüge und die Hinweise auf seinen Emile explizit. Der Protagonist ist ein Novus Emilius, der durch die Lehren seines Präzeptors Hadem eine bittere Entwicklungsgeschichte zeitigt, die um den Zentralbegriff der Tugend kreist. Die Tugend wird dabei unter anderem als das „große, erhabene Ganze“ bezeichnet, in der die „moralische Kraft“ des Protagonisten besteht. Der Kampf mit der Zeitgeschichte in einem postrevolutionären Szenarium lässt der Tugend die Funktion einer Notstandstriebkraft in widrigen Zeiten zukommen. Friedrich Maximilian Klinger: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. XVI: Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit. Hg. v. Sander L. Gilman, Karl-Heinz Hartmann u. Thomas Salumets. Tübingen 2007, hier S. 275. Zum Roman vgl. Ewald Volhard: F. M. Klingers philosophische Romane. Der Einzelne und die Gesellschaft. Halle a.d.S. 1930, bes. S. 51–83; Segeberg: Klingers Romandichtung (wie Anm. 1), S. 170–182 und Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. München 2001, S. 244–255.
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Wie bereits bei Lessing, der ebenfalls von Rousseau beeinflusst wurde,162 erweist sich tugendhaftes Handeln bei Klinger als die sich stets erneuernde Fähigkeit, einen neuen Anfang zu machen und damit die Erfahrung verzweifelnder Weltentfremdung unauffällig durch je angemessenes Handeln zu überwinden. Die Dichtung versteht sich in dieser Hinsicht nicht als moralische Indoktrinierungsinstanz, sondern als eine rhetorisch durchkalkulierte Ermunterung zur moralischen „Bewährung durch Handeln“.163 Klingers Roman zeigt mithin Möglichkeiten, ja paradigmatische Optionen auf, wie man mit Tugend und dem aus ihr sich ergebenden „Glück der natürlichen Einfalt, Beschränktheit und Genügsamkeit“, wie es in der „Vorrede“ heißt, umgehen kann. Dementsprechend werden verschiedene anthropologische Modelle hingestellt, welche unterschiedliche Schicksale menschlicher Lebensführung kontrastiv versinnbildlichen sollen. Welchen Weg der Leser einzuschlagen habe – dies will der Erzähler nur andeuten. Auf anspielungsreiche und dadurch steuernd wirkende Ironie will er jedoch nicht verzichten. Und dazu ist der bitter-satirische Epilog des Romans bestens geeignet. Im Hintergrund steht allerdings die Überzeugung, dass nur „reines tätiges Wirken“ den „Zweck unsers Daseins“, seine „unauflösliche Aufgabe“ bestimmen soll und damit einen „Lichtweg“ weisen, auf dem der Mensch „sich selbst mutig und hoffnungsvoll in unabhängiger Selbständigkeit auf diesem geheimnisvollen Schauplatz der Erde trägt, tragen kann und soll“.164
162 Hierzu Eibl: Die Entstehung der Poesie (wie Anm. 152), S. 69–74. Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. Zweite, durchgesehene Auflage. Würzburg 2012, S. 21–48. 163 Guy Stern: Dialogisiertes Epos (wie Anm. 74), S. 330. 164 Klinger: Vorrede (wie Anm. 2), S. 46.
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5 Abschluss der Dekade, Desavouierung der Tugend? Mit dem Zu frühem Erwachen des Genius der Menschheit, einem in fünf Bücher eingeteilten Werk,165 das sich deutlich kürzer ausnimmt als die übrigen Bestandteile der Dekade, findet das Romanprojekt Klingers seine erwünschte Krönung, er stellt zugleich seine wohl höchste künstlerische Umsetzung dar, kommt ihm doch – der intentio auctoris gemäß – gleichsam die Funktion eines „Schlußsteins“ zu. Die auktoriale Absicht lässt sich mit einschlägigen Metaphern aus dem Bereich der Architektur adäquat fassen. Wie es in einem wichtigen Brief Klingers an Friedrich Nicolovius vom 10. Juni 1798 heißt: [I]ch konnte den Augenblik [!] keinen Ableiter des in mir tosenden Dämons finden, u so ließ ich ihm Luft – hoffentlich wird es das ganze Gebäude mit einer recht gothischen Kuppel decken, die alle in seinem Tempel wandelnden mit einem geheimen Schauder füllen soll u muß. Ist nicht das Portal dazu gothisch – auch fehlt es an dem Schnitz in gleichem Geiste nicht, u die Figuren nehmen sich gut aus – Es ist gerade so ausgefallen, wie ich Ihnen sagte, u die Haupt Idee dazu finden Sie im Teutschen u in dieser Vorrede; aber den, welchen der Genius der Zeit tödtet, der lase [!] es ungelesen […].166
Ähnlich wie bei den verschiedenen Bestandteilen eines „gothischen“ Baus finden sich auch bei den einzelnen Romanbänden der Dekade gewisse Kontinuitätslinien, gleichsam tragende Gebäuderippen, die als unterschwellige thematische Strömungen die Ganzheit und die Einheit der Gesamtkonzeption gewährleisten. Das Bild der „recht gothischen Kuppel“ und die damit verbundene Wortwahl verleihen dem Text überdies die Attribute des genus magnum et sublime, also eines großen, nordisch-erhabenen und Ehrfurcht einflößenden Stils, welcher in der Ökonomie des Klinger’schen Unternehmens dem Genius-Fragment als dem einzigen und wirklichen Höhepunkt der gesamten Konzeption vorbehalten bleibt. Die poetische inventio geht hier aus der Berührung mit höchstbrisantem, aktuellem Material hervor. Den Stoff für dieses Fragment gebliebene Werk bezieht Klinger unmittelbar aus der zeitgenössischen Wirklichkeit, d.h. aus dem großen Zeitereignis der Französischen Revolution. Ein prägnanter „Vorspruch“
165 Zitiert wird der Text fortan nach der bei Friedrich Nicolovius erschienenen Ausgabe von Friedrich Maximilian Klingers Werke. Bd. X (Sahir, Eva’s Erstgeborner im Paradiese. Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit. Bruchstück). Königsberg 1816, S. 221–302 mit der Sigle Genius und der Seitenzahl. – Im Folgenden werden Gedanken ausgeführt und zum Teil korrigiert, die ich andernorts skizziert habe. Vgl. Verf.: Welttheater (wie Anm. 1). 166 Zit. nach Rieger: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 1), S. 42–44, hier S. 43.
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am Anfang des Fragments weiß die Erwartungen der Leser in diese bestimmte interpretatorische Richtung zu lenken: Das Ganze ist zerstört; man zog nur das bildliche heraus, das genug ist, den Sinn und Zweck des Verfassers darzustellen. Das historische kann sich leider! jeder Leser hinzudenken – nämlich die Art und Weise des Gegenkampfes. Es sollte das zehnte Werk seyn und das Ganze beschließen.167
So bleibt dem zeitgenössischen Leser kein Zweifel: es geht um die Revolution der Franzosen und den entsprechenden, von den europäischen Großmächten der Zeit unternommenen „Gegenkampf“ im Zeichen einer restaurativen Offensive. Ein kryptisches Pindar-Motto aus den Olympischen Siegeshymnen – „Mag auch angeborner Sinn sich verbergen!“168 – spornt den Leser zum entziffernden Nachdenken an. Dieser ,verborgene Sinn‘ hat hier mit den Herausforderungen der Zeitgeschichte zu tun. Das Jahrzehnt von 1789 bis 1799, das in Chaos und Krieg das signifikante Merkmal der Epoche erblickt,169 wird von den meisten Handelnden als ein Auf- bzw. Durchbruch in eine nie dagewesene Zukunft erfahren. Im Bewusstsein eines allgemeinen, tiefgreifenden Neubeginns wird der Revolution das Prädikat der Unvergleichbarkeit zuteil: Sie setzt eine in jeder Hinsicht neue, irreversible und rätselhafte Zukunft frei, die – ohne Präzedenzfall – zugleich als fortschreitend und katastrophal empfunden wird.170 Seit den Stürmen der Revolution erweist sich jedwede Form von heils- oder, in der säkularisierten Variante: universalgeschichtlicher Perspektivierung als peinlich naiv und unzulänglich. Der Abgrund der Sinnlosigkeit oder gar der Sinnwidrigkeit der Geschichte tut sich auf. Ist eine neue, sinnstiftende Interpretation im Reich der Weltgeschichte überhaupt noch möglich? Klinger, ein Betroffener wie viele andere, tastet sich an diese zutiefst erschütternde, ja geradezu traumatischen Erfahrung zögernd und behutsam heran. Auf die Ressourcen der Lakonie setzt – nach wie vor – sein Kommentar:
167 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 222. 168 Ebd., S. 221. Die Übersetzung des Pindar-Mottos ist wohl folgender Ausgabe entnommen: Pindars Olympische Siegshymnen, verdeutscht von Friedrich Gedike. Berlin-Leipzig [bey George Jacob Decker], 1777. Die entsprechenden Verse dort auf S. 127. Klinger verwendet Gedikes Übersetzung, ersetzt jedoch das abschließende Fragezeichen mit einem Ausrufezeichen. 169 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik. In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, S. 493–514, hier S. 499. 170 Dazu Reinhart Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 67–86.
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Wir die wir den Glauben (mit dem wir nichts zu thun haben), den Heilbalsam der heutigen Philosophie weder brauchen wollten noch konnten, mußten, nach völliger Anerkennung der allgewaltigen ewigen Nothwendigkeit, unsre verwickelten Darstellungen endlich und zuallererst auf die Fragen führen: Wozu? Warum? Wofür? Wohin?171
Die Aktualität fordert im Genius-Fragment ihre Rechte ein, insbesondere als dessen Hauptgestalt, „der schöne, blühende, himmlische Jüngling“,172 auf die Stimmen aus Paris aufmerksam gemacht wird: Siehe! eine neue Welt beginnt – die Räthsel, welche die Sterblichen seit ihrer Verbindung zur Gesellschaft quälten, scheinen ihrer Auflösung nahe, um sich dem Verstande noch mehr zu verwirren […]. In dem Dampfe des von der Erde aufsteigenden Bluts bildet sich der Riß der kühnen Baumeisterin über dem bebenden Grund, der das kühne Gebäude tragen soll. Die Nothwendigkeit ist die Werkmeisterin, so sprechen die Verwegnen, Verbrecher sind die Arbeiter, mit Leichen ihres eignen Volkes füllen sie die Klüfte, auf denen ihr Werk ruhen soll. Auf! die Thaten des Menschengeschlechts werden heute zu einer langgedehnten Mähre; hier ist Götterwerk, das Sterbliche durch teuflische Mittel auszuführen.173
Das im Krieg befindliche Europa der Gegenwart, die Welt politisch-historischen Handelns und vor allen Dingen die Errichtung des neuen französischen Staatsgebäudes stellen den expliziten thematischen Mittelpunkt des Genius dar. Wie der zuletzt zitierte Passus nahelegt, entnimmt Klinger der Zeitgeschichte nicht nur historische Lokalfarben, sondern abstrahiert gleichsam ins Modellhaft-Allgemeine und dringt somit ins Zentrum des geschichtlichen Hauptwiderspruchs vor, in dem sich der Geist der europäischen Aufklärung spätestens seit dem Übertritt der Revolution in die Phase des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses und der Terreur verstrickt sah. Der Übergang der „Sterblichen“ von ihrem Naturzustand zur „Verbindung zur Gesellschaft“ in Rousseaus Contrat social wird, angesichts der Pariser Ereignisse, nicht als ein emanzipatorischer Prozess, der den Menschen zur aufsteigenden, progressiven Vervollkommnung seiner selbst führt („Menschenveredlung“ oder „immer steigende Veredlung“174 heißt es im Text), sondern als eine Pervertierung des klassischen Perfektibilitätspostulats vorgestellt, das in sein Gegenteil umschlägt. Die Natur selbst („die kühne Baumeisterin“ – wiederum eine architektonische Metapher) erscheint von einem unheilbaren „Riß“ durchzogen. Zwietracht herrscht in ihrem Reich und überträgt sich von Anfang an auf das „Werk“ der Menschen, auf das Tun und Lassen der „Verwegnen“, die mit „teuflischen 171 Klinger: Vorrede (wie Anm. 2), S. 45. 172 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 251. 173 Ebd., S. 224f. 174 Ebd., S. 237 bzw. S. 297.
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Mitteln“ ihre verblendete Hybris nähren. Klingers Text erweist sich in dieser Hinsicht als feinfühliger und hochelaborierter Seismograph der dramatischen Ereignisse jener Jahre sowie der durch sie ausgelösten Reaktionen. Herkömmliche Annahmen, Überzeugungen und Hoffnungen der europäischen Aufklärung werden von Klinger gewissermaßen vor das Tribunal der Dichtung gerufen und mit den Gräueln im „Reich des Schreckens“, im „Reich der Finsternis“, d. h. im radikalrevolutionären Frankreich konfrontiert. Wie kann sich eine Emanzipation des Menschen aus eigener Kraft vollziehen, wenn sie die brutale Zerstörung der vergangenen Zivilisationsformen und die Aufhebung des Menschlichen zur Errichtung einer neuen Gesellschaft voraussetzt? Welche Rolle kann vor einem solchen Szenario der Tugend zukommen? So lauten die großen Fragen Klingers. An diesem Widerspruch arbeitet sich die poetische Reflexion im Genius-Fragment zur Gänze ab. Im Genius kommen also konkrete Verhältnisse und Konstellationen im Bereich des Politischen, Moralischen und Juristischen direkt zur Sprache, die zeitgenössischen Umwälzungen der gesellschaftlichen Ordnung, sprich: der Abbau bestimmter Grundpfeiler des Ancien Régime und die Errichtung einer neuen Staatlichkeit, treten deutlich hervor. Klinger stellt die Wirklichkeit des ihm zeitgenössischen Lebens mit dynamischen und kompakten Zügen dar und präfiguriert mit seinem Werk noch im Werden begriffene, zukunftsträchtige politische Schichtungen und Gestaltungen, die den umstandslosen Durchbruch zu einer neuen Welt ankündigen. Allerdings lässt sich sein Stil dabei keineswegs als „realistisch“ im herkömmlichen, d.h. im aristotelisch-mimetischen Sinne des Wortes bezeichnen.175 Ein gewisses Defizit an Realismus indiziert bereits der oben angeführte „Vorspruch“ zum Genius, insbesondere der nachdrückliche Hinweis darauf, dass es sich in diesem Werk nicht um das schier „historische“ handeln werde, sondern lediglich um das „bildliche“, also um ein dichterisches Verfahren, das die empirisch-historische Materie mit ihrer Fülle von Details herauspräpariert („herausziehen“ ist das von Klinger verwendete einschlägige Verb) und hin zur Dimension des rein „bildlichen“ destilliert. Schlichtweg ausgeklammert wird damit jegliche Form von geschichts- und gesellschaftsmimetischem Realismus, d.h. man gerät 175 Zum Realismus als einer „mimetischen“ Darstellungsweise und zum Verhältnis mit dem historischen Ereignis der Französischen Revolution vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern u. Stuttgart 81988, bes. S. 414: „Die Französische Revolution mit all ihren Ausstrahlungen, den Umwälzungen, die sie nach sich zog, den Keimen einer neuen gesellschaftlichen Struktur, die sich aus ihr trotz aller Gegenwirkung unwiderstehlich entwickelte, traf auf ein passives, abwehrendes, sich abwendendes Deutschland. Es waren nicht nur die bedrohten Mächte der Vergangenheit, die ihr feindlich entgegentraten, sondern auch die noch junge deutsche geistige Bewegung“.
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auf andere Wege des Realismus, auf eine abstraktere oder symbolische Ebene desselben, auf ein eigenartiges Darstellungsverfahren, das eine detailtreue Wiedergabe der Realität nicht leugnet und dennoch Anspruch auf universale Allgemeingültigkeit erhebt. Für Klinger stellte sich das, was Christoph Hering, wohl einer der aufmerksamsten und sorgfältigsten Interpreten Klingers, als ein veritables „Formproblem“ bezeichnete.176 „Hatten die bisherigen Werke“, so Hering, „wegen der Wahl einseitiger Perspektiven nur begrenzte Aussagen über Welt und Leben machen können, so will das Schlußwerk einen absoluten Standpunkt einnehmen“.177 Klinger verzichtet in der Tat mit seinem Genius-Fragment auf den privilegierten Standpunkt eines allwissenden Erzählers oder auf die Freiheiten des omnipotenten Romanciers. Er schlägt einen anderen stilistischen und gattungsgeschichtlichen Weg ein. Man hat bisher – sicher nicht zu Unrecht – stets von „Allegorie“,178 von „allegorischer Gestalt“179 oder gar von allegorischer „Psychomachie“180 gesprochen, um die Eigenart von Klingers lakonischem Symbol-Realismus zu umschreiben. Dieser Interpretationsrichtung ist zumindest in gewisser Hinsicht ohne jede Einschränkung zuzustimmen, zumal im Werk tatsächlich allegorische Figuren im engeren Sinne des Wortes – wie übrigens der Genius der Menschheit selbst – auftreten. Und dennoch führt eine Einengung auf den Begriff der Allegorie zu einer Verkennung der wahren Natur und Beschaffenheit von Klingers Text. Klinger – so unsere These – beschreitet mit dem Genius-Fragment den Weg zum Welttheater, d.h. zu einer besonderen Form von Theaterdichtung, die – mit den Worten Ernst Robert Curtius’ – „das Menschendasein in seinen Bezügen zum Weltganzen darstellen will“181 und dies in einem postrevolutionären Kontext, der Ordnung und Sinn der historischen Welt gründlich und erschütternd hinterfragt hat. 176 Hering: Klinger (wie Anm. 46), S. 344. 177 Ebd. 178 Wendelin Schmidt-Dengler: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit. München 1978, S. 168f. und 174f. Vgl. ferner Rieger: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 1), S. 344. 179 Segeberg: Friedrich Maximilian Klingers Romandichtung (wie Anm. 1), S. 184. 180 Matthias Luserke: Allegorie und Psychomachie. Revolutionsdeutung in Klingers ‚Genius‛Fragment und Döblins Roman ‚November 1918‛. In: Werner Stauffacher (Hg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien. Bern u.a. 1993, S. 262–270. 181 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur (wie Anm. 45), S. 152. Das grandiose Musterbeispiel von ,post-klassischer‘ Welttheater-Dichtung in deutscher Sprache ist Goethes Faust. Vgl. dazu Schings: Zustimmung zur Welt (wie Anm. 82), bes. S. 437: „Die Formel, in deren Licht Caldérons Großes Welttheater sein Personal durch die Welt führte, lautete: ‚Tue recht – Gott über euch‛. Faust hingegen denkt und handelt unbedingt, absolut, auf eigene Faust […], autonom also und mithin modern. Faust demonstriert mit solchem Gestus, mit der revoltanten Geburt der Au-
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Dadurch lässt sich vielleicht zunächst einmal erklären, weshalb die Struktur des Textes auf einem wechselseitigen, unter Umständen abrupt abgebrochenen Dialog der Figuren beruht und warum das Werk im Ganzen de facto stärker dramatisch als prosaisch geprägt ist. Der Rekurs auf die seit Antike und Mittelalter niemals nachlassende Fülle der Welttheatertradition erhellt darüber hinaus in vollem Maße die Rolle der geschichtlichen Akteure, die in Klingers Fragment visà-vis de l’univers182 stehen. Am „Prolog“ des Werks lässt sich dies wohl am überzeugendsten aufzeigen. Hier sind die Personifikationen des „Dichters“ und des „Dämons“, seiner wohlwollenden Leitgestalt,183 ins Gespräch gekommen. Der Dichter will sich durch eine Flucht in die Einsamkeit aus den Widersprüchen des Daseins retten.184 Das Gebot der Stunde liege, so der Dämon, in einer schonungslosen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Zeitgeschichte, zumal das Gewaltsam-Explosive der Revolution in ihrer akuten Phase zwischen 1792 und 1794 einen allgemeinen Umsturz der physischen und moralischen Welt zu bewirken scheint: „Spüre dem Ursprung der Greuel nach, fange dort unten die schwankenden Strahlen der Wahrheit auf und trage sie in deinem Busen an das Licht“.185 Der Dichter sei zum Seher und Propheten berufen.186 Ihn verweist nun der Dämon – bei aufmerksamer Betrachtung – ausgerechnet auf die Dimension eines Welttheaters, in dem die Personen ihre Rollen vor einem kosmischen (und zerrütteten) Hintergrund ausfüllen: Jetzt ziehe ich die Wolken vor deinem Geiste weg und eröffne ihm den Schauplatz – die Hölle – die Erde – den Himmel; – die Handelnden sind – verwegene, schreckliche, verblendete und große Sterbliche – angstvolle und jauchzende Teufel – schweigende Götter.187
tonomie, geradezu die Abkehr vom Welttheater. Wir erleben ein Welttheater im Augenblick der Revolte.“ Siehe ferner Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Nachdruck der zweiten, erweiterten Ausgabe. München 1989, bes. S. 70: „Im Drama Calderóns und der Jesuiten steht ein anderes auf dem Spiel: nicht ein irdischer Vorteil, sondern das ewige Heil. […] Darum bieten hier nicht nur Kirche und Ketzer, sondern hinter ihnen Himmel und Hölle ihre Heere auf.“ 182 Drastischer die Formulierung Osterwalders: „L’homme jeté dans l’univers“. In: Fritz Osterwalder: Die Überwindung (wie Anm. 1), S. 198. 183 Vgl. Schmidt-Dengler: Genius (wie Anm. 178), S. 172. 184 Für einen Kommentar der Szene siehe Hering: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 1), S. 344f. 185 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 225. 186 Vgl. Hering: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 46), S. 344. 187 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 226.
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So wird der Rahmen eines Welttheaters kosmischen Ausmaßes unmissverständlich abgesteckt: Die Teufel jauchzen und die Götter schweigen. Den Sterblichen bleibt nur noch ihre Tugend als Kompass für ihr Tun und Lassen. Bereits Christoph Hering hatte die Weichen der Interpretation in diese Richtung gestellt, doch ohne dabei je das Stichwort „Welttheater“ zu erwähnen. Er spricht zu Recht von einer „Weltdichtung im universalen Sinn“ und von Klingers Versuch, die „Totalität der Welt unter dem Aspekt der Ewigkeit zu gestalten“.188 In Bezug auf die dem Genius zugrunde liegende diegetische Dichotomie zwischen einer auf menschlicher Ebene spielenden Handlung (die Taten der Revolutionäre) und einer „allegorischen Erzählebene“, nämlich die Welt der Genien und Teufel, präzisiert er schließlich (übrigens der Begrifflichkeit des Welttheaters stricto sensu, also in der Tradition von John Milton oder Pedro Calderón de la Barca, nahestehend): Eine barocke Sicht tut sich auf, der Mensch und seine Daseinssphäre sind von positiven und negativen Mächten umschlossen. Die aufgeworfenen Fragen und ungelösten Rätsel der früheren Romane werden nun in ihrem Verhältnis zu einer übergreifenden Ordnung aufgewiesen und in einen absoluten Sinnzusammenhang eingeordnet.189
Klingers Genius ist also, so lässt es sich zusammenfassend auf den Punkt bringen, ein Experiment mit der Tradition des Welttheaters aus dem Blickwinkel seiner Krise. Allegorische Gestalten des Guten und des Bösen mischen sich da ein. Individuelle Entscheidungen und Ereignisse werden als Sinnbild eines kosmischen Geschehens aufgefasst und präsentiert. Erst auf dieser Basis lassen sich Struktur und Gehalt des Werkes adäquat verstehen. Die Bühne von Klingers Welttheater ist, gemäß der Tradition der Gattung, in drei Orte des Geschehens unterteilen: Hölle, Erde und Himmel. Im Mittelpunkt sticht, gleichsam als Bindeglied, die Figur des Genius der Menschheit hervor. Die Charakterisierung der Genius-Gestalt im Fragment entspricht durchweg dem Profil des anmutigen Jünglings, wie es in der Publizistik der deutschen Aufklärung im 18. Jahrhundert durchgängig konsolidiert und verbreitet wurde.190 Seine
188 Hering: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 46), S. 344. 189 Ebd. 190 Vgl. bspw. die Darstellung des „Jünglings“ in der gleichnamigen Moralischen Wochenschrift, die in Leipzig zwischen 1747 und 1748 unter der Leitung von Johann Andreas Cramer, Johann Arnold Ebert, Gottlieb Wilhelm Rabener und Nicolaus Dietrich Gieseke erschien. Zu dieser Wochenschrift und zur Arbeit am Jünglingsbild im 18. Jahrhundert vgl. Verf.: Pferde, Hunde und Philosophie. Antike Jugendbilder und zeitgenössische Anthropologie in der Leipziger Moralischen Wochenschrift Der Jüngling (1747–1748). In: Misia Sophia Doms u. Bernhard Walcher (Hg.):
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„schöne, blühende“ Gestalt,191 „seine goldnen Locken“, „sein schönes Haupt“ und „seine Rosenflügel“192 erinnern zwar an die ikonographischen Eigenschaften der antiken Vorgänger, d.h. an die persönlichen Schutzgeister der Menschen, die für deren Schicksalsbestimmung und Zeugungskraft zuständig waren.193 Mit diesen Attributen kommt der Genius der Menschheit bereits in Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt zu Gesicht und will dort den angehenden Teufelsbündler davon abhalten, den verderblichen Pakt einzugehen. Faust lehnt jedoch mit unwirscher Miene das Angebot des Genius ab, hält er ihn doch mit seiner Botschaft der Menschenwürde nur für ein „Traumbild“ der „erhitzten Phantasie“: Faust. Was kannst Du mir geben, meinen Durst nach Wissen, meinen Drang nach Genuß und Freyheit zu stillen? Gestalt. Demuth, Unterwerfung im Leiden, Gnügsamkeit und hohes Gefühl Deines Selbsts; sanften Tod und Licht nach diesem Leben. Faust. Verschwinde, Traumbild meiner erhitzten Phantasie, ich erkenne Dich an der List, womit Du die Elenden täuschest, die Du der Gewalt unterworfen hast.194
Die Schar allegorischer Aufklärungstugenden, die den Genius im späteren Fragment umgeben – Hering spricht von einer allegorisch gekleideten „Tafel der Tugenden“195 – also: „Mäßigkeit, Einfalt, Wahrheit, Weisheit, Stärke, Gerechtigkeit, Muth, Hoffnung, Würde des Menschen, und Ihr mir so theuern, Mitleid und Liebe“196), versetzt jedoch diese Figur in den Bereich des Typischen, des Allgemein-Menschlichen, aber auch des Politischen, und beauftragt ihn mit der Vertretung der gesamten Menschheit in Zeiten der Revolution. Die fiktive Identität des Klinger’schen Genius kristallisiert sich entscheidend, was seine Physiologie angeht, anhand des Topos des ausgeglichenen Jünglings, dessen Eintritt ins Erwachsenenalter unmittelbar bevorsteht. Er befindet sich in einem Zustand der Liminalität zwischen zwei anthropologischen Optionen – Kindheit und Reife, Imbecillitas und Mündigkeit – und wird als Verkörperung des Ideals vom „ganzen Menschen“,197 nun vom Anthropologischen ins Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Bern u.a. 2012, S. 137–168. 191 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 251. 192 Ebd., S. 240. 193 Schmidt-Dengler: Genius (wie Anm. 178), S. 170–172. 194 Zit. nach ebd., S. 167. 195 Hering: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 46), S. 345. 196 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 241. 197 Hierzu vgl. Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart u. Weimar 1994.
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Politische gewendet, vorgestellt. Genuss, Freude und sanfte Gefälligkeit sind die besonderen Ausformungen eines Weltbezugs, zu dem sich der Genius ausdrücklich und wiederholt bekennt. Damit darf er sich zum allegorischen Fahnenträger der Humanitätsideale und der Aufklärungsphilosophie mit ihrem emanzipatorischen Programm erheben. Umso krasser erscheint der Kontrast zwischen ihm und der geschichtlichen Wirklichkeit, die ihn umgibt. Die menschlichen Tugenden, die ihn als komplementäre Ebenbürtige begleiten, also die Grundfesten der aufgeklärten Sittlichkeit, sind aus dem Panorama der Geschichte verschwunden: Wo seyd Ihr? Ihr mit mir zugleich erschaffenen Geschwister? Haben Euch auch die Trugvollen und Gewaltigen in Ketten gelegt, wie mich? Schlummert auch Ihr, auf einem öden Gebirge gefesselt? Was vermag ich ohne Euch? Vernehmt meinen Ruf, der klagend diese Einöde durchdringt; eilet zurück und helft mir meine – einst auch Eure Geliebten beglücken! Ihr wißt es, nur in Eurer Begleitung kann ich sie ihrer Bestimmung zuführen.198
Die Schrecken der Geschichte und die Inhumanität der Radikalrevolutionäre haben die Prädikate der Humanitas verscheucht, wortwörtlich aus der Welt des historischen und politischen Handelns geschafft. Wie der Titel des Fragments deutlich besagt, erscheint das „Erwachen“ der Menschheit und die damit verbundene Konstellation der Aufklärungswerte und -ideale in einem solchen historischen Kontext als vorzeitig und übereilt. Die Bemühungen um einen würdigen Auftritt des Menschen und der Menschlichkeit auf der Bühne der Weltgeschichte scheitern angesichts einer historischen Situation, die im Namen von Krieg und Terror die höchsten humanitären und aufklärerischen Ideale erniedrigt und für Trugbilder erklärt. Wendelin Schmidt-Dengler schreibt hierzu: Diesem Genius gilt zwar die Liebe des Autors, auf ihn werden alle positiven Attribute gehäuft, er verfügt über die zweifelsfrei besten Grundsätze, aber er ist nicht in der Lage, sein Vorhaben durchzuführen. Seine Vision vom Goldenen Zeitalter bleibt Utopie, seine Erscheinung unter den Menschen läuft Gefahr, als Farce oder als bloßes Decorum aufgefaßt zu werden.199
Dass der Genius von den geschichtlichen Faktoren ins Enge gezogen wird, lässt sich als Indiz einer tiefgreifenden Krise der aufklärerischen Kultur auslegen, als allegorische Darstellung eines ins Stocken geratenen Emanzipationsprogramms, das auf eine allmähliche und proportionierte Ausbildung der menschlichen Kräfte zu einem Ganzen als den einzigen Weg zur Erreichung der Humanität gesetzt hatte. Wie Michael Titzmann bemerkt, impliziert 198 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 241. 199 Schmidt-Dengler: Genius (wie Anm. 178), S. 172.
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[d]ie Präjudizierung des Erwachens dieses Genius als „zu früh“ […] schon sprachlich, daß es ein späteres und rechtzeitiges Erwachen, d. h. einen gelingenden Übergang zu einer dritten menschheitsgeschichtlichen Phase mit vernünftig-moralischer Ordnung in Zukunft geben könnte, wenngleich eine solche Hoffnung durch keine Daten in Klingers dargestellten Welten bestätigt wird.200
Scheint also ein solcher gelingender Schritt vorwärts im Prozess der Zivilisation in unabsehbare Ferne zu rücken, so ist das Volk der Hölle dennoch von Bestürzung und Alarm beherrscht. Belial bringt seinem Herrn Satan keine erfreuliche Botschaft und befürchtet den Eintritt der Menschheit in eine neue Zeit: Herr! dein unendliches Reich ist in Gefahr. Ich sah den Genius der Menschheit, den die Tyranney und der Aberglaube einst gefangen nahmen, auf dem ödesten Gebirge der alten Welt anschmiedeten und ihn da bis auf den heutigen Tag bewachten. Er, dein gefährlichster Feind ist erwacht, schon dehnt er seine Flügel aus, und die Wächter stehen geblendet, betäubt an seiner Seite. Ich sah die Zeit, mit dem Lichte geboren, hinter ihm anschleichen, und seine so lang gebundenen Fesseln, den Wächtern unbemerkt, auflösen. Da strahlte ein so helles Licht der Freude aus den Augen des noch immer blühenden, daß das ganze öde Gebirg erleuchtet ward, wie von dem Abglanz der reinsten Gestirne.201
Gleich darauf ergreift Leviathan, souverän und beschwichtigend, das Wort, um den „Fürsten der Hölle“ zu beruhigen. Seine Ironie gegenüber der Ökonomie der göttlichen Schöpfung ist unverhohlen: [M]ich wundert es gar nicht, daß er [scil. der Genius der Menschheit] noch so jung ist und immer blüht; wie könnte er altern, da er seit seiner Erschaffung geschlummert und nie seine Kräfte gebraucht hat? Der Ewige hat gar viel Schönes dieser Art geschaffen, das ungebraucht in seiner großen Schöpfung schwimmt; übrigens ist dieses ein sehr artiges Bild für den träumenden Menschenfreund; um es zur Gruppe zu machen, gesellten neuerlich die Teutschen dem Schlummernden eine gleich wache und thätige Gattin zu, die Humanität; aber wenn die Söhne der ersten Sünderin keine festere Stütze haben, so fürchte nichts, erhabner Satan!202
Satan gibt sich unbekümmert, mustert blasiert das „saubere Schauspiel“ der Menschen und erblickt mit Genugtuung in der Natur des einzelnen Menschen die sicherste Garantie einer unmöglichen politischen Emanzipierung des Menschengeschlechts: [D]as Volk, das so kühn im Unternehmen, als rasch in That ist, das alle aufgeklärten Völker durch seinen Witz und Geist bezaubert und nach sich zieht, arbeitet jetzt ganz ernsthaft 200 Titzmann: Friedrich Maximilian Klingers Romane (wie Anm. 34), S. 257. 201 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 229. 202 Ebd., S. 230f.
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daran, den verworrenen Knäuel zu lösen, in den sich das Menschengeschlecht durch das gesellschaftliche Band von dem Augenblick an verwickelte und verstrickte, als es Herren über sich setzen mußte, um nur beysammen bleiben zu können. Auch wollen sie die Quellen aller politischen Übel abgraben […] und sie haben nun den rechten Weg dazu erwählt. Sage ich – erwählt! – Wählt auch der Sklave der Nothwendigkeit seine ihm aufgedrungene Natur! […] Lag der Keim des Bösen nicht in dem ersten Wurf, in dem ersten Gedanken des Wurfs, und bliesen nicht auch wir hinein, weil wir mußten? Diese da nun wollen gar das Gesetz zu ihrem Herrscher aufstellen? Was? haben sie nicht lebende Herrscher, Adel und Priester? und Obrigkeit, und Philosophen – und –203
Der juristisch bewanderte Klinger trifft hier ins Schwarze, denn die Widersacher der Aufklärung, hier Teufelsadepten, mit ihrer finsteren Anthropologie sehen die frühen französischen Ereignisse, insbesondere die verfassunggebende Revolution der Nationalversammlung und die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte, als einen vergeblichen Versuch an, die conditio humana innerhalb der menschlichen Gesellschaft und der weltlichen Gesetze zu erheben. Das Stich- und Kampfwort „Menschenrechte“ erschließt wohl am ehesten den Kern der Problematik. Belial ist trotz aller Beschwichtigung sehr besorgt: Was vermögen „Herrscher, Adel und Priester“ gegen die „Zauberformel, welche die verwegenen Erwählten dieses Volks ausgesprochen haben?“204 Gemeint ist hier, in juristisch präziser Terminologie, die Trias „Freyheit! Gleichheit! Menschenrecht!“ – „sie erscholl in Paris – ich hörte sie in ganz Europa schreckenvoll ertönen“.205 Paris ist der Schauplatz und zugleich die Arena eines anthropologischen und politischen Experiments: In the 1790s, Paris became not only the center for dramatic political changes but also an emotional cauldron of frenzied expectations and debilitating fears. […] the creation of the democratic citizen required personal transformation, a subjective and unique experience, often transgressive of customs and mores.206
Mit den Worten Belials gewährt Klinger fachkundigen Einblick in die wohl wichtigste Angelegenheit der europäischen Spätaufklärung, also in die Herausbildung einer neuen politischen Sprache, deren Angelpunkt im Begriff der ‚Menschenrechte‛ liegt. Denn das Thema ‚Menschenrechte‛ durchläuft bekanntlich207 in der 203 Ebd. 204 Ebd., S. 232. 205 Ebd. 206 Margaret C. Jacob: The Secular Enlightenment. Princeton u. Oxford 2019, S. 236. 207 Vgl. Gerhard Oestreich: Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Düsseldorf 1951; Ders.: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß. Berlin 1968; Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des
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zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen entscheidenden Moment unzweideutiger Definition und das Gespräch in der Hölle registriert auf seine Weise diese semantische Bewegung. Kein Wunder, dass das Thema eine prominente Stelle einnimmt. Der weit verzweigte und europaweit geführte Diskurs über die unveräußerlichen Rechte der Menschheit bzw. über die unantastbaren Menschenrechte marschiert geradezu an der Spitze der Spätaufklärung und markiert gewissermaßen deren Kulminationspunkt sowie die Quelle ihrer internationalen Ausstrahlungskraft. Angelehnt an die bereits in der Antike wurzelnden Tradition der ‚Menschenwürde‛ (dignitas homini) und der humanitas erfolgte die explizite Formulierung des Wissens um die Menschenrechte – jetzt in äußerster Verknappung formuliert – vorwiegend auf dem Gebiet der juristischen und der politischen Praxis. Zugleich jedoch reicht der lange und heterogene Entstehungsprozess der Menschenrechte als einer neuen politischen Sprache der Moderne auf Überlegungen aus weitaus umfangreicheren Wissensbereichen zurück,208 und zwar von der Geschichtsphilosophie zur empirischen Anthropologie, von der Rechtsphilosophie (vor allem in der naturrechtlichen Tradition) bis hin zur Literatur – und mit Klinger zur Gattung des Welttheaters. Beginnt die deutsche Erörterung der Menschenrechtsfrage spätestens um 1780,209 so ist es vor allem die historische Aktualität der Französischen Revolution, welche die Debatten auf deutschem Boden entfacht. Die Vorstellung, die Revolution habe – vor allem in ihrer Frühphase – die Programmatik der Menschenrechte tatsächlich verwirklicht, stellt sich bald als Illusion heraus. Der Ex tremismus der revolutionären Handlungen, wie er in der Terreur und ihren Verbrechen zum Vorschein kam, bringt die ambivalente Haltung der Unterstützer radikalrevolutionärer Gedanken auf der ganzen Linie zum Ausdruck und damit ihre Unbeugsamkeit, den ihrer Ideologie innewohnenden Despotismus.210 Es kommt gerade um die Mitte der 1790er Jahre die dringende Notwendigkeit auf, 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976; Vincenzo Ferrone: Storia dei diritti dell’uomo. Rom und Bari 2014; Dan Edelstein: On the Spirit of Rights. Chicago 2018. 208 Vgl. Lynn Hunt: Inventing Human Rights: A History. New York 2007. 209 Zum Thema vgl. Hans Erich Bödeker: ,Menschenrechte‘ im deutschen publizistischen Diskurs vor 1789. In: Günter Birtsch (Hg.): Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1987, S. 392–433. 210 Vgl. Marcel Gauchet: La révolution des droits de l’homme. Paris 1989, bes. S. 65–80. Ferner: Patrice Gueniffey: La politique de la Terreur. Essai sur la violence révolutionnaire 1789-1794. Paris 2000, bes. S. 71–76 und Ferrone: Il mondo dell’Illuminismo. Turin 2019, S. 225: „L’espressione ‚diritti dell’uomo‛ subì qualcosa di analogo alla parola ‚virtù‛. Con il Terrore, i diritti cambiarono infatti radicalmente di significato nell’opinione pubblica: […] essi vennero ben presto associati e comunemente percepiti […] come arroganti pretese, manifestazioni di egoismo individuale […].“
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das Menschenrechtsideal vor den Übergriffen derer zu bewahren, die sich als seine ausschließlichen Urheber verstehen wollten, die jedoch durch ihre Handlungen eine Verdrehung und Pervertierung eben jener Idealität bewirkten. Hierauf antwortet Klingers Fragment direkt, indem er mit den beiden Bruchstücken des zweiten Buches den Genius der Menschheit und seine hochgesinnten Gefährten in das zerstörte Königsschloss Versailles und in die Versammlung der „Väter des Volks“ führt.211 Wie schon Max Rieger beobachtete, spielt das zweite Buch des Genius von der journée révolutionnaire des 10. August 1792 bis zur Hinrichtung des Königs am 23. Januar 1793.212 Der anfängliche Enthusiasmus über die Proklamation der Menschenrechte weicht bald der bittersten Enttäuschung, zumal das Programm der Menschenrechte usurpiert und zum Deckmantel verbrecherischer Handlungen im Namen der republikanischen Freiheit umfunktioniert wird. Die Überlegungen des Genius gegenüber seinen Gefährten haben folgenden Wortlaut: [D]ieses Volk hat mich gerufen, da es dem ganzen Erdboden laut verkündigte, es trete in die verlornen Rechte der Menschheit ein und wolle ihre Würde durch sie erkämpfen. Da nun Menschenrechte und Menschenwürde nur durch uns bestehen, und durch unsre Verbindung erhalten werden können, so müssen wir hier als erwartete und erwünschte Gäste aufgenommen werden.213
Die Situation in Paris und Versailles will es jedoch anders, denn nun drängten sich Geister eben Ermordeter aus dem blutigen Nebel herauf und schwebten eilenden Flugs an dem Genius und seinen Gefährten vorüber. Ein wildes, den blutigen Nebel erschütterndes Geschrey: Es lebe die Republik! folgte den Geistern der Ermordeten, und der Genius der Menschheit bedeckte sein Antlitz, erhob sich leise mit seinen erschrockenen Gefährten, schwebte mit ihnen über Paris hin, und ließ sich endlich mit ihnen in den Gärten der ehemaligen königlichen Wohnung nieder. Schweigend und tiefsinnend wandelte hier der Genius mit den Gefährten – die Säulen, die Lusthäuser lagen um sie her in Trümmern und verwüstet – Grimm, Wuth und Zerstörung hatten überall ihre Merkmale zurückgelassen.214
Die Geister der Erschlagenen und der zertrümmerte Bourbonenthron sind die unverkennbaren Anzeichen einer sinnlosen, ja zügellosen Vernichtungswut. Nicht nur die Symbole der öffentlichen Macht werden entweiht. Auch der private Raum der königlichen Familie ist zerstört. Wie Michael Titzmann beobachtet, 211 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 251. 212 Vgl. Rieger: Friedrich Maximilian Klinger (wie Anm. 1), S. 346. 213 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 245f. 214 Ebd., S. 246.
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lassen politische Verhältnisse enge und engste Verwandtschaftsbeziehungen in Feindschaften umschlagen: „Politisches Fehlverhalten bedroht also den höchsten irdischen Wert, und der Raum des Privaten kann nicht als Reservat gesicherter Ordnung ausgegrenzt und vor dem Eingriff des Politischen geschützt werden“.215 Gut aufklärerisch lässt sich der Genius jedoch nicht beirren. Jetzt will er der Nationalversammlung und dem späteren Konvent bei der Errichtung der neuen Ordnung beratend zur Seite stehen. Ihm schwebt noch die Idee einer allmählichen Bildung vor. „In diesem elegischen Abschnitt“, so Hering, interessiert vor allem die Beurteilung des unglücklichen Königs. Darin spricht sich […] Klingers Glaube aus, daß die Monarchie hätte gerettet werden können, denn Ludwig XVI. sei guten Willens gewesen und habe nach der Hilfe des Genius verlangt. […] [Es] sind die Diener der Regenten die wichtigsten Gestalten, die über Gedeih und Verderb der monarchischen Ordnung entscheiden.216
So schlägt der Genius der Versammlung vor, man solle den gefangenen Monarchen wieder auf den Thron setzen, zumal er und seine Gefährten ihm in Zukunft zur Seite stehen würden: „Er kennt uns schon – denn er hat Euch aus den edelsten, den reinsten Absichten zu Eurem Glück, zum Glück des Volks versammelt“.217 Die Revolution folgt jedoch in dieser Phase einer anderen Logik,218 die von parlamentarischer Monarchie nichts (mehr) wissen will. Die neuen Machthaber begnügen sich nicht mit Reformen, sie wollen einen völligen Kahlschlag: „Wir gehen kühn vorwärts“,219 „wir […] wollen alles Alte zerstören, und Schöpfer einer neuen Welt werden. Wie Medea stehen wir an dem kochenden Kessel – wir werfen die starren Glieder des abgelebten Alten hinein, damit er jung heraussteige“.220 – Unter Preisgabe aller Moralität werden vom Präsidenten der Versammlung schreckliche Verbrechen im Namen einer besseren Zukunft gutgeheißen. Menschenblut als Gründungs-Faktor soll die Geschlossenheit und den Zusammenhalt der neuen Republik bewirken:
215 Titzmann: Friedrich Maximilian Klingers Romane (wie Anm. 44), S. 254f. 216 Hering: Friedrich Maximilian Klinger (Anm. 46), S. 346. 217 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 262. 218 Vgl. Gueniffey: La politique de la Terreur (wie Anm. 210), S. 300. 219 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 258. „Kühnheit“ und „Mut“ sind stets wiederkehrende Themen in den Reden von Klingers Revolutionären. Ob darin ein Widerhall der berühmt-berüchtigten „Osez!“-Rede des Saint-Just, gehalten am 26. Februar 1794, zu erkennen sei, möchten wir im Rahmen dieser Arbeit dahingestellt sein lassen. 220 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 258.
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Wir, wir müssen jetzt bluten, damit unsre Nachkommen glücklicher als wir seyen; wir müssen vielleicht Verbrechen begehen, damit sie einst in Unschuld in Eurer Gesellschaft leben können.221
Umstandslos und wie selbstverständlich wird überdies die „Nothwendigkeit“ einer inhumanen Übergangszeit im Zeichen des Terrors in Aussicht gestellt. Der historische Saint-Just wird sich beispielsweise in seinen Reden mehrfach auf die „force des choses“ berufen. Klinger ist offenbar über das Neueste in Paris aufs Genaueste informiert: Wir müssen jetzt der Freude und den Thränen auf lange entsagen. Unser Herz muß dem Stahl gleichen, aus dem wir die Waffen gegen unsre Unterdrücker schmieden, unser Geist dem Pulver, dessen Stoff wir der Erde rauben, und womit wir unsere Feinde zerschmettern.222
Hier wird der menschliche Körper selbst zur Waffe, zum Instrument der Zerstörung. Gleich danach tritt der „verkappte Tiger Robespierre“223 auf und bietet dem Genius die „rothe Mütze – das dreyfarbige Band und die Karte“ an.224 Die Nähe von Klingers Text zu den historischen Dokumenten ist hier bemerkenswert, insbesondere im Hinblick auf die Körper-Metaphorik und die Ableitung einer revolutionären Tugend aus der Ausübung von Terrormaßnahmen. Es genüge hier als Parallelstelle ein einziger, durch Hannah Arendt berühmt gewordener Beleg aus der Petition einer der Pariser Sektionen während der Revolution: Aus Mitleid, aus Liebe zur Menschheit, seid unmenschlich; der geschickte und hilfreiche Chirurg lässt das gangränöse Glied unter sein grausames und wohltätiges Messer fallen, um den Körper des Kranken zu retten.225
Das radikalrevolutionäre Paradoxon einer Inhumanität aus vorgeblicher Menschenliebe spukt wie kaum ein zweites Element in Klingers Text. Denn mit Figuren wie Marat, Robespierre und Saint-Just betritt ein neuartiger ideologischer und anthropologischer Archetyp die historische (und literarische) Bühne, eine bis dahin beispiellose Mentalität, die im Namen der „vertu“ mit Entschlossenheit 221 Ebd. 222 Ebd., S. 261. 223 Ebd., S. 263. 224 Ebd. 225 Zit. nach Hannah Arendt: Über die Revolution. München u. Zürich 32013, S. 114. Original: „Par pitié, par amour pour l’humanité soyez inhumains; ainsi l’habile et secourable chirurgien fait tomber sous son fer cruel et bienfaisant le membre gangrené pour sauver le corps du malade.“
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und Kaltblütigkeit zur Entwurzelung sämtlicher moralischer, von der traditionellen Zivilisation getragenen Konventionen beiträgt. Diesem Sachverhalt versucht Klinger mit seinem Welttheater Rechnung zu tragen. Die jakobinische Führung entartet unter dem Deckmantel der Humanität und wird zum Inbegriff jenes „schaudernden, empörenden Widerspruchs“, der laut Klinger die Geschichte der Menschheit durchläuft: „Das, was sie für ihr Glück halten, befördern sie durch Verbrechen“.226 Die damit einhergehende, ganz und gar neue Mentalität zerstört im Namen des Ideals das Ideal selbst und seine ehrwürdige Tradition. In seinem Werk umreißt Klinger mit den rhetorischen Ressourcen des Welttheaters eine Psychologie der Revolution, die neben einem ideologischen Fanatismus die Züge einer unerhörten Härte aufweist, durch die die höchsten Ideale der Aufklärung, allen voran die politische Sprache der Menschenrechte, zur Scheinfassade verbrecherischer Handlungen einer machtbesessenen Führungselite verkommen. Die „vertu révolutionnaire“ erscheint daher in der literarischen Darstellung Klingers nicht zuletzt als ein geschichtliches Monstrum. Darin mag man schließlich den Grund erblicken, weshalb Klinger in seinen Betrachtungen zwar von Tugend und Kraft lobend spricht, ohne jedoch eine gewisse Verlegenheit vor dem Wort selbst verhehlen zu können: „Ich gebrauchte es oft in diesem Werke; jetzt könnte mich die Röthe der Scham oder der Bescheidenheit daran hindern“.227
226 Klinger: Das zu frühe Erwachen (wie Anm. 165), S. 225. 227 Klinger: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 18f. [Nr. 397].
Viertes Kapitel Endspiele der Tugend
Schnittstellen von Leben und Literatur beim späten Wieland (mit einem Seitenblick auf Seume)
https://doi.org/10.1515/9783110705782-005
1 Übersetzen als Erzählstrategie in schwierigen Zeiten November 1806. Unmittelbar nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt nimmt sich Christoph Martin Wieland vor, sämtliche Briefe Ciceros ins Deutsche zu übersetzen und sie mit einem ausführlichen Kommentar zu versehen. Er möchte Ciceros sprichwörtliche „Urbanität“, den hohen Grad an Reflexivität, Präzision und Geschliffenheit seiner Prosa, im Deutschen adäquat wiedergeben. Aus dem Dialog mit einem der römischen Hauptvertreter der spätrepublikanischen Gesinnung verspricht sich Wieland Trost und Aufklärung. Als Mittsiebziger beginnt er seine Cicero-Übertragung wenige Wochen nach Napoleons Ultimatum, das das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu seinem Zusammenbruch führte. Die „Lüge eines Reichs“, bemerkte Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, sei dadurch „vollends verschwunden“.1 „Ich interessiere mich höchlich für Bonaparte“, schreibt Wieland bereits am 11. Februar 1798. „Die Französische Republik“, so heißt es weiter, „wird ein zweytes Rom werden, u nicht ruhen, bis sie ganz Europa mit sich vereiniget, i.e. unterjocht und verschlungen hat“.2 Für Wieland, der aus dem reichsstädtischen Territorium Biberach gebürtig war,3 geht allerdings mit der Agonie des Reichs4 mehr als nur eine Lüge zu Ende. In einem berühmten Brief an die Kollegin Marie Sophie von La Roche vom 1. September 1806 schrieb Wieland: Unsre Zeit, meine Freundin, ist ein großer Schmelztigel, worin der Genius der Menschheit Schein und Wahrheit, Ächtes u Unächtes, durch ein gewaltiges Feuer zur Scheidung bringt. Was Gold war, verliert dadurch die Legierung, und mit ihr mehr oder weniger an Umfang und Gewicht; aber dafür ist, was übrig bleibt, reines Gold. […] Noch hängt eine dichte Wolke 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Glockner. Bd. XI. Stuttgart 1949, S. 567. Zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, S. 327–333 und Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Vol. II: From the peace of Westphalia to the dissolution of the Reich 1648–1806. Oxford 2012, S. 556–644. 2 Zit. nach Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. Ergänzte Taschenbuchausgabe. München 2010, S. 44. 3 Zum geschichtlichen und ideengeschichtlichen Hintergrund besonders wichtig: Monika Neugebauer-Wölk: Reich oder Republik? Pläne und Ansätze zur republikanischen Neugestaltung im Alten Reich 1790–1800. In: Heinz Duchhardt u. Andreas Kunz (Hg.): Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780–1815. Mainz 1998, S. 21–50. 4 Dazu vgl. Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009, S. 227–250.
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über uns – und nur die unbegreifliche Ruhe u Heiterkeit unsers Herzogs giebt uns eine Art von Hoffnung, daß das Gewitter sich ohne großen Schaden über uns oder von uns wegziehen werde.5
Einige Tage später erscheint die „dichte Wolke“ der Zeitgeschichte geradezu apokalyptisch gefärbt. In einem Brief an Karl August Böttiger, wohl um die Mitte September 1806 geschrieben, verweist Wieland – nicht ohne eine gewisse Ironie – auf die „apokalyptische Zeit, in die wir gefallen sind“, sowie auf die damit einhergehende „politisch-moralische Misere“, die für ihn „zu groß“ sei.6 Die Besorgnis scheint in den darauf folgenden Monaten die Oberhand zu behalten: „Der gegenwärtige Zustand von Germanien“, so heißt es in einem Brief vom 12. Januar 1807 an den Schwiegersohn Heinrich Geßner, „ist gar zu miserabel und precär: die Südliche Hälfte hat sich noch nicht erhohlt; die Nördliche ist erschöpft und zu Grund gerichtet, und was aus dem Ganzen noch werden mag, wissen die Götter allein.“7 Nicht erfreulicher erscheint die Lage in Weimar. „[D]as kleine Bethlehem – Weimar hat in der Geschichte des 18ten Jahrh[underts] seinen Tag gehabt; aber die Sonne, die ihm vor 40 Jahren aufgieng, ist im Jahr 1807 untergegangen, und die Nacht bricht herein, ohne einen neuen Tag zu versprechen“ – so heißt es in einem Brief an Johannes von Müller vom 24. August 1807.8 Im April 1808 ist sogar von einer „Weimarischen Schreckenszeit“ die Rede.9 Die Übertragung sämtlicher Briefe Ciceros steht zu diesen politischen und nationalen Ereignissen, deren Umschlag durch die Befreiungskriege Wieland nicht mehr erlebte, in einem direkten Wechselverhältnis. Wieland übersetzt, mit anderen Worten, vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte.10 „In einer solchen Lage ist es für unser einen freylich das rathsamste, sich in das eine oder andre der alten Classischen Länder zu flüchten“, gesteht er in einem Brief an Böttiger vom 21. Dezember 1806.11 Er möchte sich „in das Classische Land“12 retten, er sucht
5 Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVII. Erster Teil. Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 2001, S. 111–112, hier S. 112. Das Bild vom „Schmelztiegel“ war ein Topos in der politischen Publizistik um 1800 und verwies auf Wiederbringungs- und Verjüngungsvisionen. Dazu grundlegend: Hans-Jürgen Schings: Klassik in Zeiten der Revolution, Würzburg 2017, S. 192–205. 6 Wielands Briefwechsel. Bd. XVII. Erster Teil (wie Anm. 5), S. 127–130, hier S. 128 u. S. 130. 7 Ebd., S. 171–175, hier S. 174. 8 Ebd., S. 242–243, hier S. 243. 9 Vgl. ebd., S. 323–324, hier S. 323. 10 Vgl. Gerhard Hay: Zu Wielands Cicero-Übertragung. Mit bisher nicht publizierten Briefen. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 13 (1969), S. 13–32. 11 Wielands Briefwechsel. Bd. XVII. Erster Teil (wie Anm. 5), S. 162–164, hier S. 162. 12 Ebd., S. 292–294, hier S. 293.
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darin ein geistiges Asylum in Zeiten des abnehmenden Lichtes und teilt damit die Überzeugung einiger aufgeklärter Zeitgenossen. Laut Caroline von Herder sei es „die größte Wohlthat für die jetzige Welt, daß geist- und gemüthvolle Männer der hohen Alten Geist und Charakter wiedergeben und von der jetzigen kritischphilologischen und neuen widerwärtigen ästhetischen Epidemie ablenken.“13 Wieland praktiziert in der Tat eine lebendige Philologie: „Ich widme alle Zeit, worin ich zu arbeiten fähig bin, meinem Cicero“.14 Die Anzahl der konsultierten Hilfsmittel, wovon der Briefwechsel zeugt, ist beeindruckend. Darunter: Die Historiae Romanae des Dion Cassius, Sebastianus Corradus’ Quaestura in qua vita Ciceronis refertur, Fabricius’ Historia Ciceronis, J. A. Ernestis Clavis Ciceroniana, die Epistolae ad Familiares und ad Atticum von Johann Georg Graevius herausgegeben, die französische Übersetzung der Briefe Ciceros an Atticus vom Abbé Mongault, die italienische Übersetzung von dem Servitenmönch Bandiera, Middletons Life of Cicero und vor allem, zur Klärung der Hauptbegriffe, Egidio Forcellinis Totius latinitatis lexicon (in der patavinischen Ausgabe von 1777). Wielands Cicero besteht insgesamt aus sieben Bänden in achtzehn Büchern. Von Wielands Hand sind die Bücher I bis XII sowie die Übersetzung der Bücher XIII und XIV. Der Kommentar zu den Büchern XIII und XIV und alles Folgende stammt hingegen von Friedrich David Gräter, Wielands engstem Mitarbeiter.15 Des Wagnisses, das mit der Übersetzung verbunden ist, ist sich Wieland bewusst: „Ich erschrecke vor der Verwegenheit dieses Unternehmens“,16 es sei nicht weniger als ein „kühnes ausum für einen Mann im 74sten Jahre“.17 In der Vorrede zu den Briefen, datiert vom 26. März 1808, wendet er sich an seine
13 Caroline von Herder an Knebel, 17. Mai 1808. In: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVII. Zweiter Teil. Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 2003, S. 441. 14 Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVIII. Erster Teil. Bearb. v. Klaus Gerlach u. Uta Motschmann. Berlin 2004, S. 22. 15 Dazu ausführlich: Arnd Kerkhecker: Cicero. In: Jutta Heinz (Hg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. Weimar 2008, S. 433–445. Wielands Übersetzungsunterfangen war keine Seltenheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wie das Morgenblatt für gebildete Stände am 3. Oktober 1807 aus Weimar berichtet, scheint die „Übersetzungsmuse jetzt unsere Gegenden zu umschweben. Der gepriesene Übersetzer des Terenz, der H. v. Einsiedel, arbeitet fleißig am Plautus, und zu Ostern werden gewiß 10 Stücke erscheinen. Knebel, der würdige Greis, ist rastlos thätig mit seiner Übersetzung des Lukrez beschäftigt, und Wieland lebt seit einigen Wochen in Belvedere sich und Cicero’s Briefen, von denen wir ebenfalls zu Ostern mindestens ein Sechstheil – das Ganze besteht aus 6 Bänden – zu erwarten haben“. In: Morgenblatt für gebildete Stände 237 (3.X.1807), S. 948. 16 Wielands Briefwechsel. Bd. XVII. Erster Teil (wie Anm. 5), S. 149–151, hier S. 150. 17 Ebd., S. 154–156, hier S. 155.
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„Sprachgenossen“18 und in dieser Wortwahl schimmert, wie Markus Hien hervorgehoben hat,19 die Überzeugung durch, dass er sich an eine Sprachnation wendet, die ohne stützende Staatlichkeit geblieben ist und daher wohl nicht lange Bestand haben könne. Der Untergang der römischen Republik ist für Wieland eine „furchtbare Welttragödie“, aufgeführt im „verderbtesten aller Zeitalter“.20 Politische und moralische Kategorien gehen dabei ein argumentatives Bündnis mit ästhetischen ein. Ciceros Briefe betrachtet Wieland aus einem „geschichtlichen und weltbürgerlichen Gesichtspunct“.21 Trotz seiner Betroffenheit über den Verlust der Reichsverfassung gehe es ihm jedoch nicht, anders als bei vielen seiner Zeitgenossen, primär um Überlebenskampf und Reichswiederherstellung. Er möchte vielmehr zeigen, wie wenig die größten Talente, mit Rechtschaffenheit, Tugend und Humanität verbunden, gegen grenzlose Herrschsucht, welcher alle Mittel zu ihrem Zweck zu gelangen gleichgültig sind, auszurichten vermögen.22
Eine recht bittere, in jeglicher Hinsicht ernüchterte und ernüchternde Bilanz wird da gezogen. Aufgrund der soeben zitierten Passage hat Wolfgang Burgdorf in seinen maßgeblichen Untersuchungen zum Reichsuntergang Wielands Übersetzungsunternehmen als ein Fall von „kultureller Kompensationsleistung“ interpretiert, die ihm charakteristisch für viele Intellektuelle der Zeit scheine.23 In Bezug auf den späten Wieland hat man sogar von „innerer Emigration“ gesprochen, um sein Spätwerk mit anachronistischer Wortwahl einordnen zu können. Wieland selbst versuchte eingestandenermaßen durch seine Tätigkeit als CiceroÜbersetzer, sich „aus einer fürchterlichen einengenden Gegenwart in eine andere Welt“ zu retten, sich dabei „in einer Zeit und unter Menschen“ zu versetzen, die „längst nicht mehr waren, wo möglich unter colossalische Menschen vom Titanen- und Gigantenstamm“.24 18 M. Tullius Cicero’s Sämmtliche Briefe, übersetzt und erläutert von C. M. Wieland. Erster Band. Zürich 1808, S. XVI. 19 Vgl. Markus Hien: Altes Reich und Neue Dichtung. Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830. Berlin u. New York 2015, S. 453f. 20 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. XVIII u. XX. 21 Ebd., S. XIX. 22 Ebd., S. XXII. 23 Wolfgang Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation von 1806. 2. Auflage. München 2009, S. 222f. Siehe außerdem allgemein Marc André Bernier: Parallele Zeiten. Das Schreiben neuzeitlicher Kriegsgeschichte im Zeichen antiker Konflikte. In: Stefanie Stockhorst (Hg.): Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hannover 2015, S. 31–50. 24 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. XXIII.
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Es gilt festzuhalten: Die Auseinandersetzung mit Cicero wird für Wieland zu einer historisch-politischen Suche nach dem Wert der Humanität. Sein Studium des Lebens und Werks Ciceros strebt die „Reinigung und Veredlung der Menschheit“ an.25 War für Wieland allgemein Geschichte eine lehrreiche Parabel – „Orakel zur Belehrung und Warnung“ für diejenigen, „deren Geschichte in tausend Jahre die alte sein wird“26 – so ist seine Darstellung der spätrömischen res publica, die „Geschichte der letzten Lebensjahre der größten und ausserordentlichsten aller Republiken“,27 das Lehrstück schlechthin. Im Spiegel dieser Epoche wird die Gestalt Ciceros für Wieland exemplarisch, als „Bürger, Staatsmann, Redner“, vornehmlich aber als „Mensch“.28 Dieses Bild hatte bei Wieland stets für Orientierung und geistige Wegzehrung gesorgt: [Wir] sehen einen Cicero, in der unfreiwilligen Einsamkeit seines Tusculanum, auf akademische Betrachtungen einen Wert legen, und in Verpflanzung der Platonischen und Stoischen Philosophie auf römischen Boden Unterhaltung und Trost gegen den Unbestand des Glücks und die Trübsale des Lebens suchen.29
Diese Anverwandlung des Humanum30 in einem Staatsmann und Philosophen aufzuzeigen, ist Hauptabsicht des späten Wieland. Die virtus Ciceros, seine politische und menschliche Tugend spielt dabei eine zentrale Rolle.31 Wieland schwebt der „Heroismus der Tugend“ vor, „der immer bereit ist das Edelste zu tun und einer hohen Idee von moralischer Schönheit oder Größe jedes Opfer zu bringen“, ein catonischer Heroismus der Tugend, der vor allen Dingen eine „Energie der Seele und eine Stimmung ihres reinsten Organs“ voraussetzt.32 Tugend, Kraft und wirksame Tätigkeit für das Gemeinwohl gehen dabei ein Bündnis ein. Fundament jener Tugend ist die stoische „Moral, die den Menschen veredelte, indem sie die 25 Ebd., Band II, S. II. 26 Ebd., Band I, S. VII. 27 Ebd., S. V. 28 Ebd., S. XI. 29 Christoph Martin Wieland: Briefe und Satiren des Horaz. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitungen und Erläuterungen versehen. Mit dem von Wieland beigefügten Text des Originals. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt a.M. 1986, S. 55. 30 Zum Begriff der antiken ‚Humanität‛ siehe nach wie vor Rudolf Rieks: Homo, humanus, humanitas. Zur Humanität in der lateinischen Literatur des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. München 1967. Über antike Humanität und moderne Menschenrechte siehe Vincenzo Ferrone: Il mondo dell’Illuminismo. Storia di una rivoluzione culturale. Turin 2019, S. 115–128 und Maurizio Bettini: Homo sum. Essere „umani“ nel mondo antico. Turin 2019. 31 Zur historischen Figur Ciceros im Kontext des Untergangs der römischen Republik siehe Ronald Syme: The Roman Revolution. Oxford 1939, S. 136–148 u. S. 448. 32 Wieland: Briefe und Satiren des Horaz (wie Anm. 29), S. 25.
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vollkommenste Ausübung der Tugend, und die angestrengteste Tätigkeit zum Besten des Vaterlandes und der allgemeinen menschlichen Gesellschaft zur einzigen Bedingung der Glückseligkeit machte.“33 Cicero war Konsul in einem Staat der „Gesetze, der Ordnung, und der öffentlichen Wohlfahrt“.34 Zwar nicht frei von Eitelkeit – darauf verweist Wieland mehrfach –, aber doch mit „Muth, Redlichkeit, Uneigennützigkeit, Klugheit, Wachsamkeit, Thätigkeit und Beharrlichkeit“,35 porträtiert er einen Cicero mit den beispiellosen Eigenschaften eines idealisierten Staatschefs. Der Tugendkatalog, der Ciceros Laufbahn auszeichnet, lässt ihn als Exemplum von praktizierter Tugend erscheinen. In Egidios Forcellinis Lexicon konnte Wieland eine klare Darstellung der Wechselbeziehung zwischen Tugend und Kraft nachlesen. Vor allem konnte er dort Belege zu einer Auffassung von Tugend als Synonym für menschliche (psychophysische) Vortrefflichkeit finden: „Per synecdochen usurpatur de quacunque [sic] hominis perfectione, tam corporis, quam animi, sed praecipue animi“.36 Die einzelnen Bestandteile von Ciceros Briefkorpora werden in der rastlosen Werkstatt des Übersetzers so konsequent arrangiert, dass daraus eine Umschmelzung der verschiedenen Materialien zum Roman eines Lebens wird,37 an der geradezu die „geheim[e] Geschichte“ der sterbenden Republik abgelesen wird. In der Vorrede heißt es diesbezüglich: Wollte ich einen meiner Hauptzwecke nicht verfehlen, so mußten diese Briefe, so viel möglich, in eben der Ordnung gelesen werden können, worin sie der Zeitfolge nach geschrieben wurden. Die Briefe ad Familiares mußten also aus der Unordnung, worin sie in den Handschriften und gewöhnlichen Ausgaben durch einander geworfen sind, herausgehoben, und Chronologisch gestellt, die Briefe an Atticus und Quintus überall da, wo sie der Zeit nach hingehören oder zu gehören scheinen, eingeschaltet, und somit alle zu einem zusammenhangenden Ganzen vereinigt werden, das zugleich als die ächteste Biographie Cicero’s und als ein schätzbarer Beytrag zur geheimen Geschichte der letzten zwanzig Jahre der Römischen Republik betrachtet werden könnte.38
In den erläuternden Teilen der Übersetzung, also in ihren Paratexten, sind römisch-republikanische Vergangenheit und Wielands Gegenwart in Zeiten des 33 Ebd., S. 53. 34 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. 29. 35 Ebd., S. 59. 36 Totius Latinitatis Lexicon. Consilio et cura Jacobi Facciolati, opera et studio Aegidii Forcellini, alumni seminarii patavini, lucubratum. Tomus quartus. Patavii 1771, S. 524. 37 Kerkhecker: Cicero (wie Anm. 15), S. 444: „Im pointierten Spiel der Perspektiven, in der Vielzahl der Stimmen und der Sorgfalt der Stimmführung erinnert Wielands Cicero an einen Briefroman“. 38 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. XVII–XVIII.
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Reichsuntergangs allerdings so eng ineinander verwoben, dass die Darstellung der Biographie Ciceros, genau genommen, im Lichte der eigenen Erfahrung des Übersetzers erfolgt – und dies nach einem hermeneutischen Verfahren, das die Schnittstellen zwischen eigenem Leben und übersetzten Lebenserfahrungen indirekt hervorhebt. Von einem „so schweren und gefährlichen Unternehmen“, wie die Übersetzung der Cicero-Episteln es war, erwartet Wieland stillschweigend Antworten auf die Probleme seiner Gegenwart. Darin wurzelt, so darf man vermuten, die Kulturpoetik seiner Übersetzung. Die Gegenwart von 1806 und der Fall der römischen Republik bieten sich förmlich zum Vergleich an. Ciceros Briefe seien „für Leser aller Classen, zumahl in der Zeit, worin wir leben, nicht nur der anziehendste und unterhaltendste, sondern in mehreren Rücksichten sogar der gemeinnützlichste Theil seiner Schriften“.39 Die Beschäftigung mit Ciceros Briefen erfüllt daher eine ethisch-ästhetische Funktion, versteht sie sich doch als einen „gemeinnützliche[n]“ Beitrag zum näheren Verständnis bestimmter politischer und gesellschaftlicher Formationen in Zeiten radikaler geschichtlicher Umbrüche. In einem Brief an Elisabeth Gräfin Solms-Laubach freut sich Wieland, daß ich Ihro Durchlaucht in drey bis vier Monaten, un wo möglich noch bälder, eine Sammlung von ganz anders interessanten Briefen werde überreichen können, von denen ich gewiß bin, daß ein Geist wie der Ihrige eine so anziehende Unterhaltung, so viel Stoff zum Denken und Vergleichen unserer Zeiten mit den letzten 20 Jahren vor Auflösung der römischen Republik und überhaupt eine so angenehme Zerstreuung oder Avokation des Gemüths von schmerzlichen oder widerlichen Gefühlen des Gegenwärtigen oder Bevorstehenden darin finden wird, als vielleicht in wenig andern Blättern.40
Diese Ankündigung seiner Übertragungen vom 12. November 1808 unterstreicht den doppelten Charakter, den Wieland den Cicero-Briefen an Freunde und Verwandte zuschreibt: Ablenkende Unterhaltung, aber auch geistige Stimulierung, die eigene Zeit im antiken Spiegel kritisch zu beurteilen. Dieser Anspruch steht offensichtlich in der Tradition der Horazischen Forderung des prodesse et delectare, die Wieland immer anerkannte. Doch darüber hinaus weist er auf den aktuellen tagespolitischen Bezug hin, wenn er von „schmerzlichen oder widerlichen Gefühlen des Gegenwärtigen oder Bevorstehenden“ spricht.
39 Ebd., S. IV. 40 Christoph Martin Wieland: Auswahl denkwürdiger Briefe. Hg. v. Ludwig Wieland. Band 2. Wien 1815, S. 99f.
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Die Briefe des Humanisten Cicero spiegeln die letzten Jahrzehnte der von sozialen und politischen Kämpfen zerrissenen römischen Republik.41 Mit Recht hat Goethe vor der Weimarer Loge Amalia in seiner Totenrede Zu brüderlichem Andenken Wieland eine geistige und seelische Verwandtschaft mit den Römern nachgesagt: Horaz hat viel Ähnliches von ihm; selbst kunstreich, selbst Hof- und Weltmann, ist er ein verständiger Beurteiler des Lebens und der Kunst; Cicero Philosoph, Redner, Staatsmann, tätiger Bürger; und beide aus unscheinbaren Anfängen zu großen Würden und Ehren gelangt.42
Zugleich hat er vermerkt, dass sich der Übersetzer und Humanist Wieland diesen Gestalten des römischen Altertums einerseits spiegelbildlich, andererseits distanziert genähert habe, ja dass er, Goethe, sich wohl ein wenig mehr „Wohlwollen“ gewünscht hätte.43 Gerade aber diese Kritik wie Anverwandlung ist ein spezifischer Wesenszug der Rezeption des Humanismus für Wieland. Für Garves Übersetzung von Ciceros De officiis im Auftrage Friedrichs des Großen trifft dieses noch keineswegs zu.44 Wieland interessiert der Kampf um Freyheit oder Sclaverey auf der einen, um Alleinbeherrschung der Welt oder Tod, auf der andern Seite. […] Nie hatte sich noch so auffallend zu Tage gelegt, wie wenig die größten Talente, mit Rechtschaffenheit, Mäßigung und Humanität verbunden, gegen grenzenlose Herrschsucht, welcher alle Mittel zu ihrem Zweck zu gelangen gleichgültig sind, auszurichten vermögen.45
Das bezieht sich zunächst nur auf die letzten Jahre vor Augustus’ Prinzipat46 und nicht auf die von Kriegen erschütterte Welt, die Napoleon beherrschen will. Und doch ist in dieser Charakteristik mitleidendes Betrachten des Gegenwärtigen zu spüren, Resignation und eine Relativierung durch die Historie, zugleich aber auch das Votum des alten Wieland für die ihm möglich erscheinende Freiheit innerhalb der römischen Republik. Allerdings liegt hier vielleicht auch die
41 Vgl. Syme: The Roman Revolution (wie Anm. 31), S. 138. 42 Johann Wolfgang Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813). In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Bd. 9. Hg. v. Christoph Siegrist u.a. München 1987, S. 944–965, hier S. 957. 43 Hay: Zu Wielands Cicero-Übertragung (wie Anm. 10), S. 22. 44 Zu Garves Übersetzung siehe Verf.: L’esercizio della virtù civica. In: Raul Calzoni (Hg.): La circolazione del sapere nei processi traduttivi della lingua letteraria tedesca. Mailand und Udine 2018, S. 79–96. 45 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. V–VI. 46 Vgl. Syme: The Roman Revolution (wie Anm. 31), S. 139.
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Schwäche seines Humanismus, da er nicht mehr handelt, sondern nur betrachtet und mahnt aus Furcht, im Handeln der Weisheit und vor allem der tatkräftigen Tugend der Alten verlustig zu gehen. Er begegnet der Vergangenheit und ihren Gestalten mit Vorbehalt, „wiewohl ich mit diesen großen Menschen im Leben eben so wenig hätte verwickelt sein mögen als mit den Heroen unsrer Zeit. Denn auch diese werden erst in 2000 Jahren sehr gute Gesellschaft sein“.47 Darin unterscheidet sich der Weimarer – und mit ihm die meisten seiner Zeitgenossen – von Cicero und seiner Zeit. „Die gemeine Sache“, die res publica, war eben nicht mehr „zugleich Sache des Volkes, res populi“.48 Wielands Operation stützt sich auf ein zyklisches Geschichtsverständnis, das auf die Mittel der Analogie setzt und letztlich pessimistisch tingiert ist. „Alles Vergangene kommt“, so liest man in der Vorrede weiter, in einer Art von Kreislauf der Zeiten, in mehr oder minder veränderter Gestalt wieder. Die alte Geschichte ist eine Art von Orakel zur Belehrung und Warnung derjenigen, deren Geschichte in tausend Jahre die alte seyn wird: nur Schade, daß diese prophetische Stimme das Schicksal der Weissagungen der Trojanischen Cassandra hat: man versteht sie nicht, weil man sie nicht verstehen will; man glaubt ihr nicht, weil man keine Lust hat ihr zu gehorchen.49
Skizziert wird hier die tiefgreifende Krise des hellseherischen Geschichtsschreibers, der sich nicht zuletzt als „Prophet der Aufklärung“50 verstehen will. Nichtsdestoweniger kommt diesem desillusionierten Propheten die Aufgabe zu, durch die Nachzeichnung herausragender exempla classica anthropologisch-moralische Modelle tugendhafter Lebensführung aufzustellen, die für Orientierung in der schwierigen Gegenwart, falls man auf sie hören mag, sorgen können. Orientierung setzt dabei in erster Linie die Diagnosefähigkeit der Epochenzeichen voraus. Darin wurzelt das Spezifische von Wielands Literaturverständnis und seine Aufgabe als Aufklärer. Der Übersetzer Wieland bedient sich daher der Kunstmittel des Romanciers, der um epische Integration bemüht ist. Zu diesen Mitteln zählen vor allen Dingen die Kunst des Disponierens und des Bauens, auf die Wieland spätestens während der Niederschrift seines Briefromans Aristipp (1800–1802) reichlich zurückgegriffen hat.51 Wieland nutzt die Kompositions-
47 Briefe an Cotta. Hg. v. Maria Fehling. Stuttgart u. Berlin 1925, S. 126. 48 Horst Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus. Hildesheim 21966, S. 32. 49 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. VII–VIII. 50 Vincenzo Ferrone: I profeti dell’Illuminismo. Le metamorfosi della ragione nel tardo Settecento italiano. Neue Auflage. Rom u. Bari 2000. 51 Dazu Verf.: Il romanzo e la repubblica alla prova dei filosofi. Percorsi e progetti dello spirito critico nel Socrate delirante, nella Storia degli Abderiti e nell’Aristippo di Christoph Martin Wie-
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fuge, um durch Vorausdeutungen Erwartungen zu wecken. Ergänzungen durch Zwischentexte kommen nicht selten vor. Wo immer die Ungleichmäßigkeit oder Unvollständigkeit des Briefwechsels den Erzählzusammenhang gefährdet oder abreißen lässt, füllt Wieland die Lücken durch historische Abrisse, Einleitungen und Vorberichte, chronologische Auszüge, Beilagen und Zusammenfassungen. Die historische Dokumentensammlung wird übergreifend umgeformt zum geschlossenen erzählerischen Kunstwerk. Gerade im Tun des gelehrten, philologisch sorgfältigen Herausgebers und Erzählers zeigt sich der Schriftsteller. Und, wie man pointiert beobachtet hat,52 ausgerechnet eine Cicero-Übersetzung wird Wielands letztes, wohl mutigstes Erzählwerk.
land. In: Cultura tedesca 50 (2016): Progetti culturali di fine Settecento fra tardo Illuminismo e Frühromantik. Hg. v. Elena Agazzi u. Raul Calzoni, S. 151–174. 52 Vgl. Hien: Altes Reich (wie Anm. 19), S. 454f.
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2 Virtus amissa Cicero erscheint Wieland zunächst einmal als einer der „colossalischen“ Kämpfer, die sich für das Allgemein-Beste der Republik, also des Staats, tatkräftig einsetzen und dadurch ihre politische Tugend zutage gefördert haben. Exemplarisches Heldentum im republikanischen Kontext ist hier im Spiel. Cicero ist für Wieland der urbane Fahnenträger einer Humanität, die sich nicht zuletzt in einer politischen Vision niederschlägt, die sich auf die politischen Ideale von Tugend (als Bürgertugend) und Freiheit (als bürgerliche Freiheit) stützt. In der Historischen Einleitung zu den Cicero-Briefe präsentiert er das Bild einer „schon lange todkranken Republik“, die sich von ihrem „Lebensprincip, dem Gemeingeist, der Religion des Gesetzes, der Tugend und der kindlichen Vaterlandsliebe“ entfernt habe.53 Markus Hien hat den Punkt klar umrissen: „Der Mangel an bürgerlichen Tugenden und der fehlende Einsatz für das Gemeinwohl mussten zum Zusammenbruch der Republik führen.“54 Mitgefühl oder gar Mitleid ist in jeder Zeile zu spüren. Mea res agitur mag Wieland gedacht haben. Persönliches ist dabei zweifellos im Spiel. Die Arbeit am Cicero ist daher Wielands Auseinandersetzung mit seiner Gegenwart, wenn auch nur in dem Sinne, wie es ein Brief von Anfang März 1811 verrät, dass er seit mehreren Tagen die ganze Nacht durch von nichts als ihrem Inhalt träumt, unter den großen Menschen, die im 705ten Jahre der Stadt Rom eine so merkwürdige Welttragödie aufführten, wie unter seinen Zeitgenossen lebt und webt, und beynahe noch lebhafteren Antheil an ihren Handlungen und Schicksalen nimmt, als an der ähnlichen Katastrophe die er selbst erlebt hat, aber leider nicht als handelnde, sondern als leidende Person, oder als bloßer ohnmächtiger Zuschauer, der anstatt zu applaudiren oft lieber hätte rasend werden mögen.55
Die Krise der bürgerlichen Tugend bedeutet dabei die Krise der Republik. Die Triebfeder ihrer Erhaltung, um zur einschlägigen Metaphorik Montesquieus noch einmal zu greifen, sei zugunsten des Privatinteresses einiger weniger Faktionen untergegangen. Verstellung und Opportunismus seien die Haupteigenschaften der neuen Machthaber gewesen, einer Gruppe von „Gutgesinnten“ also, die nur „um ihrer Privatvortheile willen den Schild des Patriotismus“ getragen hätten.56 53 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. XXXI. 54 Hien: Altes Reich (wie Anm. 19), S. 457. 55 Wieland: Denkwürdige Briefe. Band 2, S. 211. 56 Ebd., Band 4, S. 12. Für eine historische Darstellung jenes Wendepunkts der römischen Geschichte vgl. Christian Meier: Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. 4. Auflage. Stuttgart 2017, bes. S. 301–306.
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Eine solche Tugend, verstanden als Vaterlandsliebe und Aufopferung des eigenen Privatvorteils, erscheint in vielen Briefen nunmehr als eine Wunschvorstellung, als ein Ideal privater, statt öffentlicher Lebensführung. „Verfolge ferner deinen edeln Zweck“, heißt es in einem Brief Marcus Catos an Cicero, „dich durch strenge Tugend und unermüdete Thätigkeit um die Schutzverwandte und das gesamte Gemeinwesen verdient zu machen.“57 Anstatt der Tugend als Vorrang des allgemeinen Interesses vor dem eigenen herrscht in der Spätzeit der Republik nur Egoismus und Machtbesessenheit vor. Wieland liest die Spätphase der römischen Republik durch den Filter von Rousseaus ,Kulturkritik‘, von Christian Garves Kommentaren zu Ciceros De officiis und noch deutlicher im Lichte von Montesquieus Beobachtungen zum Wesen der republikanischen Regierungen. Wenn er in Bezug auf Cicero von der Tugend als einem „Lebensprincip“ der Republik spricht, so ist die Erinnerung an die einschlägigen Passagen aus Montesquieu De l’esprit des lois kaum von der Hand zu weisen. Über das Prinzip der Demokratie schrieb er beispielsweise (III, 3): Zum Fortbestand oder zur Stützung einer monarchischen oder einer despotischen Regierung ist keine sonderliche Tüchtigkeit vonnöten. Unter der einen regelt die Kraft des Gesetzes alles oder hält alles zusammen, unter der anderen der immer schlagkräftige Arm des Herrschers. In einem Volksstaat ist aber eine zusätzliche Triebkraft nötig: die Tugend.58
Die „vertu“, also die staatsbürgerliche Tugend als Prinzip und Triebfeder treibt den Mechanismus der politischen Gemeinschaft an, stachelt die Tätigkeit der Bürger zur Aktivität an und mobilisiert die notwendigen Energien für das Handeln und den Zusammenhalt in der Gesellschaft der Mit-Bürger. Der Tugendbegriff ist daher unabdingbar für das Verständnis jeder Form von politischem und literarischem Republikanismus. Bereits in den 1790er Jahren hatte sich Wieland mit der Frage der republikanischen Tugend auseinandergesetzt. Insbesondere in einem Artikel des Neuen Teutschen Merkur von 1792, erschienen unter dem Titel „Die französische Republik“,59
57 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), Band III, S. 444. 58 Montesquieu: De l’esprit des lois. In: Ders.: Œuvres complètes. Texte présenté et annoté par Roger Caillois. Vol. 2. Paris 1951, S. 251: „Il ne faut pas beaucoup de probité pour qu’un gouvernement monarchique ou un gouvernement despotique se maintienne ou se soutienne. La force des lois dans l’un, le bras du prince toujours levé dans l’autre, règlent ou contiennent tout. Mais, dans un état populaire, il faut un ressort de plus, qui est la vertu“. 59 Christoph Martin Wieland: Die französische Republik. Geschrieben im September 1792. In: Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker. Hg. v. Horst Günther. Band 2. Frankfurt a.M. 1985, S. 517–536, hier S. 525. Für eine souveräne Zusammenschau vgl. Gonthier-Louis Fink: La littérature allemande face à la Révolution française
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hatte er der allgemeinen Überbewertung von Verfassungen Skepsis entgegengebracht. Eine Republik bedürfe zu ihrer Verwirklichung vor allem der Erziehung republikanischer Sitten. Die revolutionären Ereignisse, insbesondere die Septembermorde von 1792, waren ihm der Beweis, dass das Volk oder die Nation noch nicht „erzogen“ sei und eine Republik nicht ohne republikanische Sitten einen Bestand haben könne. Denn ohne sie werde sie zum Kampfplatz aller gegen alle. Thematisiert und klar konturiert wird das Problem auch im Aristipp. In einem Brief an die fiktionale Figur des Learchus schreibt der postsokratische Philosoph: Alle bürgerliche [sic] Gesellschaften haben den unheilbaren Radikalfehler, daß sie, weil sie sich nicht selbst regieren können, von Menschen regiert werden müssen, die es größtenteils eben so wenig können. Man kann unsre Regierer nicht oft genug daran erinnern, daß bürgerliche Gesetze nur ein sehr unvollkommenes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten, und jede Regierung, ihre Form sey noch so künstlich ausgesonnen, nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft ist, die in jedem Menschen regieren sollte.60
Die Reflexion über öffentliche Tugend markiert, wie kaum anders zu erwarten, einen nicht unerheblichen Teil von Wielands Kommentaren über Ciceros Briefe und verbindet sich mehr oder weniger direkt mit einer Tradition, die man im 20. Jahrhundert, vor allem im Anschluss an die Thesen von Hans Baron,61 als „civic humanism“ bezeichnet hat. Damit gemeint ist bekanntlich die Herausbildung eines Konzepts des politisch aktiven Bürgers, das sich auf antike Ideale der Polis und der römischen Republik direkt und funktional beruft. Bürgerliche Tugend und Tätigkeit gehören zusammen. Wielands Auseinandersetzung mit Cicero stellt ein Kapitel dieser langen Geschichte dar. Die ideale Republik ist in diesem Sinne eine, die auf Eigentum, auf Wehrhaftigkeit und auf Tugend ihrer Bürger beruhen soll.62 Eigentum heißt vorwiegend Landbesitz – und Wieland konnte dies auf seinem Landgut in Oßmannstedt63 gut nachvollziehen –, Wehrhaftigkeit meint
(1789–1800). Littérature et politique, libertés et contraintes. In Jürgen Voss (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution. München 1983, S. 249–300. 60 Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt a. M. 1988, S. 215f. 61 Vgl. Hans Baron: In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought. 2 Bde. Princeton 1988. Früher schon: Ders.: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton 1955. Eine Fortsetzung dieser Tradition: John Dunn: Modern Revolutions. An Introduction to the Analysis of a Political Phaenomenon. Cambridge 1989. 62 Vgl. Gerhard Lauer: Das Schöne und die Republik. Politische Klassik in Weimar um 1800. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 24 (2011), S. 236–272. 63 Vgl. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma (Hg.): Wielandgut Oßmannstedt. 2. Auflage. Weimar 2008.
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Selbstverteidigung in Form einer bürgerlichen Miliz, und Tugend bezieht sich direkt auf die römische „virtus“, wie sie eben beispielsweise in Ciceros Briefen präsentiert wird. Sie bezeichnet dort ein „Betragen“, das eine Serie brillanter Qualitäten zutage fördert und die „eifrigste Thätigkeit für die gute Sache“ erfordert.64 Auch hier tritt jene semantische und existentielle Doppeldeutigkeit von Tugend in Erscheinung, die sowohl auf Moralität als auch auf Kraft und Mannhaftigkeit verweist. Sie spornt zur Standhaftigkeit an, gerade in politisch finsteren Zeiten, denn es sei zwar allerdings schwer nicht mißmüthig darüber zu seyn; doch sollen Männer wie wir, in den größten Staatsangelegenheiten zum Handeln und zum Leiden gleich geübt und abgehärtet, uns durch einen Unfall dieser Art nicht zu Boden werfen lassen.65
Eine solche „in unsern Zeiten so seltene Tugend“66 weise außerdem den Weg zu einer Lebensführung, die sich im Zeichen ethischer Vortrefflichkeit entfaltet und in erster Linie als „Cultur zur Selbstbeherrschung“67 versteht: Wenn du, nicht zufrieden durch Vergleichung mit Andern zu gewinnen, nun auch dich selbst zu übertreffen suchest; kurz, wenn die edle Begierde, in allen Stücken mehr als gewöhnliches Lob zu verdienen, dein ganzes Gemüth in Thätigkeit setzen und alle deine Gedanken und Sorgen beschäftigen wird: dann, glaube mir, wird dies Eine mühevolle Jahr […] eine lange Reihe von Jahren aufwägen.68
So verstanden, kämpft die Tugend gegen eine Passivität und Fahrlässigkeit an, die jeden Anspruch auf Eingreifen in die Realität aufgeben möchten.69 Damit wird nicht zuletzt auf die Gleichheit aller freien Bürger (homines liberi) vor dem Ruf der Tugend hingewiesen und somit auf die potentielle Gleichheit vor den politischen Ämtern, die nach Verdienst zu vergeben seien. Einzig die Aktivbürgerschaft garantiere die Freiheit der Republik. Das Bündnis zwischen Tugend und Kraft erweist sich dabei wiederum als das höchste Gut. Ihm zugrunde liegt eine aktive bzw. konstruktive Auffassung der Freiheit, die mit der tatkräftigen, ja selbstlosen Ausübung bürgerlicher Tugend einhergeht. Das Übersetzen versteht sich als eine Erscheinungsform jener Freiheit. Wie Wieland am 20. Dezember 1807 an Gräter schrieb,
64 Cicero’s Sämmtliche Briefe (wie Anm. 18), S. 371. 65 Ebd., S. 339f. 66 Ebd., S. 334. 67 Ebd., S. 355. 68 Ebd., S. 340f. 69 Vgl. Gerhard Liebers: Virtus bei Cicero. [s.i.] 1943, bes. S. 16–29.
Virtus amissa
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Mein guter Genius trieb mich aus der schrecklichen, trostlosen Gegenwart hinaus, und rettete mich in das Classische Land; seitdem lebe und webe ich nun in der letzten Decade des siebenten Jahrhunderts der alten weltbeherrschenden Roma; in einer Zeit, die mit der unsrigen gerade soviel Aehnlichkeit hat, daß sie mir desto interessanter wird; wo aber der Kampf von Collossalischen Menschen mit ihresgleichen einen ganz andern Anblick gewährt, als das Niederstürzen eines Colossus Rhodius auf Liliputer, Frösche und Feldmäuse.70
Kolossal ist für Wieland die moralische Statur eines Menschen, der in Freiheit handelt, also eines Menschen der Republik, eines Menschen, der sein Leben nach dem Prinzip der moralischen Autonomie führt. Die Freiheit ist es, die solchen Menschen ihre mögliche Tugend erlaubt.
70 Ausgewählte Briefe von Christoph Martin Wieland an verschiedene Freunde. Band 4. Zürich 1816, S. 281.
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Viertes Kapitel Endspiele der Tugend
3 Die „Chimären“ der Tugend Über den engen Zusammenhang von Freiheit und Tugend innerhalb eines genuin republikanischen Regierungssystems hatte Wieland einige Jahre zuvor intensiv mit dem Schriftsteller Johann Gottfried Seume diskutiert. Auf Wielands Gut Oßmannstedt kommt Seume am 20. November 1801 zu Besuch, kurz vor dem Beginn seines berühmten Spaziergangs, und ein zweites Mal auf seiner Rückkehr im August 1802.71 Man weiß nicht viel über diese Begegnungen. Später wird sich Wieland sehr positiv über Seumes Theaterstück Miltiades äußern, das 1808 in Leipzig erscheint und in dem der Protagonist als republikanischer Gegenentwurf zu Napoleon vorgestellt wird. „Seit langer Zeit“, so schreibt Wieland an Seume am 10. April 1809, „hat mich weder ein modernes Geistesproduct noch Kunstwerk so ganz in die Zeit des Sophokles u. in das Gefühl der Nähe seines Geistes geführt“.72 Das Trauerspiel als Gattung sei außerdem äußerst geeignet, den Zustand der politischen Gegenwart zu veranschaulichen. Wielands Interesse gilt jedoch in erster Linie einem von Seume auf Latein verfassten Vorwort zu einem „Bändchen Bemerkungen und Konjekturen zu schweren Stellen des Plutarch“.73 In Seumes rabiatem Vorwort erkennt Wieland auf Anhieb die Züge einer „schrecklich schönen Philippika“, die eine erschütternde Darstellung „aller Greuel und Abscheulichkeiten unsrer Zeiten“ und ihres „unendlichen Elends“ biete und „dadurch über die mißhandelte, herabgewürdigte und an einem langsamen physischen und moralischen Martertode verschmachtende Menschheit in apokalyptischen Zornschaalen“ berichte.74 Mit geißelnder Sprachkraft kritisiert Seume den sittlich-politischen Verfall der deutschen Fürsten vor und nach der Auflösung des Reichs. „Eingeschlossen in ihren Palästen und Schlössern“, so Seume, wurden sie von Hofleuten, die oftmals nichtsnutzige und intrigante Menschen waren, umlagert; inzwischen wurde das elende Volk vernachlässigt, geplagt und geschlagen. Tugenden für das Gemeinwesen gibt es nicht, wo es kein Gemeinwesen gibt. Wo das Volk rein zum persönlichen Eigentum und Gegenstande der Erbschaft wird, ist Freiheit, Gerechtigkeit und
71 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Hrsg. und kommentiert von Albert Meier. Orig.-Ausg., 2., überarb. Aufl., vollst. Ausg. nach der 2., verb. Aufl. Braunschweig und Leipzig, 1805. München 1991. 72 Wielands Briefwechsel. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Band 17. Berlin 2003, S. 145. 73 Johann Gottfried Seume: Vorwort zu „Ein Bändchen Bemerkungen und Konjekturen zu zahlreichen schwierigen Stellen des Plutarch“. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Jörg Drews. Band 2. Frankfurt a.M. 1993, S. 348–362. 74 Wielands Briefwechsel (wie Anm. 5), S. 147.
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jede gesunde und rationelle Politik verloren; der Wahnwitz herrscht, die Knechtschaft ist da.75
Die politische Analyse der Missstände in den deutschen Territorien wird von Seume unter Verwendung der revolutionären Kampfworte „Freiheit und Gleichheit“ durchgeführt. Bemüht ist er in erster Linie um begriffliche Schärfe und definitorische Präzision: Diejenigen, welche über die deutsche Freiheit phantasiert haben, wußten nicht, was sie wollten. Die Freiheit ist die Gleichheit der Bürger im Staate, die Gleichberechtigung für Ehrenstellen und zu Lasten zum höchsten Besten des Gemeinwesens. Bei uns ist nichts gleich.76
Das Vorbild einer Aktivbürgerschaft, einer Tugend als „männliche Tüchtigkeit“,77 die mit kritischer Autonomie, gegebenenfalls mit Opposition oder gar Revolte und Aufstand einhergeht, erweist sich wiederum als leitend: „Gute Ordnung“ nennt man oft dasjenige, was für das Wohl und die Sicherheit der Bürger am Schlimmsten ist, „Ruhe und Frieden“ die Geduld und Schlaffheit bis zum Tode. Eine gefährliche Freiheit, sagte daher jener ausgezeichnete Bürger, will ich lieber als eine ruhige Knechtschaft.78
Wieland mussten dabei die Ohren klingen. Er war im Oktober 1808 von Napoleon zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt worden. Napoleon war für ihn der Inbegriff des postrevolutionären „Grand Homme“, ein neuer Herkules, dessen Größe nicht durch Geburt, sondern durch Leistung erworben worden sei.79 Wieland, der die Führung erblichen Adels bekanntlich ablehnte, erblickt in Napoleon die nicht unbedenkliche Verkörperung einer Leistungsfähigkeit, die für sich das Prädikat der Vortrefflichkeit in Anspruch nimmt. Ein „liebenswürdiger Mann von großem hohen Geist“, „von unermüdlicher Thätigkeit, von eben so
75 Seume: Vorwort (wie Anm. 73), S. 351. 76 Ebd., S. 352. 77 Ebd., S. 353. 78 Ebd. 79 Vgl. dazu Michael Gamper: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas. Göttingen 2016, S. 95–97. Wielands Napoleon-Beschreibung „forderte Unvergleichlichkeit und Seltenheit der Fähigkeiten und verlieh der herbeigewünschten Figur damit eine Außerordentlichkeit, die jede Relativierung zurückwies. Und er sprach ihr kraft ihrer exzellenten Eigenschaften auch eine Autorität zu, die ihr spontan die breiteste Zustimmung verschaffte“ (Ebd., S. 96).
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viel Klugheit als Muth, von dem festen Karakter, von reinen Sitten, einfach und prunklos in seiner Lebensart, immer Meister von sich Selbst“.80 Skizziert wird dabei das idealisierte Paradebeispiel einer tugendkräftigen Lebensführung. Den oben erwähnten Brief an Seume schließt Wieland daher mit der Prophezeiung ab, dass „sich kein Verleger noch Drucker ohne offenbare Lebensgefahr entschließen kann, Sie mit dieser Vorrede in die Welt zu fördern“.81 Theoretisch konnte er den republikanischen Standpunkt Seumes gut nachvollziehen und dessen Sozialkritik teilen. Praktisch ließ er jedoch den Appell Seumes fallen. Hoffnung auf praktische Umsetzung republikanischer Ideale im Winter des Jahres 1808 wollte bzw. konnte er nicht mehr hegen. Im täglichen Dialog mit Cicero sucht er daher Ressourcen der imaginierten Standhaftigkeit in der schwierigen Gegenwart. Der Minister Talleyrand, Großkammerherr Napoleons und Fürst von Benevent, berichtet in seinen Mémoires von einem Gespräch zwischen Wieland und Napoleon, das im Oktober 1808 im Weimarer Schloss anlässlich der großen Feier für den Kaiser stattfand. Im Gespräch mit dem „Empereur des Français“ habe Wieland retrospektiv und mit kühlem Blick die Hauptmomente seiner publizistischen Tätigkeit gemustert. Mit seinem glänzenden Französisch sagte der Dichter (nach Talleyrands Bericht): Quant à ce qui me regarde, j’ai voulu donner quelques leçons utiles aux hommes et il m’a fallu l’autorité de l’histoire. J’ai voulu que les exemples que j’en empruntais fussent faciles et agréables à imiter, et pour cela il a fallu y mêler l’idéal et le romanesque.[…] – Mais savezvous, dit l’empereur, ce qui arrive à ceux qui montrent toujours la vertu dans des fictions: c’est qu’ils font croire que les vertus ne sont jamais que des chimères.82
Napoleon traf damit vermutlich ins Schwarze. Für Wieland war der Rest Schweigen, zumindest an dem Abend. Jedoch nicht das Schweigen eines Widerlegten und Besiegten: Ob die Vollendung der Cicero-Übersetzung eine Antwort nicht zuletzt auf Napoleons nüchterne und ernüchternde Diagnose zu verstehen sei, 80 Zit. nach Seibt: Goethe und Napoleon (wie Anm. 2), S. 45. Zum Napoleon-Bild in der deutschen Literatur grundlegend: Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945. Darmstadt 2013. 81 Wielands Briefwechsel (wie Anm. 5), S. 147. 82 Mémoires du Prince de Talleyrand. Publiés avec une préface et des notes par le duc de Broglie. Bd. I. Paris 1891, S. 443. Zit. nach Wielands Briefwechsel. Bd. XVII. Zweiter Teil (wie Anm. 5), S. 338 („Was mich betrifft, wollte ich den Menschen einige nützliche Lektionen erteilen, und dies erforderte die Autorität der Geschichte. Ich wollte, dass die Beispiele, die ich ihr entnommen habe, leicht und angenehm zu imitieren sind, und dafür war es notwendig, das Ideale und das Romanhafte zu mischen. [...] - Aber wissen Sie, sagte der Kaiser, was passiert denen, die in ihren Fiktionen immer die Tugend darstellen: Sie glauben machen, dass die Tugenden nie etwas anderes als Chimären sind.“)
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mag dahingestellt bleiben. Fest steht, dass im Stimmengeflecht der übersetzten Briefe eine Zwischenwelt der Einbildungskraft Kontur gewinnt, die an der historischen Wirklichkeit nur virtuell partizipieren kann. In einer Lebenswelt, in die die alte Bildungswelt nur noch wie ein immer mehr zurücktretendes Randgebirge hineinragte, galt Ciceros Tugend als Modell einer unzeitgemäßen Lebensführung, die bei dem alten Wieland nicht als sinnlose Spielerei verkannt und abgetan werden sollte, sondern als alltägliche Praxis am Schreibtisch verstanden sein wollte.
Eine Aufklärung der Tugend? Schlussbetrachtung In den Debatten über die Wirksamkeit der verschiedenen Darstellungsmodi in der Poesie und den schönen Künsten des 18. Jahrhunderts war man sich europaweit darüber einig, dass die Herausstellung bestimmter Wendepunkte innerhalb einer größeren Entwicklung von Motiven und Handlungen für Präzision und zugleich potentiell unendliches Nachdenken sorgen konnte. „The Artist“, schrieb beispielsweise Shaftesbury in The Judgement of Hercules, „has power to leave still in his Subject the Tracks or Footsteps of its Predecessor; so as to let us behold not only a rising Passion together with a declining one, but, what is more, a strong and determinate Passion, with its contrary already discharg’d and banish’d.”1 Diesen Gedanken griff Lessing bekanntlich auf und sprach im Laokoon von einem „einzigen Augenblick“, der „fruchtbar genug“ sein soll, um „lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden“.2 Aus einem solchen Augenblick werde „das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten“.3 Die vorliegende Arbeit hat aus dem Blickwinkel der Literaturwissenschaft versucht, ein solches Moment in der spätaufklärerischen Geschichte von Tugend in den Blick zu nehmen. Sie hat gezeigt, wie die prägnante Arbeit an der Tugendsemantik um 1800 sowohl mit einem markierten Bezug auf das Vorhergehende (die klassische Antike) als auch mit einer hoffnungsvollen Projektion in die Zukunft (eine Gesellschaft von autonom-freien Individuen) einherging. Diese doppelte Bewegung, gleichzeitig nach hinten und nach vorn, hätten die Zeitgenossen wohl mit dem Terminus ‚revolutio‛ bezeichnet. Über die Ursprünge der Tugend und ihre Verwandtschaft mit der Kraft wollten sie allgemein aufklären, um damit konkret zur Gestaltung eines Tugendideals für die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft beizutragen. Aufklärendes Handeln verstand sich für sie als energische Umsetzung einer tugendhaften Lebensführung. Wie sich gezeigt hat, lassen sich Phänomene einer semantischen Aufklärung der Tugend in den letzten Jahren des Jahrhunderts, nicht zuletzt in direkter Verbindung mit der politischen Revolution in Frankreich, beobachten.
1 [Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury]: A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules, According to Prodicus. O. O. 1713, S. 11. 2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Erster Theil. Berlin 1766, S. 24. 3 Ebd., S. 154. https://doi.org/10.1515/9783110705782-006
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Eine Aufklärung der Tugend? Schlussbetrachtung
Ihren literarischen Aus- und Nachwirkungen in deutschsprachigen Territorien hat diese Studie nachzuspüren und sie in ihrer poetisch-rhetorischen Vielschichtigkeit darzulegen versucht.
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Personenregister Erwähnungen in den Fußnoten werden durch Kursivsetzung angezeigt
Abraham, Bénédicte 32 Abramovici, Jean-Christophe 30 Achenwall, Gottfried 65 Achilles 19 Adam, Wolfgang 94, 99 Adamowsky, Natascha 43 Adamson, Sylvia 85 Adelung, Johann Christoph 4, 24, 25, 28, 29, 31, 34, 35, 82, 116, 125 Agard, Olivier 32 Agazzi, Elena 9, 20, 47, 76, 112, 156 Albertone, Manuela 64 Albrecht, Michael von 36, 45 Alewyn, Richard 134 Alexander, Gavin 85 Alexander VI. Borgia, Papst 111 Alighieri, Dante 41, 42 Alt, Peter-André 112 Althaus, Thomas 120 Amend-Söchting, Anne 15 Arburg, Hans-Georg von 98 Archenholz, Johann Wilhelm von 79, 80, 89, 105 Arendt, Hannah 71, 143 Arens, Arnold 85 Aristipp 155, 159 Aristoteles 3, 6, 31, 41, 116 Armitage, David 57 Asch, Ronald G. 59 Atticus, Titus Pomponius 152 Auburger, Leopold 2 Auerbach, Erich 132 Augustenburg, Friedrich Christian (Friedrich Christian II. Herzog von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg) 32 Augustus, Kaiser 154 Aumann, Erich 2 Baczko, Bronislaw 54, 64 Baeumer, Max 58 Baffetti, Giovanni 98 https://doi.org/10.1515/9783110705782-008
Balbiani, Laura 27 Balmeceda, Catalina 14 Bandiera, Alessandro Maria 149 Barchiesi, Alessandro 36 Baron, Hans 159 Beck, Knut 13 Beneke, Ferdinand 8, 76, 77 Ben Saad, Nizar 71 Bernier, Marc André 150 Berry, Christopher J. 1 Beßlich, Barbara 64, 164 Bethge, Wolfgang 32 Bettini, Maurizio 22, 38, 151 Beutin, Wolfgang 29 Biard, Michel 55, 64, 65 Bingen, Hildegard von 41 Binoche, Bertrand 65, 78 Birtsch, Günter 140 Blum, Carol 59 Blumenberg, Hans 18 Bodei, Remo 2, 63 Bödeker, Hans Erich 140 Böhme, Hartmut 43 Böhme-Kuby, Susanna 73, 75 Boie, Heinrich Christian 48 Boileau, Nicolas 19 Bömer, Franz 37, 41 Böttiger, Karl August 148 Bonaparte, Napoléon 147, 154, 162, 163, 164 Borchmeyer, Dieter 32 Bosco, Umberto 42 Bottiroli, Giovanni 3 Bouloiseau, Marc 53 Brackert, Helmut 32 Brugmann, Karl 14 Brunel, Françoise 55 Bruno, Giordano 42 Buchenau, Stefanie 65 Buchholz, Friedrich 108 Büchner, Georg 6, 128 Bunzel, Wolfgang 120
188
Personenregister
Burgdorf, Wolfgang 150 Burke, Edmund 77 Bussotti, Alviera 1 Butter, Michael 59 Caillois, Roger 65, 158 Calderón de la Barca, Pedro 133, 134, 135 Calzoni, Raul 6, 53, 154, 156 Campe, Joachim Heinrich 4, 23, 24, 29, 125 Cancik, Hubert 14 Canfora, Luciano 60, 63 Cantarutti, Guilia 94, 99, 109 Cantimori, Delio 59 Carondelet, Alexandre-Louis-Benoît Abbé de 15, 16 Cassius, Dion 149 Castiglione, Baldassar 99 Catilina, Lucius 81 Cato, Marcus Porcius 125, 158 Cherel, Albert 71 Cicero, Marcus Tullius 8, 14, 81, 147–160, 164, 165 Cicero, Quintus Tullius (= Bruder des Marcus Tullius Cicero) 153 Collot d’Herbois, Jean-Marie 80 Corradus, Sebastianus 149 Costazza, Alessandro 20 Cotta, Johann Friedrich 108, 155 Cotta, Johann Georg 108 Cramer, Carl Friedrich 23, 24, 25 Cramer, Johann Andreas 135 Curtius, Ernst Robert 105, 133 Cusatelli, Giorgio 9 D’Aprile, Iwan-Michelangelo 108 Dautzenberg, Peter Josef Franz 73, 74 Décultot, Elisabeth 18 Del Bello, Davide 28 Delbrück, Berthold 14 Delogu, Guilia 1, 62 Delon, Michel 7, 18, 22, 26, 32, 35, 56, 71 Denis, Lara 26 Diana (fiktive Person) 38 Di Bartolomeo, Daniele 60 Di Cesare, Donatella 63 Diderot, Denis 42 Dillenius, Friedrich Wilhelm Jonathan 6
Döblin, Alfred 133 Domenech, Jacques 7, 15 Doms, Misia Sophia 46, 135 Dorowin, Hermann 112 Drews, Jörg 162 Duchhardt, Heinz 147 Dunn, John 159 Duval, Michèle 55 Eberhard, Johann August 29 Ebert, Johann Arnold 135 Edelstein, Dan 56, 140 Eibl, Karl 5, 125, 128 Einsiedel, Friedrich Hildebrand von 149 Eisenhut, Werner 14, 27, 41 Elisabeth, Gräfin von Solms-Laubach 153 Engel, Gisela 86 Engel, Manfred 119 Erdmann, Oskar 118 Ernesti, Johann August 149 Ernout, Alfred 14 Ettenhuber, Katrin 85 Fabricius, Franciscus 149 Facciolati, Jacobus 152 Fancelli, Maria 112 Farley-Hills, David 122 Fëdorovna, Marija 93, 94, 108 Fehling, Maria 155 Fehrenbach, Frank 5 Felfe, Robert 5, 43 Fermani, Arianna 29 Ferrari, Cleophea 6 Ferrari, Franco 29 Ferrone, Vincenzo 3, 4, 7, 22, 34, 35, 42, 43, 48, 74, 87, 140, 151, 155 Fest, Johann Samuel 6 Fick, Monika 120 Fink, Gonthier-Louis 158 Fischer, Peter 53 Foi, Maria Carolina 32 Forcellini, Egidio 149, 152 Forster, Georg 8, 75, 76 Fourgous, Denise 60 Franquières, Laurent Aymon de 16 Frick, Werner 5
Personenregister
Friedrich II. (der Große), König von Preußen 154 Friedrich Eugen, Herzog von Württemberg 93 Fuhrmann, Manfred 151 Fulda, Daniel 9, 30, 115, 120 Fülleborn, Ulrich 119 Furet, François 56 Füssel, Stephan 116 Gabbiadini, Guglielmo 6, 30, 46, 53, 93, 129, 135, 154, 155 Gabriel, Gottfried 126 Gamper, Michael 163 Garber, Jörn 103 Garve, Christian 154, 158 Gauchet, Marcel 58, 63, 140 Gedike, Friedrich 30, 130 Geerds, Hans Jürgen 111 Geffroy, Annie 64 Geiger, Rolf 6 Geiss, Immanuel 1 Gentz, Friedrich 8, 77, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89 Gerhardt, Volker 48 Gerlach, Klaus 149 Geßner, Heinrich 148 Gieseke, Nicolaus Dietrich 135 Gigon, Olof 14 Gilli, Marita 76 Gilman, Sander L. 99, 111, 126, 127 Ginzburg, Carlo 68, 71, 86 Giorello, Giulio 2 Girtanner, Christopher 105 Glockner, Hans 147 Goethe, Johann Wolfgang (von) 1, 19, 46, 108, 109, 113, 133, 147, 154, 164 Gon, Elisabetta 64 Göttsche, Dirk 120, 127 Grab, Walter 1 Gräter, Friedrich David 149, 160 Graevius, Johann Georg 149 Gravina, Gian Vincenzo 1 Grell, Chantal 59 Grenberg, Jeanine 26 Gründer, Karlfried 126 Gueniffey, Patrice 140, 142 Gumbrecht, Hans Ulrich 53
189
Günther, Horst 76, 158 Gutjahr, Ortrud 109, 112 Habel, Sabrina 112 Hager, Fritz Peter 24 Halbig, Christoph 2, 31 Hannibal 61, 87 Hansen, Joseph 73 Hardie, Philip 36 Hartmann, Karl-Heinz 94, 126, 127 Hatje, Frank 77 Hay, Gerhard 148, 154 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 111, 147 Heid, Ludger 1 Heinz, Jutta 149 Herder, Caroline von 149 Herder, Johann Gottfried 3 Hering, Christoph 105, 113, 133, 134, 135, 136, 142 Hermanns, Will 73 Herschel, William 96 Herzog, Reinhart 130 Hien, Markus 150, 156, 157 High, Jeffrey L. 32 Hildebrandt, Annika 78 Hill, Peter 2 Höffe, Otfried 2, 31 Hoffmann, E.T.A. (Ernst Theodor Amadeus) 36 Hönig, Anton 2 Horaz (Horatius, Quintus Flaccus) 9, 27, 97, 151, 153, 154 Huber, Ludwig Ferdinand 76 Hübner, Johann 98 Humboldt, Wilhelm von 7, 33, 34, 35, 77, 78, 79 Hunt, Lynn 140 Jacob, Margaret C. 139 Jaeger, Werner 29 Janz, Rolf-Peter 32 Jaucourt, Louis de 16, 64 Jaumann, Herbert 13 Jedan, Dieter 24 Jung, Theo 6, 30, 60 Justi, Johann Gottlob von 65, 66
190
Personenregister
Kant, Immanuel 1, 7, 25, 26, 59, 118, 119 Kerkhecker, Arnd 149, 152 Kern, Bruno 41 Kessler, Helmut 69 Kiesel, Dagmar 6 Kintzler, Catherine 69, 71 Kirke (fiktive Person) 41 Kleist, Heinrich von 1 Klingemann, August 112 Klinger, Friedrich Maximilian 8, 91, 93–144 Klippel, Diethelm 139 Kluge, Gerhard 118 Knebel, Karl Ludwig von 149 Knoop, Ulrich 29 Kohlhaas, Michael (fiktive Person) 120 Kopitzsch, Franklin 77 Kors, Alan Charles 1 Koselleck, Reinhart 57, 130 Košenina, Alexander 103 Kremer, Detlef 120 Kreuzer, Helmut 119, 124 Kronenbitter, Günther 80, 82, 84 Kühlmann, Wilhelm 112 Kuhn, Axel 76 Kuhn, Dorothea 46 Kunz, Andreas 147 Kurbjuhn, Charlotte 78 Landolfi Petrone, Guiseppe 27 Lange, Thomas 113 Lartillot, Françoise 32 Lauer, Gerhard 159 Lausberg, Heinrich 85 Lavater, Johann Caspar 3 La Roche, Marie Sophie von 147 Lefebvre, Georges 59, 62 Leibniz, Gottfried Wilhelm 120 Leigh, Ralph Alexander 16 Leinkauf, Thomas 5, 42, 43 Leitzmann, Albert 33, 79 Learchus (fiktive Person) 159 Leonhard, Karin 5 Leonzio, Elisa 79 Lessing, Gotthold Ephraim 5, 6, 9, 76, 115, 116, 128, 167 Lethen, Helmut 99 Leuwers, Hervé 55, 178
Lewis, Matthew Gregory 112 Liebers, Gerhard 160 Lindner, Johann Gottlieb 44, 171 Linton, Marisa 1, 55 Lio, Eugenio 9 Lipsius, Justus 27 Locke, John 17, 23 Lörke, Tim 113 Ludwig XII., König von Frankreich 117 Lukas, Wolfgang 103 Lucilius 9 Lüsebrink, Hans-Jürgen 57 Luserke, Matthias 106, 133 Lysandra (fiktive Figur) 94 Machiavelli, Niccolò 71, 86, 99 Macintyre, Alasdair 2 Macor, Laura Anna 1, 27, 32, 121 Mähl, Sibylle 42 Mandelkow, Karl Robert 108 Manger, Klaus 159 Mann, Golo 79 Marat, Jean-Paul 68, 71, 143 Marin, Marco 64 Markov, Walter 53, 59 Martens, Wolfgang 46, 99 Martin, Jean-Clément 55, 70 Martus, Steffen 2, 78 Mathiez, Albert 53, 62 Mattson, Philip 77 Maurer, Friedrich 32 Mauser, Wolfram 21, 87, 112 Mazauric, Claude 55 Mazza, Donatella 9 McDonnell, Myles 14 McFee, Peter 81 Meier, Albert 59, 162 Meier, Christian 157 Meiners, Christoph 47 Menke, Christoph 5, 32 Mervaud, Christine 4 Messina, Simone 79 Meyer, Annette 1, 7, 86 Michel, Karl Markus 111 Middleton, Conyers 149 Migliori, Maurizio 29 Miltiades 162
Personenregister
Milton, John 114, 135 Mix, York-Gothart 99 Moldenhauer, Eva 111 Mondot, Jean 99 Mongault, Abbé 149 Montaigne, Michel de 17 Montesquieu, Charles Louis de Secondat 65, 66, 69, 70, 77, 78, 83, 157, 158 Morgenstern, Karl 111 Morosini, Riccardo 42 Mossé, Claude 59 Motschmann, Uta 149 Mout, Nicolette 27 Mühlenhort, Michael 29 Müller, Dominik 98 Müller, Johannes von 148 Müller, Michael 112 Muratori, Ludovico Antonio 63 Musolff, Andreas 74
Perilaos 117, 118 Petrocchi, Giorgio 42 Petrus (Apostel) 31 Phalaris von Agrigent 117, 118 Pfeiffer, Helmut 18 Picasso, Pablo 36 Pieper, Joseph 2, 32, 78 Pindar 30, 33, 130 Pinna, Giovanna 32 Plard, Henri 1, 18, 22 Platania, Marco 65, 78 Platon 29, 58, 151 Plutarch 59, 162 Poeplau, Anna 108 Pontano, Giovanni 5 Pott, Sandra 113 Preußner, Andreas 2 Profitlich, Ulrich 94 Pythagoras 36, 37, 39, 44, 47
Napolitano Valditara, Linda M. 29 Neugebauer-Wölk, Monika 47, 147 Neumann, Hanns-Peter 47 Neumeyer, Harald 113 Neymeyr, Barbara 64, 125 Nicolai, Friedrich 5 Nicolovius, Friedrich 106, 129 Nietzsche, Friedrich 19 Nilges, Yvonne 93 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) 3
Quintilianus, Marcus Fabius 85
Oestreich, Gerhard 27, 139 Ort, Claus-Michael 103 Ossola, Carlo 99 Osterwalder, Fritz 93, 108, 134 Ovid (Publius Ovidius Naso) 7, 35, 36, 37, 38, 40, 41, 42, 43, 44, 46, 47, 49 Ozouf, Mona 56 Palmer, Robert Roswell 55 Panofsky, Erwin 19 Partoens, Gert 14 Pascal, Blaise 70 Paul I., Großfürst, später Zar von Russland 93, 103, 108 Pennacini, Adriano 85
191
Rabener, Gottlieb Wilhelm 135 Radcliffe, Ann 112 Raimondi, Ezio 98 Ramacciotti, Valeria 79 Rang, Martin 13 Rebmann, Georg Friedrich 53, 56, 82 Reemtsma, Jan Philipp 159 Rehlinghaus, Franziska 5 Reichardt, Rolf 57 Riedel, Wolfgang 32, 116 Rieger, Dietmar 15 Rieger, Max 93, 102, 106, 109, 113, 129, 133, 141 Rieks, Rudolf 151 Ritter, Joachim 126 Rizk, Hadi 69, 71 Robespierre, Maximilien de 8, 53, 54, 56–71, 73–75, 77, 79, 80–83, 85–87, 89, 90, 143, 144 Roche, Daniel 7 Rochester, John Wilmot (Earl of Rochester) 114, 122 Rohde, Carsten 112 Roick, Matthias 5 Rosenfeld, Nancy 114
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Personenregister
Roskam, Geert 14 Rousseau, Jean-Jacques 7, 13–24, 26, 46, 59, 67, 68, 71, 73, 100, 118, 126–128, 131, 158 Rüdiger, Horst 155 Rupp, Heinz 2 Saint-Denis, Eugène de 36 Saint-Just, Antoine-Louis de 53, 55, 70, 142, 143 Salumets, Thomas 99, 102, 126, 127 Saviane, Renato 102 Savioli Corbelli, Alexander 4, 15 Schäfer, Eckart 58, 97 Schaub, Mirjam 118 Scheibe, Siegfried 148, 149 Schiller, Friedrich 1, 7, 28, 29, 32, 117, 118 Schings, Hans-Jürgen 1, 6, 20, 28, 56, 70, 71, 75, 81, 113, 116, 128, 133, 136, 148 Schinz, Albert 15 Schippan, Michael 93 Schkommodau, Eleonore 13 Schlegel, August Wilhelm 9 Schlegel, Friedrich 9 Schlosser, Johann Georg 6, 95 Schlüter, Johann Georg Karl 44 Schmidt, Ernst Günther 36 Schmidt, Georg 147 Schmidt, Jochen 64, 125 Schmidt-Dengler, Wendelin 133, 134, 136, 137 Schmitzer, Ulrich 36 Schneider, Helmuth 14 Schoeps, Julius H. 1 Scholz, Susanne 86 Schönert, Jörg 113 Schrader, Hans-Jürgen 98 Schröpfer, Natalicia Johanni 2 Schulte, Michael 94 Schulz, Gerhard 8 Schütt, Rüdiger 23 Schwandt, Silke 42 Schweigard, Jörg 76 Scipio Africanus, Publius Cornelius 61 Sedletzki, Johann Balthasar 43, 44 Segeberg, Harro 93, 109, 126, 127, 133 Seibt, Gustav 147, 164 Senarclens, Vanessa de 18
Seneca, Lucius Annaeus 20 Seume, Johann Gottfried 145, 162, 163, 164 Sfez, Gérald 71 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper (Earl of Shaftesbury) 167 Shelley, Percy Bysshe 112 Siegrist, Christoph 154 Simon, Erika 40 Skinner, Quentin 85 Smith, Ariane 77 Smoljan, Olga 93 Soboul, Albert 53, 55 Solon 59 Sophokles 162 Spalding, Johann Joachim 7, 26, 27 Spector, Céline 65, 69 Spinoza, Baruch de 42 Stadler, Ulrich 98 Stauffacher, Werner 133 Steckfuß, Karl 42 Stekeler-Weithofer, Pirmin 120 Stephan, Inge 1 Stern, Guy 112, 128 Stockhorst, Stefanie 1, 7, 150 Stolleis, Michael 65, 147 Stroh, Friedrich 32 Suchier, Reinhart 36, 44 Süßenberger, Claus 24 Süßmann, Johannes 86 Svandrlik, Rita 112 Syme, Ronald 151, 154 Talleyrand, Charles-Maurice 164 Tarrant, Richard 36 Tasso, Torquato 98 Tatin-Gourier, Jean-Jacques 54 Thetis 19 Thoma, Heinz 15, 20, 54, 103 Thomä, Dieter 15 Thomas, Louis 20 Tieck, Ludwig 20 Titzmann, Michael 103, 112, 137, 138, 141, 142 Treder, Uta 112 Trottmann, Christian 126 Ueding, Gert 8, 93
Personenregister
Van Houdt, Toon 14 Varano, Alfonso 1 Venturi, Franco 64 Vetter, Cesare 64 Villey, Pierre 17 Voegt, Hedwig 53 Volhard, Ewald 127 Vollhardt, Friedrich 6 Voltaire 4 Voss, Jürgen 159 Voß, Johann Heinrich 44 Voßkamp, Wilhelm 13, 130 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 20 Wahnich, Sophie 63 Walcher, Bernhard 46, 135 Walpole, Horace 112 Wankmüller, Rike 46 Wefelmeyer, Fritz 32 Weigand, Kurt 15
Wezel, Johann Karl 112 Whaley, Joachim 147 Wieland, Christoph Martin 8, 27, 145, 147–165 Wieland, Ludwig 153 Winckelmann, Johann Joachim 15 Willer, Stefan 28 Willms, Johannes 54 Wucherpfennig, Wolf 112 Wyneken, Friedrich Alexander 126 Zekl, Hans Günter 3 Zelle, Carsten 19 Zenobi, Luca 113 Zimmermann, Bernhard 64, 125 Zimmermann, Harro 79 Zweig, Stefan 13, 22 Zwierlein, Cornel 86
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