GegenWorte - GegenSpiele: Zu einer neuen Widerstandsästhetik in Literatur und Theater der Gegenwart 9783839440858

This volume outlines a new kind of »aesthetics of resistance«, putting current approaches from literature and the theate

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German Pages 282 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Nelkenistisches Manifest
Adorno Als Ästhetiker Des Widerstands?
Worte Und/Oder Bilder Des Widerstands Bei Peter Weiss
Archiv Als Widerstand Gegen Das Vergessen
Herta Müllers Widerständige Collagen
Literarisches Erzählen In Zeiten Narrativer Kommunikation
Zwischen Den Zeiten
Die Erfindung Der Gegenwart
Das Gedicht Als Akt Des Widerstands
Senilität Und Widerstand
Das Nein, Der Tod Und Die Zeit
Parabelstücke Aus Der ›Postdemokratie‹
Gegenworte Und Gegenspiele
Der Krise Widerstehen?
Literatur als – letzte – Form des Widerstands?
Autorinnen Und Autoren
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GegenWorte - GegenSpiele: Zu einer neuen Widerstandsästhetik in Literatur und Theater der Gegenwart
 9783839440858

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Emmanuel Béhague, Hanna Klessinger, Amelia Valtolina (Hg.) GegenWorte – GegenSpiele

Lettre

Emmanuel Béhague, Hanna Klessinger, Amelia Valtolina (Hg.)

GegenWorte – GegenSpiele Zu einer neuen Widerstandsästhetik in Literatur und Theater der Gegenwart

Dieser Band wurde mit der finanziellen Unterstützung des Dipartimento di Lettere, Filosofia, Comunicazione der Università degli Studi di Bergamo veröffentlicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Valerio Adami, »Intolerance«, Acryl auf Leinwand, 210 x 350 cm, 1974 (Detail), Courtesy by Fondazione Marconi, Mailand Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4085-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4085-8 https://doi.org/10.14361/9783839440858 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort Emmanuel Béhague, Hanna Klessinger, Amelia Valtolina | 7

Nelkenistisches Manifest Susanne Stephan | 13

Adorno als Ästhetiker des Widerstands? Zu einer aktuellen Diskussion in Philosophie und Kulturwissenschaften Hendrikje Schauer | 15

Worte und/oder Bilder des Widerstands bei Peter Weiss Luca Zenobi  | 37

Archiv als Widerstand gegen das Vergessen Walter Kempowskis »Echolot-Projekt« Raul Calzoni | 55

Herta Müllers widerständige Collagen Friederike Reents | 73

Literarisches Erzählen in Zeiten narrativer Kommunikation Literatur contra Storytelling Judith Sarfati Lanter | 95

Zwischen den Zeiten Gegenwar t und Vergangenheit als Vektoren der Gesellschaftskritik in Ulrich Peltzers Romanen Carola Hähnel-Mesnard  | 113

Die Erfindung der Gegenwart Lyrik und Zeit Michael Braun  | 131

Das Gedicht als Akt des Widerstands Versuch zu einer Semantik der Zäsur Amelia Valtolina | 151

Senilität und Widerstand Ein Exkurs über die italienische Lyrik von Umber to Saba bis Giampiero Neri Alessandro Baldacci | 167

Das Nein, der Tod und die Zeit Jelineks widerständiges Schreiben Ulrike Haß | 181

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹ Zur Widerstandspoetik in aktuellen Dramen von Anne Lepper und Ferdinand Schmalz Hanna Klessinger | 199

GegenWorte und GegenSpiele Formen des Widerstands gegen Gewalt in Theaterstücken der spanischen Dramatikerin Juana Escabias Cerstin Bauer-Funke | 219

Der Krise widerstehen? Von der politischen Ohnmacht im und der poetischen Macht des Theaters von Philippe Malone Sylvain Diaz | 245

Literatur als – letzte – Form des Widerstands? Jürgen Wertheimer | 263

Autorinnen und Autoren  | 275

Vorwort Emmanuel Béhague, Hanna Klessinger, Amelia Valtolina Das neue Interesse an einer Ästhetik des Widerstands wird in den aktuellen kulturellen und politischen Debatten zwar konstatiert, doch stehen eine differenzierte theoretische Durchdringung, systematische ästhetische Analyse und historische Einordung des Phänomens noch aus.1 Der vorliegende Band versucht, Beispiele aus Literatur und Theater der Gegenwart mit politischen, philosophischen und ästhetischen Positionen des 20. und 21. Jahrhunderts in einen fruchtbaren Dialog zu bringen. Spätestens mit der Finanzkrise 2007 entstand ein neuer wirtschaftlicher, politischer und sozialer internationaler Kontext, dem auch Kunst und Literatur begegnen und mit dem sie sich auseinandersetzen. Doch so leicht sich die Ratlosigkeit der literatur- und theaterwissenschaftlichen Forschung gegenüber neuen Experimenten in Dichtung und Theater im Rahmen unserer globalisierten Zeit dank der ständigen turns amerikanischer Herkunft überwinden ließ, so dass unter den Benennungen von »post-kolonialer Literatur«, »drittem Ort«, »Mehrsprachigkeit«, contrenarration neue kritische Kategorien sich entwickelten, die einen Zugriff auf die literarischen Werke ermöglichten, so niedrig steht ein vergleichsweise ›traditionelles‹ Konzept wie der »Widerstand« im Kurs. Und dies, obwohl der Begriff wieder verstärkt in den kulturellen Debatten und in der künstlerischen Praxis auftaucht: Künstler partizipieren an Widerstandsbewegungen wie »Occupy«; Schriftsteller und Philosophen lassen sich von den Whistleblowern Edward Snowden und Julian Assange in1 | Einen der raren Ansätze, das Problemfeld einer neuen Widerstandsästhetik zumindest zu eruieren, bietet: Albertazzi, Silvia/Bertoni, Federico/Piga, Emanuela/ Raimondi, Luca/Tinelli,Giacomo (Hg.): The Political Imaginary: Commitment, Resistance, Ideology: Between V.10 (2015): http://ojs.unica.it/index.php/bet​w een/ issue/view/53 (zuletzt aufgerufen am: 1.6.2018).

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spirieren, Künstler-Dissidenten aus China oder Russland treffen auf eine Welle der Solidarität. Wurde »Widerstand« im letzten Jahrhundert noch fast ausschließlich im Sinne einer Revolte gegen Faschismus und Totalitarismus verstanden, so zeigen viele jüngere Publikationen, wie weit sein semantisches Feld inzwischen reicht. Wenn er heute als Kategorie der Geschichtsschreibung über nation-building in den nordafrikanischen Ländern verstanden wird 2 und in den Titeln jüngerer Publikationen verschiedener Art auftaucht (von den Figures of resistance. Essays in feminist theory3 bis zu Resistance in contemporary Middle Eastern Cultures 4), so scheint es von literaturwissenschaftlichem Belang, die Phänomenologie des Widerstandes in literarischen Werken unserer Zeit neu zu hinterfragen Leitfragen dieses interdisziplinären Bandes gelten 1) einer möglichen Renaissance des kritischen Intellektuellen, 2) einer ›Neuaushandlung‹ des Politischen und der politischen Kunst in einer globalisierten Welt im digitalen Zeitalter sowie 3) einer ästhetischen Theorie beziehungsweise spezifischen Poetik der literarischen GegenWorte und theatralen GegenSpiele. Als Auftakt haben wir bewusst einen literarischen Text gewählt: Unserer besonderer Dank gilt der Stuttgarter Lyrikerin Susanne Stephan, die für unseren Band – in expliziter Anknüpfung an verwandte Widerstandspoetiken der Moderne – ein Nelkenistisches Manifest verfasst hat. Das Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Widerstand und seine Wirkungsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert untersuchen die folgenden beiden Beiträge, die zwei intellektuellen Ikonen der Nachkriegszeit gewidmet sind: Hendrikje Schauer sichtet die aktuellen Debatten zum Widerstandspotential von Theodor W. Adornos Ästhetik, während Luca Zenobi Peter Weiss’ Widerstandsästhetik im Lichte neuerer Theoriebildung analysiert. Eine weitere Sektion des Bandes ist einer Ästhetik des Widerstandes in der zeitgenössischen Dichtung gewidmet, denn von Paul Celans »Gegenwort« bis zum Gegenzauber. Gedichte (2008) von Susanne Stephan und den Gegenreden (2015) Uwe Kolbes scheint das poetische 2 | Krais, Jakob: Geschichte als Widerstand: Geschichtsschreibung und nationbuilding in Qa ḏḏāfīs Libyen, Würzburg: Ergon Verlag 2016. 3 | De Lauretis, Teresa: Figures of resistance. Essays in feminist theory, Urbana/ Chicago: University of Illinois Press 2007. 4 | Laachir, Karima/Talajoy, Saeed (Hg.): Resistance in contemporary Middle Eastern Cultures. Literature, Cinema and Music, London/New-York: Routledge 2013.

Vor wor t

Wort das revolutionäre Potential seines Wesens in der Zeit der Posthistorie, nach dem vermeintlichen Tod aller Ideologien, immer noch zu behaupten. Wenn das poetische Wort Widerstand leistet, wenn es an einer unaufhörlichen Dekonstruktion der Sprache der Macht arbeitet, wie Jacques Derrida in seinen Seminaren La bête et le souverain gezeigt hat, ist es jetzt vielleicht an der Zeit, nach allen Wenden und Zäsuren des letzten Jahrhunderts, zu fragen, ob und wie sich heute die Dichtung mit der herrschenden Rhetorik der globalisierten und vernetzten Welt auseinandersetzt. Die Tagung »Dichtung & Widerstand – heute«, die an der Universität Bergamo im Mai 2016 stattfand und sich auf die deutsche zeitgenössische Lyrik fokussierte, hat gezeigt, wie notwendig es ist, dieses Thema aus einer komparatistischen Perspektive zu erörtern, die möglichst viele Positionen der europäischen Gegenwartsliteratur einbeziehen sollte. So haben sich die Autoren des nun vorliegenden Bandes (Alessandro Baldacci, Michael Braun, Friederike Reents, Amelia Valtolina) auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob es möglich ist, in aktuellen Werken der Literatur eine Genealogie des Widerstandes zu erkennen, die an die Theorien und Worte der Väter des Widerstandes im 20. Jahrhundert anknüpft und sie weiter entwickelt. Die Beiträge von Raul Calzoni (zu Walter Kempowski) und Carola Hähnel-Mesnard (zu Ulrich Peltzer) untersuchen das Verhältnis der Gegenwartsprosa zu Zeitgeschichte und geschichtlicher Erinnerung, wobei sie zugleich die Möglichkeiten einer neuen – und traditionsbewussten – politischen Literatur erörtern. Der globale Kontext unserer Zeit und seine Widersprüche bilden auch eine Herausforderung für eine Theaterkunst, deren »Bretter die Welt bedeuten«. Eine weitere Sektion des Bandes prüft daher die kritische Relevanz des Gegenwartsdramas; Untersucht wird, inwiefern dieser globale Kontext das Theater als kritisches Medium provoziert und dabei spezifische Formen und Ansätze eines Widerstands generiert. Auch diese neue Widerstandsästhetik knüpft an spezifische Vorbilder und Traditionen an; tatsächlich entstanden frühere Formen eines kritischen Theaters als Räume des Widerstands gegenüber einem in erster Linie ›national‹ gedachten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext. Für das deutsche dokumentarische Theater der 1960er Jahre etwa bestand der Gestus der Opposition darin, verdrängte Geschichte sowie auch Alternativen zum dominanten politischen Diskurs zum Ausdruck zu bringen. Die Politisierung der Bühne führte in den 1970er Jahren beim kritischen Volksstück

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in Deutschland und beim théâtre du quotidien in Frankreich zur Fokussierung des dramatischen Blicks auf den sozialen Mikrokosmos. Ziel war es, für verdeckte soziale Missstände zu sensibilisieren. Die Rahmenbedingungen, in denen heutige Widerstandsformen durch die Bühne formuliert werden, unterscheiden sich in doppelter Hinsicht von früheren Kontexten. Auf der politisch-inhaltlichen Ebene bilden die thematisierten Phänomene einen globalen Horizont. Auf der ästhetischen Ebene entstehen solche kritischen Haltungen im Kontext einer verstärkten Entgrenzung der Künste. Insbesondere das Aufkommen ›postdramatischer‹ Formen,5 der écritures de plateau 6 oder théâtre performatif 7 seit Ende der 1990er Jahre führen zur einer radikalen Erweiterung des Theater- und Dramenbegriffs sowie zu einer Vervielfältigung der wissenschaftlichen Herangehensweisen, die nicht selten polarisierende, wenn nicht polemische Züge annehmen. Den postdramatischen und performativen Tendenzen steht seit einigen Jahren ein postmodernekritischer »Neuer Realismus« 8 gegenüber, der ein neues politisches Theater in der Nachfolge Brechts begründen will. Es stellt sich somit die Frage, inwiefern Drama, Theater und Performance diesem doppelten Kontext Rechnung tragen: Wie kann ein zeitgenössisches Theater, das laut Katharina Pewny heute einen »ethical Turn« erlebt,9 einen Raum des Widerstands gegen dominierende politische, wirtschaftliche und mediale Diskurse darstellen? Dieser Frage nähern sich die Beiträge der Dramen- und Theatersektion aus unterschiedlichen Richtungen: Cerstin Bauer-Funke analysiert neuere Stücke der spanischen Gegenwartsdramatikerin Juana Escabias, deren radikale, feministische, engagierte GegenDramatik die Tradition des sozialkritischen Dramas fortschreibt. Wie postdramatische Schreibweisen des europäischen Gegenwartstheaters auf die Herausforderungen der globalisierten Welt antworten (vgl. Sylvain Diaz’ Beitrag zu Philippe Malone) und sie bis in (sozial-)psychologische Tiefenschichten verfolgen 5 | Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999. 6 | Tackels, Bruno: Les écritures de plateau. Etat des lieux, Besançon: Les solitaires intempestifs 2015. 7 | Féral, Josette: Théorie et pratique du théâtre: au-delà des limites, Montpellier: L’entretemps éditions 2011. 8 | Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2015. 9 | Pewny, Katharina: Das Theater des Prekären, Bielefeld: transcript Verlag 2011.

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(vgl. Ulrike Haß über Elfriede Jelineks »widerständiges Schreiben«) wird ebenso untersucht wie die kritisch reflektierende Distanz einer jüngeren Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern zu ›modischen‹ Widerstandsdiskursen der Gegenwart (vgl. Hanna Klessingers Beitrag über aktuelle Stücke von Anne Lepper und Ferdinand Schmalz). Wie unser Band mit einer literarischen Stimme eröffnete, so schließt er mit einem essayistischen Ausblick Jürgen Wertheimers und der Frage: »Literatur als – letzte – Form des Widerstands?« Denn nach dem Tod aller Ideologien und damit verbundenen Utopien erweist sich die Literatur nach wie vor als zentrales – womöglich sogar einziges – Forum, wo man unsere Gegenwart befragt, diskutiert und perspektivisch öffnet.

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Nelkenistisches Manifest Susanne Stephan Wir sind nicht die Gefangenen der Gewächshäuser: nicht der griffige Strauß, der schöne Schmuck für die Vase, längst schon ohne Duft. Wir sind nicht der rote Blütenteppich für Panzer und Paraden, nicht die Ansteckblumen, die einmal tausendfach aus der Plastikpresse rollten zur Feier der Staatsmacht. Seht uns Nelken am steinigen Hang, wie wir wachsen: klein und kräftig zwischen den Steinen, am Sonnenplatz, so blühen wir aus Felsspalten, wurzeln am schroffen Berg, harren aus unterm Schnee, schicken unsere Vorposten bis zum Gletscherrand. Hungerblumen sind wir, Hungerkünstler, und wie eingehüllt von Duft, wie umschwirrt von Faltern und Bienen, die den Blütenstaub suchen: unsere geheime Macht, die potenzierende Poesie des Novalis, »der Neuland bestellt«. Seht uns Nelken am kargen Ort! Pioniere sind wir, auf hohen Stengeln wehend im Offenland, am Rand der Straßen, Städte, der fetten Äcker. Wir gedeihen, wo alles brachliegt, noch oder wieder: nach der Rodung, nach der Katastrophe, in den verlassenen Räumen der Zivilisation. Wir befestigen den Flugsand, verwandeln Sand in Land, Dünen in Rasen, Geröll in Wiesen, doch es bleibt ein steiniger Grund, anders blühen wir nicht. Wir brauchen nur wenig Wasser, kein üppiges Begießen, jedes uns meinende, allzugut meinende Zuviel sickert davon. »Von der fetten Erde kommt der Mehltau«, das wusste einer im 18. Jahrhundert, aufgeklärter Forstmann, den man von einem Fürstenhof vertrieben hatte, da er zu unbequem war mit seiner Kritik an der Ausbeutung des Walds. Jetzt zog er, den niemand hören wollte, Nelken aus magerer Erde, die schönsten und seltensten, gesehen von wenigen und beschrieben für viele, für spätere Leser, wenn die Blumen längst verblüht. Seht nur uns Nelken, wie wir bestehen, widerstehen, an den Rändern aus wenig blühen! Zeigt Haltung wie wir, keine Attitüden, im vollen Licht

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Susanne Stephan

der Gegenwart: Das ›Gegen‹ ist nicht die Kunst, die Kunst ist die Blüte am scheinbar öden Ort, die Gegen-Blüte zur schnell getriebenen, blendenden. Gegenwart bedeutet mehr als das Jetzt, es ist ein Gegen darin, ein Abstand zum blinden Fleck des Heute, ein Ab-Stehen, Wider-Stehen, ein Hier, doch scharf gestellt. Bleibt zu-gegen, allem ge-wärtig im wirklichen Licht. Bietet das Gegenwort in der Gegenwart, das Widerwort aus eurem Wurzelwerk, nicht das schnell ausgeworfene, griffige aus der Nährlösung der Ideologien. Seht uns Nelken, wo man von uns erzählt: Wir sind die Götterblume, dios anthos, wir sind Augen, œillets,1 einem Hirten ausgerissen, der die Wege der Diana kreuzte. Als Augen wachen wir an den Hängen des Olymps, wissen alles über die Launen der Götter und ihre Ausflüge in die Menschenwelt. Wir kennen uns aus in den dunklen Klüften, der »Rückseite der Gebirge«, wo, so Ilse Aichinger (Gebirgsrand), die »Jäger« absteigen, die Träume. Eine von uns, die Prachtnelke, steht bei Paul Celan am Wegesrand, als er eine Begegnung mit Theodor W. Adorno imaginiert, ein Gespräch im Gebirg, das für Celan zur Selbstbefragung wird, zu einem Weg, wie in Büchners Lenz, »hier oben, zu mir«. Wir verströmen »helle Atemzüge«, die in Hofmannsthals Märchen der orientalische Kaufmannssohn gegen dunkle Gedanken bei seinen Nelken sucht, doch von uns gibt es keine süße Benebelung, wir laden zu einem Rausch des Denkens: philosophischen Blüten überm harten Stein. In Gewehrläufen, in den Händen der Demonstranten erinnern wir an friedlichen Verlauf. Erinnern an Gräber, die nie einer gewollt haben wird, an Gedenkfeiern und die wahre Ödnis der Reden: Wir hissen die Flagge des Weiterlebens und besseren Wegs. Zertretet uns nicht. Aber geht uns aus der Sonne. Zieht uns nicht aus der Erde: Sonst, irgendwann, liegt ihr begraben unterm Hang. Auf dem wir schon wieder wachsen, aus den kleinen Spalten im Fels. Wir kommen zurück. Wir sind Augen.

1 | Œillet, Äuglein, ist der französische Begriff für Nelken.

Adorno als Ästhetiker des Widerstands? Zu einer aktuellen Diskussion in Philosophie und Kulturwissenschaften Hendrikje Schauer Kann man es zu den Erfolgen der Kritischen Theorie rechnen, wenn Adorno-Experten, die zur »Ästhetik des Widerstands«1 arbeiten, im Sommersemester 2018 an einer Universität der Bundeswehr programmatische Seminare anbieten?2 Oder sollte die Tatsache umgekehrt im Kontext einer Image-Strategie der Bundeswehr-Hochschule gewertet werden? Auf den ersten Blick erscheint es unplausibel, wenn Schlüsselfiguren der 2005 gestarteten Initiative »I Can’t Relax in Deutschland«, die sich auf der Grundlage Kritischer Theorie dem Verhältnis von Popkultur und Nationalismus zuwandten, nun in einem Kontext auftreten, in dem Kritische Theorie als Popkultur in den bildungspolitischen Horizont des deutschen Militärs eingebracht wird. Auf den zweiten Blick muss die Zusammenarbeit nicht wundern, rekonstruierte die historische Forschung doch schon vor zwanzig Jahren den Beitrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung »zum Auf bau der Bundeswehr«.3 1 | Vgl. exemplarisch: http://rogerbehrens.net/zur-aesthetik-des-widerstands/ (zuletzt aufgerufen am: 19.04.2018). 2 | Vgl. beispielsweise: https://web.hsu-hh.de/fak/geiso/fach/pae-bsp/dr-desroger-behrens (zuletzt aufgerufen: 19.04.2018.) 3 | Vgl. Albrecht, Clemens: »Vom Konsens zur Lagerbildung der 60er Jahre: Horkheimers Institutspolitik«, in: Ders. [u.a.]: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M./New York: Campus 1999, S. 132-168, hier S. 145; vgl. auch Platz, Johannes: Die Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Theorie in der frühen Bundesrepublik 1950-1960, [Dissertation] Trier 2012, S. 132-235.URL:http://

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Der vorliegende Beitrag kann den wissenschaftssoziologischen und politischen Aspekt nicht diskutieren, ebensowenig die Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Er nimmt vielmehr aus literaturwissenschaftlich-philosophischer Perspektive den genannten Begriff des »Widerstands« in den Fokus, der im gegebenen Kontext zwei gänzlich divergierende ästhetisch-politische Traditionen, zwei institutionelle Legitimationsstrategien in heikle Nähe bringt: einerseits die konservativ-elitäre, widerständige Vorstellung eines »Geheimen Deutschland« des George-Anhängers Graf von Stauffenberg, wie sie das Programm und den Habitus der Attentäter vom 20. Juli 1944 und damit einen Gründungsmythos der Bundeswehr mitprägte;4 andererseits ein Konzept der Dissidenz und des antifaschistischen Propagandakampfes, wie die marxistischen Intellektuellen nach 1933 es entwarfen und wie es bis ins programmatisch titelnde Spätwerk des Brecht-Schülers Peter Weiss weiterwirkte. George – Brecht, Stauffenberg – Weiss: Die Namenspaare, genealogisch geordnet, rufen divergierende Denk- und Schreibweisen des Widerstands auf. Dass der Widerstandsbegriff, ästhetisch wie politisch, sowohl mit dem Offizier der Wehrmacht wie dem Emigranten verbunden werden kann, deutet an, wie ambivalent das Konzept gerade im deutschsprachigen Bereich ist. Widerstand ist – deutlicher als résistance, resistenza, resistencia – ein heikles, ein ambiges Konzept, mehrfach kodiert: von rechts wie von links, militaristisch wie antimilitaristisch, avantgardistisch, modernistisch wie in Reaktion auf die Moderne und ihre Avantgarden. Widerstand ist weder Angriff noch Verteidigung. In der praktischen Philosophie meint das Konzept ein Sich-Widersetzen gegen eine als illegitim wahrgenommene Herrschafts- oder Machtausübung.5 Es reicht vom ubt.opus.hbznrw.de/volltexte/2012/780/pdf/Die_Praxis_der_kritischen_Theo​ rie.pdf (zuletzt aufgerufen am: 02.02.2018). 4 | Vgl. zum Gründungsmythos der Bundeswehr und der Berufung auf den ›Widerstand‹ der »Bewegung 20. Juli« Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009. 5 | Vgl. Daase, Christopher: »Was ist Widerstand? Zum Wandel von Opposition und Dissidenz«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), H. 27. URL: www. bpb.de/apuz/186866/was-ist-widerstand (zuletzt aufgerufen am: 02.02.2018); vgl. zur Begriffsgeschichte des Widerstandsbegriffs Selk, Veith: »Resisto, ergo sum! Anmerkungen zur Begriffsgeschichte von ›Widerstand‹«, in: Peripherie 33 (2013), H. 129, S. 8-38. Der Zusammenhang von Widerstand und Herrschaft wird

Adorno als Ästhetiker des Widerstands?

passiven Nicht-Mitmachen bis zur aktiven Opposition, von der Gehorsamsverweigerung bis zum Attentat. Widerständig ist das Subjekt, das sich, allein oder in Gruppen, den Herrschenden entgegenstellt. Zu den umstrittenen Fragen gehört die nach der Legalität oder Legitimität des Widerstands. Anders ist die Perspektive in aestheticis, geht es doch dort in erster Instanz darum, dass ein ästhetischer Gegenstand sich qua seiner Verfasstheit einer allzu einfachen Rezeption verweigert, sei es durch Komplexität, Sperrigkeit, Hässlichkeit, Opazität, durch Aufruf zu Engagement, Sabotage, Demontage. Auch hier ist die Spannbreite weit, aber nicht das Subjekt, sondern zunächst der Gegenstand wird als widerständig begriffen. An diesen Differenzen scheinen einige der theoretischen Schwierigkeiten auf, die mit der Rede von einer Ästhetik des Widerstands verbunden sind. Zu den prominenten Theoretikern einer solchen Ästhetik wird, längst vor Peter Weiss, immer wieder Theodor W. Adorno gerechnet: Als solcher firmiert er in Alexander García Düttmanns 2015 erschienenem programmatischen Buch Was weiß Kunst?,6 auf Tagungen, die sich mit ›Ästhetischem Widerstand‹ 7 befassen, ebenso in älteren programmatischen Beiträgen zu Adornos Literaturkonzept.8 Gemeinsam ist diesen Überlegungen, dass sie Adornos Ästhetik und Moralphilosophie auf Widerstän-

gegenwärtig im Forschungsprojekt »Internationale Dissidenz – Herrschaft und Kritik in der globalen Politik« an der Goethe-Universität Frankfurt untersucht. URL: https://dissidenz.net (zuletzt aufgerufen am: 03.02.2018). 6 | Düttmann, Alexander García: Was weiß Kunst? Für eine Ästhetik des Widerstands, Konstanz: Konstanz University Press 2015. 7 | Vgl. den Tagungsband: Bosch, Aida/Pfütze, Hermann (Hg.): Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung, Wiesbaden: Springer 2018. Vgl. darin insbes. das Gespräch zwischen Christoph Menke und Hermann Pfütze: »Ästhetischer Widerstand und die Kraft der Kunst« (ebd., S. 249-265). 8 | »Literatur wird ihm so zur Erscheinungsform einer gedanklichen Reflexion, speziell zur Ästhetik des Widerstands.« »Auch Adorno praktiziert mit seinen Essays eine Ästhetik des Widerstands gegen den Konsum.« Vgl. Jurgensen, Manfred: »Adornos Literaturkonzept«, in: Axel Honneth/Albrecht Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York: de Gruyter 1986, S. 339-352, hier S. 344.

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digkeit verpflichtet sehen9, wenngleich sie deren Richtung, Reichweite, Wirksamkeit und Aktualität unterschiedlich einschätzen. Gilt Adornos Ästhetik und Kunstkritik, die wider das Bestehende die Möglichkeit, die Sehnsucht eines ganz anderen beschwört, den einen als von unbeirrter Radikalität, werfen die anderen ihr naive Sentimentalität vor. Im restaurativen Geist des 19. Jahrhunderts habe Adorno den Rückzug ins kulturell Private zum »›bewußten Widerstand‹«10 umgebogen, argumentiert Clemens Pornschlegel ausgehend von einem der Aphorismen aus den Minima Moralia. Werden die konservativen Flanken und Traditionslinien der literarischen ›Rettungen‹ Adornos, nicht zuletzt die Anleihen bei Stefan George, von Paul Fleming oder Peter Uwe Hohendahl hervorgehoben, dann keineswegs, um aus Adorno einen konservativen Ästhetiker des Widerstands zu machen, aber doch um die Radikalität seiner Ästhetik in Zweifel zu ziehen. Auf beide Argumentationslinien sollen im Folgenden Schlaglichter geworfen werden. 1) Näher zu bestimmen sind dabei die Widerstandsbegriffe, die jeweils angeführt werden. 2) Wird die Frage aufgeworfen, ob, und wenn, welcher Widerstandsbegriff taugt, um Adornos ästhetische Positionen zu profilieren, geht es auch darum, eine Debatte zu erhellen, die in mehr als einer Hinsicht symptomatisch für die aktuelle Diskussion um eine ›neue Ästhetik des Widerstands‹ ist.

9 | Vgl. darüber hinaus: Lindner, Burkhardt: »Kritik und Weiterarbeit. Zu Adornos Theorie der Kunstautonomie«, in: Marcus Quent/Eckardt Lindner (Hg.): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos Ästhetischer Theorie, Wien/ Berlin: Turia & Kant 2014, S. 157-185, hier S. 163: »Unter den Begriffen, in denen Adorno die Produktion des Kunstwerks näher analysiert […] kommt der Kategorie des Widerstands eine zentrale Bedeutung zu.« Vgl. auch: Kuppe, Julian: »Schein der Freiheit. Zum Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Kunst«, in: Alex Körner [u.a.] (Hg.): Der Widerspruch der Kunst. Beiträge zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaftskritik, Berlin: Frank & Timme 2016. S. 13-40, hier S. 18. 10 | Pornschlegel, Clemens: »Constanze«, in: Andreas Bernard/Ulrich Raulff (Hg.): Theodor W. Adorno. Minima Moralia neu gelesen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 99-100, hier S. 99.

Adorno als Ästhetiker des Widerstands?

1. A dornos ›Ä sthe tik des W iderstands ‹ in der D iskussion 1.1 Widerständige Kunst, widerständige Ästhetik? Wer in Adorno einen ›Ästhetiker des Widerstands‹ erkennen will, macht an ihm nicht nur den radikalen Gesellschaftskritiker, den an Hegel und Marx geschulten Diagnostiker der Totalität stark. Die Ästhetik bekäme, wie prominent zuvor in Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, eine genuin moralphilosophische Funktion; sie würde zudem einen Weg aus dem Dilemma der negativen Philosophie und Kulturkritik Adornos weisen. Die Kunst würde mehr sein, als der letzte Hoffnungsschimmer, die berühmte ›Flaschenpost‹, sie würde einen Ausweg aus der Aporie bieten, dass ›Widerstand‹ bei Adorno gleichermaßen geboten wie unmöglich scheint, also just an jenem paradoxen Punkt ansetzen, der zur kommunikationstheoretischen Wende der jüngeren Generation und zur Abkehr von Adornos Totalitätskonzept führte.11 Die Problematik der Rolle der Kunst in einer ›verkehrten Welt‹ soll an drei Beispielen kurz erörtert werden. 1) Eine negativistische Auslegung Adornos, die ihren Fluchtpunkt in der Ästhetik hat, findet sich exemplarisch bei Gerhard Schweppenhäuser, dem Sohn des Schülers und späteren Assistenten Adornos, Hermann Schweppenhäuser, der, so insistierte Gerhard Schweppenhäuser bei der Übergabe des Nachlasses seines Vaters ans Archivzentrum des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, »den Grundintentionen von Horkheimer und Adorno« näher gestanden habe »als die kommunikationstheoretisch reformierte Frankfurter Schule durch Habermas und seine Nachfolger«.12 Schweppenhäusers 2016 neu aufgelegte Rekonstruktion 11 | Vgl. zur philosophischen Einordnung der Schüler-Generation u.a.: Albrecht, Clemens: »Die Erfindung der ›Frankfurter Schule‹ aus dem Geist der Eloge«, in: Ders. [u.a.]: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, S. 21-35; Salzborn, Samuel: »Großer Highway und kleine Trampelpfade. Kritische Theorie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert«, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 2 (2015), H. 1, S. 4-33. 12 | Schweppenhäuser, Gerhard, zitiert nach: »Kritische Theorie: Schweppenhäuser-Nachlass im Archivzentrum der Uni-Bibliothek«. Pressemitteilung vom 19. Januar 2017 des Archivzentrums der Universitätsbibliothek J. Ch. Senckenberg.

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der negativen Moralphilosophie Adornos (Ethik nach Auschwitz, 1993) stellt – unter Rückgriff auf veröffentliche Schriften wie (mittlerweile teilweise veröffentlichtes) Archivmaterial – den Nexus von negativer Moral und Ästhetik her: Nicht mitzumachen oder nicht ganz mitzumachen seien für Adorno Ersatzstücke für den in der ›verwalteten Welt‹ nahezu unmöglich gewordenen Widerstand, der als die eigentliche Substanz des Moralischen firmiere. Die Unfähigkeit zum Widerstand verweise auf das ästhetische Glücksversprechen: Auf das Kapitel »Widerstand, Glück«, das Adornos Vorlesungen zur Moralphilosophie akzentuiert, folgt bei Schweppenhäuser chronologisch wie systematisch das Kapitel »Moralische und ästhetische Erfahrung«, welches das ästhetische Glücksversprechen zum »Statthalter utopischen Glücks« und zum »Repräsentant[en] seiner Möglichkeit im Bestehenden« deklariert. Während die Dialektik des moralischen Widerstands bei Schweppenhäuser facettenreich nachgezeichnet wird, sind die Konturen eines ästhetischen Widerstands nur schwach profiliert: Kunst werde in der Moderne asketisch und negativ, um den Gedanken an das Glück zu bewahren.13 2) Die Stärken und Grenzen einer negativen Ästhetik werden in Josef Früchtls Beitrag zur kritischen Bestandsaufnahme Wozu Adorno? (2008) eingehender erörtert. Früchtl, der 1986 mit einer Arbeit zur Ästhetik Adornos bei Jürgen Habermas promoviert wurde, knüpft sowohl an Adornos Überlegungen zur Ästhetik der Moderne als auch an die radikale Kulturkritik, wie sie die Dialektik der Auf klärung in ihrem Kapitel über die »Kulturindustrie« formulierte, an. Ihn interessiert der bei Adorno nur latente Zusammenhang von moderner Kunst und terroristischer Gewalt. Die Sprengkraft, die Schockelemente, die Lust am Untergang, wie sie die Kunst der Avantgarden kennzeichne, sei nur qualitativ, nicht prinzipiell von den affirmativen Produkten der Kulturindustrie geschieden: durch URL: https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/kritische-theorie-schwe​p pen​ haeuser-nachlass-im-archivzentrum-der-uni-bibliothek (zuletzt aufgerufen am: 25. 01.2018). 13 | Vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Wiesbaden: Springer 2016 (1993), 2., überarb. Aufl., S. 220ff. Einer der Hauptgegner in der Bestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Ethik ist für Schweppenhäuser die ›Postmoderne‹, deren Konzepte er von denen Adornos (unter Berufung auf Fredric Jameson) stark abgegrenzt wissen will. Vgl. ebd., S. 227ff.

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ihre, so Früchtl mit Adorno, mimetische Reflexion auf das ›falsche Ganze‹.14 Den avantgardistischen Gegenpol, wie er programmatisch in Adornos ästhetischer Theorie der Moderne in Anschlag gebracht werde, sieht Früchtl in der Gegenwart aber zur Ohnmacht verurteilt. Heftiger noch als Adorno begreift er die Wirkungen der Massenkonsumgesellschaft und der Unterhaltungsindustrie auf die Kunst. Mit deren Dominanz komme der künstlerischen Avantgarde der Widerpart abhanden, argumentiert Früchtl. Daher sei Kunst, auch in ihrer avantgardistischen Spielart, zum Ausdruck einer Gesellschaft geworden, in deren Gegnerschaft sie einst gestanden habe. Als Rebell, so die traurige Konsequenz bei Früchtl, sei der Künstler ein Revolutionär, der den großen Aufstand nicht mehr wage, Teil einer Mythologie, die der ästhetische Diskurs der Moderne parallel zur bürgerlichen Gesellschaft etabliert habe.15 Wird Adornos Ästhetik von Früchtl, ohne dass dieser Ausdruck fiele, als widerständig begriffen, so haben, folgt man Früchtls Argument, die kapitalistischen und konsumistischen Entwicklungen der Gegenwart ihr den Wind aus den Segeln genommen.16 Dass Adornos ›Ästhetik des Widerstands‹ ihren wahren Zeitkern gehabt haben mag, deuten auch Gregor Schwering und Carsten Zelle an, die in ihrem 2002 erschienenen Band Ästhetische Positionen nach Adorno erkunden: Das Hässliche, so argumentieren sie im Vorwort, das in Adornos Ästhetik zum »Signum des Widerstands« werde, habe angesichts seiner Ubiquität den kritischen Stachel verloren.17 3) Emphatischer und, in der Referenz, zugleich eklektischer argumentiert Alexander García Düttmann, der in Frankfurt beim Adorno- und Horkheimer-Schüler Alfred Schmidt, aber auch bei Jacques Derrida in Paris studiert hat: Als Ästhetiker des Widerstands firmiert Adorno in Was 14 | Vgl. Früchtl, Josef: »Der Künstler als Held der Moderne. Sechs Thesen«, in: Georg Kohler/Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist: Velbrück 2008, S. 103-118, hier S. 114f. 15 | Ebd., S. 116f. 16 | Angesichts der diagnostizierten Dominanz der ›Kulturindustrie‹ als Frage formuliert bei Kuppe: »ob die durch ihre Autonomie bedingte Widerstandskraft der Kunst angesichts der fast vollkommenen Vereinnahmung durch die Kulturindustrie möglicherweise untergegangen« sei: J. Kuppe: »Schein der Freiheit«, S. 36. 17 | Schwering, Gregor/Zelle, Carsten: »Vormerkung«, in: Dies. (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München: Wilhelm Fink 2002, S. 7-13, hier S. 9.

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weiß Kunst? (2015). Adornos Überlegungen zur Kultur will Düttmann eine latent angelegte Pointe entlocken, die stärker noch als bei Adorno selbst in der Kunst den Ort des Widerstands entdeckt. Düttmann liest Adorno freier, weniger schulennah, webt nicht nur poststrukturalistische Theorieangebote, sondern auch die von Adorno so wenig geschätzte Phänomenologie Heideggers mit ein: Adorno, nur einer der theoretischen Gewährsmänner, steht neben Derrida oder Deleuze. Mit ihm will Düttmann, auf die Philosophie des Nichtidentischen rekurrierend, das »Recht auf das Ungleiche« geltend machen, das – mit großen theoretischen Bogen oder Schulterschluss – als die »Unterbrechung des Netzwerks«18 beschrieben wird. An die Stelle der marxistisch grundierten Totalitätsdiagnose tritt bei Düttmann, phänomenologisch, poststrukturalistisch getönt, die universale Vernetzung, die er zu erkennen glaubt, wo das »soziale Netzwerk« an die Stelle der Kultur trete, wo – seine Beispiele werden sehr konkret – »universitäre Fächer zusammengelegt, Akademiker und Verwalter im Namen des kreativen Austauschs in Großraumbüros untergebracht werden«.19 Hieraus leitet Düttmann die »Notwendigkeit einer Gegen-Kultur«20 ab. Drei verschiedene Akzente lassen sich erkennen: Akzentuiert Schweppenhäuser den Zusammenhang von Kritik und Glücksversprechen, so rückt Früchtl die – durchaus ambivalent gefasste – Sprengkraft moderner Kunst sowie deren gegenwärtige Wirkungskraft ins Zentrum. Düttmann dagegen sieht in Adornos Rekurs auf das Nicht-Identische einen Einsatzpunkt für eine gegen die ›verwaltete Welt‹ gerichtete Gegenkultur. Auch die Widerstandsmomente der Kunst und der Ästhetik sind jeweils unterschiedlich lokalisiert: Im Falle Schweppenhäusers, der die Kunst nach Adorno auf klassische, aber unerreichbare Ideale der Humanität verpflichtet sieht, wäre eher von einer Widerständigkeit der Ästhetik als der Kunst zu sprechen: Widerständig wäre Ästhetik, indem sie die Kritik an 18 | Vgl. A.G. Düttmann: Was weiß Kunst?. Dabei stützt er sich auf Adornos Überlegungen zur Kunst nach Auschwitz: Einerseits, so die Schwierigkeit in Düttmanns Deutung, habe der aufklärende Geist von Philosophie und Kunst versagt: Es sei, »der mangelnde oder fehlende Widerstand, das aktive Neinsagen, an dem man die Kultur erkennen« (ebd., S. 35) könne. Andererseits würde dieses Versagen durch die Absage an alle Kultur nur bekräftigt (ebd., S. 30). 19 | Ebd., S. 32. 20 | Ebd., S. 34.

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der Gesellschaft ins Zentrum ihrer Überlegungen zur Kunst rückt. Bei Früchtl und bei Düttmann steht die Widerständigkeit der Kunst selbst im Zentrum der Adorno-Referenzen: Während Früchtl die einstige Brisanz avantgardistischer Kunst in der Konsumgesellschaft als eingeebnet und damit irrelevant einschätzt, sieht Düttmann aus den Gegenkulturen der Kunst Potentiale radikaler Gesellschaftskritik erwachsen.

1.2 Restaurative Ideale, Utopien des kleinen Glücks? Wer hingegen, abgesetzt von solchen Einschätzungen, in Adorno einen bürgerlichen Ästhetiker erkennen will, akzentuiert nicht nur die Vorstellungen von Glück und Versöhnung, die seinen ästhetischen Überlegungen eingeschrieben sind. Adornos Ästhetik würde vielmehr, als Ganze oder in Teilen, auf eskapistische oder idyllische Ideale verpflichtet, die gerade nicht Widerstand, sondern den Rückzug ins Private befördern. Es ginge um mehr als um den Vorwurf der Resignation, der gegen Adorno – gerade im Kontext der Studentenbewegung – immer wieder erhoben wurde und zu dem Adorno sich selbst in einem seiner letzten Vorträge geäußert hat.21 Ob Resignation die angemessene oder unangemessene Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse sei, ist eine Frage der tatsächlichen Analyse. Der Vorwurf des Eskapismus bzw. der Restauration zielt weiter: Die Radikalität, der kritische Anspruch der Kritischen Theorie selbst, würde, ganz oder in Teilen, angezweifelt werden, indem die impliziten, dem Bilder- und Utopieverbot unterliegenden Ideale philosophie- und literaturgeschichtlich eingeordnet werden, der Rückgriff auf konservative Poeten sowie frühromantische und eschatologische Motive herauspräpariert werden. Wird Adorno gegen den Strich gelesen, werden Allianzen und Traditionslinien sichtbar gemacht, die sich nicht ohne weiteres in ein Emanzipations- und Kritik-Narrativ einschreiben lassen.22 21 | Adorno, Theodor W.: »Resignation«, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 794-99 (Gesammelte Schriften 10.2); vgl. dazu Sabrina Habel: »Der Kritiker und die Resignation«, in: Sinn und Form 70 (2018), H. 2, S. 269-271. 22 | Das Kritik-Narrativ selbst ist, was die ›Frankfurter Schule‹ angeht, historisch genauer zu differenzieren. In diesem Zusammenhang interessant wäre es, die hier diskutierten ›restaurativen‹ Traditionslinien gegen die bürgerlich-konservativeren Positionen Horkheimer post-1945 zu stellen.

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Eine »unerträgliche Ähnlichkeit mit den rechtskonservativen Strömungen der Zeit« will Sibylle Tönnies sogar in Adornos Werk erkennen, wenn man von den »antikapitalistischen Tendenzen« absehe.23 1) Gar nicht widerständig klingt es, wenn der Münchner Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel mutmaßt, das Erfolgsgeheimnis des »intellektuelle[n] Bestseller[s] der jungen Bundesrepublik« Adorno sei es gewesen, »mit der weltlosen Zweisamkeit gegen ›bürgerliche Verhältnisse‹ anrennen zu wollen, anstelle bloß garstig politische Freiheiten zu fordern«24. Was Adorno als »bewußten Widerstand«25 begreife, sei nah an dem, worüber Adorno selbst sein kulturkritisches Gift ausbreitet, dem Schlager. Nichts als eine falsche, eine sentimentale Geste vermag Pornschlegel darin erkennen, »schönstes 19. Jahrhundert«.26 Die Ideale, auf welche Adorno sich stütze – Vorstellungen vom Glück im Privaten etwa – so Pornschlegels Kritik, sind falsche Ideale, die einer eskapistischen oder restaurativen Kunst des 19. Jahrhunderts entstammen oder gleichen.27 Keine ›Ästhetik des Widerstands‹, allenfalls eine Ästhetik der Restauration will Pornschlegel Adorno daher in seinem kurzen, durchaus polemischen Beitrag zuerkennen. 2) Philologisch und philosophisch präziser setzen die in Cornell lehrenden Literaturwissenschaftler Paul Fleming und Peter Uwe Hohendahl an, die der Kritischen Theorie Adornos näher stehen als Pornschlegel. Restaurative Züge erkennen sie in Adornos Lyrikverständnis und verweisen diesbezüglich auf den Einfluss Stefan Georges: Während Fleming der Frage nachgeht, warum Adornos leidenschaftlichste lyrische Analysen – anders als mit Blick auf Musik (Schönberg), Prosa (Kafka) und Drama 23 | Tönnies, Sibylle: Die Feier des Konkreten. Linker Salonatavismus, Göttingen: Steidl 1996, S. 8. 24 | C. Pornschlegel: »Constanze«, S. 99. 25 | Vgl. ebd.; vgl. auch: Adorno, Theodor W.: »Constanze«, in: Ders.: Minima Moralia, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997, S. 195 (Gesammelte Schriften, Bd. 4). 26 | C. Pornschlegel: »Constanze«, S. 99. 27 | Den Rekurs auf eine Gegenwelt hat aus ganz anderer Perspektive auch Gernot Böhme im Blick, wenn er Adornos Ästhetik als »letzten Ausläufer der bürgerlichen Ästhetik« beschreibt. Böhme klassifiziert Adornos Rekurs auf das Naturschöne als Entwurf einer solchen Gegenwelt »außerhalb der Stadt, jenseits der Zivilisation und vor aller Technik.« Vgl. Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 22f.

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(Beckett) – mit Eichendorff, George und Borchardt den konservativen und restaurativen Poeten gelten,28 analysiert Hohendahl, wie stark Adornos einflussreiches Urteil über Heinrich Heine der Ästhetik Stefan Georges verpflichtet sei.29 In Adornos durch George mitgeprägtem Ideal reiner oder authentischer Sprache und seinen Thesen zum lyrischen Sprachverfall entdecken Hohendahl und Fleming eine restaurative Geste, zu verpassten Möglichkeiten zurückzugehen. Dabei suche Adorno eben gerade nicht – wie Marx – nach realen Möglichkeiten der Veränderung, sondern lokalisiere, mit George, vergangene Hoffnungen »in a time that never took place«.30 Adornos Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft verbinde ihn, so die Pointe Flemings, eben nicht nur mit der marxistischen Tradition, sondern auch mit den konservativen Poeten. Fast spöttisch attestiert Fleming daher – mit Marx gegen Adorno – eine Bestätigung »of the Marxian paradox that history repeats itself: If George was a tragedy, Adorno’s attempt to recuperate him as an autonomous artist, as the paradigm of the proper relation between lyric and society may be a farce.«31 Problematisieren Pornschlegel, Hohendahl oder Fleming Adornos Rekurs auf utopische Hoffnungen aus philologischer Perspektive, werden literaturgeschichtliche Allianzen oder Traditionslinien markiert, die quer zur marxistischen Linie liegen, ohne dabei den gesellschaftskritischen Impetus aufzugeben. Auf diese Weise wird eine unterschwellige Traditionslinie der Gesellschaftskritik bezeichnet, die eben nicht marxistisch, sondern bürgerlich-konservativ grundiert ist. 3) Aus philosophischer Perspektive wird weniger der Rekurs auf ›verpasste Möglichkeiten‹ literarischer Provenienz als vielmehr die Ausrichtung der Ästhetik auf utopische Möglichkeiten32 kritisch diskutiert. In 28 | Vgl. Fleming, Paul: »The Secret Adorno«, in: Qui Parle 15 (2004), H. 1, S. 97114. 29 | Vgl. Hohendahl, Peter Uwe: »Adorno als Leser Heines [1993; engl.]«, in: Ders.: Heinrich Heine. Europäischer Schriftsteller und Intellektueller, Berlin: Erich Schmidt 2008 (Philologische Studien und Quellen 212), S. 208-221. 30 | P. Fleming: »The Secret Adorno«, S. 107. 31 | Ebd. 32 | Vgl. zu Adornos ambivalenter Position zur Utopie: Rademacher, Claudia: »Vexierbild der Hoffnung. Zur Aporie utopischen Denkens bei Adorno«, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hg.): Utopie und Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 110-135.

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den Blick gerät damit ein eskapistisches Element, das Adornos Kulturkritik – mit Blick auf die kulturindustriellen Produkte – selbst anprangert: Die Flucht vor der Realität in vermeintlich bessere Traumwelten. So sieht Martin Seel, der, vom Habermas-Assistenten Albrecht Wellmer promoviert, grundsätzlich an Adornos Überlegungen anknüpft, einen wunden Punkt in Adornos »Hang zum Positiven«.33 In diesem erkennt er, auf Michael Theunissens Kritik zurückgreifend, das normative Fundament von Adornos Philosophie: Stützt sich die kritische Evaluation der Gegenwart auf eine inhaltlich unbestimmte, daher leere Utopie, »in der alles unausdenkbar anders wäre«,34 wird sie haltlos. Dies sei immer dann der Fall, so Seel, wenn nicht die kritisierte Position, sondern das unvorstellbar Andere in den Vordergrund der Argumentation rücke. Adornos Ästhetik betrifft diese Kritik Seels in besonderer Weise, ist sie doch – durchaus auch in politischer Hinsicht – auf die Antizipation von Möglichkeiten ausgerichtet. Kunstwerke stünden demnach nicht nur für die Möglichkeiten der Welterfahrung, sondern für die Erreichbarkeit einer befreiten Gesellschaft, in welcher die Glück verheißende Kunst überflüssig werde.35 Diese Einschätzung teilt Seel mit Gerhard Schweppenhäuser, der seinerseits die ethische Dimension der Philosophie Adornos herausarbeitet. Anders als Schweppenhäuser diskutiert Seel diesen Aspekt jedoch kritisch: Unter dem Rubrum einer »Kritik der ästhetischen Utopie« analysiert Seel nicht nur den in seinen Augen nicht minder problematischen geschichtsphilosophischen Fortschrittsgedanken der Ästhetik Adornos, sondern führt zudem aus, wie der Möglichkeitssinn der Kunst bei Adorno »entschlossen ins Utopische gewendet«36 werde. Nicht die negative, die anklagende Seite der Ästhetik Adornos, sondern ihr impliziter Maßstab wird damit zum Gegenstand der Kritik. Seine negative Ästhetik hänge an einem nicht hinreichend reflektierten utopischen Punkt.

33 | Seel, Martin: »›Jede wirklich gesättigte Anschauung.‹ Das positive Zentrum der negativen Philosophie Adornos«, in: Ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 20-28, hier S. 22. 34 | Ebd. 35 | Vgl. zum Kritikpunkt der Selbstwidersprüchlichkeit: Seel, Martin: »Das Unmögliche möglich machen. Ein avantgardistischer Begriff der Kunst«, in: Ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, S. 64-76, hier S. 74-76. 36 | Ebd., S. 73.

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4) Eine ähnliche Vermutung äußert auch der politische Philosoph Raymond Geuss, der bereits 1981 mit einer Arbeit über die Idea of a Critical Theory hervortrat. In seiner Essaysammlung Outside Ethics (2005) will er »Adorno’s Gaps« auf die Spur kommen, findet religiöse und romantische Züge in dessen Überlegungen und kommt zu dem Schluss: »It would be a shame if it turned out to be the case that Adorno remained dependent on the tired, diffuse Romantic religiosity from which it was one of the glories of the twentieth century to have freed us.«37 Wie Pornschlegel sucht Geuss die Grundlagen der utopischen Elemente von Adornos Philosophie im 19. Jahrhundert: Als Quelle der utopischen Elemente der Philosophie Adornos identifiziert er religiöse oder kunstreligiöse Vorstellungen der Romantik. Nicht die restaurative Poetik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern die religiöse Schwärmerei der ersten Hälfte rückt er in den Vordergrund. Diesen Argumentationspfad hatte einige Jahre zuvor schon Rüdiger Bubner betreten, der, von Gadamer und Habermas promoviert, 1973 Adornos Nachfolge in Frankfurt angetreten hatte. Bubners grundsätzliche Kritik rückt Adornos Ästhetik, wie später Düttmann, in die Nähe Heideggers, wenn herausgearbeitet wird, dass beider Philosophie auf eine philosophisch-begrifflich nicht hinreichend erfassbare Wirklichkeit abziele.38 Bubner erkennt darin ein prinzipiell problematisches Ästhetisch-Werden der Theorie, deren Telos ›Versöhnung‹ sei.39 Als deren Wurzel identifiziert er einerseits, ähnlich wie Geuss, die frühromantische Tradition, die, ins Negative gewendet, die Versöhnung nur noch »im Modus der Absenz« wachhält.40 Andererseits führt er das »vage umschriebene Ideal einer eschatologischen Versöhnung, in der alle Spannung beseitigt, aller Irrtum vermieden und alle geschichtliche Veränderung zum Stillstand gekommen wäre«,41 auf einen von jüdischer 37 | Geuss, Raymond: »Adorno’s Gaps«, in: Ders.: Outside Ethics, Princeton: Princeton University Press 2005, S. 234-247, hier S. 247. 38 | Bubner, Rüdiger: »Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos«, in: Ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 70-98, hier S. 73f. 39 | Ders.: »Adornos ›Negative Dialektik‹«, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.): Adorno-Konferenz 1983 [1983], 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 35-40, hier S. 36f. 40 | Ebd. 41 | R. Bubner: »Kann Theorie ästhetisch sein?«, S. 70f.

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Tradition inspirierten Begriff des Mythos zurück, wenn er die Ästhetische Theorie mit dem Schlüssel der Dialektik der Auf klärung liest. Für die Negativität der Ästhetik Adornos bleibt in dieser Deutung wenig Raum, gilt sie doch als die bloße Kehrseite eines erkenntnistheoretisch problematischen Ideals.

2. Te x te und K onte x te . A mbivalenzen einer ästhe tischen D ebat te Adorno – widerständig oder restaurativ? Lassen sich die Divergenzen der Deutung auf die jeweilige Textauswahl zurückführen? Auf den Kontext, in welchem die Texte Adornos entstanden sind? Kann an dieser Stelle nicht beabsichtigt sein, Adornos Politik und Ästhetik des Widerstands auf diesem Zeitstrahl einzutragen und mikrologisch zu vermessen,42 so ergibt sich aus diesem Umstand freilich nicht, dass die unterschiedlichen Perspektivierungen von Adornos Widerstandsbegriff nicht aufgrund einer Überprüfung an Werk und Kontext zu evaluieren wären. Dazu gehört auch die Überprüfung der Fragestellung, die zu der bislang skizzierten Lagerbildung führt. Sind die Gegensätze ›widerständig‹-›restaurativ‹ oder ›eskapistisch‹-›utopisch‹ richtig formuliert? Wie bestimmt Adorno moralischen, wie ästhetischen ›Widerstand‹?

2.1 Gegenbegriffe Wenn sich der Ausdruck ›Widerstand‹ in programmatischen Zitaten von der Dialektik der Auf klärung bis zur Ästhetischen Theorie nachweisen lässt, so ist das Konzept doch keineswegs systematisch – oder, vorsichtiger formuliert, vertieft, ausgearbeitet, weder in den moralphilosophischen Schriften und Vorlesungen noch in der Ästhetik. Dieser Tatsache mag auch geschuldet sein, dass das Lemma ›Widerstand‹ in Roger Behrens’ Adorno-ABC fehlt, obwohl Behrens die Frage nach einer Ästhetik des Widerstands immer wieder zum Thema gemacht hat.43 Instruktiv mag es daher sein, Gegenbegriffe in den Blick zu nehmen. 42 | Eine solche mikrologische Vermessung soll das Buch der Verfasserin leisten, das im Adorno-Jahr 2019 erscheinen wird. 43 | Vgl. Behrens, Roger: Adorno-ABC, Leipzig: Reclam 2003.

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Nicht-Mitmachen Als Gegenstück zum Widerstand verhandelt Adorno in moralphilosophischer Hinsicht die Optionen des ›Nicht-Mitmachens‹. Die geschichtsphilosophische Schwierigkeit der versäumten ›Erlösung‹, wie sie für Adorno die notwendige Resurrektion einer scheinbar obsoleten Philosophie und das ambivalente Fortleben der Kunst begründen, behandelt Adorno nicht nur in seinen späten Hauptwerken, der Negativen Dialektik (1966) und der posthum publizierten Ästhetischen Theorie (1970). Mit entsprechenden Überlegungen wendet er sich schon vorher medial an ein breiteres Publikum, in Form von Vorlesungen, Reden, Radio- und ZeitschriftenEssays. ›Nicht mitzumachen‹, ›sich verweigern‹ lautet eine der kritischen Botschaften, die Adorno seit den späten 1950er Jahren gerade auch an eine jüngere Hörer- und Leserschaft richtet. In seinen 1963 gehaltenen Vorlesungen über Probleme der Moralphilosophie erörtert er die Möglichkeiten des Widerstands gegen die ›verwaltete Welt‹. Im »Moment des Widerstands, im Moment des Nicht-Mitmachens«44, heißt es dort, liegen Fluchtpunkte einer angesichts des herrschenden Unwesens unmöglich gewordenen Ethik: Widerstand gegen das »herrschende Unwesen« wird zum – nicht unkomplizierten – Gebot. Denn will man näher fassen, was ›Nicht-Mitmachen‹ meint, trifft man bei Adorno auf die eingangs beschriebene Aporie, dass Widerstand gleichermaßen notwendig wie unmöglich scheint: »Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, daß das richtige Leben heute in der Gestalt des Widerstands gegen die von dem fortgeschrittensten Bewußtsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde.«45 Ähnlich lautet die Formulierung in der – zunächst vor Frankfurter Studentinnen und Studenten gehaltenen, 1959 im Merkur veröffentlichten – Rede Wozu noch Philosophie?, in der sich die Berufung auf den Widerstand an zentraler Stelle findet. Dort scheint dieser auf die eher schwache Formel des geistigen Vorbehalts hinauszulaufen: Wenn alle »Weisheit« zur »Wohlweisheit«46 verkommen 44 | Adorno, Theodor W.: Vorlesungen zur Moralphilosophie (1963), hg. v. Thomas Schröder, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 (Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Bd. 10), 2. Aufl., S. 18. 45 | Ebd., S. 248. 46 | Adorno, Theodor W.: »Wozu noch Philosophie?« [1959], in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, Bd.2 (Gesammelte Schriften, Bd. 10.2), S. 459-473, hier S. 473.

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sei, heißt es, bleibe die Kraft des geistigen »Widerstandes«47 das einzige Maß der Philosophie. Hinter der Aufforderung zur Passivität, zum gedanklichen Vorbehalt oder Rückzug, steht eine gesellschaftskritische Totalitätsanalyse, die Nonkonformismus oder Protest unter Konformitäts-Verdacht stellt. So sehr das Mitmachen oder der Konformismus auch als Anpassung an die falsche Wirklichkeit angeprangert wird,48 so sehr steht der Nonkonformismus im Verdacht, ein kulturindustriell oder von Ressentiment geprägter Affekt zu sein. »Noch dort, wo das Publikum einmal gegen die Vergnügungsindustrie aufmuckt, ist es die konsequent gewordene Widerstandslosigkeit, zu der es jene selbst erzogen hat«,49 hatten Adorno und Horkheimer bereits 1944 in der Dialektik der Auf klärung behauptet. Der Begriff des ›Nicht-Mitmachens‹ in seiner Facettierung zwischen 1941 und 1969 zeigt entsprechend anschaulich, wie es zu den eingangs rekonstruierten Deutungskonflikten kommen konnte: Eine starke Lesart legt nahe, dass Kunst wie auch deren kritisch akzentuierte Theorie den politischen und ökonomischen Mechanismen ihrer Gegenwart, den autoritären Strukturen und der administrierten Barbarei die Gefolgschaft verweigern muss. Eine schwache Lesart hingegen geht davon aus, dass, wenn solche Verweigerung erst einmal selbst die Züge des Mainstreams angenommen hat, der Rückzug auf vorvergangene Überlieferungen und deren Ausdeutung zum eigentlichen Akt des ›Nicht-Mitmachens‹ wird.

Nicht-Mitspielen Das ästhetische Komplement zum moralphilosophischen ›Nicht-Mitmachen‹ ist bemerkenswerter Weise das kontemplative ›Nicht-Mitspielen‹. In seiner posthumen Ästhetischen Theorie (1970) verhandelt Adorno das »kontemplative Verhalten zu den Kunstwerken« als »Widerstand gegen das Mitspielen«.50 Dieser Satz steht in gewisser Spannung zu einem zentralen Satz aus dem »Kulturindustrie«-Kapitel der Dialektik der Aufklärung (1944). »Vergnügtsein heißt Einverstandensein«, liest man dort 47 | Ebd. 48 | Wussow, Philipp von: Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 (Epistemata 434), S. 100-107. 49 | Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 167 (Gesammelte Schriften, Bd. 3). 50 | Ders.: Ästhetische Theorie [1970], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 26 (Gesammelte Schriften, Bd. 7).

Adorno als Ästhetiker des Widerstands?

so knapp wie pointiert. Es sei ohnmächtige Flucht, aber nicht »vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen«51 habe. Der unkritischen Attitüde des Vergnügt-Seins steht die kritische Haltung der Kontemplation gegenüber. Unkritisch wäre das Vergnügt-Sein Adorno zufolge nicht schon, weil es Glücksimpulse mobilisiert, sondern weil diese unreflektiert und indolent auf die Utopie einer besseren Zukunft oder das Gedächtnis an vergangene Träume verwiesen blieben. Dagegen steht, als ›klassischer‹ Begriff der philosophischen Ästhetik, die Kontemplation, das geistige Innehalten gegenüber der Welt. Aufgerufen wird damit, kantisch, die interesselose Betrachtung, die traditionell mit dem Gefühl ästhetischer Lust belegt ist. Der so verstandenen ästhetischen Betrachtung mag, als Unterbrechung der gewohnten Aufmerksamkeitsbahnen, ein Moment kritisch reflektierter Distanz eignen – dahingehend hat Martin Seel die Kontemplation im Rekurs auf Adorno als ethische Kategorie im Sinn einer situativen Aufmerksamkeitsethik aktualisiert.52 Ob sie für die Grundlegung einer ›Ästhetik des Widerstands‹ genügen kann, ist freilich mehr als fraglich. Wo der Kunst im restaurativen Kanon, der Ästhetik im Ästhetizismus der Stachel gezogen wird, tritt an die Stelle des Widerstands, wie die Arbeiten Flemings und Hohendahls zeigen, eine neokonservative Kulturkritik, wie sie gegenwärtig von Simon Strauß vertreten wird, der sich nicht nur auf die rhetorische Grundlinie seines Vaters Botho Strauß, sondern explizit auf die Ästhetik des George-Kreises und die Generation der konservativen Revolution bezieht. Geschärft wird demgegenüber die Bestimmung der ästhetischen Kontemplation als Moment des Widerstands in der Ästhetischen Theorie durch den Rekurs auf das Hässliche. Es wird als »Chiffre des Widerstands« gegen die hässliche Wirklichkeit gehandelt, der es entstamme.53 Das Hässliche tritt an die Stelle des Schönen als des nicht-mehr möglichen Bezugspunkts der Kunst. Auf das Hässliche und damit auf den Widerstand wäre die Ästhetik ab dem Moment verpflichtet, an welchem die Hoffnung auf Verwirklichung des Ideals vergangen ist. Offen bleibt dabei, ob der behauptete Bruch bereits im 19. Jahrhundert anzusetzen wäre 51 | Ders.: Dialektik der Aufklärung, S. 167. 52 | Vgl. Seel, Martin: »Adornos kontemplative Ethik« [2002], in: Ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, S. 29-41. 53 | T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 25f., S. 144.

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– nach Mozart, nach Goethe –, mit dem Aufkommen der Avantgarden um die Jahrhundertwende oder nach Auschwitz. Auch der ästhetische Begriff des ›Nicht-Mitspielens‹ zeigt angesichts solcher Mehrfachreferenzen, wie es zu den skizzierten Schwierigkeiten in der Adorno-Deutung kommen konnte. Spannungsreich gestaltet sich Adornos Bestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Literatur- bzw. Musik- und Kunstgeschichte ebenso die Bestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Noch komplexer wird das Feld, bezieht man auch die zeitgeschichtlichen Kontexte mit ein, rekonstruiert die ästhetischen, moralischen und politischen Debatten, in die Adorno eingreift bzw. die den Hintergrund für sein Denken und Schreiben bilden.

2.2 Ästhetik, Geschichte und Politik Von einer »Geschichtsphilosophie ohne Geschichte«54 spricht Herbert Schnädelbach 2008 in seiner kritischen Revision von Adornos Überlegungen zur Historie. Schnädelbach sieht sich mit einer »bemerkenswerte[n] Gedankenarmut« konfrontiert, betont das »Monotone von Adornos Geschichtsphilosophie«,55 das von den konkreten historischen und gesellschaftlichen Details gerade absieht. Dies ist für diesen Zusammenhang insofern relevant, als die konkreten politischen und geschichtlichen Konstellationen, gegen die Widerstand sich zu richten hätte, bei Adorno allenfalls am Rande vorkommen. So nimmt Adorno in seinen Vorlesungen über Probleme der Moralphilosophie im Zusammenhang mit seinem Konzept des Widerstands kurz Rekurs auf die »Bewegung 20. Juli« und damit auf den Widerstand unter totalitären Bedingungen. Doch die Differenz von Widerstand in der demokratischen Bundesrepublik und dem nationalsozialistischen Deutschland bleibt merkwürdig unterbestimmt.56 54 | Schnädelbach, Herbert: »Adorno und die Geschichte«, in: G. Kohler/S. Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno?, S. 130-154, S. 130. Kritisch dazu: Breitenstein, Peggy H.: »Negative Geschichtsphilosophie nach Adorno«, in: Christian Schmidt (Hg.): Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus 2013, S. 82-105. 55 | Ebd., S. 144. 56 | Zur »Bewegung 20. Juli« äußert Adorno sich knapp in den Vorlesungen zur Moralphilosophie (1963), S. 20. Vgl. dazu, ebenso knapp: G. Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, S. 221.

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Spricht Adorno »über solche Situationen wie die der Männer vom 20. Juli« und wertet er sie als den »Schauplatz der moralischen Dialektik heute«,57 übergeht er die historischen Details, um die grundlegenden Schwierigkeiten gegenwärtiger Moralphilosophie zu betonen. Konkrete Bezugnahmen auf Protest, Opposition oder Widerstand vermisst man in Adornos philosophischen Überlegungen weitestgehend, obwohl das Institut für Sozialforschung nach seiner Rückkehr nach Frankfurt mit einem reeducation-Programm angetreten war, das, wie die jüngere Forschung aus den Archiven rekonstruiert hat, sich mit Studien und Programmen (Bundeswehr, Heimkehrer u.a.) sehr konkret in die Demokratisierungsbemühungen im Nachkriegsdeutschland einbrachte.58 Auch darüber hinaus hat sich Adorno punktuell immer wieder politisch engagiert: So drängte er Max Horkheimer 1950 mehrfach erfolglos zur Publikation einer Stellungnahme »über die gemeinsame Verantwortung«59, die im Kalten Krieg klar Stellung bezog und die Adorno im Merkur gedruckt sehen wollte. Im Anschluss an die repressiven Reaktionen gegen die Unterzeichner des »Manifests der 121«, das für französische Soldaten das Recht auf Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg forderte, unterzeichnet Adorno den von Max Frisch und Alfred Andersch angeregten offenen Brief an André Malraux, der u.a. unter der Überschrift »Gegen die Verfolgung in Frankreich« in der National-Zeitung erschien.60 Adornos im Mai 1968 im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks 57 | Ebd. 58 | Vgl. J. Platz: Die Praxis der kritischen Theorie. 59 | Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, 03. Januar 1950, in: Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Briefwechsel 1950-1969, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 10, S. 15 (Briefwechsel 1927-1969, Bd. 4). 60 | Vgl. Andersch, Alfred/Frisch, Max: Briefwechsel, hg. v. Jan Bürger, Zürich: Diogenes 2014, S. 32-37. Adorno schreibt an Andersch, wie schwer es ihm falle, ein Schriftstück zu unterzeichnen, das auch Dolf Sternberger unterzeichnen solle, dessen Qualifikation zur realen Humanität Adorno mit seiner eigenen zur Teilnahme an Olympischen Spielen vergleicht. Vgl. Adorno an Andersch, 4. November 1960 (Deutsches Literaturarchiv [DLA], A: Andersch). Der Protestbrief stellt ein Parallelunternehmen zu dem von Heinz von Cramer, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Robert Jungk und Hans Werner Richter initiierten offenen Brief dar (vgl. Abmeier, Angela/Bajohr, Hannes: »›Betr: Brief an Minister Malraux‹.

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gehaltene Rede »Gegen die Notstandsgesetze« wurde in Ausschnitten in einer Sendung über die Veranstaltung im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt.61 Nun suggerieren diese Beispiele keineswegs politischen Widerstand, aber sie deuten ein politisches und ästhetisches Engagement an, das in gewisser Spannung zum ›Nicht-Mitmachen‹ oder ›Nicht-Mitspielen‹ steht, in der starken wie in der schwachen Lesart. Von besonderer Relevanz sind die Ereignisse im Krisenjahr 1968, auf das sich im Abstand eines halben Jahrhunderts der Blick in besonderer Weise richtet. In seinem Einleitungsvortrag zum 16. Soziologentag im April 1968 in Frankfurt a.M. »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« spricht Adorno im Zusammenhang mit Protest-Initiativen in der Tat von »Widerstand«: »Erst in jüngster Zeit werden Spuren einer Gegentendenz gerade in verschiedensten Gruppen der Jugend sichtbar: Widerstand gegen blinde Anpassung, Freiheit zu rational gewählten Zielen, Ekel vor der Welt als Schwindel und Vorstellung, Eingedenken der Möglichkeit von Veränderung.«62 Bleibt Adorno in seiner Einschätzung der Gelingenschancen skeptisch, so fällt auf, dass er in seiner Beurteilung auf die strukturelle Seite, nicht auf die konkreten Einsatzpunkte abzielt.63

Alfred Andersch und die Petition an André Malraux«, in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 [2005], S. 94-102.) 61 | Vgl. Adorno, Theodor W.: »Gegen die Notstandsgesetze« [1969], in: Ders.: Vermischte Schriften 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 (Gesammelte Schriften, Bd. 20.1), S. 396-97; die Aufnahme kann im Theodor W. Adorno Archiv angesehen werden. 62 | Vgl. Adorno, Theodor W.: »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« [1968], in: Ders.: Soziologische Schriften 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 354-370, hier S. 368. 63 | Dies zeigt sich auch, wenn er 1967 im Spiegel mit Blick auf die Medienberichterstattung attestiert, was ihm heftige Kritik einbrachte, »die Studenten haben […] ein wenig die Rolle der Juden übernommen« (vgl. »Protest. Haß in der Mitte«, in: Der Spiegel vom 19.06.1967, S. 24-26, hier S. 26). In einem Verteidigungsbrief an Hans Zehmberg geht er selbstverständlich davon aus, dass es um den strukturellen Zusammenhang, »eine […] gewisse […] Art von Massenpsychologie«, nicht um das historisch Detail geht. Vgl. Theodor W. Adorno an Hans Zemberg, 17. Januar 1969, in: Frankfurter Adorno Blätter 6 (2000), S. 91.

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3. K onklusion Man könnte die divergierenden Antworten auf die Frage, ob Adorno ein Ästhetiker des Widerstands sei, aufgrund dieser Erhebungen auf Adornos eigene begriffliche Unschärfe zurückführen. Die generische Kritik an der ›verwalteten Welt‹ lasse divergierende Interpretationen zu, je nachdem, ob die marxistischen, die zivilisationskritischen oder die utopischen Elemente akzentuiert werden. Doch damit würde man es sich zu einfach machen. Weder kann das Adorno-Textkorpus ohne weiteres in einen kunstaffirmativen, bildungsbürgerlich-konservativen Part und einen kunstverweigernden, avantgardenahen Part aufgeteilt werden: Zu komplex sind die Denk- und Überlieferungslinien, die eine solche Grenze kreuzen; noch setzen die divergierenden Deutungen methodisch gleichgerichtet an. Geht es den einen darum, Adornos explizite Argumentation herauszuarbeiten, suchen andere implizite Traditionslinien und unterschwellige Verbindungen aufzudecken. Sicher ist eines: Die divergierenden Deutungen indizieren, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen und das ästhetische Feld zwischen der Dialektik der Auf klärung und der posthumen Ästhetischen Theorie philosophisch, philologisch und historisch präziser zu vermessen. Selbst wenn man den frühen Adorno von der Betrachtung ausnimmt, bleibt mit der Zeit am Pazifik (1941-1953) und in Frankfurt (1949;19531969) ein Untersuchungshorizont von fast dreißig Jahren, dessen semantische Instabilität, die Differenzen zwischen amerikanischem und europäischem Kontext eingeschlossen, an dieser Stelle auch nicht in Ansätzen vermessen werden kann. Festzustellen bleibt, dass der Begriff ›Widerstand‹ in einem Koordinatensystem steht, das sich politisch wie ästhetisch zwischen 1941 und 1969 rasant verändert. An die Stelle antifaschistischer Bündnisse tritt die Komplexität künstlerischer Arbeits- und Wirkungsbedingungen im Kalten Krieg – man denke an die McCarthyJahre 1947-1956, an die Debatten zur Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik 1949-1956, an den Ungarn-Aufstand 1956 oder an die Spiegel-Affäre 1962, an die MoMA-Ausstellung zum Abstrakten Expressionismus 1952 und die documenta II 1959, an Becketts Godot 1952/1953, an die an Sartres ästhetisch-politische Grenzgänge anschließenden Debatten über engagierte Kunst oder auch an die seit 1959/60 in Frankfurt stattfindenden Poetik-Vorlesungen. Man denke auch an den Wandel der Diskussionskul-

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tur in der frühen und mittleren Bundesrepublik,64 zu dem Adorno nicht zuletzt mit Radio- und Podiumsgesprächen beitrug, ebenso an den Wandel der Protestformen, den Adorno mit Einsprüchen und Protestnoten mitprägte, den er in seinen letzten Lebensjahren auch von der anderen Seite leibhaftig zu spüren bekam: von der Besetzung des Instituts für Sozialforschung bis zum sogenannten ›Busenattentat‹.65

64 | Vgl. Verheyen, Nina: Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des ›besseren Arguments‹ in Westdeutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 65 | Vgl. Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946 bis 1995, Hamburg: Rogner & Bernhard 1998, 3 Bände.

Worte und/oder Bilder des Widerstands bei Peter Weiss Luca Zenobi Zugrunde gehen aber müssen wir hellwach.1 Vor dem Hintergrund dieser Dynamiken ergibt sich das Problem, inwiefern sich Ästhetisches beanspruchen lässt, Widerstand so zu signieren, dass er sich gegen Zerstörung und Selbstzerstörung wendet. Man kann nicht davon ausgehen, dass Widerstand, sobald er ästhetisch grundiert ist, schon hinreichend vor Zerstörung und Selbstzerstörung schützt. Pointiert formuliert meint dies, dass zunächst nicht klar ist, ob Ästhetisches, bezogen auf Zerstörung und Selbstzerstörung, als Teil der Lösung oder als Teil des Problems fungiert. Diese Diagnose lässt sich auf Widerständiges übertragen. Auch Widerständiges kulminiert in sehr verschiedenen Dynamiken, die sich von der Konzeption und in der Durchführung stark unterscheiden. […] Diese Reflexionen sollen deutlich machen, dass es unvorsichtig ist davon auszugehen, ästhetischer Widerstand sei wie selbstverständlich in der Lage, sich gegen Zerstörung und Selbstzerstörung zu wenden. Allein diese Annahme erschwert schon eine unbelastete Begegnung mit Ästhetischem und Widerständigem, da ihre jeweiligen Dynamiken eine Ausrichtung erfahren, in der der Wunsch Vater des Gedankens ist. 2 1 | Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, Bd. III, S. 132. Die Trilogie wird im laufenden Text zitiert mit Bandnummer und Seitenzahl in nachgestellten Klammern. 2 | Foos, Peter: »Modi operandi ästhetischen Widerstands. Artikulation und Korrelation«, in: Aida Bosch/Hermann Pfütze (Hg.): Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung, Wiesbaden: Springer 2018, S. 285-296, hier S. 286f. Der Band beschäftigt sich mit dem Thema des ästhetischen Widerstands in einer interdisziplinären Perspektive. Peter Weiss wird natürlich mehrmals als Muster einer ästhetischen Behandlung des Widerstands zitiert, vor allem in Be-

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Die Flüchtigkeit der beiden Felder – Widerstand und Ästhetik –, die in dieser eher philosophischen als strikt literarischen Argumentation hervorgehoben wird, ist in ihrer ganzen Komplexität im Werk von Peter Weiss wiederzufinden. »Bei soviel Leiden, Scheitern und Tod stellt sich die Frage nach deren Integration in eine Ästhetik des Widerstands«, schreibt Ernst Leonardy in Bezug auf den dritten Band von Weiss’ letztem Roman.3 Nicht nur in der Trilogie Die Ästhetik des Widerstands, sondern auch in früheren dramatischen und erzählerischen Arbeiten lässt sich eine sehr dicke Textur erkennen, in der sich die Kunstsphäre in ihren vielfältigen Formen, sowohl als aktive Praxis als auch als passive, erlebte Dimension mit irgendeiner Form von politischer Tätigkeit kreuzt. Wie diese Textur in einer erzählerischen oder dramatischen Arbeit zu organisieren oder zu strukturieren sei, wird von Peter Weiss als grundsätzliche Fragestellung angesehen. zug auf die zahlreichen Beschreibungen malerischer Werke in seiner Trilogie. Foos’ Aufsatz konzentriert sich hingegen auf die Relevanz auf dem Gebiet eines ästhetischen Widerstands, der Denkfigur von Quentin Meillassoux, die der Flüchtigkeit sowohl des Ästhetischen als auch des Widerständigen eine Ausrichtung auf Faktisches verleiht. Meine Untersuchung zielt allerdings nicht auf eine unmittelbare Anwendung eines solchen philosophischen Begriffs auf Weiss’ Literatur. Dennoch finde ich, dass der Ansatz von Foos’ Essay sehr treffend ist, um diffuse Gemeinplätze über dieses Thema zu vermeiden. Zu häufig wurde die ästhetische Dimension des Widerständigen als eine Art von Pharmakon betrachtet, indem man seine pars destruens vernachlässigt hat. Auf die (selbst)zerstörerische Dimension von Peter Weiss’ Ästhetik hat W. G. Sebald in einer Untersuchung über die malerischen und literarischen Werke des Autors hingewiesen: vgl. Sebald, W.G.: »Die Zerknirschung des Herzens – Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss«, in: Orbis Litterarum 41 (1986), S. 265-278. Über eine Dekonstruktion des Bildlichen, die entsteht, wenn die »Funktion des Bildträgers zu einer aktiven Materialität gesteigert wird, dabei aber gleichzeitig eine reine Negativität dieses Materiellen vorhanden ist«, vgl. Simon, Ralf: »Erde und Bild. Zu Peter Weiss, mit einem Seitenblick auf Paul Celan«, in: Peter Weiss Jahrbuch 26 (2017), S. 71-94, hier S. 94. 3 | Leonardy, Ernst: »Das Sterben der Mutter und Heilmanns Abschiedsbrief. Beobachtungen zur Figurengestaltung im Epilogband der Ästhetik des Widerstands«, in: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 111-123, hier S. 111.

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Wenn wir von den zwei Polen der Revolution sprachen, sagte er, so beriefen wir uns auf Erkenntnisse, die wir vor allem auf philosophischem Weg gewonnen hatten. Auch wenn es schien, als würde die künstlerische Revolution an einer anderen Front als der politischen ausgetragen und setze sich nicht für gesellschaftliche Veränderung ein, so war sie, indem sie sich gegen die verbrauchten Konventionen wandte und Normen zertrümmern wollte, die ihre Zwangsmuster seit langem enthüllt hatten, unsrer Revolution doch verwandt. Mit ihrem Kampf um die Befreiung der Formen, der Bewegungen, um die Erneuerung der Sprache, des Sehens, musste sie Einfluss ausüben auf unsere Sinne, unser Suchen nach einem verwandelten Dasein. Die Kunst habe keine Macht über die Realität, sagten die Politiker. Und mit der Realität meinten sie einzig und allein die Realität der Außenwelt. Sie sahen nicht, wie fadenscheinig diese Realität geworden war. (II, 61)

Münzenbergs Erzählung im zweiten Band der Trilogie des Widerstands beschäftigt sich mit der Entstehung der dadaistischen Avantgarde in Zürich. Seinen Bericht kann man als eine Art von synthetischem Nachdenken über die Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit betrachten, in dem die kämpferische, sogar zerstörerische Natur des künstlerischen Prozesses in engen, direkten Bezug zu ihrer schaffenden und kreativen Macht gestellt wird. Die Bedeutung der Kunst als widerständige, menschliche Tätigkeit ist in ihrer Kraft geborgen, andere Formen von Realität als die der Außenwelt hervorzurufen. Um diese Aufgabe zur Vollendung zu bringen, muss sie einen regelrechten Krieg gegen die existierenden Ausdrucksformen führen und einen strengen, radikalen Widerstand gegen diejenigen Autoritäten ausüben, die diese Formen beibehalten wollen. Das besondere Verhältnis zwischen ästhetischen Welten – das Wort ästhetisch in seinem ursprünglichen Sinn gemeint, als etwas, das von der Wahrnehmung durch die Sinne entsteht4 – und Geschichte, oder in einem noch allgemeineren Sinn alltäglicher Wirklichkeit, ist schon im ersten Band der Trilogie als zentrales Thema behandelt: zwischen Realität und Wirklichkeit besteht ein präziser Unterschied, der bei einer Gegen4 | »Zwischen internationalen Zeitungen und Zeitschriften lebend, zwischen Flugblättern, Manifesten, hin und herreisenden Emissären, waren die Erfindungen eines Cravan, Picabia, Duchamp, Arp, Apollinaire in uns eingegangen, niemand konnte sagen, woher wir die Offenheit für solches Experimentieren erlangt hatten, die Erklärung war vielleicht nur wieder, dass unsere Sinne durch alle Erniedrigungen und Züchtigungen geschärft worden waren.« (II, 55, Hervorhebung L.Z.)

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überstellung eines Buches von Neukrantz mit einem von Kafka zu Tage kommt: »Und wenn ich dem Buch vom Schloss die Barrikaden am Wedding entgegenhielt, so stießen wieder die beiden Gegensätze aufeinander, die für mich ausschlaggebend waren, hier die vielschichtige, schwierige, ständig ausweichende Wirklichkeit, dort die Realität, greif bar, klobig, ein kantiger Block.« (I, 180) Ähnlich wie in den ekphrastischen Passagen des Romans gleiten die zwei Ebenen ineinander: »Alles, was bei Kafka Erörterung blieb über das Wesen des Schlosses, war hier vollendete Tatsache.« (I, 181) Der Versuch, eine Art von Synthese dieser beiden Dimensionen durch die eigene sinnliche Widerstandserfahrung zu erreichen, ist zum Scheitern verurteilt: das Wahre in der Kunst sei als »Material […], das durch die eigenen Sinne und Nerven gegangen war« (I, 183), zu definieren. Aber wenn man diese allgemeine Betrachtung auf sich selbst bezieht, um etwas »Zusammenhängende[s]« zu werden und um die eigene »Selbständigkeit durch[zu]setzen«, erreicht man keinen neuen Tatbestand, der die »Kontinuität« eines »erweiterten Blickfelds« gewährleistet. Was bleibt, ist nur »das Brett vor dem funktionslosen Kopf« (I, 183). Die Möglichkeit einer solchen Vollendung ist nur, wie im letzten Teil zu sehen sein wird, in einer ikonographischen Form zu erahnen, die sich unmittelbar an eine bestimmte deutsche figurative Tradition anbindet. Ein weiterer Kampf entsteht dennoch innerhalb dieser spannenden Auseinandersetzung zwischen Kunst und Politik: Sind es Bilder oder Worte, die die Wirklichkeit am besten erzählen können, so dass von dem Dargestellten/Erzählten die reale Dynamik der Geschichte ans Tageslicht kommt?5 Und zweitens: Wie verhält sich der Künstler, wenn diese Dynamik so grauenhaft ist, dass sie an der Grenze der Sagbarkeit/Darstellbarkeit steht? Diese beiden ungeheuren ästhetischen Fragen, für Weiss auch existentielle und politische Fragen, waren zeitlebens Gegenstand seines literarischen Schaffens, gegen die er, auf der Suche nach einer idealen 5 | Auch zum Thema der politischen Bedeutung der Bildbeschreibungen in Weiss’ Romanen hat die Forschung häufig gegensätzliche Positionen eingenommen. Vgl. etwa Mayer, Ingo: »Ekphrasis als Medium von Bildlichkeit. Gryphius – Heine – Peter Weiss«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft LXI (2017), S. 111-141. Meyer schreibt in Bezug auf die Trilogie: »In der zunächst sehr zögerlichen, weitgehend ablehnenden Rezeption wollte mancher für die Brillanz der Kunstbeschreibungen den gesamten politischen Diskurs drangeben, hier geht es nur um die Macht des Bildes als Macht der Sprache.« Ebd., S. 136.

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Ausdrucksform, nicht nur geistig, sondern auch körperlich kämpfte. Widerstand ist also als Gegenstand seiner Literatur zu verstehen, denn er wird als historisches Phänomen zum Gegenstand seiner literarischen Werke;6 als eine Form von Widerstand ist aber auch seine Literatur zu interpretieren, indem sie eine Welt erzählen will, deren harte Oberfläche – die Normen, die unsere Sprache und unser Sehen bestimmen – durchbohrt werden muss. Diese Art von Engagement verlangt eine regelrechte körperliche Bemühung.7 Die zwei grundlegenden Ebenen dieser künstlerischen Perspektive sind eng miteinander verbunden, wie die oben zitierte Analyse von Münzenberg hervorhebt. In diesem Sinn ist diese Art von Widerstandsliteratur eher eine klassische als eine postmoderne, da die ästhetische Dimension des Kampfes nur als Ersatz und Vollendung der – katastrophalen – politischen Tat ihre eigene Funktion finden möchte (ob sie in einer solchen Perspektive diese Dimension wirklich findet, bleibt indes eine offene Frage). In einem anderen Sinn aber, und zwar in der Überlagerung verschiedener Stimmen, in der Mehrdeutigkeit der Perspektiven, die in keine endgültige Synthese zusammenfließen (es gibt z.B. in der polyphonischen Struktur der Trilogie keinen Charakter, dessen Stimme als Sprachrohr des Autors betrachtet werden kann), in ihrer multimedialen Poetik ist Peter Weiss’ Literatur einer modernen realistischen Poetik näher. Trotz der grundsätzlichen Kontinuität in seiner Ästhetik

6 | Hier ist nicht nur der Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder gegen Stalin gemeint, der in Weiss’ Trilogie erzählt wird, sondern auch, in einem allgemeineren Sinn, ein jeder Kampf gegen Diktatur oder absolutistische Macht (z.B. die Französische Revolution oder der Krieg in Vietnam). 7 | »Berücksichtigt man die Bedeutungsvielfalt des Begriffs ›Widerstand‹, ist eine entsprechende Lesart bereits im Romantitel angelegt: Unter ›Widerstand‹ lässt sich die körperliche Immunabwehr verstehen oder aber die psychische Abwehr von unerträglichem Wissen sowie von allem, was die Ordnung bedroht. […] Wenn Körper sich aufbäumen, handelt es sich um eine andere Form von Protest, eine ganz andere Sprache, die sich quer zu den Kategorien und semantischen Bezügen des im herkömmlichen Sinne politischen Diskurs verhält.« Willner, Jenny: »Lenins Gürtelrose. Zur Überlieferung von Körperwissen in und um Peter Weiss’ ›Ästhetik des Widerstands«, in: Sarah Mohi-von Känel/Christoph Steier (Hg.): Nachkriegskörper. Prekäre Korporealitäten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 175-187, hier S. 176.

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und in seiner literarischen Praxis8 lässt sich eine spezifische Entwicklung in Bezug auf bestimmte Erzähltechniken ausmachen. Gerade Der Schatten des Körpers des Kutschers, 1960 erschienen, ist aus dem Versuch entstanden, Bilder, Geräusche, Gerüche durch einen komplexen, verbalen, schriftlichen Prozess darzustellen. »Mit dem Bleistift die Geschehnisse vor meinen Augen nachzeichnend, um damit dem Gesehenen eine Kontur zu geben, und das Gesehene zu verdeutlichen, also das Sehen zu einer Beschäftigung machend, sitze ich neben dem Schuppen auf dem Holzstoß […].«9 Auch in diesem Fall, wie später in seinen dramatischen Arbeiten, gewährt die Schachtelstruktur dem Erzähler eine metaliterarische, von dem zeitlichen sowie von dem erzählerischen Blickpunkt distanzierte, Perspektive: »Den auf diese Nacht folgenden Tag verbrachte ich, bis zum Einsetzen der Dämmerung, mit der Beschreibung des eben zuende beschriebenen Abends.«10 Ein Erzähler berichtet, was er in seinem Notizbuch die vorigen Tage festgehalten hat. Die von Weiss selber zusammengestellten Collagen, die die Erzählung ›illustrieren‹, führen im Roman eine zusätzliche Ebene ein, die die schriftliche Beschreibung der Wahrnehmung einer zerstückelten und täuschenden Wirklichkeit bekräftigt. Arnd Beise hat diese eigentümliche Kontamination durch eine sehr treffende Anmerkung erhellt: »Für Peter Weiss bedeuten die Collagen von Bildzitaten keine vorausgeahnte postmoderne Abkehr von einem unmittelbaren Realitätsbezug, sondern die der Moderne adäquate Tech8 | »Im Falle von Weiss hatte seine Schriftstellervita, die Wahl seiner Ausdrucksmittel, seiner literarischen Projekte z.B. viel zu tun mit dem auch zufälligen Moment, dass er mit Der Schatten des Körpers des Kutschers endlich Gehör fand und vier Jahre später mit dem Marat/Sade-Stück zu Weltruhm als Dramatiker kam. Aber bei aller Skepsis gegenüber den teleologischen Versuchungen des Literaturwissenschaftlers ist doch die Kontinuität der Fragestellungen und die Kontinuität der Poetik unübersehbar, die es zwischen dem frühen Prosawerk und der monumentalen Ästhetik des Widerstands gibt.« Götze, Karl Heinz: Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands. Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 196. 9 | Weiss, Peter: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 48. Nach R. Simons Interpretation (vgl. Ders.: »Erde und Bild« S. 81), lässt sich Weiss’ erster Roman als »Drehbuch für einen surrealistischen Film ebenso lesen wie als ekphrasis der die Erstausgabe begleitenden Collagen«. 10 | Ebd., S. 87.

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nik der Bildfindung eines durch technische Reproduzierbarkeit erweiterten Erfahrungsbezugs.«11 Das ist besonders evident in den sogenannten Salzkörner-Episoden, wo der Ich-Erzähler seine Tätigkeit beschreibt: »Die Aufgabe der Salzkörner ist es, meine Tränendrüsen zu reizen, und damit meinen Blick verschwommen zu machen; […] so stößt sich mein Blick doch noch an diesen Begrenzungen und festen Formen; mit den Tränen löse ich sie auf.«12 Das Erdenken von Bildern durch eine Manipulation des Körpers ist nicht anders als eine Erweiterung der Sinneswahrnehmung zu verstehen, ein Lysergerlebnis, desjenigen sehr ähnlich, das die romantischen oder die französischen Symbolisten durch Alkohol und Drogen erzielten. Eine Flucht aus einer erstickenden, stinkenden, dunklen Realität ist der Zweck dieser Tätigkeit. Die Flucht manifestiert sich nicht nur in der Produktion einer Bilderwelt, vielmehr mündet sie in ein totales Eintauchen des Erzählers in die erdachte Welt: »[…] streute mir ein Paar Salzkörner in die Augen und sah, nach einem kurzen verschwommenen Stadium, ein Bild vor mir, oder besser, ich glitt in das Bild hinein«.13 Die Reise innerhalb dieser Halluzination wird mit einem Verfahren, das an die Technik Dantes erinnert, von eben diesem Erzähler beschrieben, der in die Vision hineingleitet. Luisa Banki hat in einer sehr detaillierten und kühnen Analyse Weiss’ Erzählung als typisches Produkt einer Krise, die die Nachkriegsliteratur kennzeichnet, beschrieben: Im Schatten des Körpers des Kutschers »[…] herrscht eine fundamentale ontologische Unsicherheit […]. Nach Zweitem Weltkrieg und Shoah geht es der Art Literatur, zu der Weiss’ Schreiben zu rechnen ist, gerade nicht um die Festschreibung von Bildern, die erklären können, wie es wirklich ist, sondern um das Offenhalten der Unsicherheit darüber und, fundamentaler noch, um das Offenhalten der Leerstelle, die unweigerlich und notwendig in der Wirklichkeit aufscheint.«14 In dieser Phase, ohne eine direkte Beziehung zu den schrecklichen Kriegsereignissen, setzt sich Weiss mit dem für die Nachkriegszeit grundlegenden Problem der Funktion der Literatur als nicht nur beschreibende, sondern auch sinnstiftende Praxis auseinander. 11 | Beise, Arnd: Peter Weiss, Stuttgart: Reclam 2002, S. 42. 12 | P. Weiss: Der Schatten, S. 18. 13 | Ebd., S. 56. 14 | Banki, Luisa: »Widerständige Schatten. Körperlichkeiten in Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers«, in: S. Mohi-von Känel/Ch. Steier (Hg.): Nachkriegskörper, S. 189-200, hier S. 198.

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Die Wort-Bild-Beziehung, die sich durch eine Surrealisierung und Pluralisierung des Dargestellten verwirklicht,15 und die schachtelhafte Struktur, die Distanz zum Erzählten gewährleistet, sind schon als Kern der erzählerischen Struktur (sie werden aber als Grundlage seines Theaters wiederzufinden sein) zu erkennen, aber in den 1950er und 1960er Jahren hat Peter Weiss seine definitive Entfernung von der Bilderwelt noch nicht vollbracht. In seinem Mikro-Roman braucht er noch die Hilfe der Collagen, damit die gesamte Potentialität der erzählerischen Tätigkeit ausgedrückt werden kann.16 Ferner lässt die lange Beschäftigung aus einem nicht nur praktischen, sondern vielmehr auch theoretischen Gesichtspunkt, mit dem Verhältnis zwischen Wort und Bild – man denke nur an die beiden Essays Avantgarde Film und Laokoon oder die Grenzen der Sprache – Peter Weiss einen Bildbegriff entwerfen, der nicht als statisches Element, sondern vielmehr als »Modell eines ästhetischen Prozesses« zu deuten ist.17 Aus der Malerei, besonders aus Boschs und Brueghels Bildern, aus der langen und intensiven Beschäftigung mit Dantes Commedia sowie aus der erzählerischen Struktur der Romane von Marquis de Sade überträgt Weiss – zunächst auf das Theater und dann auf seine Romane – eine besondere Technik: »[K]alter Blick« und »Anästhesie« werden zwei wichtige Elemente seiner Erzähltechnik, wie Anja Schnabel und Steffen Groscurth aus unterschiedlichen Perspektiven in ihren vor kurzem er-

15 | Ebd., S. 191. 16 | Betrachtet man die Entwicklung von Marat/Sade in den verschiedenen Fassungen etwa in Bezug auf Sades berühmte Erzählung über Damiens Tod, wird dieser Aspekt, diese allmähliche Entfernung von einer direkten Anwendung der Bilder als grundlegende Teile der Darstellung, noch auffälliger: eine Gegenüberstellung der zweiten und der dritten Fassung zeigt den Übergang von einer bildlichen Darstellung durch Projektionen, zum Beispiel von Brueghels’ Totentanz, zu einer Pantomime, in der De Sades Erzählung durch eine Performance auf die Bühne übertragen wird, und zwar einer Erzähltechnik folgend, die in den Romanen des französischen Schriftstellers häufig zu finden ist. 17 | Muller-Richter, Klaus: »Bilderwelten und Wortwelten: Gegensatz oder Komplement? Peter Weiss’ Konzept der Bildlichkeit als Modell dynamischer Aisthesis«, in: Peter Weiss Jahrbuch 6 (1997), S. 116-136, hier S. 125.

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schienenen Studien erörtert haben.18 In dieser Entwicklung verschwindet allmählich das Bild als konkretes Ausdrucksmittel, es wird aber eine immer massivere Präsenz von Bildern angestrebt, die durch spezifische Verfahren in die Erzählung integriert werden. Eine besondre und seltne Konstitution gehöre dazu, in allen Vorgängen die letzten Folgen zu erkennen, ungeheuer gefährdet seien Menschen, denen dies gegeben sei, denn sie könnten sich, obgleich sie weiter als und tiefer schauten als wir, in unsrer Welt nicht mehr behaupten. Für diese Menschen gebe es nur zwei Möglichkeiten, entweder den immer hermetischer werdenden Rückzug in ihre Halluzinationen, in denen die Vereinsamung ihnen allmählich den Sinn für das Zusammensein mit an dem Menschen raube, oder den Weg in die Kunst. Dieser Weg aber sei nur so lange offen, als Bereitschaft bestehe, sich an die äußre Welt zu wenden. (III, 132)

Auf den letzten Seiten des dritten Teils der Ästhetik des Widerstands steht diese Überlegung, die Hodann, einer der Charaktere des Romans, in Bezug auf ein problematisches Verhältnis mit der Wirklichkeit herausstellt, das sowohl die Schriftstellerin Karin Boye als auch die Mutter des Ich-Erzählers kennzeichnet. Hodanns Reflexion mündet in eine lange Ekphrasis: Die Beschreibung von Dürers Melancholia I wirkt auf verschiedenen Niveaus in diesem Teil des Romans. Auf der Ebene der Charaktere des Romans wird eine Parallele zwischen der Mutter und Dürers Engel aufgebaut, wodurch der pathologische Zustand der Frau erklärt und festgelegt wird.19 Auf einer weiteren Ebene verwandelt sich die Darstellung und die 18 | Groscurth, Steffen: Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik. Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, hat die Ästhetik Peter Weiss’ im Sinne einer kunstsprachlichen Ästhetisierung des Historischen interpretiert, die als Ausgangspunkt einer kritischen Annäherung an die geschichtliche Krise zu verstehen ist. Die Untersuchung nimmt vor allem die Trilogie und Fluchtpunkt in Betracht und analysiert im ersten Kapitel das Verfahren der Anästhesie. Anja Schnabel liest Weiss’ Werk in einer eher kunsthistorischen Perspektive, vgl. Dies.: Nicht ein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke. Todesvorstellungen und Todesdarstellungen in Peter Weiss’ Bildern und Schriften, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2010. Über Retardierung, kalter Blick und Anästhesie vgl. vor allem die letzte Sektion ihrer Studie. 19 | Auch in den Aufsätzen, die sich spezifisch mit dem Charakter der Mutter beschäftigen, hat die Forschung dieser besonderen Ekphrasis keine Aufmerksamkeit

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Analyse des Stiches, wie die zitierte Passage zeigt, in einige ästhetische Überlegungen über die Bedeutung und die Funktion der Kunst für das menschliche Dasein. Die Notwendigkeit einer Gegenüberstellung der erlebten Kondition mit einem Bild aus der kunstgeschichtlichen deutschen Tradition wird motiviert als »Suche nach Bestätigung durch Überliefertes« (III, 132). In diesem Sinn ist diese Geste, ein Buch aufzuschlagen, auch ein Mechanismus, dessen Wirkung auf eine Rekonstruktion bestimmter Prozesse zielt, die im Gedächtnis herauskristallisiert sind. Die Auflösung der Distanz zwischen der im Bild dargestellten Wirklichkeit und der erlebten/erzählten Realität ist das Ergebnis einer solchen Operation.20 In den beschriebenen Bildern, in einer eigentümlichen Verschmelzung der dargestellten mit den erzählten und zum großen Teil historischen Fakten, findet der Erinnerungsprozess seine vollkommenste Ausführung. Obwohl die Beschreibung von Werken der Malerei in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Weiss-Forschung häufig und ausführlich behandelt wurde, hat bisher niemand eine detaillierte Analyse dieser Ekphrasis der Melancholia 1 gewidmet. Dies ist meiner Ansicht nach eine gravierende Lücke, vor allem aus zwei Gründen. Zunächst wird Dürers Stich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein zentraler Bezugspunkt einiger literarischer und geschichtsphilosophischer Werke. Walter Benjamins Studie zum Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928 erschienen, konzentriert sich im letzten Teil auf Melancholia I, auf deren Verhältnis zu Saturn, das dem Engel eine divinatorische Kraft gewährt, und auf deren Bedeutung für die Kulturgeschichte des Barocks. Wichtig ist gemäß meiner Sichtweise, dass Benjamin in seiner Untersuchung eine enge Beziehung zwischen Melancholie und politischer Sphäre erkannt

gewidmet. Vgl. z.B. Poore, Carol: »Mother Earth, Melancholia, and Mnemosyne: Women in Peter Weiss’s Die Ästhetik des Widerstands«, in: The German Quarterly 58.1 (Winter 1985), S. 68-86. Mit einem auf der Freudschen Deutung der Melancholie basierenden psychoanalytischen Ansatz hat Karen Hvidtfeldt Madsen diese Stelle des Romans interpretiert; vgl. Dies.: Widerstand als Ästhetik. Peter Weiss und Die Ästhetik des Widerstands, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2003, insbes. S. 162-164. 20 | J. Willner (»Lenins Gürtelrose«, in: S. Mohi von Känel/Ch. Steier [Hg.]: Nachkriegskörper, S. 180-182), hat dieses Verfahren mit der der Photographie entliehenen Technik der sogenannten doppelten Exponierung erklärt.

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hat,21 so wie er auch Dantes Commedia, und besonders dessen Darstellung der »Acedia« als eigentümliche Form der Melancholie zitiert.22 Die Verbindung dieser literarischen und kulturellen Stoffe ist insbesondere auch im Hinblick auf Die Ästhetik des Widerstands relevant.23 Dürers Bilder gelten ferner als Inspirationsquelle zweier Hauptwerke Thomas Manns. Auf Basis seiner Lektüren und Reflexionen über Dürers Werk konzipiert Mann zum einen die Figur Hans Castorps als Melancholiker, zum anderen spielen in den folgenden Jahren der Engel und das magische Quadrat eine grundlegende Rolle als Bindeglieder zwischen der humanistischen Kulturwelt und der dämonischen Genialität der modernen Kunst im Doktor Faustus.24 Hier erscheint eine Ekphrasis, in der ein ähnlicher Prozess durchgeführt wird wie derjenige, durch den Peter Weiss, besser gesagt, seine Charaktere, die Bilder ›erzählen‹: Leverkühns Beschreibung des ersten Holzschnitts aus der von Dürer gezeichneten Reihe Apokalypse entsteht aus einer totalen Identifizierung des Komponisten mit dem Märtyrer Johannis, so dass sogar die Landschaft, vor deren Hintergrund sich die Handlung abspielt, als Kaisersaschern erkannt wird und nicht als Nürnberg. Als Ziel dieser literarischen Operation ist die Melancholie, in einem allgemeineren Sinn die Krankheit, als Bestandteil der Genialität und der Kunst überhaupt zu erkennen:25 »Genie 21 | Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, Bd. I/1, S. 317-335. 22 | Ebd., S. 332f. 23 | Die Beziehung zwischen Benjamin und Peter Weiss in dieser bildgeschichtlichen Perspektive wäre eine tiefer greifende Untersuchung wert. 24 | Manns Quellen sind vor allem Heinrich Wölfflins Buch Die Kunst Albrecht Dürers (1905) und die kunstgeschichtliche Untersuchung Carl Giehlows Dürers Stich »Melancholia I« und der maximilianische Humanistenkreis (1903-1904). Dieser letzte Essay gilt auch als eine der wichtigsten Quellen Benjamins. 25 | Im Roman werden Dürer und die Ikone des deutschen Geistes, die aus einer sehr eigentümlichen Mischung von Verstand und Zauberei entstanden ist – stellvertretend für die ganze Kultur der Reformation – zum Symbol einer verwirrten und krankhaften musikalischen bzw. künstlerischen Begabung. In Dürers Bildern findet man diese quasi selbstgefällige Koexistenz der beiden Sphären; das Bild gilt hier als Inspirationsquelle für den Protagonisten und als teils explizites, teils untergründiges oder esoterisches Leitmotiv für den Autor. Sehen und Schreiben,

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ist eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form der Lebenskraft.«26 Die Ekphrasis wird nicht benutzt, um eine Krise darzustellen, sondern ist Anfang einer neuen schaffenden, wenn auch dämonischen Tätigkeit. Zeitbloms Widerstand als Erzähler, als Vertreter der humanistischen Kultur ist also zum Scheitern verurteilt: »Aber ach, ich fürchte, in dieser wilden Dekade ist ein Geschlecht herangewachsen, das meine Sprache sowenig versteht wie ich die seine, ich fürchte, die Jugend meines Landes ist mir zu fremd geworden, als dass ich ihr Lehrer noch sein könnte, – und mehr: Deutschland selbst, das unselige, ist mir fremd, wildfremd geworden […].«27 Zeitblom selbst ist Teil dieser Tradition und als solcher erleidet er deren Faszination, als Pädagoge und als Schriftsteller. Außerdem bleibt Manns Ekphrasis auf der fiktiven Ebene: die im Stich dargestellte Realität und die historischen Fakten bleiben getrennt, die Geschichte ist nur als dem Biographen (und dem Autor in der Entstehung des Doktor Faustus) zu eigen durch den »Imperfekt«28 zu erzählen. Das Dargestellte tritt in das Erzählte hinein, es ist das Bild Dürers, das von Leverkühns Leben Besitz ergreift, während bei Peter Weiss genau das Gegenteil passiert, indem sich das Erzählte allmählich mit dem Dargestellten zusammenschließt. Die von Dürers Werk ausgestrahlte Atmosphäre wird in die Musik Leverkühns übertragen, die nur in einer folgenden Phase der Erzählung als zeitgeistiges Merkmal hervortritt. Manns modernistische Ästhetik basiert auf einer (selbst-)kritischen Analyse der kulturellen Vorbedingungen, die zum Zweiten Weltkrieg führten; um das zu tun, muss der Blick Zeitbloms ein empfindsamer, mitleidender sein und er muss unweigerlich aus zeitlicher Distanz schreiben. Die widerständige Dimension dieser Art und Weise, die Geschichte zu erzählen, ist das Resultat einer Technik der Montage, durch die eine

Wort und Bild stehen hier nicht in Konflikt: Manns Absicht ist es, eine problematische Beziehung zu einer bestimmten künstlerischen Tradition zu erzählen. 26 | Mann, Thomas: Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt a.M.: Fischer 1967, S. 472. 27 | Ebd., S. 669. Ähnlich Weiss, Peter: Fluchtpunkt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 63: »Die Regionen, in denen die Dinge, die ich schildern wollte, sich abspielten, waren mir entfremdet und langen weitab.« 28 | Mann, Thomas: Der Zauberberg, Frankfurt a.M.: Fischer 1959, S. 9.

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klare Unterscheidung der verschiedenen Ebenen der erzählten Realitäten sichtbar bleibt.29 Peter Weiss bezieht sich nicht nur auf die deutsche Tradition, sondern vor allem auf die französische Malerei; Dürers Melancholia I ist fast das einzige deutsche Bild, das im Roman beschrieben wird. Der Versuch, die visuelle Erbschaft dieses Teils der deutschen Kultur durch ein ekphrastiches Verfahren in die Trilogie zu integrieren, zielt auf eine bestimmte und mit neuen Mitteln durchgeführte Problematisierung der Wort-Bild Beziehung.30 Es sei hier nochmal auf eine Gegenüberstellung zwischen dem ersten Mikro-Roman und der Trilogie hingewiesen: 29 | »Was erzähltechnisch gemeint ist, ist Weiss’ Fähigkeit, im Sprachduktus, durch Beibehaltung des gleichen Satzsubjekts und inhaltlicher Parallelen, verschiedene Zeit- und Ortsebenen in nächste Nähe zueinander zu bringen, beispielsweise in der Aneignung der Kunstwerke im 1. Band die Bildwirklichkeit und die Realität der Arbeitswelt der Kunstbetrachter. Dieser bewusste Einsatz der Sprache, um scheinbar weit Auseinanderliegendes zusammenzubringen, ist gleichzeitig ein weiteres Indiz dafür, dass es sich hier nicht um eine Montage handelt.« Weidauer, Friedemann J.: Widerstand
und Konformismus. Positionen des Subjekts im Faschismus bei Andersch, Kluge, Enzensberger und Peter Weiss, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1995, S. 196. Über einen filmischen Realismus und eine ekphrastische Poetik, in Anlehnung an Mitchells Untersuchungen, spricht K. Hvidtfeldt Madsen hingegen, vgl. Ders.: Widerstand als Ästhetik, S. 151-153. 30 | Sebalds Analyse stellt die Schwermut der Mutter in Verbindung zu einer Kraft, die die Vernunft und das Schreiben nicht besitzen können: »Die unheilbare Schwermut […] provoziert in dem schreibenden Sohn die Frage, ob sie ›[…] nicht mehr wisse als wir, die wir die Vernunft bewahrt hatten‹, und ob, wie es in den Notizbüchern heißt, ›das Schweigen, das Aufgeben nicht ehrlicher wäre als der Drang sich zeitlebens eine Gedächtnisstätte seiner selbst zu errichten‹.« W. G. Sebald, »Die Zerknirschung«, S. 267. In zwei Selbstporträts aus dem Jahr 1946, die »bereits jene[n] gewisse[n] Zug in einen monumentalen Heroismus« aufweisen, »der das literarische Spätwerk des Peter Weiss charakterisieren sollte«, erkennt Sebald die Überwindung dieser Dichotomie: »In der Transformation des verletzten Subjekts in eine andere, intransigente Person konstituiert sich zum einen der Wille zum Widerstand, während sich andrerseits etwas vollzieht, das sich beschreiben ließe als die Assimilation der Kälte des Systems, von dem das Subjekt sich bedroht weiß. Die Angst, zerschnitten und verstümmelt zu werden, wandelt sich derart zum generativen Moment einer Strategie, mit der Weiss selber sich anhält,

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Sie hatte gesagt, was sie zu sagen im Stande war, sie hatte in jenem Winter in Belorußland schon gewusst, was das Ziel all dieser Wanderden war, hatte geglaubt, in einem ewigen Winter unterwegs gewesen zu sein, und vielleicht war jetzt, im November, immer noch derselbe Winter, die Flocken fielen dicht, verhüllten den Schulhof, die Fabrik, so wie sie im Januar vor Hodanns Fenster fielen. Aus diesem Winter heraus hatte sie gesprochen, und mein Vater musste sein Ohr nah an ihren Mund halten, um die Worte zu verstehn. Sie erinnerte ihn an das weiße Haus mit der blauen Tür, wo sie untergebracht worden waren, nachdem er, zum dritten Mal, den Offizieren das Eiserne Kreuz gezeigt und sich als ehemaliger Kriegsteilnehmer zu erkennen gegeben hatte. In der Nacht, mein Vater schlief, sie lag wach auf dem Feldbett, im offnen Kamin brannten die Scheite, war das Raunen der Stimmen zu hören gewesen, die Offiziere saßen, eine Flasche leerend, am Tisch, und diesem Raunen, das doch keine bestimmten Angaben enthielt, hatte sie alles entnommen, was kommen würde, und was Nyman, kürzlich bei seinem Besuch, ihr bestätigt hatte, sie war Zeuge gewesen, obwohl sie nur Laute gehört hatte, in denen ein Zischen und Knallen war, sie hatte gesehn, wie sie an den Fingern abzahlten, immer schneller, wie ihre Hände Gebärden machten, die ganze Nacht hindurch, immer wenn sie zum Tisch hinüberblinzelte, hatte sie diese Bewegungen gesehn, das Murmeln und Gelächter gehört, und dann war da noch diese Frau, eine Frau habe sie gesehn, und die Frau habe ein Kind getragen, und ein Mann sei neben ihr gewesen, und es seien drei Soldaten gekommen, die hatten der Frau das Kind entrissen und es vor ihren Augen erschlagen, und der Mann habe sich auf die Soldaten geworfen, und die Soldaten hatten den Mann niedergetreten und sich dann über die Frau hergemacht und sie zu Tode gemartert, vor den Augen des Manns, und dann hatten sie den Mann weggeführt, um ihn irgendwo zu erschießen. Aber mein Vater war sich nicht mehr gewiss, ob meine Mutter es ihm so erzählt hatte, er konnte nicht mehr unterscheiden, ob es ihre oder seine Gedanken waren. Mein Vater hatte sie gefragt, warum sie ihm dies erst jetzt sage, aber da war sie schon stumm. (III, 129-30)

Mit derselben Geste beugt sich der Ich-Erzähler vor den alten verwundeten Arzt in dem Schatten des Körpers des Kutschers, um seine Worte hören zu können. Die leise, schwer zu hörende Stimme, verwandelt sich in der schriftlichen Aufzeichnung in einen zerstückelten, stammelnden Ausdruck, der die schlimmen, selbstverletzenden Taten des Alten in seiuntersuchende Einschnitte vorzunehmen an leibhaftigen Instanzen einer oppressiven Wirklichkeit.«. Ebd., S. 268.

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ner genauen Wahrnehmung zu reproduzieren versucht.31 In der Trilogie werden zwar verschiedene Mittel benutzt, damit die schrecklichen Erinnerungen der Mutter geschwächt werden können, aber dabei verzichtet der Autor auf jede Form von mimetischer Verwandlung der Sprache: als erste Strategie tritt das fehlerhafte Gedächtnis des Vaters auf, das den grauenhaften Mord als mögliche Erfindung wahrnimmt.32 Dann wird das Stummsein der Mutter, die radikalste Form von Widerstand gegen Gewalt und Terror, diese Episode, die sich dem sprachlichen Element entzieht, in ihrer Unsagbarkeit endgültig versiegeln. Diese Unsagbarkeit, die sich unmittelbar auf den Versuch überträgt, offenbart diesen krankhaften Zustand seitens des Vaters und des Ich-Erzählers: »Was mein Vater kaum mehr ausdrücken konnte, ließ sich, als ich es an Hodann weitergeben wollte, noch weniger artikulieren.« (III, 130) Dieser gleichzeitig mächtige und gelähmte Zustand der Mutter löst unweigerlich eine den Ich-Erzähler überwältigende Krise aus. Damit komme ich zu einer weiteren Argumentation, die die Relevanz der Beschreibung dieses Stichs für Weiss’ Roman erklären will. Jetzt wird das Wort an Hodann übergegeben, der den geistlichen Zustand der Mutter zu erklären versucht und daher zur Ekphrasis der Melancholia I greift, die in eine physiologische, gleichsam sezierende Ästhetik mündet: »Die Kunst […] entspringe der Entelechie […], zu den mnestischen Funktionen gehöre sie, die im Hirn, in den Zentren des Visuellen und Akustischen, der örtlichen und zeitlichen Orientierung, alles Vernommene bewahren und es uns, auf Nervenreize hin, zugänglich machen, ohne dass je, beim Sezieren, Spuren dieser aus Erinnerung bestehenden Denkfähigkeit entdeckt worden wären.« (III, 134) Das sollte nur der erste Schritt sein, denn ein Stück 31 | »[…] legte mein Ohr dicht an seinen Mund und konnte ich mir aus seinen Atemzügen und Zungenbewegungen folgende Worte deuten, Wunden nicht heilen, wie ich auch schneide, tief aushöhle, bis auf die Knochen, Messer auf Knochen knirschen, schaben, abbrechen, sitzt noch tiefer, abbinden, die ganze Nacht, die ganze Nacht wacht, immer noch Blut, Eiter, weiter, unten am Arm, dann weiter oben, hoben, Achselhöhle, Oberarmknochen, Wasser kochen, Gelenk, verrenk, hochbinden, finden, bis zu den Rippen, in der Brust […].« P. Weiss, Der Schatten, S. 59. 32 | »Er sei während der letzten Zeit empfänglich gewesen für Bilder, sagte mein Vater, von denen sich nicht sagen lasse, ob er sie erdacht oder ob sie von meiner Mutter gesandt worden seien.« (III, 130)

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weiter wird die Krise des Ich-Erzählers in ihrer sprachlichen und politischen Dimension herauskristallisiert. Außerdem, und was meinem Denkansatz gemäß noch wichtiger ist, erhält die Krise ihre trefflichste Deutung wieder einmal durch den Stich Dürers: »Doch beim Bericht über meine Erfahrungen in Deutschland und Spanien vermied ich alles, was auf meine politische Zugehörigkeit hingewiesen hätte. Wie weit entfernt ich war von dem, was ich sagen wollte, war mir deutlich geworden beim Anblick des kritzelnden Kinds auf dem Mühlstein. Auch ich hatte auf einer Schiefertafel das Schreiben gelernt.« (III, 135) Einerseits wirkt die Figur des Kindes als Wiedervereinigung mit der verstummten Mutter (dem Engel), andererseits bietet sie dem Ich-Erzähler eine Gelegenheit, die Vergangenheit, die noch einmal durch einen Erinnerungsprozess herauf beschworen wird, und die Gegenwart einander gegenüberzustellen. In jener Vergangenheit herrschte »eine Konstruktion von Wirklichkeit, deren Gesetze wir gelernt hatten zu befolgen« (III, 136), während die Gegenwart von einer »sickernden Ungewissheit« regiert wird. Ferner vereinigen sich in Dürers Stich – durch die Zusammenstellung einiger Objekte, die zu verschiedenen Lebensbereichen gehören – zwei Ebenen der Wirklichkeit, wie sie im ersten Band durch die Bücher von Neukrantz und Kaf ka als geteilte, unterschiedliche Dimensionen vorausgesehen wurden. Nur die abgelegten Gegenstände, welche die Welt des Alltags verkörpern, können die fremdartige Natur einiger anderer Elemente im Vordergrund erscheinen lassen, so dass eine »andere Wirklichkeit in das Bekannte« eindringt (III, 133).33 Das Werk Dürers wird nicht in einem politischen oder ideologischen Sinn überinterpretiert (wie Kaf kas Roman oder Pergamons Altar usw.), seine Kraft als Objekt einer widerständigen Ästhetik liegt nur in dieser synthetischen und synästhetischen Potentialität, durch die nochmals die kritische Spannung zwischen Bild und Wort hervorgehoben wird, jedoch in einer ikonischen Form, in der sich individuelle Erinnerung, sinnliche und körperliche Wahrnehmung der Welt in einer einzigen Darstellung vereinigen. In einem Gedicht aus dem Jahr 1933, Wo keine Träne fällt, hat Gottfried Benn die ›Ikone‹ des deutschen Geistes in eine Art von lyrischer

33 | Gerade in der Beschreibung dieser Elemente des Bildes sowie in der kreatürlichen Natur des Engels ist die Nähe zu Benjamins Untersuchung besonders deutlich.

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Ekphrasis übertragen. Eine »unsägliche Gestalt«34 wird Dürers Engel hier genannt, wobei das Wort »unsäglich« die Figur Dürers aufgrund seiner Ambivalenz als etwas Unsagbares, aber gleichzeitig – und gerade deswegen als unsagbar zu bezeichnen – als etwas Außerordentliches charakterisiert. In dem Gedicht Benns, und besonders in dessen letzter Strophe, wird der berühmteste Stich Dürers in ein idyllisches, aber menschenloses Land transportiert: Vor dem Krieg ist die Welt schon als leerer Ort vorstellbar. Nur der in die Ferne gerichtete Blick des sinnenden Genius kann diese leere Welt empfangen. Der (passive und innere) Widerstand gegen den Nihilismus kann sich nur als melancholische Ataraxie äußern. Das ekphrastische Verfahren ist hier das einzig mögliche, sich von Leiden und Tränen zu entfernen und die Poesie noch als reinste höchste menschliche Tätigkeit zu leben. Einzig die Melancholie hat in einer posthumanen Welt überlebt, nur ihr Blick kann diese sich in die Ferne ausdehnende Dimension sehen, sie steht hier als passives Emblem, aber auch als sehende, denkende Kreatur. Der in die Ferne gerichtete Blick des sinnenden Genius scheint hier eine Allegorie des modernen Ichs zu sein, dessen eigentümliche Identität durch die melancholische Stimmung ausgedrückt wird. Einsamkeit, Distanz, Unberührbarkeit, kolossalische und schwer zu erfassende Größe, durch alle diese Eigenschaften wird die Melancholia durch Benns Vision zu einer Ur-Figur, in der das Ich als weltschaffende Instanz zurückgetreten ist, es kann die Welt nur durch einen »Blick in die Ferne« in sich aufnehmen, um sich – im Wechselspiel mit der angeschauten »Ähre« – zu »ergeben«: Doch da an einer Warte von Zucht und Ahnen alt lehnt eine flügelharte unsägliche Gestalt, ihr Blick, der Licht und Sterne und Buch und Zirkel hält, der sieht in eine Ferne, wo keine Träne fällt.

34 | Benn, Gottfried: Gedichte, in: Ders.: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 244.

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Das ist die letzte Sphäre, ein Hoch- und Hafenland, da wächst die schwerste Ähre von jeder Glut gebrannt, sie wächst nicht um zu leben, so singt der Ährenwind, sie wächst sich zu ergeben, wenn es der Genius sinnt: Unsterblichkeit. 35

»Untröstlichkeiten« sind in »Sagen« auszudrücken, das heißt in Worten oder in einer »Schau«, die aber »strophisch« ist, so wie es in der ersten Strophe gesagt wird.36 Unsterblichkeit ist nur durch den Blick zu erhalten. In Benns Gedicht, wie auch in Weiss’ Roman gewährt die Ikone Dürers durch das ekphrastische Verfahren die Möglichkeit einer synthetischen Vision, in der das Wort seine poetische Macht durch die schöpferische Widerstandskraft des Bildes – besser dieses bestimmten Bildes – erhält.

35 | Ebd. 36 | »Untröstlichkeiten –, in Sagen/frühmenschlich strophischer Schau/hört man von Geistern, die tragen/den Mond, die Matte, den Tau,/in Felsen legen sie Teiche,/auf Schlünde Palmen und Wein,/und hüllen in Zauberreiche/die trauernden Völker ein.« Ebd.

Archiv als Widerstand gegen das Vergessen Walter Kempowskis »Echolot-Projekt« Raul Calzoni

Auch wenn es in Wirklichkeit nicht so war, wurde Letzte Grüße, der von Walter Kempowski 20031 publizierte Roman, von der Literaturkritik als endgültiger Abschiedsgruß des Rostocker Schriftstellers an seine Leser aufgefasst – als Abschied eines Autors vom Schreiben, der nach der ironischen Erzählung seiner eigenen Familiengeschichte in den Romanen der Deutschen Chronik (1999) und der Aufzeichnung der entscheidenden Episoden des Zweiten Weltkrieges in den kollektiven Tagebüchern des »Echolot-Projekts« (1993-2005),2 zum letzten Mal durch einen fiktiven Erzähler über sich selbst berichtete. 1 | Vgl. Kempowski, Walter: Letzte Grüße. Roman, München: Albrecht Knaus 2003. 2 | Vgl. Kempowski, Walter: Die deutsche Chronik, 9 Bde., München: btb 1999. Die Bände im Einzelnen: Aus großer Zeit. Roman (1978); Schöne Aussicht. Roman (1981); Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten (1973); Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman (1971); Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie (1972); Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten (1979); Ein Kapitel für sich. Roman (1975); Schule. Immer so durchgemogelt (zuerst: Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit, 1974); Herzlich willkommen. Roman (1984). Unter dem Begriff »Echolot-Projekt« werden hier die folgenden kollektiven Tagebücher Walter Kempowskis zusammengefasst: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943, 4 Bde., München: Albrecht Knaus 1993; Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945, 4 Bde., München: Albrecht Knaus, 1999; Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, München: Albrecht Knaus 2002; Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch, München: Albrecht Knaus 2005.

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Anhand der Schilderung des letzten Lebensmonats des Schriftstellers Alexander Sowtschick, bereits Protagonist der Hundstage,3 ist es Kempowski nämlich gelungen, autobiografische Splitter in Letzte Grüße zu verarbeiten, die er mit phantasievollen Szenen vermischt und somit den Erzählraum für Überlegungen über den Sinn des Lebens eröffnet hat, unter gleichzeitigem Verzicht auf die in den Romanen der Deutschen Chronik enthaltene Ironie. Während er über die Etappen von Sowtschicks Reise in die Vereinigten Staaten berichtet, wohin der Schriftsteller zu einer Reihe von Lesungen eingeladen wird und wo er später unerwartet stirbt, schreibt er in Letzte Grüße dem Schreiben die einzige Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Tode zu, wobei er in der Archivierung des Erlebens die einzig mögliche Form der Unsterblichkeit sieht. Kempowski selbst vermittelte diese Überzeugung, indem er unter Bezugnahme auf diesen Roman behauptete, dass »das, was von einem Individuum bleibt« seine Werke seien oder das, was man in seinem Leben verwirklicht habe: »Die Menschen leben weiter in den materiellen Tatbeständen, die sie geschaffen haben, in ihren Werken, in dem, was sie angerührt haben. Das bleibt – auch von mir.«4 Diese Behauptung darf nicht als Ausdruck einer vorübergehenden Gefühlsregung in Verbindung mit der Abfassung von Letzte Grüße aufgefasst werden, sondern als das Ergebnis einer langen Meditation Kempowskis angesichts der Rolle, die das Schreiben in seinem Leben spielte, verstanden als Raum des Wiedergedenkens an eine unabwendbar verlorengegangene und nur durch die Archivierung wieder aufzuholende Vergangenheit. Der Satz stellt darüber hinaus einen Ausgangspunkt dar zur Beschäftigung mit »[der] Frage nach der totenkultischen Archivpraxis und der sich aus ihr herleitenden Poetik des Echolot«, für die »der Bezug der Seelen zu den von ihnen hinterlassenen Briefe, Lebenserinnerungen, Tagebüchern usf. entscheidend«5 ist. Dementsprechend möchte dieser Beitrag erläutern, wie das Archiv bei Walter Kempowski nicht nur als Ort des Totenkultes, sondern auch als Instrument der Vergangenheitsbewältigung und des ästhetischen Widerstandes gegen das Vergessen mit einem pädagogischen Zweck gedeutet wurde. 3 | Vgl. Kempowski, Walter: Hundstage. Roman, München: Albrecht Knaus 1988. 4 | Zitiert nach Hempel, Dirk: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie, München: btb 2004, S. 244. 5 | Sina, Kai: »Sühnewerk« und »Opferleben«: Kunstreligion bei Walter Kempowski, Göttingen: Wallstein 2012, S. 142.

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Bereits mit zwölf Jahren fand Kempowski in der Archivierung sein bevorzugtes Betätigungsfeld.6 In diesem Alter begann er damit, die Filme, die er im Kino sah, die Bücher, die er las, die Besuche, die die Familie empfing und das, was in Rostock geschah, mit Kommentaren zu versehen. Aus diesem ersten Archiv des individuellen Gedächtnisses des Schriftstellers und vor allem aus dem Versuch, dieses in der Nachkriegszeit zu rekonstruieren wird der ursprüngliche Kern dessen ersichtlich, was einmal die Deutsche Chronik werden sollte. Um die ganze Tragweite dieser Behauptung zu erfassen, liegt es sicherlich nahe, sich dabei auf persönliche Bedürfnisse zu berufen, welche Kempowskis Schreiben rechtfertigen. Denn die thematischen Schwerpunkte, die Kempowskis gesamtes literarisches Schaffen durchziehen, lassen sich auf einige traumatische Episoden aus der Biografie des Autors zurückführen, die in den bedeutendsten Bänden der Deutschen Chronik, d.h. Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold und Ein Kapitel für sich thematisiert werden: Die Zerstörung von Rostock im Jahr 1942 unter den Bombenangriffen der Alliierten, der Tod seines Vaters in der Frischen Nehrung an der Ostfront, nur wenige Tage vor Deutschlands Niedergang, die sowjetische Besatzung von Rostock, die gemeinsame Verurteilung 1948 mit seinem Bruder zu 25 Jahren Gefängnis in Bautzen wegen Spionage und die Inhaftierung seiner Mutter in Hoheneck wegen angeblicher Kollaboration. Diese Themen vervollständigen Kempowskis literarische Produktion, indem sie sowohl die zentrale Bedeutung des Gedenkens an die Vergangenheit in seinem Werk, als auch dieses Interesse des Autors am Rekonstruieren des individuellen und kollektiven Schicksals zum Vorschein bringen, welches später die zwei organisatorischen Prinzipien des Echolots bilden würde: »horizontal: durchgehende Geschichte, etwa Mrongovius, ein Schicksal

6 | Vgl. Winkler, Willi: »Das Sammeln der verlorenen Zeit«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.04.2004, S. 3: »Mit zwölf, so weiß die nicht ganz unglaubwürdige Legende, hat er auf die Frage nach seinem Berufswunsch präzis geantwortet: ›Archiv!‹« Vgl. hierzu Hage, Volker: »Bis am Ende meiner Tage. Interview in Nartum, September 1993«, in: Ders.: Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen, München: btb 2009, S. 96 und Horn, Maren/Möller Christa: »Der Schriftsteller Walter Kempowski als Archivar. Der Archivar Walter Kempowski als Schriftsteller«, in: Sichtungen. Archiv, Bibliothek, Literaturwissenschaft 10/11(2008), S. 316-337. 

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verfolgen. vertikal: das dialogische Prinzip, eine Aussage auf die andere beziehen.« 7 Bevor er sich mit dem ersten Echolot zu beschäftigen begann, sollte Kempowski erst im Jahre 1980 mit der Gründung eines ›Archives für unpublizierte Autobiographien‹ in seinem Haus Kreienhoop 8 in Nartum den seit seiner Kindheit gehegten Traum verwirklichen, nämlich ein Archiv an Texten und Bildern zu besitzen, anhand dessen er einerseits seine persönlichen Kenntnisse angesichts der Wahrnehmungen der Deutschen über die Hitlerzeit zu vertiefen und verifizieren vermochte und andererseits über authentisches Material zur Abfassung seines Echolots verfügen konnte. Hinter der scheinbaren Stille des Idylls, in dem sich das Leben des »Schulmeisters«9 Kempowski in Nartum abspielte, brodelte die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die in ihrer Vielfältigkeit im Dasein des Rostocker Schriftstellers tiefe Spuren hinterlassen und dessen »bürgerlicher Biografie« auf dramatische Weise endgültig ein Ende gesetzt hatte. Erst vor der Gründung der Archive hatte Kempowski die Parabel einer mit der des Schriftstellers gleichnamigen Familie, von den 1880 bis in die 1960er Jahre, in den Romanen eines umfangreicheren Zyklus, der 1999 als Die deutsche Chronik erschien, rekonstruiert. Hier hat Kempowski durch das Spannungsfeld zwischen dokumentarischen ( fact) und fiktionalen ( fiction) Gegebenheiten die Geschichte des hanseatischen Bürgertums in der deutschen Geschichte nachvollzogen, wobei es ihm um einen Chor der Erinnerung ging, um dem Leser ein möglichst vollständiges Bild der Vergangenheit zu vermitteln. Neben sechs Romanen enthält die Sammlung drei Befragungsbücher, die sich auf ein solches chorisches Prinzip bei dem literarischen Abriss der Vergangenheit berufen, wie es im Vorwort zu Haben Sie davon gewußt? zu lesen ist: »Dem Leser meiner Romane, dieser ›deutschen Chronik‹, wird durch die ›Befragungs-

7 | Kempowski, Walter: Alkor. Tagebuch 1989, München: Albrecht Knaus 2001, S. 460. 8 | Vgl. Hempel, Dirk: Haus Kreienhoop. Kempowskis zehnter Roman, Fischerhude: Atelier Verlag 2001. 9 | Neumann, Michael: Kempowski der Schulmeister, Braunschweig: Westermann 1980.

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bücher‹, wie man sie nennen könnte, eine allgemeinere, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben.«10 2005 hat Walter Kempowski dem 60. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkrieges und diesem chorischen Darstellungsprinzip der Vergangenheit mit dem Schluss seines »Echolot-Projekts« Ehre erwiesen, d.h. mit der Veröffentlichung des zehnten und letzten Bandes seines monumentalen Werks, das die »Stationen« der deutschen Geschichte durchwandert.11 Als erster Teil dieser »Reise ins Unbewusste«,12 die aus Notizen, Dokumenten, Ausschnitten aus Tagebüchern und Briefauszügen besteht, erschien 1993 »ein großes Erinnerungsbuch der Gegenwart«.13 In dem ersten vierbändigen Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943 sind die Stimmen der Zeugen der Schlacht von Stalingrad zu einem »babylonischen Chorus«14 verwoben, um sie vor dem Vergessen zu schützen. »Seit langem bin ich wie besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist, ich habe nie etwas liegenlassen können, ich habe aufgesammelt, was zu sammeln war, und ich habe alles gesichtet und geordnet. Den Guten, die auch immer ein wenig böse sind, und den Bösen, die auch von einer Mutter geboren wurden, habe ich zugehört, und ich habe ihre Texte zu einem Dialog formiert«15 – so Kempowski in den einleitenden Worten zum ersten Echolot, dessen doppelter Sinn darin besteht, »den vergangenen Schrecken einerseits zu (re)konstruieren und andererseits 10 | Kempowski, Walter: »Vorwort«, in: Ders.: Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten, S. 6. 11 | Vgl. Kempowski, Walter: »Vorwort«, in: Ders.: Das Echolot. Barbarossa ’41, S. 5. Hier hebt der Autor hervor, das Projekt »besteh[e] aus mehreren Teilen. Die exemplarischen Stationen, die in ihm vorgeführt werden, heißen Leningrad, Stalingrad, Auschwitz, Dresden und Berlin«. 12 | So definiert Walter Kempowski das »Echolot-Projekt« in: Ders.: Alkor. Tagebuch 1989, S. 422. 13 | Adam, Wolfgang: »Auf der Suche nach der ›Verlorenen Bibliothek‹. Gedächtnis und autobiographische Spurensicherung bei Walter Mehring«, in: Marianne Sammer (Hg.): Leitmotive. Kulturgeschichtliche Studien zur Traditionsbildung. Festschrift für Dietz-Rüdiger Moser zum 60. Geburtstag am 22. März 1999, Kallmünz: Verlag Michael Lassleben 1999, S. 151. 14 | Kempowski, Walter: »Statt eines Vorworts«, in: Ders.: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943, Bd. I., S. 7. 15 | Ebd.

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[…] seine Bedeutung für die deutsche […] Gegenwart und Zukunft zu befragen«.16 Es ist ein von der Forschung rekonstruiertes Verfahren der Montage, mit dem Kempowskis Projekt dem Leser Folgendes bietet: »eine Vergegenwärtigung der Welthöllen, welche die Menschheit sich von Zeit zu Zeit bereitet, der Plagen, von denen schon in der Apokalypse die Rede ist«.17 Erst als Autor des dem Kessel von Stalingrad gewidmeten ersten Echolots wurde Kempowski zum Leiter eines Chores, der zuerst die Leiden der Deutschen an der (Zeit-)Geschichte entlarven sollte, weil die Montage von Fremdstatements es dem Schriftsteller erlaubte, jene Themen zu nähren, die nach der Wende als virulente Motive der kulturellen Debatten um das deutsche kollektive Gedächtnis der Nachkriegszeit gelten.18 Neben den Berichten über den Untergang der 6. Armee in Russland leitet tatsächlich das erste Echolot eine Reihe von Ereignissen ein, die Deutschlands Nachkriegsschicksal geprägt haben und die auf die folgenden thematischen Komplexe zurückzuführen sind: Holocaust, Krieg an der Front, Luftkrieg, Flucht und Vertreibung.19 Kempowski hat sich nämlich mit seinem zehnbändigen »Echolot-Projekt« solchen historischen Ereignisse zugewandt, an denen sich auch die gesellschaftliche und germanistischfachwissenschaftliche Diskussion über die Vergangenheit seit den 1990er Jahren orientierte: »Man kann sie unter den folgenden Stichworten zusammenfassen: ›Opfer-Täterdebatte‹, ›Vergangenheitsbewältigung‹, ›Vergessen – Erinnerung – Gedächtnis‹, ›Trauerarbeit‹ und schließlich […] die Diskussion über den Luftkrieg und die Bombardierung deutscher Städte.«20 16 | Kumpfmüller, Michael: Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos, München: Wilhelm Fink 1995, S. 11. 17 | W. Kempowski: »Vorwort«, in: Ders.: Das Echolot. Barbarossa ’41, S. 5. 18 | Vgl. Calzoni, Raul: Walter Kempowski, W. G. Sebald e i tabù della memoria collettiva tedesca, Pasian di Prato: Campanotto 2005. 19 | Vgl. hierzu die Einleitung und die Beiträge zur Sektion »Krieg und Zivilisationsbruch«, in: Elena Agazzi/Erhard Schütz (Hg.): Handbuch Nachkriegskultur: Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945- 1962), Berlin: de Gruyter 2013, S. 141-196. 20 | Agazzi, Elena: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Fragen der Vergangenheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 7.

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In diesem Zusammenhang gelten die kollektiven Tagebücher des »Echolot-Projekts« als Denkmal der »Wirkungsgeschichte«, in dem die von Hans Georg Gadamer geprägte optische Metapher der »Horizontverschmelzung«21 eine Konkretisierung zu finden scheint, dank derer den Lesern eine »Vielstimmigkeit der Zeitgeschichte«22 gegenübergestellt wird. Kempowski nimmt in der Tat als Autor bzw. Archivar dieser Tagebücher eine besondere Stellung ein: Der Schriftsteller wird im »Echolot-Projekt« zum Leiter eines »babylonischen Chores« der vor dem Vergessen geretteten Stimmen der Toten. »Die Zurichtung der ›Echolot‹Texte hat etwas vom Dominospiel an sich«23 – schrieb darüber hinaus Walter Kempowski –, in dem die einzelnen Einträge jeder kollektiven Tagebücher in Zusammenhang mit den anderen zu verstehen sind, um »das Zauberwort, mit dem wir unsere Epoche bezeichnen und versiegeln könnten«,24 zu eruieren. Eine Frage taucht hier auf: Wie hat der Autor die Worte der Toten im Echolot archiviert und wie lässt er sie hören, um dabei die Stimme der Untergegangenen zu einem pädagogischen Zweck der Vergessenheit zu entreißen? Es ist der »Chor der Stummen« des »EcholotProjekts«,25 der nach Kempowski diese Aufgabe zum Teil erfüllt: »Die Toten behalten ihre letzte Erfahrung für sich, aber ihre überall deponierten Mitteilungen können wir aufnehmen und entschlüsseln, darauf dürften wir nicht verzichten.«26 Das Bedürfnis eine Brücke zwischen den Toten und den Lebenden zu schlagen, um eine Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und diese letztere zu vergegenwärtigen, hat Kempowski gezwun21 | Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 1960, S. 36. 22 | Vgl. Calzoni, Raul: »Vielstimmigkeit der Zeitgeschichte in Walter Kempowskis Das Echolot«, in: Wolfgang Hardtwig/Erhard Schütz (Hg.): Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 130-150. 23 | Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum »Echolot«, München: Albrecht Knaus 2005, S. 192. 24 | W. Kempowski: »Statt eines Vorworts«, in: Ders.: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943, S. 7. 25 | Vgl. Hage, Volker: »Chor der Stummen«, in: V. Hage: Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen, S. 140-147. 26 | W. Kempowski: »Statt eines Vorworts«, in: Ders.: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943, S. 7.

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gen, sich mit unterschiedlichen Sprachen und Bildern der Geschichte in seinen Tagebüchern und im Echolot zu konfrontieren.27 Demzufolge präsentiert sich die Geschichte im Echolot als eine den unterschiedlichen Interpretationsansätzen gegenüber offene Vergangenheit, wobei Kempowski dem Leser eine aktive Rolle zuschreibt, denn eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten der Vergangenheit, die aus der Erinnerung und den in deren Texten aufgezeichneten Dokumenten hervorgehen, bedeutet auch die Eigenschaften des idealen Lesers anzunehmen; laut Umberto Eco geht es hier um »eine Art Ideal-Leser, den der Text nicht nur als Mitarbeiter vorsieht, sondern sich auch zu erschaffen versucht«.28 Indem Letzterer mit dem Autor zusammenarbeitet und sich mit Feststellungen über die Vergangenheit auseinandersetzt, begibt sich der Leser zugleich in einen Dialog mit den unterschiedlichen »sozialen Gedächtnisgruppen«,29 welche die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in einem Land bewahren, das für Kempowski unter Gedächtnisschwund zu leiden schien. Das wiedervereinigte Deutschland der 1990er Jahre wurde nämlich durch einen Zustand der Betäubung gekennzeichnet, woraus das Übermaß des Vergessens der Vergangenheit resultiert, wogegen Kempowski gekämpft hat, indem er bei seinem literarischen Schaffen durch die Maschen der Zeit gefallene oder gar mit Absicht zum Schweigen verbannte Worte und Bilder archiviert hat. Indem es die Stimmen der Toten vor dem Vergessen bewahrt, beruht Kempowskis Werk in der Tat auf der Rekonstruktion der Erinnerung der durch die Geschichte ›Untergegangen‹ und ›Geretteten‹, die einen Ausweg aus den Traumata suchten, die Deutschland geprägt haben und unter denen es gleichzeitig während der Zeit des Nationalsozialismus auch gelitten hat. 27 | Vgl. Ladenthin, Volker (Hg.): Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis, Eitorf: gata 2001. 28 | Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen: Sechs Streifzüge durch die Literatur, München: dtv 1999, S. 19. Zur idealen bzw. aktiven Rolle der Leser in den Romanen der Deutschen Chronik, vgl. Stockhorst, Stefanie: »Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis ›Deutsche Chronik‹ als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort«, in: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski – Literatur und Erinnerung. Eine Bilanz, Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 423442. 29 | Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S 19-22.

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Daher ist die Verwendung von Fotografien bei der Rekonstruktion der Vergangenheit im Raum der Montage bei Kempowskis Echoloten dienlich. Ganze Abschnitte der kollektiven Tagebücher Kempowskis setzen sich aus Bildern aus dem ›Archivs für unpublizierte Autobiographien‹ zusammen, welche mit dem Text im Dialog zu stehen haben. Denn gerade in der dialektischen Visualität der Erinnerung oder vielmehr der literarischen Wiedergabe der Vergangenheit durch die Umschreibung von Bildern und visualisierten Erinnerungen,30 die dem individuellen, kollektiven und kulturellen Gedächtnis der Deutschen entstammen, findet Kempowskis archivarisches Wirken seinen Ausgangspunkt. So wie die Deutsche Chronik auf Fragmenten beruht, die Bilder aus dem individuellen und kollektiven deutschen Gedächtnis übertragen, so halten auch die kollektiven Tagebücher des »Echolot-Projektes« Fotografien, Zeugenaussagen und Dokumente aus der Vergangenheit in einem »Chor der Leidenden«31 protokollarisch fest. Beiden Werken liegt daher die Überlegung zugrunde, die Kempowski in Culpa zum Ausdruck bringt und die eine regelrechte Entstehungsgeschichte des »Echolot-Projekts« darstellt, welche besagt: »Wir stecken noch im rein Dokumentarischen. Es muß zusammengeschoben, verdichtet werden.«32 Was die Behandlung der Abbildungen in den Echoloten betrifft, ist »die Rückkehr der Toten« jeder Fotografie der kollektiven Tagebücher Kempowskis inhärent,33 anderseits sind aber Fotografien Dokumente der materiellen und psychologischen Zerstörung Deutschlands, weil sie etwas belegen, was wirklich »so-gewesen« (ebd.) ist, und bestätigen, dass »[i]m Frühjahr ’45 […] Tag für Tag ein Abschnitt deutscher Kultur in Flammen auf[ging]«.34 Gerade in der Verwendung der Bilder tritt auch dieselbe 30 | Vgl. hierzu Calzoni, Raul: »›Du solltest im »Familienton« schreiben‹: Walter Kempowskis Deutsche Chronik«, in: Simone Costagli/Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München: Wilhelm Fink 2010, S. 97-108. 31 | Zum Bild des »babylonischen Chores« des Echolots-Projekt als »Chor der Leidenden« vgl. Hage, Volker/Kempowski, Walter: »›Das hatte biblische Ausmaße‹: Walter Kempowski«, in: Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 198-199. 32 | W. Kempowski: Culpa, S. 185. 33 | Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. 34 | W. Kempowski: Culpa, S. 34.

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Konnotation zutage, die sich aus dokumentarischen Daten in der Literatur Kempowskis ergibt: In der literarischen Produktion dieses Schriftstellers kommt den Fotografien die Aufgabe des Vermittlers zur Welt der Toten zu, wobei der Leser gleichzeitig zur Vertiefung der Geschichte veranlasst wird. Außerdem erhalten die Fotografien im engeren Sinn des Wortes im »Echolot-Projekt« den Stellenwert eines ›Dokuments‹, indem sie die in den Aufzeichnungen der einzelnen Tage in den kollektiven Tagebüchern übermittelten Informationen bestätigen. In Kempowskis Werken erlangen aber die Bilder auch die Macht der Zerstörung der Erinnerung. Im Gegensatz zu den Texten, welche die Wirklichkeit fingieren oder verfälschen können, bestätigen die Bilder in den kollektiven Tagebüchern Kempowskis jene Eigenschaft von Fotografien, die Roland Barthes als das »Esist-so-gewesen« beschrieben hat.35 Kempowskis Nachdenken über das fotografische Mittel stimmt also auch mit folgender Überlegung Susan Sontags überein: »Fotos liefern Beweismaterial. Etwas, wovon wir gehört haben, woran wir aber zweifeln, scheint ›bestätigt‹, wenn uns eine Fotografie etwas davon zeigt.«36 Der Leser nimmt jedoch die Fotografien des »Echolot-Projekts« nicht nur als bloße Instrumente der Verkündigung einer vorgängig existierten Wirklichkeit wahr, sondern auch als Medien von Erkenntnis und Erziehung, wie Kempowski in Culpa notiert: »Heute früh Fotos geordnet, Negative eingetascht, eine unangenehme Arbeit. […] Die weiter zurückliegenden haben einen größeren Zauber, das ist klar. Sich dazu erziehen, schon in der Gegenwart das Bleibende auszumachen.«37 Die bildlichen Zeugnisse der Zeit stellen daher eine ganze Welt dar, sie gewinnen ihren Sinn aus sich selbst und können sich erst in ihrer Gesamtheit als (inter)textuelle Welt spiegel- und sinnbildlich erweisen. Der Leser soll sich mit einem Archiv bzw. mit einer Konstellation von Bildern 35 | Vgl. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 5: »Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenzen haben, aber diese Referenzen können ›Chimären‹ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen lässt sich in der Photographie nicht leugnen, daß die Sache da gewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (noema) der Photographie ansehen […]. Der Name des Noemas der Photographie sei also: Esist-so-gewesen oder auch: das Unveränderliche.« 36 | Sontag, Susan: Über Fotografie, München/Wien: Hanser 1978, S. 11. 37 | W. Kempowski: Culpa, S. 57.

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und Texten konfrontieren, die er durch eigenes Ergänzen zu einer Einheit bringen muss. Das »Mosaik«38 von Bildern und Dialogen aus der Vergangenheit bietet sich in der Tat als ein Erinnerungsraum an, wo der Leser sich mit der Geschichte auseinandersetzen soll. Kempowski, der alles von allen Seiten beleuchten möchte, lässt, auf die Intelligenz des Lesers vertrauend, die Stimmen und die Bilder aus der Vergangenheit ihr Echo in den Köpfen heutiger Leser finden. Die Abbildungen nehmen im »Echolot-Projekt« daher die Züge individueller oder kollektiver »Gedächtnisbilder« an, welche die Vergangenheit anders als die Texte bewahren.39 In Kempowskis Echolote geht es folglich um die Aufarbeitung des individuell Erlebten, die Geschichte der einfachen Leute und die Untersuchung der Auswirkungen der Geschichte auf das Leben des Einzelnen anhand von Bildern aus der Vergangenheit, die handschriftliche Fragmente des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses der Deutschen klar umreißen. Der Schriftsteller hat den Erzählraum zu einem »funktionalen Gedächtnisort« im Sinne Pierre Noras werden lassen, in dem die Verletzbarkeit des Lebens angesichts der Vergänglichkeit der Zeit aufgeführt und wo auf jene Zwischenräume zwischen individuellem Gedächtnis und Geschichte Licht geworfen wird, in denen die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit seinem ganzen traumatischen Ausmaß zum Vorschein kommt. Im »Vorwort« zum ersten Band der Sammlung Les lieux de mémoire, das unter dem Titel Zwischen Geschichte und Gedächtnis in Deutschland erschien, schlägt der Historiker Pierre Nora eine bedeutende Dreiteilung von Gedächtnisorten »in der dreifachen Bedeutung des Wortes, im materiellen, symbolischen und funktionalen Sinn« vor.40 Zu den »funktionalen« Gedächtnisorten gehören nach Nora u.a. Autobiografien und 38 | Vgl. Schmidt, Arno: »Berechnungen I (Ein Werkstattbericht)«, in: Texte und Zeichen (1956), S. 115. 39 | Vgl. Kracauer, Siegfried: »Die Photographie«, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 28-29: »Die Photographie bewahrt nicht die transparenten Züge eines Gegenstandes, sondern nimmt ihn von beliebigen Standorten als räumliches Kontinuum auf. Das letzte Gedächtnisbild überdauert seiner Unvergeßlichkeit wegen die Zeit; die Photographie, die es nicht meint und faßt, muß wesentlich dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zugeordnet sein.« 40 | Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 32

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Tagebücher, die die Beziehung zwischen der Erinnerung und der Aufzeichnung problematisieren, andererseits zählt er ebenso Installationen, Archive, Filme und Kunstausstellungen hinzu, die darauf ausgerichtet sind, um an ein Ereignis zu erinnern, weil »auch ein offenbar rein materieller Ort wie ein Archivdepot […] erst dann ein Gedächtnisort [ist], wenn er mit seiner symbolischen Aura umgeben ist«.41 Die von Nora vorgeschlagene Untergliederung der Gedächtnisorte eignet sich gleichfalls hervorragend, um sich Kempowskis kollektiven Tagebüchern zu nähern, wobei man sich das Ziel stellen kann, den Erinnerungswert, den das Archiv im »Echolot-Projekt« als Instrument des Widerstandes gegen das Vergessen annimmt, zu untersuchen. Dem Wunsch sich eben dem Vergessen zu widersetzen, entspricht Kempowskis Wahl, dem Archiv eben nicht die Rolle zuzuschreiben, die ihm von Michel Foucault zugewiesen wurde. Nach Foucault stelle es »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann« dar.42 Auch im Widerspruch zur Foucault’schen Konzeption von Archiv, verstanden als Instrument der Unterdrückung, welches das Denken beeinflusst und konditioniert, weist der Rostocker Schriftsteller seinen Echoloten einen psychoanalytischen Erinnerungswert zu.43 Kempowski öffnet das Archiv der Möglichkeit, dem Ungesagten und dem psychologischen Unterbewusstsein, indem er es in etwas Größeres als einen Ort des Gesetzes, des Befehls oder des geschriebenen Wortes verwandelt. Er öffnet es, indem er die semantische Unentscheidbarkeit des Archivs in den Vordergrund stellt – wie Jacques Derrida unterstrichen hat, liegt diese semantische Unentscheidbarkeit zwischen »Herkunft« und »Ordnung« des Begriffs Archiv bereits in seinem etymologischen Ursprung aus dem Griechischen αρχή (»arché«) begründet.44 Kempowskis Perspektive scheint sich der Behauptung Boris Groys’ anzunähern, der im Archiv einen lebendigen Beweis der Er41 | Ebd. 42 | Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 186. 43 | Vg. Heuer, Gottfried M.: Freud’s ›Outstanding‹ Colleague/Jung’s ›Twin Brother‹: The Suppressed Psychoanalytic and Political Significance of Otto Gross, New York: Routledge 2017, S. 23. 44 | Eine interessante und umfassende Betrachtung zum Begriff Archiv bei J. Derrida findet sich in Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 1999, S. 343-347.

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innerung sieht und sich mit dieser These ebenfalls den Foucault’schen Überlegungen widersetzte. Es sei »in diesem Sinne auch durch die Zerstörung bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so daß nicht alle mögliche Aussagen in ihm formuliert gefunden werden können«.45 Wenn man sich auf diese Betrachtung stützt, kann man feststellen, dass das Archiv von Kempowski nicht nur als materieller Ort der Erinnerung angesehen wird, sondern auch als funktionaler und performativer Ort des Erinnerns:46 Zieht man die Überlegungen Aleida Assmanns hinzu, ist es möglich zu behaupten, dass für den Schriftsteller das Archiv nicht Ausdruck des »Speichergedächtnisses« ist, sondern zu einer Unterstützung des »Funktionsgedächtnisses« wird.47 Es wird zu einem dynamischen Katalogisierungsraum des Erlebten, in dem sich eine Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart entwickelt, welche das Archiv 45 | Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 179. 46 | Vgl. hierzu Damiano, Carla: »Tagebuch performativ – oder: Nicht immer schweigen die Toten. Die öffentlichen Lesungen aus Walter Kempowskis Echolot«, in: Philip Böttcher/Kai Sina (Hg.): Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck, Poetik, Werkstrategie, München: TEXT + KRITIK 2014, S. 240-254. 47 | Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck 2007, S. 56: »Diese Unterscheidung zwischen Kulturellem Speicher- und Funktionsgedächtnis lässt sich an der Institution des Kunstmuseums veranschaulichen, das in seinen Dauerausstellungen eine Auswahl von Bildern im Bewusstsein und Gedächtnis seiner Besucher verankert, während es in seinem Magazin über einen viel größeren Bestand an Werken aller Gattungen und Epochen verfügt. Ein solches Museum erfüllt immer schon zwei klar getrennte Funktionen: die des werthaften, geschmacksorientierten und geschmacksorientierenden Kanons einerseits und die des historischen Archivs andererseits. Konservierung und Pflege der Bestände sind also nur die eine Seite der Medaille des kulturellen Gedächtnisses, deren andere Seite die enge Auswahl, die aktive Wertschätzung und persönliche Anregung ist. Im Funktionsgedächtnis herrscht notorischer Platzmangel. Was dort hineingelangt – vom Kanon der biblischen Texte bis zum Kanon der Klassiker –, ist durch rigorose Verfahren der Auswahl hindurchgegangen. Diese Verfahren der ›Kanonisierung‹, die neben der Auswahl die Fixierung und Auratisierung von Texten und Bildern umfassen, sichern ihnen einen Platz im aktiven und nicht nur passiven kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft.«

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an ein »Kunstmuseum« annähert, bzw. zu einem Auf bewahrungsort für kulturelle und kollektive Erinnerungsfragmente macht, das mittels dem Gesetz des Vergleichs der Erneuerung eröffnet wurde: Jedes Ereignis des Neuen ist im Grund der Vollzug eines neuen Vergleichs von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde, weil niemandem dieser Vergleich früher in den Sinn kam. Das kulturelle Gedächtnis ist die Erinnerung an diese Vergleiche, und das Neue findet nur dann Eingang ins kulturelle Gedächtnis, wenn es seinerseits ein neuer derartiger Vergleich ist. 48

Durch den Vergleich verwandelt sich das Archiv in einen funktionalen Ort der kollektiven Erinnerung einer Gesellschaft und des kulturellen Gedächtnisses einer Nation. Die Derrida’sche Konzeption von Archiv49 wird somit völlig umgekehrt; im Fall von Kempowski ist es nicht das Archiv, welches die Erinnerung kontrolliert, im Gegenteil, es ist das Gedächtnis, welches die Themen im Inneren der Echolote bestätigt und determiniert. Die Erinnerung formiert die conditio sine qua non für die Montage selbst, zumal Kempowski das Archiv nicht auf einen sozialen Kontrollmechanismus reduziert, sondern es vielmehr zu einem funktionalen Raum zur Aufnahme des gelebten Lebens und traumatischer Verletzungen erhöht. Die Erinnerung vor dem Vergessen zu bewahren erweist sich nämlich als letztes Mittel des literarischen Schaffens Kempowskis, denn allein durch das Sich-Wiedererinnern an die Vergangenheit mittels der Stimme der Toten wird, basierend auf einer in die Gegenwart integrierten Vergangenheit, eine Verarbeitung der den Deutschen durch den Nationalsozialismus auferlegten und von ihnen erlittenen Traumata ermöglicht. Der tiefere Sinn von Kempowskis Echolote wird daher aus einer an Deutschland gerichteten Mahnung ersichtlich, um durch das Ausloten des eigenen kollektiven Gedächtnisses die Vergangenheit annehmen zu können. Wie W.G. Sebald in Luftkrieg und Literatur betont, gehe es hierbei um die Perspektive einer Annäherung an das Verdrängte, worauf Alexander Kluge bereits in seiner Sammlung Neue Geschichten anspielte: »Der Lernprozeß, der sich im nachhinein vollzieht, ist viel48 | B. Groys: Über das Neue, S. 49 [Hervorhebung R.C.]. 49 | Vgl. Derrida, Jacques: »Archive Fever. A Freudian Impression«, in: Diacritics 2 (1995), S. 9-63.

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mehr […] die einzige Möglichkeit, die in den Menschen sich regenden Wunschvorstellungen umzubiegen auf die Antizipation einer Zukunft, die nicht schon von der aus verdrängten Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre.«50 Zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, Begriffe, die laut Reinhart Koselleck die Dialektik der Geschichte ausmachen,51 befindet sich folglich der Ort eines Lernprozesses über die Vergangenheit, wo die Erinnerung an die Episoden des Zweiten Weltkrieges wieder aus den Abgründen der Vergangenheit hervorgeholt wird, obwohl es unmöglich sei, die Vergangenheit objektiv nachzuvollziehen. Es wird die Notwendigkeit bekräftigt, ›irgendwoanders‹ Zugang zu suchen, dort wo die Geschichte sich in ihrer Ganzheit zeigt. Dieser Ort ist das Reich der Toten und daher scheint für Kempowski die Feststellung besonders relevant zu sein, dass es für einen Schriftsteller möglich sei, die in Vergessenheit geratene Stimme der Verstorbenen wahrzunehmen und sie in den Erzählraum aufzunehmen. Die pädagogisch-dokumentarische Literatur Kempowskis bewegt den Leser, sich auf die Suche nach der Stimme der Toten zu begeben, mit dem Ziel, sich die Vergangenheit anzueignen und sie zu verarbeiten, was sich der Logik der Auslöschung der Erinnerung als Teil des natürlichen Verlaufs der Geschichte entgegenstellt. Aufgabe eines jeden Schriftstellers sollte es deswegen sein, diesen Worten und den Bildern der Toten zu lauschen und sie zu entziffern, um dadurch, einen pädagogischen Zweck verfolgend, die Stimme der Untergegangenen der Vergessenheit zu entreißen. Dabei helfen auch die Bilder bei Kempowski, denn sie gehören zur totenkultischen Archivpraxis des Autors, wie z.B. im letzten Abgesang ’45 betitelten Echolot, wo das Gefühl des nahen Endes der Feindseligkeiten durch sechzehn Fotografien, die diese »Abschiedssymphonie«52 von Hitlers Deutschland begleiten, verstärkt wird: Ein Fotografie Görings eröffnet den Band und nimmt den Reichsmarschall am 10.5.1945 »im amerikanischen Internierungslager

50 | Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München: Carl Hanser 1999, S. 76. 51 | Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Insel 1979, passim. 52 | So definiert Kempowski Das Echolot. Abgesang ’45, in: Ders.: Culpa, S. 348.

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in Augsburg beim Ablegen der Orden und Ehrenzeichen«53 auf, während eine Röntgenaufnahme von Hitlers Schädel dieses im Abgesang ’45 gestaltete »makabre visuelle Gruselkabinett«54 abschließt. Dazwischen liegen u.a. die Aufnahme der Leiche Himmlers, die Fotografie der von den Russen im Garten der Reichskanzlei gefundenen halbverbrannten Körper von Magda und Heinrich Goebbels und die der Kadaver der am 16.10.1946 in Nürnberg hingerichteten Nazis; es fehlt auch nicht das Bild von Albert Speer, der Tod und Prozessen entging, beim Arbeiten im Garten des Kriegsverbrecher-Gefängnisses in Berlin-Spandau, und das von Rudolf Heß, dessen Fotografie 1977 im Hof derselben Haftanstalt gemacht wurde. Wie »Gespenster«55 des untergegangenen Dritten Reichs gehen sie im »Totenhaus«56 des Abgesangs ’45 um und berichten über die verhängnisvollen Auswirkungen des nationalsozialistischen Wahnsinns. Das immer Wiederkehrende in diesen kollektiven Tagebüchern Kempowskis sind letztlich die Toten, die über eine dokumentarische Montage von Bildern und Texten ihre Geschichten erzählen, auf dass die Leser daraus eine Lehre für die Zukunft ziehen mögen. Somit könnte man diesen Beitrag schließen, indem man daran erinnert, dass W.G. Sebald in Luftkrieg und Literatur den dokumentarischen Werken Hans Erich Nossacks und Alexander Kluges eine besondere Rolle bei der Vergegenwärtigung des »deutschen Leidens« zuschreibt. Was Sebald darüber schreibt, knüpft tatsächlich an Kempowskis pädagogische und literarische Absichten gegenüber seiner totenkultischen Archivpraxis als Widerstand gegen das Vergessen an: »Im Dokumentarischen, das in Nossacks Der 53 | W. Kempowski: Das Echolot. Abgesang ’45, S. 2. 54 | Schallié, Charlotte: »Review of Walter Kempowski, Das Echolot. Abgesang ’45 – Ein kollektives Tagebuch«, in: H-German, H-Net Reviews 1 (2006), S. 2. Siehe: http www.hnet.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=13721145640208. 55 | Bei Siegfried Kracauer ist übrigens zu lesen: »Nun geistert das Bild wie die Schloßfrau durch die Gegenwart. Nur an Orten, an denen eine schlimme Tat begangen worden ist, gehen Spukerscheinungen um. Die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat […] Die schlimme Verbindung, die in der Photographie andauert, erweckt den Schauder.« S. Kracauer: »Die Photographie«, S. 31-32. 56 | Schneider, Wolfgang: »Babylonisches Gemurmel«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30.06.2005, S. 66.

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Untergang einen frühen Vorläufer hat, kommt die deutsche Nachkriegsliteratur eigentlich erst zu sich und beginnt mit ihren ernsthaften Studien zu einem der tradierten Ästhetik inkommensurablen Material.«57

57 | W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 71.

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Herta Müllers widerständige Collagen Friederike Reents Herta Müllers erste Collage kann man sich nicht ansehen. Sie und der ihr zu Grunde liegende Entstehungsprozess werden in dem frühen ›autofiktionalen‹1 Roman Reisende auf einem Bein (1989) lediglich beschrieben. Darin schneidet die unter typischen Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung2 (wie Ich-Dissoziation, Identitätsspaltung u.Ä.) leidende Protagonistin Irene aus einer Postkarte einen offensichtlich zufällig mitabgebildeten, abseits sitzenden Mann aus, was Ausgangspunkt einer Bildcollage wird: »Sie mußte lange suchen und vergleichen, bis zwei Photos zusammenfanden. […] Die Verbindungen, die sich einstellten, waren Gegensätze.«3 Ein Foto lässt sich jedoch partout nicht in das disparat ausgewählte, fragmentierte und zufällig zusammengesetzte Material einfügen, welches in der Tradition des Collage- und Montageverfahrens der avantgardistischen Bewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts einen neuen, heterogenen Zusammenhang herstellen soll: Das widerständige Bild aus einer Zeitung, das den toten Uwe Barschel zeigt (»Mord oder

1 | Die von Georges-Arthur Goldschmidt für die eigene Poetik übernommene Bezeichnung ›Autofiktionalität‹ bedeutet für Herta Müller mit den Worten Jorge Sempruns, dass »[d]ie Wahrheit der geschriebenen Erinnerung […] erfunden werden [muss]«, Müller, Herta: In der Falle. Drei Essays, Göttingen: Wallstein Verlag 1997, S. 21). 2 | Zu den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung vgl. etwa Herman, Judith Lewis: Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror, New York: Basic Books 1992, S. 7-32; Leys, Ruth: Trauma. A Genealogy, Chicago: The University of Chicago Press 2000, S. 1-17. 3 | Müller, Herta: Reisende auf einem Bein, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2010, S. 50.

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Selbstmord, man wußte es nicht«),4 wird von Irene schließlich entsorgt, da es sich in ihre Collage bzw. in ihr ohnehin sehr wackeliges Welt- bzw. Selbstbild nicht integrieren lässt. Doch auch die fertiggestellte Collage empfindet Irene als ›fremd‹, da sie »den Punkt traf, an dem das Lachen des Mädchens im Schaukelstuhl denselben Abgrund auftat wie der Tote im Anzug«.5 In dem sich öffnenden Abgrund, der sich als Leitmotiv bedrohlich durch den Roman zieht,6 sieht Lyn Marven eine »cipher for trauma«,7 sogar die ganze Erzählung lässt sich entsprechend lesen: Reisende auf einem Bein ist, so Brigid Haines, »a work which plays productively with trauma as ›Signatur der Moderne‹ on a number of levels«.8 Das Collagieren bildet so gesehen eine Strategie der Traumabewältigung: Während in der Erfahrungswelt der Protagonistin das Unheimliche in den Gegenständen selber sichtbar wird […], entstehen bei der Collage die Zusammenhänge, die zugleich Fragmentierungen und Gegensätze sind, durch die Handarbeit der Protagonistin, die damit ihre traumatischen Erfahrungen gebrochener Zu4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | So steht Irene bereits in der ersten Szene »[a]n den Treppen einer Steilküste, wo Erde bröckelte«, und betrachtet die dort aufgestellten Warntafeln mit der Aufschrift »Erdrutschgefahr«: »Die Warnung hatte […] zum ersten Mal wenig mit der Küste und viel mit Irene zu tun« (ebd., S. 7). An einer anderen Stelle erinnert sie sich an ein Schild, das, wie Müllers spätere Collagen, aus einem Text- und einem Bildteil besteht und das sie von einer Baustelle entwendet und anschließend in ihrem Zimmer aufgehängt hatte: »Auf dem Schild fiel ein Mann mit dem Kopf nach unten. Auf dem Schild stand: Gefahr ins Leere zu stürzen. […] Sie hatte die Warnung auf ihr Leben bezogen.« Ebd., S. 90. 7 | Marven, Lyn: »›So fremd war das Gebilde‹: The Interaction between Visual and Verbal in Herta Müller’s Prose and Collages«, in: Brigid Haines/Lyn Marven (Hg.): Herta Müller, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 135-152, hier S. 138. Vgl. auch Dies.: »›In allem ist der Riss‹: Trauma, Fragmentation, and the Body in Herta Müller’s Prose and Collages«, in: The Modern Language Review 100 (2005), S. 396-411. 8 | Haines, Brigid: »›The unforgettable forgotten‹: The Traces of Trauma in Herta Müller’s Reisende auf einem Bein«, in: German Life and Letters 55 (2002), S. 266281, hier S. 272.

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sammenhänge sowohl zum Ausdruck bringt als auch eingreifend-tätigend zu überwinden versucht: Collage als Leidensbild[,] aber auch Exorzismus und Widerstandsbehauptung. 9

Einzig das Bild des toten Uwe Barschel, das offenbar an den Kern ihres eigenen Traumas rührt, vermag Irene nicht zu bearbeiten, um auch damit irgendwann leben zu können. Die entlastende Funktion des Collagierens, die »Leichtigkeit«, hat Herta Müller später selbst verschiedentlich im Zusammenhang ihres eigenen Collagierens erwähnt.10 Man könnte auch sagen: Die collagierende Bearbeitung geht Hand in Hand mit der traumatheoretisch relevanten Durch- bzw. Verarbeitung. Die Beobachtungen zur Collage-Szene aus Reisende auf einem Bein verweisen auf – dies ist die Grundannahme folgender Ausführungen – ein grundlegendes Charakteristikum von Herta Müllers Collagen, nämlich auf deren Widerständigkeit in dreifacher Hinsicht: Erstens sind sie, nicht nur bei Irene, sondern im ›autofiktionalen‹ Umkehrschluss auch bei der Autorin, produktionsästhetisch Ausdruck einer selbsttherapeutischen Poetik des Widerstands gegen das erlittene Trauma. Zweitens verweigern sie sich gattungstheoretisch einer eindeutigen Zuordnung. Drittens leisten sie rezeptionsästhetisch dank ihrer Hermetik und Sperrigkeit Widerstand gegen das Verstehen. Um sich im Folgenden den konstatierten Widerständigkeiten hermeneutisch zu widersetzen, soll neben das für ihr Werk (und Leben) »unabdingbare[…] Deutungsmuster«11 Trauma ein noch näher zu definierendes reduktionsästhetisches Deutungsmuster gestellt werden, um das ebenfalls noch genauer zu explizierende Widerstandspotential dieser Kurz- und Kürzesttexte im Zusammenhang mit dem traumatheoretischen Ansatz herauszuarbeiten. Die Annäherung an die Widerstände beginnt werkästhetisch mit der Frage nach der Gattungszuordnung (1.), um von da aus den rezeptions- (2.) und schließlich produktionsästhetischen Aspekt (3.) in den Blick zu nehmen.

9 | MacGowan, Moray: »Reisende auf einem Bein«, in: Norbert Otto Eke (Hg.): Herta Müller-Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017, S. 25-30, hier S. 26. 10 | Vgl. Müller, Herta: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer, München: Hanser 2014, S. 231. 11 | Reents, Friederike: »Trauma«, in: N.O. Eke (Hg.): Herta Müller-Handbuch, S. 227-235, hier S. 228.

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1. G at tungstheore tischer W iderstand Herta Müllers Collagen, die inzwischen »einen integralen Teil ihres Werks«12 bilden, bestanden anfangs aus schwarzweißen Bildern und aus Zeitungspapier ausgeschnittenen Wörtern und entwickelten sich erst im Laufe der Zeit zu immer komplexeren Bild-Text-Kombinationen, die Reim und farbiges Wort- und Bildmaterial aus unterschiedlichen Medien enthielten. Trotz der seit der Antike nachweisbaren Affinitäten, Korrelationen und Korrespondenzen nicht nur zwischen Lyrik und Musik, sondern auch zwischen Lyrik und bildender Kunst hat man Müllers Collagen nicht von Beginn an als Lyrik betrachten wollen, obwohl ihre ersten Collagen, die 1991 im Essay-Band Der Teufel sitzt im Spiegel erschienen sind, gerade in keinem erkennbar direkten, also etwa nur illustrierenden Zusammenhang zu den Essays stehen. Dies führte dazu, dass zum Beispiel ihre Text-Bild-Einzeiler tendenziell als undefinierbares Beiwerk und nicht als eigenständiges lyrisches Gebilde in der Tradition etwa des Monostichons behandelt wurden. Immerhin hat Beverly Driver Eddy darauf hingewiesen, dass in ihnen bereits Prinzipien der späteren Collagen (Montage von Menschen und Objekten, von Gesichtern und Körperteilen) angelegt sind.13 Doch auch die Collagen aus der ersten Einzelpublikation im Band Der Wächter nimmt seinen Kamm (1993) wurden noch nicht als Gedichte, sondern entweder als hermetischer »Überlebenscode[…]« gelesen14 oder hinsichtlich ihres illustrativen15 und »dekorativen« Charakters bzw. ihres

12 | Dunker, Axel: »Collagen«, in: N.O. Eke (Hg.): Herta Müller-Handbuch, S. 7178, hier S. 71. 13 | Vgl. Eddy, Beverly Driver: »›Wir können höchstens mit dem, was wir sehen, etwas zusammenstellen‹: Herta Müller’s Collages«, in: Bettina Brandt/Valentina Glajar (Hg.): Herta Müller. Politics and Aesthetics, Lincoln/London: University of Nebraska Press 2013, S. 155-183, hier S. 158f. 14 | Growe, Ulrike: »Das Nicht-Sagbare schreiben im ›Überdruß der Münze die auf den Lippen wächst‹. Über Herta Müllers Der Wächter nimmt seinen Kamm«, in: Ralph Köhnen (Hg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten Herta Müllers, Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a.: Peter Lang 1997, S. 95-107, hier S. 105. 15 | Vgl. B.D. Eddy: »›Wir können höchstens mit dem, was wir sehen, etwas zusammenstellen‹ «, S. 160.

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intertextuellen Gehalts wahrgenommen16. Einzig Julia Müller hat in einer Reihe von Collagen aus dem Wächter-Band einen »kleinen Zyklus« ausgemacht, der den »Betrachtungsvorgang einer Karte beschreibt«,17 also poetologischen Charakter aufweist. Erst die Collagen des Bandes Im Haarknoten wohnt eine Dame (2000) hat die Forschung aufgrund der erkennbaren Versifizierung, des »rhythmischen Sprachgestus und [der] zahlreichen Reime« »als Lyrik« anerkannt.18 Doch einschränkend wird auch hier die weiterhin bestehende Tendenz zur Prosa sowie die mitunter fehlende Reim- und Versstruktur angeführt. Folgt man der inzwischen gängigen Definition von »Lyrik als Einzelrede in Versen«,19 so wirkt es doch befremdend, wie hier der Reim offenbar – wider besseres lyrikgeschichtlichen Wissens – als konstitutives Merkmal von Gedichten begriffen wird. Möglicherweise hängt diese Tendenz auch mit der sich angeblich zufällig konstituiert habenden Struktur bzw. der von Müller behaupteten rettenden Funktion20 der Reime zusammen, die Müller ihnen selbst zugeschrieben hat: »[Ich] nahm […] die Reime an, für die ich nichts getan hatte, die sich zufällig auf der Tischplatte getroffen hatten.«21 Was schon Brecht ironisch über Benns Montagetechnik gesagt hatte, dass nämlich in dessen Lyrik »Wörter zusammengeführt [würden], die sich sonst nie kennengelernt hätten«,22 verlagert Müller mit distanzie16 | Vgl. A. Dunker: »Collagen«, S. 74, 77. 17 | Müller, Julia: Sprachtakt. Herta Müllers literarischer Darstellungsstil, Köln: Böhlau 2014, S. 225. 18 | Ebd., S. 223. 19 | Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 59. 20 | »Wenn ich zum Verhör bestellt war, probierte ich auf dem Weg allerlei Reime aus, zum Beispiel: ›Mein Vaterland ist ein Apfelkern, man irrt umher zwischen Sichel und Stern‹. Ja, wenn man zum Verhör musste, war man zum Vaterland bestellt. Der Reim wusste Bescheid.« H. Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern, S. 49. 21 | Müller, Herta: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 56. 22 | Brecht, Bertolt: Notizen zu Gottfried Benn, 1933/34, in: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd 22.1, hg. v. Werner Hecht/ Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller, Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1993, S. 9.

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render, sich selbst als Urheberin negierender Absicht auf den Schneidetisch: »Es waren Worte, die einander kennenlernten, weil sie sich den Ort, wo sie lagen, teilen mußten. Ich konnte sie nicht wegjagen und kam auf den Geschmack des Reimens.«23 So wie Müller auf der Distanz zu den sich angeblich zufällig auf ihrem Tisch einfindenden Wörtern besteht, so bleibt auch die Forschung bei ihrer tendenziell skeptischen Haltung gegenüber der Literarizität zumal der frühen Collagen und spricht von einer »forcierten Literarisierung«,24 die mit der Publikation der Collagen in separaten Bänden einhergeht. Entgegen den um Distanz zum aktiven Anteil an der Entstehung der Collagen bemühten Selbstäußerungen der Autorin und den aus meiner Sicht wenig begründeten Zweifeln gegenüber einer eindeutigen Gattungszuschreibung plädiere ich aus den hier dargelegten Gründen grundsätzlich für eine Behandlung ihrer Collagen als Lyrik bzw. als lyrisierte Nanotexte mit Bildanteilen.25 Spätestens mit dem ersten Teil »Eine Nachricht die klar wie ein Messer war«26 aus dem Band Vater telefoniert mit den Fliegen (2012) und der dazugehörigen, im nächsten Abschnitt interpretierten Eröffnungscollage »ich ǀ bekam ǀ eine ǀ Nachricht ǀ die/klar ǀ wie ǀ ein ǀ Messer ǀ war,/ […]«27 stellt sich die Autorin deutlich in die lyrische Tradition, indem sie intertextuell den Bezug zu dem berühmten, von Hans Bender herausgegebenen Nachkriegs-Gedichtband Mein Gedicht ist mein Messer (1955)28 herstellt und poetologisch ihre von Norbert Otto Eke schon 1992 treffend bezeichnete »Ästhetik der Verwund(er)ung« zum Ausdruck bringt. Mithilfe ihrer dezidierten »Strategie der Befremdung« »in der Fluchtlinie ästhetischer Fraktalisierungen und Fragmentierungen«29 sollen eben nicht nur ihre Romane, sondern auch ihre collagierten Nanotexte verwundern 23 | H. Müller: Der König verneigt sich und tötet, S. 56. 24 | Eke, Norbert Otto: »Schönheit der Verwund(er)ung. Herta Müllers Weg zum Gedicht«, in: TEXT+KRITIK, 155 (2002), S. 64-79, hier S. 72. 25 | Zum Begriff »Nanotext« siehe zweiter Teil. 26 | Müller, Herta: Vater telefoniert mit den Fliegen, München: Hanser Verlag 2012, S. 5-43. 27 | Ebd., S. 7. 28 | Bender, Hans (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, München: List 1961. 29 | N.O. Eke: Schönheit der Verwund(er)ung, S. 64.

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und verwunden. Als Gegenentwurf zu makroskopisch angelegten, ›großen Erzählungen‹ bergen diese nicht nur das Potenzial, über ästhetische Kategorien wie Gattung nachzudenken, sondern entfalten auch – wie dies Agnes Bidmon anhand von Kafkas Zürauer Aphorismen gezeigt hat – »strukturell wie inhaltlich ein konstitutives Wechselspiel von ›kleinstmöglich‹ und ›größtmöglich‹«, indem »größte Themen und ethische Grundfragen auf kleinstem literarischen Raum« verhandelt werden und der Leser »durch sein buchstäbliches Nach-Denken zum Denken über sein Denken aufgefordert« wird.30

2. H erme tik und H ermeneutik : R eduk tionsästhe tisches D eutungsmuster Der Hermetik und Widerständigkeit, die sich bei der Lektüre von Herta Müllers Collagen auftun, stehen zwei immer gleiche formale Merkmale dieser für ihr Werk integralen Kunstform stabilisierend entgegen: die Machart aus Text- und Bildmaterial und das Postkartenformat, das aufgrund seiner räumlichen Begrenzung konstitutiv für die Kürze dieser Arrangements ist. Der selbstauferlegte Formzwang unterscheidet, so Müller, »die Collagen am meisten von gewöhnlichen Texten […]: der Platz ist begrenzt, der Rand der Karte ist das Ende der Geschichte«.31 Die von Beginn an vorhandene Unverständlichkeit der Collagen, die von der Forschung in die Tradition des Surrealismus und der Oulipo-Bewegung gestellt wurden, wird im Laufe der Zeit durch die zunehmende Farbigkeit, Lyrisierung 30 | Bidmon, Agnes: »Metaphysik unter dem Mikroskop. Franz Kafkas ›Zürauer Reflexionen‹ als prototypische Nanotexte«, in: Franz Fromholzer/Mathias Mayer/ Julian Werlitz (Hg.): Nanotextualität. Ästhetik und Ethik minimalistischer Formen (= Ethik – Text – Kultur, Band 13), Paderborn: Fink 2017, S. 191-206, hier S. 204f. 31 | H. Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern, S. 231. Dieser Formzwang erinnert an die Machart der Texte der französischen Autorengruppe Oulipo, zu denen der für die Entstehung der Atemschaukel so wichtige, mit Müller eng befreundete Oskar Pastior zählte. Zum anagrammatischen Charakter von Müllers Collagen vgl. Renneke, Petra: Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne, Heidelberg: Winter 2008, S. 272-279; Mitterbauer, Helga: »Ästhetische Hybridisierung: Verfremdungstechniken in Herta Müllers Die blassen Herren mit den Mokkatassen«, in: Gegenwartsliteratur 10 (2011), S. 75-92, hier S. 87.

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und die sichtbar werdenden intertextuellen Verweise abgemildert. Vor allem aus der Atemschaukel (2009) bekannte, prägnante Wörter wie »Heimweh«, »Mais«, »Schnee« oder »Kohle« tauchen wiederholt auch in den Collagen auf.32 Das ist nicht überraschend, zeichnen sich doch ebenso Müllers Prosawerke, angefangen bei der knappen allegorisch erzählten Geschichte Das schwäbische Bad (1981/84) bis hin zu den vergleichsweise kurzen Kapiteln in der Atemschaukel, durch ihren verdichteten, lyrischen Stil und, damit einhergehend, durch die Kürze und Prägnanz ihrer Sätze und Wörter aus. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang zudem die Titel und Kapitelüberschriften: die wiederkehrenden Neologismen (»Atemschaukel«, »Hungerengel«, »Hasoweh«33) und die prägnanten Sätze (als Titel der Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger [1992], der Essayband Der König verneigt sich und tötet [2003] und die Collagenbände Die blassen Herren mit den Mokkatassen [2005] und Vater telefoniert mit den Fliegen;34 als Kapitelüberschrift aus der Atemschaukel »Von den Phantomschmerzen der Kuckucksuhr«, »Der Kriminalfall mit dem Brot«, »Von der Tageslichtvergiftung« oder »Hast du ein Kind in Wien«35) zeichnen sich nicht nur durch surreale Bildlichkeit verdichtender Vergleiche und Metaphern »nach Art ihrer Collage-Texte« aus,36 sondern verweisen auch auf das Potential reduktionsästhetischen Verfahrens, das als Gegenstand in der germanistischen Forschung bislang ein ausgesprochen stiefmütterliches Dasein fristet. Was in der Überschrift als reduktionsästhetisches Deutungsmuster noch recht vage umrissen ist, formiert in der Forschung unter den allerdings nicht sehr viel deutlicheren Begriffen von»›Nanophilologie«, »Nanotextualität« und »Minimalismus«. Weder der Terminus 32 | Vgl. Monje, Herdis: »›Zwischen Bruchgold und Kohle‹. Zur Ästhetik und Motivik der Collage im Werk Herta Müllers am Beispiel von Vater telefoniert mit den Fliegen«, unveröffentlichte Masterarbeit, Bremen 2015. 33 | Müller, Herta: Atemschaukel, München: Hanser Verlag 2009, S. 86, S. 144 (»Vom Hungerengel«), S. 124 (»HASOWEH«). 34 | Müller, Herta: Der Fuchs war damals schon der Jäger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992; Dies: Der König verneigt sich und tötet; Dies.: Die blassen Herren mit den Mokkatassen, München: Hanser Verlag 2005; Dies.: Vater telefoniert mit den Fliegen. 35 | H. Müller, Herta: Atemschaukel, S. 97, 107, 164, 270. 36 | Steinicke, Hartmut: »Atemschaukel«, in: N.O. Eke (Hg.): Herta Müller-Handbuch, S. 59-67, hier S. 62.

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»Begrenzung« – als komplementierendes Gegenstück zum Terminus der die literarische Moderne konstituierenden »Entgrenzung« – noch der der »Reduktionsästhetik« sind bislang in der Forschung erprobt, geschweige denn etabliert. Die grundlegenden Beiträge zum Minimalismus stammen aus dem von Mirjam Goller und Georg Witte herausgegeben gleichnamigen Band (2001), zur Nanophilologie bzw. -textualität aus den Bänden von Ottmar Ette (2008) bzw. von Franz Fromholzer, Mathias Mayer und Julian Werlitz (2017).37 Myron Schneider hat in seiner in Heidelberg 2017 verfassten, noch unveröffentlichten Masterarbeit Maxima Minimalia »›Reduktion‹ als literarästhetische[n] Terminus« eingeführt.38 Bei Goller/ Witte werden formaler, semantischer und performativer Minimalismus unterschieden, was definitorisch am überzeugendsten in dem Aufsatz über ›[d]ie Ästhetik der Kurzsichtigkeit« von Caroline Schramm dargelegt wird. Sie unterscheidet, »ob ein Text Minimalismus (formal) zeigt, von ihm (semantisch) spricht oder selbst (performativ) so funktioniert«, wodurch der Minimalismus »zu einer Erzählweise, einem Erzählgegen-

37 | Aus dem Jahr 2001 stammt der slawistische Band: Goller, Mirjam/Witte, Georg (Hg.): Minimalismus. Zwischen Leere und Exzeß. Tagungsbeiträge des internationalen wissenschaftlichen Symposiums am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin vom 11. bis 13. November 1999 (= Wiener slawistischer Almanach: Unterreihe Intermedialität, Band 1), Wien: Gesellschaft zur Förderung Slawistischer Studien 2001; 2008 folgte der romanistische Band: Ette, Ottmar (Hg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania, Tübingen: Niemeyer 2008; und erst 2017 erschien der Band: Fromholzer, Franz/Mayer, Mathias/Werlitz, Julian (Hg.): Nanotextualität. Ästhetik und Ethik minimalistischer Formen, Paderborn: Wilhelm Fink 2017, der immerhin drei germanistische Beiträgen zu Kafkas Zürauer Aphorismen, zu ausgewählten Texten von Robert Walser und zum Spätwerk Günter Eichs enthält. 38 | Schneider, Myron: »Maxima Minimalia.« Reduktionsästhetische Verfahrensweisen in den Literaturen der Moderne, unveröffentlichte Masterarbeit, Heidelberg 2017. Schneider erprobt seine Verfahrensweisen interpretatorisch anhand von Rolf Dieter Brinkmanns Photographie und Samuel Becketts Breath und schließt mit einer Typologie reduktionsästhetischer Verfahrensweisen, in der er den »Minimalismus der Gewährung« (am Beispiel von Ezra Pound) und den »der Verweigerung« (Brinkmann) vom »werkimmanenten Minimalismus« (Beckett) unterscheidet.

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stand« bzw. zu »einem Erzählverfahren«39 wird, wobei nicht selten zwei oder sogar alle drei Arten minimalistischen Schreibens zusammentreffen. An die Stelle der von ihr proklamierten Ästhetik, die sich durch eine mit einem Mangel behaftete, eindimensionale und tendenziell statische Wahrnehmungsweise (Kurzsichtigkeit) auszeichnet, scheint mir der Terminus ›Reduktionsästhetik‹ aufgrund der dieser eigenen Mehrdimensionalität (Reduktion der Form, des Inhalts etc.) und Beweglichkeit besser geeignet, um die minimalistischen Tendenzen zu erfassen. Formal ist nach Schramm der Minimalismus, wenn er sich auf die Erzählweise bezieht, insofern, als dem Text etwas fehlt, er also Lücken aufweist, die eine »Stilistik der Kürze« etwa durch Auslassungen bedeuten kann oder aber den Textumfang betreffen, wie dies bei der Ellipse, der Brevitas oder der Aposiopese der Fall ist. Interpretatorisch schlägt Schramm zum einen eine »Lückentypologie« vor, »die sich aus der Frage nach der rhetorischen Verfasstheit und Funktion der Ellipsen ergibt«, zum anderen eine Beschreibung der entsprechend verdichteten Passagen. Im Hinblick auf die Brevitas im Rahmen eines Gesamttextes ist zu klären, ob der Text durch die Kürze mehr oder weniger aussagt. In aller Regel geht in literarischen Texten Verkürzung mit Verdichtung einher, die Texte werden »häufig nicht einfacher, sondern komplexer«.40 Doch gerade Ellipsen lassen sich in Herta Müllers Collagen gar nicht so oft finden, die weitgehend vollständigen Sätze sind häufig einfach gebaut und erzählen, in Ansätzen ähnlich der Machart von Haikus, eine kurze Geschichte, die wie eine kurze Momentaufnahme auf blitzt:41 »ich ǀ be39 | Schramm, Caroline: »Die Ästhetik der Kurzsichtigkeit: Minimalismus in Leonid Dobyčins Roman Gorod Ėn «, in: M. Goller/G. Witte (Hg.): Minimalismus und Exzeß, S. 249-278, hier S. 250. 40 | Ebd., S. 250f. Vgl. dazu auch Goldschweer, Ulrike: »Komplexität durch Minimalismus. Das Paradoxon des Minimalistischen am Beispiel von Vladilav Chodasevičs Sonett Pochorony«, in: M. Goller/G.Witte (Hg.): Minimalismus und Exzeß, S. 187-198. 41 | Zur Tradition des Haiku vgl. Beil, Ulrich Johannes: »Das ost-westliche Haiku. Anmerkungen zur kürzesten lyrischen Gattung«, in: F. Fromholzer/M. Mayer/J. Werlitz (Hg.): Nanotextualität, S. 115-129. An das Haiku (bzw. das Hokku oder Tanka) erinnern nicht nur die Kürze, sondern auch das naturhafte Sujet (»Spatzenschar«), die Einmaligkeit und Flüchtigkeit des Ereignisses sowie, in einem sehr weit gefassten Sinne, »ein ›schneidendes‹, trennendes Wort (kireji), das den Fluss

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kam ǀ eine ǀ Nachricht ǀ die/klar ǀ wie ǀ ein ǀ Messer ǀ war,/nur ǀ niedrig ǀ und ǀ stur ǀ und/wirr ǀ mehr ǀ wie ǀ eine ǀ Spatzenschar/vielleicht ǀ wenn ǀ man ǀ vergleicht.«42 Hier bestehen die Auslassungen vor allem im weitgehenden Verzicht auf Satzzeichen, die eindeutige Bezüge erschweren. Insofern bietet sich durchaus auch Wolfgang Isers rezeptionsästhetischer Ansatz der Leerstellen an, die »[i]mmer dort [sitzen], wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, […] die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen«.43 Die mit dem Bruch der Erwartung einhergehende Unbestimmtheit appelliert – und hier kommt der performative Minimalismus ins Spiel – an den Leser, diese aufzulösen. Über den Inhalt der Nachricht, ob man diesen nun als klar oder wirr begreift, lässt Müller den Leser im Unklaren. Es ist eine Kombination von Unbestimmtheiten und Leerstellen, die man mit Carsten Dutts Vorschlag für Günter Eichs späte Lyrik auch als »Breviloquenz des Verschweigens« bezeichnen kann. Wie bei Eich führt auch bei Müller das »Ausspielen metapoetischer Kargheit« nicht zu eindeutigen Aussagen, sondern zu Fragen, die »den hermeneutischen Widerstand des Verschwiegenen und seine Substanz« betreffen.44 Anders als bei Eich wird bei Müller jedoch die Komplexität durch die Verwendung bestimmter, an dieser Stelle nicht erwarteter Wörter noch gesteigert, wie der Vergleich eines Messers mit einer unterschiedlich, nur zum Teil sinnvoll attribuierten Nachricht (»klar«, »niedrig«, »stur«, »wirr«) zeigt, der qua Steigerung der Bildlichkeit (»Spatzenschar«) in der letzten Zeile (»wenn ǀ man ǀ vergleicht«) poetologisch reflektiert wird. des Haiku kurz unterbricht«, was hier das »Messer« wäre. Nicht zuletzt aufgrund der offensichtlichen Abweichung von der klassischen 5-7-5-Silbenstruktur lässt sich, wie dies Sabine Sommerkamp für eine Reihe »einflussreicher Autoren der deutschen Lyrik« festgestellt hat, ebenfalls bei Herta Müllers Collagen allenfalls von »Haiku-Momente[n]« sprechen; Sommerkamp, Sabine: »Die deutschsprachige Haiku-Dichtung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart«, in: Tadoa Araki (Hg.): Deutsch-japanische Begegnung in Kurzgedichten, München: Iudicium 1992, S. 79-91, hier S. 82. 42 | H. Müller: Vater telefoniert mit den Fliegen, S. 7. 43 | Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1976, S. 302. 44 | Dutt, Carsten: »Breviloquenz des Verschweigens. Metapoetische Lakonismen im Spätwerk Günter Eichs«, in: F. Fromholzer/M. Mayer/J. Werlitz (Hg.): Nanotextualität, S. 225-236, hier S. 229.

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Weil daneben implizit die Kürze des Textes (von der man bei einer Nachricht grundsätzlich ausgehen kann) thematisiert wird, ist der Minimalismus in diesem Fall nicht nur formaler, sondern auch semantischer bzw. thematischer Natur. Unter diesem versteht man ein Reden von Kürze, was allgemein betrachtet weitere Aspekte mit sich bringt, wie etwa »eine Topik des Mangels, des Wartens, der Sprachlosigkeit«.45 Die Nachricht als eine auf das Wesentliche konzentrierte, prägnante und möglichst objektive Mitteilung über etwas für den Empfänger Relevantes erfüllt zunächst die Anforderung nach Klarheit und Deutlichkeit sowie hier gar schmerzlicher Relevanz für den Empfänger (»klar ǀ wie ǀ ein ǀ Messer«). Doch schon folgen die Einschränkungen der Prägnanz, die Nachricht ist »nur ǀ niedrig ǀ und ǀ stur«, beides Zuschreibungen, die den Leser verwirren und die Objektivität in Zweifel ziehen lassen, was durch die Folgezuschreibung »wirr« bestätigt wird. Die Begreif barkeit der nunmehr wirren Nachricht wird schließlich visualisiert durch den kolloquial eingeleiteten Vergleich (»mehr ǀ wie«) mit einer »Spatzenschar«, also einer flatternden, piepsenden Ansammlung von kleinen, grau-braunen Vögeln, die sich nicht durch Exotik oder Hinterlist (wie etwa Papagei oder Elster), sondern durch Schlichtheit, Normalität und Leichtigkeit auszeichnen. Die auf den ersten Blick deutliche Nachricht leistet durch die verundeutlichenden Attribute und Vergleiche Widerstand gegen das Verstehen, und dies in einem doppelt rezeptionsästhetischen Sinne erneut im Hinblick auf einen performativen Minimalismus: für den Empfänger der Nachricht, das lyrische Ich, sowie für den Leser bzw. Betrachter der Collage. Letzterer ist nämlich zusätzlich mit dem Bildelement konfrontiert, das unterhalb der aufgeklebten Wörter einen ausgeschnittenen, ansonsten weitgehend konturlosen Torso zeigt, an dessen Gesicht lediglich Auge, Nase und ein Ohr angedeutet sind. Der oberste Teil des Kopfes wird verdeckt von einem rechteckigen weißen Ausschnitt, in dem sich ein frei schwebendes, dreidimensionales, mit gestrichelter Linie gezeichnetes, durchsichtiges Oval befindet, in dessen Innerem eine dünne Linie mit verdickten Enden platziert ist, die an einen schmalen Stock oder Knochen erinnern könnte. An dieser Stelle, wo Text- und Bildelement unvermittelt aneinanderstoßen, liegt rezeptionsästhetisch die größte Leerstelle. Es könnte sich um den Kopf des lyrischen Ichs handeln, über dem, gleich einer Gedankenblase, ein auf ein Symbol reduzierter Inhalt, möglicher45 | Ebd., S. 251.

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weise der der Nachricht, schwebt. Ausgerechnet der Mund, der für das Aussprechen einer Nachricht gebraucht würde, ist ausgespart. Zieht man das Deutungsmuster Trauma hinzu, so lässt sich in der diffus gehaltenen, zwischen Bedrohung und Leichtigkeit schwankenden Nachricht die Einschüchterungsstrategie eines Senders erkennen, der es auf diese Weise dem Empfänger verunmöglicht, über den Inhalt der Nachricht klar Auskunft zu geben. Um semantischen oder thematischen Minimalismus handelt es sich, wie bereits erwähnt, jedoch nicht nur, wenn die Kürze des Textes thematisiert wird, sondern auch, wenn Bereiche »des Mangels, des Wartens, der Sprachlosigkeit« berührt werden.46 Hierzu gehört etwa die Reduktion auf Gegenständlichkeit, wie dies in der Nachkriegsliteraturgeschichte am bekanntesten in Günter Eichs Inventur-Gedicht zu sehen ist, das den entbehrungsreichen Zustand des Kriegsheimkehrers lapidar festhält, indem das lyrische Ich mit deiktischem Gestus seine Habseligkeiten aufzählt: »Dies ist meine Mütze,/dies ist mein Mantel,/hier mein Rasierzeug/im Beutel aus Leinen. […] Dies ist mein Notizbuch,/dies meine Zeltbahn,/ dies ist mein Handtuch,/dies ist mein Zwirn.«47 Dieses dezidiert reduktionsästhetische Verfahren erinnert formal und inhaltlich an die Entbehrungen und die damit einhergehende Aufwertung einzelner Gegenstände bzw. täglicher Verrichtungen des Lagerinsassen Leo Auberg aus der Atemschaukel: Der Roman eröffnet mit dem Kapitel »Vom Kofferpacken« und den Worten »Alles, was ich habe, trage ich bei mir«, gefolgt von der lyrisierten Umformulierung »Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.« Er besitzt ein zum Koffer umfunktioniertes »Grammophonkistchen«, einen »Staubmantel vom Vater«, aber auch den im weiteren Verlauf mit Bedeutung aufgeladenen »weinrote[n] Seidenschal«48 sowie, später hinzukom46 | Ebd., S. 251. 47 | Eich, Günter: Inventur, in: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Band I: Die Gedichte. Die Maulwürfe, hg. v. Axel Vieregg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 35f. Die Topik des Mangels wird in der dritten und vierten Strophe noch verstärkt, in denen von Dingen wie »diese[r]/kostbare[…] Nagel«, die »vor den begehrlichen/Augen« der anderen Insassen verborgen werden, und solchen Dinge, die nicht einmal dem Leser bekannt werden wie nämlich »einiges, was ich/niemand verrate«, gesprochen wird. 48 | H. Müller: Atemschaukel, S. 7; vgl. auch das Kapitel »Der weinrote Seidenschal«, S. 179-182.

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mend, das in Müllers Werk bedeutsame »schneeweiße Taschentuch aus feinstem Batist«,49 das ihm eine Russin schenkt. Die Reduktion des Menschen auf das Wesentliche, besonders seine Arbeitsleistung, bzw. auf das, was er zu essen bekommt, kulminiert in der mathematischen Gleichung: »1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot«.50 Diese mathematische Gleichung ist nicht nur die Aussage über die Gleichheit zweier Terme, sondern in diesem Fall die Reduktion eines Sachverhalts auf durch logische Definitionen geschaffene abstrakte Strukturen. Die Collagen zeigen häufig diese Gegenständlichkeit in Text und Bild, wobei die Bildanteile meistens aus mehreren, häufig in sich fragmentierten oder verdrehten Gegenständen, Tieren, Menschen oder Landschaften bestehen, die zum Teil ohne Berührung nebeneinanderstehen oder miteinander kombiniert werden, zum Teil zu grotesken Wesen, die an die surrealistischen cadavres exquis erinnern. Auffallend sind die regelmäßig abgeschnittenen Halbgesichter der Menschen, ihre verdrehten Köpfe und die vom Körper abgetrennten Gliedmaßen, die, wie schon der Textanteil, Brüche, Risse und die schräge oder verdrehte Perspektive darstellen. Dass zwischen den Text- und den Bildanteilen manchmal, aber keineswegs immer eine Verbindung auszumachen ist, entspricht dem unter 3. noch genauer zu betrachtenden Merkmal des Montageverfahrens, das im Moment der Rekombination neu geschaffene Zusammenhänge sichtbar macht oder aber gerade die Zusammenhangslosigkeit ausstellt, mithin also auf die Arbitrarität von Verbindungen verweist. Betrachten wir diesbezüglich eine Collage, neben deren erste fünf Zeilen Text eine vertikale Bildcollage gestellt ist: »Der ǀ Tod ǀ ist/eine ǀ schmale/kahle ǀ Meterware./Grob geschätzt,/in den ǀ 176 ǀ verschieden/ hohen ǀ Zimmern ǀ der ǀ – Pappeln/wohnǀst ǀ du ǀ jetzt.«51 Das zusammengesetzte Bild besteht aus einem frei hängenden Kleiderbügel, daran aufgehängt ein dunkler Damenpullover, darunter, wie an einem dünnen Faden befestigt, eine graue Kappe und, noch weiter unten am Faden, ein schwarz-weiß karierter Hut, darunter dann eine fragil wirkende, schief stehende Leiter. Der danebenstehende »Tod« wird als »schmale/kahle ǀ Meterware« vorgestellt. Dieser nach einem bestimmten Maß erwerbbare, zugleich schmucklose und auf das Minimum beschränkte Tod bzw. das 49 | Ebd., S. 78. 50 | Ebd., S. 86, S. 91. 51 | H. Müller: Vater telefoniert mit den Fliegen, S. 31.

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dafür einsetzbare Seil wird als letzter Ort auch dem lyrischen Du zugewiesen: »wohnǀst ǀ du ǀ jetzt«. Erst in der Text-Bild-Kombination wird das bedrohliche Setting eines inszenierten Selbstmordes erkennbar, wo am Ende von der Person nichts mehr übrig bleibt als die (im Bild) am als Seil (oder Faden) vergegenständlichten Tod aufgehängten Kleidungsstücke. Wie häufig in Müllers Collagen gibt es autofiktional-intertextuelle Bezüge, hier zu den zweifelhaften Todesumständen der Protagonistin Lola aus der mit zeugnisliterarischen Elementen angereicherten Trauma-Erzählung Herztier (1994): Lola wird wie eine ehemalige Studienfreundin von Herta Müller mit einem Gürtel der Ich-Erzählerin aufgehängt gefunden, ihr angeblicher Selbstmord wird von dieser jedoch bezweifelt.52 Es ist deutlich geworden, dass die Übergänge zwischen den drei Arten des Minimalismus mitunter fließend sind, obgleich sich bei Müllers Collagen die performative Form auch in Reinform findet: Indem der frühe Band Der Wächter nimmt seinen Kamm als offene Postkartensammlung angelegt ist, werden die Textgrenzen »selbst zu einem produktiven Bestandteil des Textes«,53 da – trotz der Nummerierung auf den Kartenrückseiten – die Reihenfolge der Karten variabel ist. Die dekontextualisierten, ausgeschnittenen, nun aufgeklebten, also neu kontextualisierten Wörter verweisen auf ihre ursprüngliche Beweglichkeit, die sich in der Variabilität der Kartenreihenfolge widerspiegelt und die fragmentartige Anlage repräsentiert.

3. W iderstand gegen die (R e -)Tr aumatisierungen Auch wenn traumatische Erfahrungen den Menschen von Beginn an geprägt haben dürften, so gilt das 20. Jahrhundert aufgrund seines bis dahin nicht vorstellbaren Ausmaßes an Kriegsgräueln und Gewalttaten als »age of trauma«54 und lässt Trauma zum »neue[n] Deutungsmuster für

52 | Vgl. Müller, Herta: Herztier, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 42f. 53 | C. Schramm: Die Ästhetik der Kurzsichtigkeit, S. 252. 54 | Miller, Nancy/Tougaw, Jason: »Introduction. Extremities«, in: Dies. (Hg.): Extremities: Trauma, Testimony, and Community, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 2002, S. 1-24, hier S. 1.

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Moderne und Modernität«55 werden. Dass es als solches für Herta Müllers Werk (und Leben) »unabdingbar[.]«56 ist, gründet zum einen in den Bewältigungsversuchen der eigenen angstbesetzen Erfahrungen in der dörflichen, streng normierten Lebenswelt ihrer Kindheit bzw. in der auf Repression, Bespitzelung und Drangsalierung basierenden rumänischen Diktatur, zum anderen in der von ihr damit verknüpften und immer wieder bezeugten Nähe zu Autoren der Holocaust-, Lager- und Vertriebenenliteratur, mithin in der andauernden Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Gulag. Um die Traumatisierung abzubilden bzw. zu bewältigen, setzt sie künstlerisch den Machtstrategien und der erlebten Einengung im Mikrokosmos Familie und Dorf bzw. im Makrokosmos Diktatur eine »autofiktionale Weitung und Verschleierung«57 mit Hilfe des von ihr proklamierten »fremden, grenzüberschreitenden Blicks«58 entgegen. Jenseits der gekonnten Verschmelzung von Zeugnisliteratur und Trauma-Erzählung wie etwa im Roman Herztier und der innovativen, da metareflexiv strukturierten Erzählweise der ›Traumaerzählung‹ Atemschaukel soll es im Folgenden ausschließlich um den ästhetischen Widerstand gehen, mit dem sich die Collagen gegen das erlebte Trauma bzw. die Retraumatisierung behaupten. Diesen Kurztexten kommt »traumatheoretisch eine besondere Bedeutung« zu, »da in ihnen das Dissoziative, das Zerrissene und Fragmentierte nicht nur sprachlich und inhaltlich, sondern auch visuell zur Darstellung gebracht werden können«.59 Wie schon eingangs anhand der Szene aus Reisende auf einem Bein gezeigt, bildet das Collagieren (dort für die Protagonistin Irene) eine quasitherapeutische Strategie der Traumabewältigung zur Restabilisierung eines nachhaltig erschütterten Selbst- und Weltbildes. Die Collage ist, hier sei erneut Moray MacGowan 55 | Bronfen, Elisabeth/Erdle, Birgit R./Weigel, Sigrid: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster (= Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe, Band 14), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. III-XV, hier S. VII. 56 | F. Reents: »Trauma«, S. 228. 57 | Ebd., S. 231. 58 | Strømsnes, Siri: »Macht und Ohnmacht in Herta Müllers Roman Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet«, in: Helgard Mahrdt/Sissel Lægreid (Hg.): Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 119-131, hier S. 120. 59 | F. Reents: »Trauma«, S. 233.

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zitiert, »Leidensbild[,] aber auch Exorzismus und Widerstandsbehauptung«.60 Widerstand gegen das Trauma bzw. die Retraumatisierung wird, das soll nun abschließend exemplarisch gezeigt werden, formal auf der Ebene der graphischen und bildlichen Darstellung sowie der Fragmentierung und Neuzusammensetzung geleistet. Dass die zu Grunde liegenden Traumata diachron zunehmend durchgearbeitet werden, zeigen die Veränderung der Tonart, der Rückgang der Fragmentierung und die Verlagerung der thematischen Schwerpunkte. Zunächst verweisen ausgeschnittene Wörter und der dadurch entfernte ursprüngliche Verwendungszusammenhang grundsätzlich auf den zitathaften Charakter von Sprache als »einem immer schon gebrauchten und daher einerseits korrumpierten und gefährlichen, andererseits aber eben zugleich als einem gesellschaftlichen Material, das neu arrangiert werden kann, um dem Gedenken, Erinnern und Erleben, aber auch der Kritik Ausdruck verleihen zu können«.61 Aufgeklebt auf Postkartengröße, erinnern sie rein äußerlich an Droh- oder Erpresserbriefe, bei denen der Absender anonym bleiben möchte. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Müller in der Diktatur gemacht hat, kann man im Collagieren aber vor allem eine Anspielung auf die dort damals registrierten Schreibmaschinen zum Zwecke der Zuordnung anonym veröffentlichter, systemkritischer Stimmen sehen, weshalb auf das Aufkleben ausgeschnittenen Wortmaterials ausgewichen werden musste.62 Dass Müller auf Postkarten collagiert, wirkt vor dem Hintergrund der Diktaturerfahrung wie eine Verstärkung der Provokation, denn die Postkarte als modernes Medium gerade der nicht geheimen Kommunikation öffnet den potentiellen Leserkreis bewusst.63 Bereits in den dem Essay-Band Der Teufel sitzt im Spiegel beigegebenen Collagen finden sich solche, die von Brüchen, Rissen und Zerlegungen, 60 | M. MacGowan: »Reisende auf einem Bein«, S. 26. 61 | Patrut, Iulia-Karin: »Eigenlogische und historische Zeit in den transmedialen Collagen Herta Müllers. Memoria nach 1989«, in: Dirk Göttsche (Hg.): Critical Time in Modern German Literature and Culture, Oxford/Bern/Berlin u.a.: Peter Lang 2016, S. 209-231, hier S. 225. 62 | Vgl. A. Dunker: »Collagen«, S. 73. 63 | Müllers erste Collagen waren nach ihren eigenen Angaben von ihr selbst gestaltete Ansichtskarten, die sie, wenn sie unterwegs war, an Freunde verschickte. Vgl. H. Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern, S. 222.

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aber auch von Neuzusammensetzungen bestimmt sind. Das der Collage zu Grunde liegende Montageverfahren beginnt mit der Fragmentarisierung, d.h. die ausgeschnittenen Wörter werden zunächst aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen. Durch das scheinbar unvermittelte Nebeneinanderstellen, die darauf folgende (Re-)Kombination werden neue Zusammenhänge oder aber gerade Zusammenhangslosigkeit hergestellt oder suggeriert, was einem Opponieren gegen die ehemals von höherer Stelle verordneten, als sinnvoll gesetzten Strukturen und Muster entspricht. Die Autorin, so wäre der traumatheoretische Schluss, akzeptiert nicht mehr länger die qua Machtgefälle vorgegebenen Gefüge, sondern sprengt sie auf und schafft mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln (hier: den ausgeschnittenen Wörtern) eigene, schwer zugängliche, polysemantisch schillernde Gebilde. In der Lyrikgeschichte hat besonders Gottfried Benns Montagestil für Aufmerksamkeit gesorgt. Dieser sei »gekennzeichnet durch das unvorbereitete, abrupte, sich vielfach auf einzelne Zentralwörter, kurze Sätze oder Satzfragmente beschränkende, blockhafte Nebeneinander disparater Einzelinhalte«.64 Müllers Collageverfahren geht in dreifacher Hinsicht noch einen Schritt weiter, da sie erstens, wie bereits beschrieben, durch das Ausschneiden auf die Gebrauchs- und damit zugleich die Missbrauchsmöglichkeit von Sprache hinweist; zweitens geht es ihr, anders als Benn, nicht rein artistisch um den mal mythologisch, mal lebensweltlich aufgeladenen Klang- und Assoziationswert der montierten (Rausch-)Wörter, sondern aufgrund ihres autofiktionalen Ansatzes um die Darstellung und Verarbeitung individuell erlebten Leidens, es geht ihr nicht um die Verabschiedung der großen Welterklärungsmodelle, sondern um den Ausschnitt aus einer begrenzten, aber dadurch keineswegs übersichtlicheren Welt; drittens treibt sie, zumindest in ihren früheren Werken, die Fragmentierung auch auf der Wortebene weiter.

64 | Meyer, Theo: Kunstproblematik und Wortkombinatorik bei Gottfried Benn, Köln, Wien: Böhlau 1971, S. 272; vgl. auch D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 205-207; vgl. dazu zusammenfassend und vertiefend Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München: Beck 2004, S. 393-436.

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So werden manche Wörter, wie etwa »M|okk|at|assen« oder »Sch|leichen|gel« aus dem Band Die blassen Herren mit den Mokkatassen 65 durch starke Binnenfragmentierung in Kleinstteile zerlegt, wobei, wie Helga Mitterbauer gezeigt hat, etwa im Wort »Schleichengel« das mit dem Tod verbundene Wort »leichen« sichtbar gemacht wird,66 was – ähnlich dem todbringenden »Hungerengel« aus der Atemschaukel – dem »Sch|leichen|gel« eine über die engeluntypische und auf ungute Beweggründe schließen lassende Fortbewegungsart des Schleichens hinaus eine noch unheimlichere Macht zuschreibt. In derselben Collage wird der bei Müller regelmäßig für den Diktator stehende, nunmehr gestorbene »König« zu Lebzeiten (»als der König leb|te«) mit einem »HUND und einem K|alb« verglichen. Auch hier ergibt die Binnenfraktur traumatheoretisch betrachtet durchaus Sinn: Selbst wenn das Leben des Königs zwar durchtrennt (»leb|te«), der Diktator also tot ist, ist er in der Erinnerung (und im möglicherweise retraumatisierenden Albtraum) als grotesk anmutendes Triple-Wesen aus Hund, Kalb und Alb nach wie vor präsent. Trotz seines Todes können eigentlich schöne Erlebnisse wie ein Sommerregen im Maisfeld nur fragmentiert und als Bedrohung wahrgenommen werden, denn »alle Somme|rre|gen/lassen IHRE Sch|leichen|gel zwischen die/ Mais|ste|ngel«. Das Ausschneiden der Wörter und deren Zerfallen in ihre Bestandteile offenbart außerdem die »interkulturell-hybride Dimension von Müllers Texten«,67 denn »in vielen deutschen Wörtern sitzt was Rumänisches drin« und umgekehrt,68 was vor allem dem zweisprachigen Leser auffallen wird, aber auch dem, der sich mit Müllers sprachtheoretischen Texten wie den Essays In jeder Sprache sitzen andere Augen (2003) oder Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel (2011) beschäftigt.69 So bedeutet, wie sie in letzterem ausführt, im Rumänischen das Wort »nea« 65 | Die Seiten von Die blassen Herren mit den Mokkatassen sind nicht paginiert. Alle Zitate dieses Absatzes stammen aus dem Band. 66 | H. Mitterbauer: »Ästhetische Hybridisierung«, S. 89. 67 | A. Dunker: »Collagen«, S. 77. 68 | H. Müller: Das Vaterland war ein Apfelkern, S. 223. 69 | Müller, Herta: In jeder Sprache sitzen andere Augen, in: Dies.: Der König verneigt sich und tötet, S. 9-39; Dies.: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, in: Dies.: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, München: Hanser 2011, S. 96-109.

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sowohl »Schnee« als auch »Onkel«. »Schnee« steht bei ihr, von traumatisierenden Erfahrungen aufgeladen, für »Verrat«, denn es war der Schnee, der die Spuren zum Versteck verriet.70 Dieser doppelt konnotierte, qua Montageverfahren zum lebensbedrohlichen »Schneeverrat« 71 verdichtete Terminus taucht denn auch in den Collagen immer wieder auf, wie etwa in einer solchen aus Vater telefoniert mit den Fliegen, die mit der Zeile »in der Werkstatt« eröffnet.72 Es beginnt harmlos, an ein Kinderbuch erinnernd, »in der ǀ Werkstatt/des ǀ Apfels«, in der, wenn man so sagen kann, obstphysiologisch »ein zentrales ǀ Gehäuse« »gebaut« wird. In der darauf folgenden »WerkǀStatt ǀ der ǀ Dahlie« wird es schon unheimlicher, schließlich wird dort an einer »Nabelspirale« gearbeitet, was an die spiralenartig gedrehte Nabelschnur eines noch ungeborenen Kindes und mithin an einen vorgeburtlichen Eingriff oder gar Abbruch denken lässt. In der nächsten Werkstatt, in der »der ǀ Fliege«, sind die Anspielungen an den von traumatisierendem Hunger und Überlebensstrategien geprägten Lageralltag auf einmal überdeutlich: hier wird, offenbar von einem Lagerorchester, »Musik/der ǀ schreckdünnen ǀ Haut« gefertigt. Das Schreckensszenario kulminiert in der »Werkstatt ǀ der ǀ Lippe«, denn dort »wird ǀ ein/Schnee ǀ nach ǀ dem ǀ anderen ǀ gegen/die ǀ Kohle ǀ im ǀ Heimweh ǀ gebaut«. In Kenntnis des Schnee-Essays und der Atemschaukel wird deutlich: Die als Sprechwerkzeuge fungierenden Lippen begehen sprachkritisch betrachtet permanent Verrat, indem sie dem Sprecher oder dessen Zuhörern unaufhörlich Lügengeschichten erzählen; doch scheint auch hier, wie in der Atemschaukel, an die diese Passage stark erinnert, die rettende Funktion der Sprache auf, die eine Gegenwelt im Rahmen der von Zwangsarbeit (Kohleschaufeln) und Heimweh besetzten Lagerrealität erschafft und damit eine Bewältigungsmöglichkeit des Traumas bereithält. Ein Indiz für den therapeutischen Charakter des Collagierens, wie man ihn bereits bei Irene aus Reisende auf einem Bein beobachten kann, indem nämlich dadurch an Handlungsfähigkeit gewinnt, lässt sich grundsätzlich für das Collagenwerk von Herta Müller feststellen. Auch wenn die traumatisch verhafteten Themen (wie auch im übrigen Werk) ähnliche bleiben, so ist neben einer Veränderung der Darstellungsweise 70 | Ebd., S. 101. 71 | Ebd., S. 101f., 105. 72 | H. Müller: Vater telefoniert mit den Fliegen, S. 167.

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auch eine des Tons zu bemerken: Der zunehmend verwendete Reim und die gehäufte Farbigkeit lassen die Texte leichter erscheinen, hinzu kommen die mitunter verwendete kindlich-naive Erzählweise und die größere Distanz der Texte zu den traumatischen Ereignissen.73 Am markantesten ist aber der drastische Rückgang der Binnenfragmentierung auf Wortebene, was bedeuten könnte, dass die Fremdheit, Zerrissenheit und Brüchigkeit des Wahrnehmens nicht mehr ganz so drastisch zum Ausdruck gebracht werden müssen.

73 | Vgl. B.D. Eddy: »›Wir können höchstens mit dem, was wir sehen, etwas zusammenstellen‹«, S. 168f.

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Literarisches Erzählen in Zeiten narrativer Kommunikation Literatur contra Storytelling Judith Sarfati Lanter In La Littérature française au présent (2005) analysieren Bruno Vercier und Dominique Viart die großen Tendenzen der zeitgenössischen literarischen Formen. Sie konstatieren dabei eine Kontinuität und sogar einen Anstieg an erzählender Prosa1 und das trotz der – klischeehaften – Vorstellung, die französische Literatur sei dem Erzählen gegenüber feindlich eingestellt, im Unterschied etwa zur angelsächsischen Literatur, die der Prosa traditionell einen besonderen Platz einräumt. Die von Versier und Viart durchgeführte Untersuchung ermöglicht eine Korrektur dieses Bildes, aber sie unterstreicht auch, dass diese »Rückkehr zur Erzählung« innerhalb der französischen Literatur gleichzeitig dazu geführt hat, dass die Kritik verinnerlicht wurde, die in den Jahren zwischen 1960 und 1970 hauptsächlich seitens der Theoretiker der Gruppe Tel Quel und der Autoren des Nouveau roman im Hinblick auf die traditionellen Formen des Erzählens geübt wurde. Von dem Misstrauen gegenüber der Romanfigur, die Nathalie Sarraute in Zeitalter des Argwohns (L’Ère du soupçon, 1956) formulierte, von der Ablehnung des traditionellen Auf baus der Erzählung, die von Claude Simon theoretisiert wurde, oder auch von der Kritik an der Referenzillusion, die man bei Robbe-Grillet oder Roland Barthes findet, hätte die zeitgenössische Literatur also folgende Tendenzen geerbt: eine Bereitschaft zur Reflexivität, manchmal eine Tendenz zur Ironie, die ihre eigene Künstlichkeit sichtbar macht, in jedem Fall aber eine Disposition, das Verhältnis zur »Wahrheit« zu problematisieren. Diese ist nicht mehr 1 | Vercier, Bruno/Viart, Dominique: La Littérature française au présent, Paris: Bordas 2005.

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Voraussetzung des Textes, sondern wird durch den Text geschaffen und zum Forschungsgegenstand. Die »Wahrheit« hängt von der Erzählperspektive und dem Kontext ab, die vom Text festgelegt werden. Es ist also nicht erstaunlich, dass sich parallel zur neuen, seit 20 Jahren etablierten literarischen Strömung eine spezifische Forschung herausgebildet hat, die sich mit den kognitiven und ethischen Herausforderungen der Literatur auseinandersetzt. Diese Fragen zur Verknüpfung von Literatur und Wahrheit sind in den letzten Jahren durch die französische Forschungsdebatte um das »Storytelling« wieder belebt worden, verstanden als Technik der erzählenden Kommunikation, die dank der Verführungskraft des Textes die Aufmerksamkeit der Leser oder Hörer weckt. Dieser Begriff ist in der Tat mehrdeutig, wird aber von der Literaturtheorie in einem eher restriktiven und grundsätzlich negativen Sinne gebraucht und dem genuin literarischen Erzählen gegenüber gestellt – und dies nicht nur unter formalen Gesichtspunkten, sondern, wie wir im Weiteren sehen werden, auch unter ethischen Aspekten. Diese Gegensätze könnten dazu beitragen, das Engagement der Literatur in unserer gegenwärtigen Epoche der narrativen Kommunikation neu zu überdenken. Dieses Engagement übersteigt, wie noch zu zeigen sein wird, weitgehend die Grenzen der ›engagierten Literatur‹ und ermöglicht es vielleicht, spezifisch literarische Formen des Widerstands zu definieren. Eingangs scheint es zur Vermeidung von Missverständnissen wichtig, die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs »Storytelling« zu erläutern, um den präzisen Sinn herausarbeiten, den die Forschung ihm zuordnet. Anschließend ist es wichtig, sich die Herausforderungen der Debatte, die sich um den Gegensatz »Literatur vs. Storytelling«2 entfaltet 2 | Die Überlegungen zur Verbindung und zum Gegensatz zwischen Literatur und Storytelling haben in eine bedeutende Forschungsarbeit nach sich gezogen, die von Danielle Perrot-Corpet an der Université Paris-Sorbonne innerhalb des Laboratoire d’excellence OBVIL und des Centre de recherche en littérature comparée (CRLC) geleitet wurde. Das Projekt hat zu zwei interdisziplinären und internationalen Kolloquien geführt, die von Danielle Perrot-Corpet und mir (J.S.L.) organisiert wurden: »Littérature contre storytelling avant l’ère néo-libérale« (vom 10. bis zum 12. Juni 2015) und »Pratiques contre-narratives à l’ère du storytelling : littérature, audiovisuel, performances« (vom 22. bis zum 24. Juni 2016), deren Beiträge in Kürze veröffentlicht werden.

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hat, zu vergegenwärtigen, um in einem letzten Schritt zu zeigen, wie die Herausbildung einer Praktik, der des Storytelling, die sich mittlerweile auf alle Gebiete des Alltags ausgeweitet hat, dazu einlädt, die Literatur als ›kontranarrative‹ Kraft anzusehen, als eine neue Form des Widerstands, die sich einem falschen Gebrauch des Erzählens widersetzt.

1. S tory telling : D efinition (en) Der Begriff »Storytelling« hat, je nach Sprache und Disziplin, in der er angewandt oder aus der er betrachtet wird, verschiedene Bedeutungsdimensionen. Im Englischen impliziert der Begriff keinerlei ideologische Stellungnahme, sondern bedeutet im Allgemeinen »Erzählakt«. So hat vielmehr der Begriff narrative eine negative Konnotation (wohingegen seine Entsprechung im Französischen, récit (Bericht), ein neutraler Begriff ist) und somit scheint der Begriff narrative das Äquivalent der Bezeichnung »Storytelling« oder auch fiction im Französischen zu sein – da der Begriff fiction im weiteren und nicht spezifischen Sinn die Vorstellung einer Unwahrheit und Täuschung hervorrufen kann. Der Begriff hat auch nicht in jeder Disziplin die gleiche Bedeutung. In der Diskursanalyse ist der Begriff »Storytelling« noch recht neutral definiert, etwa im Sinne eines »Kommuniktionsakts«,3 der darauf zielt, das Interesse des Lesers anhand von denkwürdigen und normativen Erzählungen zu wecken. Im Bereich der Verwaltung und der Kommunikation wird das »Storytelling« zum Mittel der Rechtfertigung einer Aussage, das sich auf die pädagogischen und überzeugenden Aspekte der Erzählung stützt, also zu einer Art kollektiven Vorstellung der Realität.4 Der Begriff bezeichnet also nicht die Kunst des Erzählens im Allgemeinen, sondern vielmehr eine Kommunikationsmethode, die fortan in den Marketingagenturen erlernt, in Managementhandbüchern erläutert und in Ministerkabinetten weiterentwickelt wird. Es handelt sich um eine Methode, die die Macht der Erzählung für strategische Zwecke nutzt, um den Zuschauer, Leser oder Zuhörer zu überzeugen, sich einer be3 | Charaudeau, Patrice/Maingueneau, Dominique (Hg.): Dictionnaire d’analyse du discours, Paris: Seuil 2002, S. 92-93. 4 | Giroux, Nicole/Marroquin, Lissette: »L’approche narrative des organisations«, in: Revue française de gestion 6 (2005), S. 15-42.

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stimmten Botschaft anzuschließen. Diese teilweise explizite und oft implizite Botschaft ist der eigentliche Grund der erzählten Geschichte, die ihrerseits nur dazu dient, die Botschaft zu verpacken, sie zustimmungsfähig und, wenn möglich, begehrenswert zu machen, beispielsweise dies und jenes zu kaufen, den Einen oder den Anderen zu wählen, sich für sein Unternehmen aufzuopfern oder auch irgendeiner Hilfsorganisation Geld zu spenden. Christian Salmon hat in seiner 2007 erschienenen Studie Storytelling. La machine à raconter des histoires et à formater les esprits den Begriff »Storytelling« in genau diesem engen Sinne der »erzählenden Kommunikation« gebraucht.5 Seine Untersuchung hat das französische Publikum mit den neuen Entwicklungen der Erzählstrategien vertraut gemacht, die sich zuerst in den USA und später in Europa entwickelt haben. Salmon setzt diese Strategie eng mit dem bereits von Jean-François Lyotard erwähnten Ende der ›großen Erzählungen‹ und der neoliberalen Wende der 1990er Jahre in Beziehung. In diesem Sinn gehört das Storytelling in einen bestimmten historischen Kontext und ist hauptsächlich in Wirtschaft und Politik angesiedelt: Im Englischen entspricht es damit dem business storytelling und dem political storytelling. In Salmons radikaler Perspektive hat das Storytelling den Zweck, eine bestimmte Aussage durchzusetzen und keinerlei Alternativen zuzulassen, was im Gegensatz zu einem demokratischen Prozess steht, der auf Dissens und politischem Bewusstsein basiert. Man hätte es also mit einem neuen Instrument der Konsensfabrik zu tun, von der einst Edward S. Herman und Noam Chomsky in ihrer 1988 erschienenen, der politischen Macht der Massenmedien gewidmeten Studie Manufacturing Consent: the Political Economy of the Mass Media sprachen.6 Für Salmon ist die »Macht des Erzählens« eine logische Konsequenz der von Michel Foucault beschriebenen »Macht der Schrift«, die das Fundament der Disziplinargesellschaft darstellt. Diese »Macht des Erzählens« sei nicht nur in der Lage, die Bewegungsmuster, Handlungen und Gesten der Individuen zu speichern, sondern auch ihr Verhalten vor5 | Salmon, Christian: Storytelling. La machine à raconter des histoires et à formater les esprits, Paris: La Découverte 2007. Das Buch wurde ins Englische übersetzt. Vgl. Dies.: Storytelling. Bewitching the Modern Mind, übersetzt von David Macy, London: Verso 2010. 6 | Chomsky, Noam/Herman, Edward S.: Manufacturing Consent: the Political Economy of the Mass Media, New York: Pantheon Book 1988.

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herzusehen, ihre Geschichte zu profilieren und vorwegzunehmen. Diese kritischen Analysen des Storytelling gehören so gänzlich in den Kontext des performative turn der 1990er Jahre; sie befinden sich auf der Schwelle zwischen den von Foucault entwickelten Analysen in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses und dem aktuellen Konzept der Performativität, wonach die Effizienz des Storytelling als produktive – oder performative – Kraft der individuellen und kollektiven Realität betrachtet wird. Es handelt sich dabei nicht um ein vorherrschendes Narrativ im Sinne eines exklusiven Diskurses der Macht, sondern um ein Geflecht von konkurrierenden strategischen Diskursen, die alle aus einer performativen Sicht der Realität gespeist werden.

2. D ie E rz ählkunst im D ienste des S tory telling Das Storytelling ist also nicht nur eine bloße Innovation der Verkaufs- und Managementstrategien: Indem es die Macht der Erzählung ausnutzt, um die Erfahrung zu konfigurieren, um sie zu werten oder um Identifikation und Empathie hervorzurufen, verändert das Storytelling unser Verhältnis zur Welt, die wir durch den Filter der orientierenden Erzählungen wahrnehmen, die uns vorgegeben werden. Aber Salmons Untersuchung belässt es nicht bei dieser finsteren Feststellung. Er weist der Literatur die Rolle des Gegenparts zu, einer Art Widerstand, der in der Lage ist, diesen seiner Meinung nach artfremden Gebrauch der Erzählung zu bremsen. Man muss an dieser Stelle festhalten, dass die Literatur, die sich zu Recht in erster Linie von dieser Entwicklung der narrativen Kommunikation betroffen fühlt, in dieser Situation nicht nur selbst auf die Kunst des Erzählens zurückgreift, die ihr ja, wie wir leicht einsehen können, nicht exklusiv gehört, sondern auch Literaturtheorien als Garant für ihre Vorgehensweise und ihre Wirkungskraft hervorruft, die wiederum in anderen Kontexten adaptiert werden. Bei genauer Betrachtung einschlägiger Publikationen zum Storytelling-Management, wie etwa dem 2004 erschienen von Stephen Denning Squirrel Inc.: A Fable of Leadership through Storytelling, wird dies sehr deutlich.7 Oft kann man beobachten, wie versucht wird, sich Literaturtheorien anzueignen, was zu einer wahren Zweckentfremdung führt. 7 | Denning, Stephen: Squirrel Inc. A Fable of Leadership through Storytelling, San Francisco: Jossey-Bass 2004.

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Dies ist beispielsweise der Fall mit den Theorien von Paul Ricoeur: Sie werden von den »Storytellern« oft herangezogen, um die Macht der Erzählung herauszustellen, ausgehend von dem Begriff der »Erzählidentität«, wie ihn 9 der Philosoph in Die erzählte Zeit 8 und Das Selbst als ein anderer entwickelt hat. Aber dieser Begriff wird um den Preis einer großen Verzerrung übernommen und oft zu einem einfachen Identifikationsprozess reduziert, der die ethische Dimension verschleiert, die Ricoeur dem Erzählakt gibt und die er der ipséité (»Selbstheit«) zuordnet. Nur wenn wir in einem Erzählakt die ethische Verantwortung der Handlungen der Figuren übernehmen, kann man von erzählender Identität als wahrhafter »Selbstheit« sprechen. In den Publikationen über Management im Allgemeinen oder Business Storytelling im Besonderen wird die Theorie Ricoeurs zwar als Referenz gebraucht, dabei aber vollkommen ihrer Komplexität, die sie mit der ethischen Dimension verbindet, beraubt. Diese falsche Neuinterpretation Ricoeurs ist ein Paradebeispiel für den Dissens zwischen Verfechtern und Kritikern des Storytelling, sofern diese den ›Gegenerzählungen‹ eine ethische Funktion zuweisen. Dies ist allerdings nicht selbstverständlich und hat zu zahlreichen Missverständnissen geführt. So hat man die Infragestellung der Erzählmacht, wie sie vom Storytelling instrumentalisiert wird, als ein Bestreben missdeutet, innerhalb der Literatur selbst zwischen »guten Erzählungen« und »schlechten Erzählungen« zu unterscheiden. Dieser Vorwurf galt jenen, die eine Trennung zwischen Storytelling und literarischer Erzählung erwirken wollen – und er blieb, wie wir noch sehen werden, nicht der einzige.

3. K ritik der K ritik des S tory telling Die kritischen Stellungnahmen lassen sich im Wesentlichen drei Typen zuordnen: Die ersten Einwände basieren teilweise auf der Verwechslung zwischen Salmons Definition des Storytelling als »erzählende Kommunikation« im engeren Sinne und der Kunst, Geschichten zu erzählen, die 8 | Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit, übersetzt von Andreas Knop, München: Wilhelm Fink Verlag 1991. 9 | Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein anderer, übersetzt von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff, München: Wilhelm Fink Verlag 1996.

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den Lesern und Zuhörern gefallen, insbesondere im breiten Gebiet der fiktionalen Produktionen, der sogenannten Massenproduktionen (sowohl in der ›populären‹ Literatur, als auch in Fernsehserien, Videospielen, Kinofilmen usw.). Jacques Migozzi hat, unter anderem in seinem Artikel »Storyplaying: la machine à fabriquer ses histoires et à consoler son esprit«,10 den positiven Effekt der Massenliteratur auf ihre Leser betont. Migozzi sieht Salmons These als ein Zeichen des Elitismus, der die populäre Literatur und ihre sogenannten naiven Leser verachtet. Im Gegensatz dazu unterstreicht er die Macht, die jeder Leser hat, auf unterschiedliche Weise mit den etablierten Codes der Massenfiktionen zu spielen, um den pragmatischen Rahmen der Fiktion in eine spielerische, kathartische und emanzipatorische Erfahrung zu verwandeln – daher der Begriff Storyplaying. Migozzi übernimmt an dieser Stelle den Begriff der feintise ludique partagée, ein von Jean-Marie Schaeffer entwickeltes Konzept11. Migozzis Antwort auf Salmons These berücksichtigt allerdings nicht die Tatsache, dass die Macht des Storytelling sich in einem ernstzunehmenden pragmatischen Rahmen äußert und nicht in einer feintise ludique. Ausschlaggebend ist nicht die Macht der Erzählung (aller Erzählungen), ihren Leser mittels unterschiedlicher Immersionsvektoren zu fesseln, sondern die Instrumentalisierung dieser Macht, um das Verhalten der Leser zu manipulieren. Migozzis Einwand berücksichtigt nicht die Unterscheidung zwischen Coleridges berühmter willing suspension of disbelief (zeitlich begrenzt und den eigentlichen Charme der literarischen Fiktion ausmachend) und einem Zustand der Dauerfiktion, wie er vom Neo-Management (u.a.) ausgeht und den Hörer zum Glauben verpflichtet. Es scheint ersichtlich, dass die Frage des pragmatischen Rahmens der Erzählsituation (Rahmen der feintise ludique oder ernstzunehmender Rahmen) ein entscheidendes Kriterium ist, wenn man den Interpretationsspielraum in Betracht zieht, der dem Lesers einer Erzählung – unabhängig von deren Inhalt – gelassen wird. Der zweite Einwand, der gegenüber Christian Salmons Kritik am Storytelling geäußert wurde, stammt von Yves Citton und ist in seiner 2010 erschienenen Studie Mythocratie. Storytelling et imaginaire de gauche 10 | Migozzi, Jacques: »Storyplaying: la machine à fabriquer ses histoires et à consoler son esprit«, in: Diana Holmes (Hg.): Finding the Plot: Storytelling in Popular Fiction, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2013, S. 32-44. 11 | Schaeffer, Jean-Marie: Pourquoi la fiction?, Paris: Seuil 1999.

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wiederzufinden.12 Citton stimmt der von Salmon gestellten Diagnose zu, unterstreicht jedoch auch die Möglichkeit, die »Macht der Inszenierung der Erzählung« zwecks empowerment auszunutzen. Dem von ideologisch dominierenden Instanzen verbreiteten Storytelling könnte laut Citton mittels eines »linken Storytelling« widerstanden werden, um das Verhalten der Zielgruppe zu steuern. Die narrative Struktur sei die Grundform jedes Gedankengangs, der einer Handlung vorausgeht und könne aus diesem Grund auch eingesetzt werden, um eine politische Emanzipation zu erreichen. Problematisch an Cittons Reflexion ist aus Sicht der Literaturwissenschaft vor allem, dass er keinen Unterschied zwischen literarischer und außerliterarischer Fiktion macht. Diesen Einwand äußerte Françoise Lavocat in ihrer 2015 erschienenen Studie Fait et fiction.13 Citton mache aus der Erzählstruktur die »Form selbst jeglichen Gedankengangs, der einer Handlung vorhergeht«,14 aber er berücksichtige nicht die Besonderheiten der ästhetischen Fiktionen, insbesondere der literarischen. Die Bestimmung dieser ästhetischen Fiktionen ist es allerdings nicht, den Leser an Verpflichtungen zu binden oder ihn zum Handeln aufzufordern. Sie haben a priori kein vorbestimmtes pragmatisches Ziel. Françoise Lavocat kommt so zu dem, was ihrer Meinung nach die Besonderheit der ästhetischen Fiktionen und vor allem der literarischen Fiktionen ausmacht. Indem sie auf die fundamentale Rolle hinweist, die der Fiktion oft zugeschrieben wird – als Entwurf einer »möglichen Welt« oder auch als Schule der Empathie (bis hin zum Care) –, erinnert sie daran, dass die Fiktion in den vergangenen Jahren von der Moralphilosophie und der Kognitionswissenschaft als dem Individuum, der Gesellschaft, ja der Menschheit förderlich wiederentdeckt und zur Steigerung der ›Mitmenschlichkeit‹ herangezogen wurde. Sie betont allerding auch, dass die von der Fiktion provozierte Empathie uns nicht direkt zur Handlung einlädt und dass es einen fundamentalen Unterschied zu einer Empathie gibt, die von einer realen Situation hervorgerufen wird. Es könnte auch sein, dass die Empathie sich für eine fiktionale Figur freier äußert, weil man nicht handeln kann und deshalb keinen Einfluss auf diese hat. Die zur Schau gestellte Fiktion hätte sogar eine beschüt12 | Citton, Yves: Mythocratie. Storytelling et imaginaire de gauche, Paris: Amsterdam Verlag 2009. 13 | Lavocat, Françoise: Fait et fiction: pour une frontière, Paris: Seuil 2016. 14 | Vgl. Y. Citton: Mythocratie, S. 73.

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zende Rolle, die dem Leser die Möglichkeit garantiert, eine empathische Antwort ohne Risiko und ohne Verpflichtung zu entwickeln. Diese Hypothese würde es ermöglichen, eine Trennlinie zwischen dem Storytelling (Erzählung, die einen Übergang zur Handlung voraussieht und erzeugt) und den literarischen (oder künstlerischen) erzählenden Fiktionen zu ziehen, deren affektive und emotionale Effekte sich nicht in einer anschließenden Handlung äußern. In jedem Fall erklärt sie die Hypothese Cittons für ungültig. Dies führt mich zum dritten Einwand, der hinsichtlich der Kritiken des Storytelling von Françoise Lavocat geübt wird. In Fait et Fiction unterstreicht Lavocat die Tatsache, dass die Kritiker des Storytelling die Nichtdifferenzierung von Fakt und Fiktion in einer panfiktionalen Optik festmachen, die dazu tendiert, die Grenzen der Fiktion und folglich den Begriff der Fiktion selbst aufzulösen. Im Gegensatz zu den aus der Narratologie stammenden Kritiken, die darauf abzielen, die inhaltlichen Kriterien des Textes zu identifizieren, um daraus den fiktionalen Charakter abzuleiten. Die Hinweise für eine Fiktionalität sind für die Kritiker des Storytelling dem Text nicht inhärent; anders gesagt, es gibt nach ihrem Verständnis keinen der Erzählung innewohnenden Hinweis, der es ermöglicht, zwischen faktualer und fiktionaler Erzählung einerseits und zwischen Storytelling und literarischer Erzählung andererseits zu unterscheiden. Die Panfiktionalität, auf welche die Kritiker des Storytelling verweisen, erscheint einerseits wie eine Erkenntnis (die politische und soziale Sphäre wären von den lügenhaften Erzählungen des Storytelling eingenommen), aber auch wie ein Appell: Die Literatur sieht sich verpflichtet, gegen die trügerische Erzählung des Storytelling (das mentir faux), das wahrheitsstiftende Erzählen zu fördern (das mentir vrai, wie es Louis Aragon seinerzeit verteidigt und theorisiert hat). Diese Position vertritt beispielsweise Nancy Huston in L’espèce fabulatrice.15 In diesem Text verteidigt Huston die Idee, dass wir uns von Fiktionen ernähren, dass wir dank oder aufgrund der Fiktionen handeln und fühlen. Darin bestehe die Gleichheit zwischen Realität und Fiktion. Auf allerdings sehr manichäische Weise ruft Houston dazu auf, eine Unterscheidung zwischen nicht literarischen Fiktionen, die unabsichtlich und entfremdet sind, wie dem Storytelling – sie sagt beispielsweise, dass man Soldaten aufgrund schlechter Fiktionen in den Irakkrieg geschickt habe –, und literarischen 15 | Huston, Nancy: L’Espèce fabulatrice, Arles: Actes Sud 2008.

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Fiktionen, die willentlich und befreiend seien und die Individuen aus dem Einfluss der Ersteren lösen könnten. Françoise Lavocat, die die Verwischung der Unterschiede zwischen Fakt und Fiktion stark kritisiert, stellt eine Hypothese auf, die zum Nachdenken anregt. Sie führt aus, dass die Kritik des Storytelling aus politischer Sicht eine erstaunliche Umkehrung in der Aufwertung des Realen vornimmt und das obwohl sich die Kritiker des Storytelling oft dem Erbe der 1970er Jahre verpflichtet sehen. So hat sich in den Jahren zwischen 1970 und 1980 im Sinne von Derrida und Hayden White eine Auflösung der Binarität zwischen Realität und Fiktion durchgesetzt als eine progressive Option im Gegensatz zu einem konservativen Positivismus, der naiv genug ist, um noch an den überkommenen Begriff der Realität zu glauben. Aber nach dem zweiten Golfkrieg hat die Infragestellung des Storytelling diese Kluft verändert, und die negative Konnotation hängt nunmehr an den Begriffen Storytelling und narrative. Dies bedeutet also gleichermaßen eine Diskreditierung der Fiktion als Lüge und eine Rehabilitierung des Begriffs »Realität«. Hieraus erklärt sich die neue Funktion, die der Literatur zukommt. Der Schriftsteller soll von seinem Elfenbeinturm hinabsteigen und sich von nun an mit der Realität auseinandersetzen, womit die Literatur die Funktion bekäme, nicht nur die Welt zu beglücken, sondern sie zu dokumentieren. Wenn dies also eine der Antworten der dem Storytelling entgegengesetzten ›kontra-erzählenden‹ Literatur ist, kann man festhalten, dass dies bei Weitem nicht die einzige ist und dass es weniger die »Realität« ist, die ihr Prestige in der Literatur der letzten 20 Jahre wiedergefunden hat. Vielmehr gibt es eine Form von ethischer Anordnung der Wahrheit, die sich in allen erdenklichen Konfigurationen äußern kann. Man sollte auch die Idee des Panfiktionalen wiederaufnehmen, die Lavocat den Kritikern des Storytelling zuschreibt – und die sie ihnen vorwirft. Denn, selbst wenn dieser Vorwurf gegen Huston oder Citton zutrifft, vertritt Salmon doch insgesamt eine komplexere Position, wie selbst Lavocat einräumt. Gewiss betont Salmon, von der Kritik der Unternehmenswelt ausgehend, die Konvergenz zwischen Roman und Realität, sofern die Unternehmenswelt selbst auf Fiktionen beruht. Aber davon ausgehend definiert er die Kunst des Romans nicht als ein mentir vrai (gegensätzlich zum mentir faux der spin doctors), sondern als ein Spiel mit den Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wirklichem und Fiktivem, um diese Grenzen besser

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bestimmen zu können (anstatt sie zu vermischen, wiederum im Gegensatz zu dem, was die spin doctors tun). Vielleicht ist dies ein erstes Unterscheidungskriterium zwischen den literarischen Praktiken und den instrumentellen Praktiken der Erzählung in Zeiten des Storytelling. Und es ist ein umso interessanteres Kriterium, als es sowohl aus der Narratologie als auch aus der Kognitionsforschung stammt – diese setzt sich mit der Lesererfahrung und den einzelnen Stimulationen auseinander, die von dem Genre der Fiktion abhängen und denen der Leser ausgesetzt ist. In den literarischen Erzählungen äußert sich die deutliche Überschreitung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion die meiste Zeit in einer Metalepse, die als ein Übergang zwischen unterschiedlichen Erzählebenen definiert wird, etwa wenn eine fiktionale Figur in der Fiktion eine reelle Figur in der Fiktion trifft: Ein Beispiel hierfür wäre Roberto Bolaños Roman Los detectives salvajes,16 der ein Treffen zwischen einer fiktionalen Figur und dem Schriftsteller Octavio Paz inszeniert. Es scheint an dieser Stelle unumgänglich, zu einer genaueren Definition der ›kontra-erzählenden‹ Literatur zu kommen, einer ›kontra-erzählenden‹ Literatur, die versucht, der heutigen narrativen Umwelt zu widerstehen.

4. D ie L iter atur als ›K ontr a -E rz ählung ‹ Die Frage einer ›kontra-erzählenden‹ Widerstandskraft der Literatur soll weder als Gegensatz zum Erzählen noch als elitärer und reaktionärer Zufluchtsort der ›reinen Literatur‹, die bereits ihre Zeit hatte, gestellt werden. Sie soll sich auch nicht nur auf die ›engagierte Literatur‹ beschränken, wie sie Sartre seinerzeit definierte: Sie ist vielmehr ein Engagement der Literatur, das auf einer Abkehr des Zwangs und einem Ausweichen vor der Norm beruhen würde. Das bedeutet nicht, dass die von Lavocat hervorgebrachte Idee für ungültig zu erklären ist, laut welcher die literarische Fiktion uns nicht zum Handeln einlädt – somit erachten wir die Handlung Don Quijotes, nämlich der Zerstörung des Marionettentheaters zur Befreiung Melisandras, berechtigterweise als töricht. Es ist 16 | Bolaño, Roberto: Die wilden Detektiven, übersetzt von Heinrich von Berenberg, München: Carl Hanser Verlag 2002.

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die Tatsache, dass man in die Fiktion nicht eingreifen kann, die zu einer eigenen empathischen Antwort der fiktionalen Situation führt. Fortan liegt der Widerstand der Literatur vielleicht weniger in der Anstiftung zur Handlung, sondern vielmehr in einer Verweigerung zur Teilnahme, in einer Aufwertung der Rückzugshaltung, der Passivität (so hat man beispielsweise die Worte Bartlebys »I would prefer not to« auf Plakaten der »Occupy Wall Street« Bewegung lesen können) und in einer Verlagerung unserer Denkreflexe. Es handelt sich um eine schräge Form des Widerstands, wie sie in den letzten Jahren auf (mindestens) zwei unterschiedliche Weisen analysiert worden ist. Einige philosophische und literaturwissenschaftliche Strömungen propagieren die Idee einer Literatur, die es ermöglicht, über das Miteinander nachzudenken. So hat Thomas Pavel durch Symbolisierung und Inszenierung aus der Fiktion ein axiologisches Reflexionsinstrument gemacht.17 Die Theorien des Care machen aus der Literatur eine Möglichkeit, unsere Empathiefähigkeit zu erweitern. Martha Nussbaum verteidigt in diesem Rahmen ein affektives Lernen durch den Roman, der uns gleichzeitig ermöglicht, unsere Emotionen und unser Verhalten zu regulieren.18 In der gleichen Perspektive fügt Sandra Laugier in ihrer Studie Ethique, littérature, vie humaine interessante Hinweise hinzu,19 indem sie hervorhebt, dass die ethische Dimension, die durch die literarische Erzählung getragen wird, weder einen ideologischen Inhalt noch einen vom literarischen Material trennbaren spekulativen Gedanken hat, sondern »l’attention portée à la vie humaine ordinaire« (»dem gewöhnlichen menschlichen Leben gewidmet ist«). Es handelt sich um eine Ethik ohne Inhalt, die vielmehr der Skepsis zuzuordnen ist, die »la difficulté d’accès au monde, au réel« (»die Schwierigkeit des Zugangs zur Welt, zum Wirklichen«) berücksichtigt: eine Ethik, die an einem Erfahrungsaustausch und einer Sensibilisierung für den ›gewöhnlichen Menschen‹ festhält und an »ce qui est important dans l’ordinaire et dans le temps (le dérou-

17 | Pavel, Thomas G.: Fictional Worlds, Cambridge: Harvard University Press 1986. 18 | Nussbaum, Martha: Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities, Princeton: Princeton University Press 2010. 19 | Laugier, Sandra (Hg.): Ethique, littérature, vie humaine, Paris: Presses Universitaires de France 2006.

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lement temporel) d’une vie ordinaire«20 (»dem, was im Alltag und in der Lebenszeit [in der zeitlichen Abfolge] eines gewöhnlichen Lebens wichtig ist«). Diese Möglichkeit, dass sich über die literarische Fiktion eine neue Gemeinschaft des Austausches bilden kann, teilt der Literatur auch die Rolle der Demokratieerziehung zu, die radikal horizontal ausgelegt ist, da die Literatur ein Speicher an möglichen menschlichen Erfahrungen darstellt. In der zeitgenössischen französischen Literatur könnte man zweifellos die literarischen Praktiken zu dieser Kategorie zählen, die auf narrative Weise versuchen, die Lebensformen zu erfassen, zu denen man im realen Leben keinen Zugang hat – man denke beispielsweise an die von Pierre Rosanvallon gegründete Reihe Raconter la vie, die es jedem ermöglichen will, anhand von im Internet veröffentlichten Texten von seinem Leben zu erzählen, zu schreiben und gelesen zu werden.21 Sein Anspruch, der sich als demokratisches Ethos verstanden wissen möchte, ist es, den Lesern »den wahren Roman der heutigen Gesellschaft« zu offerieren. Mit einem größeren Anspruch hinsichtlich der Form kann man zu dieser Kategorie auch einen Großteil der zeitgenössischen Literatur zählen, der von den Geisteswissenschaften inspiriert wird: einer Literatur, die eine Art Ethnografie des sozialen Subjekts anstrebt, um bestimmte Lebensformen anhand von Details und Bedeutungslosem zu begreifen – man denke nur an bedeutende Autoren wie Pierre Bergounioux, Pierre Michon oder auch François Bon, deren Werke mitunter so eloquente Titel

20 | Ebd., S. 17. 21 | Vgl. Projektbeschreibung: http://raconterletravail.fr/squelettes/lib/pdfjs/ web/viewer.html?file=http%3A%2F%2Fraconterletravail.fr%2FIMG%2Fpdf%2Fp​ arlement_55-63.pdf (zuletzt aufgerufen am 7.05.2018). Man berücksichtige, dass dieses Projekt, weil es jeden dazu einlädt »zu erzählen« und sich damit nicht vom dominanten Vorbild der Erzählung abgrenzt, von einigen Kritikern des Storytelling ebenfalls stark kritisiert wurde. Siehe beispielsweise den kritischen Bericht von Joseph Confavreux, der auf Mediapart veröffentlicht wurde (https:// www.mediapart.fr/journal/culture-idees/050114/representer-les-invisibles-larepublique-devi​d ee), oder den Artikel von Marie-Jeanne Zennetti, »Les ›invisibles‹ peuvent-ils se raconter? L’entreprise ›Raconter la vie‹ entre ambition littéraire et soupçon de ›storytelling‹«, in: Comparatismes en Sorbonne 7 (2016): www.crlc. paris-sorbonne.fr/FR/Page_revue_num.php?P1=7.

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tragen wie Miette von Bergounioux, Vies minuscules von Michon oder Sortie d’usine von François Bon.22 Eine zweite Art, die Literatur als Widerstandsform zu betrachten, liegt darin, aus ihr kein Mittel des Austausches, sondern eine Frage des Dissenses zu machen. Der literarischen Erzählung wird also die Rolle zugeteilt, die demokratischen Normen kritisch zu hinterfragen. Auf diese Weise assoziiert Jacques Rancière in seinen Arbeiten die Literatur und die Politik über die gleiche Fragestellung des gemeinschaftlichen Raums. Die literarische Erzählung habe die Fähigkeit, störend zu wirken, unerwartete Neuordnungen und Neugestaltungen zu empfehlen, Diskurse zu unterwandern und uns davon abzubringen, Anerkennungspraktiken auszuüben. Für Rancière verbindet sich diese Fähigkeit der Literatur, störend zu sein, nicht mit einem ideologischen Inhalt: Die Literatur äußert keine Botschaft. Hier befindet sich also noch eine fundamentale Kluft zum Storytelling, aber auch zu einem Großteil der ›engagierten Literatur‹. In Politik der Literatur unterstreicht Rancière auch den Unterschied zwischen der Politik der Literatur und der Politik der Schriftsteller und ihres Engagements.23 Sie betrifft auch nicht die Art und Weise, wie diese die gesellschaftlichen Strukturen oder politischen Kräfte darstellen. Der Ausdruck »Politik der Literatur« bedeutet, dass die Literatur allein schon über ihre literarische Form selbst Politik betreiben kann. In Die stumme Sprache: Essay über die Widersprüche der Literatur schafft Rancière die Verbindung zwischen der Verwandlung des Romans und einer demokratischen Anarchie, die als polemischer Neugestaltungsprozess der Gemeinschaft und neue »Aufteilung des Sinnlichen« definiert werden.24 Wenn die Anarchie des Schreibens die Autorität und Stabilität der Romanaussage zerstört, wird der Roman zu einem Raum der Heteronomie, in dem sich die Spaltung der Standpunkte sichtbar macht. Diese Stärke der Literatur gründet für Rancière in der romantischen Revolution als Eintrittsdatum in das von ihm sogenannte »ästhetische Regime der Kunst«, das auf ein repräsentatives Regime mit konservativer Prägung folge. Die Be22 | Vgl. auch Bon, François: Feierabend, übersetzt von Edgar Völkl, Berlin: Aufbau 1987. 23 | Rancière, Jacques: Politik der Literatur, übersetzt von Richard Steurer, Wien: Passagen Verlag 2011. 24 | Rancière, Jacques: Die stumme Sprache: Essay über die Widersprüche der Literatur, übersetzt von Richard Steurer, Zürich: Diaphanes Verlag 2010.

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rufung der Literatur zum Widerstand ist also alt, wird aber im Zeitalter des triumphierenden Storytelling erneuert. Es handelt sich nicht nur darum, Minderheiten oder dissonanten Äußerungen eine Stimme zu verleihen, sondern darum, die Linearität und die persuasiven Absichten des Storytelling von innen heraus umzustürzen. Einige Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich des aufdringlichen Charakters und damit der Hegemonie der erzählenden Kommunikation bewusst sind, haben das Storytelling und seine Sprache in ihre Fiktionen integriert, um es besser zu entschlüsseln. Zusammenfassend lassen sich drei zeitgenössische französische Beispiele nennen: United Emmerdements of New Order von Jean-Charles Massera, Le Moral des ménages von Eric Reinhardt und Féérie générale von Emmanuelle Pireyre. Diese drei Schriftsteller versuchen, die Sprache des Storytelling aufzulösen, nicht nur, um seinen propagandistischen Charakter zu zeigen und ihn als Sprache des Feindes zu identifizieren, die im Gegensatz zu einer Sprache der Kultur, des Widerstands und des Schaffens steht, sondern insbesondere, um zu erkennen, dass diese Sprache auch unsere Sprache geworden ist, dass sie Einzug in unsere Reden, unsere Wahrnehmung und unsere Denkweisen erhalten hat. In den Texten von United Emmerdements of New Order ahmt Massera bis zur Absurdität die Sprache der Bürokratie und der Medien nach, um ihre Leere oder ihre Gewalt zu zeigen, so zum Beispiel bei diesem von einer Behörde stammenden Brief: Monsieur, J’ai pris bonne note de la destruction totale de votre maison. En cas de démolition pour défaut de permis de construire, ce qui semble être votre cas, les dommages causés par des bulldozers encadrés par un grand nombre de soldats et de policiers à votre quatre pièces, deux cuisines et trois salles de bains, n’entraînent pas droit à réparation. 25  25 | Massera, Jean-Charles: United Emmerdements of New Order, Paris: P.O.L. 2002, S. 106. »Sehr geehrter Herr, Ich habe die vollständige Zerstörung Ihres Hauses zur Kenntnis genommen. Im Falle eines Abrisses aufgrund fehlender Baugenehmigung, was hier der Fall zu sein scheint, besteht für die Beschädigung, welche durch von zahlreichen Soldaten und Polizeibeamten begleitete Bulldozer an Ihrer 4 Zimmer-2 Küchen-3 Badezimmer-Wohnung verursacht wurde, kein Anspruch auf Schadensersatz.«

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Im selben Ton eines pseudo-behördlichen Berichts sind der Wohlstandsverlust und die Schande der »infortunés du taux de change et du revenu«26 (»Verlierer des Wechselkurses und des Gehaltunterschieds«), also französischer Touristen, die aufgrund einer Schließung des Mont-BlancTunnels in der Schweiz festsitzen und darauf hin sehr schnell das Schicksal von Bürgern »d’un pays à monnaie faible qui essaye de voir c’que ça fait en euros la perte de sa propre identité« (»aus einem Land mit schwacher Währung, das versucht zu wissen, wieviel Euro es wert ist, seine eigene Identität zu verlieren«) kennenlernen. Diese Verschiebung, die eine Ironie schafft, ermöglicht es, die von dem Storytelling geschaffene Naturalisierung zu bekämpfen und die Sprache der Unterwerfung und Entfremdung hörbar zu machen, die das Storytelling zu verstecken versucht. In Le Moral des ménages lässt Reinhardt einen langen tragisch-komischen Monolog hören, der eine typische ›Nutella‹-Familie beschreibt, die zu einer Satire eines Mittelstands wird, der zwischen obsessivem Zusammenhalten des Haushaltsgelds und Konsumobsession hin- und hergerissen ist. Diese Konsumobsession wiederum zeigt sich als eine, die die Medien als Kriterium für den moral des ménages27 geschaffen haben: Faiblesse des dépenses d’énergie! Accroissement du taux d’épargne! Effondrement du moral des ménages! Cet article désignait ma mère avec une telle clarté qu’il n’était pas utile de dire son nom pour savoir qu’il s’agissait d’elle. Barbara Füller accusait ma mère frontalement d’avoir ralenti la croissance. Il aurait pu y avoir un encadré consacré à ses habitudes de consommation, une photographie l’aurait représentée dans sa cuisine épluchant des courgettes, vêtue d’une robe de chambre élimée, un économe à la main. 28 26 | Ebd., S. 53. 27 | Wörtlich: »Die gute Laune der Haushalte«. Im übertragenen Sinne bezieht sich der Ausdruck auf eine vom Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques regelmäßig durchgeführte Studie zur finanziellen Lage und zum Konsumverhalten der Privathaushalte in Frankreich. 28 | Reinhardt, Eric: Le Moral des ménages, Paris: Stock 2002, S. 62-63. »Niedrige Energieausgaben! Erhöhung der Sparquote! Einbruch des Konsumverhaltens der Haushalte! Dieser Artikel bezog sich so eindeutig auf meine Mutter, dass man nicht einmal ihren Namen erwähnen musste, um zu verstehen, dass sie gemeint war. Barbara Füller machte meine Mutter unverblümt dafür verantwortlich, das

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Wie bei Massera wird, ausgehend von der eingesetzten Polyphonie der Äußerungen, die Art herausgestellt, wie die medial vermittelten Darstellungen und Einflüsterungen uns durchdringen und prägen. Es geht bei Reinhardt und Massera darum, die Automatismen der Sprache aufzulösen und die ideologische Verankerung zu enthüllen. Pireyre hingegen geht in ihrer Arbeit anders vor, ganz ohne Parodie und ohne Ironie. In Féérie générale wird der Einfluss des corporate storytelling explizit thematisiert,29 aber ihm wird keinerlei kritische Rede entgegengestellt, um es zu untergraben. Pireyre stellt den Anziehungsund Faszinationskräften, die von der narrativen Linearität ausgehen, eine Vielzahl von kleinen Erzählungen gegenüber, die als unendliche Konstellationen einer vielfältigen und durchweg heterogenen Realität gezeigt werden. Die Resonanzeffekte, die bestimmte Protagonisten und Situationen miteinander verbinden, treten immer punktuell und zufällig auf und ermöglichen weder eine zusammenfassende Rekonstruktion der Gesamtheit noch einen eindeutigen Sinn. Es handelt sich in erster Linie um die Inszenierung einer Unzahl von Protagonisten – Träumern, Schöpfern, Bloggern, Fan-Fiction-Autoren usw. – und ihrer streng individuellen und persönlichen Strategien der Aneignung einer Sprache und eines Verbreitungsmittels (insbesondere Internet), die es einerseits ermöglichen, Wege für einen Übergang zu zeichnen und andererseits Wege eröffnen, den durch das Storytelling entwickelten stereotypischen Erzählungen und ihrer Zuweisungslogik zu entkommen. Es geht hier also nicht darum, sich der Erzählung als solcher entgegen zu setzen und die neoliberale und/oder vom Storytelling erhobene ›große Erzählung‹ anhand einer Überlagerung der Stimmen und Polyphonie-Effekte (wie bei Reinhard und Massera) umzustürzen. Vielmehr soll mit einer Vervielfältigung und Aufsplitterung der Erzählungen gespielt werden – und manchmal mit ihrer Unvollständigkeit, um das teleologische, didaktische und beschwichtigende Schema, das das Storytelling charakterisiert, zu behindern. Weniger als frontaler Widerstand gegenüber dem instrumentalen Gebrauch der erzählenden Kommunikation, sondern Wachstum gebremst zu haben. Es hätte auch einen Kasten in der Zeitung geben können, in dem etwas über ihr Konsumverhalten zu erfahren gewesen wäre, auf einer Fotografie wäre zu sehen gewesen, wie sie Zucchini schält in einem schäbigen Morgenrock, einen Gemüseschäler in der Hand.« 29 | Pireyre, Emmanuelle: Féerie générale, Paris: Éditions de l’Olivier 2012.

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vielmehr als Gesamtheit komplexer Erzählungen bietet sich das Schreiben hier an, bei der die Polysemie und die Zurückweisung einer Schließung des Sinns den Leser zur Wachsamkeit und Emanzipation einladen.

Zwischen den Zeiten Gegenwart und Vergangenheit als Vektoren der Gesellschaftskritik in Ulrich Peltzers Romanen Carola Hähnel-Mesnard Aufgefordert, über das Verhältnis von Ästhetik und Politik in der gegenwärtigen Literatur und in seinem Schreiben nachzudenken, antwortet Ulrich Peltzer 2009 für den Sammelband Widerstand des Textes mit »25 Thesen«. Gleich in der ersten These heißt es: »Das Feld des Politischen (in der Literatur) lässt sich nicht auf den Stoff, den Inhalt, die Fabel reduzieren«,1 und das Stoffliche könne, so Peltzer, höchstens mit Begriffen wie Resonanz, Korrespondenz und Aussparung zu greifen sein, keinesfalls mit Kategorien wie Relevanz, Parteinahme oder Dringlichkeit. Die dritte These bekräftigt dies noch einmal: »Alles Didaktische hat den Tod der Kunst zur Folge, und zwar unmittelbar.«2 Form und Sprache haben demnach eine ebenso große Bedeutung für das Politische und Widerständige in der Literatur wie die Tatsache, dass Stoffe nur in Resonanz mit dem gefunden werden können, was den Autor in einem ganz bestimmten Augenblick »affiziert«, wie es in den Frankfurter Poetikvorlesungen heißt: »Nicht gestern, nicht morgen, sondern nur heute, an einer flüchtigen Schnittstelle meiner Subjektivität.«3

1 | Peltzer, Ulrich: »25 Thesen«, in: Wilfried F. Schoeller/Herbert Wiesner (Hg.): Widerstand des Textes. Politisch-ästhetische Ortsbestimmungen, Berlin: Matthes&Seitz 2009, S. 14-22, hier S. 14. 2 | Ebd. 3 | Peltzer, Ulrich: Angefangen wird Mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Fischer 2011, S. 10.

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Das Heute, der entstehende Resonanzraum »zwischen einem Nochnicht und einem Nicht-mehr«4 sind Voraussetzungen für ein Schreiben, dessen Beginn eine Situation »radikaler Gegenwärtigkeit«5 ist. Elemente dieser Gegenwart, die in den Text eingehen und ihn bestimmen, begegnen dem Autor oft zufällig, und doch geben sie präzise Einblicke in die gegenwärtige Gesellschaft, ob es sich um die Beschreibung der im Komfort angekommenen Bobo-Vierziger in »Alle oder keiner« (1999) handelt, um die Reflexion hoch medialisierter Großstadterfahrung in Bryant Park (2002), um ein Nachdenken über die aktuelle Überwachungsgesellschaft in Teil der Lösung (2007) oder über globalisiertes Management in Das bessere Leben (2015). Es sind gegenwärtige Themen, die die jeweiligen Romane prägen und sie doch nur unzureichend kennzeichnen. Denn überall spielt auch die Vergangenheit eine entscheidende Rolle, sie hat die Protagonisten geprägt, entwickelt in der Erinnerung ihr kritisches Potential und beeinflusst die Jetztzeit. Dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Zeiten und Zeiterfahrungen, das auch einen folgenreichen Einfluss auf die Form der Romane und deren »Syntax« hat,6 soll der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sein. Dabei soll zunächst gefragt werden, wie Ulrich Peltzer die Wahrnehmung von Zeit, die einer bestimmten Gegenwart eigen ist, literarisch verarbeitet und dabei versucht, das Konzept der Moderne für die heutige Gegenwart weiterhin produktiv zu halten. Im Anschluss daran wird die Bedeutung der Vergangenheit, die Präsenz von Geschichte und Erinnerung, in Peltzers auf die Gegenwart orientierte Poetik interessieren, wobei zwischen der Vergangenheit als Zeitgenossenschaft und als Trauma unterschieden werden soll.

4 | Ebd., S. 164. 5 | Bender, Jesko: »Im Gespräch: Ulrich Peltzer. ›Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.03.2011. 6 | Vgl. U. Peltzer: Angefangen wird Mittendrin, S. 146, S. 168f.

Zwischen den Zeiten

1. Z eiterfahrung z wischen M oderne und S pätmoderne Ulrich Peltzers erste Frankfurter Poetikvorlesung mit dem Titel Die Dinge, der Alltag ist durchzogen von Überlegungen zum Thema der Zeit. Von Giambattista Vicos zyklischer Geschichtsphilosophie über Joyces davon inspiriertes Schreiben bis hin zu einer Poetik des Augenblicks und der modernen Erfahrung der Gleichzeitigkeit ruft der Autor Topoi auf, die den literarischen und künstlerischen Zeitdiskurs der Moderne prägten. Autoren und Künstler reagierten damit auf die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Vorstellung eines auf die Zukunft gerichteten, linearen und irreversiblen ›Zeitpfeils‹, Ausdruck einer nunmehr nicht mehr kulturell, sondern physikalisch dominierten Zeitvorstellung, die zu den Voraussetzungen des Zeitregimes der Moderne gehört.7 Diesem »zeitlichen Kontinuum« setzten Literatur und Kunst neue Formen entgegen, die die subjektive Zeiterfahrung und die Erlebnisgegenwart aufwerteten und dabei Flüchtigkeit, Plötzlichkeit und intensive Augenblickserfahrung in den Vordergrund stellten.8 Joyces Ulysses und Finnegans Wake, Virginia Woolfs Mrs Dalloway oder auch Italo Svevos La coscienza di Zeno, im Übrigen der »Lieblingsroman« des Protagonisten aus »Alle oder keiner«,9 sind mit den Worten Aleida Assmanns Zeitromane, die »traditionelle Erzählmuster [zerbrechen], um eine unmittelbare Erfahrung von Zeit zu ermöglichen«.10 Ulrich Peltzer schenkt in seinen Vorlesungen diesen Formen modernen erzählerischen Widerstehens gegen die gesellschaftlich dominante Linearität der Zeit eine besondere Aufmerksamkeit. Sein eigenes Schreiben, das an einem ganz bestimmten Punkt der Gegenwart einsetzt, jenem »irreduzible[n] Augenblick eines Ab-jetzt«,11 steht in der Baudelaire7 | Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Hanser 2013, S. 24. 8 | Vgl. hierzu Pause, Johannes: Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Köln: Böhlau 2012, S. 16. 9 | Peltzer, Ulrich: »Alle oder keiner«, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2013 (1999), S. 21. Im Folgenden abgekürzt mit (Aok) und Seitenangaben im Text. 10 | A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 52f. 11 | U. Peltzer: Angefangen wird Mittendrin, S. 146.

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schen Tradition von Flüchtigkeit, Plötzlichkeit und Kontingenz.12 Seine ersten Romane zeugen von einer starken Präsenz der Zeitvorstellungen der klassischen Moderne. So prägt die moderne Erfahrung der Gleichzeitigkeit Peltzers ersten Großstadtroman Die Sünden der Faulheit (1987) aus dem West-Berlin der 1980er Jahre. Bernhard Lacan, Musikredakteur bei einem Berliner Radiosender, ist ein Bohemien, den der Leser in den fünf Tagen und Nächten, in denen er ihn begleitet, selten anders als im Drogen- und Alkoholrausch erlebt. Ständiger Perspektivwechsel, mosaikähnliche Erzählfragmente und Dialoge geben dem Text eine Dynamik, die dem modernen Großstadtleben entspricht. Der Roman vertritt den Anspruch eines synchronen Blicks auf die Wirklichkeit. Lacan ist zwar der Protagonist, doch werden auch die Geschichten all der anderen Nebenund Randfiguren erzählt, die sein Leben streifen. Am besten wäre es dem Erzähler zufolge, »alle Geschichten [zu] erzählen, die an einem Abend in einer großen Stadt beginnen«, doch dann »bräuchte man nicht anzufangen«.13 Und doch laufen im Roman viele Geschichten zusammen, sie überschneiden sich oder verlaufen nebeneinander und bewirken, dass Zeit im Roman nicht als lineare Größe erscheint, sondern als Simultaneität, in diversen Parallelgeschichten anders erfahren. Stilistisch fallen zahlreiche Passagen aus der Syntax des restlichen Textes heraus und bringen durch kurze parataktische Parallelkonstruktionen eine solche Gleichzeitigkeit alltäglichen Erlebens in der Großstadt zum Ausdruck.14 Unterschiedliche Realitäten und Orte, die in keinem Zusammenhang stehen, werden zusammengedacht und nebeneinandergestellt – als gleichwertige, in einem bestimmten zeitlichen Moment erlebte Alltagserfahrungen, darin den im Dadaistischen Manifest geforderten simultaneistischen Gedichten nicht unähnlich. 12 | »La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent […]«, heißt es in Le peintre de la vie moderne. 13 | Peltzer, Ulrich: Die Sünden der Faulheit, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2013 (1987), S. 218. Im Folgenden abgekürzt mit (SF) und Seitenangaben im Text. 14 | Zum Beispiel: »Ilona war inzwischen mit einem Türken im Haus verschwunden, der Juwelier trank seinen dritten Raki, und der Gemüsehändler träumte von daheim. Es war Nacht.« (SF, 41) »Die große Stadt erwachte. Die ersten U-Bahnen waren überfüllt. Arbeiter fuhren zu AEG und Siemens, Putzfrauen zu den Großraumbüros am Fehrbelliner Platz. […] Auf der Potsdamer Straße wurden die letzten Abrechnungen gemacht.« (SF, 65)

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Auch Ulrich Peltzers zweiter Roman Stefan Martinez (1995) ist eine Hommage an die klassische Moderne. Vorbild für die Darstellung zweier Tage im Leben des Protagonisten ist Joyces Ulysses, der »[d]as Leben an einem Tag. ›In‹ einem Tag«15 erzählt, mit der Absicht, einige Menschen aus der Anonymität der Großstadt herauszuheben, sie durch die Darstellung ihrer jeweiligen Bewusstseinsprozesse aus dem linearen Fluss der Zeit herauszureißen. Auch hier wird Zeiterfahrung literarisch dargestellt, und zwar durch Verlangsamung, durch zeitdehnendes Erzählen, das die Großstadt Berlin in den Wahrnehmungen und Gedanken des Protagonisten spiegelt und auch dessen Entfremdung der eigenen Zeit gegenüber als Erfahrung der Moderne reflektiert. Stefan Martinez radikalisiert die bereits im ersten Roman eingesetzten Schreibverfahren, doch werden Wahrnehmungen, Gedanken, Geschichten der Figuren trotz eines stark nicht-linearen Erzählgestus und des Gesamteindrucks der Gleichzeitigkeit in einzelnen Erzählabschnitten nacheinander erzählt. Dies wird sich in den Romanen der späten 1990er und 2000er Jahre zunehmend ändern, da Peltzer zu einer komplexeren Syntax übergeht, zahlreiche Brüche in den Erzählablauf montiert oder wiederholt mehrere Erzählebenen in einem einzigen Satz verschränkt und teleskopartig aufeinanderstoßen lässt. Dabei ist es dem Autor wichtig, dass jeder Roman eine eigene Syntax aufweist und darin besondere politische Zusammenhänge zum Ausdruck bringt.16 Zu fragen wäre aber auch, inwiefern Peltzers Texte eine Bewegung durchlaufen, die der veränderten Zeiterfahrung des Übergangs von den 1980er in die 1990er und 2000er Jahre Rechnung trägt. Obwohl 1995 erschienen, bleibt Stefan Martinez ein Roman der 1980er Jahre. Vielleicht wurde er deshalb von der Literaturkritik als anachronistisch angesehen, doch zeigt der Roman einmal mehr, dass Schreiben ein sehr individueller Prozess auch zeitlichen Erlebens ist. Peltzer arbeitete acht Jahre am Roman und beschreibt diese Zeit als einen »biographische[n] Zwischenraum«, mit Zeiten größter Verlangsa-

15 | U. Peltzer: Angefangen wird Mittendrin, S. 25. 16 | Vgl. dazu Kleinwort, Malte: »Anfang Punkt Ende Punkt darin öffnet es sich springt auf. Syntax im Werden in Ulrich Peltzers ›Alle oder keiner‹«, in: Paul Fleming/Uwe Schütte (Hg.): Die Gegenwart erzählen. Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 95-111, hier S. 97f.

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mung, auch des Stillstands, dann der Beschleunigung.17 Die Gegenwart erzählen bedeutet nicht, unmittelbar auf Aktualität zu reagieren;18 eine Ausnahme stellen in Peltzers Werk lediglich die traumatischen Ereignisse um den 11. September 2001 dar, die in besonderer literarischer Form, »geradezu mimetisch als Einschlag einer neuen Erzählinstanz im Text«,19 in die Erzählung Bryant Park eingegangen sind. Mitte der 1990er Jahre fühlte sich der Autor jedoch noch »im Windschatten der Geschichte, der Weltgeschichte«, die an ihm »vorbeirauscht wie nichts«20 – ein Hinweis auf das neue Tempo, das die Figuren seiner kommenden Romane als Teil ihrer Gegenwart empfinden werden und das sich auch in einer erhöhten Erzählkomplexität ausdrückt. Peltzer, dessen Affinität zur klassischen Moderne eingangs beschrieben wurde, ist sich durchaus bewusst, dass die Darstellung der Gegenwart heute im Vergleich zu den traditionellen Avantgarden anderer Modalitäten bedarf. Die »alte Forderung Rimbauds«, »absolut modern zu sein«, sei auch unter veränderten Bedingungen »mit Inhalt zu füllen«, »insbesondere angesichts einer vernetzten Welt, die in ihrer Medialität, ihrer bildlichen Verdoppelung, in Techniken der Beschleunigung oft zu verschwinden […] scheint«.21 Diese Überlegungen sind sicher schon in die ersten beiden Romane eingegangen, deren Handlungszeit noch in den 1980er Jahren liegt, doch hat sich die globale Situation nach der geopolitischen Zäsur von 1989 in den 1990er und 2000er Jahren noch einmal verschärft, die Zeit, in der sich alle anderen Texte Peltzers abspielen. Wird der Begriff der Moderne selbst oft mit einer »Beschleunigung von Zeit« oder mit Geschwindigkeit gleichgesetzt, so beobachtet man nach dem politischen Umbruch von 1989 und der gleichzeitig erfolgenden digitalen Revolution der Kommunikationstechnik zwei gegenläufige, 17 | Peltzer, Ulrich: Vom Verschwinden der Illusionen – und den wiedergefundenen Dingen. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2008, Merzig: Gollenstein Verlag 2008, S. 32f. 18 | J. Bender: »Im Gespräch«. 19 | Bender, Jesko: »Den kommenden Terror erzählen. Ulrich Peltzers Bryant Park«, in: P. Fleming/U. Schütte (Hg.): Die Gegenwart erzählen, S. 141-156, hier S. 141. 20 | U. Peltzer: Vom Verschwinden der Illusionen, S. 35. 21 | U. Peltzer: »25 Thesen«, S. 18. Vgl. dazu auch die erste Poetikvorlesung in: U. Peltzer: Angefangen wird Mittendrin, S. 33.

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aber aufeinander bezogene Diagnosen und Diskurse in Hinblick auf das Zeitempfinden: auf der einen Seite die Wahrnehmung eines »Beschleunigungsschubs«, der noch stärker zu spüren sei als in anderen Phasen der Moderne, auf der anderen Seite »gesellschaftliche Erstarrung« und das Gefühl, es werde angesichts einer blockierten Zukunft nichts Neues mehr passieren.22 Paul Virilio fasst diese Konstellation bereits Anfang der 1990er Jahre im Begriff des »rasenden Stillstands« zusammen – auf der einen Seite eine immer schnellere Ereignisgeschichte, auf der anderen Seite ein Stillstehen der »ideendynamischen Entwicklung«.23 Für dieses Stillstehen, diese Stagnation der Gegenwart hat Hans Ulrich Gumbrecht den Begriff der »breiten Gegenwart« eingeführt: eine Gegenwart, die keinen offenen Zukunftsoptionen mehr entgegensieht, die dank elektronischer Gedächtnisleistungen von den unterschiedlichsten Vergangenheiten überschwemmt wird und so zu einer »sich verbreiternden Dimension der Simultaneitäten« geworden ist.24 Reagierte die Literatur der klassischen Moderne auf den linearen, in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil mit der Gestaltung des intensiven Augenblicks,25 der Aufwertung von Zeiteinheiten, in denen Geschichten, Ereignisse und Bewusstseinsvorgänge simultan dargestellt werden – in dieser Tradition stehen auch Peltzers erste Romane – so soll gefragt werden, ob und wie die Romane der 1990er und 2000er Jahre darüber hinaus auch auf die neue Zeitempfindung der immer stärkeren Beschleunigung und des gleichzeitig konstatierten Stillstandes in einer »breiten« Gegenwart reagieren und dieses Phänomen der Spätmoderne literarisch neu in Szene setzen. »Alle oder keiner« (1999) stellt einen Protagonisten in den Mittelpunkt der Erzählung, dessen Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen auf sprachlicher Ebene durch »lang ausschweifende«, teils »elliptische«,26 die Bewusstseinsvorgänge spiegelnde Sätze ausgedrückt werden. Bern22 | Vgl. Hartmut, Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 39-41. 23 | Ebd., S. 41. 24 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 16. 25 | A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 40. 26 | Auer, Matthias: Ulrich Peltzer, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 3/2009, S. 7.

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hard ist Psychologe und arbeitet an einem Forschungsprojekt in einem Institut in Dahlem. Ohne Festanstellung scheint er dennoch im Leben angekommen zu sein. Sein geregelter und scheinbar immer gleicher Tagesablauf lässt ihn fast vergessen, dass ihm nur noch wenig Zeit für das Projekt bleibt. Auch in Bernhards Umfeld scheint jeder den Rhythmus seines Lebens gefunden zu haben: »man lebt und bewegt sich, darauf kommt es an, das Leben ist in Bewegung, in einer guten Geschwindigkeit jetzt, die man im Griff hat.« (Aok, 65) Die Biographien der Freunde haben »weder leere Stellen noch Schlenker […], nichts, aus dem sich ablesen ließe, es habe jemals etwas anderes gegeben als die Zeitmuster eines abstrakten Plans, den man wie eine Kurve durchläuft« (Aok, 81). Doch überkommt Bernhard angesichts dieser moderaten Bewegung des Lebens das seltsame Gefühl, dass die Zeit »sich [ausdehnt], […], ohne wirklich mehr zu werden, in ihrer Dauer zuzunehmen« (Aok, 65f). Zeit, die sich ausdehnt, ohne ihr Maß zu ändern, eine Gegenwart, die sich ausweitet und in der Bernhards Leben zu einem merkwürdigen Stillstand gekommen ist; in einer Beziehung, von der er nicht mehr weiß, wie sie angefangen hat und mit dem Gedanken an eine Zukunft, die keinerlei Versprechen mehr bietet, da man sich schon mitten in ihr befindet: »Etwas wird scheinbar sichtbar, die Zukunft möglicherweise, aber dann spürt man, schon in die Zukunft eingetreten zu sein, eine einzige Zukunft, in der man sich aufhält, Tage und Nächte, nachdem die Vergangenheit endlich vorbei ist.« (Aok, 158) Doch die Vergangenheit ist alles andere als abgeschlossen, wie der Leser nach und nach feststellt, sie wird es dem Protagonisten ermöglichen, über seine Handlungsunfähigkeit in der Gegenwart hinwegzukommen. Auch in Bryant Park (2002) wird die neue Zeiterfahrung der Gegenwart erzählerisch reflektiert. Stefan Matenaar, der in der Public Library am Bryant Park in alten Taufregistern und Pfarrchroniken forscht, wandert nach getaner Arbeit durch New York. Der Bibliothek, in der in einem abgeschlossenen Raum ›lineare‹ Vergangenheit archiviert wird, steht die nach allen Seiten offene Großstadt gegenüber, deren Wahrnehmung durch die modernen Medien noch einmal potenziert wird. Zeit und Gegenwart erscheinen durch die Anzahl der auf unterschiedlichen Bildschirmen laufenden Realitätsausschnitte vervielfacht, beschleunigt und gleichzeitig fragmentiert, so dass diese mediale Wahrnehmung auch einen Einfluss auf den Protagonisten zu haben scheint. In seinen Gedanken überlagern sich die Wahrnehmungen der Gegenwart mit mehreren Erinnerungssträngen, die im Erzählfluss ineinander verschränkt werden.

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Gegenwart und verschiedene Vergangenheitsebenen treffen im selben Satz fragmentarisch aufeinander und erhöhen den Eindruck einer immer schneller fließenden Zeit. Selbst die Open-Air-Filmvorführung von Moby Dick im Bryant Park wird nicht zu einem Moment erfüllter, geformter oder fokussierter Zeit des Innehaltens,27 sondern Gedanken, Erinnerungen und Wahrnehmungen rasen weiter dahin. Teil der Lösung (2007) und Das bessere Leben (2015) sind im Gegensatz zu den vorhergehenden Romanen multiperspektivisch erzählt. Sei es im Berlin der 2000er Jahre oder in den Metropolen und Geschäftszentralen der globalisierten Welt, der Leser wird aufgefordert, der fragmentarisch erfahrenen Gegenwart aller Haupt- und Nebenfiguren zu folgen, was die Dichte der wahrgenommenen Ereignisse und den Erzählrhythmus entsprechend erhöht und diesen in Resonanz zum Zeitgefühl der Figuren treten lässt. Während Christian in Teil der Lösung die gesteigerte Beschleunigung einer »seltsamen Gegenwart« reflektiert,28 und der Erzähler die sich auf den Monitoren des Sony-Centers am Potsdamer Platz multiplizierenden und sich in den Displays der Touristen wiederfindenden »bewegliche[n] Bilder« als »Dokumente des Jetzt« (TdL, 115) charakterisiert, versucht sich die Studentin Nele mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter im Widerstand gegen die Videokameras des Überwachungsstaats und die Folgen einer immer weniger kontrollierbaren, sich beschleunigenden Globalisierung. Das bessere Leben inszeniert dann genau die entgegengesetzte Perspektive, nämlich die der Manager und Geschäftemacher und deren Prinzipien »performance, benefits, maximising value«,29 welche ihr Leben als permanenten Kampf gegen die dahinfließende Zeit erscheinen lässt. Dabei entspricht die Erzählform wieder 27 | So beschreibt Assmann unterschiedliche Formen der Erfahrung von Gegenwart jenseits alltäglicher Routine, so z.B. als intensiven Augenblick, als Moment des Kunstgenusses bzw. als Moment des Innehaltens. Vgl. A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 35-38. 28 | »Monate, wenn nicht Jahre, die aus Drogen und Nichtstun bestanden, Theorien der Geschwindigkeit und des Sinns […]. Erst zehn Jahre her, und es kommt einem vor, als seien es hundert gewesen.« Peltzer, Ulrich: Teil der Lösung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2009 (2007), S. 42. Im Folgenden abgekürzt mit (TdL) und Seitenangaben im Text. 29 | Peltzer, Ulrich: Das bessere Leben, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2016, S. 95. Im Folgenden abgekürzt mit (DbL) und Seitenangaben im Text.

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dieser besonderen »Syntax der Gegenwart, die von sich selbst verschlungen zu werden droht«, »[i]n irritierenden Hypotaxen […], Epochen und Ereignisse unvermittelt kollidieren lassend«,30 wie Peltzer selbst den Roman in seinen Poetikvorlesungen charakterisierte. Während Peltzers Figuren die Diagnosen der Zeitsoziologen und -kritiker zur extremen Beschleunigung der Gegenwart als auch zu Tendenzen des Stillstands thematisch aufnehmen und die Romane auch formal, in ihrer Syntax, gegenwärtige Zeit als Krisenerfahrung widerspiegeln, wird die Gegenwart jedoch auch mit Elementen der Vergangenheit konfrontiert, welche die Figuren zum Nachdenken über den Sinn dieser Gegenwart anregt und ihnen Handlungsperspektiven aufzeigt oder, so in Das bessere Leben, den Verlust der Utopien und »großen Erzählungen« reflektiert.

2. V ergangenheit als K orrek tiv der G egenwart Angesichts des »mittlerweile rasend oszillierend[en] ›Auf und Ab‹ [der Dinge]«,31 in dem sich die Subjekte in ständiger Veränderung befinden, erscheint es dem Autor als wichtigste Aufgabe, »die Geschichte als Geschichte zu retten (wiederzufinden), indem man den Verhältnissen ihre eigene Fall- und Zerfallsgeschichte erzählt«.32 Peltzer sieht sich dabei als einen Autor, der sich, »auch wenn er nirgendwo sonst leben will als in der Gegenwart, an dies und das erinnert, nicht um es zu reanimieren […], sondern als Folie betrachtet, auf der sich soziale, kulturelle, ökonomische Veränderungen ihrem spezifischen Charakter nach recht deutlich abzeichnen«.33 Gegenwart existiert nicht bedingungslos. In ihrer Besprechung des Romans »Alle oder keiner« unterstreicht Sabine Peters in Hinblick auf die oben angedeutete Problematik, dass es dort »nicht zuletzt um die Erfahrung von Zeit [geht], und um die Erfahrung von der Begrenztheit der Zeit. Zunächst gab es ›die Zukunft‹ in Hülle und Fülle, ein vages Irgendwo und Irgendwann – und dann sieht

30 | U. Peltzer: Angefangen wird Mittendrin, S. 168, 169. 31 | Ebd., S. 35. 32 | Ebd. 33 | U. Peltzer: Vom Verschwinden der Illusionen, S. 40f.

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Bernhard, daß er längst mittendrin ist.«34 Aus dieser Erfahrung heraus wird sich der Protagonist des Romans von seinem bisherigen Leben verabschieden, Wohnung und Freundin verlassen und zu Christine, einer jungen Autorin, ziehen. Bernhards neues Leben beginnt als erzählerische Setzung, angeregt durch deren Aufforderung, sein Leben, seine Geschichte zu erzählen: »und erzähl mir, das dürfte doch nicht so kompliziert sein, wie geht die Geschichte?« (Aok, 223). Dieser letzte Satz des Romans steht – den Joyce’schen Zirkelschluss in Finnegan’s Wake aufrufend – in direktem Zusammenhang mit seinem ersten, nämlich dem Beginn des Berichtes über eine gewaltsame Demonstration im spanischen Baskenland in den 1970er Jahren, den Bernhard an den Anfang seiner Erzählung setzt. Damit stellt Bernhard die retrospektive Lektüre seines Lebens unter das Motto des politischen Engagements; die Erzählung ist gleichermaßen ein Ausbruch aus der »›ewige[n]‹, unabänderliche[n] Gegenwart«,35 die nun plötzlich angefüllt wird mit Erinnerungen an eine in ganz anderem Maße sinnstiftende Vergangenheit: an sein politisches Engagement in den 1970er Jahren in Schülergruppen, in einer K-Gruppe, der »Fraktion der Nomaden, die keine Macht anerkannte und jede bezweifelte, sich über sie lustig machte« (Aok, 163), an die Teilnahme am Antirepressionskongress in Bologna und später an Straßenkämpfen im Baskenland, an sein Engagement für die Antipsychiatriebewegung.36 Bernhards Erzählung ist unstrukturiert, fragmentarisch, nicht chronologisch, sie steht ganz im Gegensatz zur Ordnung und zum Gleichmaß seines Lebens in den letzten Jahren. Die Gedanken springen von einer Erinnerung zur anderen, einem Ereignis zum nächsten, vermischen sich mit Reflexionen über die Gegenwart, so dass der Bruch zwischen den politischen Zielen der Vergangenheit und dem Eingerichtetsein in einer banalen, an bedeutenden Ereignissen armen Gegenwart besonders deutlich wird. Diese reaktivier34 | Peters, Sabine: Alle oder keiner, Deutschlandfunk, 12.12.1999: www.deut​ schlandfunk.de/alle-oder-keiner.700.de.html?dram:article_id=79640 (zuletzt aufgerufen am: 18.02.2018). 35 | Siegel, Elke: »›Was hat dich bloß so ruiniert?‹ Ulrich Peltzers ›Alle oder keiner‹«, in: P. Fleming/U. Schütte (Hg.): Die Gegenwart erzählen, S. 113-139, hier S. 119. 36 | Für den in Anführungszeichen stehenden Titel »Alle oder keiner« gab Peltzer als Quelle das Motto der italienischen Antipsychiatriebewegung, »nessuno o tutti«, an. Vgl. ebd., S. 121.

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te Vergangenheit ist keine unproduktive Kraft von gestern, von der sich Peltzer ebenso wie andere Analytiker der Gegenwart distanziert, »etwas, das man in hirnrissigen Fernsehserien recycelt oder zwischen zwei Buchdeckel steckt als nostalgische Reminiszenz«,37 sondern ganz im Gegenteil ein Potential und ein Impuls, um die Gegenwart wieder in Bewegung zu bringen. Ebenso wichtig wie die erinnerte Vergangenheit ist deren erzählerische Vermittlung. Malte Kleinwort macht in seiner Analyse der Syntax des Romans auf die »rekursiven Schleifen« aufmerksam, die die »Rückkehr zu initialen Momenten« symbolisieren, »die Frage nach den Ausgangsbedingungen«,38 den auslösenden Momenten: »In ›Alle oder keiner‹ […] wird die Frage nach dem Verhältnis von Anfang und weiterem Verlauf, von Vorgeschichte und Geschichte, von Auslösung und Ereignis […] unermüdlich durchgearbeitet und zu einem wesentlichen Antrieb der erzählerischen Dynamik.«39 Auffällig sind vor allem die Zäsuren mitten im Satz: Absätze beginnen in der Mitte, werden unterbrochen, enden folgenlos; sie verweisen auf die »Fraglichkeit des Zusammenhangs von Satzteilen«40 ebenso wie auf die Unbestimmtheit der Zusammenhänge im Leben und deren erzählerische Vermittlung. Der Erzählprozess wird dabei von Anfang an metaliterarisch reflektiert: »was gültige Gegenwart war, in Erzählung verwandelnd, in eine Geschichte, an deren Schnittstellen wir entlangtaumeln, die wir beschwören oder verfluchen, wie besessen davon, sie wachzuhalten und dem Tod zu entreißen« (Aok, 12). Aufschlussreich sind auch die Gedanken des Protagonisten über das Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart. Die als immer noch präsent erfahrene, vergangene Gegenwart wird in der Erzählung definitiv zur Vergangenheit, die jedoch weiterhin die Grundlage der Gegenwart bleibt, wie es in folgender Erinnerung an die Demonstration im Baskenland deutlich wird: »da ich ja das leicht filzige Gewebe durchnäßt auf meiner Haut spürte, das heißt spüre wie einen feuchten Umschlag, der langsam erkaltet, das heißt erkaltete, während es weitergeht von Seite zu Seite, und mein Sprechen, in dem noch die Gegenwart ist, sich wie von alleine verfestigt, zu einem 37 | U. Peltzer: Vom Verschwinden der Illusionen, S. 38. 38 | M. Kleinwort: »›Anfang Punkt Ende Punkt darin öffnet es sich und springt auf‹. Syntax im Werden in Ulrich Peltzers ›Alle oder keiner‹«, S. 95-111, hier S. 100f. 39 | Ebd., S. 103. 40 | Ebd., S. 104.

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Imperfekt wird, auf dessen Oberfläche ich mich fortbewege.« (Aok, 29) Das Schwanken des Erzählers bei der Wahl der Zeitformen verweist auf die kontinuierliche Präsenz dieser Vergangenheit, auf eine fortgesetzte Zugehörigkeit zu ihr, die damit zum Ausdruck einer Zeitgenossenschaft in der Gegenwart wird. Im Roman Teil der Lösung treten Gegenwart und Vergangenheit noch einmal in einer anderen Konstellation auf; Vergangenheit, in diesem Fall nicht selbst erlebt, erscheint den Hauptfiguren als Folie, vor deren Hintergrund die Gegenwart gelesen, interpretiert und sogar »performativ« erzeugt werden kann, als »reklamierte und proklamierte Zeitgenossenschaft mit einer historischen Epoche«, zu der eine »innere Werte- und Geistesverwandtschaft entdeckt« wird.41 Die Protagonisten Christian und Nele lernen sich zufällig kennen und interessieren sich, jeder auf seine Art, für die linken Protestbewegungen der 1970er Jahre – der Bezugspunkt in der Vergangenheit ist hier derselbe wie in »Alle oder keiner«. Die Studentin Nele gehört einer Gruppe von Globalisierungsgegnern an, die Anschläge auf die omnipräsenten Überwachungskameras in der Stadt Berlin durchführen. Die Gruppe arbeitet im Untergrund und ist bereits in das Blickfeld von Polizei und Staatsschutz geraten. Beim Leser werden hier Reminiszenzen an die linksextremistischen Gruppen der 1970er Jahre aufgerufen. Gerade für eine dieser Bewegungen, die Roten Brigaden in Italien, interessiert sich Christian, freier Journalist auf der Suche nach Themen und Aufträgen, der versucht, mit ehemaligen, jetzt in Frankreich lebenden Mitgliedern für ein Interview in Kontakt zu kommen. Christian stößt eher zufällig auf dieses Thema, Klarheit über die Gründe für sein zunehmendes Interesse bekommt man nie. Vielleicht ist er nur auf der Suche nach einer guten Story, vielleicht geht es aber auch ihm darum – darin dem Zeitzeugen Bernhard in »Alle oder Keiner« nicht unähnlich – in der Vergangenheit ein Potential für die als unbefriedigend empfundene Gegenwart zu finden. Hatte am Anfang des Romans eine unbestimmte Erzählstimme den Mauerfall als »Riss« und »Blitzschlag« bezeichnet, als »kosmische Implosion, durch die hier Gegenwart wieder hineinbrach. Visionen von Zukunft, das Neue, ein Traum« (TdL, 14), so versteht Christian im Laufe seiner Spurensuche in den Überresten einer linken Utopie, dass das Gegenteil zukunftsträchtiger Visionen und Träu41 | So Assmanns Definition von Zeitgenossenschaft. A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 40.

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me eingetreten ist und dass »mit der Erledigung des Ostblocks endgültig auch jede Vision eines anderen Lebens von der Tagesordnung verschwunden« (TdL, 259) ist. Bei der Sichtung unzähligen Materials zu den Roten Brigaden fällt Christian auf, dass die »Beschuldigten in den Käfigen immer jünger aussehen, immer näher an das heranrücken, was man für die Gegenwart hält. Genossen der Zeit, dachte Christian, Irrläufer der Geschichte.« (TdL, 133) Christians Gegenwart scheint nach und nach in eine »Zeitgenossenschaft« und, wie oben bereits angedeutet, »Geistesverwandtschaft« mit diesen Bewegungen der 1970er Jahre zu treten. Dabei steht er den damaligen Aktionen jedoch kritisch gegenüber und verurteilt jeglichen Rückgriff auf Gewalt, wie es gleich zu Anfang des ersten Teils des Romans deutlich wird, als Christian mit seinem Freund Jakob eine Videodokumentation über die Ermordung Aldo Moros sichtet (TdL, 23-32). Offensichtlich beschäftigt ihn aber die Frage, wie das kritische Potential der damaligen Zeit neu und anders reaktiviert werden könnte, darin denjenigen nicht unähnlich, die die Geschichte der Roten Brigaden kontrafaktisch neu schreiben. In Peltzers jüngstem Roman Das bessere Leben wird in diesem Zusammenhang Marco Bellocchios Film Buongiorno, notte (2003) über die Entführung Aldo Moros aufgerufen (DbL, 209, 286), der die Möglichkeit eines gewaltlosen Endes suggeriert. Ulrich Peltzer hatte aus Anlass der Wirtschaftskrise 2009 in einer Zeitungskolumne kapitalismuskritisch betont, dass »[d]ie Erinnerung an die 70er-Jahre-Linke […] die Basis für ein Vokabular der Gegenwart [ist]« und dabei »[a]n das Richtige wie das Falsche«42 erinnert werden müsse. In diesem Sinne nuanciert ist auch seine literarische Auseinandersetzung mit dieser Zeit. Die Anspielung auf die RAF-Maxime im Titel wird, so Bernd Blaschke, »im Verlauf des Romans in dialektisch verschlungenen Handlungen und einer Polyphonie der Stimmen aufgehoben«.43 Die komplexe Form des Romans trägt auch hier der Komplexität des Inhalts Rechnung. Gansel, Joch und Wolting betonen ihrerseits, dass Peltzer eine 42 | U. Peltzer: »Ohne Begriffe kein Denken«, in: TAZ vom 24.03.2009. 43 | Blaschke, Bernd: »Halt dich an deiner Liebe fest. Ulrich Peltzers poetische Kunst der Fuge über Revolte und Staatsschutz«, in: literaturkritik.de, Nr. 1, Januar 2008: http://literaturkritik.de/id/11463(zuletzt aufgerufen am: 23.02.2018). »Entweder Du bist Teil des Problems oder du bist Teil der Lösung. Dazwischen gibt es nichts« ließ der RAF-Terrorist Holger Meins 1974 verlauten.

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neue Form engagierter Literatur gefunden habe, die jedes Dämonisieren (z.B. des Staatsschutzes) vermeide und auf »konsequent neutralisierte[r] Wertungsteuerung« beruhe. Sie beschreiben den Roman als gelungene Verbindung von »Gegenwartsnähe und Erinnerungsarbeit«.44 Diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart im Sinne eines Rückblicks, der die Potentiale des Vergangenen kritisch aufruft, um sie für die Gegenwart nutzbar zu machen, diese Form einer möglichen Zeitgenossenschaft mit Vergangenem als Motor der Gegenwart ist in Peltzers letztem Roman nicht mehr zu finden. Vergangenheit erscheint hier nur noch als Trauma und als Scheitern. In Das bessere Leben wechseln Figuren, Schicksale und Handlungsorte zwischen São Paulo, Zürich, Amsterdam und Turin ebenso rapid wie die sich über elektronische Medien vollziehende Kommunikation der Protagonisten. Einer unter ihnen, Sylvester Lee Fleming, wird regelmäßig von Alpträumen heimgesucht. Die Vergangenheit holt ihn in Form von Erinnerungen an seine Studentenzeit ein, als er auf einem Campus in Ohio an einer Demonstration gegen Nixons Vietnamkrieg teilnahm, die nach dem Einsatz der Nationalgarde in einem Blutbad endete und u.a. den Tod einer Kommilitonin zur Folge hatte. Fleming hat Schuldgefühle, einmal im Jahr reist er an das Grab der ermordeten Allison, ohne dass sein Leben als skrupelloser Geschäftsmann und moderner Mephisto noch irgendetwas mit den damaligen Idealen zu tun hätte: er fühlt sich als »Geist aus einer in der Tiefe der Zeit versunkenen Welt« (DbL, 120). Hier entsteht keine produktive Zeitgenossenschaft, sondern die Vergangenheit kehrt als unverarbeitete Wiederholung traumatisch wieder, höchstens bedeutet der Knall des Schusses, der Fleming jedes Mal nachts im Traum aufschrecken lässt, noch das »Auf blitzen der Utopie«,45 wie es Wiebke Porombka formuliert, einer Utopie jedoch, der Flemings gegenwärtiges Handeln Hohn spricht.

44 | Gansel, Carsten/Joch, Markus/Wolting, Monika: »Zwischen Erinnerung und Fremdheit – Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989, Göttingen: V&R unipress 2015, S. 11-25, hier S. 24f. 45 | Porombka, Wiebke: Laudatio auf Ulrich Peltzer anlässlich des Empfangs des Kranichsteiner Literaturpreises in Darmstadt am 11. November 2016: www.hun​ dertvierzehn.de/artikel/laudatio-auf-ulrich-peltzer_ 1883.html (zuletzt aufgerufen am: 23.02.2018).

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Geschichte und Utopie als Scheitern erscheint in einem weiteren Erzählstrang, der bis ins Moskau der 1930er Jahre zurückreicht und eine stalinistische Säuberungsaktion durch später in der DDR hoch angesehene Kulturfunktionäre wie Johannes R. Becher und Alfred Kurella inszeniert.46 Dort wurden die Eltern einer Nebenfigur des Romans Opfer des Verrats aus den eigenen Reihen. Und doch hat die ehemalige Russischlehrerin Elfriede Gerlach, deren Mutter in Moskau zu Tode kam, zu DDR-Zeiten nie aufgehört, für die Sowjetunion zu werben; erst im Alter beginnt sie, ihre Geschichte zu reflektieren. Auf den Punkt gebracht wird der stalinistische Terror aber von einer anderen Figur, dem Journalisten Peter Möhle, der sich gerade mit dem Werk Dsiga Wertows beschäftigt: »[D]afür hat man gekämpft, hat sich geopfert… ist ans Messer geliefert worden; von den eigenen Leuten, auf niederträchtige Weise, male sich das aus, wer mag.« (DbL, 302) Unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Thema – hier die Tochter der Opfer des Stalinismus, dort der westdeutsche Linksintellektuelle – charakterisieren Peltzers Roman und tragen zu seiner Vielstimmigkeit bei. Gerade dadurch wird der Verlust der Utopien im Roman allgegenwärtig, ebenso wie deren Auswirkungen auf die globalisierte Gegenwart. Im Gegensatz zu Sylvester Lee Fleming sieht Jochen Brockmann, Sales-Manager mit ungewisser Zukunft, sein Leben als eine »Unzahl von Banalitäten«, als »Zwang, am Ball bleiben zu müssen« (DbL, 117). Schon als junger Mann hatte Brockmann eine Kunstsammlung angelegt, um der Nichtigkeit dieses Alltags zu entgehen und »Anteil zu haben an etwas Überirdischem« (ebd.). Kunst bietet im Roman vor allem die Möglichkeit, den auch für Brockmann sich immer rasanter gestaltenden Alltag zu unterbrechen. Während eines Treffens mit seiner Tochter, einer Kunsthistorikerin, in Mailand besichtigen beide eine Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Renée Green. Während seine Tochter sofort in die Ausstellung versinkt – eine Möglichkeit, Zeit und Gegenwart zu fokussieren, stillzustellen – 47 läuft Brockmann unruhig durch die Räume, bis es auch ihm gelingt, sich von einigen Objekten anziehen zu las46 | Peltzer benutzt für diese Szene authentische Sitzungsprotokolle. Vgl. WDR 3 Kulturfeature: Gegen die Schändlichkeit der Welt. Der Schriftsteller Ulrich Peltzer, Manuskript, Westdeutscher Rundfunk Köln 2017, S. 26: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/…/wdr3…/peltzer-108(zuletzt aufgerufen am: 23.02.2018). 47 | A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 38.

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sen. Darunter befindet sich Greens Videoinstallation über die Studentendemonstrationen in Ohio, die die Träume von Fleming heimsuchen, ein weiteres Beispiel für die zahlreichen Verbindungspunkte, die der Roman zwischen den einzelnen Erzählsträngen etabliert. Brockmann selbst informiert sich im Anschluss im Internet über Greens Werk, »Räume, in denen Geschichten zusammenliefen, die von Orten und Nicht-Orten erzählten, der Gegenwart und des Vergessens, Reisen ins Herz der Zeit, der Erinnerung« (DbL, 202). Eine Charakterisierung, die auch auf Peltzers Roman zutreffen kann. Peltzers Diagnose der Gegenwart ist in diesem Roman stark mit dem Scheitern der Utopien der Vergangenheit verbunden. Deren Potentiale, vor allem die der linken Bewegungen der 1970er Jahre, eröffneten in »Alle oder keiner« und in Teil der Lösung noch die Möglichkeit der Zeitgenossenschaft, eines in der Zeit- und in der Gegenwart-Seins, das Elemente der Vergangenheit reaktiviert und nutzbar macht. In Das bessere Leben scheinen die konkreten Formen politischen Eingreifens und andere Gesellschaftsmodelle nicht mehr als Möglichkeit zu existieren. Was könnte demnach der über die Metropolen der Welt hinwegrasenden Gegenwart entgegengestellt werden? »Was möglich gewesen wäre, unter Umständen, aber nicht eingetreten ist«, reflektiert der Linksintellektuelle Möhle, der ausgerechnet den Booklet-Text für eine DVD-Ausgabe von Bellocchios Buongiorno, notte schreiben soll: »In der Wirklichkeit gibt es keinen Konjunktiv als Rettung, […] nur in der Kunst.« (DbL, 307) Und Möhle findet endlich den lang gesuchten Anfang des Textes, den zu schreiben ihm so schwer fiel: »Nicht das Gedächtnis schützt uns vor blamablen Wiederholungen, sondern allein die Imagination, die dem Möglichkeitssinn Raum (Räume) eröffnet, sich zu entfalten.« 48 Dieser Satz charakterisiert wiederum Ulrich Peltzers Poetik der Gegenwart, ein Schreiben, das versucht, die Gegenwart nach ihren Möglichkeiten zu befragen und diese ebenso gegen den Strich zu bürsten, wie es Walter Benjamin einst dem historischen Materialisten empfahl, es mit der Geschichte zu tun.

48 | DbL, 307 [Kursiv i. O.].

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Die Erfindung der Gegenwart Lyrik und Zeit Michael Braun

Am 20. Juli 1960 erschien ein Gedicht von Elisabeth Borchers im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es trug den Titel eia wasser regnet schlaf 1 und sorgte für Widerspruch. Leser beschwerten sich, das Gedicht sei unverständlich, es mache Kindern Angst und spotte des sogenannten gesunden Menschenverstandes. Andere sprangen der Dichterin zur Seite. Es folgten Interpretationen, Vertonungen, Gesänge. Elisabeth Borchers wies auf die surrealistischen Einflüsse hin und hat in ihren späteren Frankfurter Poetikvorlesungen ausführlich erklärt, wie der Text seinerzeit entstanden war, als sie, um sich im Frühjahr 1959 auf ihren ersten Amerikaaufenthalt vorzubereiten, englischsprachige Gedichte und Shantys las.2 Es war die Debatte, die eia wasser regnet schlaf zu einem Zeit-Gedicht machte. Zeitgedichte widersprechen der Gegenwart, meist durch ihren Sachbezug, durch ihre Kritik an »zeittypischen Zu- und Gegenstände[n]«, manchmal auch, wie hier, durch sprachliche Varianz. Dadurch bekommt die Gegenwart ein doppeltes Gesicht. Die ›erste Gegenwart‹ von Elisabeth Borchers’ Gedicht zeugt von dem »Weltbild der Nachkriegsdeutschen«,

1 | Borchers, Elisabeth: Alles redet, schweigt und ruft. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 243. 2 | Borchers, Elisabeth: Lichtwelten. Abgedunkelte Räume. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 43. Die ausführliche Replik der Autorin auf die entrüsteten Reaktionen zu dem Gedicht erschien in der FAZ vom 18.8.1960; vgl. E. Borchers: Lichtwelten, S. 43-54.

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das Peter Rühmkorf 1962 analysierte.3 Man erwartete Naturlyrik, weltfromme Gedichte, monologische oder hermetische Kunst – und las dann auf einmal ein surrealistisches Toten- und Schlaflied. Hinzu kommt, dass Borchers’ Gedicht eigene Kindheitserinnerungen, Kinderlieder und ihre Eindrücke der Shanty-Lektüre verarbeitet. Es setzt auf Erfahrung statt auf Kenntnis. Das verschafft dem Gedicht eine zweite, nun wirklich zeitlose Gegenwart. Sie besteht darin, dass »es Zeit und Erinnerung (auch an ein erstes Mal) aufhebt und alles zu einer Gegenwart ohne Vorher und Nachher macht«.4 Das Gedicht ist insofern ein Fenster in seine Zeit, und zugleich ist es der Widerstand gegen diese Zeit, der es zu einem zeitlosen Dokument machen kann.5 Das Gedicht ist – so kann man zugespitzt sagen – selbst in Versen verdichtete, innehaltende, Widerstand leistende Zeit: »Gedichte lauern im Morgengrauen und heulen mit dem Wind«, schreibt Uwe Kolbe 2015.6 Fünfzig Jahre zuvor hieß die Botschaft: »Ausharren und widerstehen«.7 Mit anderen Worten: Das Gedicht hält die abzählbare Zeit auf und verschiebt sie. Ingeborg Bachmann, eine »Aufklärerin über die Zeit und die

3 | Vgl. Rühmkorf, Peter: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, in: Ders.: Strömungslehre 1. Poesie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978 (1962) S. 15f. (das zuvorige Zitat S. 16), der ein Misstrauen der Nachkriegslyrik »gegenüber allem, was Gesellschaft, Zeitgeschichte oder Politik hieß«, feststellte. Zum Kontext vgl. Korte, Hermann: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, in: Ders. u.a.: Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 2004, S. 581-665, hier S. 593f. und Barner, Wilfried: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München: C. H. Beck 2006, 2., erw. und akt. Aufl., S. 194-243. 4 | Stadler, Arnold: »Die alte Sehnsucht. Zu Elisabeth Borchers. Nachwort«, in: E. Borchers: Alles redet, schweigt und ruft, S. 282. 5 | Zu der hermeneutischen Frage dieser Zeitlichkeit des Ästhetischen vgl. Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck 1990, 6. Aufl., S. 126-128. 6 | Kolbe, Uwe: »Herbstlied«, in: Ders.: Gegenreden. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 158. 7 | P. Rühmkorf: Das lyrische Weltbild, S. 29.

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Knappheit der Zeit«,8 spricht von der »auf Widerruf gestundeten Zeit«.9 Der aus dem Kreditwesen geborgte Begriff ›gestundet‹ münzt die Zeit auf die Lyrik, auf Metrik und rhythmischen Takt, auf ihre Wortsparsamkeit und Mehrdeutigkeit. Lyrik ist Zeit auf Widerruf und Widerruf der Zeit, Auf begehren gegen die Endlichkeit. Sie erfüllt ein zeitgemäßes Bedürfnis nach dem Unzeitgemäßen. Weil sie ein »Nachleben« haben, gehören Gedichte zu den langlebigen, ja zeitlosen, zu den beständigsten und kanonisch stabilsten literarischen Texten.10 Ich möchte die Konstellation von Zeit und Lyrik hier poetologisch fassen und nach der Aussage- und Wirkungsweise der Zeit im Gedicht fragen. Was ist die Zeit im Gedicht, wie kommt sie hinein, was kann sie dort ausrichten? Und was hat es mit jenem »Augenblick der Freiheit« auf sich, auf den sich die Lyriker bei ihrem Tun so oft berufen?11 Einen kleinen Anhaltspunkt für eine Poetik der Zeit gibt Elisabeth Borchers in ihrem letzten von sieben Lyrikbänden. Der Band heißt Zeit. Zeit (2006). Knapper kann man wohl ›Zeit‹ lyrisch nicht definieren. Das Titelgedicht beschreibt den ›Zeit-Punkt Zeit‹ als punktuelle Erfahrung und als in Form gebrachte Bewegung. Was das Gedicht auf den Punkt bringt, ist gestaltete Zeit. Die Gestaltung der Zeit ist in Rhythmus und Metrik lesbar und aussprechbar: als Bewegung. Und obwohl das Gedicht stets einen Zeitpunkt fixiert, suggeriert es damit, im Unterschied zur Fotografie, nicht das Verschwinden von Bewegung, sondern es spricht vom Dasein der Zeit, expressis verbis oder im »Nichtwort/zwischen Wort und Wort«.12 Das wiederum ist ein

8 | Weinrich, Harald: Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des knappen Lebens, München: C.H. Beck 2004, S. 75. 9 | Bachmann, Ingeborg: »Die gestundete Zeit«, in: Reclams Großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert, hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart: Reclam 2007, S. 675. Das Gedicht erschien in Bachmanns erstem – und gleichnamigem – Lyrikband (1952). 10 | Vgl. dazu Schlaffer, Heinz: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München/Wien: Carl Hanser 2012, S. 170f. 11 | Vgl. Domin, Hilde: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetikvorlesungen, München: Piper 1988. 12 | Domin, Hilde: Lyrik, in: Dies.: Sämtliche Gedichte, hg. v. Nikola Herweg und Melanie Reinhold, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, S. 113.

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lakonischer, vielleicht melancholischer Lernprozess der lyrischen Spätmoderne: »Lernen, Zeit zu haben./Lernen, daß es zu spät ist.«13 Meine Bausteine für eine Poetik des Zeit-Gedichts sind die Begriffe ›Präsens‹ und ›Präsenz‹. Es sind Behelfsbegriffe aus der Kulturwissenschaft, die dem Vorverständnis bei einer poetologischen Annäherung an die Frage der Zeit im Gedicht dienen sollen.14 Die Begriffe stehen nicht unbedingt in Opposition zueinander. Sie ergänzen einander wie zwei Seiten einer Medaille, weil die Zeit ja stets doppelt messbar ist, als temporaler Verlauf und als Bewegung im Raum, die wiederum linear sein kann oder zyklisch.15 Während das ›Präsens‹ die Gegenwart an der »Grammatik der heutigen Tages« misst,16 also einen wie auch immer gearteten Bezug zu dem zeitlichen Kontext herstellt, auf besondere Weise im politischen Gedicht, so behauptet, wenn wir von der ›Präsenz‹ der Literatur sprechen, die Gegenwart gleichsam einen Platz, sie konstruiert einen Raum. Wir bemerken das als Widerstand der Form im Gedicht, als Aura des Textes oder als Selbstinszenierung des Autors bei einer Lesung.17 Ein verwandtes Oppositionspaar ist das von ›Spur‹ und ›Aura‹. Es stammt von Walter Benjamin und findet sich in den Materialien zu seinem Passagen-Werk: Die Spur entspricht dem Präsens des ästhetischen Gegenstands, seiner Ausdehnung und Verbreiterung im Bereich von Gleichzeitigkeiten, und mit Aura ist die Präsenz des Kunstwerks, die Tiefe seiner Gegenwart, angesprochen: Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie

13 | Borchers, Elisabeth: Zeit. Zeit. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 11. 14 | Erste Überlegungen dazu in Braun, Michael: »Autor und Leser als Zeitgenossen. Ein rezeptionsorientiertes Modell der Gegenwartsliteratur«, in: Wolfgang Braungart/Lothar van Laak (Hg.): Gegenwart Literatur Geschichte. Zur Literatur nach 1945, Heidelberg: Winter 2012, S. 225-242. 15 | Vgl. dazu die Einleitung in H. Weinrich: Knappe Zeit, S. 15-24. 16 | E. Borchers: Alles redet, schweigt und ruft, S. 106. 17 | Vgl. zu den »Präsenzformen« der Gegenwartsliteratur Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland, Berlin/München/Boston: de Gruyter 2015, S. 252-254.

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hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.18

Nach einer kleinen Vorstellung dieser Grundbegriffe soll ihr Deutungspotenzial anhand von zwei Dichtern überprüft werden, die auf je eigene Weise für das Präsens- und das Präsenzmodell stehen. Gegenwart im Zeitgedicht: Das ist der Fall bei Günter Grass, der sich von Anfang an immer wieder mit Gedichten zur politischen Situation der Zeit geäußert und die lyrische Form dabei manchen Zerreißproben ausgesetzt hat. Dafür habe ich Grass’ Was gesagt werden muss (2012) ausgesucht, ein IsraelGedicht in der Tradition radikaler Zeitkritik, ein Aufstand der Gegenwart gegen den Rest der Zeit und vielleicht sogar das Vermächtnis an politischer Dichtung, das uns der Autor hinterlassen hat. – Für die Aura und Präsenz von Lyrik steht das Werk von Paul Celan, ein Werk, das wie kein anderes die »Geschichte seiner Zeit« geschrieben hat.19 Wie Celan diese Zeit in seinen Lyrikbänden in komplexen Raummodellen entwickelt, zeigen schon die Titel, von Der Sand aus den Urnen (1948) über Von Schwelle zu Schwelle (1952) bis zu dem nachgelassenen Band Zeitgehöft (1976).

1. P r äsenz und P r äsens Was ist das Gegenwärtige an einem Gedicht? Das »Gegen-wärtige« hat eine raumzeitliche Doppelbedeutung. Sie besteht darin, dass »gegen-wärtig« zunächst etwas ist, das uns physisch erkennbar gegenübersteht. Gemeint ist aber auch das, was geistig gegenwärtig ist. Das kann etwas sein, das vorhanden und sichtbar ist, aber auch etwas Abwesendes. Die Gegenwart liefert so eine Vorstellung von Zeit, die Vergangenheit und Zukunft umfasst. Diese Zeitvorstellung hat eine lange Wirkungsgeschichte. Sie reicht von Augustinus, der die Vergangenheit als erinnerte, die Zukunft die erhoffte Gegenwart bezeichnet, bis zu Heidegger, der das »Sein der Zeit« als das »Jetzt« versteht, als »angeschautes Werden«.20

18 | Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, Bd. V.1, S. 560. 19 | Bollack, Jean: Paul Celan. Poetik der Fremdheit, Wien: Zsolnay 2000, S. 167. 20 | Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2006, 19. Aufl., S. 431.

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Mit dem Aspekt der Zeitlichkeit ist das Präsens der Gegenwartsliteratur angesprochen. In der Semantik ästhetischer Zeit bedeutet dieses Präsens reine Zeit, absolute Gegenwart. Seine mustergültige Form hat es seit den 1990er Jahren in den Manifestationen der Rap-Lyrik, des Poetry Slam und der Pop-Musik gefunden. Mittlerweile sind diese Pop-Events, die mit dem Gestus daherkamen, die Gegenwart zwar nicht entdeckt, so doch ihre Redeweisen archiviert zu haben,21 selbst schon wieder im Archiv der allerjüngsten Kulturgeschichte gelandet. Das hinterlässt uns aber die Frage, wie viel Gegenwart die Lyrik verträgt. Wenn die Gegenwartslyrik stets so gegenwärtig ist, wie sie zu ihrer Zeit geschrieben und gelesen wird, dann hat die Poplyrik Autor und Leser auf besonders enge Weise miteinander verschweißt: Die Popautoren lasen mit den Lesern ihre Zeit – und sie lasen diese Zeit explizit als Buch (wie der Büchnerpreisträger 2015, Rainald Goetz, 1999 im Roman eines Jahres). Zeitlichkeit ist die Eigenschaft der Präsenstheorie; der Raum gehört zum Diskurs der Präsenz. Man kann sich das gut vor Augen halten, wenn man die präsenztheoretisch betrachtete Lyrik als räumliche Inszenierung einer »Körper-Geist-Einheit« in der »Arena ›Sprache‹« versteht.22 In dieser Arena gibt es Fehler, Kontrollverluste, die Einfälle der Gegenwart. Der 1964 geborene Michael Lentz beschreibt das so: Eine Vorlesesituation. Lesung, Vortrag, Sprechkonzert und so weiter. Sprechlampenfieber. Manchmal ist man eher ängstlich. Dann hält man sich an das von einem selbst Vorgeschriebene. […] Kommentare, direkt ans Publikum gerichtet, fließen ein, oder ich ändere daraufhin spontan das Programm, erzähle etwas, eine Anekdote, binde ein Husten oder einen merkwürdigen, nicht vorprogrammierten Lichtwechsel, einen Fehler im Ablauf etc. in die Lesung/Performance ein. Eine solche Situation kann natürlich auch kippen […]. Es kann etwas außer Kontrolle geraten. 23

Präsenztheoretisch ist Gegenwartsliteratur ein ästhetisches Originalerlebnis, das Autor, Werk und Leser bzw. Zuhörer in einem gemeinsamen 21 | Vgl. dazu Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die Neuen Archivisten, München: C.H. Beck 2002. 22 | Lentz, Michael: Textleben. Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011, S. 33. 23 | Ebd., S. 33f.

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sinnlichen Erfahrungsraum zusammenführt. Ist die Gegenwartsliteratur im Sinne der Präsenstheorie die Literatur, die zur Zeit geschrieben wird (in des Wortes doppelter Bedeutung: über die Zeit und in der Zeit), so ist sie präsenztheoretisch eine Form erlebter (und medial vermittelter) Zeitgenossenschaft von Autor und Leser. Diese Aspekte der Realdefinition gehören zusammen. Diese beiden Modelle der Gegenwartsbestimmung haben ihre Paten: Hans Ulrich Gumbrecht und George Steiner. Ihre Denkansätze sind grundverschieden und lassen sich auf die hier skizzierten Konzepte von Präsens und Präsenz beziehen. Steiners Theorie tritt am reinsten in seinem Buch Von realer Gegenwart (1990) zutage. Der Titel der englischen Originalausgabe Real presences (1989) erinnert an die theologische Herkunft des Begriffs. Unter Realpräsenz versteht man in der katholischen Dogmatik »die wirkliche und bleibende Gegenwart Jesu Christi in den konsekrierten Gaben von Brot und Wein in der Eucharistie«.24 In Anlehnung an den russischen Religionsphilosophen Pavel Florenskij lehnt Steiner die von Moderationen und Interpretationen zerfressene Moderne ab und entwirft das Bild einer antiakademischen Kunstrepublik von Schriftstellern und Lesern, in der jede Interpretation verboten ist, weil das Kunstwerk selbst immer schon Kritik ist (als »Gegenaussage« zur Lebenswelt) und damit andere kritische Kommentare überflüssig macht. Insofern eignet dem Werk eine quasi-religiöse Aura, ein »unreduzierbares Gewicht der Andersheit«, es stiftet keine Heimat, sondern »Fremde«.25 Die Gegenwart des Kunstwerks ist insofern zeitlos: »Ernsthafte Werke werden weder überholt noch verdrängt; große Kunst wird nicht antiquarischem Status überantwortet; Chartres altert nicht.«26 Emanzipation von jeglicher Ethik, Triumph der Form, religiöser Grundbezug: Das sind für Steiner die Voraussetzungen wahrer künstlerischer Gegenwart jenseits der historischen Zeit. Paul Celan ist ein Gewährsmann für diese Theorie der Gegenwartsliteratur. Die Gedichte Celans, schreibt Steiner, »lassen 24 | Beinert, Wolfgang (Hg.): Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg u.a.: Herder 1987, S. 432. 25 | Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß, aus dem Englischen von Jörg Trobitius, München/ Wien: Hanser 1990, S. 186f. 26 | Steiner, George: Grammatik der Schöpfung, aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München/Wien: Hanser 2001, S. 263f.

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sich durch keinen Öffentlichkeitsbezug erhellen«, sie »sind vielmehr ein Aufstand der Literatur gegen die Sprache«.27 Anders als Steiner argumentiert Gumbrecht. Er beklagt nicht zuwenig Gegenwart in der Literatur unserer Tage, sondern »zuviel« und »gleichzeitig nicht mehr genug« davon.28 Die Gegenwart, so Gumbrecht, verschlucke die Zukunft, die wir noch nicht sehen, und die Vergangenheit, die wir nicht mehr hinter uns lassen würden. Zwischen der Zukunft endlich, die uns bedroht, und der Vergangenheit, die uns überflutet, ist aus der kaum wahrnehmbaren kurzen Gegenwart eine sich immer stärker verbreiternde Gegenwart der Simultaneitäten geworden.29 Diese Gegenwart ist nicht ein ausgedehnter »Karsamstag« wie bei Steiner, in dem poetisches Schaffen einem unermesslichen »Warten und Erwarten« entspringt,30 sondern ein Moloch der technischen Moderne, die alle Informationen frisst. Sport und Massenkultur sind für Gumbrecht »gute Zeichen« dieser Gegenwart. Gefragt sind eine »Leidenschaft der Nähe zu den Dingen«, selbstreflexives Denken und die »Gewissheit von der Präsenz des eigenen Körpers«.31 Gumbrechts Formel für diese empathische Präsenz der Kultur lautet Unsere breite Gegenwart (so der Titel seines Essays von 2010). Die Gegenwart in diesem Sinne von Präsenz ist breit, raumfüllend, nicht aber eng oder tief wie bei Steiner. Sichtbar ist sie in Spuren, in Furchen. Die Furche, so schreibt Gumbrecht in seiner Deutung von János Pilinszkys Gedichts Apokryph (1956), ist eine Spur der Vergangenheit, die nicht vergeht und sich weigert zurückzubleiben; sie ist 27 | Steiner, George: Nach Babel. Schriften 5, Deutsch von Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 196. Vgl. auch Ders.: Nördlich der Zukunft, in: Ders.: Im Raum der Stille. Lektüren, aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 226-238. 28 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, aus dem Englischen von Frank Born, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 131. 29 | Ebd., S. 104f. 30 | G. Steiner: Von realer Gegenwart, S. 302. 31 | H.U. Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, S. 134, 138. »Präsenz«, so definiert Gumbrecht es an anderer Stelle, meint etwas, das sich »vor uns« befindet, »in Reichweite unseres Körpers und für diesen greifbar« (Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 33).

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»eine spezifische Gegenwart, die Gegenwart des Chronotopen des Fortschritts, der langsamer wird und Schmerzen mit Spuren erzeugt«.32

2. G egenwart im G edicht : G ünter G r assʼ Was gesagt werden muss Günter Grass ist ein Lyriker der zweiten Stunde in der Nachkriegsliteratur. In Absetzung von Brechts engagierter Poesie und Benns monologischem Artistenevangelium schlug er einen neuen Ton in dem von der Gruppe 47 dominierten Literaturbetrieb an.33 In den Gedichten von Grass wurde eine am Barock und an Camus geschulte Sachlichkeit des Absurden und Grotesken laut, die manchem nicht so recht geheuer war.34 Peter Rühmkorf betonte die Offenheit von Grass’ Gedichten »gegenüber Weltstoff und Wirklichkeit. Diese Lyrik spielte sich nicht mehr im luftund menschenleeren Raume ab, sondern bezog sich auf, verhielt sich zu, brach sich an: Gegenstand und Gegenwart.«35 Als Ausgefragt (1967) erschien, Grass’ dritter Lyrikband, erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki: Als er noch ein Anfänger war, 1958, sagte Grass, in seinen Gedichten versuche er, »faßbare Gegenstände von aller Ideologie zu befreien […] und in Situationen zu bringen, in denen es schwerfällt, das Gesicht zu bewahren […]«. Das gilt bis heute:

32 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, aus dem amerikanischen Englisch von Frank Born, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 310. 33 | Zu Grass’ erster Lyriklesung in Berlin im Mai 1955 vgl. Jürgs, Michael: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters, München: Bertelsmann 2002, S. 92-97. Vgl. auch Zimmermann, Harro: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses, Göttingen: Steidl 2006, S. 31ff. 34 | Vgl. Hans Mayers Bericht über Grass’ Leipziger Lesung – aus seinem ersten Roman Die Blechtrommel – im März 1961, kurz vor dem Mauerbau, in: Mayer, Hans: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, Bd. 2, S. 237-239. 35 | P. Rühmkorf: Das lyrische Weltbild, S. 37.

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Er genießt die Gegenständlichkeit unserer Welt, deren unvoreingenommene Darstellung schockieren soll. 36

Das politische Gedicht bricht sich an der Gegenwart und will provozieren, indem es das »Schöne« »schief« darstellt und die »Symmetrie« zerlächelt: »Denn zwischen Schwarz und Weiß,/immer verängstigt,/grämen sich Zwischentöne./Mein großes Ja/bildet Sätze mit kleinem nein.«37 »Ich war dagegen. Immer schon dagegen«, so dekretiert das Titelgedicht von Ausgefragt.38 ›Dagegen sein‹ ist die Handschrift der Gegenwart im Gedicht von Grass. Es ist eine Gegenwart, die in widerspenstigen Worten, kurzen Versen, zeilenbeugenden Aussagesätzen zum Ausdruck kommt. Das Gedicht zeigt die politisch-rhetorische Seite dieser Gegenwart, und es vollbringt dies, anders als die politische Rede, mit den sprachlichen und gestischen Mitteln der Poesie. Dabei müssen keine ausgefeilten Verse herauskommen – und vielleicht darf das auch gar nicht der Fall sein. Wenn Grass die »Semantik über die Form, die Botschaft über die sprachlichen Mittel, die Rhetorik über das Metrum« triumphieren lässt,39 geht es ihm darum, seine Zeitgenossen vor Leichtgläubigkeit und Leichtfertigkeit zu warnen, wie in einem Gedicht aus dem Roman Der Butt (1977): »Vorsicht! Sage ich, Vorsicht./[…]/Zeit bricht um./Wahrsager ambulant.«40 Mit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung kam die Gegenwart als ein politisches Ereignis ins Gedicht, das ganz unterschiedlich gewertet wurde. Grass war einer der tonangebenden Kritiker. Grimmig mustert er in dem Band gleichen Titels das Novemberland (1993), dokumentiert das vermeintliche Leid der Deutschen und ihren Kummer nach vollzogener ›Wende‹, empört sich über den Lastenausgleich und die Abwicklungsgeschäfte der Treuhand. Das ist im Sinne einer breitgetre36 | Reich-Ranicki, Marcel: Neue Gedichte von Günter Grass, in: Die Zeit vom 19.05.1967: https://www.zeit.de/1967/20/neue-gedichte-von-guenter-grass (zuletzt aufgerufen am: 23.04.2018). 37 | Grass, Günter: Werkausgabe, hg. v. Volker Neuhaus u. Daniela Hermes, Göttingen: Steidl 1997, Bd. 1, S. 137. 38 | Ebd., S. 133. 39 | Vgl Soboczynski, Adam: »Mit strammem Strahl«, in: Die Zeit vom 11.10.2012: https://www.zeit.de/2012/42/Lyrik-Gedicht-Guenter-Grass-Eintagsfliegen(zuletzt aufgerufen am: 23.04.2018) über Grass’ Lyrikband Eintagsfliegen (2012). 40 | Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 8, S. 55 und Bd. 1, S. 219.

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tenen Gegenwart bitter gesagt. Doch der Großteil der Kritik hat geflissentlich übersehen, dass Grass seine Sonette nicht nur in die Memento mori-Tradition barocker Zeitgedichte stellt, sondern auch eine ästhetische Forderung an die Gegenwart richtet. Er nutzt die Form, um dem Augenblicksfuror Gewicht und Dauer zu verleihen.41 »Auf alte Zeitung, die im Garten treibt, unstetig,/und sich an Dornen reißt, auf Suche nach Ästhetik,/schlägt wütig Gegenwart, ein rüder Hagelschauer;/November spottet aller Schönschrift Dauer«,42 so beginnt das Gedicht Außer Plan und setzt dabei in der diatribischen Tradition Heines, der im Buch der Lieder (1822/23) »ästhetisch« auf »Teetisch« reimte, auch gleich eine beständige Ästhetik ›außer Plan‹. Das Gedicht Was gesagt werden muss erschien, nachdem es von der Wochenzeitung Die Zeit abgelehnt worden war, am 4. April 2012 gleichzeitig in den Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung, La Repubblica und El País. Die Publikationsorte verbreitern die Gegenwart. Der Nobelpreisträger Grass tritt als europäisches Gewissen auf. Das ist einerseits mutig, andererseits aber auch bedenklich, denn Israel, dessen Kernwaffenbesitz der Sprecher des Gedichts benutzt, um Israels Anteil an einer Gefährdung des Weltfriedens zu kritisieren, gehört zur deutschen Politik und zur europäischen Geschichte, die wiederum selbst belastet ist durch den Holocaust und die nationalsozialistische Rassenpolitik. Was gesagt werden muss ist ein langes Zeit-Gedicht, und auch das macht die Gegenwart breiter, als man es normalerweise von einem politischen Gedicht erwarten würde. Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind.

41 | Jan Wagner weist in einem klugen Aufsatz auf das Risiko hin, dass »das kraftvolle Wort eines Predigers in der Wüste schlicht zur wüsten Predigt zu werden droht«; vgl. Wagner, Jan: Thraenen des Vaterlands, in: Frankfurter Rundschau vom 15.08.2002: www.lyrikwelt.de/rezensionen/novemberland-r.htm (zuletzt aufgerufen am: 23.04.2018). 42 | Grass, Günter: Novemberland. 13 Sonette, Göttingen: Steidl 1993, S. 19.

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Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird. Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten – ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist? Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt »Antisemitismus« ist geläufig. Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß. Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft,

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die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre. Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen.

Was gesagt werden muss ist ein siebenstrophiges Gedicht mit freien Rhythmen, das ganz im Sinne von Bertolt Brechts Gebrauchslyrik auf eingän-

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giges Verständnis und eine handfeste Botschaft setzt. Diese Botschaft steht ungefähr in der Mitte des Textes: »Die Atommacht Israel gefährdet/ den ohnehin brüchigen Weltfrieden?« Doch diese pazifistisch klingende Aussage ist als Frage formuliert, genauer gesagt: als Skepsis und Selbstzweifel, der zu Grass’ lyrischem Aussagemodus gehört. Vier Mal ist das hartnäckige »Warum« gesetzt, am Strophen- und dreimal gleich am Versbeginn. Die Frage nach dem Zeugnis der Anfänge, nach dem Ursprung43 bestimmt den Versuch des Sprechers, sich in der Gegenwart zu verorten. Wer spricht? Ein zweifelndes Ich, das »zu lange« geschwiegen und verschwiegen hat, was längst hätte gesagt werden müssen, was aber aufgrund seiner »von nie zu tilgendem Makel behaftet[en] Herkunft« tabuisiert wurde. Dieses Ich ist nahezu vollkommen einig mit dem Autor Günter Grass, aber die hartnäckige Frageform des Gedichts rückt es in eine kleine Distanz zu dem Autor als sich einmischendem Bürger. Grass spricht von »Makel« (auch in dem Gedichtband Dummer August, 2007) und »Mitschuld«, von dem »Verdikt ›Antisemitismus‹« und stellt damit seine Botschaft in den Diskurs der »Vergangenheitsbewältigung«.44 In diesem Diskurs ist natürlich eine Position prekär, aus den Tätern überlebende Opfer und aus den Opfern potentielle Täter zu machen, die Täter-Opfer-Geschichte also umzudrehen und der globalen Gegenwart entgegenzustellen; Grass sagt »zuzumuten«. Hinter dem gegenwärtigen Anlass – der Lieferung eines deutschen U-Boots nach Israel – tritt die Problematisierung des Sprechens leicht zurück. Sie ist selbsthistorisierend (»Warum aber schwieg ich bislang?«), selbstprüfend (»empfinde ich als belastende Lüge«) und im Gestus eines Warnpropheten gehalten (»weil wir – als Deutsche belastet genug –/Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,/das voraussehbar ist«). Und hier kommt, auf der Ebene der breiten Gegenwart, auch ein Anschein der »Aura von Moralität« ins Spiel, mit der sich Grass als spätes ›Opfer‹ der Geschichte ausstattet.45 43 | »Nichts zeugt von meinen Anfängen«, heißt es in Beim Häuten der Zwiebel; vgl. Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen: Steidl 2006, S. 63. 44 | Vgl. Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld: transcript Verlag, 2009, 2. Aufl. 45 | Gumbrecht, Hans Ulrich: »Deutsche haben das Trauma von 1945 nicht überwunden«, in: Welt vom 9.4.2012: https://www.welt.de/kultur/article106164323/

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Wer das Gedicht als politischen Leitartikel in Versform liest,46 sieht über diese autobiographische Spur hinweg, die eine Gegenwart des Sprechens suggeriert, die ohne das, was zuvor verschwiegen wurde, aber nicht möglich ist. Aus dieser »Spannung zwischen dem Sprechenwollen und dem Schweigenmüssen«, der »Subjektivität der Form« und dem »Objektivitätsanspruch« mit »Leitartikelton«, aus der »Spannung zwischen metrischer und prosaischer Lesbarkeit« entsteht die Kunst des Gedichts.47 Es spricht aus und zu der Gegenwart, gegen die es sich wehrt, und es spricht als Provokation der Gegenwart, störrisch und drastisch, so als »hätte Grass das Wörterbuch an der Kehle gepackt«.48 Der Sprecher bekennt sich zu seiner nachlassenden Kraft: »gealtert und mit letzter Tinte«.49 Das Gedicht, mit dem der 85-jährige Grass seiner Zeit ein letztes Mal die Leviten las, spricht auch vom Vergehen und vom unaufhaltsamen Verfall der Zeit. So wird es zu einem Zeit-Gedicht gegen die Gegenwart.

Deutsche-haben-das-Trauma-von-1945-nicht-ueberwunden.html (zuletzt aufgerufen am: 23.04.2018). 46 | So Frank Schirrmacher: »Was Grass uns sagen will«, in: FAZ vom 4.4.2012, S. 1: »Es ist ein Machwerk des Ressentiments, es ist, wie Nietzsche über das Ressentiment sagt, ein Dokument der ›imaginären Rache‹ einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation.« Vgl. auch Grünbein, Durs: »Er ist ein Prediger mit dem Holzhammer«, in: FAZ vom 11.4.2012, S. 9. 47 | Detering, Heinrich: »Prosaische Metrik oder lyrische Hochstapelei?«, in: Cicero online, 16.4.2012: https://www.cicero.de/kultur/prosaische-metrik-oderlyri​s che-hochstapelei/48966 (zuletzt aufgerufen am: 24.04.2018). Vgl. auch Ders./Per Øhrgaard (Hg.): Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Grassʼ Was gesagt werden muss und die deutsche Debatte, Göttingen: Steidl 2013. 48 | Steiner, George: Anmerkung zu Grass, in: Ders.: Schriften 2: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Deutsch von Axel Kaun, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 186. 49 | »mir fehlts an Kraft, mit grobem Keil/den groben Klotz zu spalten«, schreibt Grass in seinem letzten Lyrikband Vonne Endlichkait (Göttingen: Steidl 2015, S. 25).

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3. A ur a und P r äsenz : Paul C el ans S chibboleth Celan misst die Gegenwart in der Lyrik auf eine ganz andere Weise als Benn, der sich artistisch von ihr distanziert, anders als Brecht, für den ihr öffentlicher Gebrauch zählte, anders als Grass, der mit dem operativen Einsatz lyrischer Aufträge rechnet. Er setzt nicht den »Gravis des Historischen« und auch nicht den »Zirkumflex – ein Dehnungszeichen – des Ewigen«, sondern den »Akut des Heutigen« (GW 3, 190).50 Seine Grammatik der Zeit ist ein Plädoyer für das Aktuelle. Damit bekommt das Gedicht eine Aura, die von manchen Kritikern auf ihr surrealistisches Erbe verkürzt wurde, aber weitaus eher mit der Utopie einer Gegenwart zu tun hat, die »ins Offene und Leere und Freie« spricht.51 Das Gedicht In eins stammt aus dem Zeitraum, als Celans äußeres Exil endete.52 Celan setzt sich hier mit seiner jüdischen Herkunft und mit dem Exil russischer Dichter auseinander; das Wort »Juden« taucht zum ersten Mal seit der Todesfuge wieder auf, der Begriff »Exil« zum ersten Mal überhaupt. Herkunft und Exil werden »In eins« gesetzt. So kommt es zu einer spannungsvollen und gebrochenen Vereinigung: In eins Dreizehnter Feber. Im Herzmund erwachtes Schibboleth. Mit dir, Peuple de Paris. No pasarán. Schäfchen zur Linken: er, Abadias, der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden über das Feld, im Exil stand weiß eine Wolke

50 | Celans Werke werden zitiert nach der Ausgabe: Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 mit der Sigle GW, römischer Band- und arabischer Seitenzahl. 51 | GW 3, 199. 52 | Zu datieren ist es auf den Zeitraum Januar bis Mai 1962; vgl. Barbara Wiedemanns Kommentar in: Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, komm. und hg. v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 700.

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menschlichen Adels, er sprach uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war Hirten-Spanisch, darin, im Eislicht des Kreuzers »Aurora«: die Bruderhand, winkend mit der von den wortgroßen Augen genommenen Binde – Petropolis, der Unvergessenen Wanderstadt lag auch dir toskanisch zu Herzen. Friede den Hütten! (GW 1, 270)

Mit einem Datum und in vier Sprachen beginnt das Gedicht, mit einem aus dem Französischen übersetzten Zitat endet es. Das Zitieren und Datieren ist eines der Kompositionsprinzipien nicht nur dieses Gedichts.53 Es ist anderer Sprachen und Geschichten eingedenk. Das ist mehr als die Arbeit an der Erinnerung. Indem es bei etwas »verweilt oder verhofft«, das zeitlich und räumlich fern liegt, aktualisiert es etwas, das zu erinnern ist.54 Sie gedenken der Orte in einer »Zeit, die nicht mehr ist«. Insofern wird das Exil zu einer zeitlichen Vorstellung, zu einer »Zeitschaft«, wie Ruth Klüger sagt,55 die einzelschicksalhaft durch die Zeit und ihre Daten hindurchgreift, nicht über sie hinweggeht.56 »Dreizehnter Feber« bezieht sich auf eine Reihe gescheiterter Revolutionsversuche mit Exilschicksalen in der Folge, vom Wiener Arbeiteraufstand (1934) über den Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs (1936) und 53 | Vgl. Sparr, Thomas: »In eins«, in: Jürgen Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans Die Niemandsrose, Heidelberg: Winter 1998, 2. Aufl., S. 271. 54 | Das Verb »verhoffen« kommt aus der Jägersprache und meint das Verweilen des Wilds, impliziert aber zugleich einen Widerstand gegen ein wohlfeiles »Prinzip Hoffnung«. 55 | Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend in Deutschland, Göttingen: Wallstein 1992, S. 79. 56 | Vgl. dazu Manger, Klaus: Gewieherte Tumbagebete. Totengedächtnis in der Dichtung Paul Celans, in: Günter Seubold/Thomas Schmaus (Hg.): Ästhetik des Todes. Tod und Sterben in der Kunst der Moderne, Bonn: DenkMal Verlag 2013, S. 217-237, hier S. 235.

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Österreichs Kapitulation vor Hitler (1938) bis zur Pariser Massendemonstration gegen den Algerienkrieg (1962). Im Gegenzug erinnert die dritte Versgruppe an die Geschichte einer zunächst erfolgreichen Revolution. Die Warnschüsse des Kreuzers »Aurora« auf das Petersburger Winterpalais eröffneten 1917 die russische Oktoberrevolution. Celan weiß, dass dieser Revolution auch Exilgeschichten folgten. Die Ineinssetzung der Daten und Zitate im Gedicht erinnern an die lange Geschichte des Exils. Dieses Exil bekommt aber auf einmal – und das ist eine Besonderheit in Celans Lyrik – eine hoffnungsvolle Dimension. Die zweite Versgruppe mit dem alten spanischen Exilanten, der seine Schafe behütet und seinerseits von einer »Wolke menschlichen Adels« behütet wird, entwirft eine bukolische Idylle. Hier folgen auf die schroffen Kurzsätze der ersten Versgruppe ruhig dahinfließende Rhythmen. Auch der Schlussvers drückt eine Hoffnung aus, ein Losungswort des Friedens, ohne dabei die Geschichte von Flucht und Verfolgung vergessen zu machen. Das Gedicht ist ausgespannt zwischen Losungen: dem spanischen Schlachtruf der internationalen Brigaden No pasáran und dem aus dem Französischen übersetzten, von Georg Büchner bis Volker Braun immer wieder aufgegriffenen Kampfruf der Jakobiner Friede den Hütten. spannt sich die Erinnerung an europäische Exilschicksale und Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts.

4. W as ist Z eit – im G edicht ? Ich fasse meine Überlegungen in folgenden Thesen zusammen: 1. Lyrik und Zeit stehen in einem raumzeitlichen Verhältnis. Wie diese Relation gestaltet wird, hängt davon ab, wie das Präsens und die Präsenz im Gedicht zum Ausdruck kommen: als enge bzw. tiefe ›reale Gegenwart‹ in der Aura des Gedichts oder als simultane, ›breite Gegenwart‹ mit Spuren kritischer Zeitgenossenschaft. 2. Diese ›breite‹ Gegenwart ist ein Chronotop der Öffentlichkeit. Die Zeit tritt ins Sein. Es geht um räumliche Inszenierung von Zeitgenossenschaft, um das Kunstwerk in der Arena, um das Politische in der Literatur. Die ›tiefe‹ Gegenwart ist ein Chronotop der Erinnerung. Das Sein tritt in die Zeit und macht die Dauerhaftigkeit und Zeit-Erhabenheit der Gegenwart bewusst. Dabei spielt interessanterweise

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weniger die Feier, vielmehr das Leiden an einer Gegenwart eine Rolle, die der Erkenntnis oder Erfahrung des Gedichts nicht gewachsen ist. 3. Der Widerstand der Poesie ist das Eigenleben der Zeit. Die Zeit im Gedicht ist ein so eigenwilliges Phänomen, dass sie sich weder in feste Versfüße noch in eine inhaltliche Botschaft einbinden lässt. Dass die Zeit im Gedicht eine Sache der Literatur ist, hat die Neurowissenschaft bestätigt. Neurologische Versuche, die Dauer der Gegenwart zu ermitteln, ergaben, dass Reize nur drei Sekunden lang zu einer Wahrnehmungseinheit zusammengefasst werden, also zum Beispiel als eine Gruppe zusammengehöriger Töne wahrgenommen werden. Für Ernst Pöppel machen diese drei Sekunden unser subjektives Erlebnis der Gegenwart, unser ›Jetzt‹ aus.57 Auch die gesprochene (nicht die geschriebene) Vers-Einheit ist ein Drei-Sekunden-Phänomen. Das gilt universell. Der Vers konstituiert somit eine Gegenwart im Sprechen und Hören. Der Gedichtvers füllt unser Jetzt optimal aus, er ist das Fenster zur Gegenwart, das ›Gegenwartsfenster‹: »Zwei, drei Takte nur, und du bist/Passé«.58

57 | Vgl. Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1985. 58 | Grünbein, Durs: Erklärte Nacht. Gedichte, Berlin: Suhrkamp 2002, S. 111.

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Das Gedicht als Akt des Widerstands Versuch zu einer Semantik der Zäsur Amelia Valtolina

Nach all den so genannten turns in der gegenwärtigen literaturkritischen Debatte müsste eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Gedicht als Akt des Widerstands vermutlich als unzeitgemäß gelten, wenn man von folgenden Worten Theodor W. Adornos aus seiner Konfrontation mit Jean-Paul Sartre ausginge: »Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.«1 Trotz jeglichen Vorwurfs von Formalismus, ist es doch kein ästhetisierender Ansatz, die Form des Gedichts per se als Widerstandsgeste eruieren zu wollen: Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Epoche, wo sich das ›Storytelling‹ als Strategie des politisch-ökonomischen sowie des kulturellen Diskurses durchgesetzt hat,2 gestaltet sich das Gedicht mit seinen Pausen, Brüchen und Zäsuren immer noch als privilegierter Ort einer Aufhebung der herrschenden Syntax. Natürlich war es immer so. Seit jeher, oder wenigstens seit Hölderlins Anmerkungen über seine Übersetzungen aus Sophokles und Pindar, wurde die immanente Diskontinuität des poetischen Duktus als Voraussetzung von dessen GegenWorten erkannt, aber erst im letzten Jahrhun1 | Adorno, Theodor W.: »Engagement«, in: Ders.: Noten zur Literatur III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 114. Vgl. auch, in diesem Sinne, folgende aus den 1980er Jahren stammende Feststellung von Gérard Raulet: »The form itself of the poem and its crucial attitude towards its raw material, language, are essentially political«, in: Ders.: »The Logic of Decomposition. German Poetry in the 1960s«, in: New German Critique 21.3 (1980), S. 81-112, hier S. 83. 2 | Vgl. den Beitrag von Judith Sarfati Lanter in diesem Band.

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dert vermag sie ihr Potenzial als Widerstandsgestus zu behaupten. Man lese in diesem Sinne die bekannte Kusmitsch-Episode in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke: Der Schwindel, der Maltes Pariser Nachbarn erfasst hat, seitdem er seine Zeit zu kapitalisieren versucht und dabei Zeit und Geld verwechselt, (»als ob sich das nicht auseinanderhalten ließe«),3 stellt ja das groteske und unhaufhaltsame Verfließen des modernen Lebens dar, das nach Georg Simmel vom Geld vergegenständlicht wird,4 gilt aber im Roman auch als Voraussetzung für eine poetologische Erkenntnis: Er lag und sagte lange Gedichte her, Gedichte von Puschkin und Nekrassow, in dem Tonfall, in dem Kinder Gedichte hersagen […]. Man sollte nicht glauben, wie das half. Wenn man ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmäßiger Betonung der Endreime, dann war gewissermaßen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich. 5

Die Beharrlichkeit, mit der Kusmitsch sich an das poetische Wort klammert, um der Entfremdung standzuhalten, bedeutet nicht bloß eine Pause im Schwindel: Sie behauptet zugleich die Widerständigkeit der Poesie. Dank seiner Endreime, also seiner Zäsuren, deckt hier das Gedicht eine andersartig reiche Zeit auf, eine ›Atemwende‹, die dem Rhythmus der ökonomischen und ökonomisierenden Welt widerspricht. Ein Jahrzehnt später als Rilke dies schrieb, beschäftigte sich auch Walter Benjamin mit dem Begriff der »Zäsur«. In Anlehnung an Friedrich Hölderlins Gedanken zur Zäsur als »gegenrhythmische Unterbrechung« in seinen Anmerkungen zum Ödipus,6 versuchte er in seinem Essay über 3 | Rilke, Rainer M.: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1996, Bd. VI., S. 864-870, hier S. 868. 4 | Vgl. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, hg. v. Karl M. Guth, Berlin: Verlag der Kontumax 2016, S. 603: »Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun gibt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld.« Vgl. dazu auch Schlitte, Annika: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels Philosophie des Geldes, München: Wilhelm Fink 2012, insbesondere S. 260-284. 5 | R. M. Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 865, S. 870. 6 | Hölderlin, Johann Ch. Friedrich: Werke und Briefe, hg. v. Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, Frankfurt a.M.: Insel 1969, Bd. 2, S. 730: »Der tragische Trans-

Das Gedicht als Akt des Widerstands

Goethes Wahlverwandtschaften die Zäsur im Sinne einer Theorie des »Ausdruckslosen« in der Sprache und der Kunst weiter zu bestimmen, und solcher Versuch sollte nicht nur seine Thesen über den Begriff der Geschichte vorwegnehmen, wie man schon bemerkt hat:7 Er sollte vor allem die Zäsur von der Verslehre befreien und sie zu einem Medium der »kritischen Gewalt« umdeuten, die dem Kunstwerk a priori innewohnt. Auf dem Weg zur Erkenntnis ihrer »grundlegenden Bedeutung« 8 ist auch die spätere Aufzeichnung im Passagen-Werk zu verstehen, wo Benjamin sie als »Stillstand in der Denkbewegung« bezeichnet, der seine widerständige Spannung gegen »das Kontinuum des Geschichtsverlaufs« ausdrückt.9 Was aber an dieser materialistischen Fortsetzung von Hölderlins Theorie des Tragischen hervorzuheben ist, hat vor allem mit jener Semantik der Zäsur zu tun, die der Widerstandsgestus der Gegenwartsdichtung weiter stiftet. Auch wenn ihre Gestalt und deren ›ausdrucklose‹ Sprache immer noch dank der Verslehre eine Unterbrechung bzw. einen Bruch im Gang des poetischen Duktus bedeuten kann, so dass sie im Gedicht eine stumme, verfremdende Eloquenz eröffnet,10 verbindet sie sich heute öfters mit port ist nämlich eigentlich leer, und der ungebundeste. Dadurch wird in der rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen, wenn der Transport sich darstellt, das, was man in Silbenmaße Zäsur heißt, das reine Wort, die gegenrhythmische Unterbrechung notwendig, um nämlich dem reißenden Wechsel der Vorstellungen, auf seinem Summum, so zu begegnen, daß alsdann nicht mehr der Wechsel der Vorstellung, sondern die Vorstellung selber erscheint.« 7 | Vgl. Gagnebin, Jeanne Marie: Geschichte als Erzählung bei Walter Benjamin, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 97f. (»Geschichte und Zäsur«). 8 | Benjamin, Walter: »Goethes Waldverwandtschaften«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, Bd. I.1, S. 181. 9 | Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, Bd. V.1, S. 595. 10 | In diesem Sinne, a propos der Zäsur in einem Vers Giorgio Capronis, vgl. Agamben, Giorgio: »Interjection à la césure« in: Poésie 3 (2011), S. 103-104, sowie die Bemerkungen Heideggers über die Reihe von »aber« im Gedicht Andenken, wo Hölderlin durch dies Wort eine wiederholte semantische Zäsur am Anfang des Verses markiert: »Das aber klingt übertrieben, denn es setzt da einen Gegensatz,

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dem Körper der Sprache, mit dem Zeichen – nicht unbedingt mit dem Zeitmaß der Silben –, spielt also ihre Rolle vorwiegend auf der semantischen Ebene des Textes. Der Initiator dieser besonderen, radikaleren Semantik der Zäsur war selbstverständlich Paul Celan, dem das Gedicht selber eine Zäsur war. Sei es eine »Schrunde der Zeit«,11 sei es eine »Stundenzäsur«,12 so setzt sich Celans Gedicht jenseits des Verstummens vor der Gewalt der Welt als »Atemwende« durch: Die durch die Tmesis und Aphärese gespaltenen Wörter tragen die Stigmata der Zäsur, brechen sich an den Grenzen der Verse, ziehen sich zu einem Diphthong zusammen oder werden dort, wo sie sich vereinen, durch den kurzen sie doch verbindenden Strich getrennt. Das sind Celans GegenWorte. Das ist deren Sprachlandschaft: eine Verslandschaft voller Spalten, Rissen und Rillen, wo Vergangenheit, Schmerz sowie Utopie aus der Zäsur, in der Stille des Atmens, gegen Vergessen und Verzweiflung emporsteigen. Ein solches Bekenntnis zur Zäsur, die als mise en abyme auch die Erinnerung an Hölderlin zum Vorschein bringt (»und [ich] zackere an/der Königszäsur/wie Jener/am Pindar«),13 sei übrigens nicht nur als Höhepunkt einer solchen Poetologie im letzten Jahrhundert zu betrachten, denn sie hat, zusammen mit Benjamins Gedanken über »das Ausdruckslose« für die zeitgenössische Dichtung und deren GegenWorte Schule gemacht. Glaubte Benjamin, dass die »grundlegende Bedeutung [der Zäsur] noch nicht erkannt zu sein scheint«,14 so sollte man doch dies Wort heute nochmals wiederholen und dabei betonen, dass eine Geschichte der Zäsur in der Lyrik des 20. Jahrhunderts immer noch zu verfassen ist und dass sie die wo wir kaum dergleichen suchen […] Andenken ist eine einzige in sich gefügte Fuge des aber, die das Wort des Rätsels nennt.« Heidegger, Martin: »›Andenken‹«, in: Ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1996, 6., erweiterte Ausgabe, S. 79-151, hier S. 101, S. 151. 11 | Celan, Paul: »Vor einer Kerze«, in: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Beda Alleman und Stefan Reichert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch 2000, Bd. I, S. 110-111, hier S. 111. 12 | Celan, Paul: »Und mit dem Buch aus Tarussa«, ebd., S. 287-291, hier S. 288. 13 | Celan, Paul: »ICH TRINK WEIN«, ebd., Bd. III, S. 108. Vgl. dazu Bosco, Lorella: Tra Babilonia e Gerusalemme. Scrittori tedeschi e il »terzo spazio«, Milano: Bruno Mondadori 2012, S. 210-231 sowie Böschenstein, Bernhard: »Hölderlin und Celan«, in: Hölderlin-Jahrbuch XXIII (1982/1983), S. 147-155. 14 | W. Benjamin: »Goethes Wahlverwandschaften«, S. 181.

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notwendige Voraussetzung darstellt, um die Widerständigkeit des aktuellen Gedichts untersuchen zu können. Von einer solchen Geschichte soll dieser Beitrag bloß einen kurzen Abschnitt schreiben, wobei der kritische Blick sich auf zwei verschiedene Gestalten der Zäsur fokussiert, die als ligatura und interruptio bezeichnet seien. Dass die Gestalt der Zäsur in beiden Fällen den Akt des Widerstands im poetischen Vers begründet, soll im Folgenden gezeigt werden. Was ist hier mit ligatura gemeint, die im Wortsinn eigentlich auf keine Zäsur, sondern ganz im Gegenteil auf eine Verbindung hindeutet?15 Sie ist, mit ihrem provozierenden Verbindungsversprechen, die Hauptfigur bzw. die Hauptzäsur der Gedichte von Lutz Seiler, nicht nur der »spastischen« Verse seiner ersten Gedichtsammlungen, sondern seiner Dichtung überhaupt, denn in diesem Zeichen nimmt eine Poetik des Widerstands Gestalt an, wodurch Seilers Gedichte unerbittlich in das hic et nunc einschneiden, es beschneiden und dabei eine schmerzbelastete, traumatische Vergangenheit in die Gegenwart der Erinnerung zutage fördern.16 Wie im Titel des Gedichts aus der gleichnamigen Sammlung pech 15 | Entstanden im 4.Jahrhundert mit der Kursivschreibung des Lateinischen und der anderen Nationalsprachen, ersetzte die ligatura von nun an das Bindewort »et«; dieses neue Zeichen »&« verband bis zu den Manuskripten des 11. und 12. Jahrhundert alles, was man mit der Schrift verbinden konnte, bis die Hand der Kopisten den zu engen Knoten löste, das »et« wieder schrieb und das »&« nur zu Dekorationszwecken verwendete. Im Zeitalter des Buchdrucks kehrte aber das »&«, nunmehr eine Drucktype, zurück und ersetzte wieder das »et«, und zwar auf vielen Seiten und viele Jahrhunderte lang. Nach einem erneuten Niedergang erfolgte eine weitere Rückkehr: Nicht mehr um Gedanken und Wörter zu verbinden, sondern Firmenbezeichnungen, als Kaufmanns-Und, kaufmännisches Und oder Firmen-Und. 16 | Vgl. van der Knaap, Ewout: »Seilers lyrische Zeitkapseln. Laudatio für Lutz Seiler zum Ernst-Meister-Preis für Lyrik«, in: Weimarer Beiträge 4 (2004), S. 623627, hier S. 624. Zu einer anderen Interpretation der ligatura mit besonderem Hinweis auf Seilers erste Gedichtsammlungen, vgl. Ulrich, Silvia: »Lutz Seiler. Tra linguaggio e assenza di parole«, in: Maurizio Pirro/Marcella Costa/Stefania Sbarra (Hg.): »Le storie sono finite e io sono libero.« Sviluppi recenti nella poesia di lingua tedesca, Napoli: Liguori 2003, S. 215-227, insbes. S. 222-223, wo dies Zeichen als Entlarvung der fortschreitenden Ökonomisierung der Post-Ost-Welt betrachtet wird.

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& blende (2000) spaltet dieses ›krumme‹ Zeichen die Worte und Formeln, in denen die Geschichte der DDR, und nicht nur sie, begraben liegt. Die Sprache Seilers hat sich der Pechblende der Bergwelt in der DDR und deren tödlichen Folgen ausgesetzt und daraus hat sie ihre »spastische«, stockende Kleinschrift gewonnen: Eine Schrift, wo das »&« als Zäsur, als Moment des Ausdruckslosen, die Folge der Verse, den Rhythmus des Atems hemmt. Denn in ihrem Stocken tritt das Verdrängte der Geschichte hervor.17 So zum Beispiel im Gedicht im osten der länder, wo das Und-Zeichen einen Spalt im Bild markiert und im eisernen Vorhang des »grenzlands« die eiserne Einengung eines zwanghaften Blicks erscheinen lässt, der ebenso zwanghaft ist wie die Verse, die sich am Ende in einem waghalsigen, utopischen Konjunktiv II verzehren: wind kam auf die grenzland hunde stiegen an ihren zart verästelten gerippen pfiff ein betörend töricht wanderlied. schnee kam auf & riss der eisen vorhang ihrer augen jener stumpfe blick ins hinterland zeigte dass wir uns beschieden. ja wir wären wenn wir hätten gehen können immer fort bei uns geblieben18

17 | »La fission du nom composé en déterminant et déterminé est l’un des procédées poétiques de Seiler, qui multiplie ainsi les réseaux métaphoriques«, Banoun, Bernard: »›Das Eingeweihte schmeckt nach Zeit.‹ Le moi lyrique, le temps et l’histoire dans Sonntags dachte ich an Gott (2004) de Lutz Seiler«, in: Études Germaniques 66. 2 (2011), S. 529-543, hier S. 531. 18 | Seiler, Lutz: »im osten der länder«, in: Ders.: pech & blende. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 35.

Das Gedicht als Akt des Widerstands

Eine Aktion großer sprachlicher Gewalt trennt die Wörter und Bilder, die das »&« verbindet, wobei es den spastischen, gelähmten Duktus in seinem Schriftkörper zugleich materialisiert und aufhebt. Ist die Dichtung ein »orthopädisches Handwerk« (»poesie –/mein orthopädisches Handwerk«),19 damit das lyrische Ich in die Vergangenheit der Erinnerung gehen kann, so lässt die ligatura das Spasmische bzw. das Leiden der Menschen in der Geschichte ›ausdrucklos‹ erscheinen, sei es nur mit ihrem stummen Auftreten in der Mitte des Gedichts, wo ein Vers wie »& aus« nicht nur zwei Bilder mit seinem Schnitt trennt, sondern vor allem die Schichten der Zeit sprengt und die Gegenwart der Erinnerung aufdeckt.20 Diese Poetik der Zäsur kommt freilich nicht nur in dieser ungewöhnlichen, ›gegenrhythmischen‹ ligatura zum Ausdruck: in den vom lyrischen Ich durchzogenen Sprachlandschaften der Gedichtsammlung vierzig kilometer nacht (2003) taucht sie immer wieder an den Übergangsstellen auf, die in Form von »türeingängen«,21 Gedankenstrichen und schwebenden Doppelpunkten (« – exodos:«)22 in der Klaustrophobie einer angstvollen Geschichte ein ungeahntes Fluchtversprechen zeichnen. Oder sie erscheint im gelähmten Schritt der Verse, die gleichsam als Hommage an den expressionistischen Reihungsstil verrenkt sind – ein Gedicht aus dieser Sammlung trägt gar den Titel hoddis –,23 obwohl nun auf diesem spastischen Fortschreiten Traumata lasten, die kein apokalyptisches Pathos wie damals aufzulösen vermöge: Nicht die Katastrophe, sondern vielmehr eine unerhörte Anamnese steht jetzt, wenn überhaupt, der utopischen Entschlossenheit der Poesie, ihrer Widerständigkeit zur Seite. In deutsche alleenstrasse lassen daher die drei Teile des Gedichts mitsamt seiner Zäsuren einen Weg zum Vorschein kommen, der die Verse über den »Totentanz« der Geschichte hinaus zur Gegenwart der vergangenen Kindheit und dessen Geruch zurückführt: »schritt für schritt« folgt das Gedicht der Anamnese einer Geschichte von Gewalt und Tod, während die unter den Versen auftauchende ligatura eine Hemmung 19 | Seiler, Lutz: »hoddis«, in: Ders.: vierzig kilometer nacht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 48. 20 | Vgl. Seiler, Lutz: »schmalhans«, in: Ders: pech & blende, S. 63. 21 | Seiler, Lutz: »›im block‹ meint der erzähler, heisst«, in: Ders.: vierzig kilometer nacht, S. 16-17, hier S. 17. 22 | Seiler, Lutz: »siehst du die welt von osten: wie«, ebd., S. 18-19, hier S. 19. 23 | Vgl. Anm. 19.

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im Fortgehen der Wörter,24 eine Atempause betont, die nicht nur das Schmerzhafte dieses Wegs durch die deutsche Vergangenheit im »Ausdruckslosen« hinüberrettet, sondern auch jeglichen deutschen Unterschied zwischen Osten und Westen, rechts und links aufhebt. Bis in der kurzen, abschließenden dritten Strophe sie »das reine Wort«, echtes »Baumwort« im Sinne Celans,25 einer unschuldigen Kindheit einleitet und gegen die schmerzliche Tiefe der Geschichte die widerständige Klimax »bergauf« skandiert: auf wenig geht alles zurück, die strasse, dann der viehweg, jemand winkt bergauf, das wispern an den fingerspitzen ist ein tau. das kind denkt zu fuss laub & laub & laubgeruch 26

Es würde der poetischen Intelligenz dieser Verse nicht gerecht, wenn man behauptete, dass diese letzte Strophe den aus der Kindheit geretteten Geruch dem Todesschauspiel der Geschichte gegenüberstellt: Durch die Zäsur kommt hier vielmehr das poetische Geschehen zustande, denn das ›zu-Fuss-Denken‹ des Kindes ist buchstäblich das widerständige Denken der Poesie, die in der von der ligatura angezeigten Sprechpause die Versfüße dem utopischen bzw. kindlichen Gang des Gedichts überlässt. 24 | Zum Kommen und Gehen der Verse in Seilers Gedichten, vgl. Dahle, Birgit: »›Die Heimat als Gangart, auch im Vers.‹ Zur Lyrik von Barbara Köhler und Lutz Seiler«, in: Holger Hilbig: Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur, nach dem Ende der DDR, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 133-146. 25 | Vgl. Anm. 6. Zum »Baumwort« und die heraufsteigende Bewegung des Gedichts Seiler, vgl., Celan, Paul: »Im Spätrot«, in: Ders.; Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. I, S. 86 sowie Valtolina, Amelia: »La presenza della poesia«, in: Diletta D’Eredità/Camilla Miglio/Francesca Zimarri (Hg.): Paul Celan in Italia. Un percorso tra ricerca, arti e media 2007-2014, Roma: Sapienza Editrice 2015, S. 173-182. 26 | Seiler, Lutz: »deutsche alleenstrasse«, in: Ders.: vierzig kilometer nacht, S. 69-71, hier S. 71.

Das Gedicht als Akt des Widerstands

In der Gedichtsammlung im felderlatein (2010) zeigt sich die gegenrhythmische Zäsur häufiger im Gedankenstrich, in der Klammer, im Schrägstrich, sogar in einem »fischgrätenstrich«,27 um in das Bedeutungsfeld des Gedichts eine Bresche zu schlagen, die Barrikade ihres eigenen Widerstands zu errichten. Wohl weisen die Gedichte in dieser Sammlung einen noch elegischeren Grundton auf als die früheren, doch lebt das Voranschreiten der Verse hier weiterhin von der »geduld/der widerstände«, wie es im Gedicht ortsteile gab es, orte heißt.28 Dieselbe Geduld als Fortdauern der Poesie im Akt des Widerstands ist der Hintergrund der Verse der Fußball-Elegie die fussinauten mit ihrer Reise auf der Suche nach einer vergrabenen Heimat:29 Denn das Wandern der Fußballmannschaft, die vom Rasen vor dem Reichstag verjagt wurde und sich in den Vororten einen Platz zum Spielen suchen musste, ist ganz eigentlich ein ›geduldiger‹ Akt von Widerstand – ein Widerstand der Poesie auf dem Feld der geschichtlichen Zeit. Das Epigraph dieses aktuellen Epos, nämlich die Verse aus Giorgios Seferis Gedicht Die Argonauten, bietet nicht nur den Rahmen, in dem Seilers Gedicht sowohl die mythische Vergangenheit kreuzt, als auch die in den Straßen begrabene deutsche Vergangenheit (»wielandstraße, früher hitlerring«)30 und die Gegenwart eines wiedervereinten, doch trostlosen Deutschlands. Die am Ende von Seferis Epigraph beschworene Beständigkeit (»Brave Leute waren sie die Gefährten, sie murrten nicht/über die Mühe noch über den Durst noch über die Kälte,/sie verhielten sich nach Art der Bäume und der Wogen/[…] und beständig bleiben im Wechsel«)31 27 | Seiler, Lutz: »das neue reich«, in: Ders.: im felderlatein. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010, S. 11. Die intertextuelle Eloquenz dieses Gedichts lebt von Anspielungen auf Versen von Celan, Hofmannsthal und George. 28 | Seiler, Lutz: »ortsteile gab es, orte«, in: Ders.: im felderlatein, S. 12-13, hier S. 12. Nicht umsonst steht solche »geduld« in diesem Gedicht mit der »poesie« als »nur ein blinzeln, spucken, weiterziehen« in Verbindung. 29 | »[B]ei Seiler ist es [das Kommen und Gehen der Poesie] das Ausgraben von Vergangenheiten, die buchstäblich unter den Füßen liegen«, Leeder, Karen: »Heimat in der neuen deutsche Lyrik«, in: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 135-153, hier S. 149. 30 | Seiler, Lutz: »die fussinauten«, in: Ders.: im felderlatein, S. 75-79, hier S. 77. 31 | Ebd., S. 75.

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wird in den Versen Seilers zu einer ironisch-elegischen Epiphanie der Widerständigkeit des dichterischen Wortes, das sich mit seinem ›Nichtdestotrotz‹ auf dem Feld des menschlichen Leidens behauptet. Wenn der Fuß dieser »fussinauten« ohne Argo und ohne goldenes Vlies ja immer noch und zugleich der Versfuß ist – was in Bezug auf eine Gedichtsammlung, in der der Vers sich ständig »schritt für schritt« vorwärtsbewegt, nicht weiter hervorgehoben werden muss –, so bedeutet sein Weg durch die Geschichte keine Rettung einer vergeblichen Utopie, vielmehr die Aufdeckung einer ›Heimat‹, die die Narben des Leidens aufbewahrt. Während die »fussballfreunde« ihren Spielplatz suchend Berlin durchqueren, zeichnen die Verse die Topographie einer Stadt, wo sich Vergangenheit (»eine/strasse namens forckenbeck:/preußisches herrenhaus der Mann«) und falsche Utopie überschneiden (»so voll & wenig/wirklich«). Das Oxymoron, das die ligatura im Vers bezeichnet, indem sie eine den Atem verlangsamende Pause zwischen den zwei Adjektiven setzt und zugleich die Vorstellung eines paradiesischen Rasens heraufbeschwört und dekonstruiert, wird von dem »ernsten«, diesmal wirklichen Antlitz eines Platzes, konterkariert, der ein Verweilen, wenn nicht ein Zuhause, verspricht. Auf diesem bescheidenen und abgenutzten Spielfeld, das der Dichte eines vermeintlichen goldenen Vlies nicht fremder sein könnte, gelangt der Versfuß zu seinem eigentlichen Ziel, indem der Spielplatz zum Schlachtfeld der Geschichte sowie des Lebens wird, mitsamt all seiner Wunden und Narben: das vlies verblaßt – die fahrten, sind sie ohne ende? Doch frag ich mich leiser, waren nicht die seelen der gefährten längst, sind unsre körper nicht schon lange eins mit jenem ersten antlitz dieses platzes? mit den narben, furchen, mit dem dunklen, abgenutzten?32

An diesem Ort einer immer gegenwärtigen Erinnerung verharren die Verse des Gedichts: Denn hier, inmitten so vieler Zeit- und Verszäsuren leisten sie in der Gegenwart ihren Widerstand, ihre so alte ›Beständigkeit‹. 32 | Ebd., S. 78.

Das Gedicht als Akt des Widerstands

Die bei Seiler im krummen Und-Zeichen offenbar werdende Poetik der Zäsur als unwägbarer Ort und Atem des Gedichts, als dessen Pause im Schweigen, kennzeichnet sich in den Versen von Marcel Beyer durch die besondere Form des Schnitts, der abrupten, unerwarteten interruptio,33 die auch von einer Vermischung ihrer Zäsuren mit denen des ›Rap‹ nicht zurückschreckt, um eine menschliche Bresche in die Gewalttätigkeit der Geschichte zu schlagen. Dass angesichts einer Vergangenheit, die als Gespenst der Gegenwart innewohnt, das dichterische Wort zur Zäsur verpflichtet ist, macht Beyer in seinen im November 2014 gehaltenen »Lichtenberg-Poetikvorlesungen« klar. In ihnen werden die Leerstellen im Stoff der Wirklichkeit zu einer schweigenden Anwesenheit im Geflecht einer Erzählung, die immer wieder innehält, um einer anderen Platz zu machen: Die Vorlesungen, die in zwei Kapitel unterteilt sind, die ihrerseits unterbrochen werden, wobei die so entstandenen Abschnitte mitten in einem unvollendeten Satz abbrechen, verflechten die Erzählung über einen Flug von Paris nach Frankfurt mit den Gedanken über den Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen von Georges Perec und über Cécile Wajsbrots Protokoll der geistigen Erkrankung ihres Vaters.34 Würde man vermuten, dass dieses Netz von verschiedenen narrativen und zeitlichen Ebenen auf eine postmoderne, intertextuelle und montageartige Schreibweise zurückzuführen ist, so muss jedoch hervorgehoben werden, dass diese eigentümliche und radikal diskontinuierliche ars combinatoria vielmehr zum Manifest einer Poetik der Zäsur wird, die als »Schrunde der Zeit«35 die Stigmata der Gegenwart entlarvt.36

33 | »Beyers Gedicht demonstriert die hakeligen, grenzlosen Vernetzungen der Wörter […] den kalkulierten Wechsel von Fluss und interruptio, Stocken und Beschleunigung.« Vgl. Trahms, Gisela: »Wespen würden Marcel Beyer lesen«, in: Die Welt vom 19.10.2014: www.welt.de/133440269. 34 | Vgl. Beyer, Marcel: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen, Göttingen: Wallstein 2015. 35 | Vgl. Anm. 11. 36 | Zu dieser Schreibweise in Beyers Romanen, vgl. Avanessian, Armen: »(Co) Present Tense: Marcel Beyers reads the Past«, in: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 88.4 (2014), S. 363-374, insbes. S. 372: »In Beyer’s presenttense novel, the procedure acquires a whole new meaning: the multiplication serves to add historical depth to events, not to link them up with one another.«

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Von dieser Poetik leben die Gedichte in der Sammlung Graphit (2014), die nicht mehr den Zorn der Verse im Band Falsches Futter (1997) in sich tragen, sich jedoch noch immer einem unerbittlichen Willen zur Demystifizierung fügen und die gespenstische Präsenz der Geschichte im Herzen der Gegenwart verorten. Während die Titel der einzelnen, in den Jahren von 2001 bis 2014 entstandenen Gedichte auf die materielle Gegenständlichkeit der Dinge hinweisen, mit denen sie sich auseinanderzusetzen versuchen (von Blumen und Marmelade zur spätgothischen Schriftart Bastarda), komponiert ihre Folge in der Sammlung eine Gespenstergalerie: Im vergesslichen Land der Gegenwart ist jeder einzelne Gegenstand die schwindende Gestaltwerdung einer verschwiegenen und in der Wortlosigkeit der Vergangenheit begrabenen Gewalt. Die Wiederkehr der »Bärtigen«, also der Heiligen Wilgefortis oder Kümmernis, als einer Märtyrerin aus lang vergangenen Zeiten in die Gegenwart des widerständigen Gestus, mit dem das Gedicht Timide, timide endet (»Timide, timide – Thomas a Kempis,/apokryph. Nein, das sind keine/Frühstücksflocken im Gesicht./Wir wachsen nach. Wir sind/des Fieberns und Sedierens müde.«)37 steht emblematisch für einen poetischen Duktus des Widerstandes, der infolge seiner kontinuierlichen Zäsuren keinen Ausweg aus der Grausamkeit der Geschichte lässt.38 Oft hat man auf die Schwierigkeit, wenn nicht Unverständlichkeit dieser Gedichte, auf ihren vermeintlich monologischen Charakter hingewiesen, als wären sie bloßes Exerzitium eines poeta doctus, der seine seltsamen, von weit her hinübergeschleppten Wörter im Gedicht pflege:39 Denn Autobiographisches und Historisches, Philologie und Botanik, Literatur und Geographie so abrupt und unverbindlich miteinander in Dialog zu setzen, wie es Beyers Verse vermögen, ist ja ein riesiges sprachliches 37 | Beyer, Marcel: »Timide, timide«, in: Ders.: Graphit. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 17. 38 | »With its impromptu, erratic associations full of unexpected twists and turns, Beyer’s poetic language not only obstructs ideological abuse; it also denies his readers a chance to escape into an illusionary, stable poetic world.«, Mundt, Hannelore: »Excursions into German History and poetic Voices: Marcel Beyer’s Falsches Futter«, in: The German Quarterly 84.3 (2011), S. 344-364, hier S. 354. 39 | Vgl. dazu Blamberg, Günter: »Dichten als Beziehungssinn. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Marcel Beyer am 23. November 2014«, in: Kleist-Jahrbuch 2015, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2015, S. 3-6.

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Wagnis. Doch zugleich auch eine Strategie der unaufhörlichen Verunsicherung der Gegenwart, wobei die Zäsur mit ihrer ›gegenrhythmischen Unterbrechung« diese Verunsicherung weiter vertieft, indem sie den Gang des Verses und die Kontinuität der Bilder in Frage stellt. So bricht das verwirrende Auftauchen einer Kette großgeschriebener, auf den ersten Blick unverständlicher Wörter aus dem Grimm’schen Wörterbuch im Gedicht Deine Silbe Grimm – »([…]Sind KNATHMANN, KNAUCH/und KNAUDER.) KNICHWIRTEN/auch, daß dir der Kopf wackelt wie ein Has am/Sattel. Knicklaute sind« – 40 das vermeintliche Lob auf dieses Archiv der deutschen Sprache und lässt dagegen das Gespenstische in den Vordergrund treten, das schon in der zweiten Strophe, dank der schriftlichen Zäsur der Klammern – »(Ein langhaariger,/schwerer Mann samt seinem Schatten, wie er im/Dunklen Anlauf nimmt.)« – erscheint. Sind denn nicht diese Wörter, deren schwindende Bedeutung mit verstecktem Teufel und Grimm zu tun haben, die Boten eines Widerstandes, der seine Silben dem am Ende des Gedichts auftauchenden »Morgengrauen« entgegensetzt? Oder, wie es in Celans Gedicht Die Silbe Schmerz lautet, dagegen »buch-/stabiert[…]«.41 Mit seiner rhythmisch wirkenden narrativen Substanz, die die unerbittliche interruptio ständig gefährdet, arbeitet Beyers Dichtung an einer Montagekunst, die vorwiegend als Anlass zu einer Demontage wirkt: sind also einige Gedichte dieser Sammlung in einem Zyklus verbunden, so bietet diese Form hier nur die Möglichkeit zu einer durchgehenden Folge von Bildern, die sich voneinander unterscheiden und auf diese Weise den ›Querschnitt‹ im Gedicht hervorheben, wodurch eine wiederentdeckte Vergangenheit aus ihrer Versenkung ans Licht zu treten vermag. Wie in der zyklischen Struktur von Graphit, wo zwei Kunstschneelandschaften so assoziiert werden, dass eine unerhörte Spaltung im Text zustande kommt: Das Nebeneinander von dem »Schneimeister« aus Neuss und dem »Schnittmeister/Eisenstein«42 bedeutet eigentlich keine Verbindung zwischen dem Heute von der nahe Hoimbroich gelegenen Skihalle und dem Damals von Eiseisteins Filmepos »Alexander Newski«: Die Schrift, 40 | Beyer, Marcel: »Deine Silbe Grimm«, in: Ders: Graphit, S. 114-115, hier S. 114. 41 | Celan, Paul: »Die Silbe Schmerz«, in: Ders: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. I, S. 280-281, hier S. 281. 42 | Beyer, Marcel: »Graphit«, in: Ders.: Graphit, S. 7-13, hier S. 7, S. 9.

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die die beiden Landschaften durchzieht, verkehrt den Zeitpfeil, so dass sich die zwei Begebenheiten in einer ganz besonders künstlichen bzw. dichterischen Jetztzeit ereignen, wobei die zitierten Worte vom Freund Thomas Kling (»schrift ist durch einen Schneesturm waten«)43 die poetologische Relevanz der diversen Bilder des Schnees entlarven, der am Ende des Gedichts von der schattenreichen, durch die Zeiten widerständigen, gegen jegliche begrabene und ästhetisierte Gewalt, auch gegen das Vergessen (»weil man zu spät/kommt jedesmal zu spät«)44 sich durchsetzenden Spur der Schrift durchkreuzt wird: »Einmal quer durchs/Jahrhundert führt, am Pistenrand/hier, eine Schattenspur: Graphit.«45 Als verunsichernde Strategie trägt die Zäsur immer wieder zur Dekonstruktion der Geschichte, der Bedeutung, des Gedächtnisses bei und unterstützt damit den Widerstand des dichterischen Worts. Für solche Kunst der interruptio ist das Gedicht An die Vermummten eines der beredtsten Beispiele im Werk Beyers. Titel, poetisches Gewebe und zuweilen auch der Duktus sind hier mit dem Gedicht Georg Trakls An die Verstummten im Gespräch, aus dem der Vers »rasend peitscht Gottes Zorn«46 in Großbuchstaben zitiert wird, aber auch das bekannte Lied von Eminem the real Slim Shady lässt plötzlich im zweiten Teil des Gedichts seine Stimme in diesem Gespräch hören. Was aus diesem Gespräch poetologisch bedeutend ist, soll nicht einfach als ein intertextuelles und intermediales Spiel betrachtet werden. Die Rolle dieser zwei ›Urtexte‹ gewinnt erst an Bedeutung, indem sie die Geschichte unterbrechen und unterminieren, die die Verse erzählen, so dass eine Gegen-Geschichte im Präsens des Gedichts aufzutreten vermag. Während der Unterschied zwischen Gut und Böse an Kontur verliert, findet in der Reihe der Bilder und deren Schnitte eine von der offiziellen Geschichtsschreibung verschwiegene Tragödie statt –»(Du sollst den Raum niemals sehen. Dort hat man/ein totes Kind verhört)«–,47 die der zweite Teil des Gedichts mit seinen in runden Klammern einge43 | Ebd., S. 10. 44 | Ebd., S. 13. 45 | Ebd. 46 | Trakl, Georg: »An die Verstummten«, in: Ders.: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 (1972), S. 69. 47 | Beyer, Marcel: »An die Vermummten«, in: Ders.: Graphit, S. 154-155, hier S. 155.

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schobenen Wörtern und Zitaten und seinen gegensätzlichen Zäsuren – »(und kein Purpur)«, »(kein Heavy Metal)«, »(kein Licht)«– aufdeckt. Die »Höhle« in Trakls Gedicht ist hier zum Bunker und »der Wahnsinn der großen Stadt« zum Wahnsinn einer besonderen Stadt geworden, der Stadt Abbottabad, wo eine Spezialeinheit der amerikanischen Truppen Osama Bin Laden im Mai 2011 tötete. Gegen diesen in Bildern, in Reportagen wie Dokumentarfilmen ›bezeugten‹ Militäreinsatz erhebt das Gedicht sein GegenWort, indem es die militärische Aktion von der ›historischen Vergangenheit‹ in eine verdrängte Gegenwart übersetzt. Mit dem chiffrierten Hinweis auf Khalid, den Sohn Bin Ladens, der auf der Treppe des Hauses in Abbottabad getötet wurde, geschieht in den Versen eine weder gefilmte noch niedergeschriebene Geschichte: die des Mordes eines unschuldigen Kindes. Dem Schweigen (»Kein Laut«), womit nicht nur der erste Teil des Gedichts, sondern auch die gefilmte Aktion der ›vermummten‹ Männer endet, stellt der zweite ein anderes ›eisernes‹ bzw. widerständiges Schweigen entgegen, das sich dank der interruptio im Rap-Takt bricht: Oder was, Slim Shady vom Waagplatz, schaust du da, als Bartloser, aufgehübscht unterm Frotteeturban, an deinem Billig-TV, Slim Shady IM TRAUM? Bist mir mein magischer Bruder. Weißt eisern zu schweigen. Wart ab, so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken. (Du sollst den Raum niemals sehen: Dort hat man ein totes Kind verhört.) Rasend peitsch (keine Geiseln) Gottes Zorn (und kein Purpur) des Besessenen (kein Heavy Metal) Stirne (kein Licht). Du hast nur ein Tütchen AURORA, ein Tütchen SARIN, und deinen fiebrigen Blick auf manchmal rosenfarbene Moscheen, nervösere Haut. 48

48 | Ebd. Über das Diskontinuierliche der Sprachzitate, die auf Beyers frühere Tätigkeit als Musikredakteur der Zeitschrift »Spex« von einigen Kritikern zurück-

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Das diskontinuierliche Gewebe von Versfragmenten aus Trakls Gedicht und dem Lied Eminens zeugt nicht nur von der Kunst Beyers in der Demontage einer vermeintlich ›geschichtlichen Wahrheit‹. Was mit Bezug auf die Rolle der Zäsur in dieser Diskontinuität hervorgehoben werden muss, ist vor allem jener »Stillstand«49 in der Versbewegung, den sie ermöglicht. Denn darin besteht das ›eiserne Schweigen‹, das das Gedicht in diesem zweiten Teil herauf beschwört. Nicht um die Erzählung eines verdrängten Mords handelt es sich hier, sondern um die Infragestellung der Gewalttätigkeit, die in der Geschichtsschreibung verborgen ist. Gegen diese Gewalt setzt das Gedicht seinen Widerstandsgestus und dank den im Takt des Raps gesetzten Zäsuren harrt es mit dem unschuldigen Opfer im eisernen Schweigen einer andersartig wahren Wahrheit aus. Seien es die Worte von Georg Trakl oder Elias Canetti, von Robert Walser oder Wolfgang Hilbig, die in Beyers Gedichte Eingang finden: immer schlagen sie im Gedicht eine Wunde, und indem sie ihre Vergangenheit mit der Gegenwart dessen, der im Gedicht ›Ich‹ sagt, durcheinanderbringen, verweisen sie auf die an Zäsuren reiche Gegenwärtigkeit des Gedichts. Und wenn mitsamt dieser fernen Stimmen auch Film, Photographie, Videoclip und Fernsehbilder sich im Blick dieses oftmals un-lyrischen Ichs mischen, unterminiert ihr Auftauchen immer wieder die Darstellbarkeit des im Fokus des Gedichts stehenden Objekts als Konkretisierung von Materie und Erinnerung. Denn jeder der Gegenstände, sei es Osama Bin Ladens Bunker, sei es das Schutzhaus Fodara Vedla,50 auf die diese Gedichte ihren ›verspäteten‹ Blick werfen, wird wie der Schnee im Titelgedicht zu einem »schwindenden Objekt«, einem Gegenstand voller Schweigen, dessen Leerstellen, Bruchstellen, Grenzgebiete die interruptio sichtbar macht: unsichtbare Orte, wo Schatten und Leiden im Stillstand der Wörter plötzlich heraufdämmern. Ja, es »zackert« immer noch an der Zäsur,51 das Gedicht dieses neuen und doch so alten Jahrtausends.

geführt wird, vgl. H. Mundt: »Excursions into German History and poetic Voices: Marcel Beyer’s Falsches Futter«, S. 349-352. 49 | Vgl. Anm. 8. 50 | Vgl. Beyer, Marcel: »Die Maus«, in: Ders.: Graphit, S. 195-201. 51 | Vgl. Anm. 13.

Senilität und Widerstand Ein Exkurs über die italienische Lyrik von Umberto Saba bis Giampiero Neri Alessandro Baldacci Mit dem eigenen Körper, so wie er ist, widerstehen (Antonin Artaud)

Je stärker sich nach und nach die gesellschaftliche und symbolische Marginalisierung des poetischen Diskurses herauskristallisiert und Teil eines sensus communis wird, scheint sich in unserer zeitgenössischen Kultur bezüglich der Erfahrung und dem Schicksal des Senex-Dichters ein ganz eigenartiges Verlangen nach der Aktualität und Vitalität der Dichtkunst abzuzeichnen. Hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten des Widerstandes in der Dichtkunst der heutigen Zeit könnte man dazu auffordern, genau zu beobachten, wie ein Dichter im Alter schreibt. Das Alter ist nicht nur ein zu einem sicheren Untergang bestimmter biologischer Prozess, sondern auch eine der Urformen menschlichen Lebens. In Anlehnung an James Hillman könnte man sagen, dass die Alten »wie ausgestellte Bilder [sind], die biologisches Leben in Imagination, in Kunst umsetzen.«1 Mit der Moderne hat sich die Figur des Alten vom Symbol der Macht und Autorität in eines der (sozialen und existentiellen) Marginalisierung, Zerbrechlichkeit und Frustration verwandelt. Der alte Mensch verkörpert, laut Claudio Magris, nicht mehr länger das Tabu einer sich der Logik gesellschaftlicher Funktionalität entziehenden Figur, sondern ergreift gerade deswegen die (riskante) Gelegenheit, sich innerhalb eines Raumes größter Freiheiten zu bewegen und sich bisweilen als »der von der Realität 1 | Hillman, James: Vom Sinn des langen Lebens. Wir werden, was wir sind, München: Kösel 2001, 2. Aufl., S. 12.

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entthronte große Anarchist darzustellen«.2 Er wird zum Fool oder Exzentriker, der die Vergänglichkeit jeglicher menschlichen Macht erkennbar werden lässt. Dabei fordert er zugleich ein werteorientiertes und abenteuerliches Leben ein, gleichsam zur kontinuierlichen Enthüllung und Entdeckung seiner selbst und der uns umgebenden Welt. Oft schwankt die späte Schaffensphase vieler Künstler daher zwischen Nihilismus und Leichtigkeit, mangelndem Realitätsbezug und Unnachgiebigkeit, chronischer Verbitterung und hartnäckigem Hoffen, zwischen Tragödie und Farce. Die Falten des Gesichtes werden deshalb gleichzeitig auch zur Materialisation eines den Sterblichen von der Zeit auferlegten Todesurteils und zu einem letzten, paradoxen Ort der Zuflucht und des Widerstands. Schließlich kann der Greis in einem produktiven und ständigen Spannungsfeld zwischen Vitalität und Katastrophe auf vortrefflichste Art und Weise das ›Symbol des Überlebens‹ verkörpern. Die Figur des ›Methusalem-Dichters‹ aus dem zwanzigsten Jahrhundert ist oft derartigen Spannungen ausgesetzt, bestimmt zu einer »ruhelosen und unbefriedigten Suche«,3 die einem Subjekt zu eigen ist, welches mit einer gar widersinnigen Kraft nach der Umsetzung seines ›Nichtsdestotrotz‹ verlangt, und zwar mit der mutigen Entschlossenheit eines eher jugendlichen Geistes; anstatt angesichts des Bewusstseins über das eigene nahende Ende und in Anbetracht eines Lebens voller körperlicher Leiden und Gebrechen und eines nunmehr nicht mehr zu bewältigenden Alltags zu resignieren. Auch in der italienischen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts wird das Alter nicht so sehr als ein Lebensabschnitt betrachtet, in dem nunmehr alle Rechnungen beglichen sind. Vielmehr ist es die Zeit, in der man sich der Notwendigkeit bewusst wird, wieder neue Möglichkeiten zu erschließen, damit alles wieder vollkommen in Frage gestellt und das Leben am Leben erhalten werden kann, indem man mit der Absolutheit des Prekären, die alles Menschliche kennzeichnet, abrechnet. Man denke beispielsweise an die Poetik des Alters bei Umberto Saba von Mediterranee (1946), an Uccelli und Quasi un racconto (1958), eine zwischen 1948 und 1951 zusammengestellte Textsammlung, bestehend aus einer vom Stil seines Spätwerks geprägten ironischen Vitalität und ›Wildheit‹, mit einer 2 | Magris, Claudio: »De senectude«, in: Jean Améry: Rivolta e rassegnazione. Sull’invecchiare, Torino: Bollati Boringhieri 1988, S. 9. 3 | Lenzini, Luca: Stile tardo. Poeti del Novecento italiano, Macerata: Quodlibet 2008, S. 17.

Senilität und Widerstand

Dialektik zwischen Lebensfreude und Neurose, Verlust und Anteilnahme an der Gegenwart. Dies verwandelt die Reise des Dichters in die extremen Seelenlandschaften des Alters in ein Martyrium und lässt die Erfahrung, den Körper, Wunsch und Begehren und die Erinnerung wieder neu aufleben. Saba taucht in die Erfahrungswelt des Senex ein, wobei er jedoch nunmehr das ›pulsierende Leben‹ erfasst – was einmal den Schwerpunkt seines Werkes ausmachte –: düstere Reflexe, ruhelose Schatten, die die Aussicht auf eine versöhnliche und besänftigende Weisheit verbauen. Indessen lanciert er die Dynamiken einer nicht mehr vorhandenen Leidenschaft, welcher die dramatische Spannung einer »spellamento« (»Häutung«) von Cogito und Körper keinesfalls fremd ist. Da sich nun »si spogliano le cose,/se ne tocca lo scheletro«4 (»die Dinge entblößen,/ stößt man auf das Skelett«). Man befindet sich gleichsam auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, zwischen der Leere des Endes und einer fast teuflischen lebenshungrigen Neugier nach Erfahrung, Vergnügung und Traum. Wie bereits erwähnt, geht es dem alten Saba um keine auf Harmonie und uneingeschränkte Weisheit ausgerichtete und zu kanonisierende Dichtung, sondern eher um den Zweifel an der Idylle als dem Schreckgespenst der Kapitulation, Ergebenheit und Resignation. Saba stellt sich als »vecchio lupo di mare«5 (»alter Seefuchs«) dar, welcher es noch mit den widerwärtigen und unsicheren Wassern des Lebens aufzunehmen vermag, die nie so klar, aber auch nie so voller ›titanischer‹ Herausforderungen waren. Diese Titanenhaftigkeit des Greisenalters behauptet sich gegen die Zeit, die ihn pausenlos verfolgt (und trägt): »sospinge ancora il non domato spirto,/e della vita il doloroso amore«6 (»sie treibt noch den ungezähmten Geist an,/und im Leben die trügerische Liebe«). Sich weigernd, im sicheren Hafen anzulegen,7 zielt Saba auf eine emblematische Sichtbarwerdung des Menschlichen ab. Er verweist auf die 4 | Saba, Umberto: Tutte le poesie, Milano: Mondadori 1988, S. 496. Die Zitate werden im Folgendem durch den Verfasser (A. B.) übersetzt. 5 | Ebd., S. 572. 6 | Ebd., S. 556. 7 | Hier kehrt Saba in seiner Selbstdarstellung als alter Künstler Ciceros Perspektive um, der in De senectude schrieb: »Und eine solche Reife ist mir so teuer, dass, je näher ich mich dem Tod fühle, es mir umso mehr scheint Land zu sichten, irgendwie im Begriff zu sein endlich nach vielem Umherseegeln in einen Hafen zu kommen.« Cicerone, Marco Tullio: De senectute, Milano: Mondadori 1965, S. 69.

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Wunden, Falten und Runzeln im Selbstportrait des alten Dichters. Während »tutto contro di te si muove« 8 (»alles gegen dich geht«), will der Alte mit seiner Leidenschaft für Körper und Zeit seinem Leben einen Sinn abgewinnen, den er in den Gründen für eine weitere Verankerung in der Gegenwart findet, und zwar in der Flüchtigkeit aller Dinge und in der Annäherung an die letzte Schwelle, so als wolle er die Kehrseite der Epiphanie von allem, was ihn umgibt, enthüllen. Indes erhebt sich sein vom Tod also nicht erdrückter Blick, streift mit Leichtigkeit über seinen eigenen Kummer und seine Sorgen, geht nach vorn und nach oben, fordert den Horizont heraus, begegnet der Angst vor der Leere und erträgt und duldet seine eigene extreme Zerbrechlichkeit mit »tenerezza/immensa, quasi disumana«9 (»immenser, fast übermenschlicher/Zärtlichkeit«). Saba hält sich stets im Spannungsfeld zwischen ›Auf begehren und Resignation‹ auf, ganz im Sinne des vielsagenden Titels von Jean Amérys Buch über das Altern.10 Indem er sich somit auf eine gewisse Art als »vecchio fanciullo«11 (»alter Junge«) vorstellt, kann er sich dazu bekennen, wie eng er selbst an der Schöpfung hängt: »mentre la fine si approssima/più mi piace quel cielo, quelle rondini,/quella nube«12 (»je näher das Ende kommt/ umso mehr gefällt mir jener Himmel, jene Schwalbe/jene Wolke«). Seit der Veröffentlichung von Taccuino del vecchio (1960) bietet uns auch Ungaretti einen bedeutenden Überblick in die Dichtung des hohen Alters. Dessen »überschäumende, berauschende, gar ungehörige Lebensfreude«13 ist in der Lage, dem Schwindelgefühl seiner eigenen Frustration ›unbändig‹ die anarchische und unruhige Macht eines sich auf bäumenden Eros entgegenzustellen, welches fast zum Wahn wird und den »anni vecchi«14 (dem »hohen Alter«) »fibre squallide«15 (»farblose Fasern«), »car-

8 | U. Saba: Tutte le poesie, S. 493. 9 | Ebd., S. 490. 10 | Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1968. 11 | Ebd., S. 495. 12 | Ebd., S. 572. 13 | Cortellessa, Andrea: Ungaretti, Torino: Einaudi 2000, S. 120. 14 | Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo. Tutte le poesie, Milano: Mondadori 1969, S. 277. 15 | Ebd., S. 280.

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ne stanca«16 (»müdes Fleisch«), Zittern und vertikale Krämpfe bringt. Diese erhalten die (Im-)Potenz eines nicht verstummen wollenden Gesanges, der in einem continuum von Versprechen und Trümmerhaufen schleppend weitergeht und beharrlich auf ausgesprochene Extreme zuläuft. Sowohl für Saba als auch für Ungaretti ist das Alter folglich eine sich der apollonischen Dominante entziehende Erfahrung. Bei beiden könnte man gar von einer dionysischen Spannung reden, zwar mit vollkommen unterschiedlicher Auslegung, jedoch mit derselben symbolischen Aussagekraft. Dies steht in Verbindung mit jenem von Dionysus verkörperten Widerstand, was Karl Kerényi als das »Urbild des unzerstörbaren Lebens« bezeichnet.17 Bei seiner Reflexion über das Alter hat James Hillman sehr deutlich die analoge Beziehung zwischen der Figur des Dionysus und dem Senex hervorgehoben. So bemerkt der amerikanische Psychoanalytiker wie folgt: Selbst dann, wenn er zerfällt und am Ende ist, weiß der Körper, was er tut und stützt sich auf einen archetypischen Grund, der ihm seine Weisheit verleiht. Dieses In-Stücke-Fallen und Zertrenntwerden findet im Mythos des Dionysos einen archetypischen Hintergrund. […] Dionysos, Herr der Seelen, der geteilte Gott, der in Stücke gerissen wurde. Dionysos verkörpert die Lebenskraft, zoe […], die sowohl in menschlichen Wesen als auch in Tieren und Pflanzen kreist. […] Diese fremde Gestalt, die sogar »der Fremde« genannt wurde, war überwiegend männlich und äußerst weibisch, ein kleines Kind und ein bärtiger Mann, wild und düster, maskiert und enthüllt, erregt und untätig ruhend. […] Von all seinen Widersprüchen ist dies vielleicht der schärfste: Von dieser berauschenden Lebenskraft, welche die Szene zusammen mit einer tanzenden Schar sich aufbäumender Satyre und rasender Anhängerinnen betrat, hieß es zugleich, sie sei ein und dieselbe wie Hades, der unsichtbare Gott der Seelen in der Unterwelt. Wenn wir diese Bilder des Mythos in die Psychologie des Alterns übersetzen, können wir uns dann nicht im Spiegel des Dionysos und den mysteriösen Ereignissen wiederfinden, die von seinem Kult berichtet werden? Sind nicht auch wir Alten trotz unserer Bärte, metaphorisch betrachtet, kindisch; wild und doch pflegebedürftig; sexy und impotent zugleich; stürmisch männlich und weichbrüstig weib-

16 | Ebd., S. 283. 17 | Kerényi, Karl: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, München/Wien: Langen Müller 1976.

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lich? Sind nicht auch wir manchmal verwirrt wie Betrunkene? Fühlen wir uns nicht mit zunehmendem Alter unseren Pflanzen und Haustieren verwandt?18

Ein Alter im Zeichen der Vitalität und des ungezügelten und wachsenden Verlangens ist durchaus auch Saba und Ungaretti zuzuordnen, insofern als beide dem »sapere inutile del tempo estremo«19 (»unnützen Wissen um die letzte Lebenszeit«) im Sinne der Konvergenz zwischen Belastbarkeit und Widerstand verbunden sind. Einer der bedeutendsten Vertreter der italienischen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, Biagio Marin, war ebenfalls ein großer Senex-Poet. Der nunmehr über siebzigjährige Dichter aus Grado verteidigt seinen »ultimo refolo«, seine letzte »Windböe« gegenüber der Leere der absoluten und letzten Negation, verstanden als ein nicht endender Sonnenuntergang, der sich dem drohenden Tod entgegenstellt. Marin nimmt seine späte Schaffensphase mit einem Gedicht von fiebriger Leuchtkraft in Angriff, imstande, unmittelbar beim Ablauf der übriggebliebenen Zeit eine stets lebendige und in der Gegenwart verankerte Freude zu vermitteln. In seinen Gedichten über das Alter sind kontinuierlich Mikro-Epiphanien angesiedelt, welche für einen Augenblick die sich nähernde endgültige Nacht durchbrechen und de profundis wieder Kraft aus einem ebenso unzeitgemäßen wie sehr mächtigen und resistenten Halleluja schöpfen können. Selbst wenn die Gründe der Verzweiflung über die des Verlangens und des Zaubers zu dominieren scheinen, wenn die Dichtung (und der Körper) in einen ihr bevorstehenden Zustand versinkt, der sie posthum werden lässt, leistet der Senex-Poet stoisch und zugleich arglos Widerstand. Er gibt sich keine Ruhe, lehnt den sicheren Hafen und die Kapitulation ab, hält sich eng an seine »ultima gioia« (»allerletzte Freude«) und stimmt bis zuletzt seine Lobeshymne auf das Leben an. In den 1970er Jahren tritt die Perspektive des Alters auch bei Eugenio Montale immer stärker zu Tage, der bereits mit Satura (1970) das Werk einer Kehrtwende (an der Grenze zur Parodie seiner selbst) in Hinblick auf seine vorausgegangene Dichtung im Zeichen des Grande Stile und in einem lyrisch-erhabenen Register begonnen hatte. In seinem Diario dei quattro anni (1977) liegt uns ein Selbstportrait des Dichters als alter Mann vor, das gleichzeitig eine Allegorie auf die Dichtung der Massengesell18 | J. Hillman: Vom Sinn des langen Lebens, S. 169-170. 19 | L. Lenzini: Stile tardo. Poeti del Novecento italiano, S. 67.

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schaft Ende des 20. Jahrhunderts ist. Für Montale hat sich die Dichtung nunmehr auf einen ausgehenden Zigarettenstummel reduziert. Auch das Erhabene liegt für diesen possenhaften und grotesken senilen Orpheus in Asche, welcher wie ein Gespenst umgeht, um den Lücken in der Berichterstattung und dem Alltagsklatsch fortwährend Reflexe und Echos von Fragen nach dem Absoluten zu liefern, die jedoch verborgen bleiben, um ihnen in der »olla putrida (»Vermischung ungleicher Dinge«) der Gegenwart das Überleben zu sichern. Verzicht, Ironie und Abstand schaffen so eine Konstellation, die es dem Wort des Dichters erlaubt, unter dem Ausschuss der Gegenwart, dem Abschaum der Geschichte, dem Zwielicht seiner fortgeschrittenen Reife weiterzubestehen. Dabei fährt es in einfachem und bescheidenem, zynisch verspieltem Register in dem Raum fort, wo es zwischen dem angestauten Glauben und Pessimismus gegenüber dem Wort als antiheroischem »stemma di chi resiste«20 (»Wappen desjenigen, der widersteht«) fast zum Éclat kommt. 1994 bietet uns Franco Fortini mit seinem Composita solvantur hingegen eine weitere Lesart der Literatur über das hohe Alter. In dieser Textsammlung bekundet der alte Dichter anhand eines skeptischen und utopischen, testamentarischen und zugleich vitalen Registers die Notwendigkeit einer Literatur mit Ausrichtung auf das Nachlassen der eigenen körperlichen Kräfte und der historischen Tragödie der eigenen Ideologie (des Niedergangs des Kommunismus), ohne sich dabei die Möglichkeit eines Rückzugs zu gestatten. Fortini stellt in seiner späten Schaffensperiode die Dichtkunst mit der Figur von Klockov gleich, einem politischen Sowjetkommissar, der im November 1941, im Augenblick der intensivsten nationalsozialistischen Offensive in Russland, bis zum Einsatz seines Lebens zusammen mit achtundzwanzig Soldaten der Panzerabwehr Panfilov an der Kreuzung zwischen Volokolamsk und Duboskowo Widerstand leistet und dem es gelingt, dem Vormarsch der Wehrmacht gegen Moskau standzuhalten. In dieser ausweglosen Situation ohne Zufluchtsort, aber das Allerkostbarste, was man für die nachfolgenden Generationen auf bewahren soll und kann ein für alle Mal hinter sich gebracht, legt Fortini seine eigenen Beweggründe und Wahrheiten dar und rechnet gleichzeitig auch gnadenlos mit seinen Fehlern ab, wobei er Leichtigkeit und Zorn, historisches Drama und literarisch Erhabenes miteinander verschmelzen lässt. Das Reale ist nun für ihn zu einem Aufstieg ins Pur20 | Montale, Eugenio: Tutte le poesie, Milano: Mondadori 1984, S. 525.

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gatorium geworden, dem er sich stellt und das er mit all seiner Kraft herausfordert. Unfähig, sich den Täuschungen und Falschheiten seiner Zeit zu ergeben, spricht er erneut mit Nachdruck die »sconsiderata […] speranza« seiner »tarda mente«21 (»gewagte […] Hoffnung« seines »alten […] Geistes«) aus. Die das gesamte vorausgehende Werk dieses Autors durchziehende apokalyptische Prophezeiung erreicht nun einige Höhepunkte der Bitterkeit: »Nessun vendicatore sorgerà,/l’ossa non parleranno e/non fiorirà il deserto«22 (»Kein Rächer wird auferstehen,/die Gebeine werden nicht sprechen,/die Wüste wird nicht blühen«). Aber Fortinis Dichtung gibt nicht nach; unerschütterlich stützt sie sich auf eine überschüssige Vitalität und Freude, damit sie wie ein alter Mann, dessen Kräfte nachlassen und der immer wieder die Sinne verliert, ihren Weg gehen kann. Aber dann äußert er mit einem Befehl an das Überleben, wenn nicht gar an das Wiederaufleben, die Notwendigkeit, weitere letzte Schritte gehen zu können. Der Befehl (mit einer sinnbildlichen Anspielung an die Auferstehung des Lazarus) lautet: » Alzati e cammina/davanti a te, anche se/ ti hanno strappato lo sterno/anche se la pupilla/è cibo di formiche. Tutto è ormai per te« (»Steh’ auf und geh’/weiter, auch wenn/sie dir das Brustbein entrissen haben/auch wenn die Pupille/Futter für die Ameisen ist. Alles ist nunmehr da für dich«). Auch für einige andere Dichter aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erweist sich das Alter als außerordentlich produktiv, reich an Wendepunkten und Verwandlungen, Neuheiten und extremen Herausforderungen, wo man auf eigensinnige Weise das müde Echo von etwas bereits Gesagtem nicht wahrnimmt, so wie die Beharrlichkeit in einem literarischen Werk, das noch einmal die eigene dichterische Identität und Sinnsuche in die Knie zu zwingen vermag. – All dies wird uns in den Alterswerken von Carlo Betocchi, Giorgio Caproni, Giorgio Bassani und Giovanni Giudici bestätigt. Aber der Autor aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, der wohl am meisten über das Alter als Stadium äußerster Leidenschaft und extremsten Widerstandes reflektiert hat, dürfte Andrea Zanzotto gewesen sein. Anlässlich seines fünfundachtzigsten Geburtstages in der immer weiter fortschreitenden Phase des Greisenalters verlangte er sinnbildlich von der Dichtkunst notwendigerweise »l’ostinazione a sperare, a 21 | Fortini, Franco: Composita solvantur, Torino: Einaudi 1994, S. 47. 22 | Ebd., S. 62.

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riaffermare le ragioni della speranza23 (»auf der Hoffnung zu bestehen, die Gründe für das Hoffen wieder zu bestätigen«). Jenes » su, bello, su./ Su münchhausen«24 (»auf, Lieber, auf./Auf Münchhausen«), was in Beltà (1968) die Welt durch die absurde Geste des Protagonisten von Rudolf Erich Raspe dazu veranlasste nicht aufzugeben – welcher nicht im Flugsand versank, weil er sich selbst an den Haaren herauszog – wird nun zur Eigen-Ermahnung des Senex, der Dichtung und des Menschlichen im Allgemeinen. In Zanzottos letzten Gedichtsammlungen ist Münchhausen praktisch Methusalem, Methusalem ist Münchhausen. In seiner letzten Pseudo-Trilogie, bestehend aus Meteo (1996), Sovrimpressioni (2001) und Conglomerati (2009), nehmen die Erfahrung und die Perspektive des Alters die Form eines sich ständig in Arbeit befindlichen Schreibens und Sinns an, während die Texte durch »la capacità di presa di distanza dalla realtà, e nello stesso tempo di fare il moto opposto verso l’infinito sprofondamento nella realtà«25 (»die Fähigkeit, von der Wirklichkeit Abstand zu halten und zugleich sich in entgegengesetzter Richtung auf ein unendliches Eintauchen in die Realität zuzubewegen«) gekennzeichnet sind. Eine Perspektive, die der Autor selbst auf das Alter zurückführt. Zanzottos Spätwerk enthält die stilistische Besonderheit einer Radikalisierung, vielmehr eine Aktualisierung der Überzeugung des Schriftstellers, wonach: in poesia […] nulla »va a finire« perché tutto ricomincia. I libri di poesie sono come un serpente che si morde la coda, l’inizio ritorna dentro la fine, l’ultimo verso è uguale a quello iniziale o lo richiama talmente che dà l’idea di qualche cosa che rientra in se stesso, per indicare che il segno umano non è mai esaustivo […]. 26 23 | Zanzotto, Andrea: »I miei 85 anni«, in: L’immaginazione 230 (Mai 2007), hier S. 1. 24 | Zanzotto, Andrea: Le poesie e prose scelte, Milano: Mondadori 1999, S. 301. 25 | Zanzotto, Andrea: Eterna riabilitazione a un trauma di cui si ignora la natura, Roma: Nottetempo 2007, S. 63. 26 | A. Zanzotto: Le poesie e prose scelte, S. 1257f. »[I]n der Dichtung […] nichts ›zu Ende geht‹, da alles neu beginnt. Die Gedichtbände sind wie eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, der Anfang geht wieder ins Ende über, der letzte Vers ist wie der erste oder nimmt ihn so sehr wieder auf, dass er die Vorstellung von etwas vermittelt, das wieder in sich selbst zurückgeht, als Zeichen dafür, dass das Menschliche unerschöpflich ist […].«

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Im Alter arbeitet die Freude des Anfangs weiterhin als »nocciolo più profondo di un autoincoraggiamento«27 (»als tiefster Kern einer Art Selbstermutigung«) unablässig am Korpus der Dichtung, was seit Dietro il paesaggio die psychische und ethische Grundlage für Zanzottos schöpferische Antriebskraft darstellt. Nur scheint sich diese für den Dichter immer stärker an jene der »fiumi che finiscono nei deserti dell’Asia come il Tarim«28 (»Flüsse, die wie der Tarim in den Wüsten Asiens enden«), anzunähern. Obwohl Zanzottos Dichtung vorwärtsgerichtet ist, mündet sie nirgendwo ein. Frustrierend und mit titanischer Anstrengung interpretiert sie bis aufs Äußerste Leopardis Gedicht La ginestra (Der Ginster) aus der Perspektive seines späten Stils wieder ganz neu. In Eterna riabilitazione da un trauma di cui s’ignora la natura von 2007 bemerkte der Dichter: »Gli ultimi libri che scrivo li vedo come quei fiumi che scendono alle spalle dell’Himalaya, verso zone desertiche, del centro Asia«29 (»Die letzten Bücher, die ich schreibe, sind für mich wie jene Flüsse, die jenseits des Himalaya in die Wüstengebiete Mittelasiens hinabfließen«) mit ihrer »spinta che continua anche quando sono venute meno in gran parte le condizioni da cui scaturiva«30 (ihrem »Drang, der auch dann noch anhält, wenn die Bedingungen, denen er einst entsprang, größtenteils entschwunden sind«). Wie diese Flüsse kommen in Zanzottos Spätwerk die »spinte alla poesia«31 (»Beflügelungen zur Poesie«), welche auch die »terribili limiti della poesia« (»schrecklichen Grenzen der Dichtung«) aufzeigen, als richtungsweisender Anhaltspunkt für einen Spätstil, der auf »un di più, senza una finalità vera e propria […] ma non per questo meno necessario«32 (»ein Mehr ohne eigentlichen Sinn und Zweck […] aber deshalb nicht weniger notwendig«) abzielt. Die sich mit Meteo, einem eigensinnigen, verzerrten, traumverlorenen Buch eröffnende Pseudo-Trilogie gibt insgesamt ein wahres Portrait des gealterten Künstlers. Ein erster emblematischer Effekt der Projizierung des Dichter-Ichs im Raume extremer Senilität liegt im vorletzten Gedicht, Meteo, vor. Hier wird die neunzigjährige Landsmännin Teresa zur Hauptfigur und zum Wegweiser für 27 | A. Zanzotto: Eterna riabilitazione a un trauma di cui si ignora la natura, S. 52. 28 | Ebd., S. 43. 29 | Ebd., S. 47. 30 | Ebd. 31 | Ebd., S. 47-48. 32 | Ebd., S. 43.

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einen von »frammenti […] dispettosissimi«33 (»äußerst ärgerlichen […] Fragmenten«) geprägten späten Stil, stets mit einer Spannung zwischen Zähigkeit und Widerstand, Erstaunen und Leichtigkeit, Vergesslichkeit und Kühnheit. In Sovrimpressioni, im »futile-orrido qui«34 (»schrecklichnichtigen Dasein«), inmitten von extremer Fruchtbarkeit und extremen Schrecken, Gewalt und Beeinträchtigung der Landschaft sind das Leben und die Dichtung dazu aufgerufen, sich gegenseitig, nahezu ›mantisch‹, über das Vorzeitige und Nachzeitige hinaus zu stützen. Unter Schmettern und letzter Trostlosigkeit fährt der alte Dichter zu »sopravvivere-scrivere«35 (»überleben-schreiben«) fort, zwischen »stasi e secche«36 (»Stagnation und Öde«), beseelt von einem immer noch verrückter werdenden »desiderio d’amore«37 (»Verlangen nach Liebe«), einem »divorante afrore dell’amore-essere«38 (»alles verschlingenden säuerlich riechenden Lieben und Sein«). So besteht die Poesie in ihrer Spätphase zwischen dem Erhabenen und Widerwärtigen darauf, das eigene Spektrum zwischen »bave e microspinte/verso le quinte di un fintoeterno«39 (»Geifer und minimalem Antrieb/in Richtung der Kulissen einer fiktiven Ewigkeit«) anzusiedeln. Die letzten Verlassenheit und Widerstand umfassenden Schritte des Methusalem-Dichters haben die Kraft einer alternierenden Abfolge von Aufflackern und Nachgeben, bis sie paradoxerweise zu einem ständigen Zucken und Nachgeben werden. In Conglomerati tritt die zentrale Bedeutung des Zustands vom Senex als Bewährungsprobe des Schicksals, der Pflichten und der Dichtung noch deutlicher zu Tage. Unter dem steigenden Druck »di troppi compleanni« (»der zu vielen Geburtstage«) legt Zanzotto den Schwerpunkt seiner Gedichtsammlung auf das sich anhäufende Unbehagen in einem immer stärker gezeichneten Körper, reduziert auf die Figur einer an den »infimi fili/del nihil« (»dünnsten/Fäden des nihil«) hängenden tragikomischen Marionette. Im Rahmen dieser akuten und unerfreulichen Negativität tritt der alte Dichter auf tragikomische Art als »mucchio di 33 | Zanzotto, Andrea: Meteo, Roma: Donzelli 1996, S. 51. 34 | Zanzotto, Andrea: Sovrimpressioni, Milano: Mondadori 2001, S. 63. 35 | Ebd., S. 31. 36 | Ebd., S. 35. 37 | Ebd., S. 41. 38 | Ebd. 39 | Ebd., S. 61.

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metallici/rottami«40 (»Ansammlung von Blech/altem Eisen«), in Szene, welcher infolge seines mühevollen und schmerzhaften Gangs, seinem ständigen Schwindel und seiner Verwirrtheit weiterhin »minimo insistere/di disseminazioni di gloria«41 (»minimal/auf einer Verbreitung des Ruhmes/beharrt«). Der Hauptabschnitt des Bandes Tempo di roghi enthält in erster Linie mit der Erfahrung des Partisanenkrieges verbundene Gedichte und Erinnerungen sowie die Thematik des Widerstehens im Allgemeinen und hängt stets explizit mit der Situation des Alters zusammen. Der Abschnitt wird mit dem Text Tristissimi 25 aprile eröffnet und ist den Feierlichkeiten der italienischen Befreiung von den Nationalsozialisten gewidmet. Das mit dem italienischen Bürgerkrieg 1943-1945 verbundene Thema des Widerstandes ist einer der Kernpunkte von Zanzottos Werk.42 In Idioma liest man aber ein bedeutendes Gedicht, das Tristissimi 25 aprile antizipiert: Das den Märtyrern des Widerstandes gewidmete Gedicht Verso il 25 aprile, dem der Autor sich nur durch die Passio des Alterns anzunähern vermag: avvicinandomi per accumulo di età e per corrosione a quel punto in cui voi foste allora – mi riconduco, osando muto, ad allora, per voi; e sono partecipe finalmente, delle azioni da cui mi distoglieva il deliquio amoroso e pauroso. 43

In Tristissimi 25 aprile sind die Partisanen nunmehr entweder die Geister der jungen Toten aus jener entfernten Vergangenheit oder praktisch mehr 40 | A. Zanzotto: Conglomerati, Milano: Mondadori 2009, S. 28. 41 | Ebd., S. 29. 42 | Vgl. dazu insbes. A. Cortellessa: »Sovrimpressioni, sovraesistenze. Indizi di guerre civili in Andrea Zanzotto«, S. 197-222. 43 | A. Zanzotto: Le poesie e prose scelte, S. 733. »[I]ch nähere mich durch die Anhäufung der Jahre und durch den Verfall jenem Punkte an dem ihr einmal wart – man bringt, dumm gewagt, mich wegen euch nach damals zurück; und endlich habe ich an den Handlungen Teil von denen mich die Ohnmacht der Liebe und Angst ablenkte.«

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oder weniger ihren Schlaganfällen oder Alzheimer ausgesetzte alte taube Greise. Gegenüber diesem trostlosen Bild, wo alles verloren und von einer unendlichen Grausamkeit zu sein scheint, spricht der Dichter mit äußerster Entschlossenheit und Besorgnis um die Gegenwart aus: »Non parlatemi più/Ma nelle immondizie/troverò tracce del sublime/buone per tutte le rime.«44 (»Sprecht nicht mehr mit mir/Aber im Unrat/werde ich Spuren des Erhabenen finden/die für jeden Reim gut sind.«) Das ›Nichtsdestotrotz‹ in Zanzottos spätem Stil und dessen widerstandsmäßige Valenz trifft hier auf eine der intensivsten und dramatischsten Formulierungen seines gesamten Werkes. Nur der Blick des Methusalem als Partisan kann mit seinem beißenden apokalyptischen Humor die Risse in einer sich auflösenden und zugleich prägenden Hoffnung erkennen, die, »al riparo da negazioni definitive«45 (»vor endgültigen Negationen bewahrt«), widersteht. Der den Erscheinungsformen des Widerstandes beim Senex-Poeten gewidmete Exkurs von der zweiten Nachkriegszeit bis heute sei nun mit dem Mailänder Schriftsteller Giampietro Neri und dessen kürzlich im Jahr seines neunzigsten Geburtstages erschienenem Via provinciale (2017) zum Abschluss gebracht. Stets auf der Suche nach dem Ungewissen und Fragmentarischen der Erinnerung, führt Neri mit nüchternem und anti-emphatischem Stil die prosaische Spannung in seinem Werk ad extremis, was er bereits auch in seinem vorausgegangenen Roman Il professor Fumagalli e altre figure umgesetzt hatte. Neris Werk war immer dem offensichtlichen Einfluss dessen ausgesetzt, was nach Vittorio Sereni als »tentazione della prosa« (»Versuchung der Prosa«) bezeichnet werden könnte. Indessen stellt sich diese in Via provinciale nun doch noch etwas deutlicher dar, indem sie einer Reihe sehr kurzer Erzählungen Form verleiht, wie Tagebuchaufzeichnungen, Epigraphe oder Epitaphe des Erlebten, in kristallklarer Prosa, ein Hybrid aus Erzählstil und Poesie, mit einer Präzision, die ein feines, jedoch unverwechselbares Gefühl der Unruhe vermittelt. Bei diesen winzigen und gleichsam unbeabsichtigten Epiphanien des Alltags herrscht das Gefühl eines sich dem Grad Null annähernden ernsthaften Schwindels. Währenddessen verfolgt der Dichter mit melancholischem Blick die erlittene, aber noch pulsierende und vitale Materie der Erinnerung. Das Werk ist von der Perplexität des Überlebens 44 | Ebd., S. 41f. 45 | A. Zanzotto: Eterna riabilitazione a un trauma di cui si ignora la natura, S. 88.

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durchzogen, wo die Unmöglichkeit die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen, den Dichter dazu zwingt, ihr all seine Gedanken zu weihen, die ›verlorene Zeit‹ wieder zu erleben. Dabei erfasst er die Schatten ihrer Verflüchtigung und die verhängnisvollen Dynamiken ihrer Dauer, ihres Bestehens in einer Art Absolutheit der Instabilität. Die Kindheitsjahre und die traumatische Erinnerung an den italienischen Bürgerkrieg sind Orte einer gedämpften Leidenschaft, eines biographischen Traumas, wo sich Neris Poesie-Prosa verliert und verankert. Die Spätwerke von Saba bis Neri zeugen also von der Notwendigkeit des Methusalem-Dichters, das Spannungsfeld zwischen Gehen und Bleiben, zwischen der testamentarischen Perspektive und der des Zeugnisses auszufüllen, was sich in extremis in die »scommessa sulla spes contra spem«46 (»Herausforderung spes gegen spem«) verwandelt. Bei der Wahrnehmung des Höhepunktes der menschlichen Instabilität ist sich der alte Dichter auf dramatische und/oder ironische Weise ganz und gar trotz der allzu vielen Feierlichkeiten und »troppe troppe candeline«47 (»zu vieler Kerzchen«) bewusst, dass »non si ha un punto fisso da cui guardare bene le cose«48 (»es keinen Bezugspunkt gibt, von dem aus man die Dinge richtig betrachten kann«). Dabei setzt er keinen Schwerpunkt und kann somit den Dialog nähren, indem er sich zwischen Schwäche und Beharrlichkeit, Nähe zur Katastrophe und dem »principio ›resistenza‹«49 (»Prinzip ›Widerstand‹«) bewegt – eben infolge seiner dichterischen und existentiellen conditio.

46 | Ebd., S. 87. 47 | A. Zanzotto: Conglomerati, S. 74. 48 | A. Zanzotto: Eterna riabilitazione a un trauma di cui si ignora la natura, S. 87. 49 | A. Zanzotto: Le poesie e prose scelte, S. 305.

Das Nein, der Tod und die Zeit Jelineks widerständiges Schreiben Ulrike Haß

Nach Freud kennt das Unbewusste diese drei entscheidenden Dinge nicht: das Nein, den Tod und die Zeit.1 Das Nein ist Freud zufolge jener Logik der Negation zugeordnet, die zwischen Etwas und Nichts einen kategorialen Widerspruch annimmt. Das Unbewusste hingegen nimmt widerspruchslos auf, was sich ihm einprägt. Es kennt keine Negation, keinen Zweifel, keine Sicherheit, während das Bewusstsein mit Zensur reagiert und auf die Nichtexistenz des Negativen verweist. Dies sei jedoch eine Ausgeburt des Bewusstseins, sagt Freud, das Unbewusste kenne nur unterschiedliche Intensitäten, aber kein Nein. Ähnlich verhalte es sich mit dem Tod. Die Vorstellung des Todes sei etwas, nach dem nur das Bewusstsein fragt, das die mit ihm einhergehende Finalität fürchtet und möglicherweise zu kalkulieren trachtet. Das Unbewusste hingegen kennt kein Absolutum, keine Finalität und keinen Tod, sondern nur die dynamischen Prozesse von Verdrängung, Verdichtung und Verschiebung. Zum Dritten seien die Vorgänge im Unbewussten zeitlos, insofern sie nicht zeitlich geordnet sind. Die Empirie einer vorübergehenden Gegenwart ist ihnen fremd. Im Unbewussten vollziehe sich vielmehr permanent die passiven Verknüpfungen diverser, unterschiedlicher Zeiten. Damit zeichnet Freud ein kämpferisches Bild vom Bewusstsein: Es ist Träger von Entscheidungen und agiert im Freund-Feind-Schema, es zensiert und unternimmt Ein- und Ausschließungen, es erobert und negiert, es droht mit dem Tod, verfügt ihn oder nimmt ihn billigend in Kauf, es 1 | Vgl. Freud, Siegmund: Das Unbewusste [1915], in: Ders.: Studienausgabe Bd. III. Psychologie des Unbewussten, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2000, S. 119174.

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hadert mit der knapp bemessenen Zeit und deren Flüchtigkeit, es will die Zukunft und mehr Zukunft ›gestalten‹, wie man sagt. Es ist darauf versessen, Geschichte zu machen und sei es auch nur die kleine einer Biographie, die man seine eigene nennt. Und alle diese seine Anstrengungen sind grundiert vom Scheitern, vom Versagen, vom Absturz, dem leicht hinzugefügt wird, ›ins Nichts‹. Ganz im Gegensatz dazu zeichnet der Gedanke Freuds das Unbewusste als etwas, das mit dem Dasein, der Vorhandenheit, mit unvorstellbaren Kehrseiten, mit Passivität, mit Diversität sowie einer Vielzahl vergangener Zeiten liiert ist und dessen latente Aktivität nicht den Registern der Entscheidung, sondern denen der Verknüpfung angehört. Das Unbewusste gleicht in diesem Bild einer ausgedehnten Sache, die sich mit etwas berührt, wovon sie Noch-nichtBewusstsein ist: mit etwas von der Welt, das ihr nicht gleicht und sich ihr dennoch zuträgt.2 Wird diese Gedankenfigur Freuds um ein Geringes weitergetrieben, tritt die wechselseitige Abhängigkeit und Durchdringung dieser beiden Sphären hervor. Bewusstes und Unbewusstes, Gedachtes und Ungedachtes, Mentales und Nichtmentales berühren sich, und ihre Berührung wirkt sich in Zuständen, Situationen und Gestimmtheiten aus. Werden derlei Befindlichkeiten mit einer Frage des Widerstands verbunden, so sind hier, grob gesagt, zwei sehr verschiedene Arten des Widerstands denkbar. Der eine, leichtfertige oder billige Widerstand begegnet derlei Gestimmtheiten mit dem Verlangen nach Identität und Absicherung und macht daraus die Parolen und Ressentiments von Identitären. Die andere, elementare Widerständigkeit hingegen generiert ihr Nein im Kontakt und im Austausch mit dem Unbewussten – und zwar immer wieder und immer wieder von Neuem. Gerade weil das Unbewusste das Nein, den Tod und die gegenwärtig verfließende Zeit nicht kennt, wie Freud sagt, bildet es ein unerschöpfliches Reservoir, aus dem das Nein in seiner Berührung mit dem unausweichlichen Tod und einer gestauten Zeit immer wieder neu gewonnen werden kann. Während es sich im ersten Fall um die Wiederholung des Identischen handelt, geht es im zweiten Fall um das Werden eines je anderen und neuen Nein, um seine Vervielfältigung. 2 | Zusammenfassend hält Freud fest: Zum System des Unbewussten gehören »Widerspruchslosigkeit, Zeitlosigkeit und Ersetzung der äußeren Realität durch die psychische« (ebd., S. 146), d.h. durch die »psychischen Kontinuitäten« (ebd., S. 126).

Das Nein, der Tod und die Zeit

Es handelt sich um zwei sehr verschiedene Widerstandweisen oder Wahrnehmungsarten. Gilles Deleuze hat sie einmal konturiert, als er danach gefragt wurde, was es denn eigentlich heißt, links zu sein:3 Die erste, die nicht-linke Wahrnehmungsweise, antwortet er, beginnt bei sich selbst. Sie windet sich um ihren Wohnsitz einen Heiligenschein und sieht, wie es das eigene Land gegen andere Länder und darüber hinaus gegen die Weltweite verschließen kann. Man will bei sich sitzen und, wenn man privilegiert ist, auch, dass diese Situation so bleibt. Links zu sein, ist das Gegenteil. Es ist etwas Schöpferisches, hält Deleuze ausdrücklich fest. Diese Wahrnehmungsweise fängt niemals mit der eigenen Gegenwart an, sondern geht vom äußersten Horizont aus, der ihr irgendwie noch erreichbar ist, von der Erde, den Kontinenten und deren Gedächtnissen. Zuerst geht es darum, den äußeren Umkreis wahrzunehmen, dann das Land, die Straße, in der man wohnt usw. Das Ich kommt hintendran. Mit der Frage nach dem widerständigen Schreiben wechseln wir auf das Gebiet der Kunst, die in besonderem Maße ihren Widerstand und ihr Nein nur im Austausch mit jener Sphäre zu generieren vermag, die Freud das Unbewusste nannte: eine Sphäre, die nicht trennt, sondern bedenkenlos aufnimmt, was in sie einfällt. Diese Sphäre ist schlicht unbeherrschbar. Sie bildet einen ausgedehnten Grund ohne besondere Tiefe. Sie grundiert, ohne dass sich auf sie bauen ließe. Als unbewusste drängt sie gegen den Logos des Bewusstseins. Der grundierende, jedoch flache und ausgedehnte Grund des Unbewussten ist im »literarischen Raum« (Blanchot)4 aktiv und macht diesen aus. Das unbeherrschbare Vielfache drängt gegen die Schrift, belebt sie, beatmet sie, erwirkt das Exzessive, ihre Entfaltungen, die Wiederholungen, treibt die Sprache vor sich her. Die »Sprache des Imaginären« nennt Blanchot jene Sprache, »die niemand spricht, Gemurmel des Unaufhörlichen und des Unbeendbaren, dem Schweigen auferlegt werden muss, wenn man, endlich, vernommen werden will«.5 Das Schreiben der Elfriede Jelinek spielt mit diesem Un3 | Das ABC von Gilles Deleuze mit Claire Parnet. Arbeitsmanuskript (keine Transkription), hergestellt und übersetzt von Christina Malycha 2003. Vgl.: www.lang​ lab.wayne.edu/CStivale/D-G/DASABC-A-L.html #anchor80972 (zuletzt aufgerufen am: 22.11.2017). 4 | Blanchot, Maurice: Der literarische Raum, hg. v. Marco Gutjahr, aus dem Französischen von Marco Gutjahr und Jonas Hock, Zürich: diaphanes 2012. 5 | Ebd., S. 44.

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grund. Ihr Widerstand und ihr Nein generieren sich aus einer entschiedenen Bejahung dieses Ungrundes. Jedes andere Nein wäre bloß die Darbietung einer wohlfeilen Identität. Die Frage, die sich hier für mich anschließt, fokussiert nicht das thematische Wogegen. Es geht hier nicht um die Katastrophen, Unglücksfälle, Grausamkeiten, das Leid, das sie auslösen oder die Trauer, die unterbleibt. Es geht nicht um die Schreibanlässe, wiewohl sie in jedem einzelnen Fall mehr sind als Anlässe zu Schreiben. Sie sind Gegenstand von Zorn, Wut, Trauer, Empörung, Anklage, Verzweiflung, Klage, Empathie, die sich als solche nicht sagen lassen, gäbe es nicht das Schreiben. Meine Frage fokussiert auch nicht den Hader mit den Darstellungskonventionen der Repräsentation, obwohl Jelinek diese Auseinandersetzung in all ihren Facetten vehement aufgegriffen und eigenen, überragenden (theater)ästhetischen Lösungen zugeführt hat. Dennoch möchte ich hier nicht fragen, wogegen sich Jelineks Schreiben richtet, sondern wie es Widerstand hervorbringt, wie es Widerstand generiert und vervielfältigt. Wie gelingt es ihr, die Sprache aus ihrem knechtischem Verhältnis zu Inhalten, Themen und Repräsentationsleistungen zu lösen? Wie gelingt es ihr, die Sprache zum Sprechen zu bringen? In ein Sprechen, das sofort auseinandertritt in viele Sprachen und sich vervielfältigt, sobald es sich äußert? Wie gelingt ihr, aus diesem verschachtelten, vielfältigen, indirekten Sprechen der vielen Sprachen 6 die freie Rede zu generieren? Die Rede des Widerstands, von der Pasolini sagt, dass sie insofern als eine indirekte aufzufassen ist, als sie »Nachleben derjenigen Rede« sei, die für eine »ganze Klasse von Sprechern« steht.7 Ich möchte diesen weitführenden Fragen hier anhand einer Konzentration auf das Problem der Figur nachgehen, speziell der Theaterfigur. Diese Figur ist lange Zeit mit der normativen Aufgabe der Identifizierbarkeit verknüpft worden, insofern sie einen Namen tragen sowie in Bild und Wort wiederkennbar sein muss. Als eine unter mehreren ist sie mit den Registern von Durchsetzung, Abgrenzung und Kampf verknüpft – und handelte es sich dabei auch nur um den Kampf gegen ihren eigenen Untergang oder um Aufmerksamkeit, in dem sie jederzeit abstürzen kann. 6 | Üblicherweise wird diese indirekte Rede als »Zitation« oder »Intertextualität« gefasst. 7 | Pasolini, Pier Paolo: Ketzererfahrungen, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1982, S. 103.

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Kurz: sie ist mit allen Merkmalen versehen, die Freud dem Bewusstsein zurechnete, das, mit der Negation verschwistert, in den Kampf um seine Selbstbehauptung zieht. Wie lässt sich diese Figur, die derjenigen einer normativen Auffassung von Autorschaft ums Haar gleicht, verlassen? Diese Figur ist nicht irgendeine anstelle einer anderen, sondern die Figur, die durch eine ganze Metaphysik von Identität, Einheit, Subjekt, Mimesis und Schauspielern als ›Menschenbildnern‹ usw. gestützt wird und Macht erhalten hat. Wie lässt sich diese Figur der öffentlichen, identifizierbaren Rede entfernen und an ihrer Stelle die indirekte, freie Rede installieren? Wie lässt sich das quasi-metaphysische Ich-bin-die-ich-bin umbiegen in ein Wahr-Sprechen, das um seine eigene Vergeblichkeit, Endlichkeit und Ohnmacht weiß, furchtlos ist und spricht? Das ganze Problem, dass ich nicht stellvertretend für andere sprechen kann, sondern nur unter radikaler Einbeziehung der eigenen Person überhaupt sprechen darf, ist in der Frage der Figur, namentlich der Theaterfigur, enthalten. Ich möchte im Folgenden einige Stationen oder Merkmale der Auseinandersetzung Jelineks mit dieser Figur darlegen, die zugleich eine Theaterfigur und eine Figur der Rede ist, die man die eigene nennt. Die Facetten, die ich hier zur Frage dieser Figur streife, betreffen erstens ihren Namen, zweitens ihre Sichtbarkeit sowie drittens ihre topologische Verfasstheit als ›Sprachort‹. Daran anschließend geht es mir viertens um Jelinek als ›Sprachort‹ und fünftens um dessen Ausbreitung/Ausdehnung.

1. Ü ber N amen Jelinek nimmt ihre Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit dem Status der Theaterfigur in Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (1979) auf, indem sie ihr erstes Theaterstück mit jenen, inzwischen berühmten Zeilen eröffnet, die der Theaterfigur die ihr unterstellte Präsenz radikal entziehen:8 Nora stellt sich als eine Figur von Ibsen 8 | Jelinek, Elfriede: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften, in: Dies.: Theaterstücke, hg. und mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Köln: Prometh 1984, S. 6-62. Die ersten beiden Sätze Noras (und des Stücks) lauten: »Ich bin keine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, sondern eine, die selbsttätig verließ, was seltener ist. Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen.« Ebd., S. 7.

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vor, als Wiedergängerin aus einem, in diesem Fall aufs Jahr genau, einhundert Jahre älteren Theatertext. Sie verneint somit ihre Präsenz, sie ist keine Person und schon gar kein Subjekt. Sie ist aber auch kein Original, denn als eine Figur aus dem Stück von Ibsen würde sie ihren Auftritt nicht wiederholen können. Sie tritt als Theatername auf. Zum Namen im dramatischen Text lesen wir im Dialog über den Dialog von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy,9 dass dieser Name »gewissermaßen außerhalb des Textes selbst«10 steht. Er bilde einen »Quasi-Text, […] der von aller Syntax entbunden ist«11 und bezeichne eher einen »Ort [des Aussagens]«12 als eine Figur im figürlichen Sinn der Person. Für einen Namen im dramatischen Text ist weiterhin kennzeichnend, dass er niemals allein kommt. Er gehört zu mehreren Namen, zu einer ganzen Topologie von ›Orten des Aussagens‹, während der eigentliche, also der zur Aussprache bestimmte Text die Funktion übernimmt, diejenigen, die an der Stelle des Namens, am Ort des Aussagens nicht einfach sind, zu Präsentierenden zu machen. Erst als Präsentierende treten sie in das Gewebe aus Worten, erst als Mitteilende, die sprechen, werden sie präsent. Der Name nennt einen Ort, aber erst außer ihm, erst in der Äußerung – eingedenk der Tatsache, dass man immer mehr als einer sein muss, um zu sprechen – wird daraus eine sich (mit)teilende Anwesenheit. Aufgrund dieser anfänglichen Teilung wird die Theaterfigur nie voll. Und Nancy fügt hinzu: »Aber vom Faktum dieser anfänglichen Teilung bleibt bis zum Schluss etwas Topologisches zurück, das den Theaterfiguren anhängt.«13 9 | Man kann auf das Alter dieses Dialogs hinweisen, den Lacoue-Labarthe und Nancy als unabgeschlossene Arbeit zunächst 1992 veröffentlichten, dann 2004 im Rahmen einer Konferenz (»Dialoguer – un nouveau partage des voix«, organisiert von Jean-Pierre Sarrazac und Catherine Naugrette, Paris III, März 2004) fortsetzten. Die Buchveröffentlichung erfolgte unter beider Namen und dem Titel: Scène (Paris: Christian Bourgois 2013). 10 | Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: Dialog über den Dialog, aus dem Französischen von Ulrich Müller-Schöll, in: Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 2042, hier S. 21. 11 | Ebd., S. 22. 12 | Ebd. 13 | Ebd.

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Bei Jelinek tritt NORA als Theatername auf und bestätigt als solcher, dass er außerhalb des Textes steht, also wandern kann. Als Name ist NORA weiterhin Teil einer Topologie, denn es ist nicht möglich, von einem Ort im Singular auszugehen. Als Ort einer Disposition und durch dessen Logik strukturiert, führt sie andere Topoi mit sich, andere Theaternamen und schon gehandelte Bezüge (das Puppenheim, das Geld oder das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Mann und Frau). Jedwede Rede, die im Stück von Jelinek durch die vier Buchstaben NORA angeführt wird, kommt von einem Woanders her, das jedoch auch nicht einfach mit dem Namen Ibsen übereinstimmt. Ibsen ist kein Urheber, der NORA egal wohin trägt. Vielmehr kommt NORA in einer bestimmten Topologie vor, die Ibsen angestiftet, man könnte auch sagen, losgetreten hat und zwar mit offenem Ausgang. NORA, losgerissen, herausgetrennt, wird jedoch nicht durch einen Diskurs ›Ibsen‹ getragen. Sie ist weder ein festgefügter Charakter, noch ein Zitat, sondern ein Name. In präzisem Sinn bildet die bedingte Autonomie des Theaternamens auch die Voraussetzung für die ausufernden Auseinandersetzungen zur Emanzipation der Frau, die zur Zeit Ibsens im Namen seiner NORA geführt wurden. NORA, die das Haus verließ, steht für eine bestimmte Diskursmacht. Jelinek knüpft hier in doppelter Weise an: zum einen nimmt sie NORA mitsamt ihrer Topologie wieder als Namen einer Theaterfigur ernst, zum anderen entreißt sie der Diskursmaschine NORA den Emanzipationsdiskurs. Auch für Jelineks NORA gilt: »Ich führe Personen auf die Bühne, die die Macht wie einen ausgezogenen Fetzen hinter sich herschleppen, und wenn der Fetzen bis in Kleinste noch weiter zerfetzt ist, zerfetzt sich die Macht irgendwann selbst.«14 Die Aussagen, die NORA im Stück Jelineks zugeordnet werden, zerfetzen sie als Diskursmacht und als Theaterfigur. Der Faden zwischen dem Ort des Aussagens und der Theaterfigur ist gerissen. Die Aussagen treiben sich als sich selbst darstellende an. Das ist die Voraussetzung,

14 | Jelinek, Elfriede: In Mediengewittern [2003], in der Rubrik »Zum Theater« auf Jelineks Homepage: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ (zuletzt aufgerufen am: 22.11.2017).

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unter der die Figur im Sinn einer sekundären, besser noch ›parasitären‹15 Ursprünglichkeit von Jelinek im Weiteren verfolgt wird.

2. F l ache F iguren Die nächste große Auseinandersetzung gilt der Annahme eines Innenlebens der Figur. Dafür haben sich Schauspieler auf der Bühne einer Figur anzuverwandeln, indem sie dieses papierne Konstrukt der Figur mit sich selbst füttern. Der ganze Theaterkult um die Tiefe und Dichte einer gelebten Präsenz, die eine Figur zur Äußerung drängt, verdankt sich dieser Vermischung, zu der Jelinek schreibt: »Das Allerschlimmste ist, wenn sie [die Schauspieler] was sie da werden sollen [die Figur] mit dem in Übereinstimmung zu bringen suchen, was sie bereits sind.«16 Hier knüpfen sich die Fragen von Theaterjournalisten an, die Jelinek bis auf den heutigen Tag als Verräterin des Schauspielertheaters wähnen und ihr misstrauen: Welche Alternative gibt es zu dem anthropomorphisierenden Modell des Sprechens, das auf der Differenz von Tiefe und Oberfläche gründet, wenn ihm die vermeintliche Tiefe entzogen wird? Wie ist ein Sprechen, das Sprechen-Sein, wie Jelinek sagt,17 ohne Bindung an Schauspielerkörper vorstellbar? Die gesamte Thematik der Oberfläche betrifft Figur und Schauspieler zugleich, jedoch in verschiedener Weise. Die Betonung der Fläche bei gleichzeitiger »Tiefenfeindlichkeit«,18 wie Juliane Vogel in Bezug auf Jelinek konstatiert, führt eine Auseinandersetzung mit der Sichtbarkeit und Bildlichkeit des Theaters, die in allen ihren Überschneidungen mit den Entwicklungen in der bildenden Kunst und den visuellen Medien, die 15 | Der Begriff des Parasitären wird, ausgehend von Michel Serres, ausführlich untersucht bei: Kovacs, Teresa: Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas, Bielefeld: transcript Verlag 2016, insbes. S. 42-56. 16 | Jelinek, Elfriede: Sinn egal. Körper zwecklos [1997], in der Rubrik »Zum Theater« auf Jelineks Homepage: http://ourworld.compuserve.com/homepages/ elfriede/. 17 | »Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.« Ebd. 18 | Vogel, Juliane: »Keine Leere der Unterbrechung – Die Kinder der Toten oder der Schrecken der Falte«, in: Modern Austrian Literature 3/4 (2006), S. 15-26, hier S. 22.

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hier dazu gehören, betrachtet werden muss. Die ausgestellte Flächigkeit der Figuren – platt wie Papier, flach wie Filmbilder, die ›nichts dahinter‹ haben – ist häufig in medienkritischer Absicht gelesen worden: Figuren aus dem Fernsehzeitalter begehren die »medienkompatible Form« für sich selbst. Sie wollen ihre »plastische Existenz« loswerden und sich durch einen »Dimensionsverlust« in »flächige Bilder«19 verwandeln. Jelinek komme dieser medial induzierten Begierde insofern auf gewohnt kritische Weise entgegen, indem sie die Bildwerdung als gewaltförmige Zurichtung markiert. Doch Jelineks Einsatz geht über solche Dramatologie des Flachheitsbegehrens weit hinaus. Ebenso wenig wie Tiefsinn und Raumvolumen miteinander zusammenhängen, gehen Flächen mit Dimensionsreduktion oder gar Formverlust (Drama) einher. Die ganze Dichotomie von Plastizität und Fläche greift zu kurz. In Jelineks programmatischem Text Ich möchte seicht sein (1990) heißt es zu den »Personen« auf der Bühne: »Klopfen wir sie platt zu Zelluloid! Wir machen vielleicht einen Film aus ihnen […] Aber einen Film als Theater, nicht ein Film als Film!«20 Dieser Nachsatz läuft der gängigen Medienkonkurrenz genauso zuwider wie einer allzu simplen Medienkritik. Indem der (»platte«) Film nicht gegen das (»plastische«) Theater ausgespielt wird, wird auf deren gemeinsames szenisches Dispositiv 21 verwiesen. Schauspieler in diesem Dispositiv – und woanders können sie nicht auftreten – sind per se körperlos (wie im Film) in dem Sinn, dass ihr Körper den Ort einer bestimmten Abwesenheit bildet. Das zeitliche Geschehen des Spiels/der Sprache spannt ihren Körper auf, verwickelt ihn 19 | Vogel, Juliane: »Ich möchte seicht sein.« Flächenkonzepte in Texten Elfriede Jelineks, in: Thomas Eder/Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, München: Fink 2010, S. 9-18, hier S. 13 (ebenso die drei zuvor in Zitatstrichen angeführten Begrifflichkeiten). 20 | Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein, in: Christa Gürtler, et al. (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1990, S. 157-161, hier S. 160. 21 | Dieses Dispositiv kulminiert im Begriff der Bühne, bislang als Bühnenform bzw. Anordnung verstanden, die herkömmlicherweise das Sehen/Gesehenwerden sowie das Hören/Gehörtwerden miteinander verschränkt. Darüber hinaus bringt Bühne jedoch noch etwas Allgemeineres ins Spiel: sie zeigt, dass das Sein des Gegenwärtigen nicht außerhalb von Scheinen und Erscheinen spielt, dass Präsenz nicht als solche vorhanden ist, sondern notwendig präsentiert werden muss.

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in ein verzweigtes Anderswo. Es faltet die vermeintliche Anwesenheit der Körper in sich ein. Gleichzeitig unterminiert das Geschehen der Sprache/ des Spiels die Möglichkeit einer einfachen Rückbindung an die körperliche Erscheinung der Schauspieler. Nur die Vorstellung, der Körper sei im Raum, lässt ihn für uns zum Bild gefrieren. Doch das szenische Dispositiv ist kein Raum, sondern Bedingung einer Exposition. Es überträgt sich dem Körper nicht als Beheimatung, sondern als Aufforderung. Ist der Körper nicht im Raum, dann ist der Raum in den Körpern, in ihrer szenischen Exposition beschlossen. Ihr Auftreten bewirkt die Aufspannung des Ortes. Jelinek schreibt: »Die Schauspieler erzeugen die Bühne, und wo sie sind, dort ist auch jene.«22 Jelineks Theaterästhetik insistiert auf der Defiguration einer phänomenalen Einheit von Figur und Schauspielerkörper. Damit verhält es sich keineswegs so schwierig, wie es in vielen Rezeptionen zur Flächigkeit anklingt, die mit irgendeinem dubiosen Kippen aus der Drei- in die Zweidimensionalität hadern. Flächige Figuren eignen sich nicht dazu, sich der Schauspielerkörper zu bemächtigen, sie bleiben ihnen vom Leib. Den Schauspielern bleibt es, zu sprechen. Sie kommen also und sprechen. Allein das und in diesem kleinen Satz signalisiert eine Zusammensetzung, also eine Extension, in der die Körper unversehens weder dieselben, noch bei sich bleiben. Ihre Extension affiziert andere, die sich ihrerseits exponieren – Körper, Punkte, Zonen, Stimmen, Stoffe, Intensitäten. Das Auseinanderfallen all dieser Verschiedenheiten setzt sich fort: Jedes Teil wird immer mehr von sich selbst verschieden und daher immer leichter ersetzbar, niemals ein Ganzes werdend. Während ich dies schreibe, merke ich, dass mein Versuch zu beschreiben, wie eine szenische Assemblage entsteht, in der Körper ohne die darstellerische Aufgabe zum Transport einer Figur ›zwecklos‹ sich einstellen, mithin nicht sich stellen, sondern einstellen, Eingang nehmen, unversehens und unter anderen/m – wie mir dieser Versuch unter der Hand zu einer Beschreibung des Chorischen gerät. Die Figur des Chorischen wäre, genau wie diese Schauspieler mit ihren von der figürlichen Darstellung entlasteten Körpern, als eine Figuration zu beschreiben, die, »aufgehängt […] in den Schacht einer anderen Dimension, die nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist, uns etwas [bestellt]«.23 22 | E. Jelinek,: Sinn egal. Körper zwecklos. 23 | Ebd.

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3. F igur als S pr achort Für den Begriff der Figur sind die Konsequenzen der Flächigkeit jedoch noch weitreichender, denn auch (Bild-)Oberflächen lassen sich, wie fast alles, was seit den 1960er Jahren in Kunst, Philosophie und Kunsttheorie ausprobiert wurde, topologisch wenden.24 Grundiert wird diese Wendung durch eine Lösung vom Modell des Containerraums25 und dessen Geometrie fester Körper. Wird dieses Modell jedoch topologisch gewendet, werden auch die räumlichen Beziehungen von innen/außen, rechts/ links, vorne/hinten usw. unsicher und vollständig vom Prozess eines anachronistischen Geschehens aufgesogen, in dem selbst Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr auf ihren Plätzen bleiben. In unserem Zusammenhang ist für einen Moment der Künstler Dieter Roth (1930-1998) von besonderem Interesse, der sich fragte, wie sich »topologische Verfahren der Umkehrbarkeit vom Visuellen in die Domäne des Körpers übertragen« lassen, da der menschliche Körper »sich ja nicht ohne weiteres umstülpen, falten oder verknoten lässt«.26 Roth fand eine (Teil-)Antwort in der Zwischenräumlichkeit, die durch mehrere Körper gebildet wird. Dabei fasste er ihre Zwischenräumlichkeit als eine eigene Gestalt auf, als eine eigene Subjektivitätsform. Demnach sind nicht die Einzelnen (Figuren/ Körper/dramatis personae) Subjekte. Vielmehr sind sie Teil der Entfaltung einer Subjektivität, die »von ihrer Umwelt vollkommen durchdrungen (und) so vollkommen nach außen gekehrt ist, dass zwischen Innen- und Außenraum eine reversible Beziehung besteht«.27 Subjektivität spielt sich nicht in einem Subjekt ab, sondern im instabilen, sich in unendlicher 24 | Vgl. Pichler, Wolfram: Bildoberflächen, topologisch gewendet. Zur Kunstgeschichte des Möbiusbandes seit ca. 1935, in: T. Eder/J. Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, S. 19-48. 25 | »Containerraum«: das Stereotyp, sich den Raum wie eine Schachtel vorzustellen, in die Objekte gelegt werden, so dass sie voll wird bzw. leer ist, wenn keine Objekte darin liegen. Dieser geläufigen Vorstellung, die auf Isaac Newton zurückgeht, widerspricht der topologische Relationsraum (Leibniz) und die Relativitätstheorie Albert Einsteins, der 1954 das Schachtel-Denken explizit unter Verwendung des Begriffs des »Containers« kritisierte. Vgl. Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, hier S. 40ff. 26 | W. Pichler: Bildoberflächen, topologisch gewendet, S. 31. 27 | Ebd., S. 32.

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Selbstdifferenzierung entfaltenden Zwischen-Mehreren. Diese Subjektivität ist offen zur Alterität hin. Sie hat ›sich‹ im Prozess und im Außen einer unendlichen Entfaltung im Endlichen. Die komplette »Auswendigkeit dieser Figur«28 erlaubt es ihr nicht, sich zu schließen. Nach diesem Muster nun – es ist aber kein Muster, es ist eine Raumauffassung, eine Weltsicht, ein Denken – entwickelt Jelinek vor allem in den 1980er Jahren Theaterfiguren, die über ausfahrbare Zähne verfügen oder Körperteile verlieren, die bluten, fallen, getreten werden und weitersprechen oder sich wieder zusammensetzen und aufstehen, als sei ihnen nichts geschehen. Diese Figuren können als äußerliche Verbindung von Elementen aufgefasst werden, als Aggregate, deren Modulationsbewegungen sich nun jedoch gerade nicht im ›fluid‹, im Ätherischen abspielen, sondern alle Materien erfassen. Die im Begriff der Fläche vermeintlich ausgeschlossene Plastizität breitet sich in einer Fülle wuchernder, elastischer und beweglicher Materialzustände aus, die im Duktus der ›Bühnenanweisung‹ beschrieben werden und zugleich die Frage einer ›Umsetzung‹ versperren. Die wandernden Namen helfen dabei, etwa einen Facharzt für Kiefern- und Frauenheilkunde Heidkliff (wie Heathcliff aus Brontës Wuthering Heights)29 oder eine »Mischung aus Alpenkönig, Menschenfeind und Invalide«30 auf die Bühne zu rufen. Ich denke, dass diese grotesken Figurenarsenale sich einer Frage verdanken, die der von Dieter Roth ähnelt: Wie lässt sich die Figur aus den Fängen einer Sichtbarkeitsmaschine lösen, die sie ins Bild setzt und gegen ihre Umwelt verschließt? Wie lässt sich Topologie inkorporieren? Diese Frage gleicht dem Versuch einer Umkehr im eigenen Körper. Sie demoliert ihn notwendig und lässt ihn hinter sich – um zu sprechen.31 28 | Dieser schöne Begriff findet sich bei: Naqvi, Tatima: Unmögliche Möglichkeiten: Elfriede Jelineks paradoxe Topologie in Angst.Störung, in: T. Eder/J.Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche, S. 131-142, hier S. 142. 29 | Jelinek, Elfriede: Krankheit oder moderne Frauen. Wie ein Stück, Köln: Prometh Verlag 1987. 30 | Elfriede Jelinek, Burgtheater [1982], in: Dies.: Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 147. 31 | Jelinek führt den Versuch dieser Umkehr in eigenen Körper beispielhaft in der Figur ALPENKÖNIGs durch, der in Burgtheater, diesem Übervaterundmutter österreichischen Theaterwesens, als Zwischenspiel auftritt, als Österreicher, Diener im nationalsozialistischen Kulturbetrieb und invalider Rest.

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Diese Frage insistiert vom Visuellen her, um der Trägheit unserer Imagination entgegen zu wirken, die sofort bereit ist, die geringsten Hinweise (Name, Geschlecht, soziale Situierung, Alter) zu einem Bild zusammenzufügen. Innerhalb dieser trügerischen Phantasmagorie umzukehren, bedeutet, diesem Bild seine Fassung zu entreißen. Das ist alles andere als einfach und geschieht bei Jelinek mithilfe unterschiedlicher, komplexer Verfahren, die hier nicht nachgezeichnet werden können. Für Jelineks sukzessive Entdeckung der Figur als Sprachort bildet sicherlich auch Ein Sportstück (1998) mit der Figur des toten Leistungssportlers ANDI ein besonderes Scharnier. Die langen Prosablöcke, aus denen der Theatertext besteht, zeigen es: Die Sprache tritt auf, indem sie ins Sprechen übergeht. Die Sprache selbst ist sich in ihren Auftritten vorausgegangen, so dass ihr Sprechen sich sofort partikularisiert und differenziert. Andere gesellen sich ihrem Sprechen hinzu. Die Vielzahl ist vorgängig: Das ist die Figur als Sprachort. In ihrem poetologischen Essay Es ist Sprechen und aus (2013)32 formuliert Jelinek einige Konsequenzen dieser inkorporierten Topologie für die Figur, die beweglich ist und sich, in sich selbst auseinandertretend, vervielfältigt, anhand zweier Beispiele. Jelinek sagt von ihren Texten: Man hat sie oft mühevoll in eine Figur gezwängt, eingenäht in ein Raubtier, wie die sechs minus einem Geisslein (das dann eine größere Rolle übernehmen darf als seine Geschwister), die auf einmal, völlig überraschend, Steine waren und sogar einen Wolf täuschen konnten, bis der den Abgang in die Versenkung gemacht hat. Oder all die Krieger (einer von ihnen wird schon im Vorhinein von Odysseus erstickt, damit er seinen Text nicht mehr bringen kann), die, hineingezwängt in das Trojanische Pferd, hinter dieser rasch, in nur drei Tagen, zusammengeschusterten Kulisse auf ihren Auftritt warten: Gleich werden sie, mitsamt ihren Kollegen im Chor, aber nicht als Chorknaben, über die Stadt herfallen! Doch diese, jede Hülle platzt auf (als wäre das Chaos nicht schon groß genug oder als wäre es nicht klein 32 | Jelinek, Elfriede: Es ist Sprechen und aus. Grußbotschaft zum Jubiläumskongress 125 Jahre Burgtheater (11.-13.10.2013), also 31 Jahre nach Burgtheater, das in Bonn uraufgeführt wurde, weil Jelinek den Text 1982 für Österreich und das Burgtheater sperrte: In dieser Parathese scheint eine singuläre Anstrengung und Arbeit für das Theater auf. Das Arsenal der Bühnenstücke Jelineks gleicht einem Waffenlager, das sie mit vorerst glücklichem Ausgang gegen das Theater in Stellung brachte.

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genug!) und gibt etwas frei, das im Augenblick des Sprechens aber schon wieder verschwunden ist. 33

4. J elinek als S pr achort In ihrer Nobelpreis-Rede Im Abseits positioniert Jelinek ihr Schreiben zwischen zwei Räumen, denen gegenüber sie ihr Schreiben als Nachschrift, als Nachsagen, als Abfall charakterisiert. Diese beiden Räume sind zum einen das ununterbrochene Murmeln der Sprache in den Medien, zum anderen der poetische Raum, ein ungeordneter, chaotisch quellender Raum aus Sprache. Die Dichterin ist mit ihrer Sprache auf dem Weg im Abseits; das ist ein schmaler Pfad, kaum zu sehen, der Weg des Schreibens, eine verwischte Spur, man ist gar nicht da. Die Sprache wird als ein eigenartiger Hund beschrieben, der gerne zu den Leuten überläuft, zu »den wirklichen, echten, auf gut beschildertem Weg (wer kann sich hier noch verirren?)«.34 Bei diesen Leuten ist immer nur ein Reden, sagt Jelinek, kein Sprechen. Jelinek befindet: Diese Sprache mag mich nicht. Sie läuft wie ein Hund neben diesen Leuten her. Sie wird sich dabei »überfressen an der Wirklichkeit«. Da die Dichterin ihr Abseits niemals verlässt, vollzieht sich der Kontakt mit ihrer Sprache über das Hören-Sagen. Die Sprache schreit ihr ins Ohr. »Ich soll einfach sagen, was sie mir vorsagt.« Jelinek beschreibt diesen Vorgang als Fremderfahrung in der eigenen Sprache. Sie hört das Sagen ihrer Sprache dort drüben auf dem Hauptweg. Es ist immer noch ihre Sprache, sie hat keine andere. Aber die Dichterin ist durch die Erfahrung gegangen, dass ihr ihre Sprache nicht gehört. Im Nachsagen ändert sich der Status des Sagens: »Das Sagen meiner Sprache, da sie sich von mir getrennt hat, ist sofort ein Aussprechen geworden.« Keine Aussprache mit jemandem, eher ein prüfendes Aussprechen, das, indem es sich selbst zuhört, »jederzeit und immer noch verbessert werden kann«.

33 | Jelinek, Elfriede: Es ist Sprechen und aus, in der Rubrik »Zum Theater« auf Jelineks Homepage: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/. 34 | Jelinek, Elfriede: Im Abseits, in der Rubrik »Zur Kunst« auf Jelineks Homepage: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/.

Das Nein, der Tod und die Zeit

Dieses Aussprechen ist adressierte, zeitoffene Rede, die auf nichts berechnet ist und mit nichts rechnen kann. Rede, die sich richtet und sich dabei aufs Spiel setzt. Jelinek beschreibt dieses Aussprechen daher als einen isolierenden Akt. Sie begrüßt ihren Hund Sprache mit den Worten: »Ich dachte, du wolltest nicht mehr zu mir zurück. Ich erkenne dich ja gar nicht wieder.« Dann kommt das Nachsagen, das zum Aussprechen wird. »Der Rückstoß dieser Sprache«, heißt es im Text, »treibt mich immer weiter ins Abseits hinein.« Auch während sich die Sprache »dort drüben« kraulen und liebkosen lässt und »derzeit nicht zu Hause ist«, wird sie von der Autorin gehört, denn die Sprache sagt dauernd etwas, befindet Jelinek: »Sie sagt umso mehr, je ferner sie mir ist. Das Nachgesagte ist jetzt das eigentliche Sagen. Man soll der eigenen Sprache nicht zu nahetreten. Sie verspricht mir alles, wenn ich ihr bloß nicht nahekomme. Dabei ist es meine. Wie finden Sie das?«35 Der Raum der talk-shows, der Fernsehmoderator/innen, der Nachrichtensprecher/innen, der offiziellen politischen Diskurse, der Internetforen, der Sender, die dauernd etwas senden/sagen/meinen, die nicht gehört werden, aber Jelinek hört sie. Es ist ihre Sprache, die dort schreit, »damit sie fortbleiben kann«.36 Jelinek spricht ihr nach und dabei durchläuft die Sprache ein Korrekturband, das Jelinek ebenso wenig gehört wie ihre Sprache. Im Korrekturmodus gehört ihre Sprache einem anderen unpersönlichen Raum zu, der noch viel größer ist als der Laberraum des Jetzt (»das liebe Jetzt, das ich nicht leiden kann«, Es ist Sprechen und aus). Dem poetischen Raum gehört nicht nur die eigene Sprache zu, sondern alle Sprache, alles Geschriebene, alle Toten, die je etwas dazu gelegt haben in diesen dark room aus Sprache. Blanchot hat sie als ein topologisches Geflecht beschrieben, das aus ständig bewegten und veränderlichen, räumlichen Beziehungen in der Sprache besteht, noch bevor diese in die Bildung bestimmter, konkreter Worte eingeht. Der poetische Raum tritt in jeder sprachlichen Suchbewegung unvermeidlich auf und wird aktiv. Er öffnet Wörter, Buchstaben, Rhythmen, Satzbewegungen in blitzhaften Bezugnahmen zueinander. Immer schafft er dabei Raum und streut sich aus.37 Dabei zieht er Schreibende, die über ein entsprechendes Sensorium 35 | Für alle Zitate, vgl. ebd. 36 | Ebd. 37 | Vgl. Blanchot, Maurice: Das kommende Buch, in: Ders.: Der Gesang der Sirenen, Berlin: Ullstein 1982, S. 302-330.

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Ulrike Haß

verfügen, hinter sich her und reißt sie mit. Es geht um eine Bewegung des Auswendigwerdens der Sprache, und die Dichterin wird selbst zum Ort dieser Bewegung. Sie wird zum Sprachort. Ihr Sprechen (unabhängig davon, ob es aufgeschrieben wurde: es handelt sich um gesprochene Sprache) öffnet diesen Ort und gewinnt ihm rückhaltlose Darbietungen ab. Jelinek gibt eine außergewöhnliche Beschreibung dieses poetischen Raums: Es klafft auf, das Chaos, und spuckt etwas aus, aber Menschen sind es nie. Es ist Sprechen und aus. Es dauert seine Zeit, die davor meine Lebenszeit war. Ich weiß schon: meist zu lang! Aber bitte bedenken Sie: Das Sprechen ist vielleicht dieses Chaos, aus dem ich mit meiner Charon-Stange, mit der ich das Totenfloß voranstake (denn Sprechen ist für mich: dem Tod für eine Weile entkommen oder wenigstens ein paar dorthin mitnehmen), ein paar Fetzen Sprechen herausfische, hervorstoße, Fetzen, die immer Teil eines in größten Teilen unsichtbaren, ungeordneten Ganzen sind, das nie ein Ganzes wird, denn das Ganze würde Ordnung ja voraussetzen. Es ist nie alles, es ist nicht einmal etwas. Ich hätte auch ganz andre Fetzen, andre Sätze, andre Worte nehmen können. Ich hätte immer etwas anderes nehmen können, und da sind so viele, die mich schon inständig darum gebeten haben: Bitte wenigstens einmal etwas anderes, alles, nur nicht das! Nicht schon wieder! Aber es geht nicht. Ich habe nicht die Kontrolle, ich habe vielleicht die Herrschaft über ein endloses Sprechen, das im Vergleich zum Chaos aber gar nichts ist, nur ein kurzes Räuspern vielleicht, aber ich habe keine Kontrolle. Es geht mit mir durch, wie man so sagt. Oft weiß ich selbst nicht, was ich da gesagt habe. Ich weiß nur, ich hätte es nicht mit anderen Worten sagen können. 38

5. D ie A usdehnung Jelinek portraitiert das Unbewusste der Sprache als endloses Chaos. Die Dichterin stakt darin herum mit einer Stange wie der Totenflößer Charon. Das Chaos kennt kein Ende, keinen Tod, keine Zeit, kein Nein. Ungeordnet nimmt es alles in seine Ausdehnung auf und bleibt die meiste Zeit und in seinen größten Teilen unsichtbar. Die meiste Zeit, das heißt nicht immer. Im Kontrollverlust, wenn das Bewusstsein, das nicht die erste Geige spielt, dem »Gesang der Sirenen«(Blanchot) nachgibt und sich 38 | E. Jelinek: Es ist Sprechen und aus.

Das Nein, der Tod und die Zeit

im schöpferischen Vorgang verliert, klafft das Unbewusste der Sprache auf und spuckt Wörter aus, Satzbewegungen, das Sprechen. Es dauert »seine Zeit«, schreibt Jelinek und sagt damit, dass es nicht die sogenannte ›eigene‹ Zeit ist. Im schöpferischen Kontakt mit dem Chaos tauscht sich Lebenszeit gegen das poetische Sprechen, das sich gegen die schwarze Wand des Todes aufrichtet und somit dem Tod für eine kleine Weile entkommt. Der poetische Raum ist weder als ursprünglicher Grund noch in eschatologischer Hinsicht zu gebrauchen. Sein Chaos ist formlos, unsäglich und unaussprechlich. Jelinek hat ihr poetisches Verfahren als »Nachsagen« einer hündischen, durch die Diskurse öffentlich-rechtlicher und privater Sender zugerichteten Sprache charakterisiert, wobei sich jedoch das »Nachsagen« der Sprache (»da sie sich von mir getrennt hat«) sofort in ein »Aussprechen« wendet. Im Aussprechen handelt Jelinek als Sprachort. Dieser Ort ist ihr Widerstand. Sie wendet die unmöglichen Diskurse der Sender, Medien und Foren im Kontakt mit dem poetischen Raum um und wieder um. Im Akt des Umwendens unterscheiden sich schreiben und schreien nur um einen Buchstaben: das Nein vervielfältigt sich unablässig. Jelineks Akte des Widerspruchs sind zahllos. Gleichzeitig machen sie die Gewalt dieser unsäglichen Diskurse kenntlich und verlassen zugleich den Bereich der Meinung, der Diskurskritik und der Diskurse überhaupt. Sie gehören den Registern der Praxis an. Sie sind Handlung, Akt, Gabe, die auf nichts berechnet und daher in der Lage ist, uns zu berühren. Jelineks Akte des Widerspruchs verdanken sich einer Teilhabe, in der die Präsenz eines ausgedehnten, vorgängigen poetischen Raums wirkt, der sich im Aussprechen zugleich vordrängt und zurückgehalten wird. Die Mimesis des Nachsagens hat sich in den Modus der Teilhabe, der Methexis, verwandelt, mittels derer Lebende die Alterität des Todes/der Toten teilen – nicht einfach so, sondern während sie das »Totenfloß« voranstakt, wie Jelinek schreibt, hier und da »ein paar Fetzen Sprechen« für den Widerspruch herausfischend. Sprachorte sind allein zur Kunst einer Bezugnahme fähig, weil sie im Auswendigwerden des Sprechens unendlich offenstehen. Sie enden nicht bei mir, bei dir, bei jemandem oder etwas. Aber indem wir berührt werden, in diesem Moment (»Ich weiß nur, ich hätte es nicht mit anderen Worten sagen können.«) breitet sich die Sache des Widerstands aus und erhält seine nicht feststellbare, sagen wir ruhig, endlose Ausdehnung.

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Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹ Zur Widerstandspoetik in aktuellen Dramen von Anne Lepper und Ferdinand Schmalz Hanna Klessinger Seit einigen Jahren wird unter dem Stichwort der ›Postdemokratie‹ über die Krise unserer westlichen Demokratien debattiert. Zugleich lässt sich – in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft – eine stetig wachsende Faszination für politische Protest- und Widerstandsbewegungen beobachten, wie sie insbesondere seit »Occupy Wall Street« (2011) begegnen – etwa in Spanien (2011/12), Griechenland und Frankreich (»Nuits Debout«) – und mit dem »Women’s March« zum Amtsantritt Donald Trumps im Januar 2017 einen neuen Höhepunkt erlebten. Sozial- und Kulturwissenschaften deuten diese Bewegungen im Sinne einer neuen Protestkultur, die sich durch spezifische Formen, etwa punktuelle, projekthafte Aktionen, und eine besondere Kreativität auszeichne.1 Auch die Kunstszene sieht sich herausgefordert, ihrerseits die politische Aktionskunst neu zu beleben. Als Beispiel sei eine bereits 2009 im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres in Linz ausgetragene »Subversivmesse« genannt.2 Die Theater solidarisieren sich ebenfalls mit aktuellen politischen Protestbewegungen: Zum einen drängen sie selbst aus den Bühnenräu1 | Vgl. Balint, Iuditha/Dingeldein, Hannah/Lämmle, Kathrin (Hg.): Protest, Empörung, Widerstand. Zur Analyse von Auflehnungsbewegungen, Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft 2014, bes. S. 9-15. 2 | Aus der »Fachmesse für Gegenkultur und Widerstandstechnologien« ging ein Buchprojekt hervor, das ausgewählte künstlerische Initiativen der Messe vorstellt und theoretisch reflektiert bzw. flankiert: vgl. Bandi, Nina/Kraft, Michael G./Lasinger, Sebastian (Hg.): Kunst, Krise, Subversion. Zur Politik der Ästhetik, Bielefeld: transcript Verlag 2012.

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men ›auf die Straße‹, etwa, als Berliner Bühnen im Höhepunkt der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ am 20. März 2016 gemeinsam mit Aktivisten einen »Karneval der Geflüchteten« veranstalteten.3 Andererseits holen die Theater den ›realen‹ Protest in politischen Projektstücken auf ihre Bühnen: Hier sei exemplarisch das alternative ›Weltparlament‹ genannt, das der schweizerische Theaterkünstler Milo Rau unter dem Titel »General Assembly« im November 2017 an der Berliner Schaubühne tagen ließ, um die Teilnehmer dann in einem ›Reenactment‹ des »Sturms auf den Winterpalast« zum Sturm auf den Berliner Reichstag zu mobilisieren.4 Nicht zuletzt deuten die Ereignisse rund um die Besetzung der Berliner Volksbühne im September 2017 auf die neue Allianz zwischen Protest und Kunst: Unter dem Motto »Doch Kunst« fand die einwöchige Besetzung auf Initiative des Künstlerkollektivs »Staub zu Glitzer« statt, um sowohl gegen die Neuausrichtung des künstlerischen Programms durch den – inzwischen zurückgetretenen – neuen Intendanten Chris Dercon als auch gegen eine »verfehlte Stadtentwicklung« im Allgemeinen zu protestieren.5 Während also von Regisseuren und Theatermachern neue Formen der politischen Aktionskunst diskutiert und erprobt werden, halten sich die Dramatikerinnen und Dramatiker auffallend zurück. Jedenfalls ist keine nennenswerte Renaissance von politisch engagierter Dramatik oder gar von Agitpropstücken zu erkennen, obwohl sich auch das neue Drama wieder verstärkt politischen Themen zuwendet. Die neuen Protestbewegungen werden dabei von der Warte der aktuellen Dramatik – kritisch – beobachtet und reflektiert, wie ich an zwei einschlägigen Beispielen zeigen möchte. Anhand einer Autorin und eines Autors der jüngeren beziehungsweise mittleren Autorengeneration, Anne Lepper (*1978) und Ferdinand Schmalz (*1985), beide preisgekrönt und regelmäßig bei den Mülheimer Theatertagen im Programm,6 möchte ich die neuen – indi3 | Vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/event-mit-berliner-theatern-karne​v​ al-​d er-gefluechteten/13077530.html (zuletzt aufgerufen am: 30.04.2018). 4 | Vgl. www.general-assembly.net (zuletzt aufgerufen am: 30.04.2018). 5 | Vgl. www.sueddeutsche.de/kultur/theater-polizei-beendet-besetzung-der-ber​ liner-volksbuehne-1.3687837 (zuletzt aufgerufen am: 30.04.2018). 6 | Anne Lepper gewann 2017 mit ihrem Stück Mädchen in Not den Mülheimer Dramatikerpreis; Ferdinand Schmalz, Nachwuchsdramatiker des Jahres 2014 der Zeitschrift Theater heute, gewann 2017 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

rekten – Formen eines deutschsprachigen politischen Gegenwartsdramas untersuchen. Indem ich die reflektierende, ironisch-kritische Distanz der Stücke zu aktuellen Widerstandsbewegungen und ihre Reflexion theoretisch-philosophischer Diskurse (insbesondere zur ›Postdemokratie‹) herausarbeite, frage ich zugleich nach den alternativen Formen eines widerständigen Schreibens, die diese Stücke erproben. Die beiden ausgewählten Theatertexte nehmen direkt Bezug auf die aktuelle Protestkultur: Ferdinand Schmalz’ Der thermale Widerstand (2016)7 bereits im Titel, der kalauernd auf die Besetzung eines Thermalbades verweist, und Anne Leppers Entwurf für ein Totaltheater (2016),8 indem es seine dystopische Handlung in einem fiktiven totalitären Regime der Zukunft oder Gegenwart (?) ansiedelt. Auffallend ähneln sich die Dramaturgien beider Stücke: Sie aktualisieren – jeweils mit anderen Mitteln – das brechtsche Parabeltheater. In modellhaften Schauplätzen, Konfigurationen und Plots spiegeln sie »eine allgemeine gesellschaftliche Problemkonstellation«.9 Das Thermalbad (Schmalz) und die Wurstfabrik (Lepper) werden in den Stücken zu Modellen unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft in der Krise. In diesen Settings wird dann die Frage nach Möglichkeiten des individuellen (Lepper) oder kollektiven (Schmalz) politischen Widerstands durchgespielt. Die Brecht-Nachfolge ist dabei auch formal markiert: Die rasch aufeinanderfolgenden kurzen Handlungssequenzen beider Stücke (55 Kurzszenen bei Lepper, 23 bei Schmalz) sind mit charakteristischen Szenentiteln versehen, die sich als distanzierende, kommentierende Verfremdungsstrategie lesen lassen, mit der die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Gang der Handlung (der in den Titeln häufig vorweggenommen und gedeutet

7 | Das Stück wird im laufenden Text mit der Sigle TW und Seitenzahl in nachgestellten Klammern nach folgender Ausgabe zitiert: Schmalz, Ferdinand: Leibstücke, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2017, S. 171-238. 8 | Das Stück wird im laufenden Text mit der Sigle ET und Seitenzahl in nachgestellten Klammern zitiert nach der folgenden Fassung [Bühnenmanuskript]: Lepper, Anne: Entwurf für ein Totaltheater, Köln: schäfersphilippen 2016. Ich danke dem Verlag für die freundliche Genehmigung, Auszüge des Stückes zu zitieren. 9 | So die Definition des brechtschen Parabeltheaters von Michael Bachmann in: Marx, Peter W. (Hg.): Handbuch Drama, Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler 2012, S. 302.

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wird) auf das Wie der Darstellung gelenkt wird, was den parabolischen Charakter noch stützt. Anne Leppers in 55 Kurzszenen unterteilter, auf jegliche Interpunktion verzichtender Theatertext Entwurf für ein Totaltheater geht von einer modellhaften Fabel aus: Aktualisiert wird das Narrativ der – scheiternden – weiblichen Emanzipation am Beispiel einer Frau, die trautes Heim, Ehemann und Kinder verlässt, um als Hauptdarstellerin im Theater ihr Glück zu suchen. Nach dem Muster von Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), der als Quelle an mehreren Stellen intertextuell markiert ist,10 wird die Protagonistin Bonnie von einem Ungenügen an der festgelegten bürgerlichen Existenz hinaus ins Leben getrieben. Anders als ihr männliches Vorbild kommt sie jedoch nie beim Theater an. Ihr Scheitern beginnt früher, denn sie wird von dubiosen Gestalten (dem Milchmann, einem Doppelgänger ihres Ehemannes, und dem Polizeichor sowie einer geheimnisvollen alten Dame) einer grausamen Prüfung unterzogen: Bis zur »ersten Vollmondnacht« soll sie »Erfahrungen sammeln« (ET, 10). Erst dann werde ihr der Zugang zum Theater gewährt. Um die Prüfung zu bestehen, soll Bonnie in den Staatsdienst eintreten und wird in eine staatliche Wurstbrotfabrik verfrachtet, wo sie zwar keine Erfahrungen macht, aber in dem ausgebeuteten »Küchenmädchen« eine Freundin und Leidensgenossin findet. Bald wird jedoch der geheime Plan hinter der angeblichen Prüfung deutlich: Mitten im Überfluss einer Wurstbrotfabrik soll Bonnie buchstäblich ausgehungert werden – sie soll so lange nichts zu essen bekommen, bis sie einknickt und freiwillig nach Hause zurückkehrt. Ihr wird klar, dass ihre individuelle (Wahl-)Freiheit nur Schein ist und dass sie in einer ihr gesamtes Leben regelnden Diktatur, in einem totalitären Polizeistaat, lebt. In den 23 Kurzszenen von Ferdinand Schmalz’ Theatertext Der thermale Widerstand wird der Parabelcharakter über den Schauplatz etabliert: Das Thermalbad wird als Modell unseres Lebens in der vermeintlich gemütlichen ›Wohlstandsblase‹ Westeuropa kenntlich und als gefährliche Selbsttäuschung entlarvt, blind für die globalen Krisen, die ihre Existenz bedrohen: »in wohlfühlblasen lässt sichs entspannt aufs ende warten./ und gönnt man sich noch eine moorschlammpackung,/während da 10 | So verweist die Protagonistin wiederholt darauf, den »Hamlet nicht spielen« zu können (ET, 8 u. ö.). Außerdem wird Mignons Lied Kennst du das Land an mehreren Stellen zitiert (vgl. z.B. ET, 101).

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

draußen schon die welt zusammenbricht.« (TW, 235) Für diese warnende Botschaft, die Schmalz dem revolutionären Bademeister Hannes in den Mund legt, ist die beständig mit der eigenen Nabelschau beschäftigte träge Schar der Badegäste jedoch nicht empfänglich. Sie merken nicht, dass ihre Nische, in der sie sich so wohlig eingerichtet haben, massiv bedroht ist: Ein Investor, ein international operierender »softdrinkriese[n]« (TW, 193), hat ein Auge auf die verschlafene Therme geworfen und möchte sie zu einem Erlebnisbad »tropical paradise« (TW, 237) ausbauen. Gegen diese Privatisierung begehrt nun der Bademeister Hannes auf und fordert eine radikaldemokratische Selbstverwaltung des Bades. Die müden Kurgäste möchten sich aber nicht durch den Aufwiegler stören lassen. Sie geraten durch seinen einsamen ›Zwergenaufstand‹ sogar derart in Wut, dass sie den Aufständischen mit einem Badetuch erdrosseln. In den grotesk überzeichneten Schauplätzen und Plots beider Stücke wird jeweils eine Krisendiagnose unserer Gegenwart formuliert, die sich an eine aktuelle Debatte der politischen Theorie anschließt. Diese lässt sich unter dem inzwischen aufgrund seiner Eingängigkeit etablierten, wenn auch umstrittenen Begriff der ›Postdemokratie‹ oder ›postdemokratischen Wende‹ unserer westlichen Demokratien zusammenfassen.11 In reflexiver Brechung spielen beide Stücke, wie ich nun zeigen möchte, die aktuell diskutierte Frage durch, ob und wie Widerstand oder ziviler Ungehorsam12 unter den Bedingungen der Postdemokratie möglich ist. Bereits die Settings beider Stücke deuten (parabolisch) auf die postdemokratische Gegenwart hin, um vor dieser Folie die aktuellen Widerstandsdebatten kritisch zu reflektieren. Offen augenzwinkernd (Schmalz) oder reflektiert verschlüsselt (Lepper) zeigen sie sich dabei auf der Höhe des aktuellen politischen Diskurses in Philosophie, Sozialwissenschaft, Kultur und Feuilleton. 11 | Zur Begriffsprägung und -bestimmung vgl. die – aus kritischer Perspektive – zusammenfassenden Erläuterungen von Blühdorn, Ingolfur: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, insbes. S. 116-125. Zur Definition s.u. den folgenden Abschnitt. 12 | Von der Konjunktur des Themas zeugt eine aktuelle Anthologie zur Theoriegeschichte des zivilen Ungehorsams: Braune, Andreas: Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart: Reclam 2017. Vgl. hier insbes. die Sektion IV: »Neuen Ungehorsam braucht das Land? Nonkonformität und Widerstand in der Postdemokratie« (ebd., S. 279-334).

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1. P ostdemokr atische G egenwartsdiagnose Die Diskussion um die postdemokratische Krise unserer westlichen Demokratien begann bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs. Der Begriff hat sich aber erst in den letzten Jahren, insbesondere durch die populäre Studie von Colin Crouch, etabliert,13 der wiederum auf eine Begriffsprägung Jacques Rancières zurückgreifen kann.14 Im Kern wird eine Aushöhlung der Demokratie diagnostiziert. Formell besteht die demokratische Ordnung nach dieser Deutung zwar weiter, doch werde ihr eigentliches Wesen – die Herrschaft des Volkes und die Repräsentation dieses Souveräns durch das Parlament – systematisch ausgehöhlt. Als Symptome dieser Krise sieht Crouch die Passivität, Apathie und ›Politikverdrossenheit‹ der Bürger auf der einen und die undurchsichtige ›Hinterzimmerpolitik‹ auf der anderen Seite: Im globalen Kapitalismus entzögen sich international agierende Unternehmen – als die wahren Einflussnehmer – den Regeln der nur mehr vordergründig intakten demokratischen Institutionen.15 So lässt sich – etwas verkürzt – die wesentliche Krisendiagnose der postdemokratischen Theorie zusammenfassen. In der an diese Theoriebildung anschließenden politischen und philosophischen Debatten werden verschiedene Krisensymptome bzw. Folgen der postdemokratischen Wende diskutiert. Einige werden auch in den hier analysierten Stücken aufgegriffen. Schmalz stellt seinem Stück unter anderen ein Motto aus einer Studie der amerikanischen Sozialwissenschaftlerin Saskia Sassen über Ausgrenzungen voran,16 das die »schiere vielgestaltigkeit der/ausgrenzung« als Ausdruck einer möglichen »unterirdische[n] dynamik« (TW, 173) deutet. So lässt sich in der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Räume, die 13 | Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2008. Die englische Originalausgabe erschien 2004. 14 | Rancière gilt als eigentlicher Erfinder des Begriffs, den er während des Jugoslawienkriegs 1992/1993 in zwei Vorträgen an der Universität Ljubljana prägte. Vgl. Rancière, Jacques: »Gibt es eine politische Philosophie?« und »Demokratie und Postdemokratie«, in: Ders./Alain Badiou (Hg.): Politik der Wahrheit, Wien: Turia und Kant 2010, 2. Aufl., S. 79-118 und S. 119-156. 15 | Vgl. I. Blühdorn: Simulative Demokratie, S. 120. 16 | Sassen, Saskia: Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2015.

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

Schmalz am Beispiel der drohenden Übernahme des Kurbades durch einen Inverstor aufgreift, ein derart symptomatischer Mechanismus der Ausgrenzung erkennen: Mit dem Zugang zu einstmals öffentlichen Räumen wird den Bürgern auch die Teilnahme am öffentlichen Leben verweigert. Sie verlieren an Sichtbarkeit, nach Rancière eine wesentliche demokratische Größe.17 Politische, demokratische Prozesse hängen, woran jüngst auch Judith Butler wieder erinnert hat,18 wesentlich am – sinnlichen – Erscheinen von Körpern im öffentlichen Raum. Ausgrenzung als Entzug von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird zudem – in der postdemokratischen Krise – als Druckmittel eingesetzt: Wer es sich schlichtweg nicht oder nicht mehr leisten kann, sichtbar zu werden – aus mangelnden ökonomischen Mitteln, aber auch aufgrund mangelnder Bildung oder institutioneller Einbindung –, der verschwindet buchstäblich. In Leppers Stück scheint dieses Symptom in das Motiv des Aushungerns übersetzt: Mitten im Überfluss einer florierenden Wurstbrotfabrik darf Bonnie weder arbeiten (sie ist zum Zuschauen verdammt) noch essen. Erst wenn sie sich den Regeln des Spiels beugt, also ihre persönlichen Ansprüche aufgibt und sich ›anpasst‹, wird sie wieder versorgt werden. Als Mittel, solch abweichende Ansprüche von vornherein auszuschalten, entlarven beide Stücke die systematische Sedierung der Bürger – durch Wellness (Schmalz), Konsum und »Amüsierbetrieb« (Lepper): »mal ausspannen sich ablenken wieder zu kräften kommen am Wochenende an was anderes denken […] mal in der Freizeit fernsehen […] oder Sie kaufen sich etwas Neues.« (ET, 54) Doch jedes Extrem ist – im Dienste der Ruhigstellung – zu vermeiden: Es geht natürlich lediglich darum, dass man sich »in Maßen gehen lässt« (ET, 38). Als Freizeit-, Wohlstands- und gnadenlose Wettbewerbsgesellschaft leidet die Postdemokratie unter Partikularismus und Vereinzelung ihrer Bürger, was verhindert, dass sie sich zu solidarischen Interessensgemeinschaften zusammenschließen. Stattdessen beschäftigt sich jeder vorrangig mit sich selbst: Die emsigen Kurgäste sind bei Schmalz beständig mit ihren Wehwehchen (»ein kurioses zwicken«, »ein penetrantes ziehen«, 17 | Vgl. J. Rancière: »Demokratie und Postdemokratie«, insbes. S. 135, wo Rancière den sinnlichen »Kern« der Demokratie definiert als »Erschaffung eines Raumes, wo der Streithandel sichtbar ist«. 18 | Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp Verlag 2016.

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TW, 189) und insbesondere mit ihrer Verdauung (vgl. ihr »multiples magenknurren«, TW, 218) beschäftigt. Doch die Tendenz westlicher Wohlstandsgesellschaften, die Zeichen der Krise auszublenden und die »angst vor einem draußen« (TW, 219) durch die »illusion von einer abschottung« (TW, 235) zu bannen, wird in beiden Stücken als Selbstlüge entlarvt. Die Katastrophen stehen unmittelbar vor der eigenen Haustür und bedrohen das fragile soziale Gleichgewicht: In den Mikrokosmos des Thermalbads etwa bricht mit Gewalt die Klimakatastrophe als von den Badbetreibern selbst mutwillig herbeigeführte Flut: »das wasser steht uns bis zum hals.« (TW, 222) Ebenso dringlich evoziert Leppers Totaltheater die aktuelle Flüchtlingskrise, welche die systemstabilisierende Verteilungslogik der staatlichen Wurstbrotagentur erschüttert: »man ist natürlich nicht darauf eingerichtet so viele Menschen zu verpflegen […] man will natürlich für alle da sein jeden verpflegen Ungleichheit abschaffen […] aber mit so vielen hat man nicht gerechnet.« (ET, 37) Doch der Aufstand der Ausgeschlossenen scheitert in beiden Stücken an mangelnder Solidarität. In pessimistischer Optik gehen die ›Mächtigen‹ in Gestalt des Investors der Wellnessindustrie (Schmalz) und einer undurchsichtigen Behörde (Lepper) als lachende Sieger hervor. Beide Instanzen lassen sich mit Crouchs – metonymisch zu verstehender – »rise of the firm« (»Aufstieg der globalen Unternehmen«)19 verbinden. Es sind diese (verdeckten) eigentlichen Machtzentren, die nach seiner Interpretation die Verbreitung der postdemokratischen Wende befördert haben. Dass diese Entmachtung der Bürger und jedes einzelnen Subjekts unter dem Deckmantel von Recht und Ordnung geschieht, akzentuiert Lepper, indem ihre Figuren beständig auf die Rechtmäßigkeit aller Vorgänge pochen: »im Geiste ist er Polizeistaat in Wirklichkeit eben nicht da hält er sich an Gesetze« (ET, 33); »natürlich hat alles seine Ordnung« (ET, 36); »ich handele nie gegen das Gesetz warum sollte man in einem Rechtsstaat gegen das Gesetz handeln« (ET, 62). Mit derartigen Hinweisen könnte Lepper auf Rancières Analyse der formellen Demokratie anspielen, die gerade durch eine Überregulierung im Bereich des Rechts ihre unzulängliche demokratische Legitimation zu verdecken versucht. Überbetonung von Recht und Ordnung sowie rechtliche Überregulierung sind mit Rancière als Krisensymptome zu deu19 | C. Crouch, Postdemokratie, S. 93. Vgl. auch: I. Blühdorn: Subversive Demokratie, S. 120.

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

ten.20 Sie betonen nach Rancière die ›polizeiliche‹ Seite der staatlichen Ordnung. Denn eine Instanz muss für die Durchsetzung der Regeln, Verteilung der staatlich reglementierten Zuwendungen und Sanktionierung von Übertretungen zuständig sein: die Polizei (von Rancière in einem weiten Sinne als distribuierendes Organ verstanden).21 Je mehr Regeln jedoch in polizeiliche Hände geraten, desto mehr tendiert der Staat zum (totalitären) Polizeistaat, der über die Zuteilung und den Entzug von Gütern und Zuwendungen entscheidet. So könnte Leppers modellhaftes – scheinbar dystopisches – Setting in Wahrheit auf den totalitären Zug der gegenwärtig realen Postdemokratie verweisen. Im Namen der vermeintlichen demokratischen Gleichheitsidee (einer ›klassenlosen‹ Gesellschaft) werden alle Lebensbereiche ›von oben‹ reglementiert. Die elementaren demokratischen Streiträume, in denen die agonalen Körper gemeinsam auftreten und Konflikte austragen können, werden hingegen systematisch zurückgedrängt.22 Der entzogene Raum und die verschwindenden Körper werden in beiden Stücken reflektiert. Die Chancen eines individuellen oder kollektiven politischen Widerstands gegen diese Tendenzen beurteilen sie jeweils skeptisch. Allerdings werfen sie die Frage nach alternativen Gegendiskursen auf, indem sie versuchen, die ›Gegenorte‹ der Kunst zu stärken und das Widerstandspotential literarischer Sprache auszuloten.

20 | Zur Rechtfertigungsstrategie der Postdemokratie als Identifikation von Demokratie und Rechtsstaat sowie zur systematischen ›Verrechtlichung‹ eigentlich politischer Sphären vgl. J. Rancière: »Demokratie und Postdemokratie«, insbes. S. 142ff. 21 | Zur fatalen Gleichsetzung von Polizei und Politik in der Postdemokratie vgl. J. Rancière: »Gibt es eine politische Philosophie?«. 22 | Vgl. J. Rancière: »Demokratie und Postdemokratie«, S. 151, der im Fazit seines Vortrags als Krisensymptom erneut die »Veränderung der Sichtbarkeit von Körpern in Räumen« (ebd.) diagnostiziert.

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2. G egendiskurse und S tr ategien des I ndirek ten : Z ur W iderstandspoe tik bei L epper und S chmal z In Leppers Entwurf für ein Totaltheater tritt Widerstand als »individueller Widerstand« (ET, 21) gegen ein alle im Namen vermeintlicher Gleichheit unterdrückendes totalitäres Regime auf. Jeder Versuch der individuellen Abweichung wird geahndet: »individueller Widerstand muss natürlich gebrochen werden und man muss sich selbst zu dem machen zu dem man gebrochen wird« (ET, 21), so resümiert das Küchenmädchen, wie die Normen des totalitären Staats von den Untertanen internalisiert werden sollen. Der Wunsch, sich als »Hauptdarstellerin am Theater« (ebd.) selbst zu verwirklichen, stellt demnach eine unkontrollierbare Gefahr für die Stabilität des Systems dar und muss also ebenfalls, wie das Stück drastisch vorführt, gebrochen werden. Doch so leicht geben sich die Unterdrückten nicht geschlagen: Kleine Nadelstiche gegen das System werden als spontane Akte zivilen Ungehorsams gesetzt, wie sie sich Bonnie und das Küchenmädchen in der Folge erlauben (wenn sie schon ihren Traum, ans Theater zu gehen, niemals erreichen können). Zunächst zündet sich Bonnie gegen das polizeiliche Rauchverbot eine Zigarette an (vgl. ET, 90). Das Küchenmädchen steckt Bonnie heimlich ein Wurstbrot zu, obwohl diese ja auf Befehl der Machthaber ›ausgehungert‹ werden soll (vgl. ET, 89). Dass diese Übertretungen der Ordnung keineswegs harmlos sind, zeigen die Konsequenzen: Das Küchenmädchen bezahlt ihre Handlung mit dem Leben. Die erschütterte Bonnie bäumt sich daraufhin ein letztes Mal auf, indem sie nun ganz demonstrativ die Regeln übertritt. Sie besucht (außerhalb des »Weekends«) eine, wohl nur für Kinder bestimmte Nachmittagsvorstellung im Kino, raucht noch eine, sogar eine mit Männlichkeit und Macht assoziierbare, »Zigarre«, um dann endgültig das – angeblich wohlmeinende – Angebot des Staates, sie unversehrt zu lassen, abzulehnen: »Bonnie sieht sich jetzt die 5-Uhr-Vorstellung Schneewittchen und die sieben Zwerge an raucht dann eine Zigarre und lehnt schließlich die Einladung sich heimfahren zu lassen endgültig ab.« (ET, 97) Auch sie muss ihre Übertretung, wie das offene Ende suggeriert, wohl schließlich mit dem Leben bezahlen. Seine Dramaturgie des Indirekten akzentuiert Leppers Entwurf für ein Totaltheater durch ein auffallendes formales Merkmal: Durch eine hohe Dichte intertextueller und intermedialer Verweise wird das Parabelstück zusätzlich verfremdet – das Indirekte schafft Distanz –, aber auch im Sin-

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

ne eines Kommentartheaters mit Bedeutungsangeboten versehen. Bei genauerem Blick erweist sich das gesamte Stück als Zitatmontage, ohne jegliche Satzzeichen ›durchlaufend‹ und lediglich von Sprecherwechseln unterbrochen. Angehängt ist eine Liste der zitierten Autoren (ET, 103), die jedoch trotz des Umfangs von 24 Namen nicht einmal vollständig ist, wie das ihr vorangestellte »u.a.« anzeigt. Die Heterogenität des Zitatmaterials wird spätestens in dieser nach keinem erkennbaren Prinzip gegliederten, in charakteristischen Majuskeln präsentierten Liste offensichtlich: Das Spektrum reicht vom amerikanischen Kinderbuchautor und -Illustrator »MAURICE SENDAK« bis zu einem modernen Dramatiker wie »HORVÁTH«. Dazwischen ›tummeln‹ sich Ikonen des Indie- und Punk-Rocks wie »THE SMITHS« und »IGGY POP«, Klassiker der (politischen) Philosophie von »HEGEL« und »IMMANUEL KANT« bis »THEODOR W. ADORNO/MAX HORKHEIMER« und »WALTER BENJAMIN«, Autoren der Weltliteratur von »SHAKESPEARE« über »GOETHE« bis »FRANZ KAFKA«, unvermittelt flankiert von großen Hollywood-Regisseuren wie »HITCHCOCK« und »ERNST LUBITSCH« (ebd.). Da hier nur Autorennamen und keine Titel genannt werden, gerät die Lektüre des Stücks zum verwirrenden Suchspiel. Ordnungsprinzipien oder Hierarchien dieses intertextuellen Diskurses bleiben im Dunkeln oder lassen sich nach wiederholter Sichtung des Texts allenfalls vermuten:23 Einen ersten Anhaltspunkt, der eine Ordnung erkennbar macht und Bezüge zwischen den Zitaten ermöglicht, liefern Frequenz und Position bestimmter Verweise.24 In exponierter Position verweist sogleich der Titel »Entwurf für ein Totaltheater« auf Walter Gropius’ Modell für die Piscator-Bühne. Das Titelzitat ließe sich so als Hommage an das politische Theater der historischen Avantgarden lesen und ruft die historisch gewordene Vision von der ›ganzheitlichen‹ Kraft der Kunst auf, ihren Optimismus, die Zukunft einer Gesellschaft aktiv mitgestalten und wesentlich prägen zu können.

23 | Leppers Schulung an Elfriede Jelinek, die ihren Stücken ähnliche Listen nachzustellen pflegt, ist erkennbar, doch vermisst man die interne Dialogisierung der intertextuellen ›Flächen‹, die Jelineks sprachkritisches Verfahren auszeichnet. 24 | Zur Markierung durch Frequenz und Position einer Textreferenz vgl. Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1996, insbes. S. 98, S. 104.

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Bedenkt man den Kontext eines totalitären Staates, in dem Lepper ihr dystopisches Stück ansiedelt, so fallen in der Liste der zitierten Autoren plötzlich die vielen Namen aus Nazideutschland emigrierter Autoren und Künstler auf. Neben Gropius und Piscator (beide in der Liste übrigens nicht genannt) sind dies: Bertolt Brecht, Peter Weiss, Thomas Mann, Ernst Lubitsch, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Ernst Weiß (vgl. ET, 103). Mit der Hommage könnte sich also eine eindringliche Warnung verbinden. Offenbar sprechen diese warnenden Stimmen der Exilanten – an Brechts Verfahren der Historisierung geschult – über die Zeiten hinweg zu unserer Gegenwart. Indem insbesondere Texte dieser Autoren aus der Zeit vor dem Exil zitiert werden, ist das Dritte Reich als kommende Gefahr mitzudenken und schwebt wie eine Drohung über der Szenerie. Die Stimmen der Exilanten werden übrigens flankiert von den Stimmen der Opfer. Bonnie und das Küchenmädchen etwa leihen sich vor allem die Sprache kindlicher Opferfiguren. Wiederholt wird Mignons Italien-Lied (Kennst du das Land) aus Goethes Lehrjahren zitiert (vgl. ET, 38 u. ö.), besonders prägnant am Ende des Stücks, als Bonnies Eintritt in das große weiße Haus, in dem sie wohl durch Folter ›gebrochen‹ werden soll, von einem chorischen »WAS HAT MAN DIR DU ARMES KIND GETAN« (ET, 101) begleitet wird. Strukturbildend wird das Handlungsmotiv bestrafter Kinder: Lepper zitiert insbesondere die Kinderbücher des Amerikaners Maurice Sendak, offenbar, damit er dem kindlichen Trotz der Protagonistin seine Stimme leiht. Außerdem wird durch den konstanten Verweis auf die Welt der Kinderbücher ein Kontext der Geborgenheit und Sicherheit evoziert – in dem die kindlichen Abenteuer ›gut ausgehen‹ –, der zugleich aufs Schärfste mit der totalitären Wirklichkeit des Stückes kontrastiert: Hier gehen die Dinge nämlich ganz und gar nicht gut aus. Wie Max aus Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker Wo die wilden Kerle wohnen25 muss die auf Nahrungsentzug gesetzte Bonnie »ohne essen ins Bett« (ET, 71). Auch Bonnies kindlich-naiver Anspruch »es muss im Leben mehr als alles geben« (ET, 5) stammt aus einem Bilderbuch Sendaks (Higgelti Piggelti Pop). Doch während Max von seinem trotzigen Ausflug zu den wilden Kerlen sicher – und ein wenig eingeschüchtert – nach Hause zurückkehrt, wo sein Essen auf ihn wartet (»und es ist noch 25 | Sendak, Maurice: Wo die wilden Kerle wohnen, Zürich: Diogenes 1967.

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warm«),26 drohen Bonnie zuhause und am Ziel ihrer Reise, dem »großen weißen Haus am Rande der Stadt«, jeweils nur die schlimmsten Züchtigungen, denn sie muss »gebrochen werden« (ET, 42). Gleich in der ersten Szenenüberschrift markiert Lepper durch einen intermedialen Verweis auf Alfred Hitchcocks Psycho (1960),27 dass die unschuldig-kindlichen Phantasiereisen hier von einem Horrortrip abgelöst werden (ET, 4). Das »große weiße Haus«, in dem ihre Reise enden wird, baut sich schon hier als Bedrohung auf: »es ist mit Abstand der schauerlichste Ort« (ebd.) Durch weitere intertextuelle Verweise wird deutlich, dass die reale Welt, in der Bonnie ihre kindlichen Sehnsüchte verwirklichen möchte, die Unschuld und Geborgenheit längst verloren hat: Die Bedrohung durch das Regime, den Polizeistaat, der jede individuelle Freiheit im Keim erstickt, wird durch Zitate totalitärer Diskurse von Mussolini (»ALLES FÜR DEN STAAT NICHTS GEGEN DEN STAAT NICHTS AUSSERHALB DES STAATES«, ET, 32) und ein verfremdetes Zitat der SED-Parteihymne (Lied der Partei, vgl. ET, 49) konkretisiert. Der resignative Befund des Stückes gewinnt also im intertextuellen Geflecht Kontur. Doch wird auch ein Gegendiskurs etabliert? Auffallend sind die wiederholten Verweise auf (gescheiterte) Künstler- beziehungsweise Dichterfiguren, wodurch das Stück eine mögliche poetologische Ebene erhält. Neben der tragisch sterbenden Mignon, die von den Romantikern als wahre Künstlerfigur verehrt und als Opfer des prosaischen Romanschlusses interpretiert wurde, spielt das Stück auch auf den – an Goethe ›scheiternden‹ – Jakob Michael Reinhold Lenz an, wie ihn Georg Büchner, der selbst in die Reihe der tragischen Künstler (und scheiternden Revolutionäre gerückt werden kann) in seiner Novelle gestaltet hat: Zitiert wird das sogenannte ›Kunstgespräch‹ aus Büchners Novelle, das die Frage nach dem angemessenen Realismus aufwirft: Lepper stellt es – verfremdet – in Bezug zu Bonnies Beobachtung des Polizeichors: »ich versuche es nämlich und senke mich in das Leben des Polizeichors und gebe es wieder in den Zuckungen den Andeutungen.« (ET, 76)28 26 | Ebd. 27 | Zitiert werden die einführenden Texteinblendungen des Films (mit sichtbarer Tilgung des – signalhaften – Schauplatzes): »PHOENIX ARIZONA FRIDAY DECEMBER THE ELEVENTH TWO FORT Y-THREE P.M.« (ET, 4) 28 | Vgl. Büchner, Georg: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Bd. 1: Dichtungen, hg. v. Henri Poschmann, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992,

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Auch wenn eine Hierarchisierung und Funktionsdeutung der nahtlos aneinandergereihten heterogenen Zitate unmöglich ist, lässt sich doch eine Parteinahme des Stücks für die kompromisslos radikalen, renitenten Künstlerfiguren und Autoren annehmen. Diese scheinen in einer Reihe zu stehen mit den – im Stück ebenfalls häufig zitierten – Ikonen des Punk- und Independent-Rocks: Die Zitatliste verzeichnet hier The Smiths, ihren ehemaligen Leadsänger Morrissey, Iggy Pop und Patti Smith (vgl. ET, 103). Bonnie, die als eines der »unruly girls« (ET, 6) aus The Smiths’ Barbarism begins at Home (1985) auftritt, formuliert später ihr Ungenügen an der vom staatlichen »Amüsierbetrieb« (ET, 59) als Sedativum bereitgestellten Mainstreammusik, indem sie den Song Panic (1988) von The Smiths zitiert: »the music they constantly play it says nothing to me about my life« (ET, 58). Ihr kindlicher Furor des »es muss im Leben mehr als alles geben« (ET, 5) lässt sich nicht austreiben, er steigert sich mithilfe von Iggy Pops I need more (1980) zwischenzeitlich zur rohen Wut: BONNIE: »[…] I need something that will be found/more venoms more dynamite more disaster/I need more than I ever did before« (ET, 11). Die subversive Kraft dieser Wut wird spätestens deutlich, als die Widerstandshymne der deutschen Punkband Ton Steine Scherben Macht kaputt, was euch kaputt macht (1971) zitiert wird, allerdings – offenbar wie ein verdeckter InsiderCode – nicht mit dem titelgebenden Appell, sondern der Anfangssequenz: »Radios laufen Platten laufen Filme laufen« (ET, 81). An zwei Stellen werden zudem relativ ausführlich der erste und zweite Teil eines Solostücks von Morrissey zitiert (vgl. ET, 41 u. 81), das als interner Kommentar die Diagnose – und den trotzigen Gestus – des Stücks auf den Punkt zu bringen scheint: Life is a pigsty (2006). Die Tragik der Protagonistin erreicht in der 19. Szene einen ersten Höhepunkt, als sie in Solidarität mit dem Küchenmädchen und allen Opferfiguren ein verzweifeltes – vergebliches – Morrisseys Song zitierendes »SOS« funkt: IT’S THE SAME OLD SOS BUT WITH BRAND NEW BROKEN FORTUNES I’M THE SAME UNDERNEATH ABER ES KOMMT NIEMAND DER SICH ERBARMT WER SOLLTE AUCH KOMMEN WIR SIND ALLE WAISEN ICH UND IHR UND DER PLAT TENTELLER DREHT S. 234: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen freien, kaum bemerkten Mienenspiel […].«

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

SICH IMMERFOPRT UND DIE ERDE DREHT SICH AUCH IMMERFORT […] CAN YOU STOP THIS PAIN CAN YOU STOP THIS PAIN (ET, 41)

In seiner schonungslos-resignativen Analyse der dystopischen Diktatur (hinter der sich auch bereits unsere postdemokratische Gegenwart verbergen könnte) zeigt sich das Stück skeptisch gegenüber den Möglichkeiten eines individuellen Widerstands. Auch wenn explizit kein künstlerisches Widerstandsprogramm formuliert oder in einem deutlich markierten Gegendiskurs erprobt wird, erscheint das Stück in seiner Sprachmacht und in seiner kindlichen Lust am intertextuellen Versteckspiel als ein trotziges, rebellisches ›Lebenszeichen‹ – und sei es auch nur ein wütend gegen das Resignieren gesendetes SOS, das im Untergehen noch einmal die Lebensenergie einer unabhängigen literarischen Sprache offenbart. In Ferdinand Schmalz’ Der thermale Widerstand findet sich das Widerstandsmotiv schon im Titel, der paronomastisch kalauernd eine Schweizer Widerstandsbroschüre aus der Zeit des Kalten Kriegs alludiert – Hans von Dachs: Der totale Widerstand (1958) –,29 welche die Schweizer auf eine mögliche Besetzung ihres Landes durch die Sowjetunion vorbereiten sollte, und ironisch auf die aktuelle ›Wellness-‹ und ›Bäder-Kultur‹ überträgt. Als Anführer eines Aufstands der Kurgäste bestimmt Schmalz einen revolutionären Bademeister: Initiiert durch eine einschlägige Bibliothek des subversiven Denkens (»sassen, sennet, sharp, žižek«, TW, 181) versucht er – vergeblich –, die anderen Kurgäste zum Widerstand gegen die Privatisierung des Bades zu mobilisieren. Höhepunkt seines Kampfes bilden zwei Revolutionsreden, in denen er seine radikaldemokratischen Visionen formuliert: Bademeister Hannes sieht das subversive Potential des Thermalbads als »ort der möglichkeit einer verweigerung, eines körperlichen ungehorsams« (TW, 210), gerichtet gegen den neoliberalen (Selbst-)Optimierungswahn, der längst auch die Körper erfasst hat. Hannes hebt in einem ersten Schritt eigenmächtig die Badeordnung auf (vgl. ebd.). Doch weil sich niemand seinem offenen Widerstand anschließen

29 | Die Quelle wird in den paratextuellen Mottos des Stückes genannt (vgl. TW, 173). Der Text der Broschüre kann im Internet abgerufen werden unter: https:// archive.org /stream/Der_Totale_Widerstand_Major_H._von_Dach_German/ Der_Totale_Widerstand_Major_H._von_Dach_German_djvu.txt (zuletzt aufgerufen am: 30.04.2018).

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will, beschließt er, seinen Kampf im Untergrund weiter zu führen, also »unter[zu]tauchen« (TW, 203). Schon das mehrdeutige Wortspiel vom ›untertauchenden Bademeister‹ offenbart den ironischen Ton, der im gesamten Stück durch intertextuelle, sprachspielerisch ausgestaltete Rede aufrechterhalten wird. Mit der Parabelstruktur und der ironisierten Figurenrede verfolgt Schmalz’ Text eine konsequente Dramaturgie des Indirekten, deren Gestalt und Funktion es im Folgenden genauer zu bestimmen gilt. Wie Lepper setzt auch Schmalz in seinem Stück Intertextualität (Hans von Dach, Saskia Sassen, Walter Benjamin), vor allem aber kalauernde Sprachspiele als distanzierende, indirekte Verfahren ein: Durch die teils absurde Sprachkomik, die zumeist über klanglich evozierte Mehrdeutigkeiten funktioniert, wird die Rede der Figuren ironisch gebrochen. Dadurch scheint die Figurenrede von einer übergeordneten Vermittlungsinstanz intern kommentiert: Dieses Verfahren zeigt sich insbesondere an dem Wortfeld, das Schmalz ausgehend vom Modellschauplatz des Thermalbads über das ganze Stück hinweg entfaltet: Es beginnt mit dem titelgebenden »thermalen Widerstand«, der den ›realen‹ Aufstand im Thermalbad mit dem physikalischen Phänomen des »thermischen Widerstands« klanglich verbindet. Außerdem klingt – in etwas freierer paronomastischer Bindung – Hans von Dachs Der totale Widerstand mit. Der aktuelle Widerstand des Bademeisters Hannes wird so einerseits historisiert – und erscheint durch den Bezug auf von Dach womöglich gar als historisch überholt –, andererseits wird er durch den physikalischen Bezug auf eine gänzlich unpolitische Weise konkretisiert, die in ironischer Brechung seine Glaubwürdigkeit zu hinterfragen und ihn sogar lächerlich zu machen scheint. Als mokante Kommentare von Hannes’ Widerstandsbemühungen sind weitere Kalauer in seine Rede eingebaut, etwa, wenn er mit seiner radikaldemokratischen Forderung »die bäder denen, die baden gehen« (TW, 199) zugleich das Scheitern (»baden gehen«) unfreiwillig mit ausspricht. Auch sein Vorwurf der »verwässerung« (TW, 199), den er an den kommerziellen »wellnessmarkt« (TW, 199) richtet, ist doppeldeutig, da man zur übertragenen Bedeutung von Verwässern im Kontext des Thermalbads sogleich die wörtliche mitdenkt – und über den engagierten Bademeister schmunzeln muss. Die komische Wirkung der Doppeldeutigkeiten erreicht ihren Höhepunkt, als der mit einem »badeverbot« (TW, 199) belegte Bademeister die unwilligen Kurgäste zum Untergrundkampf aufruft: »Wir werden untertauchen.« (TW, 203) Ironisch reflektiert auch die

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

Überschrift seiner flammenden Revolutionsrede »ans kuriöse publikum« (TW, 209) die Schieflage zwischen dem Anspruch (auf neugierige, offene Ohren für die politische Botschaft) und der ernüchternden Wirklichkeit: Die Fügung »kuriös« lässt dabei die seltsame Trägheit der »Kur«-Gäste ebenso anklingen wie eine zahnmedizinische Diagnose (»kariös«), die auf ein tiefsitzendes, zersetzendes Übel hindeutet. Als die Kurgäste sich schließlich selbst eine fatale Diagnose stellen müssen – »sind überbadet« (TW, 231) – entlädt sich der Frust in einer unbändigen »wut« (TW, 232), die sich schließlich gegen den vermeintlichen Störenfried Hannes richtet, der vom wütenden Mob mit einem »badetuch« (TW, 235) erdrosselt wird. Auch in umgekehrter Richtung (vom konkreten zum übertragenen Sinn) funktionieren die Kalauer: Die Feststellung eines Masseurs, der Körper seiner Patientin leide unter einer »falsche[n] haltung« (TW, 204), verweist zugleich augenzwinkernd auf politische Zusammenhänge. Auf die bange Frage »was fehlt mir dann?« folgt die Diagnose: »es fehlt an rückgrat« (ebd.), die zugleich das zentrale Übel des amoralischen Opportunismus benennt, dem sich die im Auftrag des Investors tätige »beraterin« (TW, 174) Marie schuldig macht, deren »blockade« (TW, 204) er gerade durch Massage zu lindern versucht. Seine Warnung vor der Zivilisationskrankheit, der »allgemeine[n] schonhaltung« (ebd.), steht zugleich sinnbildlich für ein ›krankes System‹, das nur die Folgeschäden behandelt, das Übel aber nicht an der Wurzel bekämpft: »wir dämmen ein, machen wieder fit, funktionstüchtig […] doch eine brandbekämpfung gibt es nicht.« (TW, 206) Die Beispiele zeigen ein durchgängiges Gestaltungsprinzip von Schmalz’ literarischer Sprache. Ironische Distanz wird sowohl zur Modellsituation als auch zu ihrer (politischen) Bedeutung hergestellt und ›überwölbt‹ als kommentierende Komik das gesamte Stück. So ist es schwierig, einen Gegendiskurs zur fatalen oder fatalistischen (?) postdemokratischen Diagnose zu identifizieren. Doch auch hier fällt, wie schon bei Lepper, das selbstreflexive Moment auf: Das Stück durchzieht ein (›unterschwelliger‹) Diskurs über Kunst, Theater und Literatur, der hier ebenfalls auf eine mögliche Poetik widerständigen Schreibens deuten könnte. Allerdings ist dieser von ironischen Winken durchzogen. So könnte Schmalz etwa auf Foucaults Konzept der Heterotopien, auf die

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möglichen Freiräume der Kunst, anspielen:30 Der Modellschauplatz des Thermalbades reflektiert in diesem Sinne nicht nur die fatale Wohlfühlblase unserer postdemokratischen Wirklichkeit und die neoliberale Logik der ›Wellnessindustrie‹, sondern wird auch als mögliche »nische« (TW, 187) reflektiert, in der sich ein Gegenbild zum körperlichen Optimierungswahn etablieren und das »kurwesen als eine kunst wiederentdecken« (ebd.) ließe. In seiner Revolutionsrede »an das kuriöse publikum« führt Hannes die Heterotopien des Thermalbads und des Theaters explizit zusammen: wenn, sagen wir, das theater ein raum der wiederaneignung ist. der wiederaneignung eines denkens oder besser einer sprache ist. einer sprache, die uns abhanden gekommen ist. die sich von der reklame hat abwerben lassen. eine sprache, die in verschiedenste produktionsgefüge verstrickt ist, anstatt ihre eigene welt zu stricken. dann ist das kurbad der ort einer wiederaneignung des körpers. (TW, 209)

Als Heterotopie im foucaultschen Sinne wird dieser Ort als »baulich abgetrennte[r], abgesonderte[r]« und »geschützte[r] raum« (TW, 210) ausgewiesen, der doch innerhalb der Gesellschaft angesiedelt ist und dort eine »offne vielheit« und »versammlung zu einer gemeinschaft« (ebd.) ermöglicht. Man ist geneigt, in dieser selbstreflexiven Passage, in dieser emphatischen Wiederaneignung der Sprache, des Denkens und der Körper in den Freiräumen von Literatur, Theater (und Thermalbad) den poetologischen Kern dieses ›Widerstandsstücks‹ zu sehen. Doch auch hier bleibt die Skepsis – als allgegenwärtige ironische Distanz. Sie könnte bei Schmalz dazu dienen, das selbstironisch-fatalistische, aber nicht resignierende, sondern auf seine Weise ebenfalls trotzige Selbstporträt des Künstlers (als verrückter Bademeister) zu akzentuieren. Er hat zwar immer ein im vielfachen Sinne »kuriöses Publikum« vor sich, dichtet aber unverzagt weiter: ein dichtendes Schlitzohr, ein später Nachkomme des Hanswursts und des absurden Menschen, wie ihn Albert Camus und Samuel Beckett porträtiert haben.

30 | Vgl. Foucault, Michel: »Andere Räume« [1967], in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1992, S. 34-46.

Parabelstücke aus der ›Postdemokratie‹

Und in der Tat gelingt der poetisch wiederangeeigneten Sprache für Momente eine die distanzierende Ironie durchstoßende bissige – ideologiekritische – Entlarvung sprachlicher Entstellungen. Im Kontext des ironisch aufgeladenen Sprechens, das Schmalz durchgehend inszeniert, offenbart etwa die folgende Auflistung des Wellnessprogramms ihr wahres Gesicht: Die durchschnittliche Wellness-Kundin hat, wie wir erfahren, nämlich schon alles durch: »fichtennadelbad«, »lebensbaummassage«, »wiesentraum«, »stutenmilchthalasso«, »java lulu ritual«, »stirnölguss«, »holunderrolfing«, »alpenpackung swiss deluxe«, »algenpackung« und »lomi lomi«. Da bleibt als letzter Schrei nur das »meerjungfrauenfoto […] mit neoprenflosse« (TW, 211f.). Dieser modische Wellnessjargon entlarvt sich selbst – ganz ohne kalauernden doppelten Boden – als das, was er ist und was sich am besten als ›Realsatire‹ bezeichnen lässt. Doch erst im Kontext einer sprachspielerischen Poetik wird diese Qualität entlarvt. Zugleich lässt sich aus der Perspektive einer poetischen Wiederaneignung auch eine ganz andere Qualität dieses Jargons erkennen: Er ist selbst dadaistische oder konkrete Lautpoesie im besten Sinne, was Schmalz’ konsequente Kleinschreibung (zusammen mit ihrem Materialcharakter) hervorhebt. Die subversive Kraft einer befreiten poetischen Sprache – als Gegensprache – zeigt sich auch am Schluss des Stücks: Es endet, wie es begann, mit »schwelende[m] badegeschlapfe« (TW, 237), das nun auch als Lautpoesie erscheinen kann: Die akzentuierte Dissonanz kann auf den – indirekten – Appellcharakter dieses widerständigen Textes verweisen, denn das Geräusch wird fortgesetzt, bis es »unerträglich wird« (ebd.). Die Analyse von Inhalt und Form beider Stücke hat gezeigt: Im Muster des Parabeltheaters formulieren Lepper und Schmalz jeweils eine scharfe Diagnose der postdemokratischen politischen Gegenwart. Während sie die Möglichkeiten eines politischen Widerstands kritisch hinterfragen, demonstrieren sie zugleich in ihrer sprachlichen Form einen poetischen Gegendiskurs und eröffnen damit einen Freiraum für die Widerständigkeit des literarischen Textes – als trotzig-wütendes SOS (Lepper) und als befreiender Nonsens (Schmalz).

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GegenWorte und GegenSpiele Formen des Widerstands gegen Gewalt in Theaterstücken der spanischen Dramatikerin Juana Escabias Cerstin Bauer-Funke

1. D efinitionen und M e thode In den folgenden Überlegungen soll es anhand ausgewählter Theaterstücke der spanischen Dramatikerin, Regisseurin und Theaterdozentin Juana Escabias (*1963)1 darum gehen, spezifische »GegenWorte« und »GegenSpiele« als Formen des Widerstands zu betrachten und zu analysieren und anschließend im Kontext des spanischen Gegenwartstheaters zu situieren. Der Schwerpunkt meiner Analysen wird dabei auf dem Nexus von Widerstand und gegen Frauen gerichteter, meist häuslicher Gewalt liegen, welcher sich in den dramatischen Konflikten offenbart. Juana Escabias beteiligt sich wie viele andere spanische Autorinnen und Autoren auch an der öffentlichen Debatte über die geschlechtsspezifische Gewalt, die eindeutig durch die United Nations und die WHO definiert ist.2 Diese im Spanischen als »violencia de género« bezeichnete Gewalt 1 | Zur Biographie und zum Werk der Autorin vgl. Milagro, Martín Clavijo: »Entrevista a Juana Escabias, dramaturga y directora de escena«, in: Raudem – Revista de Estudios de las Mujeres 2 (2014), S. 305-322. 2 | Vgl. die Definition der »violence against women« der United Nations Foundation: »any act of gender-based violence that results in, or is likely to result in, physical, sexual or psychological harm or suffering to women, including threats of such acts, coercion or arbitrary deprivation of liberty, whether occurring in public or in private life« (General Assembly Resolution 48/104 Declaration on the Elimination of Violence against Women, Artikel 1,1993: www.un.org/documents/ga/ res/48/a48r104.htm vom 20.12.1993 (zuletzt aufgerufen am: 09.01.2018]) und

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gegen Frauen im häuslichen und familiären Bereich ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem, das in Spanien seit Jahrzehnten diskutiert wird und das durch beinahe tägliche Berichte über neue Taten in der Presse und im Fernsehen präsent bleibt. Nach aktuellen Angaben sind im Jahre 2017 bis Ende Oktober bereits 42 Frauen in Spanien Todesopfer der gegen sie gerichteten Aggressionen geworden – eine Zahl, die mit ca. 60 bis 70 Fällen pro Jahr eine traurige Stabilität entwickelt hat.3 Die Kritik an patriarchalischen gesellschaftlichen Strukturen, die einer solchen Gewalt zugrunde liegen, und die Brandmarkung der Täter erfolgt auch im spanischen Gegenwartstheater4 und wird dort intensiv diskutiert, so auch im dramatischen Werk von Juana Escabias. Die Dramatikerinnen und Dramatiker versuchen, mit ihren Werken verschiedene Arten widerder WHO: www.who.int/mediacentre/factsheets/fs239/en/ (zuletzt aufgerufen am: 09.01.1018). 3 | Vgl. o.V.: »Un hombre asesina a su mujer en Almería y se suicida«, in: El País vom 23.10.2017, S. 24. Vgl. für die Zahlen seit 2006 Ministerio de Sanidad, Servicios Sociales e Igualdad: Fichas de víctimas mortales: www.violenciagenero.msssi.gob.es/violenciaEnCifras/victimasMor tales/ficha​ Mujeres/pdf/VMortales_2016_12_31_V1.pdf vom 28.02.2017 (zuletzt aufgerufen am: 15.01.2018). In Frankreich sieht es nicht anders aus, wie die Zeitschrift Libération in ihrem Hauptbeitrag titelt. Vgl. den Beitrag: Schwartzbrod, Alexandra: »Violences conjugales. Enquête sur un meurtre de masse«, in: Libération vom 30.06.2017, S. 2-7. 4 | Vgl. Fernández Morales, Marta: Los malos tratos a escena. El teatro como herramienta en la lucha contra la violencia de género, Oviedo: KRK 2002; Guinart, Belén: »Viaje al infierno de los malos tratos«, in: El País vom 19.08.2002 [o.P.]; Barrios Baudor, Guillermo/Rivas Vallejo, María Pilar (Hg.): Violencia de género: perspectiva multidisciplinar y práctica forense, Pamplona: Aranzadi 2007; Cenizo Rodríguez, Manuel/Del Moral Arroyo, Gonzalo/Varo Baena, Rosauro: »El teatro como medio de sensibilización contra la violencia de género en la adolescencia (Estudio exploratorio sobre el uso de la obra de teatro Ante el espejo como herramienta de prevención y sensibilización)«, in: Stichomythia 11-12 (2011), S. 255267. Inzwischen ist zum dramatischen Werk Juan Mayorgas (u.a. Preisträger des Premio Nacional de Literatura Dramática des Jahres 2013) bereits eine Monographie zum Thema Gewalt erschienen, vgl. Burel, Erwan/Egger, Carole (Hg.): Juan Mayorga: théâtre et violence, Themenheft der Zeitschrift reCHERches. Culture et Histoire dans l’Espace Roman 19 (2017).

GegenWor te und GegenSpiele

ständigen Handelns zu zeigen, um eine kritische gesellschaftliche und auch politische Auseinandersetzung in Gang zu bringen.5 Davon zeugen auf eindringliche Weise die »50 voces contra el maltrato« von 50 spanischen Autorinnen und Autoren, die in der Theaterzeitschrift Estreno in deren Herbstausgabe 2017 in kurzen literarischen Stücken ihre Stimme gegen geschlechtsspezifische Gewalt erheben, flankiert von der Überblicksstudie »Teatro y sociedad: un balance sobre la violencia de género en la escena española actual« von Francisca Vilches-de Frutos.6 Man kann dies bereits als eine Form des Widerstands betrachten, sehen die Schriftsteller doch die Notwendigkeit und Legitimität der Herbeiführung eines Bewusstseinswandels innerhalb bestimmter noch herrschender gesellschaftlicher Strukturen sowie die Notwendigkeit und Legitimität ihrer Forderungen nach Maßnahmen, welche zum Schutz der Frauen durch Politik, Gerichtsbarkeit und Gesellschaft ergriffen werden müssen. In ihrer Studie über den Kampf gegen häusliche Gewalt im spanischen Gegenwartstheater behandelt Raquel García-Pascual ausgewählte, zwischen dem Beginn der Franco-Diktatur und 2013 entstandene Stücke, welche sich der Anprangerung dieses Problems widmen.7 Die Stücke von Escabias – wie auch diejenigen anderer wichtiger Gegenwartsdramatikerinnen – werden in dieser überblicksartigen und daher stark selektierenden Studie nicht berücksichtigt; Jedoch liegen bereits einige wenige Arbeiten zu Escabias’ Theater vor, die sich mit der Gewalt im Werk dieser 5 | Floeck, Wilfried: »¿Entre posmodernidad y compromiso social? El teatro español a finales del siglo XX«, in: Ders., Estudios críticos sobre el teatro español, mexicano y portugués contemporáneo, Hildesheim: Olms 2008, S. 41-60, sowie Ders.: »El teatro actual en España y Portugal«, in: Ders., Estudios críticos sobre el teatro español, mexicano y portugués contemporáneo (2008), S. 161-186. 6 | »50 voces contra el maltrato«, in: Estreno 48.2 (2007), S. 17-135 sowie Vilches-de Frutos, Francisca: »Teatro y sociedad: un balance sobre la violencia de género en la escena española actual«, in: Estreno 48.2 (2007), S. 3-16. 7 | García-Pascual, Raquel: »La lucha contra la violencia de género en el teatro español contemporáneo: Un acercamiento«, in: Anales de la Literatura Española Contemporánea 40.2 (2015), S. 125-150, S. 623-648. García-Pascual begründet ihre Auswahl mit dem Bekanntheitsgrad, der erfolgten Aufführung, dem repräsentativen Charakter und der thematischen Ausrichtung der Stücke. Trotz dieser Erläuterung ist nicht nachvollziehbar, warum einige Stücke behandelt werden, andere jedoch nicht, obschon auch sie die genannten Kriterien erfüllen.

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Autorin befassen.8 Auch Escabias selbst betont, dass Gewalt gegen Frauen und in den Beziehungen zwischen Mann und Frau in ihren Dramen das vorherrschende Thema ist.9 Die folgenden Überlegungen setzen allerdings einen neuen Akzent, indem sie Formen und Funktionen des Widerstands gegen die Frauen angetane Gewalt im dramatischen Werk von Juana Escabias analysieren werden. Es geht daher im Folgenden darum, zu zeigen, inwiefern die Dramatikerin geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt und weitere Ausprägungen von Aggressionen in ihren Werken ästhetisch und diskursiv funktionalisiert, um das weibliche Auf begehren gegen individuelle gewaltvolle Verhaltensweisen von Männern sowie gegen sexistisch und machistisch geprägte Gesellschaftsstrukturen als verschiedene Formen des Widerstands zu präsentieren. Dabei geht es Escabias keinesfalls um ein oppositionelles Handeln gegenüber staatlichen und demokratischen Ordnungen an sich, sondern darum, den weiblichen Betrachtungsstandpunkt gegenüber sexistisch und patriarchalisch geprägten Gesellschaftsstrukturen darzulegen und dadurch einen neuen Bewertungsstandpunkt zu implementieren. Escabias will demnach zeigen, wie die sich dem Diskurs des Machismo widersetzenden und der männlichen Gewalt Widerstand leistenden Frauen ihren Standpunkt als den moralisch und 8 | Vgl. in chronologischer Anordnung Serrano, Virtudes: »Juana Escabias: pasión, esfuerzo, compromiso«, in: Estreno 39.2 (2013), S. 9-26; Berardini, Susan: »Ni una menos: perspectivas sobre la violencia de género en el teatro reciente de Juana Escabias y Diana de Paco«, in: Cuadernos de Dramaturgia Contemporánea 20 (2015), S. 99-106; Pérez-Rasilla, Eduardo: »Prólogo«, in: Juana Escabias, Cuatro obras políticamente yncorrectas, Madrid: Esperpento Ediciones Teatrales 2015, S. 9-15; Bauer-Funke, Cerstin: »Formas y funciones de la violencia en dos micro-dramas de Juana Escabias«, in: Rossana Fialdini Zambrano (Hg.): Juana Escabias: estudios sobre su teatro, Sevilla: Editorial Benilde 2018 (im Druck). 9 | Siehe Juana Escabias im Interview mit M. Martín Clavijo: »Entrevista a Juana Escabias, dramaturga y directora de escena«. Vgl. Auch E. Pérez-Rasilla: »Prólogo«, passim, über den stark sozialkritischen Impetus der Dramen von Juana Escabias; vgl. ebenso García Rodríguez, Coral: »Fra denuncia e riflessione: il teatro breve di Juana Escabias«, in: Le reti di Dedalus. Rivista online del Sindicato Nazionale Scrittori 8 (2013), S. 1-8; Bueno, Lourdes: »La dramaturgia de Juana Escabias o el compromiso con el ser humano«, in: Pygmalion. Revista de teatro general y comparado 7 (2015), S. 129-141.

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rechtlich relevanten bestimmen und damit die Definitionsmacht für sich reklamieren. Insofern schreibt sich der in Escabias’ Dramen manifestierende Widerstand als eine Form des Auf begehrens gegen gesellschaftliche und auch politische Strukturen in einen Prozess ein, der in Spanien erst in den letzten 10 Jahren durch entsprechende Gesetze begleitet und unterstützt wurde.10 Obschon Gewalt als Handlungsmotiv seit der Antike aufs engste mit dem Drama verbunden ist, überrascht doch, welche breite Darstellung dieses Thema im spanischen Gegenwartstheater erfährt. Zum einen ist auch im spanischen Drama wie generell im westlichen Gegenwartstheater seit den 1980er/1990er Jahren die Tendenz nachweisbar, dass Gewalt omnipräsent ist und immer radikalere Formen annimmt, wie es etwa in den Stücken Bernard-Marie Koltès’, Elfriede Jelineks, Sarah Kanes oder Neil LaButes der Fall ist.11 Zum anderen ist der Einfluss der Gewaltdarstellungen in globalen Massenmedien ein weiterer Faktor, der sich in der Kunst bemerkbar macht, indem die visuelle Präsentation realer Gewalt immer schonungsloser wird und so die Frage aufgeworfen wird, wie weit Kunst in ihrer Darstellung von Gewalt gehen sollte oder darf. Im Rückblick lässt sich für das spanische Theater in dieser Hinsicht nämlich eine interessante Entwicklung hinsichtlich von Gewaltdarstellungen seit dem Ende der Diktatur feststellen. Nach der Abschaffung der Theaterzensur im postfranquistischen Spanien sind vielfältige Formen von Gewalt überhaupt erst darstellbar geworden – vorher hatte die Zensur jede Form von Gewaltdarstellungen verboten –,12 die seitdem in Verbindung mit folgenden Themen verhandelt werden: 1) Gewalt als Folge der Auseinandersetzungen im Spanischen Bürgerkrieg und danach während der Diktatur im Zuge der Aufarbeitung der Vergangenheit; 2) Gewalt als 10 | So die Ley Orgánica 3/2007 vom 22. März: »Igualdad Efectiva de Mujeres y Hombres« und vor allem die Ley Orgánica 1/2004 vom 28. Dezember: »Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género«. 11 | Vgl. statt vieler Redmond, James (Hg.): Violence in Drama, Cambridge: Cambridge University Press 1991; Bloch, Natalie: Legitimierte Gewalt. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Neil LaBute, Bielefeld: transcript Verlag 2011. 12 | Vgl. Bauer-Funke, Cerstin: Die »Generación Realista« – Studien zur Poetik des Oppositionstheaters während der Franco-Diktatur (= Analecta Romanica, Band 74), Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2007.

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Folge der kriegerischen Eroberung der Neuen Welt; 3) Formen von Gewalt im Zusammenhang mit Drogendelikten und Großstadtkriminalität usw.; 4) Machismus, Sexismus und die bereits erwähnte »violencia de género«, die im Wesentlichen in Werken von Dramatikerinnen thematisiert wird; 5) Gewalt, die von Rassismus, Xenophobie und Neonazismus im Kontext von Massenimmigration entsteht; 6) Zerstörung und Gewalt nach terroristischen Anschlägen, und zwar insbesondere nach der Anschlagserie in Madrid vom 11. März 2004 – in Spanien 11 M genannt –;13 und 7) allgemeine Gewaltdarstellungen wie Krieg, politischer Machmissbrauch, Folter usw. Diese verschiedenen Formen von Gewalt sind erstmals 2011 von Eva Stehlik in ihrer Studie Thematisierung und Ästhetisierung von Gewalt im spanischen Gegenwartstheater untersucht worden,14 wobei Stehlik jedoch keinen Nexus zwischen Gewalt und Widerstand herstellt. Im Folgenden wird es bei der Analyse ausgewählter Dramen von Juana Escabias um die komplexe Relation von Gewalt und Widerstand gehen, wie sie in den dramatischen Konflikten gestaltet wird. Widerstand wird im Folgenden als ein Begriff verstanden, der ein individuelles Aufbegehren des Opfers sexueller und häuslicher Gewalt gegen den Täter beschreibt und damit die Relationen zwischen Opfer und Täter, zwischen der unterlegenen Frau und dem machthabenden Mann kritisch beleuchtet. Der Raum dieser Relation von Gewalt und Widerstand ist demnach kein öffentlicher, sondern ein privater, in dem die Protagonistinnen Strategien des widerständigen Handelns entwickeln, um sich letztlich von der Beherrschung durch den Mann zu befreien und vor dessen Gewaltausübung zu schützen. Frauen, die also zunächst der herrschenden Ordnung zugestimmt haben, entwickeln einen erst inneren, dann später sich auch nach außen hin manifestierenden Widerstand. In Escabias’ Stücken greifen zudem drei unterschiedliche Ebenen des Widerstands ineinander. Zum ersten sehe ich, wie vorstehend erläutert, 13 | Auch dieses Ereignis, das weiterhin als großes Trauma gilt, wurde im spanischen Gegenwartstheater breit behandelt, vgl. z.B. Serrano, Virtudes: »Voces contra el terrorismo en el teatro español del siglo XXI: ›¡Quién ha sido!‹, de José Monleón y ›Once voces contra la barbarie del 11-M‹«, in: Cerstin Bauer-Funke (Hg.): Crisis y creatividad en el teatro español y latinoamericano del siglo XIX al siglo XXI, Hildesheim: Olms (im Druck). 14 | Stehlik, Eva: Thematisierung und Ästhetisierung von Gewalt im spanischen Gegenwartstheater, Hildesheim: Olms 2011.

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bereits die schonungslose und gewaltvolle Darstellung häuslicher Gewalt in den Stücken und auf der Bühne als eine Form des Widerstands der Dramatikerin gegen die skizzierten kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen und die daraus entstehende »violencia de género« in ihrer Heimat Spanien. Ihr persönliches Engagement als Intellektuelle belegt, dass nicht nur ihre Werke künstlerischer Ausdruck ihres Widerstands sind, sondern dass sie ihre Bekanntheit als Schriftstellerin nutzt, um ihre Stimme als Frau und als Bürgerin zu erheben.15 Zum zweiten behandelt und inszeniert sie diesen Widerstand auch in den Theaterstücken selbst, indem ihre weiblichen Figuren sich zur Wehr setzen und Widerstand leisten. Die Kunst wird so zum Ort der GegenWorte und GegenSpiele und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass der Widerstand die Dringlichkeit der Suche nach neuen Lösungen deutlich macht und dass er den Verantwortlichen und einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar wird, um schließlich im Idealfall eine Änderung der entsprechenden Gesetze und der sozialen Praktiken herbeizuführen. Und zum dritten geht von den Stücken und ihren spezifisch-dramatischen Verfahren der Gewaltdarstellung durch die Figuren ein Impuls aus, der in der Leserschaft und im Publikum sowohl Empathie als auch Verständnis für die Opfer erwirkt und der so letztlich auch die Rezipienten zum Widerstand gegen die Missstände in der außerliterarischen Wirklichkeit aufrufen soll. Dabei spielt der Zusammenhang von Gewalt und Ästhetik eine zentrale Rolle, wie es Karl-Heinz Bohrer treffend formuliert, indem nämlich »Literatur und Kunst […] die Gewalt in Gesellschaft und Leben dar[stellen], mit dem Ziel einer philosophischen bzw. ethisch-philosophischen Bewältigung«.16 Literarische Werke sind daher ästhetische geformte »Gewaltphantasien«,17 die folgerichtig von Jürgen Wertheimer als »Laboratorien der Gewalt-Ima-

15 | Vgl. die Aussagen von Escabias in M. Martín Clavijo: »Entrevista a Juana Escabias, dramaturga y directora de escena«. 16 | Bohrer, Karl-Heinz: »Warum ist Gewalt ein ästhetisches Ausdrucksmittel?«, in: Christoph auf der Horst (Hg.): Ästhetik und Gewalt: Physische Gewalt zwischen künstlerischer Darstellung und kritischer Reflexion, Göttingen: V&R unipress 2013, S. 21-39, hier S. 21. 17 | Wertheimer, Jürgen: »Ästhetik der Gewalt? Literarische Darstellung und emotionale Effekte«, in: Julia Dietrich/Uta Müller-Koch (Hg.): Ethik und Ästhetik der Gewalt, Paderborn: Mentis 2006, S. 9-25, hier S. 15.

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gination«18 definiert werden und gerade auf der Theaterbühne ein enorm hohes Wirkungspotenzial entfalten.19 Wie hier später anhand der Werkanalysen zu zeigen ist, geht es in Juana Escabias’ Theaterstücken demnach immer um Formen des aktiven Widerstands, den einige der weiblichen Figuren leisten, indem sie sich auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit ihren männlichen Antagonisten einlassen. Widerstand in Escabias’ Stücken ist also ein individuell ausgeführtes, spontanes oder organisiertes, gewaltsames und auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtetes Handeln (das Eliminieren des Täters und/oder die Selbstbefreiung), das jedoch seinerseits in ein Verbrechen führen kann. In einigen Fällen geht der weibliche Widerstand nämlich sogar so weit, dass die Frauenfiguren bestimmte Arten männlicher Gewaltanwendungen aufgreifen, einsetzen und gegen die Täter richten, wodurch sie am Ende oft selbst Täterinnen werden. Diese Form des im Grunde paradoxen Widerstands ist als Akt der Selbstbefreiung vom Misshandler also zwar in gewisser Weise nachvollziehbar und vielleicht sogar legitim, aber eben nicht legal, da ein Verbrechen am Täter eben auch ein Gesetzesbruch ist. Diese Stücke von Escabias behandeln damit nicht nur den Widerstand gegen männliche Gewalt, sondern verhandeln zudem ein ethisches und moralisches Dilemma: Indem ein Opfer selbst zur Täterin wird und somit eine Form des gewaltsamen Widerstands aus Notwehr oder Rache ausübt, wird es nämlich auch zur Verbrecherin, wodurch die Autorin ganz besonders auf die moralischen und rechtlichen Probleme aufmerksam macht, die in Spanien, aber eben auch nicht nur in Spanien – die entsprechenden Dokumente der United Nations belegen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt –, bei der Problematik der häuslichen Gewalt weiterhin existieren.

18 | Ebd., S. 19. 19 | Vgl. dazu Engelhart, Andreas: »Ästhetik und Gewalt im aktuellen Regietheater zwischen Repräsentation und Präsenz«, in: Ch. auf der Horst: Ästhetik und Gewalt, S. 85-97.

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2. V ier »W iderstandsdr amen «: Tu sangre sobre la arena (2011), A pología del amor (2011), C rimen imperfecto (2015) und N o le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre … cualquiera (2015) Obschon Gewalt und der Widerstand gegen diese psychische und physische Gewalt in fast allen der insgesamt rund 30 Theaterstücke der Dramatikerin die zentralen Handlungsmotive sind,20 konzentriere ich mich im Folgenden auf vier Dramen, die ausnahmslos Tragödien sind: Tu sangre sobre la arena (2011), Apología del amor (2011), Crimen imperfecto (2015) und No le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre… cualquiera (2015). Die Wahl fiel auf diese vier Stücke, da sie nicht nur für verschiedene Dramentypen repräsentativ sind, die Escabias pflegt, sondern weil Gewalt und Widerstand dort jeweils in einer besonderen Form verhandelt werden und weil schließlich vier unterschiedliche Figurenkonstellationen eine signifikante Darstellung des Widerstands gegen geschlechtsspezifische Gewalt bieten und damit aufschlussreiche Beispiele für die titelgebenden GegenWorte und GegenSpiele sind. Für die Analyse des Nexus von Gewalt und Widerstand sind die hier ausgewählten Stücke vor allem deshalb besonders interessant, weil es der Dramatikerin gelingt, auf eine höchst dramatisch kondensierte Weise Gewalt und Widerstand miteinander in Bezug zu setzen, zum Höhepunkt zu führen und zu einer eindeutigen gesellschaftskritischen Aussage zu kommen, die dem Leser oder Zuschauer auf äußerst drastische Weise imaginär oder real vor Augen geführt wird, da das literarische Wirklichkeitskonstrukt die Gewalt, die in der außerliterarischen Realität passiert, schonungslos realistisch abbildet. Man kann in diesem Zusammenhang von einer visuellen und psychischen Schockwirkung sprechen, deren Ziel eindeutig im Aufzeigen der Missstände liegt. Eine effiziente dramatische Strategie von Escabias ist es, neben der psychischen Gewalt auch und gerade die körperliche Gewalt zu zeigen, weil sie die physische Gewalt nicht allein durch die und in der Sprache präsent macht, sondern weil sie ganz explizit diese Form der Gewalt in 20 | Vgl. V. Serrano: »Juana Escabias«; E. Pérez-Rasilla: »Prólogo«; S. Berardini: »Ni una menos«; und Escabias, Juana: »Violencia por motivos sexuales en mi obra«, in: José Romera Castillo (Hg.): Teatro y marginalismo(s) por sexo, raza e ideología en los inicios del siglo XXI, Madrid: Verbum 2017, S. 324-337.

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Szene setzt und damit die Rezipienten sowohl gedanklich als auch visuell mit unterschiedlichen Formen der Gewalt konfrontiert.21 Damit verweist sie sowohl diskursiv als auch visuell auf die individuellen, strukturellen und kulturellen Bedingungen von Gewalt.

2.1 (Zwangs-)Prostitution: Die Frau als Opfer psychischer und physischer Gewalt in Tu sangre sobre la arena (2011) und Apología del amor (2011) Die zwei hier zur Debatte stehenden Stücke behandeln sexuelle Gewalt gegen Frauen im Zusammenhang mit Prostitution und Zwangsprostitution. Das erste Stück, das Ein-Personen-Mikrodrama Tu sangre sobre la arena (»Dein Blut im Sand«), ist nur zwei Seiten lang und besteht aus dem Monolog einer Sprecherin, die durch keinen Nebentext eingeführt oder charakterisiert wird. Sie bleibt auch namenlos. Die Autorin verzichtet auf alle kontextualisierenden Angaben. Ein Personenverzeichnis fehlt ebenso wie jede Form von Bühnenanweisungen. Einen Hinweis zur gattungstypologischen Einordnung des Textes, welcher ihn als dramatischen Monolog definiert, findet man nur in Francisco Gutiérrez Carbajos Band Literatura española desde 1939 hasta a actualidad,22 in der das Mikrodrama als Theaterstück behandelt wird. Ohne diese Angabe wäre Tu sangre sobre la arena auch als kurzer narrativer Text einzuordnen. In dem Monolog, der sozusagen die »Chronik eines angekündigten Todes« ist, wendet sich die Sprecherin direkt im ersten Satz an eine andere Frau, die erst im späteren Verlauf von ihr als Mutter angesprochen wird. Da Bühnenanweisungen fehlen, ist nicht eindeutig festlegbar, ob die angesprochene Mutter tatsächlich anwesend ist oder ob die Sprecherin ihren verbalen Angriff auf die Mutter alleine, etwa vor einem Spiegel, einstudiert oder die Szene nur spielt. In diesem Falle läge hier eine doppelte »Gewaltphantasie«23 vor, insofern als das Stück selbst schon Ausdruck einer Gewaltphantasie in 21 | Zu den verschiedenen Formen des Gewalttheaters in Spanien – so u.a. das »psychische Gewaltdrama« und das »physische Gewaltdrama« –, jedoch ohne Einbeziehung der Stücke von Escabias, vgl. E. Stehlik: Thematisierung und Ästhetisierung von Gewalt im spanischen Gegenwartstheater, passim. 22 | Gutiérrez Carbajo, Francisco (Hg.): Literatura Española desde 1939 hasta la actualidad, Madrid: Editorial Universitaria Ramón Areces-UNED 2011. 23 | J. Wertheimer: »Ästhetik der Gewalt?«, S. 15, S. 19.

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künstlerisch-ästhetischer Form ist, welche die Handlung obendrein in die Imagination der Figur verlagert und damit die Visualisierung der Gewalt auf der Bühne ausschließt. In ihrer Rede an die Mutter lässt die Sprecherin ihr Leben Revue passieren ab dem Moment, als die Mutter sie im Alter von acht Jahren an einen Zuhälter verkauft hat. Im weiteren Verlauf ihres Berichts beschreibt sie ihr Leben als Zwangsprostituierte und später als Auftragskillerin. In der Rede wird deutlich, dass die Tochter das erste Mal im Leben die Worte an die Mutter richtet, diese mit ihrer damaligen Tat konfrontiert, um sie anschließend hinzurichten. Es liegt hier also nicht nur eine Rede in Form von GegenWorten vor, sondern auch ein GegenSpiel, da die Tochter nun zurückgekehrt ist, um die wortlos bleibende Mutter in einer Art Ritual anzuklagen und zur Rechenschaft zu ziehen. Die Spielarten der Gewalt, die sich in diesem Stück manifestieren, sind breit gefächert. Zum einen geht es im Rückblick der Tochter um psychische Gewalt, die sie erlitten hat, weil die Mutter sie verkauft und gnadenlos dem Zuhälter ausgeliefert hat. Die physische, d.h. sexuelle Gewalt, die ihr von ihren Freiern angetan wurde, war eine Folge davon. Es geht zum anderen aber auch um die physische Gewalt, die sie als Auftragsmörderin verübt hat. In der Abrechnungsszene mit der Mutter führt die Protagonistin nun diese beiden Formen der Gewalt zusammen und steigert sie mit einigen Formen verbaler Gewalt, nämlich verbalen Degradierungen und Drohungen: Sie quält die Mutter zunächst psychisch, indem sie mit ihr abrechnet, während sie die Pistole bereits auf den Kopf der Mutter gerichtet hat, wie der erste Satz gleich deutlich macht: »Esta bala que traigo en mi pistola es para ti. Tiembla. Gime. Arrodíllate ante mí. Arrástrate por el suelo mientras tu entrecortado hilo de voz suplica y titubea.« (285)24 Die möglichen Reaktionen der Mutter auf die auch verbalen Aggressionen der Tochter werden von dieser selbst thematisiert, indem sie wie-

24 | Hier und im Folgenden beziehen sich die den Zitaten in Klammern nachgestellten Seitenangaben auf diese Ausgabe: Escabias, Juana: Tu sangre sobre la arena, in: F. Gutiérrez Carbajo (Hg.): Literatura Española desde 1939 hasta la actualidad, S. 285-287. Die Zitaten werden im Folgendem durch die Autorin (C. B.-F.) übersetzt: »Diese Kugel in meiner Pistole ist für Dich. Zitter. Stöhn. Knie Dich vor mir hin. Kriech auf der Erde während Deine stockende, fadendünne Stimme bettelt und stammelt.«

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derholt auf das Zittern und Schwitzen der Mutter eingeht und dieser am Ende befiehlt, ihr in die Augen zu sehen, bevor sie abdrückt: ¡Mira mis ojos! Es la primera vez que voy a matar a una mujer. ¡Tus hechos te han condenado! Asume tu destino, deja de suplicar y de temblar. (287) 25

Die narrative Einbindung der physischen Gewalt, die von ihr als Mörderin ausging, erfolgt dadurch, dass sie sie bildlich mit dem direkten Erzählvorgang verknüpft wird, wobei die Pistole, die stets sichtbar ist, das optische Bindeglied bildet. Am Ende des Mikrodramas kommt es schließlich auch zur direkten Ausübung der Gewalttat, indem die Tochter die Mutter erschießt und somit zur Mörderin wird, die am Ende das Verhältnis von Opfer und Täter umkehrt, um sich zu rächen und sich zu befreien. So zumindest verläuft der Handlungsbogen, wenn man trotz fehlender Regieanweisungen von einer realistischen und wortgetreuen Umsetzung der Rede in Handlung ausgeht. Bei einer Rezeption des Stückes als reines Gedankenspiel, das im Kopf der Protagonistin abläuft, bleibt die physische Gewalt freilich rein imaginär. Unbeschadet dieser Unbestimmtheitsstellen, die eine Konsequenz des strategischen Verzichts auf Regieanweisungen sind, bleiben die im Stück gezeigten Formen der Gewalt – psychische Gewalt und physische Gewalt verbal oder durch direkte Verletzungen des Körpers ausgeübt – greif bar, vor allem in den letzten Sequenzen, die gleichzeitig den Höhepunkt und Abschluss des Stückes bilden, wenn die Tochter die Mutter hinrichtet: Cuando apriete este gatillo voy a convertirme en ti. Eres un monstruo y yo voy a borrarte del planeta y con mi acto me voy a convertir en lo que tú vas a dejar de ser. Quiero que sepas que apretaré el gatillo y tu viscosa sangre empapará la arena.

25 | »Schau mir in die Augen! Es ist das erste Mal, dass ich eine Frau töten werde. Deine Taten haben Dich verdammt! Nimm Dein Schicksal an, hör auf zu betteln und zu zittern.«

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Pero antes de que llegue ese momento mírame a los ojos, mamá, asómate a mirar dentro de mí. (Ebd.) 26

Das widerständige Handeln der Tochter offenbart sich darin, wie sie ihren Blick und ihre Worte nutzt, um ihren zunächst inneren, verborgenen, und dann der Mutter gegenüber offenen Widerstand gegen die ihr angetane Gewalt und die traumatischen Erinnerungen strategisch einsetzt. Sie leistet in ihrer Kindheit bereits beim Verkauf durch die Mutter, später dann den Freiern Widerstand, indem sie allen Tätern ganz offen in die Augen schaut, während alle Täter, auch ihre Mutter im Moment des Abtransports, es nicht ertragen können, ihrem Blick standzuhalten. Aus diesem Grund fordert sie ihre Mutter kurz vor der Hinrichtung auf, ihr in die Augen zu schauen, wie in den obigen Zitaten bereits deutlich wurde. Neben diesen GegenBlicken sind es durch ihre Rede an die Mutter nun auch ihre GegenWorte, die ihrem Widerstand gegen die körperlichen und seelischen Verletzungen und Vergewaltigungen Ausdruck verleihen. Ihr ritualhaftes Hinrichten der Mutter kann sodann als GegenSpiel betrachtet werden, das sie bereits als Auftragskillerin mit ihren Opfern gespielt hat. Das in Tu sangre sobre la arena konstruierte weibliche Aufbegehren ist aber nicht nur als individueller Widerstand gegen die erlittene Gewalt zu lesen. Einige recht vage Hinweise in der Rede der Tochter machen deutlich, dass Escabias auch einen generellen Widerstand gegen sexistisch und machistisch geprägte Gesellschaftsstrukturen und deren strukturelle und kulturelle Bedingungen erzeugt, in denen der Verkauf minderjähriger Mädchen in den sexuellen Missbrauch einer Mutter als einziger Ausweg aus einer höchst prekären sozialen Situation erscheint. Anspielungen auf die Armut der Familie, die ohne Vater auskommen muss, die stets hungrigen acht Geschwister in der »choza« irgendwo am »extrarradio más en cualquier ciudad del trópico« (285) (»Bruchbude am Rande irgendeiner tropischen Stadt«) machen deutlich, dass es Escabias

26 | »Wenn ich abdrücke, werde ich mich in Dich verwandeln. Du bist ein Monster und ich werde Dich vom Erdboden auslöschen und mit meiner Tat werde ich mich in das verwandeln, was Du aufhören wirst zu sein. Ich will, dass Du weißt, dass ich abdrücken werde und dass Dein zähflüssiges Blut den Sand tränken wird. Bevor aber dieser Moment kommt, schau mir in die Augen, Mama, zeig Dich, um in mich hineinzuschauen.«

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auch aus soziologischer Perspektive um die psychologischen und strukturellen Zusammenhänge der Gewalt und ihrer Bekämpfung geht.27 Viele GegenWorte und GegenSpiele sind auch die Waffen, welche die Prostituierte in Apología del amor (2011) einsetzt, um der psychischen und physischen Gewalt des Freiers Widerstand zu leisten. Diese ebenfalls namenlose »Puta« (»Nutte«) folgt dem Anruf eines Freiers (»El Cliente«) und erscheint so in dessen weit abgelegenem Haus, um ihre vom Kunden käuflich erworbenen Dienste zu leisten. Jedoch stellt sich gleich zu Beginn der in sich geschlossenen Handlung heraus, dass das Haus eine ausweglose Falle ist, da der Freier den Handyempfang unmöglich macht, zudem den Code der Ausgangstür geheim hält und die Frau durch hohe Geldbeträge immer wieder dazu verführt – er setzt gezielt auf ihre Geldnot –, sich auf sein psychologisch komplexes Spiel einzulassen. Escabias konfiguriert den dramatischen Raum so, wie Jean-Paul Sartre ihn in Huis clos (Bei geschlossenen Türen) konzipiert hat: Die Prostituierte und der Freier bleiben bis zum tragischen Ende in dem abgeschlossenen, stickigen und heißen Raum zusammen, in dem sie zunächst verbal, später dann auch körperlich gegeneinander kämpfen – ein Zweikampf, der in der Ermordung der Prostituierten durch den Freier gipfelt. Oder anders gewendet: Das perfide Spiel des Freiers besteht darin, die Prostituierte durch die von ihm ausgehende psychische Gewalt zu einem Spiel um ihr eigenes Leben zu zwingen. Die diversen Formen der psychischen Gewalt 28 kommen in dieser Tragödie höchst facettenreich zum Einsatz: Neben der psychischen Misshandlung, die auf eine Zerstörung des Selbstwertgefühls des Opfers zielt, findet sich auch die seelische Manipulation durch emotionale Erpressung, wodurch das Opfer sich immer mehr dem Täter unterwirft oder gar von ihm abhängig wird. Beide Formen basieren auf verbalen Attacken wie Beleidigungen, Erniedrigungen, Lächerlichmachen, Befehlen, Anschreien, Wutausbrüchen, Angst machen, Erzeugung von Minderwertigkeitsgefühlen, Lügen erzählen und demonstrativer Ausübung von Macht, 27 | Im Interview mit M. Martín Clavijo (»Entrevista a Juana Escabias, dramaturga y directora de escena«, S. 312) sagt Escabias gar, dass sie die Handlung in der Dritten Welt angesiedelt sieht. 28 | Vgl. dazu grundlegend Lau, Susanne/Boss, Sieghild/Stender, Ursula: Aggressionsopfer Frau: körperliche und seelische Misshandlung in der Ehe; empirische Untersuchungen, Erklärungen, vorbeugende und eingreifende Hilfen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979.

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Dominanz und Kontrolle sowie der ständigen Bedrohung mit einer Waffe, um der Frau die Freiheit zu rauben und ihr die Selbstbestimmung zu nehmen. Nahezu lehrbuchartig dekliniert Escabias in Apología del amor alle vorstehend genannten Arten der psychischen Grausamkeit und Gewalt durch – der Titel des Dramas (»Apologie der Liebe«) steht somit in eklatantem Widerspruch zum Inhalt und kann als Ironie interpretiert werden. Aber auch das GegenSpiel des Opfers zielt daher darauf ab, durch ihre GegenWorte – konkret sind dies verbale Formen der Gewalt, nämlich Befehle, Lügen, Beleidigungen und Geschichten, die sie dem Kunden auftischt, so dass dieser sie »Sherezade« (44, 48)29 nennt – und auch zunehmend durch ihr widerständiges Handeln, wie etwa immer mehr Geld zu verlangen sowie ihre zahlreichen Versuche, das Haus zu verlassen, der Todesfalle zu entkommen. Da sie ihren Gegenspieler jedoch unterschätzt und ihm schließlich vorlügt, sie würde wiederkommen, erschießt er sie, als sie ihn verlassen will und zur Tür geht: La mujer, con su bolso y el maletín en la mano, se dirige a la puerta de la calle sin volver la vista atrás. El hombre se aproxima a un aparador, abre un cajón del que saca otro revólver, camina con decisión detrás de ella y le dispara tres tiros por la espalda. El cuerpo de la mujer cae fuera del escenario, en el pasillo. En el patio de butacas se escucha el golpe del cadáver impactando contra el suelo. El hombre sale un instante y regresa con el maletín y el bolso de la mujer, que coloca en una silla. Saca el dinero del bolso para guardarlo en el maletín y una vez que lo ha vaciado lo tira a una papelera. Se sirve un vaso de wisqui, se deja caer en el sofá y bebe. Gradualmente, la luz desciende de intensidad. El hombre bebe, bebe. (86f.) 30 29 | Vgl. Juan Ignacio García Garzón in seiner Einleitung zu Apología del amor: »La pesadilla de Sherezade«, in: Escabias, Juana, Apología del amor, Madrid: Ediciones Irreverentes 2011, S. 5-7. Hier und im Folgenden beziehen sich die den Zitaten in Klammern nachgestellten Seitenangaben auf diese Ausgabe: J. Escabias: Apología del amor. 30 | »Die Frau, mit der Handtasche und dem Handkoffer in der Hand, bewegt sich Richtung Haustür, ohne sich umzuschauen. Der Mann geht zu einer Anrichte, öffnet eine Schublade und nimmt einen weiteren Revolver heraus, geht dann entschlossen hinter ihr her und schießt ihr drei Male in den Rücken. Der Körper der Frau fällt außerhalb der Bühne in den Gang. Im Zuschauerraum hört man, wie der

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In diesem unerbittlichen und perfiden Machtspiel wird aber auch sichtbar, dass der sadistische und gewalttätige Peiniger auch ein Opfer seiner selbst ist: Seine Unfähigkeit zu lieben und Empathie für eine andere Person zu empfinden, haben ihn zu dem einsamen, hasserfüllten Menschen gemacht, der in dem abgeschiedenen Haus alleine lebt und sich die Gesellschaft einer Frau bloß erkaufen kann. Abgesehen von der vorstehend analysierten individualpsychologischen Relation von Gewalt und Widerstand finden sich in dieser Tragödie auch die entsprechenden Formen struktureller Gewalt zwischen Mann und Frau, Täter und Opfer: Der Misshandler zementiert die Unterlegenheit der Frau unter den Mann in machistischen und sexistischen gesellschaftlichen Strukturen, ein hierarchisches Gefälle, das auch durch die geschäftliche Beziehung zwischen ihm als Kunden und der Prostituierten als Dienstleisterin gespiegelt wird. Um eine gewisse Ebenbürtigkeit zu erlangen, versucht die Prostituierte daher unablässig, den zwischen ihr und ihrem Kunden per Telefon geschlossenen Vertrag einzuhalten, jedoch kann sie sich im Laufe der Handlung immer schlechter gegen die Angriffe des Kunden auf ihre »dignidad« (25) (»Würde«), wehren, der es darauf abgesehen hat, genau dies, nämlich ihre menschliche Würde zu zerstören. Außerdem gibt es im Stück auch eine soziale Konfrontation: Der Freier stellt sich als Opfer seiner Frau und Töchter dar, die aus der reichen Oberschicht stammen, in die er sich mühsam hochgearbeitet hat. Jedoch wurde er nie als gleichwertig von seiner Frau anerkannt, so dass innerhalb der Ehe bereits eine Art Klassenkampf ausgebrochen war, dessen Verlierer der Freier ist. Dieses Machtverhältnis dreht er nun um, indem er die Prostituierte auch sozial erniedrigt und ihre gesellschaftliche Unterlegenheit herausstreicht, um sie weiter zu entwerten und um sich an ihr für die ihm von seiner Frau angetane Herabsetzung zu rächen. Die Prostituierte versucht daraufhin in ihrem GegenSpiel und ihren zahlreichen Wortgefechten, eine soziale Gleichwertigkeit und sogar Solidarität zwischen sich und dem Freier zu fingieren – ein GegenSpiel, das sie aber leblose Körper auf dem Boden aufschlägt. Der Mann geht einen Augenblick hinaus, kommt mit dem Handkoffer und der Handtasche der Frau zurück, die er auf einen Stuhl stellt. Er nimmt das Geld aus der Handtasche, um es im Handkoffer zu verstauen, und nachdem er die Handtasche ausgeleert hat, wirft er sie in den Papierkorb. Er gießt sich ein Glas Whiskey ein, lässt sich auf das Sofa fallen und trinkt. Allmählich wird das Licht schwächer. Der Mann trinkt, trinkt.«

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doch am Ende verliert, obschon der Kunde zwischenzeitlich Gefallen an der Idee findet, sie zu heiraten, um sich damit an seiner Frau zu rächen.

2.2 Formen der Gewalt gegen Frauen in der Ehe: Crimen imperfecto (2015) und No le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre… cualquiera (2015) Auch in diesem Abschnitt geht es um Gewalt gegen Frauen und die Versuche der Protagonistinnen, sich gegen die vom Ehemann ausgehende Gewalt zur Wehr zu setzen.31 Nur durch seine Publikation in dem Band Cuatro obras políticamente yncorrectas32 im Madrider Theaterverlag Esperpento Ediciones Teatrales ist der knapp sechsseitige Monolog Crimen imperfecto überhaupt als Drama erkennbar. Wie in Tu sangre sobre la arena gibt es nur eine Sprecherin, die jedoch durch die Personenliste als Lucía eingeführt wird. Beide Mikrodramen sind Ausdruck einer Tendenz des spanischen Gegenwartstheaters, welche sich in der Beliebtheit von Minioder Mikrodramen manifestiert.33 In Crimen imperfecto (»Unperfektes Verbrechen«) berichtet die Protagonistin rückblickend einige Szenen aus ihrer Ehe. Das Mikrodrama weist daher keine dramatische Handlung auf, sondern besteht aus einem Bericht über vergangene Ereignisse; es findet daher keine Gewaltdarstellung auf der Bühne statt. Anlass von Lucías Rückblick ist ihre Frage an sich selbst, wieso sie ihren Mann nicht aktiv ermordet hat, sondern das Ableben des Ehemannes sozusagen dem Zufall überlassen hat – dies suggeriert auch der Titel des Stückes. Ihr Bericht beginnt damit, wie sie eines Nachts wach wird, weil der Hausmeister ihres Wohnkomplexes an die Tür 31 | Vgl. Gutiérrez Carbajo, Francisco: »La realidad y la representación en Juana Escabias«, in: Juana Escabias: Historia de un imbécil, Madrid: Huerga y Fierro Editores 2010, S. 7-10; López Mozo, Jerónimo: »Radiografías de seres humanos«, in: Juana Escabias: Voracidad de los parques, Madrid: Huerga y Fierro Editores 2013, S. 7-15; E. Pérez-Rasilla: »Prólogo«, passim; L. Bueno: »La dramaturgia de Juana Escabias o el compromiso con el ser humano«. 32 | »Vier politisch inkorrekte Werke«. 33 | Vgl. Campos, Jesús: ¡breve, breve! ¡brevísimo!, Madrid: Ediciones Antígona 2015; Gutiérrez Carbajo, Francisco (Hg.): Teatro breve actual. Modalidades dis-​ cursivas, Barcelona: Castalia 2013; Romera Castillo, José (Hg.): El teatro breve en los inicios del siglo XXI, Madrid: Visor Libros 2011.

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klopft und alle Bewohner auffordert, das Haus schnellstens zu verlassen, da eine Explosion aufgrund einer defekten Gasleitung unmittelbar bevorstünde. Lucía weckt ihre Kinder und verlässt das Haus. Während sie mit allen Bewohnern vor dem Haus wartet, fällt ihr plötzlich auf, dass sie vergessen hat, ihren Mann zu wecken, der kurz darauf tatsächlich durch die Explosion des Hauses ums Leben kommt. Sein Tod und ihre Frage, warum sie ihn in der Wohnung vergessen hatte, ist nicht nur ihr komplexes moralisches Dilemma – d.h. die Freude, aus der Ehe befreit zu sein, zugleich die Gewissensbisse, sich nicht moralisch verpflichtet gefühlt zu haben, den Mann zu retten, und ihre Wut darüber, dass der Tod ihrem Mann kein Leiden brachte –, sondern vor allem nun der Auslöser für die Schilderung ihres Ehelebens, das von der machistischen Kontrolle, Unterdrückung, Erniedrigung und fehlender Liebe durch ihren Mann geprägt war. Mit Gewaltandrohungen und finanzieller Abhängigkeit wurde sie in der Ehe gefangen gehalten. Als ihr Mann ihr schließlich drohte, den erstgeborenen Sohn zu töten, wenn sie sich scheiden ließe, schlug ihre Unterwerfung in Hass um. Diesen zeigte sie jedoch nie offen, sondern entwickelte eine Form des inneren Widerstands, der erst in ihrer Unterlassungstat gipfelte, dann aber bei der Totenwache offen ausbricht und in blinde Wut – Wut, weil er nicht einmal verletzt ist und ohne zu leiden gestorben ist – und Gewalt umschlägt, indem sie auf den aufgebahrten Leichnam des Ehemannes 17 Male mit ihrer Nagelfeile einsticht: Su cuerpo no estaba herido. No le afecto la explosión. Dicen que falleció por emanación de gas, que no sufrió, que cuando el edificio estalló él era ya cadáver. Mirando el pecho intacto de Gonzalo fue cuando por primera vez lloré. Lloré al descubrir que había intentado salvarle varias veces, que quise regresar a despertarle, que pretendí llamarle a voces desde la ventana. Metí la mano en mi bolso, busqué mi lima de uñas de metal y apuñalé el pecho de Gonzalo diecisiete veces. Te apuñalé porque no debería haber deseado salvarte, porque cuando escapé con las niñas a la calle no tendría que haberme olvidado de ti de modo fortuito sino completamente intencionado, y sobre todo por aquella noche en la que me dijiste al oído si me pides el divorcio mato al niño. (136) 34 34 | Hier und im Folgenden beziehen sich die den Zitaten in Klammern nachgestellten Seitenangaben auf diese Ausgabe: Escabias, Juana: Crimen imperfecto, in: Dies., Cuatro obras políticamente yncorrectas (2015), S. 129-136. »Sein Körper war nicht verletzt. Die Explosion hat ihm nichts anhaben können. Sie sagen,

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Ihr innerer Widerstand manifestiert sich demnach erst darin, dass sie zunächst ein GegenSpiel spielt, also mit Widerwillen in der Ehe funktioniert und die verbale und psychische Gewalt des Ehemanns erträgt, bis der innere Widerstand sich in einen gewaltsamen, nach außen gerichteten Widerstand verwandelt und in der Profanierung des Leichnams gipfelt, einer Tat also, die von heftigster physischer Gewalt zeugt, jedoch paradoxerweise das Opfer nicht mehr verletzen kann. Zugleich wird deutlich, dass ihr Bericht genau die Form von GegenWorten darstellt, die wiederum ihren Widerstand versprachlichen: Der Redeschwall bricht aus Lucía heraus, und mit ihm das Mordgeständnis. Genauso wichtig ist an dieser Stelle aber auch, dass ihr Widerstand nun paradoxerweise für das bereits tote Opfer »hörbar« wird, da sie den Ehemann plötzlich direkt anspricht (»Te apuñalé porque no debería haber deseado salvarte […] y sobre todo por aquella noche en la que me dijiste al oído si me pides el divorcio mato al niño.« 136) und damit vom Bericht in die direkte Anrede des Opfers umschwenkt und nun zum ersten Male wagt, dem freilich toten Ehemann all die GegenWorte entgegenzuschleudern, die sie sich zu seinen Lebzeiten nicht zu sagen getraut hat, und zwar insbesondere nach seiner Drohung, den Sohn umzubringen. Am Schluss ihres Berichts wird erkennbar, dass Lucía Opfer und Täterin zugleich ist, sie aber dennoch ihre Befreiung auf eine Weise nach außen hin manifestiert, die von ihrer Umgebung als krankhaft wahrgenommen wird – ihre Befreiung aus der Ehe und auch Selbstbefreiung nach dem Ritualmord am toten Ehemann äußern sich in unbändigem Lachen, das freilich als ein Ausdruck der Befreiung verstanden werden kann –, so dass sie sich in psychologischer Behandlung befindet:

er sei durch das ausströmende Gas gestorben, dass er nicht gelitten hat, dass er schon tot war, als das Gebäude explodierte. Als ich die unverletzte Brust von Gonzalo sah, musste ich zum ersten Mal weinen. Ich weinte, als ich merkte, dass ich mehrfach versucht hatte, ihn zu retten, dass ich zurückgehen und ihn wecken wollte, dass ich vorgab, ihn laut vom Fenster zu rufen. Ich griff mit der Hand in meine Tasche, suchte meine Nagelfeile aus Metall und stach 17 Male auf Gonzalos Brust ein. Ich erstach Dich, weil ich nicht hätte wünschen dürfen, Dich zu retten, denn als ich mich mit den Mädchen auf die Straße rettete, hätte ich Dich nicht einfach so vergessen dürfen, sondern völlig absichtlich, und vor allem wegen jener Nacht, in der Du mir ins Ohr sagtest, wenn Du Dich scheiden lässt, töte ich den Jungen.«

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Desde el día del accidente me atiende un equipo de psicólogos. Ellos dicen que todavía no he aterrizado en la realidad. A mí me dio por reír. El edificio se derrumbaba delante de mis ojos con mi marido dentro y a mí me dio por reír. Estaba a punto de perderlo todo y a mí se me ocurrió sentirme la mujer más feliz y afortunada de la tierra. Pausa. […] Sequé mis lágrimas, guardé la lima en mi bolso, abotoné tu camisa y cerré tu americana. Me dirigí a la sala en la que tus familiares y los míos aguardaban. Allí comencé a reírme. No podía parar. Reía y reía, y reía. Pausa. Los psicólogos corrieron hacia mí para intentar hacerme aterrizar en la cruda realidad. (135-136) 35

Auch dieses Mikrodrama enthält Unbestimmtheitsstellen, die einen nicht unerheblichen Interpretationsspielraum eröffnen. Einer Lesart, die den Bericht und die Reaktion von Lucía psychologisch rational und realistisch bewertet und sie nun als freie und glückliche Frau wahrnimmt, kann eine zweite gegenübergestellt werden, derzufolge man sich Lucía während ihres Berichtes in der Irrenanstalt vorstellen kann, in die sie wegen ihrer mehrfach angedeuteten psychischen Probleme, Schlafstörungen und paranoider Anfälle, vor allem aber ihres hysterischen Lachens, das als abnorme Reaktion auf den Tod des Ehemanns wahrgenommen wird, eingewiesen wurde. In diesem Falle wäre sie zwar vom Mann und der ehelichen Gewalt befreit, aber dennoch durch die psychische Erkrankung, die man als Folge der Misshandlung interpretieren kann, weiterhin unfrei. Hass, Zorn und Wut, die sich in der Leichenschändung und im Lachen manifestieren, sind auch deshalb widerständige Handlungen, weil sie dem traditionellen Bild der Frau entgegenstehen. Auch dieses 35 | »Seit dem Unfall betreut mich ein Team von Psychologen. Sie sagen, dass ich immer noch nicht in der Realität angekommen bin. Darüber muss ich lachen. Das Gebäude stürzte vor meinen Augen zusammen, mit meinem Mann darin, und ich musste lachen. Ich war gerade dabei, alles zu verlieren, aber ich fühlte mich wie die glücklichste Frau der Welt. Pause. […] Ich trocknete meine Tränen, packte die Feile zurück in meine Tasche, knöpfte Dein Hemd zu und schloss Dein Sakko. Ich ging in den Saal, in dem Deine und meine Angehörigen warteten. Dort fing ich an zu lachen. Ich konnte nicht aufhören. Ich lachte und lachte und lachte. Pause. Die Psychologen kamen angerannt und versuchten, mich in die Realität zurückzuholen.«

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sehr kurze Drama zeigt, dass widerständiges Handeln das Opfer in einen Täter verwandeln kann und zur paradoxen Situation führt, dass das Opfer erst durch die Leichenschändung zumindest innerlich frei wird. Der Bericht der Protagonistin lässt sich so auch als eine Form der Beichte interpretieren, da sie die Vorgeschichte ihrer Tat detailreich schildert und die Enttäuschungen, Bedrohungen und Misshandlungen dergestalt als Motive für die Ereignisse nach der Explosion und ihre Tat nachvollziehbar macht. Das Einstechen auf den Leichnam ist dabei wiederum ein Zeichen jener »Gewaltphantasien«,36 wie sie schon für Tu sangre sobre la arena festgestellt wurden. No le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre… cualquiera (2015)37 ist ein weiteres Drama, in dem die häusliche Gewalt aufgrund individueller und struktureller Bedingungen eskaliert und die Ehefrau am Ende von ihrem Mann hingerichtet wird. Das Stück, zu Deutsch »Erzähl meinem Mann nicht, dass ich von jedem x-beliebigen Mann träume«, ist eine Tragödie, die sich in drei Teile gliedert, sie besteht aus der Vorrede des »Geistes der Urgroßmutter« (»El espíritu de la tatarabuela«), dem einführenden Monolog der Protagonistin Lena und dem dramatischen Konflikt zwischen ihr und ihrem Mann, der »La noche en blanco« übertitelt ist (»Schlaflose Nacht«). Die Urgroßmutter, die ebenfalls Lena hieß, führt die Geschichte von Lenas Familie ein, die ursprünglich im Dschungel lebte, von dort aber wegen der Ausbeutung des Regenwaldes vertrieben wurde und dann in die Großstadt gezogen ist. In ihrem Einführungsmonolog berichtet Lena davon, wie sie von ihrer Mutter überredet wurde, den reichen und alten Herrn Leopold ohne die geringste Zuneigung ihrerseits zu heiraten, um das Überleben ihrer Familie zu sichern. Sie wurde von ihrer Mutter demnach aus rein ökonomischen Gründen in die Ehe getrieben, da sie Leopold nicht liebt. Das Stück beginnt damit, dass sie nachts um 24 Uhr offenbar nach einem Rendezvous mit einem Liebhaber nach Hause kommt und denkt, dass ihr Ehemann weiterhin geschäftlich verreist sei. Er erwartet sie jedoch bereits im Wohnzimmer mit einem Jagdgewehr in der Hand, da ein von ihm engagierter Privatdetektiv herausgefunden hat, 36 | J. Wertheimer: »Ästhetik der Gewalt?«, S. 15, S. 19. 37 | Hier und im Folgenden beziehen sich die den Zitaten in Klammern nachgestellten Seitenangaben auf diese Ausgabe: Escabias, Juana : No le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre… cualquiera, in: Dies., Cuatro obras políticamente yncorrectas (2015).

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dass Lena fremdgeht. Es kommt nun also zum Showdown zwischen den Eheleuten. Als erstes befiehlt der Ehemann Lena, die Haustür abzuschließen und ihm den Schlüssel zu geben. Wie in Apología del amor ist die Frau von diesem Moment an gefangen und der psychischen und physischen Gewalt des Mannes ausgeliefert. Dann richtet der Ehemann unentwegt sein Jagdgewehr auf sie, um sie zu bedrohen; und auch sprachlich übt er Gewalt aus, indem er sie anschreit und als »mierda« (90) (»Scheiße«) oder »HIJADEPUTA« (98) (»Hurentochter«) beschimpft sowie sie erniedrigt, indem er sich über sie und ihre literarischen Schreibversuche lustig macht. Wenig später dann beginnt er, sie mit dem Gewehrkolben auf die Arme, die Beine und die Schultern zu schlagen, so dass sie sich bis zu ihrem Tod nicht mehr bewegen kann und sich an den Möbeln festklammert. Allerdings ergibt Lena sich nicht kampflos. Wie die Prostituierte übt sie auch Formen psychischer Gewalt auf ihren Mann aus, indem sie mal absichtlich keine GegenWorte spricht und beharrlich auf seine Fragen schweigt, mal ihn anschreit oder ihm droht. In ihrem GegenSpiel zieht sie demnach viele Register sprachlicher, aber vor allem auch psychischer Gewalt, weil sie nicht einmal abstreitet, ihren Mann schon mehrfach betrogen zu haben und ihn damit offen provoziert, ihn als Versager bezeichnet und ihn daran erinnert, dass sie ihm immer gesagt habe, dass sie ihn nicht liebe. Mehrfach schreit sie ihn im Laufe des Gesprächs an, sie endlich zu erschießen, doch er will sie zunächst nur bestrafen: Lena.– Mátame ya y que se fastidie todo; que se fastidie mi madre, que me vendió cuando yo solamente era una niña! […] ¿Qué es lo que quieres de mí? El marido de Lena.– Castigarte. Devolverte todo el daño que me has hecho. […] No morirás queriendo morir, morirías queriendo vivir. Lena.– ¡MÁTAME YA! El marido de Lena.– Sé que te duele abandonar la vida. ¿Por qué me pides esa atrocidad? Lena.– ¡MÁTAME YA! (95-97) 38 38 | »Lena.– Töte mich endlich. Töte mich endlich, das geschieht allen ganz recht; soll meine Mutter sich doch ärgern, sie hat mich verkauft, als ich noch ein Kind war. […] Was willst Du von mir?

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Der Mann gibt zu, dass er sie nicht töten will, sondern von ihr geliebt werden möchte. Doch genau diese Bitte verweigert sie ihm zunächst wieder durch widerständiges Schweigen und am Ende durch den entscheidenden Satz, der zu ihrer Erschießung führt: Lena.– Al principio de la noche, me preguntaste ¿POR QUÉ? Porque necesito encontrar el amor. No soporto la idea de pasar por este mundo sin haber conocido el amor. El marido de Lena.– Un buen psiquiatra te curará, ya verás. Dime que quieres vivir. Lena.– … El marido de Lena.– ¡¡¡Dime que quieres vivir!!! Lena.– … El marido de Lena.– Dime que quieres vivir. Lena.– Quiero vivir, pero no vivir contigo. El marido de Lena.– Apártate de mi mueble. ¡Aléjate de mi mueble! LENA, incapaz de sostenerse en pie, se arrastra hasta situarse en el centro del salón. Cierra los ojos y llora. EL MARIDO DE LENA le vacía el cargador de la escopeta en el estómago. (98-99) 39 Der Ehemann von Lena.– Dich bestrafen. Dir das ganze Leid zurückgeben, das Du mir angetan hast. […] Du wirst nicht sterben, weil Du es Dir wünschst, sondern Du wirst sterben, weil Du leben willst. Lena.– TÖTE MICH ENDLICH! Der Ehemann von Lena.– Ich weiß, dass es Dir wehtut zu sterben. Wieso verlangst Du von mir so eine Gräueltat? Lena.– TÖTE MICH ENDLICH!« 39 | »Lena.– Zu Beginn der Nacht fragtest Du WARUM? Weil ich unbedingt die Liebe finden muss. Ich ertrage den Gedanken nicht, auf dieser Welt gewesen zu sein, ohne die Liebe kennengelernt zu haben. Der Ehemann von Lena.– Ein guter Psychiater wird Dich heilen können, Du wirst schon sehen. Sag mir, dass Du leben willst. Lena.– … Der Ehemann von Lena.– SAG MIR, DASS DU LEBEN WILLST! Lena.– … Der Ehemann von Lena.– Sag mir, dass Du leben willst. Lena.– Ich will leben, aber nicht mit Dir. Der Ehemann von Lena.– Geh von meinem Möbelstück weg. Entfern Dich von meinem Möbelstück.

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Der Widerstand, den Lena ihrem Mann entgegensetzt, basiert also letztlich darauf, dass sie sich und ihre Liebe nicht kaufen lässt. Seine Versuche, sie durch permanente Kontrolle, Bespitzelung, Einsperren und Herabsetzung zur Liebe zu zwingen, scheitern offensichtlich. Escabias gelingt es erneut zu zeigen, dass die malträtierte Frau auch zur Aggressorin werden kann, um sich gegen die Misshandlungen zur Wehr zu setzen und der geschlechtsspezifischen Gewalt Widerstand zu leisten.

3. Z usammenfassung Alle hier ausgewählten und analysierten Dramen prangern auf eine jeweils besondere Weise die verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt in patriarchalischen kulturellen und sozialen Strukturen an. Sie zeigen aber auch auf ebenfalls bemerkenswerte Art, dass die misshandelten Frauen nicht nur Opfer sind,40 sondern sich zur Wehr setzen, Widerstand leisten und durch gewaltsame GegenWorte und GegenSpiele gegen die Misshandler rebellieren und sogar versuchen, diese auszuschalten. So zeigt Escabias in ihren Stücken nicht nur die Frau als Opfer, sondern auch als Täterin. Darüber hinaus gewährt Escabias stets einen tiefen Einblick in die Gefühle und Gedanken der physisch und/oder psychisch verletzten Frauenfiguren, um deren Wut und Hass nachvollziehbar zu machen. In dieser Hinsicht sind die Mikrodramen Tu sangre sobre la arena und Crimen imperfecto besonders aufschlussreich, da in beiden Stücken nicht nur den Tätern Stimme und Gehör verweigert werden (die Mutter bleibt stumm oder ist nicht anwesend; der Ehemann ist tot), sondern weil sie – ganz in der Tradition antiker Tragödien – den maßlosen Hass der Frauen und deren Streben nach Rache thematisieren, das in diesen beiden Stücken ein zentrales Motiv darstellt. Auch Lena in No le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre… cualquiera rächt sich auf gewisse Weise an ihrem Ehemann, indem sie ihm konsequent bis in den Tod die Liebe verweigert, die er gekauft zu haben glaubt und die er von ihr einfordert. Dagegen LENA, die nicht in der Lage ist, sich auf den Beinen zu halten, kriecht bis in die Mitte des Wohnzimmers und setzt sich hin. Sie schließt die Augen und weint. Der Ehemann von Lena schießt ihr in den Bauch, bis das gesamte Magazin des Gewehrs leer ist.« 40 | Vgl. E. Pérez-Rasilla: »Prólogo«, S. 10.

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zeigt Apología del amor das erschütternde Schicksal einer Prostituierten, der es zwar vorübergehend gelingt, sich zur Wehr zu setzen, die aber den sadistischen Spielen des Kunden doch am Ende nicht entkommen kann. Während Tu sangre sobre la arena, No le cuentes a mi marido que sueño con otro hombre… cualquiera und Apología del amor jeweils mit einer Hinrichtung enden – allerdings ist es im Falle von Tu sangre sobre la arena die Hinrichtung der Täterin und nicht des Opfers –, ist die Ermordung des bereits toten Ehemanns in Crimen imperfecto insofern indirekt, als sie nur von der Protagonistin berichtet und somit nicht dargestellt wird. Im Zusammenhang von Ästhetik, Gewalt und Widerstand ist es demnach bemerkenswert, dass Escabias mit der Visualisierung der Morde ganz gezielt die Literatur und im Speziellen das Theater funktionalisiert, um den Nexus von Gewalt und Widerstand in einem sozialen, ethischen und auch politischen Kontext zu reflektieren und auf deren Bewältigung hin zu perspektivieren.41 In den vier hier untersuchten Stücken gelingt es Escabias, Empathie für die weiblichen Opfer zu wecken und Verständnis für ihre gegen den Täter gerichteten Aggressionen zu erzeugen. Durch die Versprachlichung und Veranschaulichung der traumatischen Erlebnisse und Verletzungen der Protagonistinnen liefert die Dramatikerin die Beweggründe dieser Frauenfiguren und macht so deren Hass und Rachegelüste nachvollziehbar. Insofern sind diese Frauenfiguren extreme Charaktere, teils vielleicht sogar pathologische Fälle, an denen Escabias die tiefgehenden psychischen Folgen der Misshandlung zeigt. Zugleich geht von diesen Dramen eine enorme visuelle und emotionale Schockwirkung aus, wobei Escabias auch auslotet, wie weit die Darstellung von Gewalt in der Kunst gehen kann und darf. Denn die Hinrichtungen oder die Racheakte der weiblichen Gewaltopfer sind extrem brutal und grausam, selbst wenn in Crimen imperfecto die Gewalt nur imaginiert wird. Insofern ist die Gewalt in Escabias Dramen nicht nur psychisch und physisch, sondern auch transgressiv in zweifacher Hinsicht: Zum einen, weil die transgressiven Handlungen allesamt Verbrechen darstellen, die auf der Bühne gezeigt werden, 41 | Vgl. hier erneut zur Verdeutlichung K.-H. Bohrer: »Warum ist Gewalt ein ästhetisches Ausdrucksmittel?«, S. 21, der den Zusammenhang von Ästhetik und Gewalt dahingehend formuliert, dass »Literatur und Kunst […] die Gewalt in Gesellschaft und Leben dar[stellen], mit dem Ziel einer philosophischen bzw. ethisch-philosophischen Bewältigung«.

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und zum anderen, weil die schonungslos offene Darstellung der Gewalt von der fiktionalen Wirklichkeit in die außerliterarische Wirklichkeit hinüberwirkt, indem Leser und Publikum auf eine erschütternd direkte und anschauliche Weise mit Formen der Gewalt konfrontiert werden, die es tatsächlich im Leben der zahlreichen Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt gibt. In der Tat wird hier sichtbar, dass Juana Escabias eine Ästhetik verfolgt, die in der angelsächsischen Dramatik der 1990er Jahre bereits für Schockwirkungen gesorgt hatte. Die naturalistische Ästhetik der Stücke trägt ebenfalls dazu bei, die Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit äußerst gering zu halten, so dass sie dadurch umso eindringlicher wirken. Es ist aber nicht allein diese Schockwirkung, die Escabias’ Theaterstücken im Panorama des spanischen Gegenwartstheaters eine besondere Position zuweisen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass Escabias auch und gerade verschiedene Formen des Widerstands gegen die geschlechtsspezifische Gewalt durchspielt, indem einige ihrer Protagonistinnen sich vom Opfer in eine Täterin verwandeln und mit großer Brutalität Rache üben. Die Verknüpfung von Gewalt und Widerstand hat daher nicht nur einen transgressiven, sondern auch einen subversiven Charakter, richtet sich die Kritik der Dramatikerin doch ganz konkret gegen die kulturellen und sozialen Strukturen aller patriarchalischen Gesellschaften. Für Pérez-Rasilla will Escabias »revelar un objetivo de análisis, un deseo de hurgar en las heridas sociales para procurar un remedio a esas dolencias, una voluntad de denuncia«42 . Ein solchermaßen engagiertes, politisch und gesellschaftlich »unkorrektes« (»yncorrecto«) und daher widerständiges Schreiben, das nicht nur am spanischen Diskurs gegen geschlechtsspezifische Gewalt teilhat, sondern – aufgrund der internationalen Rezeption der Autorin und ihrer Werke – im Grunde global gegen die geschlechtsspezifische Gewalt sich auflehnt, zielt nur teilweise auf die Identifikation des Publikums mit den Figuren ab. Vor allem soll die von der sichtbaren oder imaginären Gewalt ausgehende visuelle und psychische Schockwirkung das Lese- und Theaterpublikum dazu aufrufen, sich durch widerständiges Verhalten, durch GegenSpiele und durch GegenWorte am Kampf gegen die geschlechtsspezifische Gewalt zu beteiligen.

42 | E. Pérez-Rasilla: »Prólogo«, S. 9.

Der Krise widerstehen? Von der politischen Ohnmacht im und der poetischen Macht des Theaters von Philippe Malone Sylvain Diaz Die 2011 entstandene »[E]rnste Komödie über die Finanzkrise« (»Comédie sérieuse sur la crise financière«) D’un retournement l’autre (Von einem Umsturz zum anderen) des Wirtschaftswissenschaftlers Frédéric Lordon öffnet mit der Ankündigung eines »Sturzes«: Des villas somptueuses sont au prix des cabanes, L’immobilier s’écroule, nous passons pour des ânes. Les courtiers ont menti, et dans les formulaires, Gonflé les revenus, inventé les salaires. Or les gueux sont fauchés, ils n’ont plus un radis, Submergés d’échéances, ils deviennent faillis, Endettés jusqu’au cou, ils cessent de payer, Même vendre le bien ne peut plus rembourser.1

1 | Lordon, Frédéric: D’un retournement l’autre – Comédie sérieuse sur la crise financière en quatre actes et en alexandrins, Paris: Éditions du Seuil 2011, S. 11: »Luxusvillen gibt’s zum Preis von Hütten, Die Immobilienwirtschaft bricht zusammen, man hält uns für dumme Esel. Die Broker haben gelogen, und in den Formularen, Die Einkommen aufgestockt, die Gehälter erfunden. Nun sind die Bettler blank, sie haben keine Kohle mehr, Überwältigt von Zahlungsterminen, landen sie im Konkurs, Bis zum Hals in Schulden, hören sie auf zu zahlen, Selbst der Verkauf des Besitzes kann die Schulden nicht mehr begleichen.«

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Zerplatzen der Immobilienblase, Unfähigkeit der Kreditnehmer, ihre Schulden abzuzahlen, Missbrauch der Kontrollvorrichtungen des Banksystems zur Steigerung der Rentabilitätsraten instabiler Finanzprodukte… In einer Abfolge ›miserabler Alexandriner‹2 lässt dieses Stück, das erstaunlicherweise an die klassische Poetik anknüpft, die Realität der kapitalistischen Krise des Jahres 2008 hervorspringen,3 die Simon Grangeat wiederum, zur selben Zeit, in T.I.N.A. (2011) zu »verstehen« sucht. Mit etwa zwanzig dargestellten Figuren – Der Banker, Der Unternehmensleiter, Der Rating-Agent etc. – blickt dort ein »chœur de comédiens« (»Chor von Schauspielern«) zurück auf die »invention du système« (»Erfindung des Systems«) der Subprime, das allmählich entschlüsselt wird.4 Vielmehr dokumentierend – das Stück ist mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehen – als dokumentarisch, alterniert T.I.N.A. zwischen Erzählung und Kommentar der jüngeren Finanzgeschichte und verschreibt sich in diesem Sinne dem epischen, ja sogar dem didaktischen Theater, das man, so Bérénice Hamidi-Kim, auf der zeitgenössischen Bühne »erneut begrüßt«.5 Trotz radikal unterschiedlicher poetischer Ansätze zeugen beide Stücke von der starken Prägnanz der Krise im französischen Gegenwartsdrama, die, wie man sieht, darauf abzielen, den dominanten Diskursen im medialen und politischen Feld zu widerstehen, indem sie einen GegenDiskurs ermächtigen, zum Beispiel, wenn sie die Verdienste der Verstaatlichung rühmen.6 Denn D’un retournement l’autre und T.I.N.A. gehören zweifellos zu einer – nach Frédéric Lordons Formel – »art-qui-veut-dire« (»Kunst-die-etwas-sagen-will«),7 einer Kunst, die unter anderem die That2 | In einer »Avertissement« (»Vorwarnung«) gesteht F. Lordon ein, dass seine Alexandriner »divers […] mauvais traitements« (»diverse […] Misshandlungen«) erlitten hätten, in: Ders.: D’un retournement l’autre, S. 8. 3 | F. Lordon: »Surréalisation de la crise«, in: Ders.: D’un retournement l’autre, S. 132-133. 4 | Grangeat, Simon: T.I.N.A. – Une brève histoire de la crise, Manuskript des Autors, 2011, S. 4. Uraufführung am Théâtre Théo Argence in Saint Priest am 29. November 2012, unter der Regie von Sébastien Valignat. 5 | Hamidi-Kim, Bérénice: Les Cités du théâtre politique en France depuis 1989 (= Champ théâtral), Montpellier: L’Entretemps 2013, S. 446. 6 | F. Lordon: D’un retournement l’autre, S. 71. 7 | F. Lordon: »Surréalisation de la crise«, S. 130.

Der Krise widerstehen?

cher-Litanei »There is no alternative« 8 als Lüge entlarven will. Es ist dieser Protest gegen »la domination«9 (»die Herrschaft«), in den die Texte von Philippe Malone ab Pasaràn (2000) einstimmen. Philippe Malone, dessen Werk – 10 an der Seite von Lancelot Hamelin, Sylvain Levey et Michel Simonot, mit denen er die Truppe Petrol bildet – zu den anspruchsvollsten im heutigen Feld der französischen dramatischen Literatur gehört, ist jedoch bemüht, die Krise vom thematischen Feld abzuziehen, um sie im ästhetischen Feld einzusetzen, wovon beispielsweise sein Stück Krach zeugt. Das 2013 veröffentlichte Stück besteht aus vier Sequenzen unterschiedlicher Natur. Die erste serielle Sequenz Heiner Müller’schen Einflusses11 entfaltet sich entlang von elf Fragmenten aufsteigender Länge (das erste umfasst eine Zeile, das letzte drei Seiten), die den Kampf zwischen einem Individuum und seiner Umgebung darstellen. Die zweite besteht aus drei Verzeichnissen – »Table des heures«, »Table des semaines«, »Table des années« (»Verzeichnis der Stunden«, »Verzeichnis der Wochen«, »Verzeichnis der Jahre«) –, die »ad nauseam« aufzeichnen, wovon die Existenz des modernen Individuums zeitlich bestimmt wird, von der Geburt (»116 Apprentissage des certitudes« [»1-16 Erwerb der Gewissheiten«]) bis zum Tod (»50-70 fin de l’immortalité« [»50-70 Ende der Unsterblichkeit«]).12Die dritte erzählt den Sturz eines Körpers aus einem dreißigstöckigen Gebäude (»tu/bascules/30ème étage, par la grande baie teintée de la tour de cristal, chutes de ton bureau plein sud« [»du/kippst/30. Stock, par das große getönte Glasfenster des Kristallturms, stürzt aus deinem Büro mit

8 | In seiner akronymischen Form verleiht diese berühmte Formel dem Stück von Simon Grangeat seinen Titel. Vgl. S. Grangeat: T.I.N.A., S. 4. 9 | F. Lordon: »Surréalisation de la crise«, S. 132. 10 | Zu diesem Autor siehe S. Diaz: »Philippe Malone: Portrait«, in: Agôn [online], agon.revues.org/2158 (zuletzt aufgerufen am: 12.10.2017). 11 | P. Malone: »Krach/Le contexte artistique«, www.theatre-contemporain.net/ textes/Krach-Philippe-Malone/playlist/id/A-propos-de-Krach/video/Krachde-Philippe-Malone-Le-contexte-artistique?autostart (zuletzt aufgerufen am: 12.10.2017). 12 | P. Malone: Krach, 2013, S. 43-44.

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Südlage«]):13 Diese Beschreibung, die die Form eines »Lebensberichts«14 annimmt, erhält jedoch Konkurrenz durch den Kommentar einer undeutlichen Stimme, der sich in einer langen, mehr als zwölf Seiten umfassenden Fußnote entfaltet. Die vierte und letzte Sequenz, die in der Gestalt eines Chors (»N’aie pas peur de nous/Nous traverserons le miroir/ débaucherons son reflet/Ternirons l’image« [»Hab keine Angst vor uns/ Wir werden den Spiegel durchdringen/seine Spiegelung ableiten/ das Bild trüben«]) auftritt, verkörpert die Ansprache einer »MULTITUDE« (»Menge«) an einen »SEUL« (»einzelnen«), der aufgefordert wird zu einer nicht mehr nur individuellen, sondern kollektiven Auseinandersetzung.15 Im Gegensatz zu Simon Grangeat und Frédéric Lordon emanzipiert sich Philippe Malone in Krach, einem vielleicht »postdramatischen«16 Stück, entschieden von den klassischen und epischen Poetiken und entwickelt eine Schreibweise, die »nichts gleicht, was man kennt«,17 wie die

13 | Ebd., S. 45-46. 14 | Heulot, Françoise/Losco, Mireille: »Récit de vie«, in: Jean-Pierre Sarrazac (Hg.): Poétique du drame moderne et contemporain – Lexique d’une recherche, Louvain : Centre d’Études théâtrales 2001, S. 102. 15 | P. Malone: Krach, S. 67, S. 71. 16 | In einem Gespräch über die in Krach »angesprochenen Themen« bezeichnet Philippe Malone das Stück zwei Mal als »postdramatisch«. Vgl. Malone, Philippe: »Krach/Les thèmes abordés«: www.theatre-contemporain.net/textes/Krach-Philippe-Malone/playlist/id/A-propos-de-Krach/video/Krach-de-Philippe-MaloneLes-themes-abordes?au​t ostart (zuletzt aufgerufen am: 12.10.2017). Bei einer von Emmanuel Béhague moderierten Begegnung anlässlich des Kolloquiums »La Tyrannie sans visage – Séquelles et effets de la crise à l’écran et sur la scène« (Universität Straßburg, 2015) weigert sich Philippe Malone hingegen, sein Stück als »postdramatisch« zu bezeichnen und bekundet ein gewisses Zögern bezüglich dieses Begriffes, der sich in Frankreich im Zentrum einer regen Debatte im dramaturgischen Feld befindet. Vgl. Insbes. Sarrazac, Jean-Pierre: »La reprise (réponse au postdramatique)«, in: Jean Pierre Sarrazac/Catherine Naugrette (Hg.): La Réinvention du drame (sous l’influence de la scène) (= Études théâtrales 38-39 [2007]), S. 7-18. 17 | Navarro, Mariette: »Krach, de Philippe Malone« (2014), in: Petit oiseau de révolution: http://petit-oiseau-de-revolution.eklablog.com/krach-de-philippe-mal​ one-a112975442 (zuletzt aufgerufen am: 12.10. 2017).

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Autorin Mariette Navarro, der das Werk gewidmet ist,18 schreibt. »Alle Register ziehend« – 19 vor allem jene der amerikanischen Poesie, die eine gewisse »liberté formelle«20(»formale Freiheit«) ermöglicht –, lehnt Philippe Malone es in der Tat ab, »Theater zu schreiben« und bevorzugt »die Poesie: für und durch das Theater«,21 notiert Lancelot Hamelin. In diesem Sinne hebt sich Krach von jenem zuvor zitierten »théâtre de la crise«22 (»Theater der Krise«) ab, zumal das Stück weniger einen alternativen Diskurs denn eine alternative Poetik erarbeitet, die »die Normen stürzt und ausdrücklich fordert, das Theater zu erfinden, das sie tragen wird«.23 Besteht das angemessene Mittel, um der Krise, wie sie sich im politischen Feld entfaltet, zu widerstehen, also darin, diese paradoxerweise im poetischen Feld zu aktivieren? Diese Hypothese wird in erster Linie anhand der Analyse von Krach auf die Probe gestellt, aber auch mittels anderer Stücke von Philippe Malone, wie S & P (2013), das ursprünglich eine eigenständige Sequenz von Krach24 darstellte und ebenfalls von der Krise geprägt ist, wie bereits sein Titel, der eine renommierte Rating-Agentur evoziert, suggeriert.

1. » game over «: zur politischen O hnmacht »Au pied du monument qui [lui] a brisé l’échine« (»Am Fuße des Monuments, das [ihm] das Rückgrat gebrochen hat«), erscheint der Körper, dessen Sturz aus dreißig Stockwerken man zuvor beigewohnt hat, eingewickelt in einem »linceul ocre« (»ockerfarbenen Leichentuch«), »drap[é] 18 | Anzumerken ist, dass Mariette Navarro wiederum ihr erstes Buch, Alors Carcasse (2011), Philippe Malone widmet. Vgl. Navarro, Mariette: Alors Carcasse (= Grands fonds), Le Chambon-sur-Lignon: Cheyne Éditeur 2011. 19 | M. Navarro: »Krach, de Philippe Malone«. 20 | P. Malone: »Krach/Le contexte artistique«. 21 | Hamelin, Lancelot: »Dans la zone avec Malone…«, in: Parages 1 (2016), S. 2737, hier S. 30. 22 | F. Lordon: »Surréalisation de la crise«, S. 133. 23 | M. Navarro: »Krach, de Philippe Malone«. 24 | Vgl. P. Malone: Diskussion, moderiert von Emmanuel Béhague, anlässlich des Kolloquiums »La Tyrannie sans visage – Séquelles et effets de la crise à l’écran et sur la scène« (Universität Straßburg, 2015).

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de journaux sales« (»umhüllt von schmutzigen Zeitungen«), auf denen immer wieder dieselbe Notiz steht: » la crise sur ta panse la crise sur tes flancs […] la crise en lettres de plomb sur ta poitrine osseuse comme marquée au fer rouge« (»die krise auf deiner Wampe die krise auf deinen Flanken […] die krise in Bleilettern auf deiner knochigen Brust wie mit Brenneisen markiert«).25 Als »sentence mortifère«26 (»todbringendes Urteil«), weil Resultat eines Phänomens lexikalischer Konzentration und Verknappung, gehört dieser Begriff – der, trotz seiner semantischen Insolvenz,27 dazu verdammt scheint, für sich allein die moderne Welt auszudrücken –,28 in Krach dem medialen Feld an, das nach Philippe Malone die »phraséologie néo-managériale produite en économie«29 (»in der Wirtschaft produzierte neo-manageriale Phraseologie«) begünstigt. Davon zeugt das »Verzeichnis der Stunden«, das in achtzehn Einträgen detailliert festhält, wie artgerechter Weise der Tagesbeginn eines Individuums, vom Aufwachen um 7h bis zur Ankunft bei der Arbeit um 9h01, aussehen könnte.30 Die ersten sechzehn Einträge, die zwischen zwei Werbeseiten den Verlauf der Naturkatastrophen, Verschiedenes und die Lottoergebnisse herunterleiern, betreffen ausschließlich das morgendlich vernommene Rundfunkprogramm.31 Das Verzeichnis bestimmt den Rhythmus des Lebens des Individuums und trägt, nach der Formel von Charles Robinson, sogar bei zu einer »programmation sociale«32 (»sozialen Programmierung«), die sich zeitlich ausgedehnt im »Verzeichnis der Wochen« und sich im »Verzeichnis der Jahre« wiederfindet. Im Zuge

25 | P. Malone: Krach, S. 54. 26 | Ebd. 27 | Morin, Edgar:»Pour une crisologie«, in: Ders./André Béjin (Hg.) : La Notion de crise (= Communications 25 [1976]), S. 149-163, hier S. 149. 28 | Vgl. Revault d’Allonnes, Myriam: La Crise sans fin – Essai sur l’expérience moderne du temps (= La Couleur des idées), Paris: Éditions du Seuil 2012. 29 | Malone, Philppe: »C’est quoi ce travail ? – Enjeux d’écriture«, in: Bérénice Hamidi-Kim/Armelle Talbot (Hg.) : Scènes du néomanagement, Thaêtre, chantier #1, www.thaetre.com/2016/01/19/cest-quoi-ce-travail-enjeux-decriture/3/(zuletzt aufgerufen am: 12.10.2017). 30 | P. Malone: Krach, S. 39-40. 31 | Ebd. 32 | Robinson, Charles: »Avant-propos«, in: P. Malone: Krach, S. 7.

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ebenso intimer wie kollektiver Vorschriften,33 wohnt der Leser dort, in einer Sprache, die sich um keinerlei formale Gestaltung bemüht, um stattdessen mathematisch aufs Wesentliche zu kommen, in der Tat einer Normalisierung des Individuums bei, für das es im Alter von dreißig Jahren zum Beispiel an der Zeit ist für »début production classes moyennes + mise en couple + mise en chantier enfant n°1«34 (»Anfang Produktion Mittelschichten + Pärchenbildung + Beginn Baustelle Kind Nr.1«). Das Schicksal, das man in diesen Verzeichnissen mit der Planung jeglicher Verpflichtungen eines Tages, eines Jahres oder eines Lebens lesend nachvollzieht, ist zwar individuell, aber dennoch unendlich fortführbar, so dass der Ahn, der in seinem Altersheim einmal im Jahr Besuch von seinen Enkeln bekommt, in ihnen unweigerlich Spiegel sieht, »qui bientôt 1-16 [ans] avaleront les certitudes qui bientôt 16-20 [ans] vomiront les incertitudes qui bientôt etc. etc. etc.«35 (»die bald 1-16 [Jahre] die Gewissheiten schlucken werden, die bald 16-20 [Jahre] die Ungewissheiten erbrechen werden etc. etc. etc.«). Im Kern dieser formatierten Existenz: die Arbeit, wie das »Verzeichnis der Wochen« verdeutlicht: »52 dont 46 produites & 6 chômées«36 (»52, davon 46 produktive & 6 arbeitsfreie«). In der langen Fußnote, die sich gegenüber bzw. unter der Erzählung des Sturzes entfaltet, nimmt dieser die Form eines »danse macabre au ballet équivoque (qui là, maintiendra assis, là, courbera l’échine, ici se fera frénésie, plus loin léthargie, tristesse vitesse stress enthousiasme puis atonie bref arythmie autant que bercement)«37 (»makabren, zweideutigen Balletttanzes [das hier im Sitzen halten, da das Rückgrat krümmen, hier zur Raserei wird, ferner Lethargie, Traurigkeit Geschwindigkeit Stress Enthusiasmus dann Atonie kurz Arhythmie ebenso wie Schwingen]«) an. Dieser stumme Wirbel entfaltet sich in einem Ökosystem, das sich als schützend ausgibt – insofern es »à coups de règlements tatillons, d’appels intempestifs, de procédures variables, de délais tronqués & de courriels contradictoires.«38 (»mittels 33 | P. Malone: Krach, S. 60. 34 | Ebd., S. 43-44. 35 | Ebd., S. 44. Festzuhalten ist, dass das »Verzeichnis der Stunden« mit einer ähnlichen Formulierung schließt, ebd., S. 40. 36 | Ebd., S. 41. 37 | Ebd., S. 51-52. 38 | Ebd., S. 56-57.

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pedantischer Vorschriften, lästiger Anrufe, wechselnder Prozedere, amputierter Fristen & widersprüchlicher EMails«) geordnet wird. Was jedoch alle, »ouvrier-employé-cadre-n+1« (»Arbeiter-Angestellten-Führungskraft-n+1«), im Reigen hält, ist der Glaube an die Notwendigkeit der Arbeit, »la conviction que tous ces gestes bout à bout édifient une tour commune, belle, valorisante, partagée, aux formes lisses & éclatantes«39 (»die Überzeugung, dass all diese Handgriffe aneinandergefügt einen gemeinsamen Turm erbauen, schön, aufwertend, geteilt, mit glatten & glänzenden Formen«). Ein Glaube, der heute erschüttert ist aufgrund der Dysfunktion des Paares Geld/Arbeit,40 die besonders in L’Entretien (2007, dt. Das Gespräch, 2008) inszeniert wird. In der Tat erwidert dort Die Chefin des Unternehmens dem Mädchen, das beim Vorstellungsgespräch erklärt, dass sie nach Geld sucht: »ici nous n’avons que du travail«41 (»wir haben hier nichts als Arbeit«). Nun, »que se passe-t-il lorsque le mythe [de la rémunération par le travail] s’effondre […]?«42(»was passiert, wenn der Mythos [der Bezahlung durch Arbeit] zusammenbricht […]?«). In Krach wie in Blast (2007), das unter anderem die Entlassung der Angestellten der Moulinex-Fabrik zur Sprache bringt, verleiht Philippe Malone diesem Zusammenbruch43 Gestalt durch den Sturz eines agnostischen44 Körpers über dreißig Etagen, ein Sturz – assoziiert mit jenem mythischen des Ikarus –,45 der in S & P noch einmal durchgespielt und dupliziert wird. Zunächst Teil von Krach, konzentrieren sich die fünf Szenen dieses nun autonomen kurzen Stückes auf die im Flug erfassten Figuren Steven, Trader, und Paulus, Arbeiter. Aus der dreißigsten Etage, 39 | Ebd., S. 55-56. 40 | P. Malone: »C’est quoi ce travail ? – Enjeux d’écriture«. 41 | Malone, Philippe: Das Gespräch, in: Scène 11. Neue französische Stücke, hg. v. Barbara Engelhardt, Berlin: Theater der Zeit 2008, S. 118-161, hier S. 136. (deutsche Übersetzung von: Malone, Philippe: L’Entretien [= Espace théâtre], Montpellier: Éditions Espaces 34 2007, S. 28). 42 | P. Malone: »C’est quoi ce travail ? – Enjeux d’écriture«. 43 | Malone, Philippe: Blast, Fontenay-sous-bois: Quartett Éditeurs 2007, S. 6970. Uraufführung im Penta Théâtre in Caen im April 2007, unter Regie von Véronique Dahuron. 44 | P. Malone: Krach, S. 58. 45 | Ebd., S. 57. Zur Verarbeitung dieser Figur siehe auch C. Robinson: »Avantpropos«, S. 8.

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in luxuriöser Umgebung – »bureau plein sud aux stores électroniques […] moquette Hartley’s laine anglaise tartan crème & blanc […] mobilier Stark[sic!] lignes sèches & dures« (»Büro mit Südlage und elektrischen Rollos […] Hartley’s-Spannteppich englische Wolle Tartan-Stoff cremefarben & weiß […] Stark[sic!]-Mobiliar trockene & harte Linien«) –, wo der Trader seines Amtes waltet, »benchmark[ant], capitalis[ant] & emprunt[ant], toujours plus, toujours plus haut, toujours plus fort« (»benchmarkend, kapitalisierend & leihend, immer mehr, immer höher, immer stärker«), fällt dieser mit »epiliertem Oberkörper, breit, offen, gebräunt, moschusduftend, aufgeblasen mit dem Sauerstoff der Gipfel, vorgeschobener Kiefer, bissiges Lächeln, weiße Zähne, zugespitzt wie Businesspläne« (»torse épilé, large, ouvert, bronzé, musqué, gonflé à l’oxygène des cimes, mâchoire prognathe, sourire mordant, dents blanches, effilées comme des business plan«).46 Diese lückenhafte physische Beschreibung verwehrt jegliche bildliche Vorstellung dieses Körpers, der (wie jener von Steven in S & P) allein dadurch »dématerialisé«47 (»dematerialisiert«) ist, und hauptsächlich durch das Accessoire, mit dem er ausgestattet ist – ein schwarzes Smartphone ans Ohr geschraubt – und die Kleidung, die er trägt –  Kenzo-Anzug, Ralph-Lauren-Hemd, Church’s aus Kalbsleder48 charakterisiert wird. In der fünfzehnten Etage jedoch, werden diese Luxuskleidungsstücke eingetauscht gegen einen »pantalon droit discount, [une] chemise sévère discount, [des] chaussures synthétiques discount […] chapelet criard de made in china«49(»geradegeschnittene Discount-Hose, [ein] strenges Discount-Hemd, synthetische Discount-Schuhe […] knalliges Ensemble von made in china«). Mit diesem Kleidungswechsel geht ein Körperwechsel einher, der im Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen, dem spärlichen, spröden Bart, den grauen Wangen50 manifest wird. Dieser glanzlose Körper ist nicht mehr jener erotische des Traders, sondern der eines Vorzeigeangestellten, der, mit neuen Anweisungen des Managements konfrontiert, dazu bewegt wird, »[s]‹affûter, [se] secouer«51(»[sich zu] opti46 | P. Malone: Krach, S. 46. 47 | P. Malone: S & P, S. 79 [Herv. i.O.]. 48 | P. Malone: Krach, S. 47. 49 | Ebd., S. 48. 50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 46-47.

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mieren, [sich] aufzuraffen«). Und im zehnten Stock wird dieses Gespenst sich seinerseits auflösen, um den Abglanz eines Arbeiters52 zum Vorschein kommen zu lassen. »Obsolet« 53 in S & P, überaltert in Krach, wird der Lagerarbeiter nach und nach entfernt, während ihn andere, die ihre Jugend optimieren, in Beschlag nehmen möchten: »t’as reçu ton courrier, une belle lettre bien tapée, pour tout solde, pour trente ans et pour rien, maltraité, sous-traité déstocké […] allez va, dégage on te dit«54 (»du hast dein Schreiben bekommen, einen hübschen Brief schön getippt, für Abschlussrechnung, für dreißig Jahre und für nichts, schlecht behandelt, unterbehandelt, ausgesondert […] Also geh, hau ab, haben wir gesagt«). Liquidiert, erreicht dieser komplexe Körper – insofern als sich in ihm verschiedene Körper ineinander auflösen, im Unterschied zu den klar differenzierbaren in S & P – letztendlich das Erdgeschoß, auf dem er »heurte« (»aufstößt«) wie die anonyme Figur der ersten Sequenz »heurte le mur [qui] ne cédera pas«55 (»gegen die Mauer stößt [, die] nicht weichen wird«). Durch das kämpferische Vokabular, das auf nominaler wie verbaler Ebene kultiviert wird, offenbart die über elf eröffnende Fragmente entfaltete »dramaturgie de l’impact« (»Dramaturgie des Aufpralls«), um den Untertitel von Blast aufzugreifen, die Gewalt eines ungleichen Zusammenstoßes, bei dem das organische Material des Körpers (dieser ist abwechselnd Knochen, Blut, Haut; Phalanx, Finger, Faust; Stirn, Kopf, einfacher Mörtel aus Venen), auf das mineralische Material des Ziegelsteins stößt.56 Trotz der wiederholten Offensive dieses unbestimmten Subjekts, demonstriert die Serie von Fragmenten die Unantastbarkeit dieses Ökosystems – hinter dem jene, die es züchten, in Deckung gehen –, unterstrichen durch die Endgültigkeit der Formulierungen, die die Texte schließen: »ni la marque sur ton front ni les plaies sur tes joues ni l’éclair dans tes yeux ni l’orage par ta bouche armée de crocs taillés n’allègeront/leur triomphe«57 (»weder die Brandmarke auf deiner Stirn, noch die Wunden auf deinen Wangen, noch der Blitz in deinen Augen, noch das Gewitter aus deinem mit spitzen Reißzähnen bewaffneten Mund werden mindern/ 52 | Ebd., S. 48. 53 | P. Malone: S & P, S. 85. 54 | P. Malone: Krach, S. 50 55 | Ebd., S. 15, S. 52. 56 | Ebd., S. 25, S. 29. 57 | Ebd., S. 3.

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ihren Triumph«). Immerwährend zum Scheitern verurteilt, ist dieser bereits aufgelöste Körper – seine Beschreibung erfolgt stets metonymisch – jener der Besiegten – 58 ein unverkennbares Echo auf Benjamins Philosophie –,59 »trop noir[s] […] trop gris […] trop vieux toujours jeune[s] encore femme[s] […] conscient[s] de n’être rien«60 (»zu schwarz […] zu grau […] zu alt immer noch jung noch Frau […] dessen bewusst nichts zu sein«). In der Fußnote als Kapitulation oder Suizid gedeutet,61 unterstreichen dieser Zusammenstoß wie der Sturz, obwohl sie von Emanzipationsbestrebungen zeugen, die Demonstration der politischen »impuissance62 (»Ohnmacht«) des Individuums, einem Diskurs – darauf verweist die Verwendung von Majuskeln – folgend, der darauf abzielt, eine auf Arbeit gegründete soziale Ordnung erneut zu bestätigen. Dieser Diskurs wird im medialen Feld fortgesetzt, wie das »Verzeichnis der Stunden« beweist, das für 7h08 folgende Pressemitteilung verzeichnet, in der die ThatcherLitanei nachhallt: »crise balance commerce extérieur déficit public grèves restrictions budgétaires impossible de faire autrement il en va de notre responsabilité blabla gel des salaires etc.«63 (»Krise Bilanz Außenhandel Haushaltsdefizit Streik Budgetkürzungen unmöglich anders zu handeln es liegt in unserer Verantwortung blabla Einfrieren der Löhne etc.«). »Game over.«64

58 | Malone, Philippe: »Comment écrire politiquement du théâtre – Sur Delta Charlie Delta, de Michel Simonot«, in: Théâtre public 226 (2017), S. 113. 59 | Vgl. Mosès, Stéphane: L’Ange de l’histoire – Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Paris: Éditions du Seuil 1992 (= La Couleur des idées), S. 159. 60 | P. Malone: Krach, S. 35. 61 | Ebd., S. 57-58. 62 | P. Malone: Das Gespräch, S. 152. Der Begriff wird, in Minuskeln, ebenfalls aufgegriffen in: Krach, S. 39. Siehe dazu auch C. Robinson: »Avant-propos«, S. 6. 63 | P. Malone: Krach, S. 39. 64 | Ebd., S. 52.

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2. » ondemassemarte aumufflere volveronde « (» wellemassehammermuffelre volverwelle «): zur poe tischen M acht Insofern spielerisch, als sie zum Neuanfang ermutigt – » Game over, retour case départ« (»Game over, zurück auf Start«) –,65 will die Formel eine Niederlage besiegeln, die dennoch unmittelbar widerlegt wird. Denn selbst gebrochen, sehnt sich dieser Körper, der sich als Würgeengel mit kannibalischem Lächeln träumt, nach Rache: Das Bild von Flugzeugen, die den Himmel durchlöchern – eine mit den New Yorker Anschlägen des Jahres 2011 assoziierte Ikonografie – herauf beschwörend, stellt er sich vor, wie er die soziale Pyramide umstürzt, an deren Fuße er aufgeschlagen ist und, »[d’]insulter d’homme à homme tous les étages Kenzo, tous les niveaux Church de la tour brisée«66 (»von Mann zu Mann, alle Kenzo-Etagen, alle Church’s-Ebenen des zerbrochenen Turms zu beschimpfen«). Kann diese träumerische Rache dennoch mehr als eine symbolische sein – »ta revanche pisser comme on attaque comme on vise & comme on biffe tu, baisses ton froc lèves ton sexe […] puis riant presque gai déjà fou te répands conquérant«67 (»deine Rache pissen wie man attackiert wie man abzielt & wie man ausradiert du, lässt deinen Schlüpfer herunter erhebst dein Geschlecht […] dann lachend fast fröhlich schon verrückt lässt dich aus eroberungslustig«)? Weit davon entfernt, diesen Zweifel zu bestätigen, widerspricht diesem die später erwähnte Ohnmacht, weil sie es auf paradoxe Weise ermöglicht, an einen früheren Zustand des kämpfenden Körpers anzuknüpfen, die Erinnerung an den aufrechten Körper wiederzubeleben, »lorsque tu avais un poids et que ce poids loin d’asseoir élevait lorsque prenant appui du haut de ta colère tu brandissais ton poing repoussais les nuages pétrissais le ciel modelais des soleils«68 (»als du ein gewicht hattest und dieses gewicht statt sich zu setzen sich erhob als du dich auf den gipfel deiner wut stützend deine faust 65 | Ebd. 66 | Ebd., S. 53-54. Die New Yorker Attentate, Auslöser für das Entstehen von Septembres, dessen Umschlag eine Luftaufnahme des Ground zero zeigt, werden in Blast ebenfalls erwähnt. 67 | Ebd. 68 | Ebd., S. 33.

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emporschwangst die wolken wegschobst den himmel knetetest sonnen formtest«). Von der Brise getragen, hebt dieser Körper tatsächlich »légèrement, presque imperceptiblement«69 (»leicht, beinahe unmerklich ab«). Und der leichte Anstieg verwandelt sich in die Himmelfahrt des Verdammten, der entlang des Turmes, von dem er gerade gestürzt ist, auffährt – einer »Umkehrungstechnik« 70 folgend, die von Edward Bond, mit dem Philippe Malone vertraut ist,71 sehr geschätzt wird: tu t’envoles […] tu montes, concentré à ton élévation, défies la tour, dans ta bouche son écho, premier étage, elle t’observe, enfler jusqu’au second, gravir jusqu’au 5ème, jusqu’au 10ème enfler jusqu’au 20ème, amas de peaux mortes contre son éternelle jeunesse, 25ème, 26ème, tu y es presque, tu es fier, 27ème, un winner, 28ème, plus que deux, 30ème le saint des saints alleluia un battant un demi-dieu, tu exultes […], face à toi la tour, presque laide plus si grande, si mesquine vue d’en haut, […] plus si grande plus si forte, tu la surplombes.72

69 | Ebd., S. 55. 70 | Sarrazac, Jean-Pierre: »Résurgences de l’expressionnisme – Kroetz, Koltès, Bond«, in: Actualité du théâtre expressionniste, Études théâtrales 7 (1995), S. 150. 71 | Malone, Philippe: »Une œuvre littéraire mais fondamentalement théâtrale« (2012), Gespräch mit Sylvain Diaz, in: Agôn [online], http://agon.ens-lyon.fr/in​ dex.php?id=2211 (zuletzt aufgerufen am: 12.10.2017). 72 | P. Malone: Krach, S. 56-57: »du setzt zum Höhenflug an […] du steigst auf, konzentriert auf deinen Aufstieg, trotzt dem Turm, sein Echo in deinem Mund, erster Stock, er beobachtet dich, anschwellen bis zum zweiten, emporsteigen bis zum fünften, bis zum 10., anschwellen bis zum 20., Haufen abgestorbener Haut gegen seine ewige Jugend, 25., 26., du hast es fast geschafft, du bist stolz, 27., ein Winner, 28., nur noch zwei, 30. der heilige der heiligen halleluja ein Draufgänger ein Halbgott, du jauchzt […], dir gegenüber der Turm, fast hässlich nicht mehr so groß, so schäbig von oben betrachtet, […] nicht mehr so groß nicht mehr so stark, du überragst ihn.«

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Wenn das Erwachen, das auf die Szene folgt, deren traumhaften Charakter bestätigt, birgt es nicht weniger eine Offenbarung: »ouvres les yeux, le savais, ne voulais pas le croire mais le sais désormais […] il n’y a pas de catastrophe naturelle […] seule la chute est naturelle« 73 (»öffnest die Augen, wusstest es, wolltest es nicht wahrhaben, weißt es aber jetzt […] es gibt keine Naturkatastrophe […] nur der Sturz ist natürlich«). Ist diese Formel nur schwer nachvollziehbar, eröffnet sich deren Sinn bei der Lektüre von S & P: Dort wird Stevens Sturz, der als »postmodern« bezeichnet wird – da er sich in einer aufgehobenen Raum-Zeit entfaltet – dem Sturz von Paulus gegenübergestellt, der fundamental historisch ist, zumal er mit einem durch das Gewicht der Ursachen und Wirkungen erschwerten Körper verbunden ist: »Paulus choit comme on verrouille un raisonnement, avec le soin méticuleux de l’historien besogneux. […] Paulus croit encore que son corps a un poids, & que c’est lui qui l’entraîne dans le mouvement de l’histoire« 74 (»Paulus fällt wie man eine Überlegung unanfechtbar macht, mit der akribischen Sorgfalt eines armseligen Historikers. […] Paulus glaubt noch, dass sein Körper ein Gewicht hat & dass er es ist, der ihn in den Gang der Geschichte mitreißt«). Es rührt also daher, dass der Sturz in Krach historisch ist und nicht postmodern, dass er hier als »natürlich« und nicht als »virtuell« bezeichnet werden kann – was ihn, nach einer »téléologie de l’impact« (»Teleologie des Aufpralls«), »leste de sens« (»mit Sinn beschwert«) und ihm eine politische Tragweite zuspricht.75 Ebensowenig wie der Zusammenstoß, selbst im wiederholten Scheitern, Kapitulation ist, ist der Sturz also Suizid, trotz des in der Fußnote formulierten Kommentars, der darin lediglich eine »gesticulation vaine« 76 (»vergebliche Gestikulation«) sieht. Im Gegenteil. Als reine Geschwindigkeit verkörpert der Sturz, ebenso wie der Aufstieg, der dessen umgekehrte Wiederholung darstellt, nach Charles Robinson eine Bewegung, die mit der »sozialen Trägheit« 77 bricht. Als solche spaltet er die Welt entlang einer paradigmatischen 78 Achse – wie in Blast deutlich hervorgehoben wird –, d.h. er stürzt sie in die Krise, erinnern wir uns daran, dass der griechische Begriff Krisis unter anderem den Akt des 73 | Ebd., S. 57-58. 74 | P. Malone: S & P, S. 79-80. 75 | Ebd. 76 | P. Malone: Krach, S. 59. 77 | C. Robinson: »Avant-propos«, S. 6-7. 78 | P. Malone: Blast, S. 43.

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Trennens bezeichnet. Mehr als nur Objekt eines Diskurses, ist die Krise also in Krach – das vielleicht dem »materialistischen Theater«,79 auf das sich Frédéric Lordon beruft, zugerechnet werden könnte, insofern als es der Benjamin’schen Forderung, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« 80 Folge leistet – ein poetisches Unterfangen, das die dramatische Form erschüttert und die Sprache durcheinanderbringt. Wie es auch Septembres (2009, dt. Septembren, 2011 81), das in einem einzigen langen Satz die Wege eines Kindes durch eine Ruinenstadt nachzeichnet, verdeutlicht, reiht sich das Theater von Philippe Malone mit seiner eigenwilligen typografischen Konfiguration – so präsentieren sich die Seiten von L’Entretien wie eine »Partitur«, in der sich, durch Effekte der Textkomposition (in geraden, kursiven oder grau unterlegten Lettern), unterschiedliche Stimmen manifestieren – »vollends ein in eine poetische Strömung und verbindet das dramatische Schreiben mit der mündlichen Tradition«,82 schreibt Sandrine Le Pors. Davon zeugt in Krach insbesondere die Skansion, von der ausgehend sich die erste Sequenz des Stückes konstruiert, jedes der elf Fragmente wiederholt das eröffnende Fragment, indem es dieses in unterschiedlichen Formen variiert: »que tu craches ou heurtes le mur ne cédera pas«, »que tu craches ou heurtes la brique ne cassera pas«, »que tu craches heurtes ou saignes le poing lors de l’impact reste sourd la certitude fossile l’étincelle froide/son fracas/lointain« 83 (»ob du spuckst oder dagegen stößt die Mauer wird nicht weichen«, »ob du 79 | F. Lordon: »Surréalisation de la crise«, S. 134. Das »materialistische Theater« wird dort definiert als ein »théâtre […] de la surface, des forces et de l’extériorité« (»Theater […] der Oberfläche, der Kräfte und der Äußerlichkeit«). 80 | Benjamin, Walter: »Geschichtsphilosophische Thesen«, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1961, S. 276. 81 | Überseztung von Kristin Schulz anlässlich des Festivals »Nouveaux auteurs # 8/Woche des französischen Theaters« am Thalia Theater Halle. 82 | Le Pors, Sandrine: »Le théâtre ou la possibilité du poème: lyricisation du drame et espaces phonés dans Vivre dans le secret de Jon Fosse et Septembres de Philippe Malone«, in: Eliane Beaufils (Hg.): Quand la scène fait appel – Le théâtre contemporain et le poétique, Paris: L’Harmattan 2014 (= Perspectives transculturelles), S. 39-54, hier S. 42. Vgl. auch Simonot, Michel: »L’Écriture d’une théâtralité – À propos de Septembres de Philippe Malone«, in: Philippe Malone: Septembres, Saint-Gély-du-Fesc: Éditions Espaces 34 2009 (= Espaces théâtre), S. 57. 83 | P. Malone: Krach, S. 15-19.

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spuckst oder dagegen stößt, der Ziegelstein wird nicht zerbrechen«, »ob du spuckst dagegen stößt oder blutest die Faust beim Aufprall bleibt taub die Gewissheit Fossil kalter Funken/sein Krachen/entfernt«). Diese Fragmente zeugen, wie auch die nachfolgenden, von einer »verkehrten Sprache«,84 die zweifelhafte Oxymora (kann ein »Funken« »kalt« genannt werden?), lexikalische Fremdartigkeiten (»l’os s’aveugle à ses fractures« [»der Knochen erblindet an seinen Frakturen«]), zerlegte Redewendungen (»les lambris [»Paneelbretter«] de ta chair« statt der zu erwartenden und erst später genannten »lambeaux« [»Fetzen«]), versammelt.85 Entlassen vor lauter poetischer Ausgelassenheit, ist der asyntaktische und interpunktionsfreie Gestus in Krach weniger signifikant denn suggestiv, was, durch die Verweigerung jeglicher semantischen Evidenz, die Kommunikation, auf die man die Sprache reduzieren will, fundamental beeinträchtigt.86 Die sprachlichen Elemente der Herrschaft, die noch den Anspruch als solche erheben, werden nicht verschont, wie die vierfache Wiederholung desselben Diskurses am Ende der dritten Sequenz illustriert: le pays doit conserver le cap qu’il s’est fixé en matière de de réduction de son déficit public […] le pas doit cnservr le cp qu’il s’est fixé en mtière de rédction de sn défcit pblic […] le ps dot cnsrvr le cp qu’l s’est fxé en mtire de rédction de sn défct pblic […] l ps dt cnsrvr le cp qu’l s’st fx n mtre de rdction de sn dfct pblc […] l ps dt cnsrvr l cp q’l s’st fx n mtr de rdctn d sn dfct pblc. 87 84 | Simonot, Michel: La Langue retournée de la culture, Romainville: Éditions Excès 2017. Der Autor denunziert dort die »Neusprech […] des Neoliberalismus, Experte auf dem Gebiet der Erfindung und des Umschlagens bzw. Unterschlagens von Wörtern, um ihre Werte zu destillieren und zu naturalisieren«, ebd., S. 11. In Krach verkehrt P. Malone also diese verkehrte Sprache. 85 | P. Malone: Krach, S. 21, S. 23, S. 52. 86 | P. Malone: »C’est quoi ce travail ? – Enjeux d’écriture«. 87 | P. Malone: Krach, S. 58-60: »das Land muss den Kurs beibehalten, den es sich in Sachen Reduktion des Haushaltsdefizits gesetzt hat […] das Lad muss de Krs bibehlte de es sich i Sche Redktion des Hashltsdefzits gestzt hat […] das Ld mus de Ks bbhelt de es sch in Sche Rdktion ds Hshtsdefzt gstzt ht […] d Ld ms d Ks bbhlt de s sch i She Rdkton ds Hstsdfzt gszt h […] d Ld ms d Ks bhlt d s sh i Sh Rdktn d Htdfzt gt h.« Der Satz stammt aus einer am 18. Januar 2013 gehaltenen Rede des damaligen französischen Wirtschaftsministers Pierre Moscovici, die von

Der Krise widerstehen?

Das progressive Entstellen des Textes, markiert durch das Verschwinden der Vokale, zeugt von einer methodischen Dekonstruktion der Sprache, die Philippe Malone aus ihren liberalen Aporien »déconditionn[er]« (»entkonditionieren«) will, und zwar mit der Edward Bond entlehnten Begründung, dass »on ne combat pas le capitalisme avec les mots du capitalisme« 88 (»man den Kapitalismus nicht mit den Worten des Kapitalismus bekämpft«). In dieser Schlacht verkörpert der Mund, mehr als die Faust oder der Kopf, die kampfentscheidende Waffe, denn »tour à tour appel morsure ordre continûment houle & rage bientôt déchirement cri« (»abwechselnd Ruf Biss Befehl kontinuierlich Schwall & Wut bald Zerfleischung Schrei«), bereitet sie einem verbalen Kugelhagel den Weg: »ondemassemarteaumufflerevolveronde« (»wellemassehammermuffelrevolverwelle«). So wird das Wort bei Philippe Malone zur »Granate«, herauf beschworen, um den neoliberalen Neusprech zu zerstören, von dem lediglich zerstückelte Konsonanten89 übrigbleiben. Sowohl intellektuell – die vom Text kultivierten lexikalischen Fremdartigkeiten zwingen zu Aufmerksamkeit und Neuentdeckung – wie sensoriell – die Sprache beansprucht wiederkehrend, in einem stellenweise synästhetischen Zugang, den Tast-, Hör- und Sehsinn – stimulierend, »verwundert« diese Schreibweise »den in seiner Epoche wie in einer Nacht schlummernden Leser«, bemerkt Lancelot Hamelin; »wie einen Blitzschlag« trifft sie den »Blinden, der sich nicht in Bewegung gesetzt hat, in der Nacht, die am helllichten Tag unserer finsteren Epoche herrscht«.90 Dies verweist auf die gesteigerte poetische Macht des »blitzartigen Schreibens«91 des tatsächlich auch Fotografen Philippe Malone, der ein gewaltiges Erdbeben produziert. Nach Art der von Roland Barthes untersuchten Brecht’schen Diskursivität hat dieses Schreiben seinen Urunterschiedlichen Medien wiedergegeben wurde. Vgl. u.a. Angrand, Marc/Halpin, Padraic/Vey, Jean-Baptiste: »Pour Moscovici, la France doit garder le cap sur les déficits« (2013), in: Challenges, https://www.challenges.fr/entreprise/pour-mo​ scovici-la-france-doit-garder-le-cap-sur-les-deficits_232731 (zuletzt aufgerufen am: 12. 10. 2017). 88 | P. Malone: »C’est quoi ce travail ? – Enjeux d’écriture«. 89 | P. Malone: Krach, S. 27. Vgl. M. Simonot : La Langue retournée de la culture, S. 11. 90 | L. Hamelin, »Dans la zone avec Malone…«, S. 26. 91 | Ebd.

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sprung in der Tat weniger in einer Semiologie als in einer »Seismologie«, darin, dass es »die ausgewogene Masse der Worte erschütter[t], die Decke aufreiß[t], die Verknüpfungsfolge der Sätze auseinanderbring[t], die Strukturen der Sprache zerbr[icht]« – insofern als sie »eine Krise einleitet«, die zur Erfindung einer anderen Sprache zwingt, und damit auch zum erneuten Entwurf unserer Beziehung zur Welt.92 Sich nicht widerstandslos der Ohnmacht hingebend, fördert dieses Schreiben dennoch keinerlei politische Macht, unterstützt aber ein kollektives »Vermögen«93 im Appel, der in der letzten Sequenz des Stückes – einer »Hommage«94 an Nous les vagues95 von Mariette Navarro – Form annimmt im Plädoyer für eine Auseinandersetzung, die keine individuelle mehr sein kann: »ne chercherons désormais plus d’apaisement plus de certitude sommes lisses serons lances sommes sucre serons sel […] serons tout mais que tu que tu craches hurles & cognes […] jamais n’ébranlera/seul«96(»suchen wir nunmehr keine Beruhigung keine Gewissheit mehr sind glatt werden Lanzen sein sind Zucker werden Salz sein […] werden alles sein aber ob du ob du spuckst schreist & schlägst […] niemals erschüttern/allein«). Aus dem Französischen übersetzt von Marie Bugelnig

92 | Barthes, Roland: »Brecht und der Diskurs. Beitrag zu einer Untersuchung der Diskursivität« [1975], in: Ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 241-251, hier S. 242. 93 | Neveux, Olivier: Politiques du spectateur – Les enjeux du théâtre politique aujourd’hui, Paris: La Découverte 2013, S. 153-157. 94 | Malone, Philippe: Diskussion anlässlich des Kolloquiums »La Tyrannie sans visage – Séquelles et effets de la crise à l’écran et sur la scène« (Universität Straßburg, 2015). Zu diesem bedeutenden Stück des zeitgenössischen französischen Repertoires, das 2012 zu den Finalisten des Grand Prix de littérature dramatique zählte, vgl. Diaz, Sylvain: »De quelle(s) révolution(s) Nous les vagues est-elle le nom ?«, in: Lisa Guez/Martial Poirson (Hg.) : Révolution(s) en actes (= Revue d’Histoire du Théâtre IV/268), 2015, S. 561-572. 95 | Navarro, Mariette, Nous les vagues, Fontenay-sous-bois: Quartett Éditeurs 2013. Deutsche Übersetzung: Wir Wellen, Berlin: Matthes &Seitz 2014. 96 | P. Malone: Krach, S. 71.

Literatur als – letzte – Form des Widerstands? Jürgen Wertheimer

W iderstand heute ? W ogegen ? W ie ? Vor dreißig Jahren war die Welt noch in Ordnung. Jedenfalls wusste man, wofür und wogegen man zu kämpfen hatte. Und gegen wen! Es gab Achsen – Achsen des Guten und des Bösen. Rechts oder Links. Wer heutzutage etwa gegen den »Kapitalismus« auf die Barrikaden ginge, stünde vor einem echten Problem. Wer verkörpert ihn? Wo verlaufen die Grenzen? Wie will man ein elaboriertes übermächtiges System wirklich effizient bekämpfen, ohne wie Don Quichote gegen Windmühlen anzureiten? Die Literatur spiegelt diese dramatische Veränderung der Koordinaten aufs Genaueste wider. Vorbei die Zeiten der engagierten Autoren und Autorinnen, eines Erich Fried, Günther Grass, Heinrich Böll, einer Christa Wolf. Wo die eindeutigen Angriffsflächen fehlen, kann es keine griffige oder ergreifende moralische Entrüstung mehr geben – selbst die Gefechte des politischen Kabaretts nehmen sich weit mehr als lustvoll zelebrierte Ersatzhandlungen aus denn als wirkliche Angriffe, die von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind. Die gelegentlich aufflammenden Proteste auf der Straße (etwa im Zusammenhang mit dem G20 Gipfel in Hamburg) sind rabiate Versuche, zumindest gehört und ernst genommen zu werden – in einer Zeit, in der jeder friedliche Protest letztlich wirkungslos verpufft oder vom System absorbiert wird. Gegenbeispiele aus rand- oder außereuropäischen Bereichen lassen freilich erkennen, dass konsequenter Widerstand, ja sogar Umsturz ganzer Systeme auch heute noch möglich ist. Wer materiell nichts oder wenig zu riskieren hat, ist nach wie vor zum Aufstand bereit; steht man mit dem Rücken zur Wand, erhöht sich die Risiko- und Kampf bereitschaft enorm.

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Zwischen Skrupeln, Überreflektiertheit, Bequemlichkeit und Wohlstandsgewohnheit richtet man sich jedoch ganz komfortabel ein und begnügt sich weitgehend mit unverbindlichen Gesten der Betroffenheit (»Je suis Charlie«) oder des guten Willens (#pulseofeurope). Wie kann man so vermessen oder blauäugig sein, in einer solchen Situation überhaupt noch an die gute alte Kampfparole des Widerstands zu denken? Und gibt es, gäbe es überhaupt eine Ästhetik, Ethik oder Strategie des Widerstands in Zeiten der allenfalls »kleinen Wut«, um mit Brechts Mutter Courage zu sprechen? Man mag über meine Antwort erstaunt sein, sie als naiv oder idealistisch-verblasen abtun, dennoch: vielleicht kommt die Rettung in dieser Situation von gänzlich unerwarteter Seite – der der Literatur. Denn es ist nicht die Philosophie und noch weit weniger die Religion, es sind nicht die großen Lehrer der Moral oder die Theoretiker der Kulturwissenschaften, die den Fundamentalisten und Dogmatikern jeder Couleur den entschiedensten Widerstand entgegensetzen, es ist: die LITERATUR. Sie und nur sie, die oft als weltfremd, abgehoben, textsüchtig diffamierte Literatur ist es, die den Systemen der Macht an die Wurzel geht. Nicht um sie zu legitimieren soll hier von ihr die Rede sein, sondern um sie zu sich zu bringen. Nicht um sie zu verteidigen, sondern sie zum Angriff zu bewegen. Nicht um ihre Ohnmacht zu beklagen, sondern sie zu dem zu ›ermächtigen‹, wozu sie fähig ist. Und sie ist zu vielem fähig, sonst hätte man sie nicht seit 500 Jahren zensiert, indiziert, verfolgt, verboten oder verbrannt. Ganz offenbar hat sie genau das an sich, was Manipulatoren und Meinungsvergewaltiger am meisten fürchten. Zu Recht fürchten. Ob Mullahs oder Marxisten, Faschisten oder Technokraten – sie alle wittern Gefahr, wenn die Literatur ihre Register zieht und sagt, was nur sie sagen kann, was nur sie so sagen kann. Dabei geht es in der Regel eben gerade nicht um ein Engagement im ideologischen Sinn, nicht um Parteinahme von Autorinnen und Autoren für diese oder jene Richtung, Farbe, Partei. Es geht in der Tat nicht primär um Politik, sondern um Poesie. Nicht um Ethik, sondern Ästhetik. Nicht um den Gestus der Anklage, sondern den der Verweigerung. Einer grundsätzlichen Verweigerung gegenüber vorgegebenen, über das Leben von Menschen verfügenden Zugriffen und Zumutungen. Und alles, was Systeme im Namen von Ideologien mit Individuen anstellen, sind Zumutungen. Oft genug solche mit tödlichen Konsequenzen. Jahre danach fällt der Literatur dann häufig die ehrenvolle, aber à la longue wenig befriedigende Rolle der Aufarbeitung jener Schrecken zu, die

Literatur als – let zte – Form des Widerstands?

diejenigen verursachten, die zuvor nicht nur die Literatur verfolgten. Jahrzehnte später erzählt man akribisch vom Anfang des Endes, vom Ende des Anfangs. Erzählt, wann und wie man hätte reagieren können, sollen, müssen, um zu verhindern, dass es wenigen gelang, viele um ihr Leben zu bringen physisch oder psychisch. Peter Weiss’ monumentale Prosaepopöe der Ästhetik des Widerstands ist hier als Markstein zu nennen. Literatur als Dokumentationsstelle, um Spurensuche zu betreiben und anonymen Opfern eine Stimme zu geben – dies ist sicher eine wichtige Funktion von Literatur. Zu zeigen, wie mit Sprache gezündelt wurde, um damit Menschen in Brand zu setzen – wer würde an der Wichtigkeit dieser Mission zweifeln? Und doch stellt sich bei dieser Art der poetischen Vergangenheitsbewältigung ein schales Gefühl der Ohnmacht und der Tristesse ein. Ein Gefühl, das man ehren kann, aber an das man sich nicht gewöhnen sollte. Immer zu spät zu kommen oder zu früh zu warnen – Celan zu sein oder als Cassandra ungehört zu bleiben, das entspricht nicht dem Auftrag und den Möglichkeiten der Literatur. Ein exzellentes Beispiel hierfür ist Kafka. Kafka ist gefährlich. Die Chefideologen der Kommunistischen Parteien hatten aus ihrer Sicht Recht, ihn zu verbieten. Obwohl die Erzählungen Kafkas geradezu exemplarisch zeigen, wie sich Systeme des Einzelnen bemächtigen und ihn in die Defensive drängen, scheint etwas definitiv politisch Zersetzendes in seinen Texten zu liegen. Obwohl in seinen Geschichten kaum oder nie die Rede von Politik ist, sind sie ein einziger Sturmlauf gegen die abstrusen Zumutungen politischer und technokratischer Systeme. Sein erzählerischer Trick: das jeweils betroffene Individuum wehrt sich nicht etwa, sondern unterwirft sich freiwillig den selbstzerstörerischen Regularien, ja tritt gelegentlich in einen geradezu irrwitzigen Wettlauf mit ihnen. Der Protagonist in Der Prozess hilft bei der Erfindung seiner »Schuld« ebenso beflissen mit, wie Gregor Samsa seine Exterminierung geradezu liebevoll-sachlich begleitet. Ob Prozess oder Verwandlung, Schloss oder Amerika, stets wird die Leserin oder der Leser zum Zeugen eines absurden Selbstdemütigungsprozesses von bisweilen grotesker Komik. Und es ist sicher mehr als eine Anekdote, wenn Kafka selbst immer wieder von den schreiend komischen Leseabenden im Kreis seiner Freunde berichtet. Alles andere als mystisch grundierte Weihestunden. Kafka ohne religiöses Beiwerk – das ist ein Fanal gegen Entmündigung und metaphysischen Trost, gegen den Systemterror der kleinen Schritte und gegen das Gift der langsam einsickernden Gleichmacherei. Seine Strichmännchen, mögen sie nun K oder F heißen, zeigen

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modellhaft und auf jedermann übertragbar, dass Konformismus nicht nur feige, sondern auch kontraproduktiv ist. Wer mitmacht, hat verloren. Wer – rechtzeitig – aussteigt, hat eine minimale Chance auf ein geglücktes Weiterleben. Kafka selbst ist ein brillantes Beispiel. Er und seine Texte haben alle Schulen der Diktaturen, alle Gehirnwäscheanstalten überlebt! Weltweit! Als ein anderes Beispiel für eine ästhetische, literarische Widerstandshaltung jenseits des Moralischen, Ideologischen und der Parteinahme ist Georg Büchner zu nennen. Als einer, der den Dingen an die Wurzel, auf den Grund geht und der dort nachgräbt, wo der Hund begraben liegt. Der Hund heißt Woyzeck. Er heißt auch Danton, und Robespierre, heißt, kann auch heißen le peuple, la vertu, sogar den Namen der Republik kann er tragen: »Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden«, ruft der junge Revolutionär Mercier in Dantons Tod den Protagonisten der Gesinnungsschlachten zu, bevor man seine Stimme im Namen der Republik zum Schweigen bringt.1 In einer Zeit der permanenten revolutionären, konterrevolutionären und restaurativen Gesinnungsmanifestationen um 1830 hält ein junger Mann der Welt einen Spiegel vor und – die Welt schaut weg, tut so, als ginge sie das alles nichts an, als sei sie nicht gemeint. Doch sie ist gemeint. Denn auch die Ideologie der Aufklärung ist Ideologie, die der aus ihr erwachsenden Revolution noch sehr viel mehr. Büchner geht der Gefahr des Systemdenkens auch im Sinn einer im Ursprung positiv intendierten Normierung nach. Die Aufklärung im Zeitalter ihrer Selbstreflexion – in Büchners Dantons Tod kann man lernen, wie und wie schnell Ideale zu Ideen, Ideen zu Dogmen, Dogmen zu Todesurteilen mutieren. Man könnte, kann lernen, dass die Bildung von Parteien und Fraktionen nur eine Ausdifferenzierung der Macht darstellt, dass Gut und Böse im Politischen nur Vorspiegelungen sind und dass auch das ›brave, gute Volk‹ nur eine ideologische Worthülse im Richtungsstreit darstellt. »Volonté Générale«, die vielleicht gefährlichste Waffe im Dienst der selbsternannten Vollstrecker einer Gerechtigkeit, ihrer Gerechtigkeit. Büchner-Lektüre richtig betrieben ist angewandte Aufklärung der Masse über sich selbst. Literatur bringt wie kein zweites Medium gesellschaftliche Entwicklungen, Fehlentwicklungen, Entwicklungs- und Einwicklungsverfahren 1 | Büchner, Georg: Dantons Tod, in: Ders.: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 67-133, hier S. 110.

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nicht nur auf Begriffe, sondern auch zur Kenntlichkeit. Und nicht nur das, sie ist Expertin für Zwischentöne, Ambiguitäten und Ambivalenzen. Ein Grund, weshalb man sie nicht umgehen kann und weshalb sie fasziniert. Aus genau demselben Grund freilich ist ihre politische Reichweite begrenzt. Nicht, dass die Leute an den Schalthebeln der Macht für Literatur unempfänglich wären – im Gegenteil, da ist kaum einer oder eine, die nicht instinktiv spüren würde, dass Literatur die Geschlossenheit ihrer anti-ambivalenten Systeme gefährden könnte und wenn irgend möglich auf Distanz geht. In seinen Bemerkungen über den Propheten im Westöstlichen Divan zeigt Goethe auf ebenso elegante wie subversive Art, dass diese »Ängste« nicht unbegründet sind. Er unterscheidet dabei zwischen der Rolle des Propheten und des Poeten Mahomet und zieht dabei eine scharfe Linie, die nichts an Aktualität eingebüßt hat: Der Poet vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuss, um Genuss hervorzubringen […]. Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf den einen einzigen bestimmten Zweck; Solchen zu erlangen, bedient er sich der einfachsten Mittel. Irgendeine Lehre will er verkünden und, wie um eine Standarte, durch sie und um sie die Völker versammeln. Hierzu bedarf es nur, dass die Welt glaube, er muss also eintönig werden und bleiben, denn das Mannigfaltige glaubt man nicht. 2

Man könnte die Differenz im Kern kaum treffender darstellen: Die Literatur verfolgt in der Tat keine Absicht, aber zweckfrei ist sie deshalb beileibe nicht. Sie bietet keine Lösungen, vor allem keine Erlösungen (aber auch keine Verdammungen) an. Sie stellt stattdessen Fragen, ohne Antworten zu geben. Weil sie keine Antworten gibt, gibt sie jedem die Chance, s e i n e Antwort zu suchen, vielleicht auch zu finden. Sie will auf nichts hinaus. Und genau das ist ihre Stärke. Sie bevorzugt offene, häufig auch unbefriedigende Enden, statt ein glattes, lebensfernes, verführerisch-suggestives Konstrukt aus Hoffnung und Lüge anzukleben. Und sie stellt sich der Komplexität, Ambiguität, Doppeldeutigkeit und Ambivalenz der alltäglichen Wirklichkeit, statt sie mit moralischen, religiösen oder weltanschaulichen Wunschvorstellungen zu verkleistern. 2 | Goethe, Johann W.: Der West-östliche Divan, hg. v. Hendrik Birus, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2010, S. 157.

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Selbstverständlich gehört dazu auch der Versuch einer literarischen Entschärfung religiöser, ›heiliger‹ Texte mit Absolutheitsanspruch. Die großen religiösen Schriften, Altes Testament, Neues Testament und Koran sind nicht weniger ›wahr‹ als die Ilias oder die Odyssee – allesamt fantastische semifiktionale Narrative, die weit vor unserer Zeit zu je spezifischen Zwecken und aus sehr spezifischen gesellschaftlichen Konditionen entstanden. Obwohl nichts dafürspricht, sie ernster zu nehmen als irgendwelche anderen antiken Mythen, gelang es ihnen, den Charakter Heiliger Texte zu erlangen und so bis heute nahezu unangreif bar, unverwundbar zu werden. Aus Dichtung wurde und wird Wirklichkeit, die irrwitziger Weise das individuelle Leben von Millionen bis heute ins Intimste regelt. Nietzsche spricht in seinem brillanten Essay Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne davon, dass wir in Domen aus Begriffen lebten, deren Ursprung in unserem eigenen Kopf wir vergessen hätten.3 Im Fall unserer Gottesvorstellungen verhält es sich noch gravierender: wir haben uns daran gewöhnen lassen, uns unter das Diktat einer diffusen Autorschaft (Wort Gottes, verkündet, geoffenbart durch einen prophetischen Mittler) in Verbindung mit einem fragwürdigen Geltungsanspruch (Verkündigungsanspruch, Missionsauftrag) zu stellen und uns so zu verhalten, als würden wir vor den selbsterfundenen Mythen erzittern. Noch immer steht das »Verletzen religiöser Gefühle« wenn nicht unter Strafe, so doch unter Generalverdacht. Kaum ein anderes Gefühl besitzt diesen Schutz. Im Gegenteil: andere, individuelle Gefühle werden bedenkenlos von religiösen Gefühlen malträtiert. Kurz: es ist an der Zeit, den überfälligen Auftrag der Aufklärung mit zwei-, dreihundertjähriger Verspätung zu erfüllen, die Säkularisierung sogenannter ›Heiliger‹ Texte durchzusetzen und sie damit wieder zu literarisieren. Wenn man mit ihnen wieder so umgehen könnte wie mit der Literatur, verlören sie mit einem Mal all ihren vermeintlichen Schrecken. Befreiungstheologie heißt vor allem Befreiung der Geschichten von der Theologie. Thomas Mann hat in seinem Josephsromanen anschaulich vorgemacht, wie das gemacht werden könnte. Es ist kein Zufall, dass die Religionswächter von Boko Haram, dem IS oder christliche Fundamentalisten literarische Texte am liebsten ins Feuer geworfen sähen. Doch auch der Westen, die Demokratien sollten lernen, sich zu ihrer eigenen 3 | Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Stuttgart: Reclam 2015, S. 57.

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Tradition zu bekennen. Die Domestizierung der Religion aus dem subversiven Geist der Literatur sollte heutzutage eine Selbstverständlichkeit sein – zumal für Republiken, laizistische Staaten und säkularisierte Systeme. Eine illusionäre, weltfremde Vorstellung? Die irdischen, menschlichen Bedürfnisse wieder definitiv ins Zentrum zu rücken, ist keine Illusion. Die Literatur lehrt die Kunst, die Dinge ernst zu nehmen und gleichzeitig mit ihnen zu spielen. »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, und er spielt nur da, wo er ganz Mensch ist«,4 sagt Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und umreißt damit ein Programm für die Zukunft. Der Literatur kommt darin eine entscheidende Rolle zu, denn sie ist nichts anderes als Spiel. Ernsthaftes Spiel, aber Spiel. Ist Text gewordene Virtualität, Simulation, Stimulation von Wirklichkeit – hautnah, täuschend echt und dennoch ungefährlich, Simulation, Lebenssimulation eben. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese Frage ist nicht nur erlaubt, sie ist nachdrücklich gefordert. Ein spielerisch-leichter, phantasievoller und angstfreier Umgang mit den komplexen synkretistischen Wirklichkeits- und Wahrheitskonfigurationen unserer postmodernen, sich graduell vernetzenden Welt ist das Gebot der Stunde. Die Zeit der schwarz-weiß-Philosophien ist abgelaufen: es ist die Stunde der Literatur! Das Curriculum einer wirklich gegenwärtigen Literatur fordert und realisiert weder Kunden noch Gläubige, sondern Köpfe, die von dem in ihnen angelegten emotionalen und intellektuellen Potential konsequenten Gebrauch machen. Das geht nicht ohne jene »kleine Spur Gift« und Giftigkeit ab, mit der Musil den späteren, sozialisierten Törless ausgestattet sieht. Und das soll es auch nicht. Literatur ist alles andere als eine Institution zur Herstellung von ›Gutmenschen‹. Sie will kritisch widerständige, vergleichsweise schwer zu manipulierende Individuen in möglichst großer Zahl ausbilden. Sie wird und muss den Fundamentalisten ins Wort fallen, muss in ihren Herrschaftsraum eindringen. Zumindest auf ihrem ureigensten Territorium, dem der Wörter und Texte. Sie wird und darf sich nicht der eigenen Sprache durch Dilettanten der Sprache berauben lassen. Die eingangs erwähnten Maßnahmen der Indizierung und Verbote sind es wert, die Probe aufs Exempel zu machen. Die Art und Weise, wie die Weltöffentlichkeit Rushdies Satanische Verse gegen den Willen der 4 | Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. 15. Brief, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Riedel, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004, Band V, S. 614-619, hier S. 618.

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Mullahs, ja gegen Todesdrohungen durchsetzte, war imponierend. Aber sie darf kein Einzelfall bleiben. Auch Kants Forderung von 1795, nämlich den Prozess der Aufklärung durch die Aufhebung der Zensur in Bewegung zu setzen, muss Tag für Tag und weltweit erstritten und durchgesetzt werden! Widerstand gegen vereinnahmende Systeme muss sich heutzutage auch und vor allem als Bemühen um eine Stabilisierung von Individuen, um eine Stärkung ihrer sozialen Resilienz verstehen. Man vergisst das Individuum allzu schnell, setzt es als selbstverständlich gegeben voraus, und ersetzt es leichten Herzens durch den Kunden – zumal in dieser Zeit der Labels, Ketten, Zielgruppen. Aber es existiert, zugegeben, kaum mehr erkennbar, inmitten der Masse Mensch, der Menschenmassen und der Massenmenschen. Nicht als das ›große‹ herausragende Individuum möglicherweise, aber doch als jenes ganz gewöhnliche Einzelwesen, das seit jeher im Zentrum des Interesses der Literatur steht, allein der Literatur. Dies geschieht so selbstverständlich, dass kaum mehr ins Auge fällt, dass sie, die Literatur, in der Tat die einzige Diskursform ist, die sich seiner annimmt. 600, 700 Seiten über Jedermann, über Leopold Bloom, Anna Karenina oder Hans Castorp – im Grunde undenkbar im Zeitalter der Effizienz, des Power-Point-artigen Reduktionismus auf das ›Wesentliche‹. Möglicherweise ist dies das revolutionärste, subversivste, inkommensurabelste Wesenselement des Phänomens Literatur: diese selbstverständliche Fokussierung auf einzelne Menschenwesen ganz ohne exemplarische, allegorische oder typologische Ansprüche oder Deutungshintergründe. Der vehementeste und tiefgründigste Widerstand liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der man der akribischen Darstellung des Schicksals von Durchschnittsmenschen Raum gewährt, jenseits hochtrabender Diskurse um Menschenwürde. Mit der man auch dezidiert ›Unwürdigen‹ volle Aufmerksamkeit schenkt – Außenseitern, Blindgängern, Wahnsinnigen, Asozialen, schrägen Typen, hoffnungslos bizarren Vögeln … Nicht wie die Bibel, um etwas damit zu beweisen, beispielsweise deren verborgenen Wert zu zeigen, sondern bloß um des puren Da-Seins und Fühlens dieser Figuren willen. Die Revolte der Revolten schlechthin in Welten, die sich daran gewöhnt haben, zu akzentuieren, zu formatieren, Schwerpunkte zu setzen, Wesentliches von Unwesentlichem strikt zu unterscheiden. Zumindest aber zu erziehen, zu systematisieren oder zu therapieren.

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Mit derselben Widerständigkeit entzieht sich die Literatur auch anderen Versuchen der höheren Sinngebung, wie der des Mythos. Individuelle Bedeutung ja – Bedeutsamkeit: nein! Literatur will dem Individuum auf die Sprünge helfen, es auf unprätentiöse Art hellsichtig machen, die Sinne schärfen, sie aber nicht betäuben oder überwältigen. Wie sagt Christa Wolf, möchte sie ›ihrer‹ Kassandra näherkommen? Durch eine narrative Rückführung in die gedachten sozialen Koordinaten dieser Figur, nicht aber durch irgendeinen wabernden, nachempfundenen Mystizismus.5 Denn letztlich ist alles eine Frage des Stils. Flauberts Kampf um den style indirect libre in Madame Bovary, den er gegen die Anwälte der bürgerlichen Moral vor Gericht durchzusetzen wusste, war sehr viel mehr, als eine Querelle um Formalia. Er erstritt sich und den Lesern das Recht, ohne Zensurbalken in das Innere einer Ehebrecherin hineinschauen zu können und ihren Triumph, nicht nur ihre Scham und Schande, miterleben zu dürfen. Unabhängig davon, ob man sich mit ihr identifiziert oder nicht. Allein der unverstellte Blick in die hochkomplexen Abgründe unserer unterirdischen Gefühlslandschaften, auf die dunkle Seite unserer meist sehr gemischten Gefühle, ist primär Sache der Literatur – selbst Freud beneidete Schnitzler, wie er in einem Brief schrieb, um die poetische Intuition, die dem Dichter spontan zu erkennen erlaubte, wofür der Wissenschaftler Jahre der Forschung benötigte. Entsprechend war der Kampf von Karl Kraus um jedes Komma, der von Paul Celan um die Rückeroberung der vergifteten deutschen Sprache ebenso und im besten Sinne politisch grundiert wie Camus’ forciert provokante Pose der Indifferenz oder Kafkas protokollarisch ausgenüchterte Wiedergabe von Ungeheuerlichkeiten. Alles Entscheidende spielt sich im Detail ab, und es spiegelt sich in der scheinbar belanglosen Nuance. Jenseits alles politischen Aktionismus ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die Herrschaft im Reich der Zeichen unmissverständlich zu markieren und Wort für Wort zu erstreiten. Diese Reconquista der Sprache wird von der Literatur exemplarisch vorgelebt und ist ihr stärkstes Widerspruchspotential. Um sich hier zu engagieren, müssen Literaturwissenschaftler, Kulturschaffende, Wortgestalter jeder Couleur nicht auf die Straße gehen oder in die Politik einsteigen. Es wäre völlig 5 | Vgl. Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung, mit einem Kommentar von Sonja Hilzinger, Suhrkamp: Berlin 2011.

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Jürgen Wer theimer

ausreichend, wenn sie in ihrem Metier, auf ihrem Feld, dem der Sprache, Farbe bekennen. Mehr ist derzeit nicht möglich. Wir kommen wohl kaum umhin zu koinzidieren, dass man mit der Formulierung »kein nennenswerter Widerstand« der Situation am nächsten kommt. Falls es eine Halbwertszeit von Begrifflichkeiten gäbe, der Begriff des »Widerstandes« würde dazu gehören. Gewiss, es gibt ihn, er hat in manchen Momenten sogar den Schmelz des Nostalgischen, eine Art wehmütig betrachteter altehrwürdiger Ideenruine … elegisch, morbide. Aber mit dem, was Widerstand als resistenza/résistance noch vor ein paar Jahrzehnten bedeutete, hat das nichts mehr zu tun. In der großen Mitmachgesellschaft, zu der wir geworden sind, ist schlicht kein logischer und funktionaler Ort für diese Haltung mehr vorgesehen. Allenfalls als Resilienz, als mehr oder weniger graziöse Attitüde, Schwierigkeiten und Konfrontationen auszuweichen, überlebt das »Prinzip Widerstand« derzeit. Sicher: unter der Oberfläche der Einverständigkeit und des Konformismus beginnt es gefährlich zu brodeln und die brachliegenden Energien stauen sich. Überdies ist es an der Zeit, die Ästhetik des Widerstands auf ihre ideologische Stimmigkeit hin zu überprüfen – denn sakrosankt ist der Akt des Widerstands keineswegs: Auch AfD und Pegida verstehen sich als kollektive Widerstandsformen. Und die Intellektuellen stehen mehr oder weniger hilflos oder partizipierend daneben. Die Liste der Symptome für dieses beunruhigende Phänomen der Unterlassungen ist lang. Möglicherweise in der vorweggenommenen Annahme, dass »Widerstand (ohnehin) zwecklos« sei, verzichtet man bereits im Vorfeld auf ihn. Auf dem Tahrir, dem Maidan und dem Taksim kämpfte man noch im Namen von und für ein nicht mehr existierendes europäisches Ideal. Man kann es auch so sehen, dass wir derzeit unseren Widerstand ebenso ausgelagert haben wie unsere Kriege. Selbst auf den Plätzen von Paris brach der Widerstand in Gestalt der kurzfristig Aufmerksamkeit erregenden »Nuits debout« 2016 auf der Place de la République nach wenigen Wochen sang und klanglos in sich zusammen. Um wirklichen, radikalen, an die Substanz der Macht reichenden Widerstand leisten zu können, haben wir schlicht zu viel zu riskieren. Noch 2010 erschien unter großem Beifall der Öffentlichkeit der Essay Empört Euch! (französischer Originaltitel Indignez-vous!) des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers und

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UN-Diplomaten Stéphane Hessel; bis Februar 2011 wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Tempi passati. Kaum einem der Jüngeren sagt heute der Name noch etwas – und auch damals war es – im Rückblick betrachtet – bereits ein wenig suspekt, die Verantwortung für Widerstand an einen damals 93-Jährigen zu delegieren. Machen wir uns nichts vor: Einer historischen Rückschau auf eine würdige Traditionslinie von Peter Weiss bis Erich Fried steht prinzipiell nichts entgegen. Aber eine Zeit, die 68 als rein historisches Ereignis im Rückspiegel der Geschichte betrachtet, sollte nicht so tun, als ob sie auf diesem Sektor noch ernsthaft mitreden könnte und wollte.

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Autorinnen und Autoren

Alessandro Baldacci, lehrt Neuere italienische Literatur an der Universität Warschau. Unter seinen jüngsten Publikationen: zwei Monographien über Amelia Rosselli; Controparole. Appunti per un’etica della letteratura (2010); Le vertigini dell’io. Ipotesi su Beckett, Bachmann, Manganelli (2011); La necessità del tragico (2014); Giorgio Caproni. Un’inquietudine in versi (2016); (Hg.) Dal nemico alla coralità. Immagini ed esperienze dell’altro nelle rappresentazioni della guerra degli ultimi cento anni (2017); Le voragini dell’assoluto. Saggi sulla poesia di Milo de Angelis (im Druck). Cerstin Bauer-Funke, lehrt am Romanischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo sie den Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft innehat. Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit sind das französische Theater im 18. Jahrhundert sowie die dramatische Literatur in Spanien von der Franco-Ära bis heute. (Habilitationsschrift: Die ›Generación Realista‹. Studien zur Ästhetik des realistischen Theaters der Franco-Ära). Letzte Veröffentlichungen: (Hg.) Espacios urbanos en el teatro español de los siglos XX y XXI (2016); »Der Raub der Europa in Max Aubs Exildrama El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo (1945) – Mythenbearbeitung als Krisendiskurs«, in: Florian Kläger/ Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Europa gibt es doch... Krisendiskurse im Blick der Literatur (2016), S. 203-223. Emmanuel Béhague, Prof. Dr., lehrt am Institut für Germanistik der Universität Straßburg, wo er u. a. den Master-Studiengang »Plurilinguisme et interculturalité« leitet. Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit sind zeitgenössische dramatische und postdramatische Formen im deutschsprachigen Raum. Daneben stehen Klassikerinszenierungen in Deutschland seit Ende der 1960er Jahre (Thema der Habilitationsschrift), zeitge-

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nössische performative Formen und zuletzt künstlerische Fotografie im Zentrum seiner Recherche. Zuletzt veröffentlicht: »De Sondershausen à Sangerhausen. Wezel/Schleef«, in: Florence Baillet (Hg.): Einar Schleef, par-delà le théâtre: mise en scène, écriture, peinture, photographie (2016), S. 109-123; »Textur und Spannung. Zum Verhältnis zwischen TextsprecherIn und Text in der zeitgenössischen (Post)dramatik«, in: Pia Janke/Teresa Kovacs (Hg.): Postdramatik. Reflexion und Revision (2015), S. 87-95. Michael Braun, seit 1995 Lehrbeauftragter, seit 2005 außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln, zugleich seit 1992 Leiter Literatur der Konrad-AdenauerStiftung. 2016 Gastprofessor an der Washington University of St. Louis. Mitarbeit im Belgischen Germanistenverband, bei der Agrégation in Paris (Sorbonne) und Metz, Mitglied im Gründungsbeirat beim Germanistischen Jahrbuch »Gegenwartsliteratur« (USA), in der IVG und der German Studies Association. Jüngste Publikationen: Prometheus unchained. Beiträge zum Film (2016); Am Scheideweg der Sprachen. Die poetischen Migrationen von Yoko Tawada (hg. mit Amelia Valtolina, 2016); Probebohrungen im Himmel. Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur (2018); Komik im Film (mit Oliver Jahraus u.a., 2018). Raul Calzoni, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft am Department für Fremde Literaturen, Sprachen und Kulturen der Università degli Studi di Bergamo. Arbeitsschwerpunkte u.a.: deutsche Klassik und Romantik (u.a. F. Schiller, Goethe, Novalis); deutsche und österreichische Gegenwartsliteratur (u.a. W.G. Sebald, W. Kempowski, H. Heißenbüttel, G. Roth); Literatur und Wissenschaft; Literatur und Musik. Veröffentlichungen: Walter Kempowski, W. G. Sebald e i tabù della memoria collettiva tedesca (2005); »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«: Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert, Göttingen (hg. mit Massimo Salgaro, 2010); L’età delle macerie e della ricostruzione. La letteratura tedesca del secondo dopoguerra (1945–1961) (2013); Monstrous Anatomies: Literary and Scientific Imagination in Britain and Germany During the Long Nineteenth Century (hg. mit Greta Perletti, 2015); Intermedialität – Multimedialität. Literatur und Musik in Deutschland von 1900 bis heute (hg. mit Peter Kofler und Valentina Savietto, 2015); Progetti culturali di fine Settecento fra tardo Illuminismo e Frühromantik (= Cultura tedesca, 2, 2016, hg. mit Elena Agazzi); Denkbil-

Autorinnen und Autoren

der. »Thought-Images« in 20th-Century German Prose (= Odradek. Studies in Philosophy of Literature, Aesthetics and New Media Theories, 2, 2016: http://zetesis.cfs.unipi.it/Rivista/index.php/odradek, hg. mit Francesco Rossi); Shakespeare e Cervantes (1616-2016). Traduzioni, ricezioni e rivisitazioni (hg. mit Fabio Scotto u. Marco Sirtori, 2017). Sylvain Diaz, Maître de conférences am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Straßburg. Im Zentrum seiner Recherche stehen zeitgenössische Dramenformen. Zu seinen letzten Veröffentlichungen  gehören: Dramaturgies de la crise (XXe-XXIe siècles) (im Druck); De quoi la dramaturgie est-elle le nom ? (mit Marion Boudier, Alice Carré u. Barbara Métais-Chastanier, 2014). Er ist außerdem Mitglied des Lesekomitees des Théâtre National de Strasbourg und leitet den Service d’action culturelle der Universität Straßburg. Carola Hähnel-Mesnard, Maître de conférences für Neuere deutsche Literatur an der Université de Lille (EA 4047–CECILLE). Mitherausgeberin der Zeitschrift Germanica. Forschungsschwerpunkte: DDR- und PostDDR-Literatur; deutschsprachige Gegenwartsliteratur; Gedächtnis, Literatur und Identität; Zeitdarstellungen in der Literatur. Letzte Veröffentlichungen: Störfall? Auschwitz und die ostdeutsche Literatur nach 1989 (hg. mit Katja Schubert, 2016); »Geschichte und Zeiterfahrung in der Prosa von Julia Schoch«, in: Christiane Caemmerer/Walter Delabar/Helga Meise (Hg.), Fräuleinwunder. Zum literarischen Nachleben eines Labels (2017), S. 31-49.  Ulrike Haß, Prof. Em.,  Universitätsprofessorin an der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Germanistik, Politik und Psychologie. Nach ihrer Habilitation an der Freien Universität Berlin (Bühnenform und Wahrnehmung, 2000) wurde sie an die Ruhr-Universität Bochum zur Professorin der Theaterwissenschaft ernannt. Forschungsschwerpunkte: Theater- und Raumwahrnehmung; szenische Formen im Gegenwartstheater; Dialogizität, Bildlichkeit und Visualität des Theaters. Zu ihren neueren Veröffentlichungen gehören u. a.: Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (hg. mit Milena Cairo, Moritz Hannemann u. Judith Schäfer, 2016); Mark Lammert, Bühnen Räume Spaces (2014).

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Hanna Klessinger, apl. Prof. für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Promotion 2006, Habilitation 2013 an der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Moderne und Gegenwart; Philosophie und Literatur; deutsch-französischer Kulturtransfer. Habilitationsschrift: Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Handke, Müller, Jelinek und Goetz (2015). Letzte Veröffentlichungen: »Sagen. Zeigen. Dichten. Zur poetischen Aneignung von Wittgensteins ›Tractatus logico-philosophicus‹ durch die Wiener Gruppe«, in: Sprachkunst 47.1 (2016); mit Achim Aurnhammer: »Was macht Schillers Wilhelm Tell zum Helden? Eine deskriptive Heuristik heroischen Handelns«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 62 (2018). Judith Sarfati Lanter, Maître de conférences an der Faculté des Lettres de Sorbonne Université, Mitglied vom »Centre de recherches en littérature comparée« (CRLC) und von »Labex OBVIL«. Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit sind: Literatur und visuelle Künste; Literatur und Politik im Roman des 20. und 21. Jahrhunderts. Letzte Veröffentlichungen: Le Démon de la catégorie: retour sur la qualification en droit et en littérature (hg. mit Anna Azroumanov u. Arnaud Latil, 2017); Expériences de l’histoire, poétiques de la mémoire (mit Inès Cazalas, 2017); »Littérature contre Storytelling avant l’ère néo-libérale«, Raison publique (hg. mit Danielle PerrotCorpet, 2018). Friederike Reents, Priv.-Doz. Dr., ist Hochschuldozentin am Institut für Germanistik der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, derzeit beurlaubt für die Mitarbeit am DFG-Forschungskolleg »Lyrik in Transition« in Trier. Sie wurde promoviert mit einer Arbeit über Gottfried Benn und habilitierte sich mit einer Studie zur Stimmungsästhetik (vom 17.-21. Jahrhundert). Schwerpunkte  ihrer Forschungstätigkeit sind Poetik und Ästhetik im 20. und 21. Jahrhundert, besonders die Lyrik der Gegenwart. Zuletzt veröffentlicht: »Mit Hölderlin und Benn im Ratinger Hof. Thomas Klings tiefschürfende ›nachtperfomance‹« in: Gedichte von Thomas Kling. Interpretationen, hg. v. Frieder v. Ammon u. Rüdiger Zymner (im Druck); »Zur (Er)Schöpfung des Ich-Sagens«, in: Das Subjekt nach der Postmoderne. Neue Theorien und Methoden aus Philosophie und Lyrikologie in interkultureller Sicht, hg. v. Henrieke Stahl (im Druck); »Von deutscher Qualität. Selbsthistorisierung und Modernität beim frühen Thomas

Autorinnen und Autoren

Mann«, in: Thomas Mann Jahrbuch 2018, Bd. 31 (im Druck); (Hg.) Lyrik des 20. Jahrhunderts (2017); Benn-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, (hg. mit Christian M. Hanna, 2016). Hendrikje Schauer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heinrich-vonKleist-Institut für Literatur und Politik der Europa-Universität in Frankfurt (Oder). Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Literaturtheorie; Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts; Literatur, Poetik und Ästhetik der Aufklärung. Zuletzt erschien: Beobachtung und Urteil. Literarische Aufklärung bei Lessing und Wieland (2018). Susanne Stephan, geb. 1963 in Aachen, aufgewachsen in Süddeutschland. Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen, Konstanz, Hamburg und Paris. Verlagstätigkeit, seit 1995 freie Autorin. Veröffentlichung von Lyrik, Essays, Kurzprosa, zuletzt  Haydns Papagei. Gedichte (2015) und  Nelken (2018).  Zahlreiche Auszeichnungen, so der Thaddäus-Troll-Preis und Kleine Hertha Koenig-Preis; Stipendien für das Deutsche Studienzentrum in Venedig, die Casa Baldi in Olevano Romano und zuletzt für das Heinrich-Heine-Haus in Lüneburg. Gastkünstlerin am CERN in Genf. Amelia Valtolina, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Università degli Studi di Bergamo (Department von Literaturwissenschaft, Philosophie, Kommunikation). Sie ist Expertin der Klassischen Moderne, insbesondere der Lyrik Gottfried Benns. Forschungsschwerpunkte: Lyrik und Ästhetik; Lyrik und Malerei; Figurationen der Gegenwartslyrik; Poetik und Philosophie. Sie ist Mitglied der Gottfried-Benn Gesellschaft und der Fondazione Europea del Disegno, deren Annalen sie von 1998 bis 2006 herausgegeben hat. Zu ihren letzten Veröffentlichungen gehören u. a.: Ah, la terra lontana… Gottfried Benn in Italia (hg. mit Luca Zenobi, 2018); (Hg.), Gottfried Benn, Arte monologica? (2018); Il sogno della forma. Un’idea tedesca nel Novecento di Gottfried Benn (2016); Am Scheideweg der Sprachen. Die poetischen Migrationen von Yoko Tawada (hg. mit Michael Braun, 2016). Jürgen Wertheimer, Prof. Em., Professor für Neue deutsche Literatur und Komparatistik an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Prix International de la Laïcité, verliehen vom Comité Laïcité République, Paris (2013). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Emotionen; Wahrnehmung

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und Simulation (Literatur); Kulturkonflikte; Poetik der Affekte; Mythen – Ideologien – Kritik. Zuletzt erschienen: Weltsprache Literatur. Die Globalisierung der Wörter (2018); Maidan.Tahrir.Taksim – die Sprache der Plätze (2017); Vertrauen. Ein riskantes Gefühl (mit Niels Birbaumer, 2016). Luca Zenobi, Professor für Germanistik an der Universität L’Aquila. Er hat Monographien zu Friedrich Schiller und Denis Diderot sowie zu Faust als Mythos der westlichen Kultur veröffentlicht; verschiedene Aufsätze zur Weimarer Klassik (Schillers Theater), zur Literatur der klassischen Moderne (Gottfried Benn, Alfred Döblin, Franz Kafka) und zur Beziehung zwischen Film und Literatur (Kurt Pinthus, Pasolini in Deutschland). Als Übersetzer hat er den Briefwechsel zwischen Kafka und Brod in Zusammenarbeit mit Marco Rispoli herausgegeben und arbeitet aktuell an der Übersetzung des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe in Zusammenarbeit mit Maurizio Pirro.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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