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German Pages 244 Year 2014
Oliver Seibt Der Sinn des Augenblicks
Studien zur Popularmusik
2010-04-07 11-12-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238420086666|(S.
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Oliver Seibt ist Post-Doctoral Researcher am Cluster of Excellence »Asia and Europe in a Global Context« der Universität Heidelberg. Neben der Fach- und Ideengeschichte der Musikethnologie und Popularmusikforschung stellt die japanische Popularmusik seinen derzeitigen Forschungsschwerpunkt dar.
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Oliver Seibt Der Sinn des Augenblicks. Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen
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Diese Arbeit wurde 2009 von der Hochschule für Musik und Theater Hannover als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlaggestaltung auf Grundlage eines Gemäldes von Sbiti Abdel Hay, Bern 2009 Lektorat & Satz: Oliver Seibt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1396-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Für Rüdiger Schumacher Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Du diese Arbeit hättest lesen können.
Danksagung Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern, Heide und Dietrich Seibt, die die ganze Zeit über an mich geglaubt haben und mich zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten gefragt haben, wie weit ich denn mit meiner Dissertation bin. (Und ich bin mir durchaus nicht mehr so sicher, ob nicht auch die Gelegenheiten, die mir unpassend erschienen, oftmals passende waren!) Meinem Doktorvater Rüdiger Schumacher bin ich zutiefst dankbar für seine Aufgeschlossenheit und das Vertrauen, das er in mich gesetzt hat, als er dieses doch nicht ganz alltägliche Thema als Gegenstand meiner Dissertation akzeptierte. Raimund Vogels danke ich sehr, dass er sich nach dem unvermittelten Tod Rüdiger Schumachers ohne zu zögern bereit erklärt hat, mein zweiter Doktorvater zu werden, für die Betreuung meiner Promotion, die 2009 an der Hochschule für Musik und Theater erfolgte, und seine freundschaftliche Unterstützung. Den Studierenden, die die beiden im Zusammenhang mit dieser Arbeit stehenden Proseminare am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln besucht haben, allen voran Martin Bulawa, danke ich für die vielen Anregungen, die sie mir gegeben haben. Herrn Professor Dr. Anselm Gerhard danke ich für die großzügig bemessene Zeit, die er mir zum Verfassen dieser Arbeit zur Verfügung gestellt hat; Frau Professor Dr. Dorothea Redepenning und Frau Professor Dr. Barbara Mittler danke ich dafür, dass sie sich bereit erklärt haben, auf mich zu warten, bis diese fertig gestellt war. Sbiti Abdel Hay danke ich dafür, dass er mir die Rechte an seinem Gemälde für die Umschlagsgestaltung überlassen hat. Meinen Freund/inn/en und Kolleg/inn/en Kerstin Klenke, René Michaelsen und Julio Mendívil bin ich zutiefst dankbar dafür, dass sie sich, obwohl gerade Zeit ziemlich knapp war, diese genommen haben, um diese Arbeit Korrektur zu lesen. Mit ihren Anregungen und ihrer Kritik haben sie einen großen Teil zu dem
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen beigetragen, was gut an ihr ist. Alle verbleibenden Fehler und alle Mängel, die diese Arbeit aufweist, habe aber alleine ich zu verantworten. Mein besonderer Dank gilt Julio Mendívil für zahllose Stunden hilfreicher Diskussionen, den fachlichen und immer freundschaftlichen Austausch, auch über Landesgrenzen hinweg. Deine Telefonrechnung mach ich wieder gut! Vor allem aber danke ich meiner Frau Yvonne, ohne deren ständigen Ermutigungen ich diese Arbeit sicherlich nicht hätte fertig stellen können, für ihre Geduld, ihren Sachverstand und alles, was sie während der letzten Monate und weit darüber hinaus für mich getan hat. Ich kann mir niemanden vorstellen, mit dem ich auch meinen Alltag lieber verbringen würde, als mit Dir!
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Inhalt
Prolog 11 Die Musikwissenschaft und das Alltägliche 23 Auf der Suche nach dem Alltäglichen 31
DIE ENTDECKUNG DES ALLTÄGLICHEN Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben 47 Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben 63 Documents, das Collège de Sociologie, Michel Leiris und das Persönliche am Alltagsleben 81
KRITIK
UND
REHABILITIERUNG
DES
ALLTÄGLICHEN
Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente 111 Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen 135 Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks 157
ENTWURF EINER MUSIKWISSENSCHAFT DES ALLTÄGLICHEN Der Sinn des Augenblicks: Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 179 Idiographien, Flaneure und Idiologie: Methoden einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 199
Literatur 227
Prolog 1 Der Regen hatte plötzlich eingesetzt. Bis eben hatte zwar nicht die Sonne geschienen – wann tut sie das schon mal in Köln – aber zumindest war es der Jahreszeit entsprechend trocken und warm gewesen. Jetzt flüchteten die Menschen in Scharen vor dem Regen in die Straßenbahn, bis auf die Haut durchnässt, mit Kinderwagen und mit Fahrrädern, bis vor einer Minute noch das ideale Fortbewegungsmittel, jetzt, bei dem Wetter, völlig ungeeignet. Ein älterer Herr, gekleidet, wie ältere Herren im Sommer oftmals gekleidet zu sein pflegen, im leichten Anzug, wenn auch in keinem sehr teuren, versuchte seinem Unmut über die etwa fünfzig Jahre alte Frau, die auf der Flucht vor dem Regen ihr Fahrrad in den ohnehin schon überfüllten Raum am Eingang zu buchsieren versuchte, in älteren-Herren-gemäßer Manier Ausdruck zu verleihen. Aber auch wenn er es vermied, sie persönlich anzugreifen und ganz allgemein über „die Leute“ schimpfte, die, nur um selbst nicht nass zu werden, in Kauf nähmen, mit „ihren nassen und verdreckten Fahrradreifen die Kleidung ihrer Mitmenschen zu verschmutzen“, war klar, wen er meinte, und auch sein freundliches Lächeln und die zumindest in Köln für ältere Herren typische vertraulich-versöhnliche Art, auf die er die Frau ansprach, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sie gerade vor allen anderen Mitfahrenden der Rücksichtslosigkeit und fahrlässigen Sachbeschädigung bezichtigte. Dementsprechend unterkühlt fiel ihre Reaktion aus, höflich zwar, beschwichtigend, aber man konnte ihr leicht anmerken, dass sie ebenso verärgert wie verunsichert war. Als der Mann seinen Redeschwall kurz unterbrach und sich wegdrehte, schaute sie sich hilfesuchend unter den umsitzenden Fahrgästen um. Ihr Blick traf den der älteren Dame, die neben mir saß und die ihr mit einem Augenrollen stillschweigend ihre Solidarität versicherte. Es goss noch immer in Strömen, und an der nächsten Haltestelle sollte sich die ohnehin schon aufgeheizte Stimmung unter den Fahrgästen sogar noch verschärfen, als immer mehr Men-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen schen in die Bahn drängten, darunter eine junge Frau, die nun offenkundig große Mühe hatte, auch ihr Fahrrad noch in den überfüllten Wagen zu zwängen. Die missbilligenden Blicke des älteren Herren kündigten die nächste Tirade an, aber bevor er anheben konnte, verwickelte die ältere Frau mit Rad die jüngere in ein komplizenhaftes Gespräch über das Fahrradfahren im Allgemeinen, plötzliche Wetterumschwünge und verständnislose Mitmenschen in Straßenbahnen. Das war nun endgültig zu viel, der ältere Herr ließ das maskenhaft freundliche Lächeln fahren und drängte sich erbost und die im Weg stehenden Mitpassagiere harsch anraunzend – „Entschuldigung, darf ich mal bitte!“ – durch den verstopften Mittelgang der Bahn davon. Kurzfristig ihren Sieg genießend lächelte die ältere Frau erst der Dame neben mir verschwörerisch zu, dann der jungen Frau mit Rad, die das Verschwörerische gar nicht so recht verstand, weil sie die Beschwerden des älteren Herren zuvor ja gar nicht miterlebt hatte. Allmählich ließ der Regen nach, je weiter sich die Bahn von Stadtzentrum entfernte, desto mehr Fahrgäste stiegen aus, der erboste ältere Herr schien unter ihnen gewesen zu sein, zumindest war nichts mehr von ihm zu sehen oder zu hören, und auch die jüngere Frau mit Rad verließ an einer der nächsten Haltestellen den Wagen. Aber auch, wenn sich die Lage nun entspannt zu haben schien, hatte ich, wenn ich sie ansah, doch den Eindruck, dass die ältere Frau mit Rad immer noch damit zu kämpfen hatte, dass ihr der ältere Herr zwar indirekt, aber in aller Öffentlichkeit vorgeworfen hatte, rücksichtslos zu sein. Plötzlich kündigte etwas weiter hinten im Wagen ein Mobiltelefon einen eingehenden Anruf an, indem es „Viva Colonia“ von De Höhner als Realtone zum Besten gab: „Ja da simmer dabei, dat is prima“ – den Kopf im Takt hin und herwippend schaut die ältere Frau mit Rad auf, um die Quelle der Musik, von der sie sich in diesem Moment offenkundig angesprochen fühlt, auch wenn sie etwas blechern aus einem Handylautsprecher tönt, zu orten – „Viva Colonia“ – da bricht es aus ihr heraus, und die folgenden Takte des Liedes singt sie so lauthals wie textsicher mit – „Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust / Wir glauben an den lieben Gott und ha’m noch immer Durst“. Dabei sucht sie triumphierend den Blick der alten Dame neben mir, die ihr, ebenfalls mit dem Kopf im Takt wippend, bestätigend zulächelt. Nachdem die Frau mit Rad ihr noch einmal scheinbar dankbar zugenickt hat, nimmt die etwas verdutzt dreinblickende Besitzerin des Handys den Anruf entgegen und die Musik verstummt.
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Prolog Weil ich eine Dissertation über eine Musikwissenschaft des Alltäglichen zu schreiben habe, möchte ich die Frau am liebsten ansprechen und fragen, ob ich ihre Reaktion richtig interpretiert habe, ob ihr das jedem Einwohner Kölns nur allzu vertraute Lied in diesem Augenblick dazu gedient hat, sich angesichts der Vorwürfe des älteren Herren der Rechtmäßigkeit ihres Daseins – hier in der Bahn, an diesem plötzlich regnerischen Tag, auch mit Rad! – zu versichern, ob es sich bei ihrem lauten Mitsingen um einen trotzigen Akt der Selbstbestätigung gehandelt hat. Aber ich muss aussteigen, sie nicht, und ohnehin vermute ich, meine Frage würde bei ihr nur auf Unverständnis stoßen und den kathartischen Effekt zunichte machen, den das Lieder der Höhner, das mit Sicherheit nicht zu diesem Zwecke komponiert und eingespielt wurde, gerade in diesem Augenblick auf sie hatte. Also steige ich aus und nehme mir vor, dieses Ereignis in meiner Arbeit als Beispiel für das anzuführen, worum es mir darin geht, denn eigentlich spielt es für die folgende Argumentation auch gar keine Rolle, ob sich die ältere Frau mit Rad selbst darüber bewusst ist, welchen Sinn das Lied in diesem Augenblick für sie hatte.
2 Von Kölncampus, dem von Studierenden der Kölner Universität betriebenen Rundfunksender, war ich eingeladen worden, mir am Karfreitag 2008 auf der Studiobühne der Universität zu Köln die Aufführung eines Theaterexperiments mit dem Titel Parsifal – Versuch einer Annäherung anzusehen, um in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt in einem Radiointerview von meinen Eindrücken zu berichten. Die Einladung war auf die Vermittlung einer Studentin hin zustande gekommen, die an zwei Proseminaren teilgenommen hatte, die ich in den vorausgegangenen Semestern am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln angeboten hatte, und die im Zusammenhang standen mit dem Thema, an dem ich im Rahmen meiner Dissertation arbeitete: Wie der Untertitel dieser Arbeit lautete der Titel der ersten Veranstaltung im Sommersemester 2006 Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen, und wie diese Arbeit stellte auch das Seminar einen Versuch dar, auf Grundlage einer (dort kursorischen, nachher oft einsamen) Lektüre der Texte verschiedener Alltagstheoretiker zu diskutieren, wie eine Musikwissenschaft beschaffen sein müsste, die sich dem alltäglichen Umgang mit Musik als Gegenstand annähme. Das sich daran anschließenden Proseminar im Wintersemester 2006/2007 hieß Legen Sie sich doch bitte mal hier auf den Plattenteller: Ein musikethnologi-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen scher Selbstversuch. Um herauszufinden, wie sich die wissenschaftliche Repräsentation eines Informanten und seiner Kultur in einem musikethnographischen Text zu dem Bild verhält, das der Informant selbst von sich und seiner Kultur hat, wurde im Rahmen dieser zweiten Veranstaltung ein Selbstversuch unternommen, in dessen Verlauf alle Teilnehmenden beide Rollen – die des Informanten und die des Ethnographen – einnehmen mussten. Jede/r Studierende hatte gleichzeitig die Aufgabe, eine Selbstdarstellung ihres/seines eigenen alltäglichen musikalischen Verhaltens und – auf Grundlage von in Interviews gewonnenen Aussagen – eine Darstellung des alltäglichen musikalischen Verhaltens einer/s Kommilitonin/en zu verfassen. Ein Vergleich der Selbst- und der Fremddarstellungen sollte in einem weiteren Schritt Auskunft geben über den Prozess der Transformation von Informantenaussagen in einen musikethnographischen Text. Durch den Besuch dieser beiden Veranstaltungen darüber informiert, womit ich mich gerade beschäftigte, schlug mich die Studentin, die neben ihrem Studium als Leiterin der Musikredaktion von Kölncampus tätig war, ihrem für die Übertragung des Theaterexperiments zuständigen Redaktionskollegen als Gesprächspartner vor. Als ich in der Studiobühne ankam, wusste ich nur, dass es darum gehen würde, jemandem dabei zuzusehen, wie er sich eine Übertragung von Wagners Parsifal im Radio anhörte, die zeitgleich auch von Kölncampus ausgestrahlt würde, und das unter anderem ich dazu auserkoren war, in den Pausen zwischen den Akten den Zuhörern von Kölncampus von dem zu berichten, was während der Akte auf der Theaterbühne zu sehen war. Auch wenn der Saal, in dem die Aufführung stattfand, der der Kölner Studiobühne war, gab es an seinem Kopfende gar keine Bühne, stattdessen standen dort zwei Sessel links und rechts eines Couchtisches, auf dem ein großformatiges Buch lag und eine Flasche Wein stand sowie auf jeder Seite des Tisches jeweils ein leeres Weinglas. Außer einer Topfpflanze waren das, soweit ich mich erinnere, alle Requisiten auf der nicht vorhandenen Bühne zu dem Zeitpunkt, als der einzige Darsteller des Stückes auftrat. Just in dem Moment, als der Moderator von Kölncampus die Übertragung des Parsifal ankündigt, wird das Programm auf die Lautsprecher im Saal geschaltet. Der Darsteller setzt sich in den rechten Sessel, schenkt sich ein Glas Wein ein, nimmt das Buch, bei dem es sich, wie nun klar wird, um eine Partitur der Oper handelt, legt es sich auf den Schoß, öffnet es und beginnt, als die Ouvertüre einsetzt, mit dem Finger in der Partitur die Musik mit-
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Prolog zulesen. Aber bald schon kann man sehen, dass seine Konzentration nachlässt, seine Augen folgen dem Verlauf der Noten in der Partitur nicht mehr, zunächst immer nur für kurze Momente nicht... dann wendet er sich wieder dem Notentext zu. Je weiter der erste Akt aber fortschreitet, desto deutlicher wird, dass seine Aufmerksamkeit nicht die ganze Zeit in gleichem Maße auf das gerichtet ist, was zu hören ist. Er steht aus dem Sessel auf, läuft grübelnd auf und ab und scheint die Musik mitunter gar nicht mehr wahrzunehmen. Dann singt er zwischendurch wieder kurze Passagen mit, steigert sich einige Male regelrecht in die Musik hinein, verleiht den vermeintlichen Gefühlen der Operfiguren mimischen Ausdruck, um im nächsten Augenblick wieder versonnen und scheinbar alles um sich herum vergessend umher zu schreiten. Wo er mit seinen Gedanken ist und worauf er den dramatischen Gehalt des Librettos in den Momenten bezieht, in denen er mitsingt, wird spätestens in dem Augenblick klar, als er auf die andere Seite des Tisches tritt und das dort stehende zweite leere Weinglas füllt. Da die Person, für die es dort hingestellt wurde, nicht da ist – wer immer es dorthin gestellt hat, wahrscheinlich war es der Protagonist selbst, hatte wohl auch nicht damit gerechnet, dass sie kommen würde, trotzdem hat er ein Glas hingestellt für sie hingestellt, als Symbol –, da er alleine ist mit der Musik und seinen Erinnerungen, die in einem ständigen Wettstreit um seine Aufmerksamkeit stehen und sich dabei miteinander vermengen, trinkt er auch dieses Glas noch leer, und mit dem Alkoholpegel steigt seine Verzweiflung ... und dann wird es mir irgendwann zu viel, als er sich mit nacktem Oberkörper auf dem Boden wälzt und die Inszenierung dem Publikum nahezulegen versucht, dies sei eine Reaktion auf Wagners Musik. Der erste Akt des Parsifal ist lang, und von Minute zu Minute kommt er mir länger vor, aber schließlich ist auch er vorbei, alle strömen nach draußen, wo der Redakteur von Kölncampus mich schon mit einem Mikrofon in der Hand zu einem Live-Interview erwartet: „Oliver, erzähl kurz, wie ist Dein Eindruck gewesen?“ „Initial fand ich das sehr spannend, was da stattgefunden hat. Zum Schluss hatte ich ein bisschen Probleme damit, aber die erste Stunde fand ich sehr, sehr spannend, weil etwas thematisiert worden ist, was sonst immer unter den Tisch fällt, nämlich dieser Prozess des Musikerlebens, und das fand ich [zu Beginn] sehr gut umgesetzt.“
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen „Prozess des Musikerlebens ist das Stichwort, das ist Dein Steckenpferd! Was genau hast Du heute in dieser Inszenierung, in diesem Experiment wiedergefunden?“ „Was ich sehr gut dargestellt fand, ist... dieser Prozess, einen musikalischen Text, also hier den Parsifal von Wagner auf sein eigenes Leben, auf diese konkrete Situation, in der sich der Darsteller gerade befunden hat, zu beziehen. Ich glaube, das Ganze wäre sehr, sehr langweilig gewesen, wenn es so weiter gegangen wäre, wie es angefangen hat, [...] dass er da auf dem Sessel sitzt und in eine Partitur guckt und versucht das zu tun, was Musikwissenschaftler ja normalerweise auch tun, nämlich erst mal anhand der Partitur rational nach zu erleben, was denn wohl der Sinn dieses Werkes ist, das Werk zu „verstehen“. Und wie das dann gebrochen wurde und deutlich wurde, wie er dieses Werk eigentlich viel eher dazu nutzt, seiner Situation, in der er sich befindet, Sinn zu verleihen, das fand ich [zu Beginn] sehr gut dargestellt.“ „Wir haben auch gesehen, wie sich die Person auf der Bühne immer mehr in die Situation reingesteigert hat, teilweise selbst auf der Bühne mitgesungen hat, mitdirigiert hat, so getan hat, als sei er Teil des Ganzen, und das endete in einem sehr extremen Strudel und er wurde am Ende niedergeschlagen von der Musik, metaphorisch gesehen... kannst Du das irgendwie bestätigen, ist das vielleicht typisch für Wagner, oder ging es Dir im Publikum vielleicht ähnlich?“ „Ich glaube nicht, dass es die eigentliche, typische Art gibt, Wagner zu erleben. Was mir gerade am Anfang gefallen hat, ist, wie collagenhaft das war, also wie er ständig hin und her gewechselt ist... sich auf das Stück konzentriert hat, versucht hat, die Handlung nachzuvollziehen, im nächsten Moment scheinbar abgelenkt war ... [wie man sehen konnte, dass es ihm] um eine unerfüllte Liebe [ging], die da durch das zweite Glas Wein repräsentiert wurde, [...] wie er Inhalte dieses Werkes auf diese persönliche Situation übertragen hat, dann aufgestanden ist, irgendwie zwischendrin mit Brotstangen und Oliven die Szene nachgespielt hat... und eben, dass es nicht so ein kohärentes, ganzes Sinnverstehen war, sondern ein im Hier und Jetzt stattfindendes und ganz bruchstückhaftes Erleben, wo ständig mit der Musik etwas anderes gemacht wird ... das finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich realistisch, weil so erlebe ich Musik im Normalfall auch, eher als so, wie Musikwissenschaftler das tun.
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Prolog „Was mich vielleicht hier noch interessieren würde, wäre der theoretische Background des Prozesses Musik hören. Ich meine, was löst Musik aus? Was passiert in einem Hörer, der wirklich sehr intensiv z.B. ein so kraftvolles Werk hört, kann man da theoretisch was drüber sagen, was das auslösen kann?“ „Das Interessante ist, dass gerade diese Sachen in der Musikwissenschaft nie sonderlich erforscht worden sind. Wenn es um Musikerleben geht, dann wurde das eigentlich immer eher als so ein hörphysiologischer Prozess erklärt oder halt als ein hermeneutischer Prozess, der irgendwie so eine universell gültige oder zumindest eine kulturspezifische Hermeneutik darstellt. Also es ging eigentlich immer eher vom Werk zum Musikerleben und den umgekehrten Weg, nämlich, dass man das Musikerleben zum Gegenstand der Forschung macht und nicht guckt, wie sollte jemand auf ein Werk reagieren, sondern wie reagieren die Leute tatsächlich darauf, das ist so gut wie gar nicht erforscht worden bisher, und das ist das Thema, das ich eigentlich sehr spannend finde und was hier auch sehr gut repräsentiert worden ist.“ „Stichwort: Musik erleben. Es ist sehr individuell und wahrscheinlich hat jeder da draußen vor dem Radio und auch hier in der Studiobühne seine eigenen inneren Bilder herauf beschworen... Wie hast Du den Wagner heute erlebt? Was ist bei Dir innerlich passiert?“ „Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich, gerade weil das ein Thema ist, mit dem ich mich theoretisch im Moment sehr intensiv beschäftige, gar nicht so sehr auf den Wagner geachtet habe, sondern vielmehr versucht habe nachzuvollziehen, wie wohl der Protagonist da auf der Bühne den Wagner erlebt. Das Ganze hätte, glaube ich, mit jedem anderen Stück Musik genauso funktionieren können. Ich glaube nicht, dass der Wagner hier das Besondere ist. Es hätte wahrscheinlich niemanden in die Studiobühne am Karfreitag getrieben, wenn gesagt worden wäre, wir gucken jemandem dabei zu, wie er das letzte Album von den No Angels hört, aber ich glaube, dass das, was da stattfindet, diese Prozesse des „irgendein musikalisches Stück auf sein eigenes Leben beziehen“ und dann wieder zu versuchen, das musikalische Stück als ein Werk nachzuvollziehen, und das immer abwechselnd, dass das prinzipiell mit jeder Musik so funktioniert.“
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen „Hast Du vielleicht auch mal so nach rechts und links gespinkst und im Publikum geschaut, wie vielleicht die Leute reagiert haben?“ „Das ging leider nicht, weil ich in der ersten Reihe saß, da hatte ich wirklich einen ziemlich direkten Blick auf die Bühne und habe nicht so viel davon mitbekommen. Aber das wäre sicherlich spannend ... man hätte sich eher nach hinten setzen sollen.“ „Oliver, kannst Du denn noch einen kleinen Ausblick geben, was Du schätzt, was mit dieser Person noch passieren wird? Wird sich die Gefühlswelt noch mehr durcheinander mengen? Wird er sich wieder beruhigen, kannst Du da eine kleine Prognose für uns abgeben?“ „Nein, kann ich nicht, und... was ich mir wünschen würde, wie das jetzt weitergeht... ich hoffe, dass er Wagner dazu nutzen kann, das Problem, was ja scheinbar das ist, was ihn wirklich bewegt, für sich für den Moment zumindest zu lösen und das fände ich viel, viel wichtiger als zu verstehen, was der Parsifal denn ist.“
3 „Der Anblick einer gewöhnlichen Straße, die Ähnlichkeiten mit meiner Erinnerung an den Clip zu The Verves ‚Bittersweet Symphony‘ (1997) bietet, ruft auch sogleich die Melodie des Stücks zurück in mein Gedächtnis: Aber auch die dargestellte Haltung des Protagonisten geht manchmal auf meine Gemütslage über: Das Video zeigt Frontmann Richard Ashcroft zielstrebig eine belebte Straße hinuntergehen, wobei er keinerlei Rücksicht auf entgegenkommende Passanten nimmt, diese mit der Schulter umstößt, sobald sie seinen Weg kreuzen. Gerade in belebten Fußgängerzonen zur Vorweihnachtszeit verführt die Melodie in Verbindung mit den zuvor beschriebenen Bildern, den Volume-Regler des MP3-Players auf Maximum zu setzen – und es Herrn Ashcroft in seinem Verhalten gleich zu tun.“ (Auszug aus der im Rahmen des von mir im Wintersemester 2006/07 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln angebotenen Seminars Legen Sie sich doch bitte mal hier auf den Plattenteller: Ein musikethnologischer Selbstversuch verfassten Selbstdarstellung von Martin Bulawa, in der es darum ging, den eigenen alltäglichen Umgang mit Musik zu schildern.)
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Prolog
Abb. 1: Collage von Martin Bulawa: „Der Anblick dieser gewöhnlich wirkenden Straße weckt in mir die Assoziation zum Videoclip ‚Bittersweet Symphony‘ von The Verve.“
4 An einem Vormittag im Januar sitze ich im ICE auf dem Weg von Bern nach Heidelberg. Nach einem ziemlich ereignisreichen und aufreibenden Jahr 2008 waren wir gerade in die Schweizer Hauptstadt gezogen, wo ich im Juli eine Stelle als Assistent am Institut für Musikwissenschaft angetreten hatte, durchaus in dem Wissen, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende und kurzfristige Anstellung handeln würde. Mein Vertrag lief im April schon wieder aus, danach würde ich an der Universität Heidelberg anfangen, auf einer Postdoc-Stelle im Exzellenzcluster Asia and Europe in a Global Context – vorausgesetzt mir gelänge es, meine Dissertation bis dahin fertig zu stellen. Das Forschungsprojekt, das ich im Rahmen meiner Mitarbeit in dem Heidelberger Cluster durchzuführen beabsichtige, setzt an dem Punkt an, an dem meine Magisterarbeit über die Konstruktion kultureller Identität in der japanischen Popularmusik aufgehört hatte (vgl. auch Seibt i.D.). In den 1990er Jahren entstand im Tokioter Stadtteil Shibuya, dem popkulturellen Epizentrum Japans, ein musikalisches Genre, das unter der Bezeichnung shibuya-kei, „Shibuya-Stil“, bekannt wurde. In höchst eklektischer Manier vermischten Bands wie Flipper’s Guitar oder Pizzicato Five und Solokünstler wie Fantastic Plastic Machine oder Cornelius unter diesem Label Bilder und Klänge aus den dispara-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen testen und abwegigsten Nischen der westlichen Popularkultur vor allem der 1950er und 1960er Jahre und produzierten auf diese Weise eine Popularmusik, deren Zutaten allesamt aus dem Westen stammten, die aber zur Gänze „Made in Japan“ war. Den shibuya-kei-Künstlern gelang auf diese Weise etwas, das noch keinem japanischen Popmusiker zuvor in diesem Ausmaße gelungen war. Während Popmusik aus Japan bis dahin stets mit dem Stigma zu kämpfen hatte, sie stelle eine unkreative Nachahmung westlicher Musiktrends dar, wurde shibuya-kei zum ersten internationalen Popmusiktrend, der von Japan ausging. 1996 und 1998 wurde von dem Berliner Label Bungalow unter dem Titel Sushi 3003. A Spectacular Collection of Japanese Clubpop bzw. Sushi 4004. The Return of Spectacular Japanese Clubpop jeweils eine Zusammenstellung mit Stücken japanischer Interpreten aus dem shibuya-kei-Umfeld auf CD veröffentlicht und im Rahmen der damals noch in Köln stattfindenden Musikmesse Popkomm unter dem jeweils gleichen Namen eine Party veranstaltet. 1998 hatte ich selbst bei der Sushi 4004-Party im Gloria KONISHI Yasuharu, Kopf von Pizzicato Five, und TANAKA Tomoyuki alias Fantastic Plastic Machine als DJs erlebt. Noch heute existiert in Köln eine Shibuya Lounge, in der in den 1990er Jahren junge deutsche „Hipsters“ zu jener Mixtur aus ausschließlich westlichen Klängen tanzten, die in ihren Augen japanischer war, als jede andere Musik, zu der sie zuvor getanzt hatten. In noch größerem Ausmaße hat in diesem Jahrzehnt visual-kei, der „visuelle Stil“, dazu beigetragen, dem Vorurteil, japanische Popmusiker seien nichts anderes als ein Haufen unkreativer Nachahmer westlicher Vorbilder, entgegenzuwirken. In engem Zusammenhang mit der weltweit boomenden Manga-Branche vermischen japanische Interpreten wie Dir en Grey, Versailles oder An Café die Ästhetik des britischen Glam-Rocks der 1970er Jahre mit der des französischem Barocks, japanischem Kabuki-Theater, Motiven aus den gothic novels des 19. Jahrhunderts und der Musik und Ikonographie des US-amerikanischen „Shock Rockers“ Marilyn Manson und konnten so nicht nur Japan, sondern auch in anderen Ländern Asiens, in Amerika und in Europa eine treue Anhängerschaft für sich gewinnen. Heute gibt es verschiedene deutschsprachige Websites über visual-kei, das deutschsprachige Printmagazin Peach und eine prosperierenden Handel mit DVDs, CDs und Fanartikeln von japanischen visual-kei-Acts in allen größeren deutschen Städten. Es kommt nicht von ungefähr, dass Tokio Hotel Tokio Hotel heißen und Sänger Bill Kaulitz so aussieht, wie er aussieht. Und weil die „echten Visus“ und die „echten Gothic Loli-
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Prolog tas“ diese Teenybopper als Ausverkauf ihrer Subkultur empfinden, gelang Cinema Bizarre, die ersten „echten“ deutschen visualkei-Band, eine Chartplatzierung, wenn auch nur eine sehr kurzfristige in den unteren Rängen der deutschen Top 100. Gerade diese Umkehrung der bislang eindeutig asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen „dem Westen“ als dem Herkunftsort aller popkulturellen Innovationen und Asien, der vermeintlichen Heimat des unkreativen Kopistentums, die in diesen auch in den USA und Europa Fuß fassenden japanischen Trends zum Ausdruck kommt, stellt den Gegenstand des Projektes dar, das ich während meiner Zeit als Mitarbeiter der Universität Heidelberg, der ich nun bald sein würde, durchzuführen beabsichtigte und das ich an diesem Tag noch im Rahmen eines Treffens der Research Area B „Public Spheres“ den mir noch unbekannten Kolleginnen und Kollegen im Cluster vorstellen würde. So sehr ich mich auch auf die Arbeit an diesem Projekt freute, waren meine Gefühle im Hinblick auf das, was da auf mich zukam, doch eher gemischt, als ich auf dem Weg zu diesem Treffen im Zug von Bern nach Heidelberg saß. Vor zwei Wochen erst waren wir aus unserer gemeinsamen Geburtsstadt Köln, in der wir beide den größten Teil unseres bisherigen Lebens gelebt hatten, nach Bern gezogen, weil meine Frau dort nun auch eine Anstellung gefunden hatte. Und nun waren es nicht einmal mehr drei Monate, bis mein Vertrag dort zu Ende ging und ich zumindest beruflich nach Heidelberg weiterziehen würde. Den Kopfhörer meines iPods auf den Ohren, machte ich mir Sorgen, zum einen, ob es mir wirklich gelänge, diese Arbeit bis dahin abzuschließen, denn das war eine Bedingung für meine Anstellung in Heidelberg, zum anderen lagen sowohl mein letzter Japanisch-Unterricht als auch mein letzter (und einziger) Japanaufenthalt mittlerweile mehr als zehn Jahre zurück, und ich befürchtete, dass meine bestenfalls noch rudimentären Kenntnisse des Japanischen im Vergleich zu den Sprachkompetenzen meiner mir noch unbekannten Kolleginnen und Kollegen im Cluster, von denen viele sicher ihren Abschluss in einer asiatischen Philologie gemacht haben würden, erbärmlich wirkten. Die gesamte Fahrt über war der Himmel januartypisch grau verhangen gewesen. Ich hatte bei meinem iPod, auf dem sich über 7000 Titel befinden, aber bei weitem nicht so viele von japanischen Künstlern, wie man es bei meinem Forschungsinteresse erwarten könnte, den „Zufällige Titel“-Modus eingestellt und gerade in dem Moment, in dem sich das Gerät zufällig für „Mon Amour Tokyo“ von Pizzicato Five entschieden hatte, brachen für eine ganz kurze Zeitspanne nur ein
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Ich bin Realist genug, um diese Koinzidenz der Ereignisse nicht für einen Fingerzeig des Schicksals zu halten, aber für einen kurzen Augenblick machte sie Sinn, und als dieser Augenblick vorüber war, fühlte ich mich deutlich zuversichtlicher.
5 „Als das Telefon klingelte, war ich in der Küche, wo ich einen Topf Spaghetti kochte und zu einer UKW-Übertragung der Ouvertüre von Rossinis Die diebische Elster pfiff, was die ideale Musik zum Pastakochen sein dürfte.“ (MURAKAMI Haruki, Mister Aufziehvogel, 1998, S. 7)
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Burn down the disco Hang the blessed DJ Because the music they constantly play It says nothing to me about my life The Smiths, Panic (von der CD The World Won’t Listen, Warner Music UK, 1986)
Die Musikwissenschaft und das Alltägliche Von Ereignissen wie diesen ist in der musikwissenschaftlichen Fachliteratur, die ich kenne, nur wenig zu lesen, dafür sind sie zu alltäglich. Zumindest ist das das Wort, das mir als erstes in den Sinn kommt, wenn ich mir die Frage stelle, was sie gemeinsam haben und warum von ihnen im akademischen Diskurs über Musik so gut wie nie die Rede ist. Natürlich bin ich mir über die Problematik einer solchen Eröffnung bewusst: Da kommt einer daher, reiht willkürlich ein paar subjektive Anekdoten über Leute aneinander, die in der Straßenbahn Musik hören, in Theatersälen, die sich eine Bühne nur im Namen leisten können, auf Einkaufstraßen, im Zug oder in der Küche, behauptet, dies sei der „alltägliche Umgang der Menschen mit Musik“, der werde in den Musikwissenschaft nicht thematisiert und das müsse sich ändern! Was ist denn daran alltäglich? Oder, anders herum gefragt, warum soll denn ausgerechnet das alltäglich sein? Und ich muss zugeben, als ich mit der Arbeit an dieser Dissertation begonnen habe, hätte ich diese Frage nicht beantworten können. Dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen anzustellen, hängt mit einem Gefühl des Mangels zusammen, das zugegebenermaßen ziemlich subjektiv ist, das sich aber schon sehr bald einstellte, nachdem ich mein Studium der Musikwissenschaft an der Universität zu Köln aufgenommen hatte, und das mich seitdem nie wieder verlassen hat. Während dieses Studiums habe ich eine Menge von interessanten und wissenswerten Dingen gelernt, viel Neues erfahren über Musik, die ich schon kannte und über Musik, der ich in seinem Rahmen überhaupt erst begegnet bin. Dies soll keine Ab-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen rechnung mit der Musikwissenschaft im Generellen oder meinem Musikwissenschaftsstudium im Besonderen werden; hätte es mir nicht gefallen, hätte ich das Fach nicht gemocht, ich wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, die Laufbahn eines Musikwissenschaftlers einzuschlagen. Doch von dem, was mich persönlich so sehr an Musik begeisterte, dass ich mich überhaupt dazu entschieden hatte, Musikwissenschaft zu studieren, war in den Veranstaltungen und in der musikwissenschaftlichen Literatur, die ich zur Vorbereitung auf Referate las oder wenn es galt, eine Hausarbeit zu schreiben, so gut wie nie die Rede. Und immer wenn ich in die Verlegenheit kam zu erklären, was es denn genau sei, dass mir in der Musikwissenschaft fehle, dann vermochte ich es nicht besser auszudrücken, als dass in ihr nicht das thematisiert werde, was „meinen alltäglichen Umgang mit Musik“, „mein alltägliches Musikerleben“ ausmache. So subjektiv dieses Gefühl des Mangels und die Formulierungen, die ich wählte, um es zu beschreiben, auch sein mochten, irgendwie hatte ich häufig den Eindruck, dass meine Gesprächspartner ziemlich genau verstanden, was ich damit meinte. Erst nach Abschluss meines Studiums fiel mir auf, dass dieser Begriff, „alltäglich“, den ich so oft gebraucht hatte, um zu artikulieren, was mir in meinem Fach fehlte, einfach, weil mir kein besserer eingefallen war, in der kulturwissenschaftlichen Literatur ziemlich häufig auftauchte (und manchmal sogar in der meist englischsprachigen musikwissenschaftlichen Literatur, die sich an den Kulturwissenschaften orientierte); dass alltäglich bzw. everyday – letzteres meist zusammengeschrieben und beides oft mit einem bestimmtem Artikel versehen, das Alltägliche oder the everyday – dort sogar einen Fachterminus darzustellen schien und noch dazu einen, der in letzter Zeit eine regelrechte Konjunktur zu erfahren schien. So oft der Begriff vor allem in der neueren Literatur aber auch auftauchte, ich habe ich ihn nie auf eine Art und Weise gebraucht gefunden, die mir erklärt hätte, worin denn sein fachspezifischer Gehalt besteht, was genau damit gemeint ist, wenn etwas im Rahmen der Kulturwissenschaften als alltäglich oder everyday bezeichnet wird. Den Gepflogenheiten wissenschaftlichen Arbeitens gemäß ging ich der Sache nach, indem ich den Begriff und die Synonyme bzw. Derivate, die mir in seinem Umfeld ebenso aufgefallen waren wie ihr uneinheitlicher Gebrauch, zu Suchbegriffen im Rahmen einer ausgiebigen Literaturrecherche machte: alltäglich, das Alltägliche, das Alltagsleben, das tägliche Leben bzw. everyday, the everyday, everyday life, daily life aber auch
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Die Musikwissenschaft und das Alltägliche quotidian, was schon ein wenig in Richtung der in diesem Zusammenhang auffällig prominenten französischen Sprache weist: quotidien, le quotidien, la vie quotidienne. Die Zahl der Treffer war so groß, dass sich mein Eindruck bestätigte, es hier wohl mit einen kulturwissenschaftlichen Fachbegriff zu tun zu haben. Aber noch ein weiterer Eindruck drängte sich mir bei dieser Recherche auf, nämlich es mit einem Fachterminus zu tun zu haben, der in gewisser Weise unsichtbar ist, einem Begriff, der so „alltäglich“ ist, dass er als Fachterminus oft gar nicht wahr genommen wird, und der daher manchmal auch in den Fällen in den Bibliothekskatalogen nicht als Schlagwort auftaucht, in denen dort tatsächlich Literatur katalogisiert worden ist, die sich explizit mit diesem Thema auseinandersetzt. Einerseits wurde mir bald schon klar, dass sich in gewisser Weise fast jeder Text implizit mit etwas auseinandersetzt, das man im kulturwissenschaftlichen Sinne – den ich noch mehr erahnte, als dass ich ihn hätte definieren können – als alltäglich bezeichnen könnte, dazu musste das Wort gar nicht unbedingt in seinem Titel oder unter den vergebenen Schlagwörtern auftauchen; andererseits tauchte es aber häufig in Titeln von Texten auf, in denen es dann aber in keiner Weise im Sinne eines kulturwissenschaftlichen Fachbegriffs gebraucht wurde. Irgendwann fand ich mich damit ab, dass sich das Gefühl, eine allen Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit genügende, vollständige Literaturrecherche zum Begriff(sfeld) des Alltäglichen durchgeführt zu haben, wohl nicht mehr einstellen würde, und ich begann die Literatur durchzuarbeiten, die ich bis dahin gefunden hatte. Bei aller Unsicherheit, was die Qualität meiner Recherche anbelangt: wie erwartet war die Ausbeute an musikbezogener Literatur zum Thema sehr gering ausgefallen. Auffällig prominent und vielversprechend schienen vor allem drei Monographien, von denen allerdings nur eine aus der Feder eines Musikwissenschaftlers stammt, und das auch nur zur Hälfte: Harris M. Bergers und Giovanna P. Del Negros Identity and Everyday Life: Essays in the Study of Folklore, Music, and Popular Culture (2004); er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Professor für Musik an der Texas A&M University, sie Professorin für Englisch an der gleichen Universität. Bei der Autorin bzw. dem Autor der beiden anderen Publikationen, Music in Everyday Life und Sounding Out The City: Personal Stereos and the Management of Everyday Life, beide 2000 erschienen, handelte es sich um Tia DeNora, eine Soziologin, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung an der University of Exeter tätig, und den Medienwissenschaftler Michael Bull von der University of Sussex. Darüber hinaus fanden sich noch ein paar
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen weitere musikbezogene Texte, meist kürzere Artikel, die einen der oben genannten Begriffe entweder im Titel trugen oder zur Erfassung deren Inhalts einer der Begriffe in einem musikwissenschaftlichen Katalog als Schlagwort vergeben worden war.1 Die Lektüre der drei oben genannten Monographien, die vom Titel her am genauesten dem zu entsprechen schienen, wonach ich gesucht hatte, versetzte mir in gewisser Weise einen Schrecken. Das war sogar ziemlich genau das, wonach ich gesucht hatte! Einerseits fühlte ich mich durch ihre Lektüre zwar darin bestätigt, dass ich das, was ich eher aus Hilflosigkeit denn aus Überzeugung „den alltäglichen Umgang mit Musik“ oder „mein alltägliches Musikerleben“ genannt hatte, scheinbar zu recht so bezeichnet hatte. Offenkundig war ich nicht der Einzige, der zur Beschreibung vergleichbarer musikalischer Ereignisse und vergleichbaren Musikerlebens das Wort „alltäglich“ gebrauchte. Und offenkundig war ich auch nicht der Einzige, der eine (musik-) wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen und diesem Erleben als Desiderat betrachtete. Alle drei Bücher sind voll mit Beschreibungen eben solcher Ereignisse und Erlebnisse, nach denen ich gesucht hatte, voll mit klugen, mir mitunter aus dem Herzen sprechenden Argumentationen, warum diese Ereignisse und Erlebnisse erforscht werden sollten, voll mit guten Ideen und Vorschlägen, wie ihre wissenschaftliche Erforschung vonstatten gehen könnte... und genau darin bestand auch mein Problem. Einen Schrecken hatte mir die Lektüre deshalb versetzt, weil ich anschließend das Gefühl hatte, mein Dissertationsvorhaben habe sich damit erledigt. Jetzt noch Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen anzustellen bedeute, das Rad neu zu erfinden. Bestenfalls könne ich noch auf Deutsch paraphrasieren, was auf Englisch längst geschrieben war. Es wäre nicht mein erstes Dissertationsprojekt gewesen, das geplatzt ist. Auch deshalb blieb ich stur und las die Texte noch einmal kritisch im Hinblick darauf, welche Fragen auch sie nicht beantworteten, was mir auch nach ihrer Lektüre noch fehlte. Nicht viel! Aber eine entscheidende Sache! Auch wenn ich mit ihren Autorinnen oder Autoren meist völlig darin übereinstimmte, dass das, was sie thematisierten, den „alltäglichen Umgang mit Musik“ dar1
Eine aus oben genannten Gründen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erhebende kleine Auswahl findet sich am Ende dieses Kapitels, und auch den folgenden Kapiteln ist der Übersichtlichkeit halber ein kürzeres Verzeichnis der jeweils verwendeten Literatur hintenan gestellt. Darüber hinaus findet sich, wie üblich, ein vollständiges Verzeichnis der verwendeten Literatur am Ende dieses Buches.
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Die Musikwissenschaft und das Alltägliche stellte, erklärte mir keines der Bücher, was daran alltäglich ist, was genau das bedeutet, „alltäglich“, und folglich, welche Ereignisse und Erlebnisse ich auch dann zu recht als „alltäglich“ bezeichnen kann, wenn ich wissenschaftliche Maßstäbe an die Verwendung von Begriffen lege, die den Status von Fachbegriffen für sich beanspruchen. Diesen Maßstäben zufolge ist es eine unabdingbare Eigenschaft eines Fachbegriffes in einer wissenschaftlichen Arbeit, dass er definiert wurde – und der scheinbar so selbstverständliche Begriff „alltäglich“, dieser unsichtbare Fachbegriff der Kulturwissenschaften, so unsichtbar, dass man schon ziemlich genau hingucken muss, damit einem auffällt, was einem bei jedem anderen Fachbegriff sofort ins Auge gesprungen wäre, wenn er nämlich undefiniert gebraucht wird, war schließlich der zentrale Begriff für mein Vorhaben. Entweder war er also zuvor schon an so prominenter Stelle ein für alle Male definiert worden, dass die Autoren eine Wiederholung dieser Definition oder die Nennung des Namens ihres Urhebers für überflüssig erachteten, und ich war einfach nur noch nicht darauf gestoßen. Oder ich war mit meinen Schwierigkeiten, das was ich meinte zu bezeichnen, wenn ich formulieren sollte, was mir an der Musikwissenschaft fehlte, und zu erklären, was die Bezeichnung meint, die mir bei diesen Gelegenheiten dann immer geradezu automatisch in den Sinn kam, nicht allein. Irgendwie schien es dem Begriff „alltäglich“ immer wieder zu gelingen, sich einer Definition zu entziehen und das so geschickt, dass es noch nicht einmal auffällt. Vielleicht lag genau darin auch der Grund für seine kommunikative Wirkkraft, vielleicht hatte ich deshalb so häufig das Gefühl, meine Gesprächspartner verstünden, worum es mir ging, wenn ich vom „alltäglichen Umgang mit Musik“ oder „meinem alltäglichen Musikerleben“ sprach, obwohl ich selbst nicht in der Lage war zu bestimmen, was das eigentlich ist. Die Ergebnisse der Literaturrecherche legten nahe, dass ich, um herauszufinden, was sich hinter dem Begriff des Alltäglichen verbirgt, das Gebiet der Musikwissenschaft würde verlassen müssen, dass ich hier nicht fündig werden würde, sondern mich den sehr viel zahlreicheren Treffern im Gebiet der Kulturwissenschaften, vor allem der Kultursoziologie würde zuwenden müssen. Eine der Folgen dieser „Abdrift“, um einen situationistischen Begriff zu verwenden, der uns später wieder begegnet, wenn es um mögliche Methoden einer Musikwissenschaft des Alltäglichen gehen wird, bestand darin, dass in dieser musikwissenschaftlichen Arbeit, die das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dieser kulturwissenschaftlichen Literatur ist, über weite Strecken
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen weder von Musik noch von Musikwissenschaft die Rede sein wird. Ich bin mir im klaren darüber, dass das ebenso unüblich ist, wie in einem wissenschaftlichen Text so ausgiebigen Gebrauch von der ersten Person Singular zu machen – dass ich es trotzdem tue, hat einen Grund, der im Verlaufe der Arbeit noch ersichtlich werden wird –, und dass ich mich damit dem Risiko aussetze, durchaus berechtigte Erwartungen, die man an eine musikwissenschaftliche Arbeit stellt, eventuell nicht zu erfüllen. Da eine Musikwissenschaft des Alltäglichen meines Erachtens aber nicht umhin kann, ihren Gegenstand zu definieren – gerade deshalb nicht, weil er so selbstverständlich zu sein scheint – halte ich diesen „Abdrift“ dennoch für unvermeidbar. Diese Arbeit kann nicht den Anspruch erheben, das Feld einer möglichen und erst noch zu entwickelnden musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alltäglichen vollständig abzubilden. Ihre Lektüre ersetzt auch in keiner Weise die der anderen, bereits genannten Texte zum Thema, die ich mich deshalb hier nicht zu paraphrasieren entschieden habe. Vielmehr hoffe ich, dass diese Arbeit in Zukunft mit diesen anderen Texten in einen gewinnbringenden Dialog treten wird, der vielleicht wirklich irgendwann dazu führt, dass das Alltägliche als Gegenstand Einzug in die Musikwissenschaft hält. In ihrem Verlaufe werde ich versuchen zu zeigen, dass und vor allem warum musikalische Ereignisse und musikalische Erlebnisse wie die oben beschriebenen alltäglich sind, und dass es nicht von ungefähr kommt, dass sie – gerade aus diesem Grund – bislang nicht oder nur sehr selten Gegenstand der Musikwissenschaft waren. Vor allem aber hoffe ich nachvollziehbar machen zu können, warum sich die Musikwissenschaft meines Erachtens in Zukunft eines solchen Gegenstandes verstärkt annehmen sollte, und einige praktikable methodologische Vorschläge zu unterbreiten, wie eine solche Annäherung vonstatten gehen könnte. Vornehmlich und zu allererst gilt es aber, den Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen genau zu bestimmen, und zu diesem Zweck werde ich nun den Bereich der Musikwissenschaft vorerst verlassen müssen. Aber wer nie fortgeht, kommt auch niemals heim!
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Die Musikwissenschaft und das Alltägliche
Literatur Berger, Harris M. und Giovanna P. del Negro (2004): Identity and Everyday Life: Essays in the Study of Folklore, Music, and Popular Culture, Middletown, CT: Wesleyan University Press. Bull, Michael (2000): Sounding Out the City: Personal Stereos and the Management of Everyday Life, Oxford und New York: Berg. Crafts, Susan D.; Daniel Cavicchi, Charles Keil and the Music in Daily Life Project (1993): My Music, Hanover und London: Wesleyan University Press. DeNora, Tia (2000): Music in Everyday Life, Cambridge: Cambridge University Press. Hesmondhalgh, David (2002): „Popular Music Audiences and Everyday Life“, in: ders. und Keith Negus (Hg.), Popular Music Studies, London: Arnold, S. 117-130. MURAKAMI, Haruki (1998): Mister Aufziehvogel, Köln: Dumont. North, Adrian C. und David J. Hargreaves (1997a): „Experimental Aesthetics and Everyday Music Listening“, in: David J. Hargreaves und Adrian C. North (Hg.), The Social Psychology of Music, Oxford: Oxford University Press, S. 84-106. — (1997b): „The Musical Milieu: Studies of Listening in Everyday Life“, in: The Psychologist, July 1997, S. 309-312. North, Adrian C.; David J. Hargreaves und Jon J. Hargreaves (2004): „Uses of Music in Everyday Life“, in: Music Perception 22, 1, S. 41-78. Seibt, Oliver (i.D.): „Jenseits der Authentizität, oder: Wie es kam, dass die Japaner an einer Gitarre nun doch cool aussehen“, in: Detlef Altenburg (Hg.), Musik und kulturelle Identität (Bericht vom XIII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung), Kassel: Bärenreiter. Smith, Zerick Kay (1999): „The Rhythm of Everyday Politics: Public Performance and Political Transitions in Mali, in: Angela M. S. Nelson (Hg.), This Is How We Flow: Rhythm in Black Cultures, Columbia: University of South Carolina Press, S. 125136.
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„Der Wunder höchstes ist, dass uns die wahren, echten Wunder so alltäglich werden können, werden sollen.“ Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise
„Der Alltag ist eine graue Decke, darunter ist die Jungfräulichkeit der Welt verborgen.“ Eugène Ionesco, Bekenntnisse (1969, S. 27)
Auf der Suche nach dem Alltäglichen Auch wenn das, was darauf zu sehen ist, mittlerweile ein wenig antiquiert erscheint, irgendwie hatte ich mir das Alltägliche immer vorgestellt wie ein Wimmelbild von Ali Mitgutsch! Also gehe ich nun, da ich darüber schreibe, in die Buchhandlung, wo ich vor einer Auswahl von drei Wimmelbildbüchern stehe: Auf dem Lande, Komm mit ans Wasser und Rundherum in meiner Stadt sind vorrätig. Ich greife zu Letzterem, was vielleicht daran liegt, dass ich genau dieses Wimmelbilderbuch schon als Kind besessen habe, oder dass ich selbst fast mein ganzes Leben in der Stadt gelebt habe. Auf jeden Fall scheint mir das, was darin zu sehen ist, am genauesten das abzubilden, was ich mir unter dem Begriff des Alltäglichen vorstelle. Dabei ist es völlig egal, ob auf dem Bild eine Szene dargestellt ist, in der die meisten Figuren ihrer Arbeit nachgehen – im Stadtzentrum als Bäcker, Lastwagenfahrer oder Zeitungsverkäufer, als Maurer, Schreiner oder Bürokraft auf der Baustelle oder als Werftarbeiter, Schiffskoch oder Kapitän im Hafen –, ihre Freizeit genießen – im Park, im Schwimmbad oder auf dem Jahrmarkt – oder ob darauf die Aufsicht auf ein mehrstöckiges Haus zu sehen ist, dessen Fassade fehlt und so den Blick freigibt auf das Geschehen in den einzelnen Räumen. Das Dargestellte entspricht in allen Fällen gleichermaßen meiner Vorstellung vom Alltäglichen. Keins der Bilder, auf dem die unterschiedlichen Lebensbereiche, das Arbeitsleben, das Freizeitleben und das Privatleben, nicht ineinandergreifen würden, und doch geht das Alltägliche in keinem ganz auf. Im geschäftigen Stadtzentrum rennen zwei blonde Jungen fangen spielend über die Straße, verfolgt von einer Meute Hunde, die den Streifenwagen mit den beiden Polizisten darin zur Voll31
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen bremsung zwingt. Ein anderer Hund wird vorschriftsmäßig von seinem Besitzer an der Leine spazieren geführt, vorbei an einer Litfasssäule, die gerade mit neuen Werbeplakaten beklebt wird. Der Besitzer des Schnellimbisses, vor dessen Ladenlokal die Litfasssäule steht, hat scheinbar gerade nichts zu tun und betrachtet versonnen den Plakatkleber bei der Arbeit. Auf der Verkehrsinsel mit dem Springbrunnen halten zwei Frauen, die sich zufällig in der Stadt begegnet sind, ein Schwätzchen, während der Sohn der einen quengelig am Arm seiner Mutter zieht, weil er sich langweilt und weitergehen möchte. Nicht weit davon, in einer Seitenstraße, hat sich eine Traube von Schaulustigen zusammengefunden, die gebannt den Dreharbeiten zu einem Film zusieht. Und eine dicke Dame überquert, bis über beide Ohren mit Einkäufen bepackt, gedankenverloren die Straße, obwohl die Fußgängerampel rot zeigt. Keine Chance für den Jungen auf dem blauen Rennrad, da noch rechtzeitig zu bremsen.
Abb. 2: Rück- und Vorderseite des Buchumschlags von Ali Mitgutsch, Rundherum in meiner Stadt, 1968.
Natürlich passiert den beiden, dieser dicken Dame und diesem Jungen auf seinem blauen Rennrad, so etwas nicht jeden Tag. Hoffentlich ist der Frau bei dem Unfall nichts passiert. Selbst wenn nicht, es wird doch ein Schock für sie gewesen sein, und beim nächsten Kaffeekränzchen wird sie ihren Freundinnen immer noch aufgeregt und ausführlich von diesem Ereignis berichten. Den Jungen hindert schon sein kaputtes Fahrrad daran,
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Auf der Suche nach dem Alltäglichen dessen Vorderrad bei dem Aufprall auf das opulente Gesäß der Dame völlig deformiert wurde, diesen Tag so schnell zu vergessen. Nein, für die beiden war dieses Ereignis alles andere als alltäglich. Aber wenn man von den beiden absieht... Irgendwo in der Stadt geschieht so ein Unfall, in den Fahrradfahrer und Fußgänger verwickelt sind, jeden Tag. Vielleicht scheint deshalb keine der Figuren in der unmittelbaren Umgebung des Geschehens Notiz davon zu nehmen. Für die Polizisten, die gerade noch mit Mühe und Not verhindern konnten, selbst in einen Unfall verwickelt zu werden, als die Hundemeute den beiden spielenden Kindern über die Straße nachjagte, und die das Geschehen jetzt wohl werden protokollieren müssen, gehört so etwas zum Alltag. Auch die lokale Presse, deren Erzeugnisse am Zeitungskiosk, vor dem sich der Zusammenstoß ereignet, verkauft werden, wird in ihrer morgigen Ausgabe von diesem Vorfall nichts berichten. Für alle anderen außer der dicken Dame und dem Jungen auf dem Rennrad scheint ein solches Ereignis einfach zu alltäglich zu sein. Was alltäglich ist und was nicht, ist also relativ. Was für den einen ein einschneidendes Erlebnis („Schließlich bekommt man nicht jeden Tag die Gelegenheit, bei den Dreharbeiten zu einem Film dabei zu sein“), damit verdienen andere (der Kameramann, der Regisseur und die Darsteller) ihr „tägliches Brot“. So schlimm es für die dicke Dame und den Jungen auf dem blauen Rennrad auch gewesen sein mag, für die Polizisten ist das, was da geschehen ist so alltäglich wie Schwätzchen haltende Frauen, Gassi gehende Hundebesitzer, maulaffenfeil haltende Imbissbudenbetreiber und Plakate klebende Plakatkleber – nur die Hundemeute, wie die plötzlich direkt vor ihrem Wagen über die Straße jagt... das war schon ein Schreck! Und doch macht die Szene auf mich den Eindruck von Alltäglichkeit. Wessen Alltag ist es, der in mir diesen Eindruck erweckt? Nicht der der dicken Dame oder der des Jungen auf dem blauen Rennrad, soviel ist klar. Der der Polizisten? Und wie oft müssen die derartige Unfälle erleben, damit sie für sie alltäglich werden? Jeden Tag? Auch am Wochenende? Oder nur an den Tagen, an denen sie Dienst haben und mit ihrem Streifenwagen auf den Straßen der Stadt im Einsatz sind? Und wenn sie mal ein paar Tage Streife fahren, ohne mit einem solchen Unfall zwischen Fahrradfahrern und Fußgängern konfrontiert zu werden? Hören diese dann auf alltäglich zu sein? Vielleicht darf man den Begriff des „Alltäglichen“ nicht allzu wörtlich nehmen. Das Alltägliche scheint nicht das zu sein, was wem auch immer alle Tage widerfährt. Es scheint sich vielmehr
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen als Kategorie verselbständigt zu haben, ebenso Ereignisse zu umfassen, die ständig, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute irgendjemandem widerfahren, wie solche, die nicht ganz so häufig und regelmäßig vorkommen. Alltäglichkeit ist offenbar keine Frage der Quantität, sondern eine Qualität, die Ereignissen zugeschrieben wird. Doch dazu später mehr… Derweil im Park. Die einen genießen ihre Freizeit, gehen mit oder ohne Hund an der Leine spazieren, lassen sich im Ruderboot auf dem See treiben, sitzen auf einer Parkbank und lesen ein Buch oder stricken eine Schal – der nächste Winter kommt bestimmt und man kann gar nicht früh genug damit anfangen, sich darauf vorzubereiten. Andere gehen ihrer Arbeit nach, verkaufen Eis, Ballons oder Tickets für den Flohzirkus. Eine ältere Lehrerin mit einem Dutt warnt die Mädchen aus ihrer Schulklasse mit erhobenem Zeigefinger vor all den Versuchungen, die das Leben noch für sie bereithalten wird und die, gibt man ihnen nach, dazu führen, dass man einmal so endet wie die beiden langhaarigen Hippies, die am Fuße des Denkmals hocken und ihre Zeit unnütz vertun mit ihrem Herumgelungere und Gitarrengeschrammel.
Abb. 3: Ali Mitgutsch – Ohne Titel (Mitgutsch 1968)
Da fällt das Urteil der Lehrerin über die befrackten Musiker des Kurorchesters, die ein paar Meter weiter auf einem eigens errichteten Podest ein mittägliches Konzert geben, schon wohlwollender aus. Vielleicht wird sie gleich eine kurze Rast einlegen, sich dort 34
Auf der Suche nach dem Alltäglichen mit ihren Mädchen auf den Holzstühlen niederlassen, die vor dem Podest für das Publikum aufgestellt wurden, und dem Konzert eine Weile lauschen. Es wird Zeit, den Ton anzuschalten! Auch wenn über weite Strecken hinweg davon vielleicht nichts zu merken ist, schließlich ist dies eine musikwissenschaftliche Arbeit, und eine Darstellung des Alltäglichen in Form eines Wimmelbildes ohne Ton dürfte Musikwissenschaftler nur schwerlich zufriedenstellen! Also, Vögel zwitschern, Menschen unterhalten sich, ohne dass man verstehen würde, was genau sie sagen. Zwei Jungs spielen Cowboy und Indianer und imitieren dabei mit dem Mund ständig das Geräusch von Pistolenschüssen, ein Parkwächter brüllt zwei anderen Jungs hinterher, die auf den Rasenflächen fangen spielen, obwohl das streng verboten ist. Die Ruderer auf dem See wollen zurück ans Ufer und man hört, wie sie in schöner Regelmäßigkeit ihre Paddel ins Wasser tauchen. „Und Gott sei Dank“, denkt die Lehrerin, „übertönt die schöne Musik des Kurorchesters hier das scheußliche Geschrammel und Gegröle, das die Hippies Musik nennen! Wenn nur nicht das Geräusch der Straßenbahn, die alle zehn Minuten direkt am Park vorbeifährt, den Genuss der Musik trüben würde, dann könnte ich mal für einen Moment ausspannen, den Alltag um mich herum mal für ein kurzes Weilchen vergessen!“ Denn so friedlich diese durch und durch alltägliche Szene auch wirkt, vom Alltäglichen braucht man immer wieder mal eine Auszeit. Der Alltag ist nicht unbedingt der Ort, an dem man gerne verweilt. Dumm nur, dass er fast überall ist! Nein, das Alltagsleben ist wirklich nicht gerade die bevorzugte Zeit im Leben, auch wenn es oder vielleicht gerade weil es die ist, von der man am meisten hat. Aber die dicke Frau, die in den Fahrradunfall im Stadtzentrum verwickelt war... leider ist sie doch nicht unverletzt davon gekommen. Und nachdem sie jetzt zwei Wochen wegen einer Oberschenkelfraktur im Krankenhaus gelegen hat, wünscht sie es sich sehnlich wieder herbei, ihr Alltagsleben. Das Alltägliche ist äußerst ambivalent, weder richtig schlecht noch wirklich gut, öde und nervenaufreibend, so dass man sich ständig hinweg wünscht. Aber wenn man es gezwungenermaßen eine Zeit lang entbehren muss, dann vermisst man ihn auch, diesen Rückzugsraum, den einem das Alltagsleben bieten. Auch wenn das Alltägliche also eine Frage von Qualität ist und nicht von Quantität, so ist es doch eine Qualität, die nur schwer zu bestimmen ist, die ständig ihren Charakter zu wechseln scheint. Doch auch dazu später mehr…
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Was jetzt noch fehlt, um das komplett zu machen, was ich mir unter dem Alltäglichen vorgestellt und in Ali Mitgutschs Wimmelbildern wiedergefunden habe, kann man weder hören noch sehen, obwohl es von dem, was im Alltag zu hören und zu sehen ist, häufig seinen Ausgang nimmt. Wäre dies ein Film, müsste er sich an dieser Stelle eines Kniffes bedienen: Eine der Figuren würde heran gezoomt, um sie als Sprecher zu identifizieren, und dann würde man einen Monolog hören, aus dem Off gesprochen, in dem das innere Erleben der Figur in dieser Situation geschildert würde. Eines ähnlichen, literarischen Tricks habe ich mich soeben unwillkürlich bedient, als ich das mögliche Innenleben der an der Welt und am Alltäglichen leidenden Lehrerin durch eine direkte Rede, nein, Denke versucht habe, darzustellen. Durch die Verwendung solcher filmischen oder literarischen Mittel entsteht zwangsläufig der Eindruck, das Innenleben der Figur bestünde aus klar artikulierten Gedanken, ausformulierten Sätzen. Dabei bin ich mir gar nicht so sicher, ob diese Mittel genau das abzubilden vermögen, was in der Lehrerin tatsächlich vor sich gegangen ist, als sie sich, nachdem sie sich versichert hat, dass ihre Mädchen gebannt der Musik lauschen und gerade keiner Aufsicht bedürfen, auf dem Holzstuhl zurückgelehnt hat. Existiert dieses innere Erleben wirklich in Form von ausformulierten Gedanken, oder ist es nicht eher ein diffuses Gefühl, eine Stimmung, für die ich als Verfasser dieser Zeilen oder als Regisseur eines Films ein sprachliches Äquivalent finden muss? Habe ich andererseits ohne die Schilderung dieses inneren Erlebens der Figuren nicht einen wesentlichen Teil des Alltäglichen außer Acht gelassen? Um das, was ich mir unter dem Alltäglichen vorstelle, in seiner ganzen Tragweite zu erfassen, reicht es nicht aus zu beschreiben, was in einer Szene wie der im Stadtzentrum oder der im Park zu sehen ist. Und selbst wenn ich den Ton anstelle, fehlt doch noch ein wesentlicher Aspekt. Und auch dazu später mehr... Als sich die Türen der Straßenbahn, die vor ein paar Minuten noch am Park vorbeigefahren war – just in dem Moment, als sich die Lehrerin auf ihrem Stuhl zurücklehnte, um für einen kurzen Moment dem Alltag zu entfliehen –, ein paar Haltestellen weiter wieder öffneten, strömten dutzende Menschen auf der Flucht vor dem Regen, der ganz plötzlich eingesetzt hatte, in den Wagen, darunter eine ältere Frau mit einem Fahrrad und eventuell schmutzigen Reifen. Mittlerweile hatte ich erfahren, was das Alltägliche alles nicht ist: keine Frage der Quantität, keine so ohne weiteres bestimmbare Qualität und nichts, was sich in dem er-
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Auf der Suche nach dem Alltäglichen schöpft, was man sehen oder hören kann. Was das Alltägliche ist, wusste ich aber immer noch nicht und versuchte es nun durch die Lektüre der kulturwissenschaftlichen Literatur herauszufinden, auf die ich bei meiner Literaturrecherche gestoßen war. Auch hier fielen mir wiederum drei Bücher auf, die in dieser Hinsicht besonders vielversprechend wirkten, drei wiederum englischsprachige Einführungen in die Alltagstheorie: Critiques of Everyday Life von dem an der University of Western Ontario tätigen Soziologen Michael E. Gardiner (2000), Everyday Life and Cultural Theory: An Introduction von Ben Highmore (2002a), Senior Lecturer für Cultural and Media Studies an der University of the West of England – zu dieser Einführung erschien im gleichen Jahr und beim gleichen Verlag auch ein von Highmore herausgegebener Everyday Life Reader – sowie Everyday Life: Theories and Practices from Surrealism to the Present (2006) von Michael Sheringham, Marshal Foch Professor für französische Literatur in Oxford.
Abb. 4: Synoptische Darstellung der in Gardiner 2000, Highmore 2002a und Sheringham 2006 besprochenen Autoren(gruppen) Alle drei Überblickswerke sind so gegliedert, dass jedes Kapitel im jeweiligen Hauptteil des Buches einem Autoren oder einer Gruppe von Autoren gewidmet ist, der bzw. die sich theoretisch mit Fragen des Alltäglichen bzw. des Alltagslebens beschäftigt hat; über
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen alle drei Einführungen verteilt insgesamt vierzehn Autoren(gruppen), deren Namen mir in den meisten Fällen schon aus anderen Zusammenhängen als der Beschäftigung mit dem Alltäglichen geläufig waren. Und als wären das nicht schon genug, wenn es darum geht, eine Literaturliste für das eigene Dissertationsprojekt zusammen zu stellen, traf ich in dem von Highmore herausgegebenen Everyday Life Reader auf die Namen von 27 weiteren Autoren, die sich offenkundig auch theoretisch mit dem Alltäglichen befasst hatten, auch darunter eine ganze Reihe mir bereits aus unterschiedlichen akademischen Fach- und künstlerischen Tätigkeitsbereichen bekannter Namen wie Sigmund Freud, Erving Goffman, Raymond Williams, Bronislaw Malinowski, Edgar Morin, Pierre Bourdieu, Jean-Luc Godard, Stuart Hall, Paul Willis, Siegfried Kracauer oder Jean Baudrillard. Aber auch das war nur die Spitze des Eisberges: Einige der Namen, denen ich bei sowohl bei Gardiner, als auch bei Highmore und bei Sheringham begegnet war – André Breton, Louis Aragon, Robert Desnos, Walter Benjamin, Georges Bataille, Roger Caillois, Michel Leiris, Henri Lefebvre, Guy Debord, Roland Barthes, Michel de Certeau, Michel Maffesoli – tauchten auch in anderen Texten immer wieder gemeinsam auf, in unterschiedlichen Zusammenhängen zwar und in verschiedenen Kombinationen, aber ich konnte wohl zurecht davon ausgehen, dass ich es hier in gewisser Weise mit einer französischsprachigen Denktradition im Hinblick auf das Alltägliche zu tun hatte. Die sollte aber nicht die einzige bleiben. Eine weitere, vornehmlich deutschsprachige Denktradition, die mir häufig unter der Bezeichnung „Alltagsphänomenologie“ begegnete und in der Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann die zentralen Namen zu sein schienen – wobei mir der Name Erving Goffman auch in diesem Kontext das ein oder andere Mal begegnete –, erfuhr bei Gardiner, Highmore und Sheringham zwar keine Berücksichtigung, versprach aber, den Berg der zu bewältigenden Lektüre noch weiter anwachsen zu lassen. Außer auf die drei genannten stieß ich aber auch noch auf eine ganze Reihe anderer rezenter Einführungen in die Alltagsforschung, bei denen allerdings nicht so leicht ersichtlich war, in wessen theoretische Überlegungen sie einführten, weil sie nicht chronologisch nach Autoren, sondern systematisch nach Themengebieten gegliedert waren: Interpreting Everyday Culture, herausgegeben von Fran Martin (2003), Understanding Everyday Life herausgegeben von Tony Bennett und Diane Watson (2003), Philosophizing the Everyday. Revolutionary Praxis and the Fate of Cultural Theory von John Ro-
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Auf der Suche nach dem Alltäglichen berts (2006) – sogar zwei Bücher, die im gleichen Jahr, 2005, bei zwei so themenverwandten Verlagen wie Sage und Routledge unter exakt dem selben Titel erschienen waren, waren darunter, Culture and Everyday Life, das eine von Andy Bennett, das andere von David Inglis, letzteres erschienen in der von Anthony Elliott bei Routledge herausgegebenen Reihe The New Sociology, in der bereits Religion and Everyday Life von Stephen Hunt (2005) erschienen war. Acht weitere Bände waren angekündigt, die Titel immer nach dem gleichen Muster gestrickt: Community..., SelfIdentity..., Consumption... usw. ... and Everyday Life! Wie der Reihentitel nahelegte, schien die ganze neuere Soziologie eine einzige Alltagsforschung zu sein! Und hatte Bronislaw Malinowski, der „Vater der modernen Ethnologie“, auf dessen Namen ich in Highmores Everyday Life Reader gestoßen war, sich nicht auch von seinen Vorgängern abgegrenzt, indem er durch lange Feldforschungsaufenthalte auf den Trobriand-Inseln das Alltagsleben der dort lebenden Menschen zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hatte, während sich die Ethnologen vor ihm vor allem mit der „materiellen Kultur“ und aus dem Leben der jeweiligen Gesellschaften herausragenden Ereignissen wie Ritualen beschäftigt hatten? War folglich also die ganze Ethnologie seit Malinowski eine Alltagsforschung?!! Von den Cultural Studies, von denen mit Raymond Williams, Stuart Hall und Paul Willis drei prominente Vertreter in der Riege der von Highmore für den Everyday Life Reader zusammengestellten Autoren auftauchten, wurde so etwas auf jeden Fall behauptet: „With respect to [cultural studies], it is clear that some notion of ‚everyday life‘ has been a central, even foundational concept in its development, from its origins in the work of Richard Hoggart, E. P. Thompson and Raymond Williams in the 1950s, to the more formal establishment of British cultural studies (the so-called ‚Birmingham School‘) in the 1970s and its more recent extension to Australia, North America, and beyond.“ (Gardiner 2000, S. 8)
Deshalb war in der Trefferliste meiner Literaturrecherche auch ein weiterer ihrer prominentesten Vertreter aufgetaucht: John Fiske mit einem „Cultural Studies und Alltagskultur“ (2001) betitelten Artikel, in dem er auf einige der Autoren – Bakhtin, Bourdieu, de Certeau – Bezug nimmt, denen ich schon bei Gardiner, Highmore und Sheringham begegnet war. Überhaupt schien die französischsprachige Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen einen wichtigen Einfluss für die englischsprachigen Cultural Studies darzustellen. (Und wie sich später herausstellen sollte,
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen als ich entdeckte, dass de Certeau explizit auf die Arbeiten von Raymond Williams Bezug nimmt, ist auch das Gegenteil der Fall.) Spätestens an diesem Punkt war ich mir endgültig sicher, dass ich es nicht nur mit einem riesigen und florierenden Bereich der Sozial- und Kulturwissenschaften zu tun hatte, dessen fachliterarische Produktion ins Uferlose zu reichen schien, sondern dass ich mich vor allem würde beschränken und eine Auswahl treffen müssen, wenn ich nicht die nächsten Jahre mit der Suche nach der Bedeutung des Begriffs „alltäglich“ verbringen wollte. Nach einer ersten groben Durchsicht der gesamten Literatur, auf die ich bei meiner sicherlich unvollständigen Recherche gestoßen war, schien auch mir eine Konzentration auf die französischsprachige Alltagstheorie am vielversprechendsten. Denn anders als von vielen anderen Autoren und auch von mir bis dato, der ich es mir wie ein Wimmelbild von Ali Mitgutsch vorgestellt hatte, das man aus einer scheinbar objektiven Aufsicht in Ruhe betrachten kann, wird das Alltägliche hier nicht als ein real existenter Lebensbereich verstanden, der sich einer phänomenologischen oder ethnographischen Beobachtung ohne weiteres erschließt, sondern als ein epistemologisches Problem. Deshalb erhoffte ich mir hier am ehesten Aufschluss zu darüber erhalten, was sich hinter dem Begriff des „Alltäglichen“ verbirgt. Bis auf den ersten sind alle der sechs Autoren(gruppen), mit deren alltagstheoretischen bzw. alltagstheoretisch relevanten Arbeiten ich mich im Folgenden beschäftigen werde, auch in einem der drei Übersichtswerke von Gardiner, Highmore oder Sheringham vertreten – die unterlegten Kästen in Abb. 4 indizieren, wie sich die hier getroffene Auswahl zu der dort jeweils getroffenen verhält. Das entscheidende Kriterium für meine Auswahl war dabei stets, inwieweit sich das, was die betreffenden Autoren(gruppen) zum Alltäglichen zu sagen hatten, zu einer allmählich Gestalt annehmenden Definition des Begriffes zusammenfügen ließ. Das bedeutet in keiner Weise, dass die hier nicht berücksichtigten Autoren nichts zu dieser Definition hätten beizusteuern gehabt. Alle neun anderen bei Gardiner, Highmore und Sheringham vorkommenden Autoren(gruppen) – Georg Simmel, die Dadaisten, Walter Benjamin, Mikhail M. Bakhtin, Mass Observation, die Situationistische Internationale, Agnes Heller, Georges Perec und Dorothy E. Smith – haben wesentliche Beiträge zum Verständnis des Alltäglichen geleistet, sie würden dort sonst kaum besprochen werden. Und das Gleiche gilt natürlich auch für die Autoren, die in diesen drei Überblickwerken nicht
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Auf der Suche nach dem Alltäglichen berücksichtigt wurden, von denen aber Texte in Highmores Everyday Life Reader vertreten sind, für die alltagsphänomenologischen Autoren, allen voran Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann, und auch für viele andere Autoren aus den Bereichen der Soziologie, Ethnologie und der Cultural Studies darüber hinaus, deren vollständige Aufzählung allein schon ein ambitioniertes Unterfangen darstellen würde. Ich hätte niemals allen in gleichem Maße und zur Genüge gerecht werden können. Für die sechs Autoren(gruppen), denen die folgenden sechs Kapitel gewidmet sind – Sigmund Freud, die Surrealisten, das Collège de Sociologie, Henri Lefebvre, Roland Barthes und Michel de Certeau –, habe ich mich deshalb entschieden, weil sie für mich die entscheidenden Knotenpunkte in dem roten Faden darzustellen scheinen, den eine Geschichte von einem sich allmählich herauskristallisierenden Begriff des Alltäglichen braucht, um gleichzeitig nachvollziehbar und überschaubar zu bleiben. Diese Geschichte habe ich in zwei Abschnitte unterteilt, weil mir scheint, dass der Zweite Weltkrieg wie schon der Erste eine entscheidende Zäsur im Hinblick auf die Beschäftigung mit dem Alltäglichen darstellt. Doch während der Erste häufig als einer der Gründe dafür genannt wird, warum die Autoren, die zwischen den beiden Weltkriegen über das Alltägliche schrieben, sich diesem mit einem mitunter überschwänglichen Entdeckergeist überhaupt erst zugewandt hatten, scheint die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs eine der Ursachen für das Bedürfnis gewesen zu sein, das Alltagsleben schon bald noch seiner Beendigung einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Dass eine der Hauptursachen für dieses Bedürfnis französischer Intellektueller darin zu sehen ist, wie es den Nationalsozialisten in Deutschland gelungen war, große Teile der Bevölkerung hinter sich zu bringen, indem sie unter Einsatz aller zu Verfügung stehenden Medien deren Alltagsleben ideologisch fast vollständig kolonialisierten, ist eine These, die meines Erachtens nahe liegt, sich im Nachhinein aber nicht eindeutig belegen lassen wird. Mit großer Sicherheit hingegen lässt sich sagen, dass, während die Autoren vor dem Zweiten Weltkrieg das Alltägliche zwar thematisierten, ihm aber nie ihr primäres Interesse galt, Henri Lefebvres Kritik des Alltagslebens, deren erster Band 1947 erschien, den eigentlichen Beginn eines intellektuellen Diskurses über das Alltägliche als Gegenstand sui generis markiert. Ohne die im Folgenden besprochenen Beiträge Freuds, der Surrealisten und der eng mit ihnen verbundenen Mitglieder des Collège de Sociologie wäre dieser Diskurs aber wahr-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen scheinlich niemals entstanden und ist er mit Sicherheit nicht zu verstehen.
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Die Entdeckung des Alltäglichen
„Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn ich auf Dinge stoße, die jedermann bekannt sind, und die jeder in der nämlichen Weise versteht, da ich bloß vorhabe, das Alltägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten. Ich sehe nicht ein, weshalb der Weisheit, die Niederschlag der gemeinen Lebenserfahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen der Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die Verschiedenheit der Objekte, sondern die strenge Methode bei der Feststellung und das Streben nach weitreichendem Zusammenhang machen den wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.“ Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens (2000, S. 220f.)
Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben Es scheint auf den ersten Blick vielleicht nicht nachvollziehbar, warum ein chronologischer Abriss der akademischen Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen im Rahmen einer musikwissenschaftlichen Arbeit ausgerechnet mit Sigmund Freud beginnen sollte. Weder Gardiner (2000) noch Highmore (2002a) oder Sheringham (2006) widmen dem Vater der Psychoanalyse in ihren nach Autoren gegliederten Überblickswerken über die Alltagsforschung ein eigenes Kapitel. Und mit Musik habe Freud auch nicht viel anfangen können, wie Storr an mindestens zwei Stellen in seiner Einführung in Freuds Denken betont (2004, S. 12 und 91), allenfalls noch mit der Oper, „jener Stilrichtung, die [wie Storr behauptet] am ehesten unmusikalischen Menschen zusagt“ (S. 12) (– eine Bemerkung, die Storrs eigenes Urteilsvermögen in Sachen Musik zumindest bedenkenswert erscheinen lässt). Zwar veröffentlichte Freud 1901 ein Buch mit dem Titel Zur Psychopathologie des Alltagslebens, doch entgegen den Erwartungen, die dieser Titel wecken mag, ging es Freud darin nicht primär um das Alltägliche als ein sich qualitativ von anderen unter-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen scheidender Lebensbereich, sondern um Psychopathologien wie das „Vergessen von Eigennamen“ und das „Vergessen von fremdsprachigen Worten“, um das „Versprechen“, „Verlesen und Verschreiben“, das „Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen“ oder das „Vergreifen“, deren „innere Gleichartigkeit“ sich, Freud zufolge, schon sprachlich durch die „gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe ‚ver-‘“ andeute (Freud 2000, S. 303) – kurz, um Fehlleistungen und „Symptom- und Zufallshandlungen“, die er zunächst einzig aus einem quantitativen Grund, allein aufgrund der Häufigkeit ihres Auftretens dem Alltagsleben zuzurechnen scheint. Mit ihnen beschäftigte sich Freud, weil sie ihm einen weiteren Weg zum eigentlichen Gegenstand seines Interesses eröffneten: dem Unbewussten. Als „Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten“ und als „sicherste Grundlage der Psychoanalyse“ (Freud 1994a, S. 131) hatte Freud zuvor schon die Traumdeutung ausgemacht. In seinem gleichnamigen Buch, vordatiert auf das Jahr 1900, tatsächlich aber schon im November 1899 erschienen, ging er davon aus, dass, so banal oder absurd es uns auch erscheinen mag, das, was wir träumen, alles andere als zufällig und aussagelos ist. Vielmehr war er überzeugt davon, dass bei Anwendung des von ihm entwickelten Verfahrens der Traumdeutung „jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt“ (Freud 1991a, S. 19). Nachdem er im ersten Kapitel die bis dato veröffentlichte „Wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme“ referiert und im zweiten Kapitel sein Verfahren der Traumdeutung an einem eigenen Traum exemplarisch vorgeführt hat, formuliert er im Titel des dritten Kapitels seine Grundthese: „Der Traum ist eine Wunscherfüllung“ (Freud 1991a, S. 136). Freud zufolge erfüllt sich in jedem Traum auf symbolische Weise ein verdrängter und daher unbewusster Wunsch, der meist der Kindheit entstammt und sexueller Natur ist. Auf der Suche nach einer allgemeinen Theorie der menschlichen Seele war er der Auffassung, „daß man zwischen „neurotisch“ und „normal“ nicht scharf unterscheiden könne“ (Storr 2004, S. 41), und betrachtete Träume folglich neurotischen Symptomen analog. So spiegelt sich in seiner Grundannahme, in jedem Traum erfülle sich ein verdrängter sexueller Wunsch aus der frühen Kindheit, seine zuvor schon gewonnene Überzeugung, dass „infantile sexuelle Wünsche der eigentliche Grund der Neurosen seien“ (ebd., S. 43). Da der infantile Wunsch mit den gültigen gesellschaftlichen Normen nicht kompatibel ist und seine Erfüllung daher inakzeptabel wäre, vollzieht sich an ihm ein Prozess, den Freud Verdrängung nennt und
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben in dessen Verlauf der Wunsch aus dem Bewusstsein ins Unbewusste verschoben wird. Dort wirkt er allerdings weiter, wie sich dann z.B. im Traum erweist, wenn ein aktuelles Ereignis des Vortages, der sogenannte Tagesrest, den Träumer unbewusst an Inhalte des verdrängten Wunsches gemahnt. Doch derselbe innerpsychische Abwehrmechanismus, der schon für die Verdrängung verantwortlich war, verhindert auch im Traum, dem „Hüter des Schlafs“ (Freud 1991b), dass sich der Wunsch offen zeigt und den Träumer im Schlafe stört. So wird im Prozess der Traumarbeit der latente Traumgedanke, wie Freud den unbewussten Wunsch im Hinblick auf seine Funktion im Traum nennt, in den manifesten Trauminhalt umgewandelt, an den sich der Träumer nachher erinnert (vgl. außer Freud 1991a auch Lohmann 1999, S. 15ff.; Schneider 1999, S. 81f. und Storr 2004, S. 40ff.). Als wichtigste Mechanismen der Traumarbeit nennt Freud Verdichtung und Verschiebung. Die Verdichtung bewirkt, dass einzelne Elemente des manifesten Trauminhalts, also dessen, was der Träumer am nächsten Morgen von seinem Traum zu berichten weiß, gleichzeitig stellvertretend für mehrere latente Traumgedanken stehen können. Andersherum kann auch ein latenter Traumgedanke durch mehrere Elemente des manifesten Trauminhalts repräsentiert werden. Ergebnis der Verdichtung sind so häufig neue psychische Einheiten wie Sammelpersonen oder Mischgebilde, also Personen oder Gegenstände des manifesten Trauminhalts, die Merkmale und Eigenschaften mehrerer realer Personen oder Gegenstände, die im Zusammenhang mit dem latenten Traumgedanken stehen, in sich vereinen (vgl. Freud 1991a, S. 290ff.). Bei der Verschiebung wird die psychische Intensität eines relevanten Elements des latenten Traumgedankens auf ein weniger relevantes Element von minderer Intensität übertragen, das anstelle des ersteren im manifesten Trauminhalt erscheint (vgl. ebd., S. 312ff.). Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, stellt gerade der Mechanismus der Verschiebung neben der rein quantitativen Allgegenwärtigkeit von Phänomenen wie dem Traum, in denen das Wirken des Unbewussten zum Ausdruck kommt, ein weiteres entscheidendes Bindeglied zwischen dem Unbewussten und dem Alltäglichen dar. Über die Verdichtung und die Verschiebung hinaus nennt Freud die Rücksicht auf Darstellbarkeit, das ist „der Prozess, durch den Gedanken in visuelle Bilder verwandelt werden, und […] die Symbolisierung, bei der gewisse neutrale Objekte für einen bestimmten Aspekt des Sexuallebens oder die damit verknüpften Personen stehen oder darauf anspielen, wodurch der
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Träumer sie nicht zu identifizieren braucht“ (Storr 2004, S. 42), als weitere Mechanismen der Traumarbeit. In Verlaufe einer sich anschließenden Phase der sekundären Bearbeitung werden die im Verlaufe der Traumarbeit hergestellten Elemente des manifesten Trauminhalts so miteinander verknüpft, dass sie den aus dem Wachleben gewöhnten Ansprüchen an Narrativität und Zusammenhang genügen. Die Methode, nach der der Psychoanalytiker verfährt, um von den Elementen des manifesten Trauminhalts auf den unbewussten latenten Traumgedanken zu schließen, beschreibt Freud in der dritten von fünf Vorlesungen, die er während seiner einzigen Amerika-Reise 1909 anlässlich der zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clarke University in Worcester, Massachusetts, hielt: „Daß es latente Traumgedanken gibt und daß zwischen ihnen und dem manifesten Trauminhalt wirklich die eben beschriebene Relation besteht, davon überzeugen Sie sich bei der Analyse der Träume, deren Technik mit der psychoanalytischen zusammenfällt. Sie sehen von dem scheinbaren Zusammenhang der Elemente im manifesten Traum ganz ab und suchen sich die Einfälle zusammen, die sich bei freier Assoziation nach der psychoanalytischen Arbeitsregel zu jedem einzelnen Traumelement ergeben. Aus diesem Material erraten Sie die latenten Traumgedanken ganz so, wie Sie aus den Einfällen des Kranken zu seinen Symptomen und Erinnerungen seine versteckten Komplexe erraten haben. An den so gefundenen latenten Traumgedanken sehen Sie ohne weiteres, wie vollberechtigt die Rückführung der Träume Erwachsener auf die Kinderträume ist.“ (Freud 1994a, S. 133)
Neben dem Traum und dem Witz, dessen Analyse er sich in dem 1905 erschienenen Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (vgl. Freud 1992c) widmete, sah Freud in den Fehlleistungen, mit denen er sich in der Psychopathologie des Alltagslebens beschäftigte, ein weiteres Moment, in dem sich das Unbewusste Bahn bricht. Kein Vergessen, Versprechen oder Vergreifen, für das nicht ein verdrängter psychischer Inhalt verantwortlich gemacht werden könnte. Und die gleichen Zensurmechanismen, die Freud in der Traumdeutung identifizierte, um die Umwandlung des latenten Traumgedankens in den manifesten Trauminhalt zu erklären, und die er dort als Traumarbeit bezeichnete, sah er auch beim Zustandekommen der Fehlleistungen am Werk: „[…] was immer die Seele an Sinn und Unsinn, an Geschichten, Witzen, Phobien und Versprechern hervorbringt, sie folgt dabei stets dem Muster der Traumproduktion.“ (Schneider 1999, S. 80)
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben Auch wenn es einiges an Raum einnimmt, sei der Anschaulichkeit halber an dieser Stelle eine der wohl bekanntesten Analysen einer Fehlleistung in Gänze wiedergegeben, die eines Namensvergessens, das Freud selbst während einer Wagenfahrt vom heutigen Dubrovnik in die Herzegowina unterlaufen war: „In dem 1898 von mir zur Analyse gewählten Beispiel war es der Name des Meisters, welcher im Dom von Orvieto die großartigen Fresken von den ‚letzten Dingen‘ geschaffen, den zu erinnern ich mich vergebens bemühte. Anstatt des gesuchten Namens – Signorelli – drängten sich mir zwei andere Namen von Malern auf – Botticelli und Boltraffio –, die mein Urteil sofort und entschieden als unrichtig abwies. Als mir der richtige Name von fremder Seite mitgeteilt wurde, erkannte ich ihn sogleich und ohne Schwanken. Die Untersuchung, durch welche Einflüsse und auf welchen Assoziationswegen sich die Reproduktion in solcher Weise – von Signorelli auf Botticelli und Boltraffio – verschoben hatte, führte zu folgenden Ergebnissen: a) Der Grund für das Entfallen des Namens Signorelli ist weder in einer Besonderheit dieses Namens selbst noch in einem psychologischen Charakter des Zusammenhangs zu suchen, in welchem derselbe eingefügt war. Der vergessene Name war mir ebenso vertraut wie der eine Ersatzname – Botticelli – und ungleich vertrauter als der andere der Ersatznamen – Boltraffio –, von dessen Träger ich kaum etwas anderes anzugeben wüßte, als seine Zugehörigkeit zur mailändischen Schule. Der Zusammenhang aber, in dem sich das Namensvergessen ereignete, erscheint mir harmlos und führt zu keiner weiteren Aufklärung: Ich machte mit einem Fremden eine Wagenfahrt von Ragusa in Dalmatien nach einer Station der Herzegowina; wir kamen auf das Reisen in Italien zu sprechen, und ich fragte meinen Reisegefährten, ob er schon in Orvieto gewesen und dort die berühmten Fresken des *** besichtigt habe. b) Das Namensvergessen erklärt sich erst, wenn ich mich an das in jener Unterhaltung unmittelbar vorhergehende Thema erinnere, und gibt sich als eine Störung des neu auftauchenden Themas durch das vorhergehende zu erkennen. Kurz ehe ich an meinen Reisegefährten die Frage stellte, ob er schon in Orvieto gewesen, hatten wir uns über die Sitten der in Bosnien und in der Herzegowina lebenden Türken unterhalten. Ich hatte erzählt, was ich von einem unter diesen Leuten praktizierenden Kollegen gehört hatte, daß sie sich voll Vertrauen in den Arzt und voll Ergebung in das Schicksal zu zeigen pflegen. Wenn man ihnen ankündigen muß, daß es für den Kranken keine Hilfe gibt, so antworten sie: ‚Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet!‘ – Erst in diesen Sätzen finden sich die Worte und Namen: Bosnien, Herzegowina, Herr vor, welche sich in eine Assoziationsreihe zwischen Signorelli und Botticelli – Boltraffio einschalten lassen. c) Ich nehme an, daß der Gedankenreihe von den Sitten der Türken in Bosnien usw. die Fähigkeit, einen nächsten Gedanken zu stören, darum zukam, weil ich ihr meine Aufmerksamkeit entzogen hatte, ehe sie noch zu Ende gebracht war. Ich erinnere mich nämlich, daß ich eine zweite Anekdote er-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen zählen wollte, die nahe bei der ersten in meinem Gedächtnis ruhte. Diese Türken schätzen den Sexualgenuß über alles und verfallen bei sexuellen Störungen in eine Verzweiflung, welche seltsam gegen ihre Resignation bei Todesgefahr absticht. Einer der Patienten meines Kollegen hatte ihm einmal gesagt: ‚Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.‘ Ich unterdrückte die Mitteilung dieses charakteristischen Zuges, weil ich das Thema nicht in einem Gespräch mit einem Fremden berühren wollte. Ich tat aber noch mehr; ich lenkte meine Aufmerksamkeit auch von der Fortsetzung der Gedanken ab, die sich bei mir an das Thema ‚Tod und Sexualität‘ hätten knüpfen können. Ich stand damals unter der Nachwirkung einer Nachricht, die ich wenige Wochen vorher während eines Aufenthaltes in Trafoi erhalten hatte. Ein Patient, mit dem ich mir viel Mühe gegeben, hatte wegen einer unheilbaren sexuellen Störung seinem Leben ein Ende gemacht. Ich weiß bestimmt, daß mir auf jener Reise in die Herzegowina dieses traurige Ereignis und alles, was damit zusammenhängt, nicht zur bewußten Erinnerung kam. Aber die Übereinstimmung Trafoi – Boltraffio nötigt mich anzunehmen, daß damals diese Reminiszenz trotz der absichtlichen Ablenkung meiner Aufmerksamkeit in mir zur Wirksamkeit gebracht worden ist. d) Ich kann das Vergessen des Namens Signorelli nicht mehr als ein zufälliges Ereignis auffassen. Ich muß den Einfluß eines Motivs bei diesem Vorgang anerkennen. Es waren Motive, die mich veranlaßten, mich in der Mitteilung meiner Gedanken (über die Sitten der Türken usw.) zu unterbrechen, und die mich ferner beeinflußten, die daran sich anknüpfenden Gedanken, die bis zur Nachricht aus Trafoi geführt hätten, in mir vom Bewußtwerden auszuschließen. Ich wollte also etwas vergessen, ich hatte etwas verdrängt. Ich wollte allerdings etwas anderes vergessen als den Namen des Meisters von Orvieto; aber dieses andere brachte es zustande, sich mit dessen Namen in assoziative Verbindung zu setzen, so daß mein Willensakt das Ziel verfehlte und ich das eine wider Willen vergaß, während ich das andere mit Absicht vergessen wollte. Die Abneigung, zu erinnern, richtet sich gegen den einen Inhalt; die Unfähigkeit, zu erinnern, trat an einem anderen hervor. Es wäre offenbar ein einfacherer Fall, wenn Abneigung und Unfähigkeit, zu erinnern, denselben Inhalt beträfen. – Die Ersatznamen erscheinen mir auch nicht mehr so völlig unberechtigt wie vor der Aufklärung; sie mahnen mich (nach Art eines Kompromisses) ebensosehr an das, was ich vergessen, wie an das, was ich erinnern wollte, und zeigen mir, daß meine Absicht, etwas zu vergessen, weder ganz gelungen noch ganz mißglückt ist. e) Sehr auffällig ist die Art der Verknüpfung, die sich zwischen dem gesuchten Namen und dem verdrängten Thema (von Tod und Sexualität usw., in dem die Namen Bosnien, Herzegowina, Trafoi vorkommen) hergestellt hat. Das hier eingeschaltete, aus der Abhandlung aus dem Jahre 1898 wiederholte Schema sucht diese Verknüpfung anschaulich darzustellen. Der Name Signorelli ist dabei in zwei Stücke zerlegt worden. Das eine Silbenpaar ist in einem der Ersatznamen unverändert wiedergekehrt (elli), das andere hat durch die Übersetzung Signor – Herr mehrfache und verschiedenartige Beziehungen zu den im verdrängten Thema enthaltenen Namen gewonnen, ist
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben aber dadurch für die Reproduktion verlorengegangen. Sein Ersatz hat so stattgefunden, als ob eine Verschiebung längs der Namenverbindung ‚Herzegowina und Bosnien‘ vorgenommen worden wäre, ohne Rücksicht auf den Sinn und auf die akustische Abgrenzung der Silben zu nehmen. Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich behandelt worden wie die Schriftbilder einen Satzes, der in ein Silbenrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll. Vom ganzen Hergang, der anstatt des Namens Signorelli auf solchen Wegen die Ersatznamen geschaffen hat, ist dem Bewußtsein keine Kunde gegeben worden.“ (Freud 2000, S. 66ff., Hervorhebungen im Original)
Wenn auch auf den ersten Blick vielleicht nicht weiter auffällig, ist der Umstand, dass es sich bei dem Fall von Namensvergessen in obigem Beispiel um eine Fehlleistung handelt, die Freud selbst widerfahren ist, bemerkenswert. Denn gerade dieses Moment der Selbstanalyse sollte einen gewaltigen Anteil haben an der revolutionären Wirkung, die die Psychoanalyse zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entfaltete. Zum einen war Freuds subjektives, sich selbst zum Gegenstand machendes Vorgehen kaum vereinbar mit dem um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert in allen wissenschaftlichen Disziplinen, nicht nur den Naturwissenschaften, vorherrschenden Positivismus, dem es um die Erlangung objektiver Erkenntnis zu tun war. Schon in der Traumdeutung waren von „den 200 […] beschriebenen und gedeuteten Träumen […] etwa 50 Freuds eigene“ (Schüle 2006, S. 74). Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert war die „‚Selbstbeobachtung‘ [...], wie sie für die alte spiritualistische und metaphysische Psychologie charakteristisch gewesen war, welcher es um die ‚Fähigkeiten des Bewusstseins‘ ging [,...] in Frankreich, England und Deutschland von den Anhängern der neuen wissenschaftlichen Psychologie (man denke zum Beispiel an Wundt) heftig attackiert worden“ (Steiner 2000, S. 32, vgl. auch Wundt 2008). Vor allem aber riss Freud damit, dass er seine eigenen Träume und Fehlleistungen zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte, die Mauer ein zwischen „pathologischen“ und „normalen“ psychischen Phänomenen, zwischen dem von unbewussten Regungen getriebenen „seelisch kranken“ und dem „gesunden“ Menschen, der sich seiner selbst stets bewusst und Herr seiner selbst ist. Schneider sieht in den Erfahrungen, die Freud 1885 während eines Studienaufenthalts an der Pariser Salpêtrière bei dem bekannten Neurologen Jean-Martin Charcot sammelte, und in seiner Identifikation mit den hysterischen Patienten den Grund dafür, dass Freud begann, „die Grenze zwischen Normalität und Krankheit als ein flexibles Kontinuum zu begreifen und die
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Selbsterkundung systematisch als Methode der Gewinnung von Erkenntnissen über das Psychische einzusetzen“ (1999, S. 53f.). „Freud musste rasch realisieren, dass seine neue Psychologie des Unbewussten, deren zentrale Einsichten er zunächst aus der Krankenbehandlung gewonnen hatte, aus systematischen Gründen ins Grundsätzliche und Allgemeine ausgriff. Das zeigte sich bereits an der Traumdeutung, aber auch an den folgenden Büchern Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) und Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) – Schriften, in denen es nicht um den kranken, sondern um den ‚normalen‘ und gesunden Menschen geht, weil das Wirken des Unbewussten ein schlechthin ubiquitäres Phänomen ist, das sich an jedem Individuum beobachten lässt. […] Die Psychoanalyse […] ist in diesem Verständnis keine Therapeutik, sondern eine wissenschaftliche Psychologie, die beansprucht, die Funktionsweise des menschlichen Seelenlebens so umfassend wie möglich darzulegen und zu erklären.“ (Lohmann 2006, S. 48)
Darüber hinaus impliziert die Selbstanalyse einen völligen Bruch mit dem in der klinischen Medizin gültigen, hierarchisch eindeutigen Arzt-Patienten-Verhältnis. Die freie Assoziation als grundlegende Methode der psychoanalytischen Therapie, bei der der Patient dazu angehalten wird, seinen Assoziationen zu Elementen des manifesten Trauminhalts, zu Personen, Dingen oder Orten, freien Lauf zu lassen, ohne seine Äußerungen zu zensieren, weil sie ihm etwa unwichtig, unsinnig oder unsittlich erscheinen, verlagert die Initiative und die Verantwortung für den Verlauf des therapeutischen Gesprächs auf Seiten des Patienten, wodurch dem Arzt eine viel passivere Rolle zukommt als die in der somatischen Medizin bis dato und in vielen Fachbereichen bis heute übliche (vgl. Storr 2004, S. 39). „Zum einen gibt Freud [...] mit dem Hinweis auf seine Selbstanalyse zu verstehen, dass er, der Arzt, seinerseits in der Position des Kranken ist, d.h. in der Position dessen, der der Heilung bedarf. Freud identifiziert sich also nicht mit der klassischen Rolle des (gesunden) Arztes, der seelisch kranke Individuen behandelt und somit eine Kluft zwischen sich und die anderen legt; vielmehr indiziert die eingestandene Selbstanalyse, die mit der Arbeit an der Traumdeutung verbunden ist, die erkannte Notwendigkeit der Selbstheilung des Arztes. Diese therapeutische Wende, die Arzt und Patient aus dem traditionellen Macht- und Abhängigkeitsgefüge – der Arzt ist der Wissende, der seinem Wissen gemäß fragt, der Patient der Unwissende, der zu antworten hat – entlässt und das Verhältnis beider als eines der – idealiter – kommunikativen Symmetrie definiert, darf als einer der Eckpfeiler der Psychoanalyse gelten, der sie von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin bis heute unterscheidet.“ (Lohmann 1999, S. 16)
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben Durch die Wahl seiner Analysegegenstände – des Traums, der Fehlleistungen und des Witzes – vor allem aber durch die Selbstanalyse lässt Freud deutlich werden, dass das Unbewusste keinen Bereich des menschlichen Daseins darstellt, der nur im Hinblick auf psychisch kranke Personen von Belang ist, sondern dass es sich um eine allgemeinmenschliche psychische Instanz handelt und dass sich in der Psyche eines jeden Menschen unbewusste Prozesse abspielen, von denen die Betreffenden gewöhnlich keine Kenntnis haben. Damit etabliert er das Unbewusste als seelischen Bereich, der uns alle angeht, weil er unser aller Verhalten determiniert, ohne dass wir dessen gewahr würden. „Wenn man den Traumtext nicht einfach in den Bereich des Irrationalen, des schlechthin Unerklärlichen verbannen wollte, so war es zwingend, ihn als ‚anderen Text‘, dessen Autor ein ‚anderer Sprecher‘ ist, ernst zu nehmen, seine Arbeits- und Funktionsweise zu untersuchen, seine spezielle Syntax und seine Ähnlichkeit wie seine Differenz zum offiziellen Text zu bestimmen. […] Erst seit Freuds Traumdeutung, die den Endpunkt einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung ebenso indiziert wie den Ausgangspunkt einer neuen, umwälzenden Psychologie […], ahnen wir, wie abgründig und erschreckend jenes innere Ausland ist, dessen Boten und Kohorten uns nächtlings heimsuchen.“ (Lohmann 1999, S. 25)
Das Unbewusste als das Fremde in uns selbst zählt wohl zu den wichtigsten von Freuds Hinterlassenschaften ans zwanzigste Jahrhundert, eine innere terra incognita, die es wie das Innere Afrikas, mit dem das Unbewusste zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur in Joseph Conrads Novelle „Herz der Finsternis“ gerne verglichen wird, zu entdecken und zu erforschen gilt, „mit der Neugierde, der Kühnheit und der Zähigkeit“ eines Abenteurers und einem „Conquistatorentemperament“, wie es sich Freud in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess vom 1. Februar 1900 selbst bescheinigte (vgl. Schneider 1999, 85). Und auch in einer anderen Hinsicht erfährt das Unbewusste, das, obwohl es immer wieder so dargestellt wird, keineswegs Freuds Entdeckung war, sondern von dem auch im neunzehnten Jahrhundert schon bei einer Reihe von „Naturforschern und Philosophen [...] – Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Carl Gustav Carus und Eduard von Hartmann etwa [–]“ die Rede ist (Lohmann 2006, S. 47), durch Freud eine Umdeutung. „Natürlich gab es die Vorstellung des Unbewußten schon lange vor 1899, dem Jahr der Erstveröffentlichung der Traumdeutung. […] Vor allem die Vorstellung des Unterbewußten war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen weit verbreitet. Häufig auch als ‚zweites Selbst‘ bezeichnet, dachte man diese Instanz umfänglicher als das bloße Ich und hoffte, durch Hypnose oder Meditation Zugang zu ihr zu finden und damit die alltägliche Wirklichkeit transzendieren zu können. Ob als kosmische Kraft, unpersönlicher Wille oder Unterbewußtes – vor Freud galt das Unbewußte als anonym und transpersonal.“ (Zaretsky 2006, S. 30)
Freud hingegen begriff das Unbewusste als einen „Ort dynamischer, ganz persönlicher Antriebe und Motive [...], die in der Kindheit entstehen“, und hatte damit nach Zaretskys Auffassung „den Kern des mit der Moderne möglich gewordenen persönlichen Lebens erfasst“ (ebd. 59). Diese Personalisierung des Unbewussten lässt sich leicht anhand Freuds methodischem Vorgehen bei der Analyse des obigen Falles von Namensvergessen illustrieren: Der Analyse zugrunde liegen offenkundig Freuds eigene Assoziationen zu dem, was man als die einzelnen Elemente des manifesten Inhalts der Fehlleistung bezeichnen könnte, hier der vergessene Name Signorelli sowie die Ersatznamen Botticelli und Boltraffio. Nicht das Verhältnis dieser Elemente zueinander auf der Ebene des manifesten Inhalts bringt Aufschluss über die Ursache der Fehlleistung, sondern erst die Verfolgung von Freuds persönlichen Assoziationen zu dem vergessenen Namen Signorelli führt auf die Spur des verdrängten und daher unbewussten Gedankens, den er als den eigentlichen Grund für das Namensvergessen ansieht. Diese Assoziationen verlaufen aufgrund der Bedeutungsgleichheit des italienischen signor mit dem deutschen Herr von Signorelli zur Herzegowina, weiter zu den dort und in Bosnien (daher das Bo- als erste Silbe der beiden Ersatznamen) lebenden Türken und ihrer Schicksalsergebenheit im Krankheitsfalle („Herr, was ist da zu sagen“), die Freud im krassen Gegensatz zu der Verzweiflung sieht, die sie im Falle einer sexuellen Störung überkommt. Diese Verzweiflung wiederum gemahnt ihn an einen seiner Patienten, der sich aufgrund einer sexuellen Störung das Leben nahm, und von dessen Tod Freud in Trafoi erfuhr. Daher die zweite Silbe des zweiten Ersatznames, Boltraffio, während sich ersterer, Botticelli, aus der Gleichlautung der ausklingenden Silbe mit der des verdrängten Namens herleitet. Über diese komplizierte Kette von individuellen Assoziationen, die er zur Veranschaulichung in Form einer graphischen Darstellung zusammenfasst (s.u.), erklärt Freud die Ursache für die ihm unterlaufene Fehlleistung sowie das Zustandekommen der beiden Ersatznamen, ohne für diese Erklärung eine überindividuelle,
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben über diesen partikulären Fall hinausweisende nomothetische Reichweite zu beanspruchen.
Abb. 5: Freuds Modell der assoziativen Zusammenhänge in einem ihm selbst unterlaufenen Fall des Namensvergessens (aus Freud 2000, S. 69)
Sollte jemand anderes in einer vergleichbaren Situation denselben Namen vergessen, müsste man von einer anderen Erklärung ausgehen, denn dieser Andere hätte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auch einen Patienten gehabt, der sich aufgrund einer sexuellen Störung das Leben genommen und von dessen Tod er ausgerechnet in Trafoi erfahren hätte. In Die Traumdeutung schreibt Freud im Hinblick auf die nicht über den Einzelfall und die konkrete Person des Träumers hinausweisende Reichweite psychoanalytischer Erklärungen: „[...] ich bin vielmehr gefaßt darauf, daß derselbe Trauminhalt bei verschiedenen Personen und in verschiedenen Zusammenhängen auch einen anderen Sinn verbergen mag.“ (Freud 1991a, S. 119) Natürlich wird sich niemals abschließend klären lassen, ob Freuds zugegebenermaßen etwas konstruiert wirkende Erklärung in diesem Falle von Namensvergessen zutrifft oder nicht (vgl. Zimmer 2006). Entscheidender als ihre Richtigkeit ist im Hinblick auf die hier angestellten Überlegungen denn auch der Einfluss, den Freud persönlich Erlebtem und damit verbundenen individuellen Assoziationen auf unser alltägliches (Fehl-)Verhalten zugesteht. Weder Fehlleistungen noch Träume lassen sich unter Rückgriff auf einen intersubjektiv gültigen Code dechiffrieren, nach dem sich einzelne Elemente des manifesten Inhalts des 57
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Traums oder der Fehlleistung unabhängig von der individuellen Person des Träumers oder Fehlleistenden als Symbole für etwas anderes entschlüsseln ließen. Das bedeutet, dass es weder immer das gleiche bedeutet, wenn ein bestimmtes Element im Traum auftaucht („wenn man von einer Spinne träumt, bedeutet das…“), noch hat das Vergessen eines Namens im Allgemeinen oder des Namens Signorelli im Speziellen eine anzunehmende intersubjektive Ursache. Erst vor dem Hintergrund des individuellen Erlebens der betreffenden Person lassen sich die Phänomene, die verbale Repräsentation des Traums oder einer Fehlleistung, hermeneutisch interpretieren. Mit der Ablehnung dessen, was er als „Chiffriermethode“ (Freud 1991a, S. 111) bezeichnet, und der damit verbundenen Betonung der Bedeutung des Persönlichen für das Verständnis unbewusster Vorgänge weicht Freud ab von den bis dahin üblichen Vorstellungen vom Unbewussten, die stets von dessen Überindividualität ausgingen, von einem kollektiven Unbewussten. „Heute ist es möglich, die Psychoanalyse als Ganzes, in ihren sowohl repressiven wie befreienden Aspekten zu sehen. Voraussetzung dafür ist, daß man die Psychoanalyse als die erste große Theorie und Praxis des ‚persönlichen Lebens‘ sieht. ‚Personal life‘: damit meine ich die Erfahrung, daß ich eine Identität habe, die nicht aufgeht in meiner Stellung in der Familie, der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Natürlich ist die Möglichkeit, ein der eigenen Person gemäßes Leben zu führen, ein universaler Aspekt des Menschseins, aber das meine ich nicht. Es geht um die historisch spezifische Erfahrung der Singularität und Innerlichkeit, die, soziologisch gesehen, in den Modernisierungsprozessen, die mit der Industrialisierung und der Urbanisierung einhergingen, und in der Geschichte der Familie ihren Ursprung hat. […] In der Periode zwischen 1880 und 1920 – von Historikern als ‚zweite industrielle Revolution‘ bezeichnet – boten neue städtische Räume und Medien – Volksbühnen, Variétés, Kinos – Bezugspunkte, an denen sich Vorstellungen von extrafamilialen Identitäten herausbilden konnten. Die je eigene, persönliche Identität wurde Problem und Projekt, sie stand im Gegensatz zu dem, was man durch seine Stellung in Familie und Wirtschaft war. Für dieses neue Interesse an einem persönlichen Leben liefert die Psychoanalyse Theorie und Praxis. […] Die grundlegende Idee der Psychoanalyse, das Konzept eines dynamischen oder persönlichen Unbewußten, war Ausdruck dieser neuen Erfahrung eines persönlichen Lebens.“ (Zaretsky 2006, S. 15f.)
All das beantwortet bislang aber immer noch nicht die Frage, warum ein Abriss der akademischen Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen ausgerechnet mit Freud beginnen sollte. Daher gilt es nun abschließend den Stellenwert zu bestimmen, der dem
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben Alltäglichen im Rahmen der Psychoanalyse zukommt. Denn es ist weit mehr als die quantitative Häufigkeit von Psychopathologien und Träumen, was die Psychoanalyse im Hinblick auf diesen Bereich relevant sein lässt. Zunächst stellt das Alltägliche gewissermaßen die Ressource dar, aus der sich das Unbewusste in zweierlei Hinsicht speist: Es sind alltägliche, im Sinne von ständig vorkommende, nicht außergewöhnliche Ereignisse wie ein Gespräch mit einem Fremden während einer Bahnfahrt über die Sitten und Gebräuche einer fremden Kultur, die als Tagesreste verdrängten Gedanken und Wünschen Anlass geben, sich in Träumen oder Fehlleistungen Bahn zu brechen. Und es sind die alltäglichsten, im Sinne von die profansten und nebensächlichsten Dinge und Ereignisse, die gerade aufgrund ihrer geringen psychischen Intensitäten im Prozess der Verschiebung als Stellvertreter herhalten müssen für Verdrängtes von hoher psychischer Intensität: „Der psychologische Vorgang, durch welchen nach unserer Darlegung das gleichgültige Erlebnis zur Stellvertretung für das psychisch wertvolle gelangt, muß noch bedenklich und befremdend erscheinen. […] Der Vorgang ist aber so, als ob eine Verschiebung – sagen wir: des psychischen Akzents – auf dem Wege jener Mittelglieder zustande käme, bis anfangs schwach mit Intensität geladene Vorstellungen durch Übernahme der Ladung von den anfänglich intensiver besetzten zu einer Stärke gelangen, welche sie befähigt, den Zugang zum Bewußtsein zu erzwingen.“ (Freud 1991a, 188)
Die hohe psychische Intensität des verdrängten Gedankens an den Tod seines Patienten, für den Freud sich verantwortlich fühlt, wird auf den im Kontext des Gesprächs mit dem Fremden über die Schicksalsergebenheit der in der Region beheimateten Türken eigentlich nebensächlichen Begriff „Herzegowina“ verschoben und verhindert so das Erinnern des Namens eines italienischen Malers. So gerät das Banale und Alltägliche, dem zuvor von Seiten der Wissenschaft keine Aufmerksamkeit zuteil wurde, mit der Psychoanalyse überhaupt zum ersten Mal in den Fokus akademischen Interesses. Vor allem aber sind die an sich schon im quantitativen Sinne alltäglichen Fehlleistungen und die allnächtlichen Träume nur die Spitze des Eisberges. Wiederholt weist Freud darauf hin, dass das Unbewusste auch dann wirkt und unser Verhalten determiniert, wenn wir nicht träumen und keine Fehlleistungen auftreten. „Ein beständiger Strom von ‚Eigenbeziehungen‘ geht so durch mein Denken, von dem ich für gewöhnlich keine Kunde erhalte“,
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen schreibt er in der Psychopathologie des Alltagslebens (Freud 2000, S. 88). Und in Das Unbewusste von 1915 heißt es: „[...] sowohl bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer Erklärung andere Akte voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht zeugt. Solche Akte sind nicht nur die Fehlhandlungen und die Träume bei Gesunden, alles, was man psychische Symptome und Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken – unsere persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Herkunft wir nicht kennen, und Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns verborgen geblieben ist.“ (Freud 1992a, S. 119f.)
Hinter all unserer täglichen Erfahrung, hinter all unserem Denken und Handeln ist folglich das Unbewusste am Werk, und nur, wenn dieses Werk einmal nicht störungsfrei vonstatten geht, nur wenn wir uns unserer Träume z.B. im Rahmen einer Psychoanalyse erinnern, werden wir seiner überhaupt gewahr. Es ist diese Dimension der Allgegenwärtigkeit, die das Alltägliche mit dem Unbewussten verknüpft. Und diese Verknüpfung sollte, wie sich im Folgenden erweisen wird, die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen nachhaltig prägen. Gegenstand dieser frühen Arbeiten von Freud ist also nicht das Alltägliche selbst, aber hinter den alltäglichen Fehlleistungen und den allnächtlichen Träumen offenbart sich das persönliche Unbewusste als ein Bereich der menschlichen Existenz, der unser aller Alltagsleben bestimmt, ohne dass wir seiner gewahr würden, der es wundersam erscheinen lässt und der näheren Betrachtung würdig. In diesem Sinne kann Freud im Hinblick auf die Erforschung des Alltäglichen tatsächlich als ein Diskursbe-gründer gelten.
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Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben — (1992c): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905]/Der Humor, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. — (1994): Abriß der Psychoanalyse: Einführende Darstellungen, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. — (1994a): „Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester, Mass., September 1909 (1910)“, in: ders., Abriß der Psychoanalyse, S. 105-154. — (1994b): „Abriß der Psychoanalyse (1940 [1938])“, in: ders., Abriß der Psychoanalyse, S. 39-103. — (2000): Zur Psychopathologie des Alltagslebens: Über das Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum [1901], Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Lohmann, Hans-Martin (1999): Sigmund Freud zur Einführung (4., verb. Aufl.), Hamburg: Junius. — (2006): „Entzifferung des Unbewussten“, in: DIE ZEIT Geschichte Nr. 1, S. 47-50. Schneider, Peter (1999): Sigmund Freud, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Schüle, Christian (2006): „Träum weiter – Freuds Königsweg zum Unbewussten: Die Traumdeutung als Expedition ins Reich der verschlüsselten Reize, in: DIE ZEIT Geschichte Nr. 1, S. 70-76. Steiner, Riccardo (2000): „Einleitung“, in: Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 7-60. Stölzl, Christoph (2006): „Der Hausherr der Seele: Als Wissenschaftler ist der Erfinder der Psychoanalyse bis heute umstritten – was bleibt?“, in: DIE ZEIT Geschichte Nr. 1, S. 8-22. Storr, Anthony (2004): Sigmund Freud, Freiburg, Basel und Wien: Herder. Wundt, Wilhelm (2008): „Die Aufgaben der experimentellen Psychologie“ [1860], in: Nicolas Pethes et al. (Hg.), Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 415-423. Zaretsky, Eli (2006): Freuds Jahrhundert: Die Geschichte der Psychoanalyse, Wien: Paul Zsolnay. Zimmer, Dieter E. (2006): „Leider falsch! Freuds Theorie über die Fehlleistungen war einer seiner Irrtümer“, in: DIE ZEIT Geschichte Nr. 1, S. 28-34.
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„Werde ich noch lange das Gefühl für das Wunderbare des Alltäglichen haben? Ich sehe, wie es in jedem Menschen verloren geht, der in seinem Leben wie auf einem immer besser gepflasterten Weg voranschreitet, der sich mit wachsender Leichtigkeit immer mehr an die Welt gewöhnt, der sich nach und nach vom Gefallen am Ungewöhnlichen und von dessen Wahrnehmung löst. Genau das werde ich zu meiner Verzweiflung niemals erfahren können.“ Louis Aragon, Der Pariser Bauer (1996, S. 13)
„Das Alltägliche, niemals wird man dem Alltäglichen genügend nahe kommen“ (ebd., S. 174)
Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben Ausgehend von den neuen städtischen Räumen, deren Entstehung Zaretsky als Grundvoraussetzung für die Ausprägung des persönlichen Lebens während der zweiten industriellen Revolution genannt hat, und unter Verwendung verschiedener Medien, war es vor allem die surrealistische Bewegung in Frankreich, die in den 1920er Jahren dazu beitrug, die von Freud initiierte Assoziation des Alltäglichen mit dem Unbewussten zu festigen. Als entscheidenden Grund für die Entstehung des Surrealismus nennen sowohl Bürger (1980, S. 27ff.) als auch Nadeau (1986, S. 11ff.) die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. „Breton selbst hat darauf mit Nachdruck hingewiesen, indem er den défaitisme de guerre als Ursprung der attitude surealiste bezeichnete […]. Und Eluard hat in einem Text aus Donner à voir (1949) den Zusammenhang zwischen der surrealistischen Hinwendung zum Irrationalen und dem Abscheu vor den Greueln des Krieges festgehalten: Vers 1919, à l’heure où l’imagination cherchait à dominer, à réduire les tristes monstres que la guerre avait fortifiés, Max Ernst résolut d’ensevelir la vielle Raison, qui causa tant de désordres, tant de désastres, non sous ses
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen propres décombres – dont elle se fait des monuments – mais sous la libre représentation d’un univers libéré (Œuvres complètes, I, 945).2 Der Text ist deshalb so bedeutsam, weil er zeigt, daß die Surrealisten ihre Ablehnung der Raison als Protestaktion auf die Greuel des Krieges begriffen haben. Wenn sie selbst die Hinwendung zum Irrationalen als Reaktion auf die Erfahrung des Weltkriegs verstanden, liegt es um so näher, auch ihre konsequente Weigerung, sich den Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft zu fügen, auf diesen Anstoß zurückzuführen.“ (Bürger 1980, S. 28)
Schließlich war es eben diese bürgerliche Gesellschaft, die Europa in den Krieg geführt hatte, dessen grauenhafte Absurdität den surrealistischen Zweifel an Vernunft und Fortschritt hervorgerufen hatte. Die „Hinwendung zum Irrationalen“, von der Bürger spricht, äußerte sich unter anderem in der surrealistischen Faszination für den Traum und das Unbewusste, denen sie in den Schriften Freuds begegneten. André Breton, Medizinstudent und Mitglied der Dadaistischen Bewegung, hatte während des Ersten Weltkriegs am Centre psychiatrique de la IIe Armée in Saint-Dizier gearbeitet, wo er die von Freud entwickelten Techniken der Traumprotokolle und der freien Assoziation anwandte, um traumatisierte Kriegsteilnehmer zu behandeln. Vor allem in der Anfangsphase der surrealistischen Bewegung, die sich ab 1921 um André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault als Herausgeber der Zeitschrift Littérature gruppierte, diente die écriture automatique, die „automatische Schreibweise“, als primäre Methode des Zugangs zum Unbewussten. Diese besteht darin, alles, was einem in den Sinn kommt, unter Ausschaltung jeglicher kritischer Zensur durch die Vernunft zu Papier zu bringen. Anders, als in der Literatur häufig behauptet, entsprechen die so hervorgebrachten Texte aber nicht den Traumtexten bei Freud, sondern den verbalen Hervorbringungen psychoanalytischer Patienten bei der freien Assoziation. Das zeigt sich z.B. an Bretons Beschreibung des Vorgangs: „Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich 2
„Gegen 1919, zu dem Zeitpunkt, als die Imagination versuchte, die Vorherrschaft zu erlangen, die traurigen Ungeheuer zu schwächen, die der Krieg gekräftigt hatte, entschloss sich Max Ernst, die alte Vernunft zu begraben, die soviel Chaos verursacht hatte, so viel Unheil, nicht unter ihren eigenen Trümmern – aus denen sie selbst sich Denkmäler errichtet – sondern unter der freien Repräsentation eines befreiten Universums.“ (Eigene Übersetzung, Bürger zitiert aus Éluard 1968)
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Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben selbst konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen. Machen Sie sich klar, dass die Schriftstellerei einer der kläglichsten Wege ist, die zu allem und jedem führen. Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen. Der erste Satz wird ganz von alleine kommen, denn es stimmt wirklich, dass in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden.“ (Breton 1986, S. 29f.)
Überhaupt unterschied sich Bretons Zielsetzung wesentlich von der Freuds. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn man seine Deutungen zweier eigener Träume in seinem 1932 erschienen Buch Les Vases communicants (vgl. Breton 1973) mit den Analysen vergleicht, denen Freud seine eigenen Träumen unterzogen hat. Während Freud sich bemühte, die Logik des Traums aufzuzeigen, indem er versuchte, die den zugrundeliegenden Wunsch entstellenden Mechanismen der Traumarbeit nachzuvollziehen, verband Breton die einzelnen Elemente des manifesten Trauminhalts mit Ereignissen aus seinem Leben, die in keinerlei Zusammenhang stehen außer demjenigen, der im Traum hergestellt wird. Während es Freud darum ging, das nur scheinbar irrationale Unbewusste zu entschlüsseln, indem er die ihm eigene Regelhaftigkeit aufdeckt – „wo Es ist, soll Ich werden“, heißt es in der 31. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse – ging es Breton gerade um die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, zwischen Irrationalem und Vernunft. Anders als in der Literatur zum Surrealismus häufig behauptet, zielte die surrealistische Kritik am Rationalismus eben nicht auf eine Abschaffung der Vernunft zugunsten des Irrationalen, sondern auf die Wiedererlangung dessen, was durch die alleinige Vorherrschaft des bürgerlichen Zweckrationalismus verdrängt wurde. „As Ferdinand Alquié put it, the Surrealists did not want to lose their reason, they wanted what reason made them lose.“ (Sheringham 2006, S. 66; Sheringham bezieht sich in diesem Zitat auf Alquié 1955, S. 41)
In „Une vague de rêves“ erklärte Louis Aragon 1924, das Denken stelle nur einen Sonderfall des Geistigen dar, und es gelte daher, die anderen mentalen Aktivitäten, die vom Rationalismus verdrängt wurden, wieder ins Bewusstsein zurückzurufen (vgl. Aragon 1986, S. 67). André Breton verstand das im bürgerlichen Zweckrationalismus verankerte Nützlichkeitsprinzip als eine Ra-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen tionalisierung im Sinne Freuds, „d.h. als eine Hilfskonstruktion, die die Aufgabe hat, dem Menschen die realen Antriebskräfte seines Handelns zu verbergen. Mit anderen Worten, es gilt, die Objekte der modernen Welt als Figuren eines kollektiven Unbewußten zu entschlüsseln, um so das magische Moment, das menschlichem Handeln nach wie vor zugrunde liegt, bewußt zu machen“ (Bürger 1980, S. 116). Die Auflösung des Gegensatzes zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, nicht die Rationalisierung des nur scheinbar Irrationalen war also das erklärte Ziel des Surrealismus, und den Zustand, der erreicht wird, wenn diese Auflösung erfolgt ist, bezeichnete Breton als Surrealität: „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.“ (Breton 1986, S. 18)
Sheringham (2006, S. 70) zufolge ist das Verhältnis zwischen der Realität und der Surrealität in den Augen der Surrealisten eines der Immanenz: das Surreale ist im Realen ebenso präsent, wie das Reale stets auch im Surrealen enthalten ist. Zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses, so Sheringham, bediene sich Breton in seinem 1932 Buch Les Vases communicants des Bildes von den „kommunizierenden Röhren“ und suggeriere so ein fließendes, dynamisches Wechselspiel zwischen beiden Bereichen. Diese Erklärung widerspricht allerdings Bretons (und Bürgers, vgl. 1980) Darstellung von der Surrealität als eines übergeordneten Zustands, in dem der Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit aufgehoben ist. Es liegt daher vielleicht näher, die kommunizierende Röhre insgesamt als eine symbolische Repräsentation der Surrealität zu begreifen, in der sich das Reale und das Irreale in einem fließenden, dynamischen Wechselspiel befinden. Während die Surrealität also ein Zustand ist, in dem die Einheit der Gegensätze wieder hergestellt wurde, definiert Breton den Surrealismus im 1924 erschienen ersten von zwei surrealistischen Manifesten als psychischen Automatismus: „SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle
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Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben durch die Vernunft, jenseits der ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ (Breton 1986, S. 26)
Die Surrealität als übergeordnete Realität offenbart sich in Gestalt des merveilleux, des Wunderbaren, das die zentrale ästhetische Kategorie des Surrealismus darstellt. Im Gegensatz zur deutschen Romantik, in der das Wunderbare auch schon als zentrale Kategorie fungierte, verortet der Surrealismus das Wunderbare aber nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt. Folgerichtig bedarf es im Surrealismus auch nicht wie in der Romantik der Hervorbringung durch das schöpferische Genie des Künstlers, sondern lediglich der Sichtbarmachung, da das Wunderbare im Hier und Jetzt bereits vorhanden ist. Als Ort des Wunderbaren gilt den Surrealisten das Alltagsleben, das, nachdem es bei Freud noch keine explizite Problematisierung erfahren hatte, hier erstmals als Gegenstand sui generis auftaucht. Allerdings wurde das Wunderbare der surrealistischen Auffassung zufolge durch den Zweckrationalismus als die in modernen, kapitalistischen Gesellschaften vorherrschende mentale Organisationsform derart in die Randbereiche des Alltagslebens verdrängt, dass es dort der Aufmerksamkeit entzogen ist und unsichtbar wird. Die Ähnlichkeit dieser Vorstellung mit Freuds Idee von den ins Unbewusste verdrängten sexuellen Wünschen der Kindheit ist offensichtlich, und tatsächlich ist das Alltägliche im Sinne des Surrealismus immer wieder mit einem „kollektiven Unbewussten“ verglichen worden. So wie Freud es sich zur Aufgabe gemacht hat, die ins Unbewusste verdrängten Wünsche zu identifizieren, von deren Existenz Träume und Fehlleistungen zeugen, sahen die Surrealisten ihre Aufgabe darin, das Wunderbare wieder sichtbar werden zu lassen. Donner à voir, „Sichtbar machen“, lautet so auch der Titel eines Bands mit surrealistischen Gedichten von Paul Éluard, der 1939 bei Gallimard erschien. Walter Benjamin zufolge, der 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflüchtet war und dort in surrealistischen Kreisen verkehrte, war die konsequente Absage an die romantische Schwärmerei für das Wunderbare Voraussetzung für die Entdeckung des Wunderbaren im Alltäglichen. Erst die antiromantische Dialektik vom Wunderbaren im profanen Alltagsleben ermöglicht die Erkenntnis des Wunderbaren: „Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, sürrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich niemals aneignen wird. Es bringt
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als Alltäglich erkennt.“ (Benjamin 1977c, S. 307)
Das Verhältnis der Surrealisten zum Alltäglichen war dabei äußerst ambivalent: Erhöhten sie es auf der einen Seite zum „Hort des Wunderbaren“, machten sie sich auf der anderen Seite die Transformation des Alltäglichen zur Aufgabe, weil ihnen das Leben in der modernen kapitalistischen Gesellschaft mit seinen Routinen und seiner auf Gewinnmaximierung zielenden Zweckgerichtetheit, die ihrer Ansicht nach keinen Raum mehr lässt für persönliche Erfahrung und die Verfolgung individueller Leidenschaften, zunehmend unwirtlich und entfremdet erschien (vgl. Gardiner 2000, S. 24). Gerade in dieser Idee wird der Einfluss von Marx’ Denken auf die Surrealisten deutlich, deren Arbeiten stets geprägt waren von dem Bemühen, den offenkundigen Widerspruch aufzulösen, der zwischen dem Individualismus von Freuds Psychoanalyse und dem marxistischen Denken in Kollektiven besteht. Dieser Widerspruch war auch der Grund für das schwierige Verhältnis, das viele der Surrealisten, allen voran André Breton als Kopf der Bewegung, zur Kommunistischen Partei Frankreichs unterhielten (vgl. dazu v.a. Nadeau 1986 und Bürger 1980). Zur Erreichung beider Ziele, sowohl zur Entdeckung des Wunderbaren im Alltäglichen wie zu dessen Transformation, war es notwendige Voraussetzung, das Alltagsleben empirisch zu erkunden. Das Alltägliche wurde von den Surrealisten einerseits im Urbanen verortet, genauer auf den Straßen und in den Cafés von Paris, das in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als Inbegriff der modernen Metropole galt, andererseits in den theatralischen und medialen Hervorbringungen der sogenannten populären Kultur. „Die Surrealisten setzen sich ins überfüllte Kino Parisiana und schauen sich ‚In den Armen des Riesenpolypen‘ an, ergötzen sich auf ihre subtile Weise an den idiotischen Stücken im Théâtre Moderne und im Theater an der Porte Saint-Martin. Gerade die allerabgeschmacktesten Aufführungen schätzen sie am meisten, weil darin ganz naiv und unverstellt Gefühle und Gemütsbewegungen des niederen Volkes dargestellt würden, die noch nicht durch Bildung und Zivilisation verborgen seien. Sie machen die Runde durch die Bordelle, auf der Suche nach dem noch unverfälschten Naturell der Huren. Den Stumpfsinn, die Verblödung um ihrer selbst Willen suchen sie. Ein ganz einfaches Mittel, dahin zu gelangen, ist: Man braucht nur eine Sonntagskarte zu
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Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben nehmen, in einen Vorortzug zu steigen, Stunden um Stunden endlos auf allen Strecken durch die trostlosen Stadtrandlandschaften zu fahren, und glaubt schon, das höre überhaupt nicht mehr auf.“ (Nadeau 1986, S. 74)
Wie Baudelaires Flaneur durchstreiften die Surrealisten die Straßen der Stadt (vgl. auch Kapitel 5.2). Die völlige Absage an alle zweckgerichtete Tätigkeit (refus), die Langeweile (ennui) und das aus ihr resultierende Begehren (désire) nach etwas, das nicht näher spezifiziert werden kann und darf, um nicht doch wieder der Zielgerichtetheit zum Opfer zu fallen, sind dabei die mentalen Voraussetzungen für eine Begegnung mit dem Wunderbaren. In Bretons gleichnamigem Buch von 1928, „das neben dem zwei Jahre früher erschienenen ‚Paysan de Paris‘ seines Freundes Louis Aragon als chef d’œuvre des literarischen Surrealismus zu gelten hat“ (Bohrer 2002, S. 141), begegnet das Wunderbare dem Autor in Gestalt einer geheimnisvollen Unbekannten: Nadja, bei deren Namen es sich um die „Diminuitivform des russischen Worts für ‚Hoffnung‘ […] handelt“ (ebd.). Wie Highmore (2002a, S. 52ff.) bemerkt, personifiziert sich in der Figur der Nadja das ambivalente Verhältnis der Surrealisten zum Alltäglichen: Einerseits ist es Nadja gelungen, durch ihre „Leichtigkeit und Inbrunst“ (Bohrer 2002, S. 152) das tägliche Leben zu etwas Wunderbarem zu transformieren, also das zu erreichen, wonach der Surrealismus strebt und wofür Breton sie bewundert und beneidet. Andererseits droht das Alltägliche beständig, Nadja wieder zu vereinnahmen und sie in die Routine und die Normalität zurückzureißen. Zunächst aber ist die zufällige Begegnung mit ihr für Breton ein Ausdruck des Wunderbaren, das im Alltäglichen verborgen liegt: „Den vergangenen 4. Oktober, am Ende eines jener absolut untätigen und öden Nachmittage – wie man sie herumbringt, bleibt mein Geheimnis –, befand ich mich in der Rue Lafayette: Ich war einige Minuten vor dem Schaufenster stehengeblieben, hatte das letzte Werk Trotzkis erworben und ging nun ziellos in Richtung Opéra weiter. Büros, Betriebe begannen sich zu leeren, von oben bis unten schlossen sich in den Häusern die Türen, Leute auf dem Bürgersteig drückten sich die Hände; dennoch wurde es belebter. Unwillkürlich beobachtete ich Gesichter, Kleidung, Gebaren. Na, die sahen nicht aus, als seien sie schon bereit, die Revolution zu machen. Ich überquerte gerade die Kreuzung, ihr Name ist mir entfallen oder unbekannt, da, vor einer Kirche. Plötzlich, sie ist vielleicht noch zehn Schritte von mir entfernt, sehe ich eine sehr ärmlich gekleidete Frau mir entgegenkommen, die mich ebenfalls sieht oder gesehen hat. Im Gegensatz zu allen anderen Passanten geht sie erhobenen Hauptes. So zierlich, daß sie kaum den Fuß aufsetzt. Ein unmerkliches Lächeln huscht wohl über ihr Gesicht.“ (Breton 2002, S. 53)
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Für Breton ist Nadja ebenso ein objet trouvé wie der legendäre Pantoffel-Holzlöffel, über dessen Fund auf einem Pariser Flohmarkt er 1937 in L’amour fou berichtet (vgl. Breton 1994, S. 34ff.) und den Man Ray auf einer Photographie abbildete, die Bretons Text illustriert. (Dass Breton der Frau, die später in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, ohne dass er zu diesem Zeitpunkt an ihrem Schicksal noch erkennbar Anteil nimmt, lediglich den Status eines Objekts seiner Erfahrung zubilligt, ist ihm von verschiedenen Seiten immer wieder vorgeworfen worden, vgl. dazu v.a. Bohrer 2002, S. 153).
Abb. 6: Bretons „Aschenbecher Aschenputtels“ als Beispiel für ein surrealistisches objet trouvé (Photographie von Man Ray aus Breton 1975)
„Bei seinem Gang über den Flohmarkt fühlt Breton sich von einem seltsamen Holzlöffel angezogen, dessen Stiel durch einen kleinen Schuh abgestützt ist. Zu Hause erkennt er darin den verlorenen Schuh Aschenputtels, den ‚Aschenbecher Aschenputtels‘, den für ihn zu modellieren er Giacometti vergebens gebeten hatte, kurz das objet perdu schlechthin. Die freischwebende, unbestimmte Erwartung eines bestimmten Ereignisses, mit der der surrealistische Flaneur der Welt entgegentritt, findet in der Entdeckung des objet trouvé seine paradoxe Erfüllung. Paradox ist sie deshalb, weil das Fundstück nicht etwa das Objekt des Begehrens ist, sondern nur dessen Abwesenheit eine dingliche Gestalt verleiht. Beglückend ist die trouvaille deshalb, weil in ihr das Ich sich seinen Mangel als Erfüllung vorspiegelt.“ (Bürger 1980, S. 217)
Das ziellose Umherstreifen durch die Straßen der Stadt, das Kokettieren mit der eigenen Untätigkeit – Ausdruck der Verweigerung gegenüber dem durch das Nützlichkeitsprinzip charakterisierten kapitalistischen Arbeitsethos, des oben schon erwähnten refus – und die Langeweile (ennui) als Voraussetzungen für die surrealistische Begegnung mit dem Wunderbaren – was im Gewand einer Passivität suggerierenden Terminologie daherkommt, 70
Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben ist absichtsvoll und hat Methode, wie die Formulierung „wie man [jene absolut untätigen und öden Nachmittage] herumbringt, bleibt mein Geheimnis“ nahelegt. Im französischen Original wird noch deutlicher, dass es sich bei diesem auf den ersten Blick nutzlos erscheinenden Verhalten um eine absichtsvoll eingesetzte Methode handelt: „à la fin d’un de ces après-midi tout à fait désœuvrés et très mornes, comme j’ai le secret d’en passer“ (zitiert nach Bürger 1980, S. 108). So konstatiert Bürger letztlich auch einen Unterschied zwischen dem aktiv und systematisch suchenden Surrealisten und Baudelaires passivem Flaneur: „Der Passivität des Flaneurs entspricht beim surrealistischen Ich ein geradezu aggressives Verhalten. Die Möglichkeiten, sich der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft zu entziehen, sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eher gering geworden. Konnte der Dandy des Second Empire sich noch dem überlassen, was an Eindrücken die Großstadt ihm bot, so sieht das surrealistische Ich sich zu einem konsequenten Vorgehen genötigt.“ (Ebd., S. 109f.)
Eine aktive Aufmerksamkeit voraussetzende Erwartungshaltung (attente) und die methodisch gezielte Herbeiführung von Situationen, in denen sich das Wunderbare mit größerer Wahrscheinlichkeit einstellen wird, kennzeichnen das surrealistische Vorgehen. Der durch die Stadt streifende Surrealist überlässt sich nicht dem Lauf der Dinge, sondern wendet sich vorsätzliche „dem Unnützen, Besonderen, Fremden, Abstrusen und Seltsamen mit der gleichen Intensität [zu], mit der der tätige Bürger all diese Momente aus seinem Dasein verbannt“ (ebd., S. 128). So spricht Sheringham (2006, S. 82) dann auch von der surrealistischen „Kunst der Wahrnehmung“, die er als einen performativen Akt versteht, und in der es nicht darum gehe, neue Dinge zu entdecken, sondern die Dinge neu zu entdecken. Neben der zur aktiven Methode verfeinerten flânerie und der écriture automatique gehörten zum Arsenal der Methoden, derer sich die Surrealisten bei ihrer Suche nach dem Wunderbaren bedienten, auch noch eine Reihe anderer Verfahren, die vor allem im Bereich der bildenden Kunst, die neben der literarischen Produktion und vor dem Film das wichtigste surrealistische Betätigungsfeld werden sollte, zum Einsatz gelangten. Eine surrealistische Musik hingegen gab es nie, was sicherlich nicht allein damit zu erklären ist, dass Breton als Anführer und theoretischer Kopf der Bewegung nicht viel für Musik übrig hatte. Zwar zeigten sich viele andere Surrealisten vom Jazz fasziniert, der gerade aus den USA nach Paris gelangt war; warum aber keine Versuche unter-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen nommen wurden, die surrealistischen Verfahren auch im Bereich der Musik zu erproben, versuchte Michel Leiris viele Jahre nach seinem Ausscheiden aus der surrealistischen Bewegung in einem Interview zu erklären: „Es konnte keine surrealistische Musik geben. Damit es Surrealismus gibt, muss es Realismus geben: es bedarf einer Realität, die man bearbeitet. Die Musik – ich reduziere sie nicht, indem ich das sage – hat absolut keine Berührung mit der Realität. Sie ist ein System, aber kein Zeichensystem – die Musik hat keine Bedeutung. Was zählt, sind die Beziehungen der Töne untereinander. Ein musikalischer Surrealismus ist nicht vorstellbar. Ein literarischer Surrealismus, ja, denn das Material sind die Wörter; ein Surrealismus in der Malerei, ja, denn das Material sind die Bilder; ein Surrealismus in der Musik, worauf sollte der basieren?“ (Michel Leiris im Gespräch mit Sally Price und Jean Jamin. In: Leiris 1992, S. 157)
Auch wenn man dieser Argumentation nicht in Gänze folgen muss, wird in ihr doch auf einen Umstand hingewiesen, in dem tatsächlich ein Grund dafür zu sehen ist, warum es keine surrealistische Musik gab, gleichzeitig aber eine surrealistische Begeisterung für den Jazz. In Gestalt der Autonomieästhetik kam dem von den Surrealisten attackierten l’art pour l’art im Bereich der bürgerlichen Musik eine größere Bedeutung zu als in jedem anderen künstlerischen Betätigungsfeld. In den Augen der Surrealisten, denen es stets um eine Aufhebung von Gegensätzen zu tun war – dem Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen, vor allem aber dem zwischen Kunst und Leben –, musste eine sich als autonom verstehende Kunstmusik also eine noch größere Distanz zum Leben aufweisen als alle anderen Kunstformen. Kaum denkbar, wie in der in den bürgerlichen Salons und Konzertsälen vorherrschende Instrumentalmusik mit ihrer abstrakten Fixierung auf das Formale diese Kluft hätte überbrückt werden können. Auch wenn die Collage im Rahmen der surrealistischen Bewegung im Bereich der Musik also (noch) nicht zum Einsatz gelangte, stellte sie in allen Betätigungsfeldern, in denen sich die Surrealisten engagierten, eine zentrale Methode dar. Highmore (vgl. 2002a, S. 50) geht sogar so weit, in ihr das verbindende Merkmal aller surrealistischen Praktiken zu sehen. Im cadavre exquis, dem „Erlesenen Leichnam“, einer von den Surrealisten entwickelten spielerischen Methode der kollektiven Produktion von Texten oder Bildern unter Ausschaltung des kritischen Denkens, spiegelte sich deren „Überzeugung vom Ende der Ära des individualistischen Kunstwerks […], die praktizierte An-
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Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben sicht, daß der Autor als privilegierter Schöpfer seine Rolle ausgespielt hat“ (Barck 1986, S. 729). Auf einem zusammengefalteten Blatt Papier wurden Satzteile niedergeschrieben oder z.B. Körperteile gezeichnet ohne Kenntnis davon zu haben, was der Mitspieler zuvor auf seinem nun zugedeckten Teil des Blattes geschrieben oder gezeichnet hat. Der Name des Spiels geht zurück auf den so zustande gekommenen Satz „le cadavre-exquis-boira-le-vinnouveau“ („Der erlesene Leichnam wird den neuen Wein trinken“). Ein solches Vorgehen ist zu verstehen als praktische Umsetzung von Lautréamonts Diktum „La poésie doit être faite par tous. Non par un.“ („Die Poesie muss von allen gemacht werden. Nicht von einem“). Laut Nadeau (vgl. 1986, 47f.) war der Comte de Lautréamont, mit bürgerlichem Namen Isidore Ducasse, derjenige Autor, auf den sich die Surrealisten am häufigsten direkt beriefen und der wie kein anderer den Surrealismus angeregt und befruchtet hatte. Eine andere Formulierung von ihm aus dem 6. Gesang seiner 1869 erschienenen Chants de Maldoror (dt. 1976, Die Gesänge des Maldoror) wird nicht nur immer dann gebraucht, wenn es gilt, die surrealistische Ästhetik des Wunderbaren auf den Punkt zu bringen, sondern diente auch Max Ernst im Katalog zur Zürcher Ausstellung „Was ist Surrealismus“ dazu, das Prinzip der Collage zu versinnbildlichen: „‚Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch‘ (Lautréamont) ist heute ein allbekanntes, fast klassisch gewordenes Beispiel für das von den Surrealisten entdeckte Phänomen, daß die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die s t ä r k s t e n p o e t i s c h e n Z ü n d u n g e n p r o v o z i e r t . Zahllose individuelle und kollektive Experimente (zum Beispiel die als ‚Erlesene Leiche‘ bezeichneten) haben die Brauchbarkeit dieses Verfahrens erwiesen. Es zeigt sich dabei, daß, je w i l l k ü r l i c h e r die Elemente zusammentreffen konnten, um so sicherer eine völlige oder partielle Umdeutung der Dinge durch den überspringenden Funken Poesie geschehen mußte.“ (Ernst 1986, S. 611; Hervorhebungen im Original)
Auch wenn sie nicht dem im Begriff implizierten Prinzip des Ausschneidens und Aufklebens gehorchen, können in diesem Sinne alle surrealistischen Methoden als Collage-Verfahren verstanden werden, wie Highmore (2002a, S. 50) schreibt. Denn stets geht es darum, Gegenstände aus ihrem gewohnten Kontext herauszulösen, um sie mit anderen, ebenfalls aus ihren Kontexten herausgelösten Gegenständen, mit denen sie sonst in keinem Zusammenhang stehen, „auf einem wesenfremden Plan“, d.h. in einer neuen
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Umgebung zusammenzubringen – dépaysement, Umgebungswechsel, als wesentliches Merkmal nicht nur der „pedestrian production“ (ebd.) des ziellos durch die Stadt flanierenden Surrealisten, sondern aller surrealistischen Verfahren. Dabei dienten all diese Techniken im Surrealismus nicht in erster Linie dazu, Kunstwerke hervorzubringen. Wie schon den Dadaisten vor ihnen galten auch den Surrealisten Nationalismus, Patriotismus, Militarismus und vor allem die Kunst als Ausdrucksformen bürgerlicher Ideologie und Selbstgerechtigkeit in der durch Entfremdung gekennzeichneten kapitalistischen Gesellschaft Frankreichs zwischen den beiden Weltkriegen, und vielen, wenn auch nicht allen Surrealisten in gleichem Maße war daran gelegen, sich ausdrücklich von ihrem Image als Literaten und Künstler zu distanzieren. „Seit der Romantik ist die Kunst Protest gegen die sich entfaltende bürgerliche Gesellschaft. Die Avantgarde dagegen protestiert nicht mehr (jedenfalls nicht vornehmlich) als Kunst gegen die bestehende Gesellschaft, sie protestiert vor allem gegen die Stellung, die die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. Sie versucht die Trennung von Kunst und Leben, die das Ergebnis einer langen literarischen Entwicklung ist, gewaltsam rückgängig zu machen durch Zerstörung der künstlerischen Tradition (vgl. Futuristisches Manifest), durch Aktionen, die an die Stelle künstlerischer Äußerungen treten (vgl. Dada-Manifestationen), schließlich durch die Produktion von Werken, die sich gegen das traditionelle Kunstverständnis sperren.“ (Bürger 1980, S. 24)
Dem surrealistischen Impuls der Aufhebung der Gegensätze folgend war es erklärtes Ziel, die Kunst, die sich vom Leben entfremdet hat, mit diesem wieder zu vereinen. Natürlich kann sich jemand, der sich diesem Ziel verschreibt, nicht selbst als Künstler verstehen, ohne sich in Widersprüche zu verstricken. Bei aller Kritik am Rationalismus bedienten sich die Surrealisten der Sprache und Ikonographie der Wissenschaft, um sich von der Kunst zu distanzieren. So wurde 1925 ein Bureau de la Recherche surrealiste, 15 rue de Grenelle, gegründet und die Aufmachung der zwischen 1924 und 1929 von André Breton, Pierre Naville und Benjamin Péret herausgegebene Zeitschrift La Révolution Surréaliste war bewusst an der des konservativen Wissenschaftsmagazins La Nature orientiert.
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Abb. 7: Zwölfte und letzte Ausgabe der Zeitschrift La révolution surréaliste vom 15. Dezember 1929. Sich weder mit der lebensfremden Kunst noch mit der rationalistischen Wissenschaft vollständig identifizierend, verstanden sich die Surrealisten als Dokumentare oder, einer Formulierung Bretons zufolge, im Sinne des psychischen Automatismus als „Registrierapparate“: „Wir haben kein Talent … wir haben uns, während wir unsere Werke schufen, zu tauben, fühllosen Gefäßen gemacht, in denen zahllose von außen hereindringende Klänge widerhallen konnten; wir sind zu anspruchslosen Registrierapparaten geworden, denen gleichgültig ist, ob hinter dem, was sie aufzeichnen, eine geheime Absicht waltet.“ (André Breton zitiert nach Nadeau 1986, Fußnote auf S. 63)
Als scheinbar rein konstative bildliche Äußerungen, die lediglich der Illustration von Bretons Text dienen, können in diesem Sinne auch die Fotografien von Jacques-André Boiffard in Nadja als ein weiteres Indiz für die dokumentarischen Ambitionen des Surealismus angesehen werden:
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Abb. 8: Jacques-André Boiffard – Nous nous faisons servir dehors par le marchand de vins... (ca. 1928, aus Breton 2002, S. 69)
Und auch der erste Teil von Aragons Le Paysan de Paris (dt. 1996, Der Pariser Bauer), des zweiten literarischen Schlüsselwerks des Surrealismus, lässt sich als eine dokumentarische Bestandsaufnahme der Geschäfte in der im Zuge des Ausbaus des Boulevard Haussmanns zum Abriss vorgesehenen Passage de l’Opera verstehen, illustriert durch Reproduktionen von Zeitungsausschnitten und Handzetteln, die von der Auseinandersetzung zwischen den um ihre Existenz bangenden Pächtern und den Eigentümern zeugen, der Getränkekarte eines der bedrohten Cafés in der Passage und den Türschildern der Geschäfte, die sich in den oberen Etagen der Gebäude befinden und nur über die Passage zugänglich sind. Und inmitten der mitunter schon übertrieben genauen Beschreibungen der örtlichen Gegebenheiten berichtet Aragon von seinen Begegnungen mit dem Wunderbaren, das sich im tristen und etwas heruntergekommenen Alltag der dem Untergang geweihten Passage verbirgt:
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Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben „Als ich [...] einen ganzen Abend lang im Petit Grillon auf eine Person gewartet hatte, die es nicht für angebracht hielt, mich zu treffen, und ich von Viertelstunde zu Viertelstunde mein ungewöhnliches Alleinsein mit der Bestellung eines Getränkes gerechtfertigt hatte, das mein Erfindungsvermögen jedesmal ein wenig mehr erschöpfte, ging ich, nachdem ich diesen Zustand der Erwartung und der Erregung endlos in die Länge gezogen hatte, in die Passage hinaus, deren Beleuchtung schon gänzlich erloschen war. Wie überrascht war ich, als ich, angezogen von irgendeinem mechanischen, monotonen Geräusch, das wohl aus dem Schaufenster des Spazierstockhändlers drang, bemerkte, daß dieses in ein blaßgrünes, gewissermaßen submarines Licht eingetaucht war, dessen Quelle unsichtbar blieb. Das ähnelte der Phosphoreszenz der Fische, wie ich sie einst als Kind auf der Mole von Port-Bail im Contenin sehen konnte; doch mußte ich mir eingestehen, daß Spazierstöcke zwar die Leuchteigenschaften der Meeresbewohner durchaus besitzen mögen, daß es aber eine physikalische Erklärung für diese übernatürliche Helligkeit und vor allem für das Geräusch, das das Gewölbe dumpf erfüllte, nicht zu geben schien. Das Geräusch erkannte ich wieder: Es war das Muschelrauschen, das immer wieder Dichter und Filmstars in Staunen versetzt. Das ganze Meer in der Passage de l’Opera.“ (Aragon 1996, S. 27)
Ob die surrealistische Unentschlossenheit im Hinblick auf eine Identität als Künstler oder als Wissenschaftler als Ausdruck von oder als Ursache für die enge Verflechtung der akademischen und künstlerischen Kreise im Paris der 1920 zu verstehen ist, die die Ausgangssituation für den weiteren Verlauf der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen prägte, lässt sich im Nachhinein wahrscheinlich nur noch schwerlich entscheiden. Sicher ist aber, dass die dokumentarischen Impulse des Surrealismus seiner bevorstehenden Vermählung mit der aufstrebenden Disziplin der Ethnologie im Rahmen der Zeitschrift Documents und des Collège de Sociologie, um die es im folgenden Kapitel gehen wird, förderlich waren. Und mit großer Sicherheit lässt sich auch behaupten, dass die surrealistische Suche nach dem Wunderbaren im Alltagsleben einen, wenn nicht sogar den zentralen Impuls darstellt, für die Etablierung eines wissenschaftlichen Diskurses, der sich dem Alltäglichen als Gegenstand um seiner selbst willen annahm. Die surrealistische Einschätzung des Alltäglichen war dabei von einer Ambivalenz gekennzeichnet, die diesen Diskurs nachhaltig prägen sollte: Sahen die Surrealisten in ihm einerseits den „Hort des Wunderbaren“, setzten sie sich anderseits seine Transformation zum Ziel, weil es ihnen als ein durch den kapitalistischen Zweckrationalismus entfremdeter Lebensbereich galt, in dem persönliche Erfahrung kaum mehr möglich ist.
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Literatur Alquié, Ferdinand (1955): Philosophie du surréalisme, Paris: Flammarion. Aragon, Louis (1986): „Eine Traumwoge“ [1924], in: Barck (Hg.), Surrealismus in Paris, S. 60-80. — (1996): Der Pariser Bauer [1926], Frankfurt am Main: Suhrkamp. Barck, Karlheinz (1986): „Kontinente der Phantasie“, in: ders. (Hg.), Surrealismus in Paris, S. 717-749. Barck, Karlheinz (Hg.) (1986): Surrealismus in Paris 1919-1939: Ein Lesebuch, Leipzig: Philipp Reclam jun. Benjamin, Walter (1977c): „Der Sürrealismus: Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ [1929], in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge (= Gesammelte Schriften, Bd. II/1), Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 295-310. Bohrer, Karl Heinz (2002): „Nachwort“, in: Breton, Nadja, S. 141155. Breton, André (1973): Die kommunizierenden Röhren [1932], München: Rogner & Bernhard. — (1975): L’Amour fou [1937], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1986): Die Manifeste des Surrealismus [1924/1930], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. — (2002): Nadja [1928], Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bürger, Peter (1996): Der französische Surrealismus: Studien zur avantgardistischen Literatur (Um Neue Studien erweiterte Ausgabe), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Éluard, Paul (1939): Donner à voir, Paris: Gallimard. — (1968): Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade, 2 Bände), hg. v. Marcelle Dumas und L. Scheler, Paris: Gallimard. Ernst, Max (1986): „Was ist Surrealismus?“ [1934], in: Barck (Hg.), Surrealismus in Paris, S. 610-613. Gardiner, Michael E. (2000): Critiques of Everyday Life, London und New York: Routledge. (Darin v.a. Kapitel 2: „Dada and Surrealism: Poetics of Everyday Life“, S. 24-42.) Highmore, Ben (2002a): Everyday Life and Cultural Theory: An Introduction, London und New York: Routledge. (Darin v.a. Kapitel 4: „Surrealism: The Marvellous in the Everyday“, S. 45-59.) Lautréamont, Comte de (1976): Die Gesänge des Maldoror [1869], München: Rogner & Bernhard.
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Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben Nadeau, Maurice (1986): Die Geschichte des Surrealismus [1945], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Polizzotti, Mark (1996): Revolution des Geistes: Das Leben André Bretons, München: Hanser. Sheringham, Michael (2006): Everyday Life: Theories and Practices from Surrealism to the Present, Oxford: Oxford University Press. (Darin v.a. Kapitel 2: „Surrealism and the Everyday“, S. 59-94.)
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„Was ist für mich das Heilige? Oder genauer: Worin besteht mein Heiliges? Welche Gegenstände, Orte und Situationen erwecken in mir jene Mischung aus Furcht und Hingabe, jene zweideutige, vom Herannahen eines sowohl verlockenden als auch gefährlichen, glorreichen und zurückgestoßenen Etwas bestimmte Einstellung, jene Mischung aus Respekt, Begierde und Schrecken, die für das psychologische Anzeichen des Heiligen gelten kann? Es geht hier nicht darum, meine Wertskala zu definieren, deren Spitze dann das einnehmen würde, was für mich am gewichtigsten und (im gewöhnlichen Sinne des Wortes) am heiligsten ist. Es geht vielmehr darum, durch einige unauffällige, dem alltäglichen Leben entlehnte Züge hindurch – die außerhalb dessen stehen, was heute das offizielle Heilige ausmacht (Religion, Vaterland, Moral) – die Momente aufzudecken, welche die qualitative Charakterisierung meines Heiligen erlauben und zur Bestimmung der Grenzen beitragen könnten, von der ich weiß, daß ich mich nicht mehr auf dem Boden der gewöhnlichen (unbedeutenden oder ernsthaften, angenehmen oder schmerzlichen) Dinge bewege, sondern in eine radikal verschiedenen Welt eingetreten bin, die von der profanen Welt ebenso klar geschieden ist wie das Feuer vom Wasser.“ Michel Leiris, „Das Heilige im Alltagsleben“ (1985b, S. 228)
Documents, das Collège de Sociologie, Michel Leiris und das Persönliche am Alltagsleben Zwischen dem Frühjahr 1929 und dem Frühjahr 1931 erschienen insgesamt 15 Ausgaben der Zeitschrift Documents3, die einer ihrer Mitarbeiter, der Schriftsteller, abtrünnige Surrealist und (spätere) Ethnologe Michel Leiris, im Nachhinein als eine „janusköpfige
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Ein Nachdruck der Zeitschrift wurde 1991 von Denis Hollier herausgegeben und ist im Internet frei zugänglich unter http://gallica.bnf.fr/ scripts/catalog.php?IdentPerio=NP00592.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Veröffentlichung“ bezeichnen sollte, „die ein Gesicht den hohen Sphären der Kultur zuwandte [...] und d[as] andere einer Zone des Wilden, in die man sich ohne Landkarte oder Reisepaß irgendwelcher Art hineinwagt“ (Leiris 1985e, S. 70). Das Herausgebergremium der ersten fünf Ausgaben umfasste elf Personen, unter ihnen Georges Wildenstein, der mit der Gazette des beaux-arts bereits eines der etabliertesten Pariser Kunstmagazine leitete und das neue Zeitschriftenprojekt maßgeblich finanzierte, Pierre d’Espezel und Jean Babelon, beide Mitarbeiter am Cabinet des Médailles der Bibliothèque nationale de France, der deutsche Schriftsteller und Kunsthistoriker Carl Einstein, auf dessen Initiative hin das Projekt überhaupt erst zustande kam, sein Freund, der Kunstsammler Gottlieb Friedrich Reber, der Ethnologe und Museologe Georges-Henri Rivière und Paul Rivet, Mitbegründer des Instituts für Ethnologie an der Sorbonne und Leiter des ethnographischen Museums Trocadéro. Das Amt des Generalsekretärs des Gremiums übernahm Georges Bataille, hauptberuflich ebenfalls Bibliothekar mit Fachgebiet Numismatik an der Bibliothèque nationale, der neben Einstein maßgeblich für die inhaltliche Gestaltung der Zeitschrift verantwortlich zeichnete – und das durchaus nicht immer im Sinne seines Finanziers und der konservativeren unter den Herausgebern. Diese hatten ein luxuriös ausgestattetes, zwar um das in den 1920er Jahren in Paris hochaktuelle Gebiet der „primitiven Kunst“ erweitertes, in seinem Kunstverständnis aber eher klassisches „Magazine illustré“ über zeitgenössische Kunst im Sinn. Doch bereits in der Zusammenstellung der auch als Untertitel der ersten drei Ausgaben fungierenden Rubriken „Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie“ – ab dem vierten Heft wird der Begriff Doctrines durch Variétés ersetzt – zeichnete sich Batailles konträres Verständnis im Hinblick auf die Zielsetzung der Zeitschrift ab, die er als eine „Kriegsmaschine gegen vorgefertigte Meinungen und Ideen“ (Leiris 1985e, S. 71) in Stellung zu bringen gedachte – „to explore the impossible underside of bourgeois civilization“, wie Michèle Richman es formulierte (Richman 2002, S. 187). Ziel des Angriffs war aber nicht nur das bürgerliche Kunstverständnis einiger seiner Mitherausgeber, sondern nicht zuletzt auch die surrealistische Bewegung um André Breton, der Bataille zwar nahe stand, der er aber entgegen James Cliffords Behauptung aufgrund einer für ihn enttäuschend verlaufenen Begegnung mit André Breton im Jahr 1926 nie angehörte (vgl. Clifford 1988, 129). Bataille warf den Surrealisten vor, wider allen Beteuerungen der Kunstproduktion niemals wirklich abgeschworen zu haben, und kündigte an, ihren
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben idealistischen Tendenzen „a more subversive and above all a more corporeal and material version of surrealist contestation“ (Sheringham 2006, S. 98) entgegenzusetzen. „Wie Michel Leiris in einem Gespräch mit Berhard-Henri Lévy berichtet, betrachtete Bataille Breton als einen Idealisten, für Bataille eine ‚Todsünde‘: ‚Er meinte damit, dass der von Breton vertretene Materialismus nur verbal war – was auch die absolute Wahrheit ist.‘ (Leiris in Lévy 1992, 185) Bataille entwarf stattdessen einen ‚niederen Materialismus‘; eine radikale Kritik idealistischer oder synthetisierender Ansätze, die nur vermieden werden könnten, wenn man sich den heterogenen oder ‚niederen‘ Phänomenen zuwende.“ (Moebius 2006a, S.234)
Als Beispiel für den Materialismus Batailles führt Sheringham dessen in der sechsten Ausgabe von Documents erschienenen Artikel „Le gros orteil“ an, der von drei ganzseitigen Photographien Jacques-André Boiffards illustriert wird, auf denen jeweils vor einem schwarzen Hintergrund die Großaufnahme eines großen Zehs zu sehen ist (vgl. Bataille 1991):
Abb. 9: Jacques-André Boiffard – Gros orteil, sujet masculin, 30 ans (1929, aus Walker 2006, S. 176)
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen „These images represent something ordinary, banal and unaesthetic, but their power stems from the way […] the image is constructed and manipulated. This is not by dint of distortion or collage. Boiffard’s images combine the irrefutable reality of the document with a hallucinatory presence that opens the real to the play of fantasy. The first main device is the use of close-up, combined with enlargement, lighting and camera angle. Boiffard contrives to focus so closely as to isolate the big toe from everything else, including the foot. As a result, the body part becomes monstrous. […] A second factor is the scale. The photographs were reproduced in full page (and the first two as a double-page spread), so that the big toes are in fact four or five times life-size. One effect of this enlargement is to make wrinkles look like furrows, hairs […] like bits of cord, and nails like slabs of slate. […] In ‚Le Gros orteil‘, Bataille sees the foot as the embodiment of what, in a subsequent article, he called ‚cette matière basse, qui seule […] permet a l’intelligence d’échapper à la contrainte de l’idéalisme‘ (base matter that, alone, permits the mind to elude the constraints of idealism). The idealism Bataille had in mind was primarily that of Surrealism […] The article on the big toe ends by rejecting the poetic and the metaphorical (and implicitly the surreal) and affirming ‚un retour à la réalité‘ (a return to reality). This did not, Bataille insisted, imply a new attitude of acceptance but was, rather, a response to the seductive power of things that are base yet have the power to astonish and admonish — such as the big toe.“ (Sheringham 2006, S. 98; Sheringham selbst zitiert Bataille 1991, S. 302)
Die Betonung der Materialität des dargestellten Objektes und der damit verbundene, befremdende (Hyper-) Realismus sind zwar durchaus mit dem dokumentarischen Impuls des Surrealismus kompatibel, wie er zum Beispiel auch in Nadja zum Ausdruck kommt, in dem ebenfalls Photographien Boiffards als Illustrationen enthalten sind, Sheringham dient aber gerade der Vergleich dieser Photographien als Beleg dafür, dass es Bataille und seinen Mitarbeitern bei Documents darum zu tun war, dem durch die Betonung der Bedeutung von Erfahrung auch im Surrealismus vorhandenen Realitätsbezug etwas noch Realeres entgegenzuhalten – „[to assert] the primacy of the contigent here and now over what they saw as Surrealism’s idealist tendencies.“ (Ebd., S. 95). Auch wenn die Gruppe der Surrealisten um André Breton an keiner Stelle explizit genannt wurde, war den Adressaten doch klar, gegen wen sich der explizite Materialismus in Documents richtete, zumal Bataille ehemals zentrale Mitglieder der Gruppe, die sich im Zuge des Schismas von 1929 von Breton distanziert hatten, darunter vor allem Michel Leiris und Robert Desnos, als Mitarbeiter der Zeitschrift gewinnen konnte. Breton reagierte 1930 im Second Manifeste du Surrealisme entsprechend mit einer mehrere Seiten umfassenden Attacke (vgl. Breton 1986, S. 95-98)
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben gegen Batailles „alten, antidialektischen Materialismus“ (ebd., S. 96): „Monsieur Bataille interessiert mich nur insofern, als er wähnt, der von uns ganz und gar akzeptierten, harten Disziplin des Geistes – daß Hegel hierfür hauptsächlich verantwortlich gemacht wird, stört uns keineswegs – eine Disziplin entgegenzusetzen, die keineswegs gelockert erscheint, sondern einfach die des alten Un-Geistes sein will (das ist übrigens der Punkt, wo sie auf Hegel trifft). Monsieur Bataille macht es sich zur Aufgabe, auf der Welt nur das Niedrigste, Entmutigendste, Verdorbenste zu berücksichtigen, und er fordert den Menschen auf, um in keinem Falle irgend etwas Bestimmtem nützlich zu sein, ‚sinnlos mit ihm zu laufen – mit plötzlich trübe gewordenen, von unsagbaren Tränen gefüllten Augen – zu einigen Spukhäusern in der Provinz, häßlicher als Fliegen und liederlicher und ranziger als Friseursalons‘. Wenn ich hier solche Aussagen zitiere, dann weil sie mir nicht nur Monsieur Bataille zu betreffen scheinen, sondern auch diejenigen früheren Surrealisten, die Ellenbogenfreiheit wünschten, um sich so ziemlich überall zu kompromittieren. Vielleicht hat Monsieur Bataille das Format, sie zu vereinen, und daß es ihm gelänge, wäre meines Erachtens interessant. Um Monsieur Bataille scharen sich bereits die Herren Desnos, Leiris, Limbour, Masson und Vitrac [...] Der Gedanke belustigt mich übrigens, daß man den Surrealismus nicht verlassen kann, ohne auf Monsieur Bataille zu treffen; denn der Abscheu vor jeder Strenge weiß sich nun einmal nicht anders umzusetzen, als in die erneute Unterwerfung unter eine andere Strenge.“ (Ebd. S. 95f., aus welchem Artikel Batailles Breton hier zitiert, ist leider nicht nachgewiesen)
Bataille unterzeichnet daraufhin das Anti-Breton-Pamphlet Un cadavre, das auf das Zweite Surrealistische Manifest reagierte. Durchaus im Sinne des Surrealismus, weniger aber im Sinne der einem bürgerlicheren Kunstverständnis anhängenden Mitglieder des Herausgebergremiums, war die Wirkung, die durch den Kontext erzielt wurde, in den die betont materialistischen Darstellungen eingefügt wurden. Bereits im April 1929 schrieb d’Espezel in einem Brief an Bataille, dass angesichts dessen, was er bislang gelesen habe, der von Bataille gewählte Titel der Zeitschrift nur insofern gerechtfertigt sei, als dass sie Dokumente über Batailles Geisteszustand liefere (vgl. Kiesow und Schmidgen 2005, S. 102, sowie Ades und Baker 2006). Neben Isolierung, extremer Vergrößerung und Serialität, durch die dem Surrealismus ein Mehr an Realität entgegengesetzt werden sollte, war vor allem die auch im Surrealismus gebräuchliche Methode der Juxtaposition kennzeichnend für die visuelle und inhaltliche Gestaltung der Zeitschrift und Auslöser für
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen d’Espezels Kritik. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift – eine vollständige Aufstellung in englischer Übersetzung findet sich bei Ades & Baker 2006, S. 257-259) – veranschaulicht, was gemeint ist, wenn Kiesow und Schmidgen in diesem Zusammenhang von einer „Collage des Heterogenen“ (2005, S. 101) sprechen: In der ersten Ausgabe von 1929 z.B. finden sich neben Artikeln über sumerische, sibirische und chinesische Kunst und über die Arbeiten Pablo Picassos theoretische Reflektionen von Bataille und Carl Einstein, Notizen über zwei „mikrokosmische Figuren“ des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts von Michel Leiris sowie kürzere Beiträge über Paul Klee, das Musée d’Ethnographie du Trocadéro, eine chinesische Ausstellung in Berlin und über Igor Stravinsky. Und auch für das von Einstein im Sinne einer „Enzyklopädie als Abbruchunternehmen“ (ebd., S. 105) konzipierte, aber von Bataille verantwortete illustrierte Dictionaire (critique), das ab der zweiten Ausgabe regelmäßiger Bestandteil der Hefte war (mit der vierten Ausgaben entfiel das Attribut critique), ist diese Gegenüberstellung von dem vorherrschenden Verständnis nach radikal verschiedenen Gesellschaften bzw. Bereichen angehörenden, inkommensurablen Gegenständen und Personen kennzeichnend, wie eine Auswahl der Lemata illustriert: Architecture [Architektur], Matérialisme [Materialismus], Chameau [Kamel], Poussière [Staub], Abbatoir [Schlachthof], Crustacés [Krustentiere], Benga (Féral) [senegalesischer Variété-Tänzer, der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in den Folies-Bergère auftrat], Esthète [Ästhet], Keaton (Buster), Musée [Museum], Kali [indische Gottheit] etc. (eine deutsche Übersetzung sämtlicher Einträge des Dictionaire (critique) wurde von Kiesow und Schmidgen 2005 herausgegeben). In diesem Kontext ist auch die charakteristische Verbindung von avantgardistischer Kritik und Ethnographie im Rahmen der Zeitschrift zu sehen, für die James Clifford 1988 den Begriff des ethnographischen Surrealismus prägte – auch wenn dessen Protagonisten dem Surrealismus im engeren Sinne, d.h. der Gruppe um André Breton, in der Zeitspanne, in der Documents erschien, gar nicht (mehr) angehörten. „In juxtaposing cultural materials from a range of societies (societies ideologically represented as structurally exclusive – the West versus the rest), a radical cultural relativism was produced that combined ‚the corrosive analysis of a reality now identified as local and artificial‘ with ‚the supplying of exotic alternatives‘ (Clifford 1988[a]: 130). By drawing connections across cultures as well as privileging ‚other‘ cultures, Documents used ethnography to perform ‚a radical questioning of norms‘ as well as ‚a leveling and a re-
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben classification of familiar categories‘ (129). What this suggests is the possibility of rethinking and re-imagining Western everyday modernity by juxtaposing it with ‚other‘ cultures – by a global cross-cultural perspective.“ (Highmore 2002a, S. 56f.)
Durch das sich über alle vorherrschenden Kategorien hinwegsetzende, unterschiedslose und keine hierarchisierende Wertung implizierende Nebeneinander von avantgardistischen Kunstwerken (Picasso, Braque, Masson), archäologischen Fundstücken (Münzen aus dem vierten Jahrhundert vor Christus) und mittelalterlichen Handschriften (irische Psalter), Motiven der zeitgenössischen Popularkultur (Titelbilder der beliebten Romanserie Fantômas, Standbilder aus zeitgenössischen Hollywoodfilmen), „Alltäglichem“ (Bilder aus Pariser Schlachthäusern und von dicken Zehen) und ethnographischen Artefakten (afrikanische, melanesische, präkolumbianische aber auch französische [Karnevals-] Masken) wurde ein Verfremdungseffekt erzielt, durch den diese Kategorien überhaupt erst bewusst gemacht, damit in ihrer kulturellen Arbitrarität und Kontingenz zur Schau und somit zur Disposition gestellt wurden. „The journal’s basic method is juxtaposition – fortuitous or ironic collage. The proper arrangement of cultural symbols and artifacts is constantly placed in doubt. […] Documents poses, for the culture of the modern city, the problem facing any organizer of an ethnographic museum: What belongs with what? Should masterpieces of sculpture be isolated as such or displayed in proximity with cooking pots and ax blades? […] The ethnographic attitude must continually pose these sorts of questions, composing and decomposing culture’s ‚natural‘ hierarchies and relationships. Once everything in a culture is deemed worthy in principle of collection and display, fundamental issues of classification and value are raised.“ (Clifford 1988a, S. 132)
Unter den Autoren der Zeitschrift finden sich mehrere namhafte Ethnologen bzw. Soziologen. Anders als in Großbritannien oder Deutschland war diese Unterscheidung in Frankreich in den 1920er Jahren noch nicht wirklich etabliert, da die Ethnologie – vor allem durch das Wirken des Soziologen Marcel Mauss – gerade erst begann, als akademische Disziplin auf sich aufmerksam zu machen und sich zu institutionalisieren. Vielleicht ist in diesem Umstand auch einer der Gründe dafür zu sehen, warum die Kluft, die es zu überbrücken galt, um den in der Auseinandersetzung mit „fremden Kulturen“ entwickelten ethnographischen Blick auf die eigene Gesellschaft „zurück“ zu werfen, in Frankreich nicht so groß war, wie sie es in den Nachbarländern mit ih-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ren etablierten Fachtraditionen gewesen wäre. Georges-Henri Rivière, Vizedirektor des Musée d’ethnographie du Trocadéro, der Bataille überhaupt erst den Anstoß gegeben hatte, sich bei Wildenstein um die Finanzierung der Zeitschrift zu bemühen, schrieb regelmäßig für Documents. Sogar Mauss selbst, Neffe des 1917 verstorbenen Begründers der französischen Soziologie, Émile Durkheim, und bis zu dessen Tod einer seiner engsten Mitarbeiter, der als Präsident des 1923 gegründeten Institut français de sociologie, als Herausgeber der nouvelle série der Année sociologique und gemeinsam mit Paul Rivet und Lucien Lévy-Bruhl als Begründer des 1925 ins Leben gerufenen Institut d’ethnologie de l’université de Paris wohl als die zentrale Gestalt der französischen Sozialwissenschaften in den 1920er Jahren angesehen werden kann, konnte für das 1930 erschienene Themenheft über Pablo Picasso als Autor gewonnen werden. In der darauf folgenden, vierten Ausgabe des zweiten Jahrgangs von 1930 findet sich ein Beitrag des deutschen Völkerkundlers Leo Frobenius über Höhlenzeichnungen im damaligen südlichen Rhodesien. Und neben Bataille, Einstein, Leiris, Rivière und dem Musikwissenschaftler André Schaeffner, der als Begründer der französischen Ethnomusicologie gilt, gehörte auch der Mauss-Schüler Marcel Griaule zu den Autoren, die über den gesamten Publikationszeitraum hinweg regelmäßig Beiträge für Documents verfassten. Ein Jahr nachdem die Publikation der Zeitschrift eingestellt worden war, brach letzterer als Leiter der ersten großen vom Musée d’ethnographie du Trocadéro organisierten Feldforschungsexpedition, der „Mission Dakar-Djibouti“, an der auch Schaeffner als Musikspezialist und Leiris als „secrétaire-archiviste“ teilnahmen, nach Afrika auf. Von 1931 bis 1933 durchquerte die aus Vertretern verschiedener akademischer Fachgebiete zusammengesetzte Mission zu Forschungszwecken, nicht zuletzt aber auch, um die Sammlung des Museums zu erweitern, den Kontinent von Dakar im Westen bis nach Djibouti im Osten: „[T]ausende Objekte werden gesammelt (und gestohlen), 6.000 Fotos aufgenommen sowie Hunderte von Tonbandaufnahmen aufgezeichnet [...]. Berühmt wird die Mission vor allem durch Leiris’ Tagebuch L’Afrique fantôme (dt. 1980 [1934]), persönliche Aufzeichnungen, die der Mauss-Schüler während der Forschungsreise aufgeschrieben hat.“ (Moebius 2006b, S. 38)
Während James Clifford (1988a, S. 146) den ethnographischen Surrealismus, das Moment der Verfremdung von scheinbar Bekanntem durch die Juxtaposition von dekontextualisierten Ele-
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben menten aus unterschiedlichen Gesellschaften oder Sphären, für ein generelles Merkmal ethnologischen Arbeitens hält und nicht auf die französische Ethnologie der Zwischenkriegszeit beschränkt sieht, bezeichnet er dieses Buch des dissidenten Surrealisten Leiris, der sich nach seiner Abkehr von der Gruppe um Breton für die Ethnologie zu interessieren begonnen hatte und der nach Bataille die meisten Beiträge zu Documents verfasste, als einziges Beispiel für eine surrealistische Ethnographie. „L’AFRIQUE FANTÔME is a monster: 533 dense pages of ethnography, travel diary, self-exploration, ‚oneirographie‘[4].“ (Clifford 1988b, S. 165)
Der allen positivistischen Ansprüchen an die Distanz zum Forschungsgegenstand zuwiderlaufende Subjektivismus und der mitunter an surrealistische Prosa gemahnende Stil, der kennzeichnend ist für L’Afrique fantôme, vor allem aber die selbst- und dem Unternehmen insgesamt gegenüber kritischen Bemerkungen, die darin enthalten sind – in schonungsloser Offenheit berichtet Leiris z.B., wie einige der Artefakte von den Missionsteilnehmer, auch von ihm selbst, ihren afrikanischen Besitzern regelrecht geraubt wurden, sogar unter Androhung von Gewalt (vgl. Leiris 1985f, S. 111ff.) –, führten im Anschluss an die Veröffentlichung des Buchs zu einem Bruch zwischen Leiris und Griaule, für den L’Afrique fantôme eine Nestbeschmutzung der noch jungen, um akademische Anerkennung bemühten Disziplin Ethnologie darstellte. Und aufgrund der Kritik am französischen Imperialismus wurde die Restauflage von L’Afrique fantôme auf Anweisung der Vichy-Regierung 1941 sogar vernichtet. Insgesamt sollten sich die Zielsetzungen der politisch aktiven, nonkonformistischen Intellektuellen um Bataille und der Protagonisten einer sich zunehmend von der Soziologie emanzipierenden und institutionell etablierenden Ethnologie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auseinander entwickeln. 1937 wurden die nicht zuletzt auch im Rahmen der Mission Dakar-Djibouti erbeuteten Bestände des Musée ethnographique du Trocadéro an das von Paul Rivet anlässlich der Pariser Weltausstellung neu gegründete Musée de l’homme überführt, dem auch das Institut d’ethnographie der Universität angegliedert wurde. Marcel Griaule wurde 1942 auf die erste französische Professur für Ethnologie berufen. James Clifford zufolge kam es im Zuge dieser Institutionalisierung (und Zentralisierung) der französischen Ethnologie
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„Traumbeschreibung“.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen zur Abwendung von dem für die fünfzehn Ausgaben von Documents aber auch für die Ausstellungskonzeptionen am Trocadéro charakteristischen ethnographischen Surrealismus’, der die Defamiliarisierung des Bekannten zum Effekt hat. An seine Stelle trat ein ethnographischer Humanismus, dem es primär um die Familiarisierung des Unbekannten zu tun ist: „The Musée de l’Homme provided a liberal, productive environment for the growth of French ethnographic science. Its guiding values were cosmopolitan, progressive, and democratic; one of the first cells of the Resistance formed within its walls in 1940 [...] But though it shared the scope of surrealism [with regard to the encouragement of international understanding and global values], the ethnographic humanism of the Musée de l’Homme did not adopt an earlier surrealism’s corrosive, defamiliarizing attitude toward cultural reality. The aim of science was rather to collect ethnographic artifacts and data and to display them in reconstituted, easily interpretable contexts. [...] The Musée de l’Homme’s African sculptures were displayed regionally along with related objects, their significance functionally interpreted. They did not find a place beside the Picassos of the Musée d’Art Moderne, located a few streets away. As we have seen, the emerging domains of modern art and ethnology were more distinct in 1937 than a decade before.“ (Clifford 1988a, S. 139f.)
Für die Arbeiten der Gruppe um Bataille hingegen sollte die Rückwendung der ethnographischen Sichtweise, die in der Anwendung von eigentlich in der Auseinandersetzung mit fremden Gesellschaften entwickelten Kategorien und Konzepten auf die eigene Gesellschaft besteht, auch über den Veröffentlichungszeitraum von Documents hinaus eine charakteristische Methode bleiben. 1935 rief Georges Bataille gemeinsam mit Jean Dautry und Pierre Kaan zur Gründung einer politischen „union de lutte des intellectuels révolutionaires“ („Vereinigung zum Kampf der revolutionäre Intellektuellen“) gegen den sich in Europa ausbreitenden Faschismus auf, der – trotz aller Meinungsverschiedenheiten – auch André Breton beitrat. In Anlehnung an Der Gegenangriff, eine deutschsprachige, antifaschistische Exilzeitschrift, die zwischen 1933 und 1935 erschien, nannte sich die Gruppierung Contre-Attaque. „Die Vereinigung solle Marxisten wie Nicht-Marxisten umfassen [...]. Ihre Handlungsbasis sei insbesondere und im Gegensatz zu anderen sozialen Bewegungen nicht die materielle Basis, sondern der soziale Überbau (vgl. Bataille 1970[...], 381). Die ‚von der Gruppe ausgehende Revolution‘ habe aggressiv oder gar nicht zu sein. Eine Formulierung aus Punkt 13 der Resolu-
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben tion, die eine Zuhilfenahme ‚faschistischer Waffen‘ vorsieht, sorgte für viel Aufsehen und provozierte Kritik durch andere Gruppen. In Punkt 13 wurde festgehalten, dass man es verstehe, sich der politischen Waffen zu bedienen, die der Faschismus geschaffen habe. Dem Faschismus sei es nämlich in besonderer Weise gelungen, die fundamentalen Bestrebungen oder Sehnsüchte der Menschen nach affektiver Erregung und nach Fanatismus für sich zu nutzen (vgl. Bataille 1970[...], 382). Diese affektive Erregung gelte es auch für links-revolutionäre und anti-nationalistische Zwecke zu gebrauchen. ‚Contre-Attaque‘ verstand sich als außer- und antiparlamentarischer Gegenangriff sowohl gegen den Faschismus als auch gegen aufkommende nationalistische Tendenzen in der Linken Frankreichs. An der Linken kritisierte man vor allen Dingen, dass sie nicht mit den bürgerlichen Werten der Arbeit und des Vaterlandes brach.“ (Moebius 2006a, S. 243)
Schon ein Jahr später, im April 1936, löste sich die Gruppe wegen interner Streitigkeiten zwischen Bataille und Breton wieder auf. An der allgemeinen Zielsetzung und der Idee, den Faschismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, hielt Bataille aber fest, als er noch im selben Monat gemeinsam mit Pierre Klossowski und dem Physiker Georges Ambrosino die Geheimgesellschaft Acéphale ins Leben rief, die es sich angesichts der Bedrohung durch den im Nachbarland Deutschland herrschenden Nationalsozialismus zur Aufgabe machte, der Blut-und-BodenIdeologie der Nazis das gelebte Prinzip der selbst gewählten, vitalen oder organischen Gemeinschaft entgegen zu halten (vgl. ebd., S. 253ff). Ziel der maximal zwölf Mitglieder von Acéphale – „gleichsam eine Parodie auf Christus und seine Jünger“ (Moebius 2006a, S. 265) – war es, sich von der profanen Welt ab- und dem Bereich des Sakralen zuzuwenden. Zu diesem Zwecke wurden im Wald von Marly jeweils bei Neumond Versammlungen und Rituale abgehalten. Dem Bericht von Patrick Waldberg zufolge, der eigens um der Geheimgesellschaft beizutreten aus Amerika nach Frankreich zurückgekehrt war, bat Bataille bei einem dieser Treffen die drei anderen Anwesenden feierlich darum, „so freundlich zu sein, ihn zu töten, damit dieses Opfer, das den Mythos begründet, das Überleben der Gemeinschaft sichern möge. Diese Gunst wurde ihm versagt“ (Waldberg 1995, S. 366; zitiert nach Moebius 2006a, S. 271f.). „Acéphale war nicht nur religiös motiviert, sondern versuchte in einem gewissen Sinne eine Aufhebung (im Hegelschen Sinne) der Politik ins Religiöse zu praktizieren, so dass alltägliches religiöses Leben und Politik keine Gegensätze mehr bilden würden und sich auf diese Weise sowohl neue soziale Kohäsionen als auch insgesamt lebenspraktische Veränderungen der als atomisiert und entfremdet betrachteten Individuen ereignen könnten. Dabei
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen versucht die Geheimgesellschaft mit Hilfe eines vergemeinschaftenden Mythos (Acéphale/Dionysos), mit diversen Lebensregeln und Ritualen, mit der Lobpreisung des Selbstverlusts und des Selbstopfers sowie der Propagierung einer normenüberschreitenden, mystisch-ekstatischen ‚Freude vor dem Tod‘ einen religiös-magischen Zusammenhalt zu stiften und das Sakrale in actu zu erkunden.“ (Moebius 2006a, S. 254f.)
Um das, was auf den ersten Blick den Eindruck einer fantastischen Spinnerei macht, zu verstehen, gilt es, etwas auszuholen und die soziologischen Diskurse der um die von Durkheim 1898 begründeten Zeitschrift L’Année sociologique gruppierten, so genannten Durkheim-Schule vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Ereignisse der Zwischenkriegszeit nachzuvollziehen. Das Sakrale stellte in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts das zentrale Thema der französischen Soziologie dar. In seiner Dissertation De la division du travail social (dt. Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977) hatte Émile Durkheim die Arbeitsteilung als grundlegendes Charakteristikum der modernen Industriegesellschaft identifiziert. Durch die durch Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und effizientere Verkehrs- und Kommunikationsstrukturen bedingte Arbeitsteilung komme es zu einer sozialen Differenzierung, in deren Zuge den individuellen Fähigkeiten des Einzelnen größere Bedeutung zugemessen werde. Für Durkheim stellt Gesellschaft als Emergenzphänomen eine Realität sui generis dar, die mehr ist als die Summe der individuellen Vorstellungen der Mitglieder. „Die Gruppe denkt, fühlt und handelt ganz anders, als es ihre Glieder tun würden, wären sie isoliert“, schreibt er 1895 in Les Règles de la méthode sociologique (dt. 1984, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 187f.). Schon in seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Dissertation De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures (dt. 1988, Über soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation höherer Gesellschaften) hatte Durkheim für das Denken, Fühlen und Handeln, das sich unabhängig vom Einzelnen auf der Ebene der Gruppe herausbildet, den Begriff des Kollektivbewussteins (conscience collective) geprägt: „Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen.“ (Durkheim 1988, S. 128)
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben Da Durkheim die soziale Differenzierung nicht auf das Arbeitsleben beschränkt sah, sondern auch im Hinblick auf das Kollektivbewusstsein beobachtete, bot ihm der dadurch entstehende Individualismus Anlass zur Sorge, sah er darin doch eine Gefährdung der sozialen Integration der modernen Gesellschaft: „Je individueller die Gesellschaftsmitglieder indes werden, desto weniger können sie noch durch ein einheitliches Kollektivbewußtsein integriert werden. Vielmehr differenziert sich auch das Kollektivbewußtsein in eine Fülle funktionsspezifischer Normkodizes aus, die gleichwohl ihren moralischen Charakter behalten. Der Funktionsdifferenzierung folgt also die Moraldifferenzierung auf dem Fuße.“ (Müller 2002, S. 158)
Im Zuge der Arbeitsteilung entwickelten sich neue gesellschaftliche Organe und Funktionen schneller, als sich das Kollektivbewusstsein auf die neuen Umstände einzustellen vermochte. Auf dieser Grundlage diagnostizierte Durkheim für die moderne Industriegesellschaft einen Zustand der Anomie, dem es ein neues Prinzip der Solidarität entgegenzusetzen galt. Dem evolutionistischen Schema seiner Zeit verhaftet, sah Durkheim das Kollektivbewusstsein in „primitiven“, „undifferenzierten“ Gesellschaften – Durkheim selbst spricht auch von segmentären Gesellschaften und verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der horde („Horde“) – durch das Prinzip der mechanischen Solidarität (solidarité mécanique) gewährleistet, die auf dem Prinzip der Ähnlichkeit ihrer Mitglieder beruht. „Im Bewußtsein eines jeden von uns gibt es zwei Bewußtseinszustände; den einen, den wir mit der ganzen Gruppe gemeinsam haben und der folglich nicht uns gehört; den anderen, der im Gegenteil dazu in uns das repräsentiert, was uns persönlich und unterscheidbar macht. Die Solidarität, die aus den Ähnlichkeiten entsteht, erreicht ihr Maximum, wenn das Kollektivbewußtsein unser ganzes Bewußtsein genau deckt und in allen Punkten mit ihm übereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualität gleich Null. Sie kann nur entstehen, wenn die Gemeinschaft weniger Platz in uns einnimmt. [...] In dem Augenblick, in dem diese Solidarität wirkt, löst sich unsere Persönlichkeit definitionsgemäß sozusagen auf; denn dann sind wir nicht mehr wir selbst, sondern das Kollektivwesen.“ (Durkheim 1988, S. 181f.)
In den modernen Gesellschaften ist diese Ähnlichkeit durch die durch Arbeitsteilung bedingten Differenzierungsprozesse aber nicht mehr gegeben. So kommt es zu dem Zustand der Anomie. Durkheim hoffte nun darauf, dass sich die mechanische Solidarität ersetzen ließe durch eine auf funktionalen Unterschieden be93
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ruhende, organische Solidarität (solidarité organique), die den Einzelnen indirekt über seine berufliche Tätigkeit in die Gesellschaft einbindet. Da Durkheim, wie in obigem Zitat schon anklang, die Religion als den Ursprung des Kollektivbewusstseins identifizierte, lässt sich in diesem Zusammenhang auch seine Beschäftigung mit dem Totemismus der australischen Aborigines in Les Formes élémentaire de la vie religieuse von 1912 verstehen (dt. 1994, Die elementaren Formen des religiösen Lebens), in dem er versucht, dem „Wesen der Religion“ nachzuspüren, indem er, dem evolutionistischen Paradigma seiner Zeit folgend, „die primitivste und einfachste Religion [studiert], die bis jetzt bekannt ist“ (Durkheim 1994, S. 17). Diese meint er im Totemismus der Aranda gefunden zu haben, der durch die zahlreichen Publikationen von Walter Baldwin Spencer und Francis James Gillen, vor allem die beiden Bücher The Native Tribes of Central Australia von 1899 und The Northern Tribes of Central Australia von 1904, sowie die dazu teilweise in Widerspruch stehenden Beobachtungen des deutschen Missionars Carl Friedrich Strehlow, von denen er in dem fünfbändigen, zwischen 1907 und 1920 erschienenen Die Arandaund Loritja-Stämme in Zentralaustralien berichtet, außergewöhnlich umfassend dokumentiert war. Durkheim selbst hatte zeit seines Lebens nie eine Feldforschung durchgeführt, womit er in der Ethnologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts allerdings keine Ausnahme darstellte. Auf der Suche nach einer „positiven Definition“ von Religion versucht Durkheim im „Einleitende Fragen“ betitelten ersten von fünf Büchern, in die Die elementaren Formen des religiösen Lebens unterteilt ist, zunächst, die „Elementarphänomene“ von Religion zu charakterisieren und unterscheidet zwischen „Glaubensüberzeugungen“ und „Riten“ (vgl. Durkheim 1994, S. 61ff.). „Die ersteren sind Meinungen: sie bestehen aus Vorstellungen; die zweiten sind bestimmte Handlungsweisen. Zwischen diesen beiden Klassen liegt derselbe Abstand wie zwischen dem Denken und dem Handeln.“ (ebd., S. 61)
Da letztere als religiöse Handlungen zwangsläufig auf ersteren basieren, gilt es zunächst, die mentalen Kategorien von Religion zu bestimmen. Durkheim zufolge weisen alle religiösen Überzeugungen, egal welcher Gesellschaft und Religion sie entstammen, eine grundlegende Gemeinsamkeit auf:
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben „[...] sie setzen eine Klassifizierung der realen oder idealen Dinge, die sich die Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in zwei entgegengesetzte Gattungen voraus, die man im allgemeinen durch zwei unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet hat, nämlich durch profan und heilig. Die Aufteilung der Welt in zwei Bereiche, von denen der eine alles umfaßt, was heilig ist, und der andere alles, was profan ist; das ist Unterscheidungsmerkmal des religiösen Denkens.“ (ebd., S. 62)
Was die heiligen Dinge von den profanen trenne, ist nicht ihr jeweiliger Platz innerhalb einer Hierarchie der Dinge, sondern ihre absolute Andersartigkeit. Das Heilige und das Profane stellen zwei Welten dar, „zwischen denen es nichts Gemeinsames gibt“ (ebd., S. 64); der Übergang zwischen diesen beiden radikal entgegen gesetzten Welten verlange eine wirkliche Metamorphose, „eine Verwandlung totius substantiae“, wie sie z.B. Ziel von Initiationsriten sei: „Man behauptet, daß in diesem Augenblick der junge Mann stirbt, daß der Mensch, der er war, aufhört zu existieren, und daß ein anderer in diesem Augenblick an seine Stelle tritt. Er wird in einer neuen Form wiedergeboren. Geeignete Zeremonien sollen diesen Tod und die Wiedergeburt verwirklichen, die man nicht nur symbolisch, sondern wörtlich versteht. Ist das kein Beweis, daß es zwischen dem profanen Wesen, das er war, und dem religiösen Wesen, das er durch die Wiedergeburt wird, einen Bruch der Kontinuitäten gibt?“ (ebd., S. 65)
Um die Religion von der Magie abzugrenzen, die sich ebenfalls aus Überzeugungen und Riten zusammensetzt und zwischen heiligen und profanen Dingen unterscheidet, führt Durkheim den Begriff der Kirche ein, worunter er eine Gemeinschaft versteht, deren Mitglieder „vereint sind, weil sie sich die heilige Welt und ihre Beziehungen mit der profanen Welt auf die gleiche Weise vorstellen und die gemeinsamen Vorstellungen in gleiche Praktiken umsetzen“ (Durkheim 1994, S. 71), während magische Überzeugungen nicht die Wirkung hätten, diejenigen, die ihnen anhängen, zu einer Gemeinschaft zu einen. Wie es dazu kommt, dass mitunter völlig „unbedeutende“ Dinge, die nichts an sich haben, was sie dazu prädestinierte, dem Bereich des Sakralen zugeordnet werden, erklärt Durkheim am Beispiel des Totemprinzips. Das Totem ist vor allem ein Symbol, einerseits für ein Tier oder eine Pflanzen, vor allem aber für den Clan, d.h. die Gemeinschaft, die sich dieses Tier oder diese Pflanze zum Zeichen nimmt, um sich von anderen Clans zu unterscheiden – so erklärt es sich auch, dass figürliche Darstellungen von Totems oft als heiliger angese-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen hen werden, als lebendige Exemplare der entsprechenden Gattung. Wie ein Gott, so übt auch die Gesellschaft – hier der Clan – Zwang auf den Einzelnen aus. Die Gesellschaft, in Durkheims Sinne eine Emergenz, die mehr ist als die Summe der Motivationen ihrer Mitglieder, verfolgt Ziele, die nicht unbedingt denen des Einzelnen entsprechen. Da diese Ziele aber nur durch die Mitwirkung der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft erreicht werden können, verlangt sie von diesen ihre Mitarbeit: „Sie verlangt, unter Missachtung unserer Interessen, daß wir ihr dienen, und unterwirft uns allen möglichen Zwängen, Entbehrungen und Opfern, ohne die das soziale Leben unmöglich wäre. [...] Nun sind aber die Handlungsweisen, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern aufzuzwingen besonders geneigt ist, eben hierdurch in einer besonderen Weise gekennzeichnet: Sie rufen Respekt hervor. Weil sie eine Kollektivarbeit sind, klingt die Lebendigkeit, mit der sie jeder einzelne gedacht hat, in den jeweils anderen wider. Die Vorstellungen, die sie in jedem von uns hervorrufen, erreichen dadurch eine solche Intensität, die im Bewußtseinszustand Einzelner niemals erreicht werden kann; denn sie summieren die unzähligen Einzelvorstellungen, die zu ihrer Bildung beigetragen haben.“ (Durkheim 1994, S. 285f.)
Die Gesellschaft übt aber nicht nur Zwang auf den Einzelnen aus und erweckt in ihm das Gefühl einer andauernden Abhängigkeit von einer höheren Macht, sondern sie ist gleichzeitig auch Quelle seiner Kraft. Da Gesellschaft nur im und durch das individuelle Bewusstsein ihrer einzelnen Mitglieder existiert, darf sie nicht als eine Instanz verstanden werden, die ihnen völlig äußerlich ist, sondern sie durchdringt sie und organisiert sich in ihnen: „Damit wird sie ein integraler Bestandteil unseres Wesens, erhöht und vergrößert es“ (ebd., S. 289). Die temporären Zusammenkünfte der Mitglieder einer Gesellschaft – z.B. anlässlich der Begehung eines religiösen Ritus – erzeugen in jedem einzelnen das Gefühl, sich als Individuum in der Gruppe aufzulösen, und veranlassen es zu Handlungen, die es allein und von sich aus eventuell gar nicht begehen würde. Durkheim spricht in diesem Zusammenhang von einer (kollektiven) „Gärung“ (effervescence): „Außerhalb dieser vorübergehenden und zeitweiligen Zustände gibt es noch andere, dauernde, in denen sich dieser verstärkte Einfluß der Gesellschaft nachhaltiger und oftmals auffallender durchsetzt. Es gibt historische Perioden, in denen die sozialen Interaktionen unter dem Einfluß großer kollektiver Erschütterungen häufiger und aktiver werden. Die Individuen streben zueinander und sammeln sich mehr als jemals. Daraus entsteht eine Gärung, die für revolutionäre oder schöpferische Epochen kennzeichnend ist. Aus
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben dieser Überaktivität folgt eine allgemeine Stimulation individueller Kräfte. Man lebt mehr und anders als in normalen Zeiten. Die Veränderungen sind nicht mehr nur Gradunterschiede; der Mensch wird anders. Die Leidenschaften, die ihn erschüttern, sind derart heftig, daß ihnen nur mit gewalttätigen und unmäßigen Handlungen Genüge getan werden kann: mit Heldentaten oder blutrünstiger Barbarei.“ (Durkheim 1994, S. 290)
In diesem Sinne sind die religiösen Überzeugungen nicht nur selbst Produkt der Gesellschaft, die sie teilt, sondern die kollektiven Erfahrungen, die die Teilnehmer im Rahmen der auf ihrer Grundlage vollzogenen Riten machen, und die aus der Zusammenkunft resultierenden kollektiven „Gärungen“ sind gleichzeitig auch die Quelle aller Vergemeinschaftung. Es sind genau diese Leidenschaften, die Georges Bataille als Ursache für den um sich greifenden Faschismus ausmachte. Er teilte mit Durkheim dessen Kritik an dem die moderne Industriegesellschaft kennzeichnenden Individualismus und macht diesen für die Anfälligkeit großer Teile (nicht nur) der deutschen Bevölkerung für nationalsozialistische Propaganda verantwortlich. Wie bereits erwähnt, hatte Batailles Idee, die Faschisten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, schon bei Contre-Attaque für heftige Kontroversen gesorgt, die im April 1936 letztlich zur Auflösung der Gruppe geführt hatten. Um der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis entgegenzuwirken, hatte Bataille noch im gleichen Monat die Geheimgesellschaft Acéphale gegründet. In der einzigen Ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift wurde ein Jahr später die Déclaration relative à la fondation d’un Collège de Sociologie abgedruckt, das Bataille gleichsam als theoretische Speerspitze – Moebius spricht ironischerweise vom „theoretischen ‚Kopf‘“ (Moebius 2006a, S. 253) – von Acéphale intendierte. Neben Bataille gehörten Michel Leiris und Roger Caillois zu den Initiatoren des Collège de Sociologie, letzterer wie Leiris ein Schüler von Mauss und abtrünniger Surrealist, der schon an der Gründungsresolution von Contre-Attaque mitgewirkt hatte, der Vereinigung dann aber nicht beigetreten war, weil Breton zu ihr stieß. Sowohl Leiris als auch Caillois schlugen trotz der engen Verbindung, die Bataille zwischen den beiden Gruppierungen sah, auch die Einladung aus, der Geheimgesellschaft beizutreten. Als Mitglieder von Acéphale hatten auch Pierre Klossowski und Georges Ambrosino die Gründungserklärung unterschrieben, außerdem Jules Monnerot, auf dessen Vorschlag hin die religiöse Konnotationen erweckende Bezeichnung Collège gewählt wurde
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen und der seine Forderung nach einer Neuausrichtung der französischen Soziologie und einer Anwendung der Durkheimschen Methoden auch auf die eigene, moderne Gesellschaft mit der berühmt gewordenen Äußerung begründete, „das Primitive sei nicht so weit von der Sorbonne entfernt, wie die Sorbonne denke“ (vgl. Moebius 2006a, S. 304ff.). Zeitweise gehörte auch Walter Benjamin, der aufgrund der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 nach Paris ins Exil gegangen war, dem Collège an. Dessen erklärtes Ziel war die Entwicklung einer „Sakralsoziologie“: „Diese war darauf ausgerichtet, die vitalen Elemente gemeinschaftlicher Bindungen wie kollektive Erfahrungen und Efferveszenzen – initiiert durch Rituale, Feste oder Spiele – in der modernen Gesellschaft zu erforschen und zu neuem Leben zu erwecken. Die analytische Orientierung des Collège auf moderne Gesellschaften sollte insbesondere vorangegangene soziologische Studien, zum Beispiel der Durkheim-Schule, ausweiten und die Soziologie insgesamt erneuern. Ein anderes Ziel war es, neue Gemeinschaften und Mythen zu begründen, mit deren Hilfe die gesamte Gesellschaft radikal verändert werden sollte. Diejenigen menschlichen Aktivitäten und Bereiche, die vergemeinschaftenden Wert haben, die Gemeinschaft schaffen und jenseits einer rein rationalen Erfassung stehen, bildeten zusammen mit der Untersuchung des ‚Sakralen‘ und des ‚Heterologischen‘ die vornehmlichen Forschungsobjekte des Collège de Sociologie.“ (Moebius 2006a, S. 13)
Schon Durkheim hatte in Anlehnung an William Robertson Smith, dessen Werk er 1895 kennen gelernt und das ihn nachhaltig beeindruckt und von der zentralen sozialen Bedeutung von Religion überzeugt hatte, das Sakrale als ambivalent charakterisiert und zwischen einem reinen und einem unreinen Sakralen unterschieden. Dem reinen Sakralen, das wohltätig ist, Ordnung schaffend und Leben spendend, wird mit Respekt, Liebe und Dankbarkeit begegnet, während das unreine Sakrale, „Erzeuger von Unordnung, Verursacher des Todes, der Krankheiten, Aufhetzer zu Schändigungen“ (Durkheim 1994, S. 548), Furcht und Abscheu erzeugt. Diese Unterscheidung war 1909 von seinem Schüler Robert Walter Hertz in dessen Aufsatz „Le prééminence de la main droite. Etude sur la polarité religieuse“ (vgl. Hertz 2007) aufgegriffen worden. Die erstaunliche Allgegenwärtigkeit von Beispielen in der ethnographischen Literatur seiner Zeit für die Existenz einer Polarität von rechts und links und die Vorherrschaft des rechten Pols über den linken hatte Hertz zu der Überzeugung gebracht, dass die in seiner eigenen Gesellschaft zu beobachtende
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben Vorherrschaft der rechten Hand über die linke nicht allein durch physiologische Faktoren erklärt werden könne, sondern dass es soziale Gründe dafür geben müsse. Zwar leugnete Hertz nicht generell, dass es eventuell biologische Ursachen dafür geben könne, dass eine Hand sensibler sei und über größere motorische Fähigkeiten verfüge als die andere, aber dann bliebe immer noch zu erklären, warum einer eventuell naturgegebene Unterlegenheit nur dann durch geeignete erzieherische Maßnahmen entgegengewirkt werde, wenn es sich um die linke handelt. Hertz machte vielmehr die religiöse Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen und die daraus abgeleiteten Dichotomien für die Bevorzugung der rechten Hand verantwortlich. Dabei identifizierte er allerdings nicht einfach die rechte Seite mit dem Heiligen und die linke mit dem Profanen, sondern verortete die Dichotomie in Gänze im Bereich des ambivalenten Sakralen und setzt die rechte Seite mit dem reinen und die linke mit dem unreinen Sakralen gleich: „Man kann demnach Hertz’ Auffassung des Sakralen folgerndermaßen systematisieren: Nicht Sakral (rein und unrein) ↔ Profan sind entgegengesetzt, sondern dem reinen Sakralen steht das unreine Sakrale und das Profane gegenüber: Reines Sakrales ↔ unreines Sakrales + Profanes.“ (Moebius 2006a, S. 201)
Auf Grundlage dieser Zuordnung lässt sich nachvollziehen, wie Bataille in seinem 1933 veröffentlichten Beitrag „La Structure psychologique du fascisme“ (dt. 1978) den Faschismus, den er ja bekämpfte und von dem er sich dementsprechend distanzierte, dem Bereich des Sakralen zuordnen und gleichzeitig den Plan verfolgen konnte, ihm durch die Gründung einer Geheimgesellschaft, die, da Bataille in Anlehnung an Durkheim alle vergemeinschaftenden Bewegungen per se als sakral definierte, dem gleichen Bereich zuzurechnen ist, etwas entgegenzusetzen. Im Zuge seiner Beschäftigung mit dem Phänomen des Faschismus hatte Bataille die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen auf die Dichotomie zwischen dem Homogenen und dem Heterogenen ausgeweitet. In der durch die utilitaristische Vernunft homogenisierten (profanisierten) modernen Gesellschaft umfasse der Bereich des Heterogenen (Heiligen) all die Elemente, die ausgesondert werden, weil sie deren auf Produktion ausgerichteten Logik zuwiderlaufen (vgl. Richman 2002, S. 124). „[In seiner] Analyse der psychologischen Struktur des Faschismus hatte Bataille gezeigt, dass der Faschismus auf der Heterogenität und dem reinen
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Sakralen eines Führers aufbaut, wobei die faschistische Macht sowohl religiöse, militärische als auch monarchische Elemente miteinander verknüpft (vgl. Bataille 1978, 33ff). Die Heterogenität des Führers sei allerdings im Gegensatz zur Bewegung der niederen Heterogenität und dem unreinen Sakralen immobil (vgl. Bataille 1978, 39); tendenziell könne die Heterogenität des Führers immer in Homogenität transformiert werden. Die verdichtete Macht und die politische Struktur des Faschismus verkörpern sich nach Bataille in der monozephalen Repräsentation des Führers, wobei der Begriff des Monozephalen vor dem Hintergrund des Projekts Acéphale betrachtet werden muss. Dem Monozephalismus stellte Bataille sowohl in einem Beitrag der Zeitschrift Acéphale aus dem Jahre 1937 als auch in einem Vortrag am Collège vom 13. Dezember 1938 eine polyzephale bzw. föderalistische Struktur entgegen.“ (Moebius 2006a, S. 124f.)
Aus diesem Grund galt, wie Michel Leiris 1983 in einem Interview erklärte (vgl. Moebius 2006a, S. 146), das Interesse der Collègiens nicht dem Sakralen per se, sondern vor allem der linken, unreinen Seite des Sakralen bzw. dem, was Bataille als das niedere Heterogene bezeichnet. Der Einfluss der für die gesamte französische Soziologie und Ethnologie der Zwischenkriegszeit wegweisenden Arbeiten von Marcel Mauss, der nach Durkheims Tod im Jahre 1917 und dem Ende des Ersten Weltkriegs maßgeblich für die Renaissance und Konsolidierung der so genannten Durkheim-Schule verantwortlich war, die sich um die von ihm herausgegebene nouvelle série der Année sociologique formierte, stellt eine wesentliche Ursache dafür dar, dass sich das Interesse der Collègiens am Heterogenen vor allem auf den Aspekt der unproduktiven Verausgabung konzentrierte. 1899 war der von Mauss zusammen mit seinem „Arbeitszwilling“ (vgl. Moebius 2006b, S. 48) Henri Hubert verfasste Text „Essaie sur la nature et la fonction du sacrifice“ das erste Mal in der Année sociologique erschienen; 1909 wurde er in ihrer Studie Mélanges d’histoire des religions erneut abgedruckt (vgl. Hubert und Mauss 1929). Darin bestimmen sie das Opfer als ein Kommunikationsmedium zwischen den Bereichen des Profanen und des Heiligen. Durch das Opfer (sacrifice – im Französischen ist dieser Zusammenhang auch sprachlich nachvollziehbar) – vor allem durch den darin enthaltenen Aspekt der Zerstörung – entsteht das Sakrale (sacrée), das die Grundlage für alle Vergemeinschaftungsbewegungen darstellt; so sehen Hubert und Mauss das Opfer als Grundlage der periodischen Erneuerung der Gesellschaft (vgl. Moebius 2006a, S. 184f.).
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben Noch entscheidenderen Einfluss auf das Denken der Collègiens sollte aber Mauss’ Essaie sur le don (dt. 1990, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften) haben. Darin betrachtet er den Austausch von Gaben als ein Beispiel für ein fait social total, eine „totale soziale Tatsache“, worunter Mauss solche gesellschaftlichen Phänomene versteht, in denen die verschiedenen Bereiche des Sozialen miteinander eine Verbindung eingehen. So ist die Gabe, die stets freiwillig erfolgt, aber eine Gegengabe erzwingt, Mauss zufolge nicht allein ökonomisch zu erklären, sondern weist auch eine religiöse, politische, rechtliche, moralische und ästhetische Dimension auf. „Mauss analysiert in seiner Studie das Phänomen des intertribalen Gabentauschs, bei dem Geschenke, Rituale oder Festessen getauscht werden, wobei das Besondere ist, dass die Gabe zwar freiwillig gegeben wird, aber immer erwidert werden muss: Sie ist verpflichtend [...] Bemerkenswerterweise handelt es sich aber nicht so sehr um gewinnmaximierende Formen des Tauschs, sondern um das was Mauss mit dem Begriff des potlatsch bezeichnet: also jene Art von Institution, die man nach Mauss als ‚totale Leistung agonistischen Typs‘ bezeichnen könnte [...] und die sich besonders durch Verausgabung und Verschwendung auszeichnet. Die Verausgabungen nehmen Züge von Wettkämpfen an, bei denen derjenige, der am meisten verschwendet, das höchste Prestige erlangt. Mauss bemerkt in seiner Studie: ‚In den epikureischsten der alten Moralsysteme strebt man nach dem Guten und dem Vergnügen, und nicht nach materieller Nützlichkeit. Es bedurfte des Sieges des Rationalismus und Merkantilismus, damit die Begriffe Profit und Individuum Geltung erlangen und zu Prinzipien erhoben werden konnten.‘ [...] Erst die westlichen Gesellschaften haben Mauss zufolge den Menschen zu einem ‚ökonomischen Tier‘ gemacht.“ (Moebius 2006b, S. 55f.; Moebius zitiert aus Maus 1990, S. 172ff.)
Bereits Anfang der 1930er Jahre hatte Georges Bataille im Rahmen seiner „allgemeinen Ökonomie“ (vgl. Wiechens 1995, S. 31ff.) mit der Ausarbeitung einer Theorie der Verausgabung begonnen, die sich an dem Gabe-Theorem von Mauss orientierte. Anders als Mauss aber, der in der unproduktiven Verausgabung im Rahmen der exzessiven Tauschrituale der indianischen Bevölkerung an der Nordwestküste der Vereinigten Staaten letztlich doch eine Funktion erkannte, nämlich die des Erwerbs von sozialem Prestige und symbolischer Macht, war es für Bataille gerade der antiutilitaristische, gewalttätige und irrationale Charakter der Verausgabung, der für deren vergemeinschaftenden Effekt verantwortlich ist – ein Modifikation des Mausschen Theorems, die bei Mauss selbst, der als Wissenschaftler streng am Rationalismus festhielt, auf wenig Gegenliebe stieß (vgl. Moebius 2006a, S. 101
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 190f.), sich aber eventuell als das Erbe der surrealistischen Faszination für das Irrationale im Denken der Collègiens begreifen lässt. Eng verbunden mit der Idee der totalen sozialen Tatsache ist in Mauss’ Denken die Idee des „totalen Menschen“: „Die erste totale soziale Tatsache ist der Mensch: Jeder Mensch ist eine Totalität, denn jeder ist eine Interdependenz von lebendigem Körper, individuellem Bewusstsein und Teilhabe an einer Gesellschaft. ‚Die dreifache Betrachtungsweise, die des ‚totalen Menschen‘, ist notwendig.‘ [...] Mauss hat eine sowohl Human-Biologie, Human-Psychologie als auch Human-Soziologie umfassende Anthropologie im Auge.“ (Moebius 2006b, S. 104; Moebius zitiert aus Mauss 1999, S. 203)
Wie Moebius (ebd., S. 107) bemerkt, führte Mauss mit dem Konzept des „totalen Menschen“ nicht nur den Körper, dessen sozialer Determiniertheit er sich in dem 1934 erschienenen Artikel Les Techniques du corps widmete, sondern auch das Individuum wieder in die Soziologie ein. Es war der Mauss-Schüler Michel Leiris, der seinen einzigen im Rahmen des Collège de Sociologie gehaltenen Vortrag Le sacrée dans la vie quotidienne (dt. Das Heilige im Alltagsleben, Leiris 1985b) am 8. Januar 1938 mit den Worten „Was ist für mich das Heilige? Oder genauer: Worin besteht mein Heiliges?“ (Leiris 1985b, S. 228, vgl. auch das Epigraph am Beginn dieses Kapitels) begann, und damit diesen Perspektivwechsel im Rahmen des Collège am konsequentesten nachvollzog – weitaus konsequenter sogar, als es Mauss recht sein konnte. Denn selbst wenn dieser das individuelle Bewusstsein im Rahmen seiner Idee vom „totalen Menschen“ als Gegenstand des soziologischen Interesses reinstalliert hatte, so war er den Idealen der wissenschaftlichen Objektivität und der Distanziertheit des Forschers von seinem Gegenstand doch zu sehr verpflichtet, als dass er Leiris’ Subjektivismus etwas hätte abgewinnen können. In „Das Heilige im Alltagsleben“ beschrieb Leiris die völlig alltäglichen, für ihn persönlich aber heiligen Orte und Gegenstände seiner Kindheit, rechte wie linke: den Zylinder und den Trommelrevolver seines Vaters, „Symbole seiner Macht und Autorität“ (Leiris 1985c, S. 228), den Heizofen in der Wohnung seiner Eltern, „im Esszimmer thronend als wahrer Schutzgeist des Heimes“ (ebd., S. 229), das elterliche Schlafzimmer, den rechten Pol des Heiligen darstellend, „den der gegründeten Autorität und des Allerheiligsten der Pendeluhr und der Bildnisse der Großeltern“ 102
Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben (ebd.) und das WC als linken Pol, wo sich Leiris heimlich gemeinsam mit seinem älteren Bruder in abenteuerlichen Tiergeschichten verlor, die sie dort gemeinsam erfanden und sich gegenseitig erzählten. Ironischerweise war es Leiris, der sich mit diesem Vortrag – wie schon zuvor mit dem extrem subjektivistischen Reisetagebuch L’Afrique fantôme – am weitesten von dem für die DurkheimSchule verbindlichen methodischen Kollektivismus entfernte. Dabei hatte gerade er in einem Brief an Bataille vom 3. Juli 1939 (vgl. Leiris 1985c) bemängelt, man würde sich im Rahmen des Collège nicht strikt genug an die von Durkheim festgeschriebenen soziologischen Regeln halten. Auch beklagte er, die Hypostasierung des Sakralen durch Bataille und Caillois widerspreche Mauss’ Idee der „totalen sozialen Tatsache“, die sich eben nicht allein durch Religiöses erklären ließe, und äußerte Zweifel daran, ob sich eine auf das Heilige gegründete Gemeinschaft vorsätzlich herstellen lasse. Neben dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren auch diese internen Differenzen ein Grund dafür, dass sich das Collège 1939 auflöste. Sicherlich läst sich Leiris’ Subjektivismus nicht allein mit der Reinstallierung des individuellen Bewusstseins als Gegenstand der Soziologie durch Mauss erklären, sondern muss auch im Kontext des surrealistischen Beharrens auf die Bedeutung der empirischen Erfahrung gesehen werden. Leiris hatte sich zwar 1929 von der Gruppe um Breton losgesagt, sich aber zeit seines Lebens mit dem Surrealismus identifiziert. Da empirische Erfahrung auf persönlichem Erleben fußt, ist sie notwendigerweise subjektiv. Leiris zufolge muss „in der Ethnographie die Subjektivität beteiligt sein“ (Leiris 1992, S. 181), allerdings sieht er in dieser unvermeidbaren Subjektivität auch eine Möglichkeit der Objektivierung: „Ich glaube, daß das subjektive Element immer enthalten sein muß, es ist immer enthalten. Also ist es besser, daß dies offen als versteckt geschieht. Man muß schließlich die Karten auf den Tisch legen. Seht her, ich bin so und so, und ich, der ich so bin, ich habe die Dinge so gesehen. Für mich ist das grundlegend. Ich will einmal ein Zugeständnis an die offizielle Wissenschaft machen, indem ich sage, daß die absolute Objektivität das vor allem andere Wünschenswerte ist, aber sie ist nicht möglich; die Subjektivität ist immer beteiligt. Also ist es hundertmal besser, daß die Subjektivität offen eingestanden als daß sie verborgen ist. Damit man weiß woran man ist.“ (Leiris 1992, S. 185)
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Für Leiris besteht eine allgemeine Anthropologie immer aus einer doppelten Ethnographie, einer „Auto-Ethnographie“, die in Sinne von Mauss’ „totalem Menschen“ eine Erkundung des körperlich und gesellschaftlich geprägten individuellen Selbst ist, und einer Ethnographie der fremden Gesellschaft. In diesem Sinne lässt sich auch das autobiographische Werk, das noch 1939, im Jahr der Auflösung des Collège, mit L’Age d’homme (dt. 1975, Mannesalter) seinen Anfang nahm und darüber hinaus die zwischen 1948 und 1976 erschienenen vier Bände von La Règle du jeu (dt. Die Spielregel) umfasst (Biffures 1948, Fourbis 1955, Fibrilles 1966 und Frêle bruit 1976; dt. Streichungen 1982, Krempel 1985, Fibrillen 1991 und Wehlaut 1999), in eine Linie stellen mit L’Afrique fantôme und Le Sacrée dans la vie quotidienne. Zusammen mit Leiris’ im engeren Sinne ethnographischen Schriften (vgl. Leiris 1985a und 1985d) sind auch diese Arbeiten Teil ein und desselben Projekts einer „allgemeinen Anthropologie“, das in den 1980er Jahren im Zuge der vor allem in den Vereinigten Staaten geführten writing culture-Debatte als Vorbild für eine selbstreflexive, postmoderne Ethnographie wiederentdeckt wurde (vgl. u.a. Clifford 1988, vor allem 1988b). Darüber hinaus stellt Leiris’ an sich auf jegliches Theoretisieren verzichtender Vortrag einen so wichtigen Schritt in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen dar, dass es gerechtfertig erscheint, so weit auszuholen, um zu erklären, in welchem intellektuellen Kontext Leiris sein persönliches Heiliges in Stellung brachte. Anders als im Surrealismus, in dem das Alltägliche als Hort eines Wunderbaren von besonderem Interesse war, stellt es im Denken der Collègiens keine zentrale Kategorie dar. Zwar wurden in Documents alltägliche Gegenstände neben ethnographischen Artefakten und klassischen wie avantgardistischen Kunstwerken im Rahmen der auf die Dekonstruktion hierarchisch organisierter, bürgerlicher Kategorien abzielenden Juxtapositionen verwendet, es ging dabei aber nicht unbedingt um eine Aufwertung des Alltäglichen. Wie Highmore (2002a, S. 57) schreibt, ist Durkheims für das Denken der Collègiens grundlegende Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen einfach zu übersetzen in die zwischen dem Nicht-Alltäglichen und dem Alltäglichen. Von Bataille mit dem Bereich des Homogenen identifiziert, stand das Profane (und damit das Alltägliche) aber gerade nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses der Sakralsoziologie, deren Entwicklung das erklärte Ziel des Collège de Sociologie darstellte. Es ist gerade die in gewisser Weise einem surrealistischen Impuls, der das Wunderbare im Alltäglichen
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Das Collège de Sociologie und das Persönliche am Alltagsleben vermutet, folgende Aufhebung dieser Dichotomie zwischen dem Sakralen und dem Alltäglichen durch Leiris, die im Hinblick auf eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen so bedeutsam sein sollte. Das Nebeneinander von zeitgenössischer Kunst, außer-europäischen Gegenständen und solchen des französischen Alltags in Documents und die für das Denken der Collègiens grundlegende Ausweitung der ethnographischen Perspektive auf die eigene Gesellschaft hatten das Alltägliche als Gegenstand der Ethnologie etabliert, es war aber vor allem Leiris’ Idee einer allgemeinen Anthropologie, die über die Beschreibung der fremden Gesellschaft hinaus auch eine Autoethnographie umfasst, die erweisen sollte, dass nicht nur die Ethnographie, sondern auch das Alltägliche notwendigerweise persönlich ist.
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Kritik und Rehabilitierung des Alltäglichen
„Da geschah, was mich leichter machte: denn der Zwerg sprang mir von der Schulter, der Neugierige! Und er hockte sich auf einen Stein vor mich hin. Es war aber gerade da ein Torweg, wo wir hielten.
!
‚Siehe diesen Torweg! Zwerg!‘ sprach ich weiter: ‚der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stoßen sich gerade vor den Kopf – und hier, an diesem Torwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Torwegs steht oben geschrieben: Augenblick. Aber wer einen von ihnen weiter ginge – und immer weiter und immer ferner: glaubst du, Zwerg, daß diese Wege sich ewig widersprechen?‘“ Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1999, S. 652)
„Sous les pavés, la plage“ (Situationnistes Internationale)
Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente „[T]he quintessential critical theorist of everyday life“ nennt Michael E. Gardiner Henri Lefebvre in Critique of Everyday Life (2000, S. 71). Und während das Alltagsleben bei keinem der bislang besprochenen Autoren im Zentrum des Interesses stand, man also weder Freud, noch die Surrealisten oder die Collègiens im engeren Sinne als Theoretiker des Alltäglichen bezeichnen kann, auch wenn in ihren Arbeiten wesentliche Impulse enthalten waren, die die Ausprägung dieses Konzeptes nachhaltig prägen sollten, kann Lefebvre tatsächlich als Begründer eines kritischen akademischen Diskurses über das Alltägliche angesehen werden. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Lefebvres Kritik des Alltagslebens Roland Barthes’ kritischer Auseinandersetzung mit den Mythen des Alltags an dieser Stelle vorangestellt wird, auch wenn das chronologisch nur bedingt begründbar ist: Barthes’ Mythologies erschienen in Buchform 1954. Zu diesem Zeitpunkt war zwar der erste von drei Bänden von Lefebvres Critique de la vie quoti-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen dienne bereits veröffentlicht – damals bereits mit der Bemerkung Introduction untertitelt, wurde er 1947 vom Pariser Verlag L’Arche herausgegeben –, der weitaus umfangreichere Teil des Werkes erschien aber erst nach 1954: Eine zweite Auflage des ersten Bands mit einem neu verfassten Vorwort, das fast ebenso lang ist wie der eigentliche Text, wurde 1957 veröffentlich; 1961 erschien der zweite Band mit dem Untertitel Fondements d’une sociologie de la quotidienne; der dritte, De la modernité au modernisme (Pour une métaphilosophie du quotidienne) wurde 1981 publiziert.5 Darüber hinaus ist auch das 1968 bei Gallimard erschienene Buch La Vie quotidienne dans la monde moderne (dt. 1972), das auf einer Reihe von Vorlesungen basiert, die Lefebvre zwischen 1960 und 1968 an den Universitäten von Strasbourg und Nanterre gehalten hatte, ebenso in den Kontext seiner intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen zu zählen wie das 1992 posthum veröffentlichte Eléments de rythmanalyse: Introduction à la connaissance des rythmes, das er kurz vor seinem Tod gemeinsam mit seiner letzten Frau, Catherine Régullier-Lefebvre, verfasst hatte. Ein weiterer Grund, Lefebvre Barthes als Theoretiker des Alltäglichen an dieser Stelle voranzustellen, ist die Ähnlichkeit, die vor allem die im ersten Band der Critique formulierten Ideen mit denen der Collègiens aufweisen. Eigenen Bekundungen zufolge verstand Henri Lefebvre seine Kritik des Alltagslebens als seinen wichtigsten Beitrag zum Marxismus, zu dem er sich zeit seines Lebens bekannte. Dabei waren es in erster Linie die frühen Arbeiten von Marx, die Lefebvre nachhaltig prägten, vor allem dessen Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahr 1844, die Lefebvre zusammen mit seinem Kommilitonen und lebenslangen Freund Norbert Guterman ins Französische übersetzt hatte. In diesen so genannten Pariser Manuskripten hatte Marx die bereits von Hegel formulierte These aufgegriffen, die menschliche Gesellschaft befinde sich in einem Zustand der Entfremdung. Da Marx den ökonomischen Bereich als zentral für das kapitalistische Produktionssystem ansah, das die modernen Industriegesellschaft prägte, konzentrierte er seine Analyse dieses Zustands der Entfremdung in erster Linie auf den Bereich des Arbeitslebens:
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Lefebvre 1987 enthält in dieser Reihenfolge eine deutsche Übersetzung des Vorworts zur zweiten Auflage des ersten Teils von 1958, des ersten Teils von 1947 sowie des zweiten Teils von 1961. Der dritte Teil wurde bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt.
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente „Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus.“ (Marx 2008, S. 59)
Lefebvre zufolge hatte sich der Zustand der Entfremdung aber längst über das Arbeitsleben hinaus generalisiert und das gesamte Alltagsleben kolonialisiert. Dieses tauchte bei Marx als Kategorie zwar noch nicht auf, Lefebvre hielt dessen Methode des dialektischen Materialismus aber für geeignet, der Entfremdung auch im Alltagsleben nachzuspüren. Das Funktionieren des kapitalistischen Systems ist abhängig davon, dass der Arbeiter in seiner Freizeit konsumiert und das Geld, das er mit seiner Arbeit verdient, wieder für die Produkte ausgibt, an deren Produktion er während seiner Arbeitszeit beteiligt ist. In diesem Sinne kommt dem Arbeiter nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in seiner Freizeit eine Funktion im Rahmen des kapitalistischen Systems zu, er wird zur Geldquelle, die es anzuzapfen gilt, indem durch das Angebot immer neuer Produkte für die Gestaltung seines Privat- und Freizeitlebens Bedürfnisse in ihm geweckt werden, die er von sich aus vielleicht niemals entwickelt hätte. „For leisure, workers give back their hard-earned cash as consumers, as mere bearers of money; private life, meanwhile, becomes the domain where they’re lured to spend, the domain of the ad, of fashion, of movie and pop stars and glamorous soap operas, of dreaming for what you already know is available, at a cost. […] All consumable time and space is raw material for new products, for new commodities. Marx’s ‚estranged labor‘ now generalized into an ‚estranged life‘.“ (Merrifield 2006, S. 11)
Lefebvre zufolge wurde in vormodernen Gesellschaften das tägliche Leben noch nicht als abgetrennt von spezialisierteren Aktivitäten konzipiert; alle Tätigkeiten waren integriert in eine relativ undifferenzierte Totalität menschlicher Praktiken. Die produktive Arbeit war organisch mit dem täglichen Leben verbunden, mit den Rhythmen und Zyklen der natürlichen und sozialen Welt, und der Gebrauchswert ihrer Produkte war wichtiger als deren Tauschwert. In ihrer Totalität wiesen diese Gesellschaften einen besonderen Lebensstil auf, der alle Aktivitäten ihrer Mitglieder
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen prägte. Mit der Konsolidierung des Kapitalismus und der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft änderte sich dieser Zustand aber. Soziale Aktivitäten wurden differenziert, die produktive Arbeit spezialisiert und fragmentiert. Das Privatleben und die Freizeit trennten sich vom Arbeitsleben, was gleichzeitig zur Isolierung des Einzelnen von der organischen Gemeinschaft und zur Auflösung des allen Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsamen Lebensstils führte. Die genuine Intersubjektivität, die die vorkapitalistische Gesellschaft charakterisierte, wurde durch einen nach innen gerichteten Individualismus ersetzt, und das Bewusstsein des Einzelnen spaltete sich auf in ein öffentliches und ein privates Selbst. Das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum versucht, der Monotonie und Eintönigkeit seines Alltagslebens zu entkommen, und sucht in seiner Freizeit Zuflucht bei kommodifizierten Freizeitangeboten wie Filmen, Musik, Sport oder der Kunst. „Such activities are generally conceived of as distractions, as a compensation for work, a ‚liberation from worry and necessity‘ (1991a: 33). Unfortunately, leisure cannot be separated arbitrarily from other spheres of social life, especially work. As both Hegel and Marx pointed out, necessity does not disappear in the realm of freedom, and hence leisure under capitalism is still an alienated practice. In modern society, leisure is regimented and commodified, and therefore represents a passive and manipulated way of relating to the world.“ (Gardiner 2000, S. 84)
Um sein Fortbestehen zu sichern, muss der Kapitalismus, dessen Entwicklung überhaupt erst dazu geführt hatte, dass sich die Bereiche des Arbeitslebens und des Privatlebens voneinander abgetrennt haben, seinen Einfluss über die Sphäre des Ökonomischen hinaus auch auf die Sphäre des Privaten ausdehnen, was dazu führt, dass der Zustand der Entfremdung auf das gesamte Alltagsleben übergreift und sich ‚der Arbeiter selbst dann nicht mehr zu Hause fühlt, wenn er nicht arbeitet‘ (vgl. Merrifield 2006, S. 11). In der Konsumgesellschaft ist jede soziale Interaktion der utilitaristischen Logik und den Imperativen der Produktion und des Marktes unterworfen, was eine Auflösung der der Kommunikation dienenden symbolischen Systeme zur Folge hat. „One result of these transformations is that the stable symbolic system through which premodern societies used to denote objects in the world eventually disintegrated, leading to the proliferation of ‚non-referential‘ signs, and the emergence of a general sense of anomie and meaninglessness. These changes are traceable to the peculiar features of bourgeois society and its ideological underpinnings, such as possessive individualism,
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente the ubiquity of private property, and the fetishization of the economic. After 1950, however, modernity was subject to a further transmutation. Consequently, the very foundation of everyday life and of individual existence was radically altered.“ (Gardiner 2000, S. 87)
Im zweiten, 1961 erschienenen Teil der Critique de la vie quotidienne benennt Lefebvre eine Reihe von in den 1950er Jahren entstandenen Faktoren, die sich verändernd auf das Alltagsleben in der kapitalistischen Gesellschaft ausgewirkt haben. Dass er vierzehn Jahre nach Erscheinen des ersten Teils eine Neubewertung des Alltagslebens für nötig erachtet, weist auf die historische Bedingtheit des Alltagslebens in Lefebvres Konzeption hin. Le quotidien, das Alltägliche (the everyday), bzw. das durch Trivialität, Eintönigkeit und Entfremdung, kurz durch den negativ bewerteten Zustand der quotidiennité, der Alltäglichkeit (everydayness), gekennzeichnete Alltagsleben (everyday life) ist keine menschliche Universalie, sondern eine durch das Aufkommen des Kapitalismus bedingte historische Entwicklung, und, wie Lefebvre in Das Alltagsleben in der modernen Welt feststellt, im Gegensatz zum vie quotidienne, einem durch Zyklizität aber eben nicht durch Entfremdung gekennzeichneten täglichen Leben (daily life), durchaus nicht in allen vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften existent: „Die so durchgeführte Untersuchung6 unterscheidet sich von denen, die Gegenstand einer wohlbekannten Sammlung sind:7 das tägliche Leben in den verschiedenen Epochen. Mehrere Bände dieser Sammlung sind dadurch bemerkenswert, daß sie es ermöglichen, zu verstehen, wie eine Gesellschaft, zu einer bestimmten Zeit, kein tägliches Leben hatte. Bei den Inkas oder den Azteken, in Griechenland oder in Rom kennzeichnete ein Stil die geringsten Kleinigkeiten: Gesten, Wörter, Werkzeuge, häusliche Gegenstände, Kleidung usw. Die alltäglichen häuslichen Gebrauchsgegenstände waren noch nicht in die Prosa der Welt gefallen. Die Prosa der Welt ließ sich nicht von der Poesie trennen. Unser tägliches Leben wird durch die Sehnsucht nach Stil charakterisiert, durch sein Fehlen und durch seine hartnäckige Verfolgung. Es hat keinen Stil, es gelingt ihm nicht, sich einen Stil zu geben, trotz der Anstrengungen, sich der alten Stile zu bedienen oder sich in den Resten und Ruinen
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Lefebvre bezieht sich hier auf Nietzsche, den er gegen die evolutionistische Idee der Ethnologie seiner Zeit in Stellung bringt, „um die moderne Welt zu begreifen, sei es vorteilhaft, bei den Bororo oder den Dogon anzufangen“, ohne allerdings zu spezifizieren, welche Untersuchung Nietzsches genau er meint. Auch um welche Sammlung es sich handelt, wird von Lefebvre für den nicht eingeweihten Leser nicht näher konkretisiert.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen und Erinnerungen dieser Stile einzurichten.“ (Lefebvre 1972, S. 46f., Hervorhebungen im Original).
Wie in dem Zitat ersichtlich wird, hält sich die deutsche Übersetzung nicht streng an die oben aufgezeigte, von Shields (1999, S. 66) systematisierte Terminologie. Wie im „alltäglichen“ Sprachgebrauch werden auch hier die Begriffe „Alltagsleben“, „das Alltägliche“, „das tägliche Leben“ oftmals ununterschieden und nicht einheitlich gebraucht, was dem Verständnis der ohnehin nur schwer zugänglichen Texte Lefebvres nicht unbedingt zuträglich ist. Die Aussage ist aber eindeutig: das Alltagsleben, das Lefebvre kritisiert, ist das der modernen westlichen Industriegesellschaften unter den Bedingungen des Kapitalismus und nicht eine Universalie der menschlichen Existenz. Und, es verändert sich! Als einen der Faktoren, die in den 1950er Jahren zu einem Wandel des Alltagslebens beitrugen, nennt Lefebvre im zweiten Teil der Critique den rapiden technologischen Fortschritt, der einerseits zur Entwicklung von neuen Produkten und Geräten geführt hat, die die im täglichen Leben zu verrichtenden Arbeiten erleichtern – vor allem die der Frauen im Haushalt; für sein konservatives Verständnis der Geschlechterrollen ist Lefebvre wiederholt kritisiert worden –, gleichzeitig aber die „natürlichen“ Lebensrhythmen zerstören und die Passivität befördern. Andererseits stellt der technologische Fortschritt aber auch die Grundlage dar für die technokratische Kontrolle der Konsumgesellschaft, die durch die Einführung neuer Technologien und Formen der Informationsvermittlung und -kontrolle in den 1950er Jahren allgegenwärtig wird und beginnt, sämtliche Lebensbereiche zu durchdringen. Bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war die Moderne vor allem gekennzeichnet durch die Auseinanderentwicklung des täglichen Lebens und der spezialisierteren Tätigkeiten, die damit verbundene Zerstörung der organischen Gemeinschaften und die Abwertung des Gebrauchswertes gegenüber dem Tauschwert von Produkten. Mit diesen Entwicklungen ging die Desintegration der bis dato relativ stabilen symbolischen Systeme einher, die in den vormodernen Gesellschaften zur Bezeichnung der Objekte der natürlichen und sozialen Welt gedient hatten, und die starke Zunahme nicht-referentieller, „leerer“ Zeichen: „Lefebvre sees the distinctive shift to be from the semiotics of the symbol to the semiotics of the signal. For Lefebvre the symbol relates to a society
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente where meaning is experienced in a way that relates everyday life to the general narrative themes of a culture; by signal he is suggesting a much more instrumentally reduced form of meaning, a kind of ‚on/off‘ communication exemplified by the traffic light. […] Lefebvre sees the signification of the signal as a loss of both fullness and multiplicity. The movement from the symbol to the signal is a movement that closes down the possibilities of meaning (in Bakhtinian terms, this is a movement from the dialogic to the monologic) […] Although the reign of the signal doesn’t mean that symbols no longer exist, the growing ubiquity of this instrumental signification does suggest to Lefebvre a society that is becoming more and more based around prohibitions and commands.“ (Highmore 2002a, S. 134f.)
Ein generelles Gefühl der Anomie und der Bedeutungslosigkeit ist die Folge. Lefebvres in dieser Hinsicht stark an die Ideen der Frankfurter Schule erinnernden Argumentation zufolge, versucht das kapitalistische System mit einer wahren Flut nichtreferentieller Zeichen, mit denen die Massenmedien und die Werbeindustrie die Konsumgesellschaft überspülen, von diesem Gefühl abzulenken. Wie die Situationisten, mit denen Lefebvre zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des zweiten Teils der Critique eng verbunden ist, spricht er in diesem Zusammenhang vom spectacle. Die schiere Masse der Bilder und Klänge, mit denen das Individuum ständig konfrontiert wird, überfordern es und verdammen es zu deren passiver Rezeption, in deren Verlauf es die ideologischen Codes, die diese Zeichen transportieren, unfreiwillig verinnerlicht. Und wieder einmal sind es die Frauen, die Lefebvre als besonders anfällig für die Beeinflussung durch die massenmedial verbreiteten ideologischen Botschaften des Neo-Kapitalismus darstellt: „A huge upsurge in ‚la presse féminine‘ (the female press) has promoted an ideology of the ‚monde féminin‘ and the ‚femme totale‘, which in its deployment of a ‚pseudo-everyday‘, offers a crude caricature of both the real ambiguities of the everyday and its claim to totality: ‚Dans ce pseudo-monde rien n’est et tout siginifie‘ (In this pseudo-world nothing is, everything signifies) (II, 89). Here the influence of Barthes is perceptible.“ (Sheringham 2006, S. 150f.; Sheringham zitiert aus der englischen Übersetzung des zweiten Teils der Critique)
Aber anders als die Theoretiker der Frankfurter Schule sieht Lefebvre eben dieses Bedürfnis nach Ablenkung von der Eintönigkeit des Alltagslebens, auf das die Massenmedien mit der Produktion immer neuer Bilder und Klänge reagieren, als einen Ausdruck eines wahren Bedürfnisses, das nicht durch die Bereitstellung medialer Produkte zu stillen ist. Es ist Ursache für ein stän117
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen diges Gefühl der Unruhe und der Unbefriedigtheit, das nach Lefebvre die „Achillesferse des Kapitalismus“ darstellt, ist doch gerade die Befriedigung von Bedürfnissen erklärtes Ziel und einzige Daseinsberechtfertigung der Konsumgesellschaft. So sehr es von der Entfremdung des Menschen in der neo-kapitalistischen Gesellschaft zeugt, so sehr zeugt es auch von einem genuinen utopischen Impuls, der eine vollständige Kolonisation des Alltagsleben verhindert und ein ständiges kritisches Potential darstellt. Elden (2004, S. 9 und 113) zufolge kann Lefebvres Auffassung eines durch Entfremdung gekennzeichneten Alltagslebens als eine Anwendung von Marx’ Idee der Entfremdung auf Heideggers Begriff der Alltäglichkeit verstanden werden. Bezug nehmend auf Georg Lukács hatte Heidegger 1927 in Sein und Zeit das Alltagsleben als einen Lebensbereich beschrieben, der durch Trivialität und Inauthentizität gekennzeichnet ist: „In History and Class Consciousness Lukács opposes a trivial life, an inauthentic way of being, to a more fully realized and lived life. For Lukács it is capitalism that prevents the realization, and creates the conditions for this mundane, trivial life of commodity fetishism and mechanical existence. […] In Being and Time Heidegger too sees everydayness as the realm of inauthentic or better ‚inappropriate‘ (Uneigentlichkeit) existence, an existence where humans do as one (das Man) does, and the authentic or ‚appropriate‘ (Eigentlichkeit) way of being is not open to them.“ (Elden 2004, S. 112)
Anders als für Heidegger erschöpft sich das Alltagsleben für Lefebvre aber nicht vollständig in Trivialität und Anonymität. Vielmehr ist es wesenhaft ambivalent, da es das Potential zu seiner eigenen Transformation enthält. Und dem surrealistischen Diktum gemäß, demzufolge die von Marx geforderte Veränderung der Welt nur durch die Veränderung des Lebens, zu der Rimbaud aufgefordert hatte, erreicht werden könne – während seiner Studienzeit in Paris hatte Lefebvre im Kreis der Surrealisten verkehrt und an Treffen des Bureau de la recherche surrealiste teilgenommen (vgl. Gardiner 2000, S. 72) –, ist eben die Transformation des Alltagsleben das erklärte Ziel auch von Lefebvres Kritik des Alltagslebens. „Der Mensch wird alltäglich sein oder er wird nicht sein“, schreibt er im ersten Teil der Critique de la vie quotidienne (1987, S. 135). Bei aller Entfremdung, die das Alltagsleben in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet, ist es doch gleichzeitig auch der Lebensbereich, in dem wir am unmittelbarsten mit der natürlichen und sozialen Welt um uns in Beziehung treten. Alle menschlichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten werden initial im Alltagsleben formuliert, und durch die 118
Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente Konfrontation mit dem konkreten Anderen bilden wir hier ein Bewusstsein unserer selbst und unsere individuelle Identität aus. In einer Analyse des Alltagslebens sieht Lefebvre die einzige Möglichkeit für die Philosophie, das soziale Leben in seiner Totalität zu erfassen. Das Studium des Alltagslebens ist für Lefebvre folglich ein Studium der Entfremdung unter den Bedingungen der Moderne, aber mit dem Ziel, das Alltagsleben zu transformieren und den „totalen Menschen“ zu ermöglichen. Laut Sheringham (vgl. 2006, S. 140) zeigt sich hier der Einfluss von Mauss’ Denken auf Lefebvre ebenso deutlich wie die Hegelianische Ausrichtung von Lefebvres Marxismus, ist die Verwirklichung des „totalen Menschen“ doch gleichbedeutend mit dem „Ende der Geschichte“. Tatsächlich ist der „totale Mensch“ bzw. die „komplette Person“ ein Konzept, dass sich schon in Marx’ Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 findet: „Lefebvre’s was a humanistic Marxism whose key critical principle was Marx’s concept of ‚total man‘ found in the 1844 Economic and Philosophical Manuscripts (Marx 1975). ‚Total man‘ or the ‚complete person‘ transcended the partial images of people as purely economic beings (for example, as described by Adam Smith) or as first and foremost spiritual beings (as describes in Christian doctrine).“ (Shield 1999, S. 49)
Anders als Leiris, der sein persönliches Alltagsleben zum Gegenstand der Analyse machte, hält Lefebvre eine Distanzierung vom Gegenstand für eine wesentliche Voraussetzung für dessen Analyse. „Unmöglich, das Alltägliche als solches dadurch zu erfassen, daß man es akzeptiert, daß man es passiv ‚erlebt‘, ohne Abstand zu nehmen“, schreibt er in Das Alltagsleben in der modernen Welt (1972, S. 44). Nur die Philosophie sei in der Lage, das Alltagsleben in seiner Totalität zu erfassen. Empirische Herangehensweisen, z.B. in Form von interviewbasierten soziologischen Erhebungen, scheinen problematisch, da das Alltagsleben, charakterisiert durch den Zustand der Entfremdung, durch unbewusste Handlungen bestimmt ist. Das von Lefebvre wiederholt zitierte Diktum Hegels aus der Phänomenologie des Geistes, „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“ (Hegel 1973, S. 35), fungiert geradezu als Leitmotiv seiner Kritik: „Viele Menschen, ja die Menschen im allgemeinen, wissen nicht wirklich, wie sie leben, oder sie wissen es nur ungenügend“, schreibt er am Ende des Vorworts zur zweiten Auflage des ersten Teils der Critique von 1958 (1987, S. 105). Seine kritische Haltung zum Körper/Geist-Dualismus, den er für den Ausschluss des Alltäglichen
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen aus dem idealistischen Diskurs verantwortlich macht, ist also nicht zu verwechseln mit einer vollständigen Absage an den Rationalismus. Um das Unbewusste bewusst zu machen, in dieser Hinsicht geht Lefebvre mit den Surrealisten konform, gilt es, das Alltägliche zu verfremden: „Everyday life in modernity evidences an all-pervasive alienation: the alienation from the recognition of alienation. In other words, alienation is the condition of being alienated from our alienation. Here, in a dialectical twist, the route to dis-alienation must start out from more alienation: it is only by defamiliarizing the everyday that the everyday can be recognized as alienation. Lefebvre doesn’t supply any systematic methodology for such a form of attention but he does seem to offer a set of concerns.“ (Highmore 2002a, S. 143)
Von den zum Zwecke der Verfremdung von den Surrealisten entwickelten Techniken, die auf die Auffindung des Wunderbaren im Alltäglichen zielen, distanziert sich Lefebvre aber und beruft sich stattdessen auf das epische Theater Bertold Brechts, dessen „Verfremdungseffekt“ er für das geeignete Mittel der désaliénation, der „Ent-Entfremdung“, hält. Überhaupt sei es Lefebvres Ansicht nach der Kunst besser gelungen, das Alltagsleben zu begreifen, als den Wissenschaften oder der Politik – Lefebvres Vorwurf, der real existierende Sozialismus habe die Notwendigkeit einer Transformation des Alltagslebens nicht erkannt, war einer der Gründe dafür, dass er 1957 von der Parti Communiste Français suspendiert wurde, der er zu diesem Zeitpunkt fast 30 Jahre lang angehört hatte. 1958 zog er daraus die Konsequenz und trat aus der Partei aus. Als herausragende Beispiele für die künstlerische Repräsentation des Alltagslebens führt Lefebvre im Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Teils der Critique neben Brechts epischem Theater auch die Filme Charles Chaplins und vor allem James Joyce an: „His masterpiece Ulysses, Lefebvre notes, ‚demonstrates that a great novel can be boring. And ‚profoundly boring.‘ Joyce nevertheless understood one thing: that the report of a day in the life of an ordinary man had to be predominantly in the epic mode.‘ The bond between Leopold Bloom, one ordinary man during a single, ordinary day in Dublin, and the heroic epic journey of Odysseus is precisely the bond that exists between Lefebvre’s ordinary man and his ‚total man,‘ between the present and the possible. The former is pregnant with the latter, already exists in the former, in latent embryonic state, waiting for Immaculate Conception, for the great, epochal imaginative leap. Thus, while Lefebvre’s utopian vision of the total man seems way out, and grabs us an idealist mixture of hope and wishful thinking, his model is
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente really anybody anywhere, any old Leopold or Molly Bloom or Stephen Dedalus. What appears to be stunningly abstract is, in reality, mundanely concrete: the ordinary is epic just as the epic is ordinary.“ (Merrifield 2006, S. 7)
Auf den ersten Blick als Gegenentwurf zum entfremdeten Alltagsleben kommt la fête, dem (ruralen) Fest, im ersten Teil der Critique eine besondere Bedeutung zu. Highmore (2002a, S. 118) erkennt darin einen weiteren Einfluss des Surrealismus auf Lefebvres Denken, und tatsächlich sind die Parallelen zwischen der Argumentation Lefebvres und den Ideen, die vor allem Bataille und der dissidente Surrealist Roger Caillois im Rahmen des Collège de Sociologie formuliert haben, nicht zu übersehen. Merrifield hingegen erklärt Lefebvres Faszination für la fête auf Grundlage von dessen Biographie: „For Lefebvre, the contradictions of everyday life inevitably find their solutions in everyday life. How could they otherwise? Grappling for answers, he journeys a little closer to home, looks over his shoulder, and remembers his roots. Since childhood he’d known a tradition that is the veritable nemesis of insurgent forms of modern alienation: the rural festival. […] He saw in festivals paradigms of an authentic everyday life, a realm where the shackles of enslavement had been loosened.“ (Merrifield 2006, S. 13f.)
So sehr sich das Fest aber vom Alltagsleben unterscheidet, so sehr ist es auch ein Teil davon. Für Lefebvre stellt das Fest ein Moment dar, in dem die Energien zur Eruption gelangen, die sich langsam im und durch das Alltagsleben aufgestaut haben. In Form von unproduktiver Verausgabung, die aller utilitaristischen, ökonomischen Logik zuwiderläuft, gelangt das im Alltagsleben schlummernde revolutionäre Potential des Menschen im Rahmen des Festes zum Ausdruck – auch wenn Shields (1999, S. 25) darauf hinweist, dass der Kontakt Lefebvres zu Bataille nur indirekt gewesen ist, sind die Parallelen zur Sakralsoziologie des Collège hier doch überdeutlich. Für die Ausgrenzung des Festes aus dem Alltagsleben macht Lefebvre zunächst das Christentum verantwortlich. Durch die Identifikation von Ritualen und Festivitäten mit bestimmten kirchlichen Institutionen – „Sunday rather than every day“ (Sheringham 2006, S. 134) –, wird das Alltagsleben seines Reichtums entledigt. Die literarischen und philosophischen Traditionen Europas treiben diese Verarmung des Alltagslebens weiter voran, indem sie nicht nur dem Abstrakten und Rationalen den Vorzug vor der gelebten Erfahrung geben, sondern darüber hinaus die
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen außergewöhnliche Erfahrung gegenüber der gewöhnlichen privilegieren, wodurch sie aus dem Alltagsleben ausgegrenzt wird. Dieser Vorwurf ist auch das zentrale Argument in Lefebvres Kritik am Surrealismus. Dessen Fixierung auf das Wunderbare im Alltäglichen stellt eine ebensolche Privilegierung des Extraordinären auf Kosten des Gewöhnlichen dar und festigt damit eine bürgerliche Ideologie, die zu bekämpfen der Surrealismus eigentlich angetreten war. Auf diese Weise wird das Alltägliche zu einer residualen Kategorie, die sich durch das definiert, was übrig bleibt, wenn alle höheren Aktivitäten abgezogen sind. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass das Alltagsleben der Bereich ist, aus dem alle höheren Aktivitäten überhaupt erst hervorgehen – aus diesem Grund spricht Lefebvre vom Alltagsleben als „Nährboden“, der die revolutionären Keime enthält, aus denen seine eigene Transformation hervorgehen kann. In den efferveszenten Momenten, die sich im Rahmen von Festen einstellen, scheint dieses kritische Potential, dem dialektischen Entwurf Lefebvres zufolge, immer wieder auf. Eine Transformation des Alltagsleben ist dann erreicht, wenn diese wenigen schillernden Momente das gesamte Leben durchdringen (vgl. Highmore 2002a, S. 124). „Die menschliche Realität, unter diesem Gesichtspunkt studiert, präsentiert sich als Gegensatz von bestimmten Begriffen: Alltäglichkeit und Feste – Massen und außergewöhnliche Augenblicke – Banalität und Glanz – Ernst und Spiel – Realität und Träume, usw. … Die Kritik des Alltagslebens unternimmt die Suche nach exakten Beziehungen zwischen diesen Begriffen. Sie impliziert eine Kritik der Banalität durch das Außerordentliche – aber gleichzeitig eine Kritik am Außergewöhnlichen durch das Banale, an der ‚Elite‘ durch die Masse – am Fest, am Traum, an der Kunst, an der Dichtung durch die Wirklichkeit.“ (Lefebvre 1987, S. 252)
Den Begriff des Moments hatte Lefebvre schon in seiner Autobiographie La Somme et le reste eingeführt, die 1958 veröffentlicht wurde, im gleichen Jahr, in dem auch die um das umfangreiche Vorwort ergänzte zweite Auflage des ersten Teils der Critique erschien und Lefebvre die Konsequenz aus der Suspendierung aufgrund seiner Kritik am stalinistischen Dogma der PCF zog und nach dreißig Jahren Mitgliedschaft aus der Kommunistischen Partei austrat. 1960 rief Lefebvre seine Groupe d’études de la vie quotidienne8 am Centre National de la Recherche Scientifique 8
Im Gegensatz zu Sheringham 2006, S. 143, spricht Shields 1999, S. 92, von der Groupe de recherche sur la vie quotidienne.
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente (CNRS) ins Leben, wo er seit seiner Promotion 1954 tätig war.9 1961 nahm er dann den Ruf auf eine Professur für Soziologie an die Universität Strasbourg an. Die Hinweise in der Literatur lassen nicht eindeutig darauf schließen, wo und zu welchem Zeitpunkt Lefebvre mit der Situationistischen Internationale in Kontakt kam, einer Gruppe linker Künstler und Intellektueller um Guy Debord, die sich 1957 im nord-italienischen Cosio d’Arroscia formiert hatte. Während Shields an einer Stelle (1999, S. 92) darauf hinweist, Debord habe sich aufgrund seiner Teilnahme an Lefebvres Studiengruppe am CNRS dem Projekt einer Kritik an der Banalität des Alltagslebens verschrieben, schreibt er an anderer, Lefebvre sei den Situationisten in seiner Zeit als Professor in Strasbourg begegnet, wo die Gruppe erfolgreich Studentenstreiks organisierte und politische Pamphlete veröffentlichte, in denen sie zum Massenaufstand aufrief. Ob sich dieser Widerspruch dadurch erklären lässt, dass Lefebvres Studiengruppe am CNRS ihre Arbeit auch während seiner Zeit in Strasbourg fortführte, lässt sich auf Grundlage der Angaben in der Sekundärliteratur leider nicht beantworten. Mit Sicherheit kann aber davon ausgegangen werden, dass sich die Ideen Lefebvres und die der Situationisten in starkem Maße wechselseitig beeinflussten, auch wenn der genaue Verlauf dieser Beeinflussung nicht immer eindeutig nachvollziehbar ist. So zitiert Merrifield aus einem Brief Debords an den belgischen Situationisten André Frankin, in dem er diesem von seiner Lektüre von Lefebvres Autobiographie berichtet und auf die Nähe von dessen Begriff des Moments zu den Vorstellungen der Situationisten hinweist: „Debord meticulously studied Lefebvre’s theory of moments. ‚At present,‘ he told his friend André Frankin, in a letter dated February 14, 1960, ‚I am reading La Somme et le Reste. It is very interesting, and close to us – here I mean: the theory of moments‘.“ (Merrifield 2006, S. 34; Merrifield zitiert aus Debord 1999, S. 313)
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Lefebvre hatte zwar schon vor 1954 als Leiter der soziologischen Abteilung am CNRS gearbeitet. 1953 hatte man ihm – vordergründig aufgrund seiner fehlenden Dissertation, tatsächlich wohl aber aufgrund seines politischen Engagements in der Kommunistischen Partei – gekündigt. Nachdem er 1954 seine Dissertation eingereicht hatte, war der formelle Grund für die Kündigung nicht mehr gegeben und Lefebvre wurde wieder eingestellt.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Sheringham meint in dem in La Somme et le reste erstmals eingeführte Begriff des Moments sogar einen Einfluss von Debords Idee der situation auf Lefebvres Denken zu erkennen. „Lefebvre’s expulsion from the Parti communiste in 1958 gave him a new freedom, and the first formulation of his ‚théorie des moments‘, in a lengthy and unconventional intellectual autobiography, La Somme et le reste, published that year, may have owed something to the notion of the ‚situation‘ which had come to the fore in the creation of the Internationale Situationiste group in 1957.“ (Sheringham 2006, S. 159)
Lefebvre selbst hingegen besteht darauf, dass der Begriff der situation keine genuine Erfindung der Situationisten, sondern letzten Endes auf ihn selbst zurückzuführen sei: „Lefebvre was also happy to insinuate that the key idea of the ‚situation‘ derived from Constant, and thus from COBRA (and so, circuitously, from Lefebvre himself) rather than from the ‚Situs‘.“ (ebd., S. 161)
Wie dem auch sei, die nicht mehr vorhandene Notwendigkeit, sich im Sinne der Parteidisziplin dem stalinistischen Dogma der PCF zu unterwerfen, die Arbeit in der Groupe d’études de la vie quotidienne am CNRS und der intellektuelle Austausch mit den Situs, den Mitgliedern der Situationistischen Internationale, allen voran mit Guy Debord, stellen mit Sicherheit maßgebliche Gründe für die Neubewertung des Alltagslebens dar, die Lefebvre im 1961 erschienenen zweiten Teil der Critique de la vie quotidienne vornahm, den er mit einer Ausarbeitung seiner „Theorie der Momente“ beschließt (s. Lefebvre 1987, S. 596-613). Darin definiert er als ein Moment „jeden Versuch der totalen Verwirklichung einer Möglichkeit“. Der Begriff des Moments (franz. le moment) ist ebenso bewusst gewählt, wie der neutrale Artikel in der deutschen Übersetzung, weist er doch darauf hin, das mehr gemeint ist als bloß ein zeitlicher Abschnitt: „In der Umgangssprache unterscheidet sich das Wort ‚Moment‘ nur wenig von ‚Augenblick‘ [franz. l’instant]. Gleichwohl gibt es Unterschiede. Wenn man (im Französischen) sagt: ‚Das war ein guter Moment‘, so meint man damit implizit eine gewisse Dauer, einen Wert, ein Bedauern und zugleich die Hoffnung, diesen Moment noch einmal zu erleben oder ihn als besonderes Stück Zeit gleichsam einbalsamiert in der Erinnerung aufzubewahren. Es ist kein irgendwie beliebiger, ephemerer und rasch vergessener Augenblick.“ (Lefebvre 1987, S. 599)
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente Lefebvres Momente – als Beispiel nennt er vor allem das Moment der Liebe – sind Augenblicke intensiver, authentischer Erfahrungen, die aus der Monotonie des Selbstverständlichen herausragen, wobei die Kriterien, nach denen eine Erfahrung als authentisch beurteilt wird, nicht objektiv gegeben sind, sondern durchaus persönlicher Natur sein können. Obwohl die Zahl möglicher Momente prinzipiell begrenzt ist, weil sonst jede bestimmbare Zeitspanne potentiell ein Moment sein könnte und der Begriff alles Spezifische verlöre, ist es gleichwohl nicht möglich, eine abschließende Liste aller Momente zu erstellen, da es potentiell immer möglich ist, individuell ein Moment zu konstituieren (vgl. Shields 1999, S. 58, und Elden 2004, S. 172). Merrifield zufolge richtet sich Lefebvre mit seiner „Theorie der Momente“ gegen die Zeitkonzeption, die der Lebensphilosoph und spätere Literaturnobelpreisträger Henri Bergson 1907 in L’Évolution creatrice (dt. 1921) entwickelt hatte und in der Zeit als lineare Dauer (durée), als ununterbrochene, unumkehrbare und unwiederholbare Abfolge von Augenblicken gedacht wird, kontinuierlich fortschreitend wie die Flugbahn eines Pfeils und unabhängig von demjenigen, der sie „intuitiv“ erlebt. „Life itself, Bergson insisted, unfolds with similar temporality, and we comprehend ourselves in [t]his unbroken, absolute time, not in space: ‚we perceive existence when we place ourselves in duration in order to go from that duration to moments, instead of starting from moments in order to bind them again and to construct duration.‘ Lefebvre goes against the grain of time’s arrow of progress, building a framework of historical duration from the standpoint of the moment – from, in other words, the exact opposite pole to Bergson’s.“ (Merrifield 2004, S. 27; Merrifield zitiert aus Bergson 1944, S. 393)
Lefebvre setzt Bergsons Vorstellung von der linearen Zeit die der gelebten Zeit entgegen, der zufolge die Erfahrung von Zeit variabel und beobachterabhängig ist; während der Dauer eines Moments ist diese sogar durch eine gewisse Zeitlosigkeit geprägt: „One does not feel that time has ‚stopped‘ or that one is outside of time. In the moment, one does not feel the passage of time – it is, in a sense ‚timeless‘. Instead of time travelling in an arrow-straight line (conceptual time), we need to think of lived time qualitatively. It is involuted (Lefebvre 1989a: 234). One possible metaphor is a river current, full of swirls and eddies; at one level it goes faster here and slower there.“ (Shields 1999, S. 59)
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Dass ein Moment, auch wenn es sich nicht in seiner Zeitlichkeit erschöpft, eine gewisse Dauer hat, ist das zweite von sieben Kriterien, die Lefebvre zu seiner Bestimmung anführt. Das erste Kriterium lautet „Das Moment klärt sich oder hebt sich ab aus einer Mischung oder Konfusion – mithin aus einer anfänglichen Zweideutigkeit – durch eine Wahl, die es zum Moment konstituiert“ (Lefebvre 1987, S. 600) und verweist auf die generelle Kontingenz des Moments. Das „Liebesspiel“ geht als zweideutiger Vorgang dem Moment der Liebe voraus – „die Tändelei, der Flirt, das angeregte Gespräch, die Herausforderung“ (ebd., S. 601) können in das Moment der Liebe münden, in dem sie ihren spielerischen Charakter abstreifen, ebenso gut kann dieses Moment aber auch ausbleiben. Damit es eintritt, muss eine konstituierende Entscheidung getroffen werden, die das Moment aus „jene[r] unförmige[n] Mischung“ der „banalen Alltäglichkeit“ heraus hebt. „Das Moment hat eine gewisse Dauer, seine eigene Dauer“, lautet, wie gesagt, das zweite Kriterium (ebd.). So sehr es auch nach Dauerhaftigkeit streben mag („Es will dauern“), das Moment „kann nicht dauern (nicht lange)“. Für Lefebvre ist das Moment weder ein kontinuierliches Werden in der linearen Zeit, noch diskontinuierlich und partikulär. Es ist mehr als ein einzelner Augenblick, der noch nie da gewesen ist und sich nicht wiederholen wird. Aber es hat „einen Anfang, eine Erfüllung und ein Ende, ein Vorher und ein Nachher, die alle relativ genau definiert sind. Es hat eine Geschichte: seine eigene...“, und deshalb muss es notwendigerweise vergehen. „So ist ‚Liebe‘ stets eine bestimmte Liebe (die Liebe eines bestimmten Menschen zu einem bestimmten anderen). Zugleich ist sie auch die Abfolge der Liebschaften eines bestimmten Menschen und die Reihe der Liebesleidenschaften in einer breiteren Geschichte, in einer Familie, einer Gruppe, einer Gesellschaft (und letztlich in der menschlichen Gattung). Ähnlichkeiten und Unterschiede verdichten sich zu dem, was wir hier das ‚Moment‘ nennen.“ (ebd.)
Sheringham (2006, S. 157) sieht gerade in der Spannung, die zwischen dem Wunsch nach Dauerhaftigkeit und der Unausweichlichkeit des Vergehens besteht, den Grund für die Intensität, mit der ein Moment erlebt wird: „The moment is not a rupture in the flow of the everyday – a tear in its fabric, as Lefebvre puts it […]. It represents a point when the transitory and contingent take on a certain density and when an impression – like a pattern on cloth – is left.“ (ebd., S. 158)
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente Das dritte Kriterium lautet: „Das Moment hat seine eigene Erinnerung“ (Lefebvre 1987, S. 601). Konstituierend für das Moment ist, dass sich in ihm ein Wiedererkennen ereignet; es impliziert eine spezifische Art von Wiederholung, indem es die „(konfuse oder klare) Wahrnehmung einer Analogie und einer Verschiedenheit in der erlebten Zeit“ beinhaltet (ebd., S. 598). Die Liebe ist deshalb ein Moment, weil man in dem Augenblick, in dem man liebt, etwas – hier: einen Gefühlszustand – wiedererkennt, in dem man sich schon einmal befunden hat oder den man schon einmal – lesend vielleicht oder dem Gefühlsäußerungen eines anderen lauschend – nachempfunden hat, auch wenn der Mensch, auf den dieses Gefühl gerichtet ist, ein anderer ist und sich die Situation, in der sich das Gefühl einstellt, ihrem Inhalt nach von der unterscheidet, in der man es zuvor empfunden hat. Als Moment und damit als gelebte Zeit transzendiert die Liebe den Augenblick in beide Richtungen: in die Vergangenheit, denn man hat sich schon einmal in diesem Gefühlszustand befunden, den man in diesem Augenblick erlebt, wie in die Zukunft, denn er wird potentiell auch wieder erlebt werden. „[…] lived time can be broad (collective) or narrow (individual); above all, this sort of temporality is repetitive and reversible. It is full of anticipations, insights into the future and of déjà vu, the sensation that one has already been through the moment one is now living.“ (Shield 1999, S. 59)
Hier zeigt sich deutlich der Einfluss von Nietzsches Konzept der „Ewigen Wiederkunft“ auf Lefebvres Idee des Moments. Zarathustras im Epigraph zu diesem Kapitel zitierte Frage, ob die Wege, die vom Torbogen mit der Aufschrift „Augenblick“ aus in entgegengesetzte Richtungen führen, sich auf ewig widersprechen werden, beantwortet der Zwerg verächtlich: „Alles Gerade lügt [...]. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.“ (Nietzsche 1999, S. 652). Lefebvre zufolge wurde die zyklische Zeit in der modernen Industriegesellschaft durch die lineare Zeit verdrängt, die der kapitalistischen Produktionslogik eher entspricht und die Grundlage bildet für die Kontrolle und Disziplinierung der Bevölkerung (vgl. Shields 1999, S. 95f., und Sheringham 2006, S. 148). Im Alltagsleben, vor allem in der Sphäre des Privatlebens, haben aber Rückstände der zyklischen Zeit überlebt und sind verantwortlich für dessen prinzipiell repetitive Natur, die als Konnotation im französischen Begriff quotidien mitschwingt. Diese äußert sich im Kreislauf von Leben und Tod, den natürlichen Rhythmen der Reproduktion, den im Jahreszyklus stattfindenden Festen,
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen vor allem aber in dem aus dem Alltagsleben herausgehobenen Moment, das „ein individuelles Fest [ist], in Freiheit gefeiert, ein tragisches, mithin wahrhaftiges Fest“ (Lefebvre 1987, S. 604). In ihm liegt das kritische Potential, das zur Transformation des Alltagslebens führen kann. „Die Kritik des Alltagslebens untersucht das Fortbestehen der rhythmischen Zeiten in den linearen Zeitabläufen der modernen Industriegesellschaft. Sie erforscht die Interferenzen zwischen der zyklischen Zeit (der natürlichen, in gewissem Sinne irrationalen, noch konkreten Zeit) und der linearen Zeit (die erworben, rational, gewissermaßen abstrakt und widernatürlich ist). Sie prüft die Mängel und unbewältigten Schwierigkeiten, die sich aus dieser noch kaum bekannten Interaktion ergeben. Schließlich faßt sie ins Auge, welche Umwandlungen in der Alltäglichkeit durch diese Interaktion möglich werden.“ (ebd., S. 303; Hervorhebungen im Original)
Mit dem vierten Kriterium, das Lefebvre zur Bestimmung des Moments anführt – „Das Moment hat seinen eigenen Inhalt“ (ebd., S. 602) –, verdeutlicht er, wie sich das Moment zum Alltagsleben verhält: „Jeder Inhalt der Momente kommt aus dem Alltagsleben, und doch erhebt sich jedes Moment über das Alltagsleben, aus dem es sich die nötigen Materialien nimmt“ (ebd.). Der Inhalt des Moments, die Person, die Auslöser des Gefühls ist, das wiedererkannt wird, wenn von Liebe die Rede ist, der Ort und die Umstände, unter denen sich dieses Wiedererkennen ereignet, entstammen gänzlich dem Alltagsleben und sind nur diesem einen Augenblick eigen. Erst dadurch, dass sich an ihnen ein Wiedererkennen vollzieht, das über den Augenblick hinausweist, wird das Moment der Alltäglichkeit enthoben und prägt „seine eigene Form“ aus, die das fünfte Kriterium für ein Moment darstellt: „[...] die Spielregel, die Zeremoniale der Liebe mit ihren Figuren, Riten und Symbolen [...]. Diese Form zwingt sich der Zeit und dem Raum auf. Sie schafft eine zugleich objektive (gesellschaftlich geregelte) und subjektive (individuelle und interindividuelle) Zeit- und Raumordnung. In diesem Sinne ‚hat‘ das Moment nicht nur eine Form: Es ‚ist‘ diese Form, diese dem ‚Inhalt‘ aufgezwungene Ordnung.“ (ebd.)
In dieser Form setzt sich das Moment, Lefebvres sechstem Kriterium zufolge, absolut: „Welche Liebe, die diesen Namen verdient, wollte nicht die einzige und totale, die unmögliche Liebe sein? Hat der Liebende nicht diese Liebe gewollt, hat er von Anfang an den Kompromiß akzeptiert, hatte er nie den Traum
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Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente vom Absoluten und den Vorsatz, es für sich – er, als der erste – zu vollenden, so verdient er nicht seinen Namen.“ (Ebd.)
Hier erhellt sich auch Lefebvres Definition des Moments als Versuch der totalen Verwirklichung einer Möglichkeit: Das Moment der Liebe z.B. besteht in dem von vorneherein zum Scheitern verurteilten Versuch, die Einlösung des Versprechens auf ewige Dauer, das dieser Gefühlszustand macht, einzufordern. Was eigentlich unmöglich ist, erscheint zu dem Zeitpunkt, an dem man sich dafür entscheidet, noch als eine Möglichkeit am Horizont, sonst würde die Wahl, die dem ersten Kriterium gemäß das Moment konstituiert, nicht getroffen werden. „Das Moment ist die Leidenschaft und zugleich die unvermeidliche Zerstörung und Selbstzerstörung dieses leidenschaftlichen Zustands. Das Moment ist das Möglich-Unmögliche, das als solches angestrebt, gewollt und gewählt wird. Hier wird das im Alltag Unmögliche möglich, ja die Regel der Möglichkeit. Hier beginnt die dialektische Bewegung zwischen Möglichem und Unmöglichem mit ihren Konsequenzen.“ (Ebd., S. 603)
Eine dieser Konsequenzen besteht darin, dass das Moment, durch die Wahl des Möglich-Unmöglichen, also durch die Entscheidung, das Unmögliche für möglich zu halten und seine Verwirklichung zu versuchen, dem entfremdeten Alltagsleben enthoben, selbst wieder Entfremdung bewirkt. So lautet das siebte Kriterium, das Lefebvre zur Bestimmung des Moments anführt: „[...] Befreiend aus der Entfremdung durch die Trivialität des Alltagslebens – in der es sich bildet und aus der es sich erhebt – und befreiend aus der Entfremdung durch die parzellierten Tätigkeiten, die es überwindet, wird das Moment gleichwohl selbst zur Entfremdung. Gerade weil es sich absolut setzt, provoziert und umgrenzt es eine bestimmte Entfremdung: die (nicht pathologische, aber zuweilen fast wahnhafte) Besessenheit des Liebenden [...] Derart entfremdend und entfremdet, hat das Moment seine spezifische Negativität. Es läuft seinem Scheitern entgegen, es stürzt sich hinein.“ (Ebd.)
Durch diese sieben Kriterien näher bestimmt, lässt sich das Moment als ein Augenblick begreifen, in dem es zu einem Einbruch der zyklischen Zeit in die lineare kommt und dadurch zu einer Dysfunktion, die, einmal erkannt, zur Transformation des Alltäglichen führen kann (vgl. Sheringham 2006, S. 148). Wie ein Sonnenstrahl, der die Wolkendecke durchbricht, schreibt Shields (1999, S. 60f.), punktieren die Momente das Alltägliche. Bei allem Pessimismus, der aus den beiden letztgenannten Kriterien spricht
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen und der in der Unausweichlichkeit seines Vergehens begründet liegt, stellt das Moment doch das entscheidende utopische Motiv in Lefebvres Kritik des Alltagslebens dar, scheint in ihm doch immer wieder die Möglichkeit auf, dass die Dinge nicht zwangsläufig so sein müssen, wie sie sind. Da sich in ihm immer wieder der Glaube an die Möglichkeit der Verwirklichung des Unmöglichen Bahn bricht, stellt das Moment den revolutionären Keim im Nährboden des Alltäglichen dar, der eine reelle Möglichkeit seiner Transformation in sich birgt. Lefebvres Theorie des Moments ist von verschiedenen Seiten wiederholt kritisiert worden, nicht zuletzt von den Situationisten, denen sie, wie der oben zitierte Brief Debords belegt, gleichzeitig aber ebenso als Quelle der Inspiration bei der Ausformulierung ihrer eigenen Idee der situation diente, wie sie von dieser beeinflusst war. Kritisiert wurde an Lefebvres Konzeption des Moments vor allem der Aspekt der Transzendierung von Raum und Zeit, der einem in gewisser Weise essentialistischen Glauben an das Primat der „authentischen Erfahrung“ geschuldet ist (vgl. Shields 1999, S. 63): Während sich das Moment gerade dadurch definiert, dass sich in ihm das über den Augenblick hinausweisende Erkennen einer Wiederholung und potentiellen Wiederholbarkeit vollzieht, was die Idee des Moments kompatibel sein lässt mit der Idee eines Zustandes, dem der Liebe z.B., ist die situation nicht wiederholbar, sondern wesentlich partikulär. Sie erschöpft sich vollständig in der Praxis und weist in keiner Weise über das Hier und Jetzt hinaus. „For the Situs, Lefebvre’s theory of moments was too abstract. It mixed existential experience with essentialist concepts of, for example, ‚love‘. Moments were in danger of being an abstraction, a muddled mixture of desires, perceptions and emotional reactions. The Situs stressed the conjunctural and existential quality of love as a lived experience that was different in different situations (going one better than Lefebvre in his arguments for the importance of lived, everyday experience).“ (Shields 1999, S. 104)
Darüber hinaus kritisierten die Situationisten, dass die Dimension des Zeitlichen Lefebvres Idee auf Kosten der Dimension des sozialen Raumes dominiere. Im Gegensatz zum Moment ist die situation wesentlich spatio-temporal, in ihr konkretisiert sich der bei Lefebvre abstrakte Affekt innerhalb eines sozialen, räumlich und zeitlich gebundenen Kontextes (vgl. Sheringham 2006, S. 168, und Shields 1999, S. 103). Merrifield spekuliert sogar, dass dieser Aspekt der situationistischen Kritik eine Ursache dafür 130
Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente gewesen sein mag, dass sich Lefebvre später der Soziologie des Raumes zuwenden sollte; sein 1974 veröffentlichtes Buch La Production de l’espace, dessen englische Übersetzung 1991 unter dem Titel The Production of Space erschien, hat von allen Werken Lefebvres international wohl den größten Einfluss ausgeübt: „The chief fault of Lefebvre, according to Debord, a fault that perhaps anticipates – or provokes – Lefebvre’s ‚spatial turn‘ to come, is that his moment is ‚first of all temporal, a zone of temporalization. The situation (closely articulated to place) … is completely spatiotemporal.‘ Situations are much more spatial, Debord thinks, and much more urban in orientation than the Lefebvrian moment.“ (Merrifield 2004, S. 35; Merrifield zitiert aus Debord 1999, S. 318)
Nicht die Kritik an der Idee des Moments, sondern die Tatsache, dass Lefebvre die Ergebnisse gemeinsamer Diskussionen über die Pariser Kommune von 1871 als eines Beispiels für eine im Fest begründete Revolution 1965 in Buchform unter dem Titel La Proclamation de la Commune und nur unter seinem Namen veröffentlichte, führte zum Bruch mit den Situationisten. Die Idee, dass eine kommende Revolution aus dem Moment des Festes heraus zu entstehen habe, wurde von Lefebvre und den Situationisten geteilt – in den Mai-Unruhen von 1968, die von der Universität Nanterre ausgehend, wo Lefebvre seit 1965 einen Lehrstuhl für Soziologie inne hatte, bald auf ganz Paris übergriffen, meinte er später eine solche aus der Idee des Festes heraus entstandene Revolution zu erkennen. Noch bevor es dazu kam, warfen ihm die Mitglieder der Situationistischen Internationale Diebstahl geistigen Eigentums vor, obwohl es zu ihren erklärten Grundsätzen gehörte, keine Urheberansprüche auf ihre Texte zu erheben, sondern jedem zu gestatten, diese ohne Angabe des Autorennamens weiterzuverbreiten, und beendeten die Zusammenarbeit mit Lefebvre. Mit seiner Theorie des Moments begab sich Lefebvre vor allem angesichts seiner Kritik an den Surrealisten, denen er vorgeworfen hatte, durch ihre Suche nach dem Wunderbaren im Alltäglichen und durch ihr Streben nach individuellen transzendentalen Erfahrungen der Transformation des Alltagslebens im Wege zu stehen, selbst auf dünnes Eis. Debords Idee der Situation, die jede Transzendierung des Hier und Jetzt kategorisch ausschließt, stand, wie Sheringham (2006, S. 168) feststellt, in dieser Hinsicht den Vorstellungen der Surrealisten und auch denen Michel de Certeaus, um dessen „Erfindung des Alltäglichen“ es im übernächsten Kapitel gehen wird, wesentlich näher. 131
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Shields, Rob (1998): Lefebvre, Love and Struggle: Spatial Dialectics, London und New York: Routledge.
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„War es doch sinnvoller, mein Beharren auf der Einzigartigkeit ein für alle mal ins Vernünftige zu wenden und den Versuch zu wagen, aus dem ‚IchBegriff, unserem ältesten Glaubensartikel‘ (Nietzsche) ein heuristisches Prinzip zu gewinnen. Ich beschloß also, bei meiner Untersuchung von einigen ganz wenigen Photographien auszugehen, jenen, von denen ich sicher war, daß sie für mich existierten.“ Roland Barthes, Die helle Kammer (1989, S. 16; Abb. auf S. 48)
Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen 1957 erschien in den Pariser Editions du Seuil nach den beiden literaturkritischen Veröffentlichungen Le Degré zéro de l’écriture von 1953 und Michelet par lui-même von 1954 die dritte Buchpublikation von Roland Barthes, deren 1964 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt veröffentlichte deutsche Übersetzung den Titel Mythen
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen des Alltags trägt. So explizit auf das Alltägliche bezogen ist der Titel des französischen Originals nicht; er lautet schlicht Mythologies. Zwischen 1954 und 1956 hatte Barthes jeden Monat einen kurzen Text verfasst und in unterschiedlichen französischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, in dem er sich jeweils einem für ihn aktuellen Mythos widmete (vgl. Barthes 1964, S. 7). Was er in diesem Zusammenhang mit dem Begriff „Mythos“ meint, darauf wird gleich noch ausführlicher einzugehen sein. Welchem Bereich Barthes diese Mythen zuordnete, daran lässt er aber auch in der französischen Ausgabe von Anfang an keinen Zweifel, denn schon der zweite Satz der Vorbemerkung lautet: „J’essayais alors de réfléchir régulièrement sur quelques mythes de la vie quotidienne française.“10 Die deutsche Ausgabe der Mythologies enthält leider nur eine Auswahl der in der französischen Ausgabe vollständig versammelten Texte, die sich so unterschiedlichen Themen widmen wie der Evangelisationskampagne des US-amerikanischen Pastors Dr. Billy Graham im Velodrome d’Hiver in Paris, einer Photoausstellung mit dem Titel La grande Famille des Hommes, „Beefsteak und Pommes frites“ als einer kulinarischen Institution innerhalb der französischen Küche, dem literarischen Werk Jules Vernes oder der Haartracht auf den „Yankeeschädeln der Statisten von Hollywood“, die in Joseph L. Mankiewicz’ Filmadaptation von William Shakespeares Julius Caesar (USA 1953) Römer darstellen. In beiden Ausgaben aber folgt auf diese vorab bereits anderswo veröffentlichten Texte ein längerer, zuvor unveröffentlichter Essay mit dem Titel „Der Mythos heute“, in dem Barthes den von ihm bis dahin scheinbar unspezifisch gebrauchten Begriff des „Mythos“ semiologisch definiert: „Was ist der Mythos heute? Ich gebe unverzüglich eine erste, sehr einfache Antwort, die in voller Übereinstimmung mit der Etymologie steht: der Mythos ist eine Aussage. […] Natürlich ist er nicht irgendeine beliebige Aussage: die Sprache braucht besondere Bedingungen, um Mythos zu werden. Man wird sie alsbald erkennen. Zu Beginn muß jedoch deutlich festgestellt werden, daß der Mythos ein Mitteilungssystem, eine Botschaft ist. Man ersieht daraus, daß der Mythos kein Objekt, kein Begriff oder eine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form.“ (Barthes 1964, S. 85)
Im Anschluss an Ferdinand de Saussures Modell des sprachlichen Zeichens (vgl. de Saussure 2001) – und ganz im Sinne Saus10 „Ich versuchte damals regelmäßig über einige Mythen des französischen Alltagslebens nachzudenken.“
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen sures, der die Semiologie als eine Wissenschaft konzipiert hatte, die über die sprachlichen hinaus auch alle anderen Arten von Zeichen zum Gegenstand hat – definiert Barthes den Mythos als eine Metasprache, die er am Beispiel der Photographie eines salutierenden jungen Afrikaners in französischer Uniform auf dem Titelblatt der Zeitschrift Paris Match erläutert, die ihm gereicht wird, als er eines Tages in einem Friseursalon sitzt.
Abb. 10: Titelbild der Zeitschrift Paris Match vom 25. Juni 1955, anhand dessen Roland Barthes in Mythen des Alltags sein semiologisches Modell vom Mythos als einer Metasprache erklärt.
Auf einer ersten Ebene, die Barthes als die der (Objekt-) Sprache bezeichnet, sind die auf dem Titelblatt der Zeitschrift abgedruckten Formen und Farben Signifikant für das Signifikat „junger Neger in französischer Uniform [erweist] den militärischen Gruß, den Blick erhoben und auf eine Falte der Trikolore gerichtet“ (ebd., S. 95). Aber in dem „sekundären semiologischen System“ (ebd., S. 92), das Barthes als Metasprache bezeichnet (ebd., S. 93), steht das Bild, „das im Augenblick, da es bedeutungsvoll
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen wird, zu einer Schrift“ wird (ebd., S. 87), zum Zeichen und damit zum Gegenstand der Semiologie, noch für viel mehr: „Aber ob naiv oder nicht, ich erkenne sehr wohl, was es mir bedeuten soll: daß Frankreich ein großes Imperium ist, daß alle seine Söhne, ohne Unterschied der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und daß es kein besseres Argument gegen die Widersacher eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer dieses jungen Negers, seinen angeblichen Unterdrückern zu dienen.“ (ebd., S. 95)
Die Tatsache, dass es sich um eben diesen jungen Afrikaner handelt, wird in dem Moment, in dem die Objektsprache in die Metasprache übergeht, irrelevant. Es könnte jeder beliebige junge Afrikaner sein. Die Individualität des Dargestellten, die den Sinn des Zeichens auf der (objekt-) sprachlichen Ebene ausmacht, entleert sich in die Form: dieser bestimmte salutierende junge Afrikaner in französischer Uniform wird zu einem salutierenden jungen Afrikaner in französischer Uniform. Die Darstellung als bildsprachliches Zeichen wird so ihrerseits zum Signifikanten, dem auf der metasprachlichen Ebene des Mythos ein weiteres Signifikat, das Barthes den Begriff nennt, zugewiesen wird. Und so kommt der Abbildung des jungen, salutierenden Afrikaners auf dem Titelblatt der Paris Match-Ausgabe innerhalb des sekundären semiologischen Systems die mythologische Bedeutung zu: „Frankreich ist eine große Nation, zu der selbst ihre angeblich unterdrückten Untertanen in den Kolonien in Treue stehen.“
1. Bedeutendes
2. Bedeutetes
Sprache 3. Zeichen
[Sinn]
I. BEDEUTENDES
↓ [FORM]
II. BEDEUTETES [BEGRIFF]
MYTHOS III. ZEICHEN [BEDEUTUNG]
Abb. 11: Barthes’ semiologisches Modell des Mythos (vgl. ebd., S. 93) Dass die Falte der Trikolore, die Barthes in seiner Beschreibung der objektsprachlichen Ebene der Darstellung erwähnt, auf der Abbildung gar nicht zu sehen ist, tut seiner Argumentation keinen Abbruch; die Assoziation zeugt vielmehr von der Existenz und der Macht des Mythos. Ein weiteres Indiz für die Relevanz
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen von Barthes’ Unterscheidung ist die Allgegenwärtigkeit jener von ihm in den Mythen des Alltags verteidigten Neologismen im kulturwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte, die im Französischen gewöhnlich auf die Silbe -ité, im Englischen auf ness und im Deutschen auf -ität enden. Ihre berechtigte Existenz begründet er am Beispiel Chinas mit der Differenz zwischen „China als Sache“ und der „Vorstellung, die […] ein französischer Kleinbürger sich davon mach[t]“, dieser „spezifischen Mischung aus Rikschas, Glöckchengeklingel und Opiumrauchen“, der „Sinität“, die der Mythos ist (vgl. ebd., S. 101). Im weiteren Verlauf des Essays unterscheidet Barthes drei Arten, den Mythos zu „lesen“: Da wäre zunächst die zynische Lesart des Erzeugers von Mythen, „des Zeitungsredakteurs etwa, der von einem Begriff ausgeht und dafür eine Form sucht“ (ebd., S. 111). Um die französische Imperialität zu bedeuten, bedient sich der verantwortliche Redakteur von Paris Match der Photographie eines jungen salutierenden Afrikaners. Es muss gar nicht dieser bestimmte sein, ein anderer Afrikaner in französischer Uniform hätte es ebenso getan, denn Voraussetzung dafür, dass seine Abbildung als Form und damit als Signifikant des Mythos herhalten kann, ist, dass er seiner Individualität entledigt wird. Dabei geht es keineswegs darum, diesen spezifischen jungen Afrikaner verschwinden zu lassen, ihn zu vernichten. Der Mythos bedarf seiner, weil die metasprachliche Bedeutung eines objektsprachlichen Sinns bedarf. Gerade weil dort ein ganz bestimmter, real existierender Afrikaner zu sehen ist, ist der Mythos so überzeugend. Die Abstraktion eines jungen Afrikaners, etwa in Form einer Zeichnung, hätte diesen Effekt nicht gehabt. Dabei ist es aber völlig egal, dass es gerade dieser reale Afrikaner ist. Er wird seiner „Geschichte“, seines „Gedächtnisses“ beraubt, und in eine „Geste“ verwandelt. Er ist da, „zugleich beharrlich, stumm verwurzelt und geschwätzig, ganz und gar verfügbare Aussage im Dienste des Begriffs. Der Begriff deformiert, aber er zerstört nicht den Sinn. Ein Wort trägt diesem Problem Rechnung: er entfremdet ihn. […] Die Gegenwart des Bedeutenden auf der Ebene der Objektsprache verhilft dem Mythos zu einem Alibi“ (ebd., S. 103f.). Eine zweite Lesart ist die des Mythologen, der das Alibi zerstört, das die Deformation des Sinns durch die Form dem Mythos verschafft, indem er bewusst zwischen Sinn und Form unterscheidet und so den Mythos als Betrug entlarvt. Im weiteren Verlauf des Essays definiert Barthes den Mythos als eine „entpolitisierte Aussage“ (ebd., S. 130). Damit ist freilich nicht gemeint, dass der Mythos als Aussage keine politische Funktion hätte:
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen „Man muß das Wort politisch natürlich dabei als Gesamtheit der menschlichen Beziehungen in ihrer wirklichen, sozialen Struktur, in ihrer Macht der Herstellung der Welt verstehen. Insbesondere muß man der Vorsilbe enteinen aktiven Wert geben. Sie stellt eine operative Bewegung dar, sie aktualisiert unaufhörlich einen Verlust. Im Falle des Negersoldaten zum Beispiel wird gewiß nicht die französische Imperialität entfernt (ganz im Gegenteil, gerade sie soll ja gegenwärtig gemacht werden), entfernt wird die geschichtliche, bedingte, kurz die hergestellte Eigenschaft des Kolonialismus. Der Mythos leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung.“ (Ebd., S. 131)
Um es in der Terminologie der Sprechakttheorie auszudrücken: Die entpolitisierte Aussage, die der Mythos ist, ist eine performative Aussage, die vorgibt, bloß eine konstative zu sein. Er ist eine Aussage, die etwas in der Welt tut, aber gerade das verschleiert und vorgibt, sie würde lediglich etwas über sie aussagen. Es ist eben diese Unterscheidung, die auf dem „Niveau der dritten Einstellung“, wie Barthes die dritte Lesart nennt, nicht getroffen wird. Es ist die Lesart des Lesers, für den das Bedeutende des Mythos ein unentwirrbares Ganzes von Sinn und Form darstellt. Für ihn ist „der grüßende Neger […] weder Beispiel noch Symbol und noch weniger Alibi, er ist die Präsenz der französischen Imperialität“ (ebd., S. 111). Der Leser als Konsument des Mythos nimmt die Photographie nicht als Teil eines semiologischen Systems wahr, das, wie alle semiologischen Systeme, ein System von arbiträren Werten ist, sondern als Faktensystem. „Dort, wo nur eine Äquivalenz besteht, sieht er einen kausalen Vorgang. Das Bedeutende und das Bedeutete haben in seinen Augen Naturbeziehungen“ (ebd., S. 115). Ist die Photographie eines jungen Afrikaners in französischer Uniform nicht Beweis für die Größe der französischen Nation und die treue Ergebenheit ihrer Untertanen? „Wir sind hier beim eigentlichen Prinzip des Mythos: er verwandelt Geschichte in Natur.“ (Ebd., S. 112f.) Während nach Barthes der Erzeuger bewusst nach Symbolen sucht, die der bürgerlichen Ideologie, in deren Dienst der Mythos steht, den Anschein der Naturgegebenheit verleihen, ist es Aufgabe des Mythologen, diese Naturalisierung als ideologisch zu entlarven, indem er nicht minder bewusst auf metasprachlicher Ebene Sinn und Form des Signifikanten unterscheidet. Der Konsum des Mythos durch den Leser hingegen vollzieht sich weitgehend unbewusst, wobei es nicht die Bedeutung des Mythos ist,
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen die dem Leser unbewusst bleibt; dass der junge Afrikaner ihm die Imperialität Frankreichs bedeutet, darüber ist er sich sehr wohl bewusst. Sie ihm bewusst zu machen, ist überhaupt die Aufgabe des Mythos. Was ihm unbewusst bleibt, ist seine Funktionsweise, ist, dass ihm absichtsvoll – denn im Gegensatz zum sprachlichen Sinn ist die mythische Bedeutung „niemals vollständig willkürlich, sie ist immer zu Teilen motiviert“ (ebd., S. 108) – etwas als natürlich präsentiert wird, was durch und durch arbiträr ist, eben ein auf kulturellen Konventionen beruhender Ausdruck bürgerlicher Ideologie. Eine Verbindung zu Freuds Psychoanalyse stellt Barthes selbst her, wenn er schreibt: „Das erinnert an das Bedeutete eines anderen semiologischen Systems, an die Lehre Freuds. Bei Freud ist der zweite Terminus des Systems11 der latente Sinn (der Gehalt) des Traums, der verfehlte Akt, die Neurose.12 Nun weist Freud klar darauf hin, daß der zweite Sinn des Verhaltens der eigentliche, das heißt an eine vollständige, tiefe Situation angepaßte Sinn ist. Er ist, wie der mythische Begriff, die Intention des Verhaltens.“ (Ebd., S. 99)
Indem Barthes den Mythos dem Alltag zuordnet, charakterisiert er diesen wie Freud als einen Bereich des Unbewussten, wobei es in erster Linie die Person des Lesers ist, dessen Lesen im Gegensatz zu dem des Erzeugers von Mythen und dem des Mythologen durch das Moment des Unbewussten charakterisiert wird. Und es ist gerade dieses Moment des Unbewussten, das Voraussetzung ist für die Entfremdung, die auch der Leser durch den Mythos erfährt. Darüber, dass Entfremdung ein Charakteristikum des Alltäglichen darstellt, ist Barthes sich in dem Mythen des Alltags also mit Lefebvre einig. Und indem er den Mythos im ersten Teil der Mythen des Alltags mit Hilfe von Beispielen illustriert, die dem Bereich der so genannten „Massenkultur“ entstammen – Zeitschriftenbilder, Stripteasetänzerinnen, das Kinobild vom Gesicht der Garbo, der neue Citroën, Plastik –, festigt er darüber hinaus die von Lefebvre und vor ihm auch schon von den Surrealisten vorgenommene Identifikation des Alltäglichen mit der populären Kultur.
11 … der in Barthes’ System der Bedeutung entspricht … 12 Der Logik der Psychoanalyse entsprechend, in der im Traum, der Fehlleistung und der Neurose gleichermaßen das Unbewusste zum Ausdruck gelangt, müssten die beiden letzten Begriffe hier eigentlich ebenfalls im Genitiv und nicht im Nominativ stehen!
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Aber weder dem Alltäglichen noch – sieht man einmal von Die Sprache der Mode von 1967 (dt. Barthes 1985) ab, das das Ende von Barthes’ strukturalistischer Phase markiert – den Hervorbringungen der „Massenkultur“ widmet Barthes im weiteren Verlauf seines Schaffens gesonderte Aufmerksamkeit. Der Leser hingegen stellt auch in den späteren Arbeiten von Roland Barthes einen zentralen Gegenstand dar und erfährt dort eine bemerkenswerte Umdeutung, die nicht zuletzt auch im Hinblick auf den zu bestimmenden Gegenstand einer (Musik-) Wissenschaft des Alltäglichen relevant ist, wenn das Lesen – und davon bleibt auszugehen – eine Tätigkeit ist, die das Alltägliche charakterisiert. Geradezu sprichwörtlich geworden ist der Titel eines Artikels, der 1968 in der Zeitschrift Manteia erscheint, nachdem 1967 in den USA bereits eine englische Übersetzung im Aspen Magazine veröffentlicht worden war: La Mort de l’auteur (dt. Der Tod des Autors, 2000 bzw. 2006b13), in dem Barthes gleich zu Beginn die folgende Frage stellt: „In Balzacs Novelle Sarrasine heißt es von einem als Frau verkleideten Kastraten: ‚Es war das Weib mit seinen plötzlichen Ängsten, seinen grundlosen Launen, seinen instinktiven Verunsicherungen, seinen unwillkürlichen Kühnheiten, seinen Prahlereien und seinem köstlichen Zartgefühl.‘ Wer spricht so? Ist es der Held der Novelle, der den hinter dem Weib verborgenen Kastraten nicht erkennen will? Ist es das Individuum Balzac, das dank seiner persönlichen Erfahrung eine Philosophie der Frau besitzt? Ist es der Autor Balzac, der ‚literarische‘ Ideen über die Weiblichkeit vorträgt? Ist es die universelle Weisheit? Die romantische Psychologie? Dies wird sich schon allein deshalb nie herausfinden lassen, weil das Schreiben Zerstörung jeder Stimme, jeden Ursprungs ist“ (Barthes 2006b, S. 57) ...
... und der Anfang vom Ende des Alltäglichen! In mitunter absichtlich zugespitzter Manier bezieht Barthes in Der Tod des Autors vor allem Stellung gegen die an französischen Schulen und Universitäten vorherrschende philologische Methode der explicati-
13 Im Folgenden wird aus zwei sehr unterschiedlichen deutschen Übersetzungen von La Mort de l’auteur zitiert: Barthes 2000, ins Deutsche übertragen von Matias Martinez, stellt die erste deutsche Übersetzung des Textes überhaupt dar; anlässlich der Veröffentlichung des vierten Bandes der Kritischen Essays (Das Rauschen der Sprache, 2006) wurde er dann ein weiteres Mal von Dieter Hornig übersetzt (Barthes 2006b). Da in beiden Übersetzungen einzelne Passagen mal mehr, mal weniger nachvollziehbar ins Deutsche übertragen wurden, wird hier von beiden Gebrauch gemacht.
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen on du texte, deren erklärtes Ziel in der Herstellung von Beziehungen zwischen dem Werk und der Biographie des Autors besteht. „Die Erklärung eines Werkes wird stets bei seinem Urheber gesucht – als ob sich hinter der mehr oder weniger durchsichtigen Allegorie der Fiktion letztlich immer die Stimme ein und derselben Person verberge, die des Autors, der Vertraulichkeiten preisgibt.“ (Barthes 2000, S. 186)
Barthes begreift den Text nicht länger als Ausdruck der persönlichen Erfahrungen seines Autors, sondern entlarvt diesen als eine „moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte – oder , wie man würdevoller sagt, der ‚menschlichen Person‘“ (ebd.). Es ist also nicht länger der Autor, der als Garant für den Sinn des Textes von seinen Erfahrungen spricht. Barthes versteht den Sinn eines Textes vielmehr als ein Gewebe, ein Geflecht aus verschiedenen Stimmen, unterschiedlichen kulturellen Codes, die dem Text vorausgehen, so wie in Saussures strukturaler Linguistik die Sprache (langue) dem Sprechen (parole) vorausgeht. Die Vielzahl der Stimmen, der kulturellen Codes, die im Text miteinander verwoben sind, ist die Ursache für dessen Polysemie, die vielen möglichen Sinne oder Bedeutungen, die den einen, durch den Autor garantierten Sinn nun ablösen. Und nach Barthes bedeutet dies, den Leser an die Stelle des Autors zu rücken: „Kehren wir zum Satz Balzacs zurück. Niemand (das heißt keine ‚Person‘) sagt ihn: sein Ursprung, seine Stimme liegt im Lesen, und nicht im eigentlichen Ort des Schreibens. [...] Damit tritt das totale Wesen des Schreibens hervor: ein Text besteht aus vielfachen, mehreren Kulturen entstammenden Schreibweisen, die untereinander in einen Dialog, eine Parodie, ein Gefecht eintreten; nun gibt es aber einen Ort, an dem sich diese Vielfalt sammelt, und dieser Ort ist nicht, wie bisher gesagt wurde, der Autor, sondern der Leser.“ (Barthes 2006b, S. 62f.)
Allerdings hat diese Verlagerung der bedeutungsgenerierenden Instanz vom Autor auf den Leser häufig für Missverständnisse gesorgt: Wenn der Leser für den Sinn des Textes verantwortlich sei, müsse dieser dann nicht ebenso viele Bedeutungen haben wie Leser? Könne es wirklich die Aufgabe der Textwissenschaften sein, für jeden literarischen Text alle möglichen Bedeutungen zu ermitteln? Und überhaupt, führe die Aufgabe des einen, intersubjektiv im Text nachvollziehbaren und durch den Autor verbürgten
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Sinns zugunsten der Polysemie nicht zwangsläufig zur völligen Beliebigkeit von Textinterpretationen? Diese Befürchtungen konnten nur dort entstehen, wo anstelle des gerade als autonomes Subjekt für tot erklärten Autors der Leser als autonomes Subjekt gesetzt wurde, das, frei von allen Zwängen, beliebige Bedeutungen an die Texte herantragen könne. Der Leser, von dem Barthes spricht, ist jedoch ebenso wenig autonom wie der Autor, sondern wie dieser durch kulturelle Kategorien determiniert, die dem Akt des Lesens ebenso vorausgehen wie dem Akt des Schreibens. „Der Leser ist der Raum, in dem sich sämtliche Zitate, aus denen das Schreiben besteht, einschreiben, ohne dass auch nur ein einziges verlorenginge; die Einheitlichkeit eines Textes liegt nicht an seinem Ursprung, sondern an seinem Bestimmungsort, aber dieser Bestimmungsort kann nicht mehr personal sein: der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie; er ist nur dieser jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht.“ (Barthes 2006, S. 63)
Das post-strukturalistische Subjekt, das das autonome ersetzt und als das sowohl der Autor als auch der Leser gedacht sind, „ist ‚im tiefsten Inneren‘ ein Zeichenprodukt; ein in der Sprache gefangenes und durch Sprache, im weiteren Sinne ein durch Kultur definiertes Wesen“ (Beressem 1998, S. 440), und keine konkrete Person. Als eigentlicher Wendepunkt in Barthes’ Entwicklung vom Strukturalismus zum Post-Strukturalismus wird häufig das 1970 erschienene Buch S/Z (dt. 1987) genannt, in dem Barthes die Konsequenz aus der in „Der Tod des Autors“ verkündeten Ersetzung des Autors durch den Leser zieht und Balzacs Novelle Sarrasine, die ihm dort bereits als Beispiel diente, als solch ein Gewebe aus verschiedenen Stimmen und unterschiedlichen Codes einer semiologischen Lektüre unterzieht. Gleich zu Beginn gibt Barthes die in den Mythen des Alltags von Hjelmslev übernommene Idee von der Denotation – d.i. dort die objektsprachliche Ebene – als einem ersten Sinn des Zeichens auf, womit er der Annahme, ein Text habe einen, eigentlichen und durch den Autor verbürgten Sinn endgültig jegliches epistemologisches Fundament entzieht, und führt die Unterscheidung zwischen dem lesbaren Text (texte lisible) und dem schreibbaren Text (texte scriptible) ein: „Barthes macht es sich zum Ziel, „aus dem Leser nicht mehr einen Konsumenten, sondern einen Textproduzenten zu machen“. Hierzu bedient er sich
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen der Gegenüberstellung von lesbarem und schreibbarem Text. Während lesbare Texte als ‚das, was gelesen, aber nicht geschrieben werden kann‘ (S/Z 8 [...]) den vom Text vorgegebenen, fixierten Lektürepfaden und somit dem ‚Prinzip des Nicht-Widerspruchs‘ (S/Z 156 [...]) folgten, werde im schreibbaren Text die Lektüre in eine imaginative Neuschreibung überführt, die die Zerstreuung (vgl. S/Z 9 [...]) des rezipierten Textes zur Voraussetzung hat. Der lesbare Text wird somit als fertiges Produkt konsumiert, der schreibbare Text hingegen löst ihn als eine in den produktiven Akt des Schreibens einmündende Lektüre in eine Vielzahl gleichrangiger konnotativer Verweisspuren auf und inszeniert hierüber seine prinzipiell unbegrenzte Offenheit [...] Mit dem Oppositionspaar lesbarer vs. schreibbarer Text bedient sich Barthes abermals eines binären Schematismus, der sich an die Dialektik von Produktion und Produkt, von Verflüssigung und Fixierung anschließt. Der lesbare Text wird als fertiges Produkt konsumiert, der schreibbare Text ist hingegen ein Produktionsprozeß, in dem der Leser selbst zum Produzenten wird.“ (Brune 2003, S. 153)
Im Gegensatz zu den lesbaren Texten, die „Produkte [sind] (und nicht Produktionen) [und als solche] die große Masse unserer Literatur“ bilden, ist der schreibbare Text eine „Produktion ohne Produkt“ – und daher „kaum in einem Buchladen [zu] finden“ (Barthes 1987, S. 9). Als „eine Galaxie von Signifikanten und nicht Struktur von Signifikaten“ (ebd., S. 10) ist er jene „lebendigimaginative Produktion“ (Brune 2003, S. 154), die während der Lektüre im Leser ebenso vonstatten geht wie während des Schreibens im Schreibenden – der in dieser Hinsicht auch nur ein Leser ist. Den Leser denkt sich Barthes dabei aber nicht als ein „unschuldiges Subjekt, das dem Text vorherginge und das danach von ihm Gebrauch machte, wie von einem Objekt, das zu zerlegen, oder wie von einem Ort, der zu besetzen wäre“, sondern der Leser ist als post-strukturalistisches Subjekt „selber schon eine Pluralität anderer Texte, unendlicher Codes, oder genauer: verlorener Codes (deren Ursprung verlorengeht)“ (ebd., S. 14). Noch deutlicher zeigt sich die zunehmende Bedeutung, die dem Signifikanten gegenüber dem Signifikat in Barthes’ Denken zukommt, in dessen im gleichen Jahr wie S/Z veröffentlichten Japan-Buch L’Empire des signes (dt. Das Reich der Zeichen, 1981), in dem Barthes die Materialität der japanischen Schriftzeichen hervorhebt, die für ihn, der nicht über den entsprechenden Code (Kenntnisse des Japanischen und des japanischen Schriftsystems) verfügt, „leere Zeichen“, Signifikanten ohne Signifikat sind. „[1970] erklärt Barthes in seinem Vorwort zu einer Neuauflage der Mythen des Alltags, die semiologische Analyse, die für ihn mit dem zweiten Teil die-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ses 1957 erstmals veröffentlichten Buches eingesetzt habe, sei zum ‚theoretischen Ort‘ einer Auseinandersetzung geworden, in der es ‚in diesem Jahrhundert und in unserem Abendland um eine gewisse Befreiung des Signifikanten geht‘ (MY I, 563). Diese Befreiung des Signifikanten, des Bedeutenden (signifiant), vom Signifikat, dem Bedeuteten (signifié), die Betonung der Materialität des geschriebenen Zeichens, des gesprochenen Worts, des gedruckten Buchstabens oder der gemalten Linie wird zu einem der Hauptanliegen einer veränderten Semiologie, deren Elemente Roland Barthes während der siebziger Jahre in immer überraschenderer Weise entfalten wird. [...] [In Das Reich der Zeichen erfährt der Leser] nichts über die Bedeutungen, die Signifikate der japanischen Schriftzeichen. Genau dies ist die Distanz, die Japan Barthes verschafft. Wie schon die Kleidung auf dem Eröffnungs- und dem Schlußbild, so erlaubt auch die Abbildung von Schrift dem europäischen Leser nicht, hinter die Oberfläche des Signifikanten zu gelangen: Der ursprüngliche Sinn geht verloren, das Bild der Schrift aber bleibt in seiner Graphie, seiner Bildhaftigkeit. (Ette 1998, S. 272ff.)
Es ist aber nicht nur der bildhafte Signifikant von Schriftzeichen, von dessen Materialität sich Barthes in Das Reich der Zeichen fasziniert zeigt. Wie schon in den Mythen des Alltags begreift er auch hier ganz im Sinne Saussures die Semiologie als eine Wissenschaft, die über die sprachlichen Zeichen hinaus alle Arten von Zeichen zum Gegenstand hat. Das Eröffnungs- und das Schlussbild, das Ette anspricht, zeigen jeweils eine Photographie mit einer Großaufnahme des Gesichtes von FUNAKI Kazuo, einem japanischen Schauspieler und Enka-Sänger. Während FUNAKI, der in ein traditionelles japanisches Kostüm gewandet ist, von dem zur Gänze aber nur die Kopfbedeckung zu sehen ist, auf dem Eröffnungsbild ernst in die Kamera zu blicken scheint, ist er auf dem Schlussbild „dem Lächeln nahe“, wie Barthes in der Bildlegende schreibt (vgl. 1981, S. 12 und S. 150f.), wodurch er zu verstehen gibt, dass er auch das Gesicht des Schauspielers als ein Zeichen liest – die Materialität seines Signifikanten ist Gegenstand der Photographie, aber über das Signifikat scheint sich Barthes, wie sein Kommentar nahe legt, unsicher zu sein. Während sein Anspruch darauf, als Wissenschaftler wahrgenommen zu werden und nicht als Schriftsteller, in seiner späteren Schaffensphase deutlich nachlässt (vgl. dazu Ette 1998), nimmt Barthes’ Interesse an nicht-sprachlichen Zeichensystemen deutlich zu, wovon die steigende Zahl von Texten zur bildenden Kunst, zur Photographie und vor allem auch zur Musik zeugt, die er im letzten Jahrzehnt seines Lebens veröffentlicht.
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen Ebenfalls 1970, also im gleichen Jahr wie S/Z, Das Reich der Zeichen und die von Ette erwähnte Neuauflage der Mythen des Alltags erscheint in den Cahiers du cinéma ein Artikel mit dem Titel „Le Troisème sens“ (dt. „Der dritte Sinn“, 1990a), in dem Barthes am Beispiel eines Standbildes aus Sergei M. Eisensteins Film Iwan, der Schreckliche (UdSSR 1944), auf dem zu sehen ist, wie zwei Höflinge das Haupt des jungen Zaren mit einem Regen aus Goldstücken überschütten, drei Sinnebenen unterscheidet:
Abb. 12: Standbild aus Eisensteins Iwan, der Schreckliche (1944), aus Barthes 1990a, S. 47. „1. Eine informative Ebene, auf der die gesamte Kenntnis zusammentritt, die mir das Dekor liefert, die Kostüme, die Figuren, ihre Beziehungen und ihre Eingliederung in eine Geschichte, die ich (wenn auch nur vage) kenne. Diese Ebene ist die der Kommunikation. [...] 2. Eine symbolische Ebene: das ausgeschüttete Gold. Diese Ebene ist selbst wieder geschichtet.“ (Barthes 1990a, S. 47f.)
Auf dieser zweiten Ebene, die er als die Ebene der Bedeutung bezeichnet, unterscheidet Barthes zwischen einer referentiellen Symbolik (die kaiserliche Goldtaufe), einer diegetischen Symbolik (das Motiv des Reichtums), einer Eisensteinschen Symbolik (die dann existiert, wenn entweder dem Gold oder dem Motiv des Regens im Eisensteinschen Gesamtwerk eine besondere Bedeutung zukommt) und einer historischen Symbolik (das Gold als Symbol der Macht des Zaren).
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen „3. Ist das alles? Nein, denn ich kann mich immer noch nicht von dem Bild lösen. Ich lese, ich rezipiere (wahrscheinlich sogar als erstes) evident, erratisch, einen dritten Sinn. Ich weiß nicht, welches sein Signifikat ist, zumindest kann ich es nicht benennen, aber ich sehe deutlich seine Züge, die signifikanten Beiläufigkeiten, aus denen dieses bisher unvollständige Zeichen besteht: Es ist eine gewisse Kompaktheit der Schminke der Höflinge, die hier dick auffallend, dort glatt und sorgsam aufgetragen ist, es ist die ‚dumme‘ Nase des einen, die fein nachgezeichneten Augenbrauen des anderen, sein fades blondes Haar, sein weißer und welker Teint, die platt hergerichtete Frisur, die nach Toupet aussieht, das mit Reispuder aufgefrischte Make-up. [...] Im Gegensatz zu den ersten zwei Ebenen [...] ist diese dritte Ebene – selbst wenn ihre Lektüre noch gewagt ist – die der Signifikanz; dieses Wort hat den Vorteil, daß es auf den Bereich des Signifikanten (und nicht der Bedeutung) Bezug nimmt und über den von Julia Kristeva eröffneten Weg, die diesen Terminus eingeführt hat, an eine Semiotik des Texts anschließt.“ (ebd., S. 48f.)
Im Gegensatz zu dem Sinn auf der zweiten, symbolischen Ebene, den Barthes im Folgenden als den entgegenkommenden Sinn bezeichnet und der intentional ist, d.h. der Kontrolle des Autors unterliegt, der ihn einem „allgemeine[n], gemeinsamen Wortschatz der Symbole“ entnommen hat – „es ist ein Sinn, der mich, den Adressaten der Botschaft, das Subjekt der Lektüre, sucht, ein Sinn, der von S. M. E. aus- und auf mich zugeht“ (ebd. S. 49) –, ist der dritte, der stumpfe Sinn auf der Ebene der Signifikanz derjenige, der dem Signifikanten eines leeren Zeichens zukommt, der, da ihm das Signifikat fehlt, auf seine Materialität reduziert in gewisser Weise eine durch den Leser aufzufüllende Leerstelle darstellt. In einer Fußnote bemerkt Barthes, dass im „klassischen Paradigma der fünf Sinne [...] der dritte Sinn das Gehör [ist]“ (ebd., FN auf S. 48). Es ist also nur folgerichtig, wenn sein Interesse an der materielle Beschaffenheit des Signifikanten Barthes dazu veranlasst, seine Aufmerksamkeit in den kommenden Jahren verstärkt auch dem Bereich der Musik zuzuwenden, „einem Signifikanzfeld und keinem Zeichensystem“, wie er in seinem Beitrag zur 1975 u.a. von Julia Kristeva herausgegebenen Festschrift für Emile Benveniste schreibt, der auch im französischen Original den Titel „Rasch“ trägt und Schumanns Kreisleriana gewidmet ist (dt. Barthes 1990c). Wie bereits in Das Reich der Zeichen ist es auch in „Rasch“ die Nichtbeherrschung einer Fremdsprache, diesmal des Deutschen, die Barthes auf die Materialität des Signifikanten zurückwirft, zu dem es für ihn kein Signifikat gibt: „Rasch: Das, so sagen die Herausgeber, bedeutet nur: lebhaft, schnell (presto). Aber ich, der ich kein Deutscher bin und dem angesichts dieser Fremd-
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen sprache nur ein verblüfftes Hinhören zu Gebote steht, füge dem die Wahrheit des Signifikanten hinzu: als ob ich einen vom Wind, von der Peitsche mitgerissenen, ausgerissenen und auf einen genauen, aber unbekannten Ort der Streuung zutreibenden Körperteil besäße. In einem berühmten Text stellt Benveniste zwei Bedeutungsordnungen einander gegenüber: die semiotische, den Bereich der gegliederten Zeichen, die jeweils einzeln sinnvoll sind (wie in der natürlichen Sprache), und die semantische, den Bereich eines Diskurses, in dem keine Einheit an sich signifikant ist, obwohl das Ganze Signifikanz besitzt. Die Musik, sagt Benveniste, gehört zum Semantischen (und nicht zum Semiotischen), da die Töne keine Zeichen sind (kein Ton ist an sich sinnvoll); somit, heißt es bei Benveniste, ist die Musik eine Sprache, die eine Syntax besitzt, aber keine Semiotik.“ (Barthes 1990c, S. 310f.)
Durch eine Hinwendung zur Musik erhofft sich Barthes so „einen besseren Einblick in den Text als Signifikanz“ (ebd.). In dem drei Jahre zuvor in der Zeitschrift Musique en jeu veröffentlichten Artikel „Die Rauheit der Stimme“ (dt. 1990b) versucht Barthes die Bedeutung, die der Materialität des Signifikanten im Bereich der Musik zukommt, durch einen Vergleich der Interpretationen von Schubert-Liedern durch den Schweizer Bariton Charles Panzéra, den Barthes „sehr mag“ – nicht zuletzt vielleicht, weil er sein Gesangslehrer war –, und Dietrich Fischer-Dieskau, den er „sehr wenig“ mag, zu erklären. Julia Kristevas Dichotomie zwischen Phänotext und Genotext aufgreifend beschreibt Barthes FischerDieskau als einen „musterhafte[n] Künstler“ vom Standpunkt des Phänogesangs aus gesehen, der „alle Phänomene, alle Merkmale, die zur Struktur der gesungenen Sprache gehören, [umfaßt,] den Gesetzen des Genres, der kodierten Form der Koloratur, dem Ideolekt des Komponisten und dem Stil der Interpretation [...] von der (semantischen und lyrischen) Struktur wird alles berücksichtigt; und dennoch verführt nichts, reißt nichts zur Lust hin“ (Barthes 1990b, S. 272). Panzéras Gesang hingegen beschreibt er als ein Beispiel für den Genogesang, der „das Volumen der singenden und sprechenden Stimme [sei], der Raum, in dem die Bedeutungen keimen, und zwar ‚aus der Sprache und ihrer Materialität heraus‘; es ist ein signifikantes Spiel, das nicht mit der Kommunikation, der Darstellung (von Gefühlen) und dem Ausdruck zu tun hat; es ist die Spitze (oder der Grund) der Erzeugung, wo die Melodie tatsächlich die Sprache bearbeitet – nicht, was diese sagt, sondern die Wollust ihrer Laut-Signifikanten, ihrer Buchstaben“ (ebd.). Im Falle des Gesangs verweist die Materialität des Signifikanten, der Barthes nun einen Namen gibt: „die Rauheit“, auf den
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Körper des Sängers als Referenten, zu dem der Hörer – vermittelt durch den Signifikanten – in eine körperliche, „erotische“ Beziehung tritt (vgl. ebd., S. 277). Was Barthes hier in zugegebenermaßen recht abstrakter Weise zum Ausdruck bringt, lässt sich leichter nachvollziehen, wenn man an das sinnliche Vergnügen denkt, das einem der Vortrag selbst eines Sängers oder einer Sängerin bereiten kann, deren Sprache man nicht spricht. Auch wenn es einem nicht möglich ist, dem semantischen Gehalt des Textes zu folgen und man daher auch im Hinblick auf den emotionalen Gehalt unsicher ist, ob man den Vortrag „versteht“, kann doch allein der Klang der auf einen Körper verweisenden Stimme bedeutungsvoll und „sinnlich“ sein. Aber vielmehr als darum, die Gültigkeit oder Brauchbarkeit von Barthes’ Konzepten zu behaupten, und vielmehr als um den Körper des singenden Menschen geht es an dieser Stelle darum, dass durch die Beschäftigung mit Musik und die in diesem Kontext vollzogene Anerkennung der semiologischen Bedeutung von Körperlichkeit auch der individuelle Hörer/Leser Einzug in Barthes’ Denken gehalten hat. Zwar immer noch ein durch Sprache und Kultur definiertes Wesen, ist auch das post-strukturalistische Subjekt, mit einem konkreten Körper versehen, der es in die Lage versetzt, erotische Beziehungen einzugehen, weit weniger abstrakt und weit mehr individuelle Person: „Was ich über die ‚Rauheit‘ zu sagen versuche, wird natürlich nur die scheinbar abstrakte Seite, die unmögliche Schilderung einer individuellen Lust sein, die ich beim Anhören von Gesang ständig empfinde.“ (Barthes 1990b, S. 271)
Spätestens in La Chambre claire, Barthes’ in der ersten Person Singular verfasstem Buch über die Photographie, das 1980 erschien (dt. Die helle Kammer, 1989), in dem Jahr, in dem Barthes an den Folgen eines Autounfalls starb, schlägt sich die Idee eines (auch) individuellen Lesens sogar terminologisch nieder. Darin unterscheidet Barthes zwischen dem studium und dem punctum einer Photographie. Barthes benutzt das lateinische Wort studium, das „nicht, jedenfalls nicht nur ‚Studium‘ bedeutet“, weil ihm laut eigener Aussage kein geeignetes französisches Wort eingefallen ist, um die „Art menschlichen Interesses“ (Barthes 1989, S. 35) zum Ausdruck zu bringen, die er z.B. angesichts einer 1926 von dem afroamerikanischen Photographen James Van der Zee gemachten Aufnahme einer schwarzen New Yorker Familie empfindet:
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen
Abb. 13: James Van der Zee, Familienportrait, 1926, aus Barthes 1989, S. 54. „Das studium liegt auf der Hand: ich interessiere mich als gutwilliges Subjekt unserer Kultur voller Sympathie für die Aussage dieser Photographie, denn sie ist ansprechend (es ist eine ‚gute‘ Photographie): sie spricht von der Achtbarkeit, dem Familiensinn, dem Konformismus, vom Sonntagsstaat, dem Bemühen um sozialen Aufstieg mit dem Ziel, sich mit den Attributen der Weißen zu schmücken (ein rührendes Bemühen, so naiv es ist). Das Schauspiel interessiert mich, aber es ‚besticht‘ mich nicht.“ (ebd., S. 53)
Es ist der Betrachter, der der Photographie jenes „vage, oberflächliche, verantwortungslose Interesse [entgegenbringt], das man für Leute, Schauspieler, Kleider, Bücher aufbringt, die man ‚gut‘ findet“ (ebd. S. 37) und das Barthes als ein Produkt von Erziehung (und damit von Kultur) definiert. Als spectator hat der Betrachter der Photographie gelernt, sie als einen visuellen Text zu begreifen, den operator, d.h. ihren Autor, darin aufzuspüren und seine „Absichten nachzuvollziehen“, sie zu billigen oder auch nicht (vgl. ebd.).
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Das punctum hingegen, das keine alternative Lesart der Photographie darstellt, sondern das studium durchbricht, ist ebenso zufällig wie zutiefst persönlich: „Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. Ein Wort gibt es im Lateinischen, um diese Verletzung, diesen Stich, dieses Mal zu bezeichnen, das ein spitzes Instrument hinterläßt; dieses Wort entspricht meiner Vorstellung um so besser, als es auch die Idee der Punktierung reflektiert und die Photographien, von denen ich hier spreche, in der Tat wie punktiert, geradezu übersät sind von diesen empfindlichen Stellen; und genaugenommen sind diese Male, diese Verletzungen Punkte. Dies zweite Element, welches das Studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft). (ebd., S. 35f.)
Im Falle von Van der Zees Photographie meint Barthes das punctum zunächst in dem breiten Gürtel, den nach Art eines Schulmädchens auf dem Rücken verschränkten Armen, vor allem aber in den Spangenschuhen der jungen Frau identifiziert zu haben. Erst später aber, als er das Bild nicht mehr vor Augen hat, stellt er fest, dass er sich geirrt hat, denn oftmals offenbart sich das punctum einer Photographie, für dessen Existenz oftmals eine „innere Unruhe“ und die Unfähigkeit, es zu benennen, sprechen, erst im Nachhinein: „[...] als ich Van der Zees Photo las, glaubte ich, das, was mich bewegte, entdeckt zu haben: die Spangenschuhe der sonntäglich gekleideten Negerin; doch dieses Bild wirkte in mir nach, und erst mit der Zeit begriff ich, daß das wahre punctum die Kette war, die sie um den Hals trug; denn ohne Zweifel war es die gleiche Kette (ein schmales Band aus geflochtenem Gold), die ich stets an einer Verwandten gesehen hatte und die nach dem Tod dieser Frau in einer Kassette mit altem Familienschmuck aufbewahrt wurde. […] Ich hatte nun begriffen, daß man dem punctum, so unmittelbar und einschneidend es auch sein mochte, nach einer gewissen Latenz (nie jedoch mit Hilfe irgendeiner genauen Untersuchung) auf die Spur kommen konnte.“ (ebd., S. 62)
Ottmar Ette hat darauf hingewiesen, dass die bereits 1970 in „Der dritte Sinn“ getroffene Unterscheidung zwischen dem entgegenkommenden und dem stumpfen Sinn für das Verständnis der Dichotomie zwischen studium und punctum ausschlaggebend ist,
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Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen nur das sich diesmal die Richtung der Begegnung zwischen der Photographie und ihrem Betrachter geändert habe. Während der sens obvie, der entgegenkommende Sinn dem Betrachter, wie der Name schon sagt, entgegenkommt, wendet im Falle des studiums, das dem entgegenkommenden Sinn nun entspricht, der Betrachter sein „souveränes Bewußtsein“ auf den Text an. Nun ist es das punctum, dem in der vorhergehenden Dichotomie der sens obtus, der stumpfe Sinn entsprach, das wie ein Pfeil aus der Photographie heraus und auf den Betrachter zuschießt, aber nicht mehr auf jeden, sondern nur noch auf diesen einen Betrachter, der der Photographie unbewusst aus seiner persönlichen Geschichte etwas hinzufügt, „was dennoch schon da ist“ (vgl. ebd., S. 65). „Die Semiologie der signifiance und jouissance, die Barthes zuvor entwickelt hat, wird auf ein Ich, das Ich des Betrachters, bezogen. Es ist, so könnte man formulieren, eine Semiologie des ‚Zeichens-für-mich‘. Die Konsequenz dieser partikularisierten Semiologie, die die Ebenen von Kommunikation und Bedeutung einer Erforschung durch die (universitäre) Linguistik und Semiotik überläßt, kann auf literarischer Ebene nur die Verwendung der ersten Person Singular sein. (Ette 1998, S. 461f.)
Es sind gerade die Verwendung der Ersten Person Singular in Barthes’ letztem Buch und die anrührende Tatsache, dass die einzige Photographie, von der er darin spricht, die dort aber nicht abgebildet ist (was ihr einen besonderen Stellenwert zukommen lässt), eine Photographie seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter ist, die seinen Leser... studium oder punctum? ...die mich an die in ihrer Selbstentäußerung mitunter ebenfalls rührenden autobiographischen Schriften Michel Leiris’ erinnert haben: „Um meine Mutter ‚wiederzufinden‘, wenn auch, leider, nur für einen flüchtigen Augenblick und ohne diese Auferstehung jemals lange festhalten zu können, muß ich eines Tages auf einigen Photos die Gegenstände wiederfinden, die sie auf ihrer Kommode stehen hatte, eine Puderdose aus Elfenbein (ich liebte das Geräusch, das der Deckel machte), einen Flakon aus geschliffenem Kristall oder auch einen sehr niedrigen Stuhl, der heute neben meinem Bett steht, die Bastmatten, die sie über dem Sofa angebracht hatte, die großen Taschen, die sie bevorzugte (und deren bequeme Formen die bürgerlichen Vorstellung vom ‚Handtäschchen‘ vergessen ließen.) So schließt das Leben eines Menschen, dessen Existenz der unseren um ein weniges vorausgegangen ist, in seiner Besonderheit gerade die Spannung der GESCHICHTE, ihre Abspaltung mit ein. Die GESCHICHTE ist hysterisch: sie nimmt erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet – und um sie zu betrachten, muß man davon ausgeschlossen sein. Als lebendiges Wesen bin ich das ge-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen naue Gegenteil der GESCHICHTE, ich bin das, was sie dementiert, was sie zugunsten meiner eigenen Geschichte zerstört“ (Barthes 1989, S. 74f.)
Eine „neue Wissenschaft [...], die jeweils vom einzelnen Gegenstand ausginge“, eine „mathesis singularis (und nicht mehr universalis)“ (ebd., S. 16) war es, die Barthes beim Schreiben von Die helle Kammer vorschwebte. Er steht damit den Vorstellungen Michel de Certeaus, die Gegenstand des folgenden Kapitel sein werden, in zweierlei Hinsicht sehr nahe: zum einen im Hinblick darauf, dass das Alltägliche und Geschichte einander widersprechen, zum anderen im Hinblick auf die „Auflösung“ einer Wissenschaft des Alltäglichen, die nach Certeau eine „Wissenschaft des Partikulären“ zu sein hat.
Literatur Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags [1957], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1981): Das Reich der Zeichen [1970], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1983): Elemente der Semiologie [1965], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1985): Die Sprache der Mode [1967], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1987): S/Z [1970], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [1980], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1990): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Kritische Essays III), Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (1990a): „Der dritte Sinn: Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins“ [1970], in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 47-66. — (1990b): „Die Rauheit der Stimme“ [1972], in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 269-278. — (1990c): „Rasch“ [1975], in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 299-311. — (1993ff): Œuvre complètes. Edition établie et présentée par Eric Marty (3 Bände), Paris: Editions du Seuil. — (2000): „Der Tod des Autors [1968]“, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 185-193.
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„Weit davon entfernt, Schriftsteller […] zu sein, sind die Leser Reisende, sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Nomaden in Gebieten, die sie nicht beschrieben haben, und rauben gar die Reichtümer Ägyptens, um sie zu genießen. Die Schrift sammelt an, lagert ein, widersteht der Zeit durch die Schaffung eines Ortes und vermehrt ihre Produktion durch eine expansive Reproduktion. Die Lektüre ist gegen den Verschleiß durch die Zeit nicht gewappnet (man vergißt sich selber und man vergißt), sie bewahrt das Erworbene nicht oder bloß schlecht und jeder Ort, an dem sie vorbeikommt, ist eine Wiederholung des verlorenen Paradieses.“ Michel de Certeau, Kunst des Handelns (1988, S. 307)
„Verba volant, scripta manent“ (lateinisches Sprichwort)
„Wer schreibt, der bleibt“ (deutsches Sprichwort)
Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks Die marxistische Annahme, der ideologische Gehalt, den die dominante Klasse in die Waren, die sie produziert, einschreibt, werde von deren Konsumenten in passiver Weise verinnerlicht, die auf diese Weise ruhig gestellt (und entfremdet) werden, ist der Kulturindustrie-Theorie von Adorno und Horkheimer, Lefebvres Vorstellung von der bürokratisch kontrollierten Konsumgesellschaft, Debords Gesellschaft des Spektakels aber auch Barthes früher Idee vom unkritischen Leser des Mythos gemeinsam. Dass gerade diese Annahme darin in Frage gestellt wird, macht die Veröffentlichung von Michel de Certeaus L’Invention du quotidien [I] im Jahre 1980 zu einem wichtigen Wendepunkt in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen, markiert sie doch den Beginn einer Entwicklung, die man als erkenntnistheoretisch begründete Rehabilitierung des Alltäglichen beschreiben könnte.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Dieses Buch und ein von de Certeau gemeinsam mit Luce Giard und Pierre Mayol verfasster zweiter Teil, der 1994 unter dem Titel L’Invention du quotidien, II, habiter, cuisiner in den Éditions Gallimard erschien, waren das Resultat eines großangelegten Forschungsprojekts, als dessen Leiter de Certeau im Auftrag der vom französischen Premierminister eingesetzten Délégation générale à la recherche scientifique et technique zwischen 1974 und 1978 fungiert hatte. Die (selbst ideologisch begründete) Kritik an der ideologischen Kolonisierung des Alltagslebens qua Konsum hatte die Theoriebildung bis dato bestimmt und war einer empirischen Erforschung des Alltagslebens zeitlich vorausgegangen. Mit dem Kulturrelativismus als Leitprinzip der Ethnographie, die sicherlich den naheliegendsten disziplinären Rahmen für eine solche empirische Annäherung an das Alltäglichen darstellte – nicht nur, aber auch, weil sie im Kontext der Zeitschrift Documents und des Collège de Sociologie diese Funktion schon einmal übernommen hatte –, war eine solche Reihenfolge des Vorgehens natürlich nicht vereinbar. Aber nicht die kritischen Theorien der Frankfurter Schule, Lefebvres, der Situationisten oder Barthes’ waren es, mit denen sich der Jesuit und Doktor der Theologie Michel de Certeau in seiner Argumentation explizit auseinandersetzte; seine Kritik galt in erster Linie dem deterministischen Denken in Michel Foucaults 1975 erschienenen Buch Surveiller et punir. La naissance de la prison (dt. 1994, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses) und in Pierre Bourdieus drei Jahre zuvor veröffentlichtem Esquisse d’une théorie de la pratique (dt. 1976, Entwurf einer Theorie der Praxis).14 In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault das Gefängnis als Bestandteil eines umfassenderen Überwachungssystems, das in den modernen Gesellschaften längst zu einer souveränen, in alle Lebensbereiche hineinwirkenden Institution geworden ist und über den Strafvollzug hinaus auch Schulen, Krankenhäuser, militärische Einrichtungen und die Fabriken umfasst. All diesen Institutionen gemeinsam ist die Ausübung bestimmter Disziplinartechniken: Foucault nennt erstens die Einschließung in einen nach außen abgegrenzten Bereich, der im Inneren vollständig kontrolliert werden kann; zweitens die Parzellierung dieses Be-
14 Da es an dieser Stelle zu weit führen würde, die Argumentationslinien beider Publikationen zu referieren, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf Foucaults Überlegungen zu den panoptischen Kontrollmechanismen der modernen Disziplinargesellschaft.
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks reichs, in dem jedem Individuum ein fester Platz und eine feste Funktion zugewiesen wird; und drittens eine Hierarchisierung, die dadurch zustande kommt, dass der Status jedes Individuums durch seinen spezifischen Abstand zu anderen Individuen definiert wird. Um seinen Status zu erhalten oder zu verbessern ist der Einzelne gezwungen, den Normen, auf denen diese Klassifikation beruht, zu entsprechen. Veranschaulicht werden diese Disziplinartechniken am Beispiel des Panoptikums, eines gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts von dem britischen Philosophen Jeremy Bentham erdachten architektonischen Prinzips zum Bau von Gefängnissen und Fabriken, bei dem die Gefängnisinsassen bzw. Fabrikarbeiter jederzeit von einem zentralen Punkt, z.B. einem Beobachtungsturm aus beaufsichtigt werden können, der selbst aber so angelegt ist, dass die Aufseher für die Beaufsichtigten gleichzeitig unsichtbar bleiben. Letztere können also nie wissen, wann sie tatsächlich beobachtet werden und wann nicht, und verhalten sich dementsprechend permanent so, als ob sie gerade beobachtet würden.
Abb. 14: Wachturm der Strafanstalt von Stateville, USA (aus Foucault 1994)
Auf diese Weise lässt sich eine große Zahl von Menschen mit einem relativ geringen personellen Aufwand permanent und vollständig überwachen. Foucault beschreibt das Alltagsleben in der modernen Gesellschaft als eines, das von einem fein gesponnenen Netz aus Macht-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen linien überzogen ist, in dem jedes Individuum diesen Disziplinartechniken ständig unterworfen ist. Auch wenn ihre Macht gerade nicht darauf beruht, selbst sehen, für die Gesehenen gleichzeitig aber unsichtbar bleiben zu können, sondern im Gegenteil auf ihrer weitreichenden Sichtbarkeit und Allgegenwärtigkeit basiert, lässt sich die Kulturindustrie mit ihren Hervorbringungen zumindest im Sinne der kritischen Theorie sicherlich auch zu den Disziplinartechniken zählen, derer sich die gesellschaftlichen Eliten bedienen, um die subalternen Massen zu kontrollieren. All diesen Vorstellungen von der disziplinierten Gesellschaft gemeinsam ist die Annahme, dass diejenigen, um deren Kontrolle es geht, sich deren Disziplinartechniken passiv ergeben. Es ist nicht die Existenz dieser Techniken und Prozeduren, sondern eben die Annahme, ihnen werde von Seiten derjenigen, die der Kontrolle unterliegen, nichts entgegengesetzt, der Michel de Certeau in L’Invention du quotidien widerspricht. „As Certeau put it, ‚behind the ‚monotheism‘ of the dominant panoptical procedures, we might suspect the existence and survival of a ‚polytheism‘ of concealed or disseminated practices, dominated but not obliterated by the historical triumph of one of their number‘ (1986: 188). Foucault, or for that matter Adorno and Horkheimer, can tell us little or nothing about such unofficial practices, which also have an intrinsic structure and logic. These minor practices, suggests Certeau, have remained ‚unprivileged by history‘, yet they ‚continue to flourish in the interstices of the institutional technologies‘ (1986: 189).“ (Gardiner 2000, S. 168, Gardiner zitiert aus einer 1986 unter dem Titel Heterologies: Discourses of the Other in den USA erschienenen Sammlung von Aufsätzen de Certeaus.)
Als Beispiel für eine solche inoffizielle Praxis nennt de Certeau das, was im Französischen umgangssprachlich als „faire de la perruque“ („die Perücke machen“) bezeichnet wird: die sicherlich jedem Arbeitgeber vertrauten Fälle, in denen Arbeitnehmer die Arbeitszeit, für die sie vom Arbeitgeber offiziell bezahlt werden, und die vom Arbeitgeber finanzierten Materialien, die ihnen am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen, zu eigenen Zwecken gebrauchen (vgl. Certeau 1988, S. 71f.). Die Bedingungen, unter denen es zu solchen Handlungen kommt – die Arbeitszeiten, die Gestaltung des Arbeitsplatzes, dort vorhandene Materialien –, werden zwar vom Arbeitgeber bestimmt, und wahrscheinlich wird dieser auch Maßnahmen ergreifen, um die Einhaltung der von ihm verfügten Bestimmungen zu kontrollieren; das bedeutet aber nicht, dass sich der Angestellte diesen Vorgaben stets beugt und sie jederzeit passiv erduldend befolgt. Die häufigen Fälle von „la perru-
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks que“, die Tatsache, dass es einen solchen Ausdruck überhaupt gibt, zeugen vielmehr davon, dass er im geeigneten Augenblick einen persönlichen Nutzen aus einer Situation zu ziehen weiß, deren Rahmenbedingungen er selbst nicht bestimmen kann. Die Ablehnung der Passivitätsannahme ist gleichbedeutend mit einer Betonung des Handlungsaspektes, die auch den Untertitel (und den Titel der deutschen Übersetzung) von L’Invention du quotidien erklärt: Arts de faire (Kunst des Handelns). Für de Certeau ist das Alltagsleben nicht geprägt durch ein tatenloses Erdulden von Prozeduren, die andere mit einem verrichten, sondern durch eine Praxis des Konsums, die in gewisser Weise zwar unsichtbar, im Verborgenen stattfindet, die deshalb aber nicht banal und unkreativ sein muss. De Certeau unterscheidet die das Alltagsleben prägenden Handlungsweisen bzw. Praktiken in Strategien und Taktiken. Strategien sind besitzergreifend, sie nehmen einen Ort – einen Wachturm, ein Bürogebäude, eine Seite bedruckten Papiers – für sich in Anspruch, der es ihnen erlaubt, die Zeit zu transzendieren: dem panoptischen Prinzip zufolge ist es gleichgültig, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich ein Wächter auf dem Turm steht; die Vorgaben, die das Verhalten im Büro regeln, gelten nicht nur in einem bestimmten Augenblick, sondern sind allzeit gültig; die bedruckten Seiten eines Buches können jederzeit gelesen werden. „Als ‚Strategie‘ bezeichne ich eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution) von einer ‚Umgebung‘ abgelöst werden kann. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt (Konkurrenten, Gegner, ein Klientel, Forschungs-‚Ziel‘ oder ‚-Gegenstand‘) dienen kann.“ (Certeau 1988, S. 23)
Im Gegensatz zu Strategien sind Taktiken wie „la perruque“ an ihre Zeitlichkeit gebunden. Sie haben keinen eigenen Ort, über den sie verfügen können, sondern finden stets auf dem Terrain eines anderen statt. De Certeau spricht in diesem Zusammenhang von „wildern“: Gerade weil sie keinen eigenen Ort haben, müssen Taktiken zwangsläufig in einer Aneignung, einem Miss(ge)brauch, d.h. einer nicht vorgesehenen Nutzung von etwas bestehen, das nicht das Eigene ist. Taktiken finden folglich verstreut an immer anderen Orten und im Verborgenen statt, sie
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen sind ephemer und immer angesichts der konkreten Gegebenheiten improvisiert: „Im Gegensatz zu den Strategien […] bezeichne ich als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Keine Abgrenzung einer Exteriorität liefert ihr also die Bedingung einer Autonomie. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. Sie ist nicht in der Lage, sich bei sich selbst aufzuhalten, also auf Distanz, in einer Rückzugsposition, wo sie Vorausschau üben und sich sammeln kann: sie ist eine Bewegung ‚innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‘, wie von Bülow sagt [...], die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt. [...] Sie macht einen Schritt nach dem anderen. Sie profitiert von ‚Gelegenheiten‘ und ist von ihnen abhängig; sie hat keine Basis, wo sie ihre Gewinne lagern, etwas Eigenes vermehren und Ergebnisse vorhersehen könnte. Was sie gewinnt, kann nicht gehortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos die Mobilität – aber immer in Abhängigkeit von den Zeitumständen –, um im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie ist die List selber.“ (Certeau 1988, S. 89)
Während die Strategien determinierend auf das Alltagsleben wirken, indem sie ihm sozusagen einen Rahmen vorgeben, sind es die Taktiken, die das Alltägliche nach de Certeau ausmachen: „Das Alltägliche setzt sich aus allen möglichen Arten des Wilderns zusammen“ (ebd., S. 12). Im Zusammenhang mit den Taktiken spricht de Certeau von Listen, Finten, Coups und Manövern; er zitiert die militärtheoretischen Schriften Carl von Clausewitz’ und des Freiherrn Adam Heinrich Dietrich von Bülow, auf dessen Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet aus dem Grundsatz einer Basis der Operationen auch für Laien in der Kriegskunst von 1798 die Unterscheidung von Strategie als „einer Wissenschaft von kriegerischen Bewegungen außerhalb des Sichtbereichs des Gegners“ und der Taktik als einer kriegerischen Bewegung „innerhalb desselben“ zurückgeht (vgl. Certeau 1988, S. 368, Endnote 14), und fordert dementsprechend eine polemologische, eine „kriegswissenschaftliche Analyse“ (ebd., S. 20) der das Alltägliche charakterisierenden Taktiken: „Es handelt sich um Kämpfe oder Spiele zwischen dem Starken und dem Schwachen und um „Aktionen“, die dem Schwachen noch möglich sind“ (ebd., S. 84). Als paradigmatisches Beispiel für taktisches Handeln führt Certeau das Sprechen an, das im Gegensatz zum Schreiben, das mit der bedruckten Seite Papier einen Ort hat, der es ihm ermög162
Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks licht, die Zeitlichkeit des Schreibens zu transzendieren, und das daher eine Strategie darstellt, zeitlich an den Kontext seiner Ausübung gebunden bleibt. Unter Bezugnahme auf die Sprechakttheorie nennt Certeau vier Merkmale, die jedes Sprechen aufweist: Erstens, jede Äußerung ist eine „Realisierung des sprachlichen Systems [der langue in Saussures dreiteiligem Model der Sprache] durch ein Sprechen [die parole], das seine Möglichkeiten aktualisiert“; zweitens, jede Äußerung ist eine „Aneignung der Sprache durch den Sprecher, der sie spricht“, und da die Sprache dem Sprechen vorgängig ist, ein Wildern auf fremden Terrain; drittens, jede Äußerung konstituiert einen „relationalen Vertrag“, der durch „die Einführung eines (realen oder fiktiven) Gesprächspartners“ – man spricht immer zu jemandem und sei es, zu sich selbst – zustande kommt; und viertens, jede Äußerung stellt eine Gegenwart her, die sie in ihrer Zeitlichkeit organisiert (vgl. Certeau 1988, S. 83f.). Diese Eigenschaften lassen sich auf alle Alltagspraktiken verallgemeinern, so z.B. auch auf das Lesen, das de Certeau ebenso wie der spätere Barthes nicht als einen passiven und unproduktiven Akt der Konsumption versteht, sondern als eine (taktische) Aktivität, als eine „stille Produktion“: „Die Leseaktivität enthält indes tatsächlich alle Züge einer stillen Produktion: das Überfliegen einer Seite, die Metamorphose des Textes durch das wandernde Auge, Improvisation und Erwartung von Bedeutungen, die von einigen Wörtern ausgelöst werden, das Überspringen von Schrifträumen wie in einem flüchtigen Tanz. Aber da der Leser kein Lager anlegen kann (es sei denn, er schreibt oder macht ‚Aufzeichnungen‘), ist er gegen den Zeitverschleiß (er vergißt sich beim Lesen und er vergißt, was er gelesen hat) nur durch den Kauf des Objektes (Buch, Bild) gefeit, welcher nur ein Ersatz (eine Spur oder ein Versprechen) für die beim Lesen ‚verlorenen‘ Augenblicke ist. Er führt die Finten des Vergnügens und der Inbesitznahme in den Text eines Anderen ein: er wildert in ihm, er wird von ihm getragen und mitgerissen, er vervielfacht sich in ihm wie das Rumoren der Organe. Als List, Metapher und Kombinatorik ist diese Produktion auch eine ‚Erfindung‘ von Gedächtnis. Sie macht aus den Wörtern Resultate von stummen Geschichten.“ (Certeau 1988, S. 26f.)
Diese Auffassung des Lesens als einer stillen Produktion von Sinn steht eindeutig im Widerspruch zu der von der Frankfurter Schule, Lefebvre und dem frühen Barthes geteilten „dominant ideology thesis“ (Gardiner 2000, S. 171), der zufolge durch den passiven Konsum ideologisch aufgeladener Texte auf Seiten des Lesers ein falsches Bewusstsein erzeugt wird. Wie der Sprechakt vollzieht
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen sich auch der Leseakt auf einem fremden Terrain, das dieses Mal nicht die Sprache ist, sondern der Text, den der Leser aktualisiert, sich aneignet und aus dem er dabei einen flüchtigen Sinn herstellt, den er nicht in der Lage ist, über den Augenblick des Lesens hinaus zu erhalten, da das Lesen als Taktik über keinen eigenen Ort verfügt, an dem dieser Sinn gelagert werden könnte. Mit der Ablehnung der dominant ideology thesis geht die Notwendigkeit einer Neubewertung der Hervorbringungen der populären bzw. der „Massenkultur“ einher. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen war deren negative Bewertung in den neunzehnhundertfünfziger und -sechziger Jahren über das gesamte ideologische Spektrum der französischen Intelligenzija hinweg konsensfähig. War es auf konservativer Seite ihr vermeintlich minderwertiger ästhetischer Gehalt – wie auch immer man dieses oftmals als objektive Feststellung getarnte stets subjektive Werturteil begründete –, der diese ablehnende Haltung begründete, gab auf marxistischer Seite die Funktion, die den populären Texten, Bildern und Klängen angeblich im Rahmen der Disziplinartechniken zukam, den Ausschlag für deren negative Bewertung. Da diese Funktion von de Certeau bestritten wurde, und weil ein Text, dessen Sinn im Akt des Lesen erst hergestellt wird – und das unter auf diesen Akt einwirkenden Bedingungen, die niemals die gleichen sind –, keine ontologischen Eigenschaften aufweisen kann, ließ sich eine apriorische und prinzipielle Negativbewertung der Erzeugnisse der sogenannten „Massenkultur“ nicht länger aufrecht erhalten. Wie Highmore betont, ging es de Certeau dabei aber nicht um eine generelle Aufwertung der populären Kultur gegenüber der sogenannten „Hochkultur“: „For de Certeau the turn towards studying everyday culture was not about finding new cultural texts to interpret, value and celebrate; instead it was an attempt to focus investigation on the way people operate, the way they ‚practice‘ everyday life. For de Certeau the popular culture of everyday life evidences ‚ways of using the products imposed by a dominant economic order‘ (de Certeau 1984: xiii). Everyday life is the scene of use within ‚a system that, far from being their own, has been constructed and spread by others‘ (de Certeau 1984: 17). What characterizes the everyday for de Certeau is a creativity that responds to this situation. By ‚making do‘ with a ready-made culture, but also, and crucially, by ‚making with‘ this culture (through acts of appropriation and re-employment), everyday life evidences an ‚inventiveness‘. In circumstances limited to the material at hand, everyday life witnesses the creative arrangements and re-arrangements of bricolage: ‚Creativity is the act of reusing and recombining heterogeneous materials‘ (de Certeau 1997b: 49).“ (Highmore 2002a, S. 147f.; Highmore zitiert aus der
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks 1984 erschienenen englischen Übersetzung von L’Invention du quotidien I sowie aus der 1997 veröffentlichten englischen Übersetzung von de Certeaus Aufsatzsammlung La Culture au pluriel von 1974.)
In zweierlei Hinsicht steht de Certeau den Ideen der britischen Cultural Studies näher als denen seiner französischen Vorgänger im Bereich der Alltagstheorie. Zum einen betont er wie deren Vertreter die Widerständigkeit der alltäglichen Praxis des Lesens, wobei Widerstand seiner Vorstellung nach aber – anders als bei vielen Autoren aus dem Umfeld der Cultural Studies – nicht gleichzusetzen ist mit einem bewusst oppositionellen Verhalten. De Certeaus Verwendung des Begriffes gleicht eher der in der Elektronik: Wie die Materialeigenschaften eines elektrischen Leiters dem Fluss von Elektrizität, so setzen Alltagspraktiken wie das Lesen den Vorgaben durch das fremde Terrain, auf dem sie zwangsläufig stattfinden müssen, da sie nicht über ein eigenes verfügen, der bürokratischen Kontrolle und den Versuchen der ideologischen Indoktrination einen gewissen Widerstand entgegen. Dieser kann aber ebenso bewusst oppositionell und innovativ sein wie unbewusst und stur auf Althergebrachtes beharrend. Zum anderen ist es die nicht-normative, quasi kulturrelativistische Einstellung gegenüber den Erzeugnissen der populären Kultur, die de Certeau und den meisten Vertretern der Cultural Studies gemeinsam ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass L’Invention du quotidien zu den in den Cultural Studies am häufigsten zitierten Quellen zählt – vor allem John Fiske nimmt in seinen Arbeiten immer wieder Bezug auf Ideen de Certeaus. Gleichzeitig bezieht sich de Certeau in L’Invention du quotidien I aber auch selbst explizit auf Raymond Williams. Dieser hatte in seinem 1961 erschienenen Buch The Long Revolution die bis dato in der britischen Literaturwissenschaft vorherrschende, häufig als „Leavisism“ bezeichnete Vorstellung von Kultur als dem „Besten was jemals gedacht und gesagt wurde“ – wozu die Hervorbringungen der populären Kultur im Verständnis der Anhänger des Leavisism definitiv nicht zählen – gegen eine aus der Ethnologie übernommene Vorstellung eingetauscht, der zufolge Kultur gerade nicht identisch ist mit dem Besonderen, sondern gewöhnlich, „a particular way of life“ (Williams 1965, S. 57). In The Long Revolution unterscheidet Williams drei Ebenen von Kultur (vgl. Seibt 1994, S. 304f.): Erstens die „gelebte Kultur“ zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, die sich nur denjenigen vollständig erschließt, die zu dieser Zeit an diesem Ort leben; zweitens die „Kultur einer Periode“, die sich aus allen kul-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen turellen Aufzeichnungen einer „gelebten Kultur“ zusammensetzt, egal welcher Art diese sind, von der Kunst bis hin zu den alltäglichsten Gegenständen; und drittens der „Kultur der selektiven Tradition“, die die „gelebte Kultur“ und die „Kulturen der einzelnen Perioden“ miteinander verbindet. Die Beziehungen zwischen diesen drei Ebenen denkt Williams historisch. Jede Zeit ordnet die kulturellen Hinterlassenschaften vorangegangener Perioden neu. Die „gelebte Kultur“ wird von den Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort in ihrer alltäglichen Existenz erfahren. Sie sind die einzigen, die vollen Zugang zu dieser Kultur haben und ihre „structure of feeling“ (ebd., S. 64), ihre „Gefühlsstruktur“ leben. Sobald der historische Moment vergeht, beginnt sich diese spezifische „Gefühlsstruktur“ aufzulösen. Und auch die „Kultur der Periode“ fragmentiert selbst wieder im Prozess der selektiven Tradition, denn – wie Williams in seinem 1958 veröffentlichten Buch Culture and Society, 1780-1950 erklärt: „Es ist wahr, daß die herrschende Klasse bis zu einem gewissen Ausmaß die Übermittlung und Ausbreitung des gesamten Allgemeinerbes [d.i. die ‚Kultur der Periode‘] kontrollieren kann. Wo solch eine Kontrolle existiert, muß sie als eine gegebene Tatsache dieser Klasse angemerkt werden. Es ist auch wahr, daß eine Tradition immer selektiv vorgeht und daß dieser Selektionsprozeß immer dazu neigen wird, in Beziehung zu den Interessen der herrschenden Klasse gebracht bzw. sogar von ihnen beherrscht zu werden.“ (Williams 1972, S. 384).
Aus der Sicht des historisch denkenden Literaturwissenschaftlers kann eine Annäherung an die „gelebte Kultur“ nur auf dem Umweg über die philologische Analyse der kulturellen Aufzeichnungen einer Periode erfolgen. Für die Ethnologie hingegen stellt die „gelebte Kultur“ einer Gesellschaft, ihr „particular way of life“, den ihr eigenen Gegenstand und die Methodologie der Ethnographie die geeignete Zugangsweise zu diesem Gegenstand dar. Daher liegt es nahe, dass eine Wissenschaft des Alltäglichen nicht in einer hermeneutischen Analyse von Texten aufgehen kann, die dem Alltäglichen aufgrund ihres „massenkulturellen“ Charakters zugesprochen werden, sondern dass es sich dabei um eine Ethnographie der Alltagspraktiken handeln muss, die nicht zuletzt in der taktischen Aneignung solcher popularkultureller Texte, aber auch aller anderen Arten von Texten bestehen. „So muß zum Beispiel die Analyse der vom Fernsehen verbreiteten Bilder (Vorstellungen) und der vor dem Fernseher verbrachten Zeit (ein Verhalten)
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks durch eine Untersuchung dessen ergänzt werden, was der Kulturkonsument während dieser Stunden und mit diesen Bildern ‚fabriziert‘. Dasselbe gilt für den Gebrauch des städtischen Raumes, der im Supermarkt gekauften Produkte oder für den Umgang mit den von der Zeitung verbreiteten Berichten und Stories. Diese ‚Fabrikation‘, der hier nachgegangen werden soll, ist eine Produktion, eine Poiesis [weiter in der Endnote 3:] Vom griechischen poiein: ‚schaffen, erfinden, hervorbringen‘.“ (Certeau 1988, S. 13 und S. 361)
Es sind also die „Fabrikationen“ der von de Certeau als Taktiken bezeichneten Praktiken des Sprechens, des Lesens, des Gehens, von deren ständiger „Erfindung des Alltäglichen“ der französische Titel des Buches spricht; in Abgrenzung zu den sich institutionalisierenden Strategien sind sie es, die das Alltägliche im Sinne de Certeaus überhaupt erst hervorbringen. Aber diese „Produktion“, diese „Poiesis“ ist „unsichtbar [...], da sie sich in den von den Systemen der (televisuellen, urbanen, kommerziellen etc.) „Produktion“ definierten und besetzten Bereichen verbirgt“ (ebd., S. 13). Die Probleme, vor die sich eine Wissenschaft gestellt sieht, die versucht, diese Produktion zu erfassen, verdeutlicht de Certeau in einem „Gehen in der Stadt“ überschriebenen Abschnitt aus L’Invention du quotidien I, in dem er die Perspektive, die die Wissenschaften zwangsläufig auf die taktischen Alltagspraktiken (hier: das Gehen) einnehmen, mit derjenigen vergleicht, die er selbst einnimmt, als er während einer USAReise vom 110. Stock des World Trade Centers auf die Stadt New York herunterblickt: „Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr der Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze erfaßt. Wer dort hinaufsteigt, verläßt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. [...] Seine erhöhte Stellung macht ihn zum Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. [...] Der 420m hohe Turm, der das Wahrzeichen von Manhattan bildet, erzeugt weiterhin die Fiktion, die Leser schafft, indem sie die Komplexität der Stadt lesbar macht und ihre undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen lässt.“ (Certeau 1988, S. 180f.)
Aus der Perspektive de Certeaus mag das Lesen des Textes, den die Stadt aus dieser Aufsicht für ihn darstellte, in diesem Augenblick ein taktisches Handeln, eine Praxis seines Alltags gewesen sein, denn natürlich hat auch ein Wissenschaftler ein Alltagsle-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ben. Damit aus einer alltäglichen Beobachtung eine wissenschaftliche Aussage werden kann, ist er aber gezwungen, das taktische Handeln, das im Lesen der Stadt besteht und dessen Produkt ein flüchtiger Sinn ist, in das strategische Handeln des Schreibens eines Textes zu überführen, denn eine wissenschaftliche Aussage braucht einen Ort, an dem dieser Sinn fixiert werden kann. Das erkenntnistheoretische Problem, auf das de Certeau mit seiner Analogie eigentlich aufmerksam machen will, besteht aber darin, dass er aus 420 Metern Höhe zwar die Stadt als eine beobachtbare und repräsentierbare (beschreibbare, zeichenbare, photographier- und filmbare) Textur vor sich liegen sieht, dass ihm das, was das alltägliche Leben unten in den Straßen der Stadt ausmacht, aus dieser Perspektive aber verborgen bleiben muss: „Ist dieses gewaltige Textgewebe, das man da unten vor Augen hat, etwas anderes als eine Vorstellung, ein optisches Artefakt? So etwas ähnliches wie ein Faksimile, das Raumplaner, Stadtplaner oder Kartographen durch eine Projektion erzeugen, welche in gewisser Weise eine Distanz herstellt. Das Panorama-Bild der Stadt ist ein ‚theoretisches‘ (das heißt) visuelles Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustande kommt. Der Voyeur-Gott, der diese Fiktion schafft [...], muß sich aus den undurchschaubaren Verflechtungen des alltäglichen Tuns heraushalten und ihm fremd werden. Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben ‚unten‘ [...], jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ‚Textes‘ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können.“ (Ebd., 181f.)
Auch wenn de Certeau im Vergleich zu den Vertretern einer marxistischen Alltagskritik und zu Foucault und Bourdieu die agency der handelnden Individuen deutlich betont, sind auch für ihn die Sprecher, Leser und Fußgänger in den Straßen der Stadt keine autonomen, stets bewusst handelnden Subjekte. Mehr als um die individuellen bewussten oder unbewussten Motivationen der Akteure, geht es ihm um eine dem taktischen Handeln zugrundeliegende, kollektive und strukturierte operationale Logik, von der diejenigen, die diese Verhaltensweisen ausführen, in der Regel nichts wissen. Certeaus „Wandersmännern“ (und -frauen) bleibt es nicht nur versagt, den städtischen Text zu lesen, den sie durch ihr Gehen kollektiv schreiben, der sich aber nur aus der Aufsicht von einem erhöhten, strategischen und panoptischen Ort aus erkennen lässt, auch die Logik ihres taktischen Handelns, hier des
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks Gehens, muss ihnen nicht bewusst sein, und bestimmt dennoch ihre Praxis. „Man kann davon ausgehen, daß diese vielgestaltigen und fragmentarischen Aktivitäten bestimmten Regeln gehorchen – Aktivitäten, die von der Gelegenheit und vom Detail abhängig sind, die in den Apparaten, deren Gebrauchsanweisungen sie sind, stecken und sich verstecken und die somit keine Ideologie oder eigene Institutionen haben. Anders gesagt, es muß eine Logik dieser Praktiken geben. […] Diese Praktiken bringen eine ‚populäre‘ ratio ins Spiel, eine Art und Weise, das Denken auf das Handeln zu beziehen, eine Kombinationskunst, die untrennbar von einer Kunst im Ausnützen ist.“ (Certeau 1988, S. 17)
Unfähig, selbst den Augenblick zu transzendieren, in dem sie ausgeführt werden, rekurrieren die taktischen Handlungsweisen auf ein kollektives Gedächtnis, in dem die laut de Certeau Jahrtausende alte Grammatik des taktischen Handelns gespeichert ist (vgl. Gardiner 2000, S. 177). Sich auf fremdem Terrain vollziehend, das der Akteur selber nicht gestalten kann, bedeutet sein taktisches Handeln stets, den geeigneten Moment (kairos) zu nutzen: „Kairos is inseparable from particular occasions and circumstances. Certeau adopts and develops this concept in terms of a particular form of memory. Although ‚grasping the right moment‘ is not dependent on a force deriving from another place, it does not quite happen ex nihilo. It depends on a form of unsystematic memory, inseparable from the particular occasions that have nurtured it.“ (Sheringham 2006, S. 219)
Selbst wenn sich der Ethnograph zu seiner Erkundung in die Straßen der Stadt hinab begibt, ist diesem unsystematischen Gedächtnis, das in de Certeaus Worten ein „Denken [ist], das sich nicht selber denkt“ (ebd., S. 18), ein „Wissen [, das] nicht gewußt“ wird (ebd., S. 147) – die Parallele zu Bourdieus Habitus-Konzept ist hier offenkundig –, mit den herkömmlichen ethnographischen Methoden, die ihm zur Verfügung stehen – der teilnehmenden Beobachtung des Anderen, Interviews, Fragebögen etc. – nicht beizukommen. Er kann zwar beobachten, dass dieser Andere geht, aber die Logik hinter dieser alltäglichen Praxis wird sich ihm durch Beobachtung alleine nicht erschließen; und wie soll der Andere ihm etwas über diese Logik erzählen, wenn er selbst nichts davon weiß? Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass es sich bei dem ungewussten Wissen, das in diesem unsystematischen Gedächtnis gespeichert ist, nicht um eine, allen All-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen tagspraktiken gleichermaßen zugrundeliegende Logik handeln kann, sondern dass von multiplen, eventuell sogar widersprüchlichen Logiken ausgegangen werden muss. Da sich taktisches Handeln stets nach den konkreten Gegebenheiten des Augenblicks richten muss, in dem es sich vollzieht, kann es keine eindeutig formulierbare, stets anwendbare Regel dafür geben – in dieser Hinsicht widerspricht de Certeaus Auffassung derjenigen Bourdieus, für den die der Praxis zugrundeliegende Logik durch das nicht auf den einzelnen Augenblick beschränkte soziale Feld bestimmt wird, innerhalb dessen sie sich vollzieht (vgl. Gardiner 2000, S. 170). Am Beispiel des Sprechaktes weist de Certeau selbst auf den Widerspruch hin, den eine wissenschaftliche Erfassung – die per se strategisches Handeln voraussetzt – von Alltagspraktiken darstellt: In dem Moment, in dem taktisches Handeln seiner Zeitlichkeit und des konkreten Kontextes, in dem es sich ereignet, enthoben wird und an einem Ort fixiert wird, indem es z.B. beschrieben, photographiert, gefilmt wird, hört es auf alltäglich zu sein, denn es ist ja gerade sein taktischer Charakter, der es alltäglich sein lässt. „Der Nachteil dieser Methode – und gleichzeitig ihr Erfolg – besteht darin, die Dokumente ihres historischen Kontextes zu entkleiden und die Operationen der Sprecher ohne ihre speziellen Umstände in Zeit, Raum und Wettbewerb zu behandeln. Die alltäglichen Sprachpraktiken (und der Bereich ihrer Taktiken) müssen eliminiert werden, damit die wissenschaftlichen Praktiken in ihrem eigenen Bereich zur Anwendung kommen können. Man berücksichtigt also nicht die tausend verschiedenen Möglichkeiten, ein Sprichwort in einem bestimmten Moment oder gegenüber einem bestimmten Gesprächspartner ‚gut anzubringen‘. Diese Kunst und ihre ‚Macher‘ werden vom Forschungsinstitut nicht nur deshalb abgelehnt, weil jede wissenschaftliche Tätigkeit eine Begrenzung und Vereinfachung ihrer Gegenstände verlangt, sondern auch weil die Schaffung eines wissenschaftlichen Ortes, die jeder Analyse vorausgeht, mit der Notwendigkeit einhergeht, die Studienobjekte an diesen Ort transferieren zu können. Es kann nur behandelt werden, was transportierbar ist. Was nicht entwurzelt werden kann, bleibt definitiv draußen. Daher das Privileg, das diese Studien dem Diskurs beilegen; er ist die einzige Sache auf der Welt, die man ganz leicht einfangen, aufzeichnen, transportieren und an sicheren Orten behandeln kann, während der Sprechakt nicht von seinen Umständen losgelöst werden kann. Von den Praktiken selber bringt man nur die Ausstattung mit (Werkzeuge und Produkte, die man in Vitrinen stellen kann) oder Beschreibungsmodelle (meßbare Verhaltensweisen, Stereotypen von Inszenierungen, rituelle Strukturen); die unentwurzelbare Eigentümlichkeit einer Gesellschaft wird beiseite gelassen.“ (Certeau 1988, S. 63f.)
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks Die Analogie zwischen de Certeaus Dichotomie von den alltäglichen Taktiken und den das Alltägliche hinter sich lassenden Strategien und Freuds Dichotomie vom Unbewussten und Bewussten liegt nahe: auch der ins Unbewusste verdrängte psychische Inhalt hört in dem Moment, in dem die Verdrängung im Verlaufe einer erfolgreichen psychoanalytischen Therapie aufgehoben und der Inhalt bewusst gemacht worden ist, auf unbewusst zu sein. Das bedeutet, um Erkenntnisse über das Unbewusste zu erlangen, müssen seine Inhalte ihrer Unbewusstheit entledigt werden, obwohl doch gerade diese Eigenschaft an ihnen von Interesse ist. Vor einem vergleichbaren Problem wie die Psychoanalyse steht auch eine Wissenschaft des Alltäglichen. Um die taktischen Handlungsweisen zu analysieren, die das Alltägliche konstituieren, muss sie sie gerade der Eigenschaften berauben, die ihre Alltäglichkeit ausmachen: ihrer Zeitlichkeit und ihrer Gebundenheit an einen Ort, auch wenn dieser nicht der eigene ist. Hält man sich vor Augen, wie sich das Unbewusste in dem von Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens geschilderten Fall von Namensvergessen in einer durchaus bewusst geführten Unterhaltung über italienische Maler Bahn bricht, leuchtet ein, warum eine topographische Vorstellung der psychischen Instanzen, der zufolge ein psychischer Inhalt sich entweder am Ort des Unbewussten oder am Ort des Bewusstseins befinden muss, dem Verständnis der psychischen Prozesse nicht zuträglich ist. Wie in Barthes Die helle Kammer das punctum keine zum studium alternative Lesart darstellt, sondern das studium einer Photographie unwillkürlich durchbricht, ohne es deshalb unmöglich zu machen oder an seine Stelle zu treten, so interferiert der ins Unbewusste verdrängte Inhalt – der Tod des Patienten, von dem Freud in Trafio erfuhr – mit dem des bewusst geführten Gesprächs im Bahnabteil, ohne selbst dadurch bewusst zu werden. Highmore weist auf den leicht misszuverstehenden Gebrauch hin, den de Certeau von binären, aber nicht als Oppositionen gedachten Begriffen macht, um einer vergleichbaren Problematik zu entgehen – niemand kann gleichzeitig von der 110. Etage eines Wolkenkratzers aus die Straßen der Stadt beobachten und auf ihnen umherwandern. „De Certeau plays a tricky game. In trying to escape from the reductive language of ‚bipolar‘ thought his writing insists on employing a series of binary terms […] consumption versus production; reading versus writing; tactics versus strategies; space versus place; the spoken versus the written. What makes de Certeau’s manoeuvre so awkward (and seemingly so easy to mis-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen take) is this use of binary terms to challenge the structures of binary thought. Semantically overlapping, terms such as ‚strategies and tactics‘ refuse to be straightforward antagonists in a debate about power and resistance. Instead they allow […] the opportunity for differentiation. What de Certeau’s work employs are non-oppositional binary terms. […] Consumption in this account is essentially a form of production, while a ‚centralized‘ production can only be thought of as a form of expansionist consumption. In establishing such terms, de Certeau destroys the very ground that would separate them, but not in an act of de-differentiation. In privileging consumption, de Certeau works towards a differentiation of production: productions become multiple; whole networks of different productive assemblages emerge.“ (Highmore 2002a, S. 154f.)
So wie sich Spuren des Unbewussten in unserem bewussten Verhalten nachweisen lassen, so lassen sich auch Spuren taktischen Handelns in den Produkten strategischen Handelns feststellen. Um diesen Sachverhalt zu illustrieren, berichtet de Certeau von seinem Besuch eines Freilichtmuseums in Shelburne, Vermont, in dem historische Gebäude aus verschiedenen Gegenden Vermonts zu einem Museumsdorf zusammengestellt wurden, und verwendet dabei erneut eine nicht-oppositionelle Dichotomie, wenn er von der Präsenz des Abwesenden spricht. „Ich erinnere mich an das wunderschöne Shelburne Museum (Vermont, U.S.A.), wo in den fünfunddreißig Häusern eines wiederaufgebauten Dorfes alle Zeichen, Werkzeuge und Produkte des Alltagslebens aus dem 19. Jahrhundert herumlagen: vom Küchengerät und Apothekertresen bis zum Webstuhl, den Wachutensilien und Kinderspielzeugen. Die Unzahl dieser vertrauten Dinge – abgegriffen, deformiert oder durch den Gebrauch verschönt – vermehrte auch die Spuren von regsamen Händen und arbeitsamen oder geduldigen Körpern, für die diese Dinge ein alltägliches Bezugssystem bildeten: eine eindringliche Präsenz von überall spürbaren Abwesenden. Zumindest versetzte einen dieses mit im Stich gelassenen und zusammengesammelten Gegenständen vollgestopfte Dorf in das ordentliche Gebrabbel von hundert vergangenen oder möglichen Dörfern zurück; und angesichts dieser Spuren, die zu Tausenden von Existenzkombinationen verschachtelt waren, konnte man ins Träumen geraten. Sprichwörter und andere Diskurse sind genauso wie Werkzeuge durch den Gebrauch gekennzeichnet; sie bieten der Analyse Abdrücke von Handlungen oder von Sprechvorgängen; sie bezeichnen die Operationen, deren Gegenstand sie gewesen sind, also Operationen, die von den Umständen abhängig sind und die als jeweilige Modalisierungen der Aussage und der Praxis betrachtet werden können; im weitesten Sinne verweisen sie also auf eine gesellschaftliche Geschichtlichkeit, in der die Vorstellungssysteme oder die Fabrikationsprozesse nicht mehr nur als ein normativer Rahmen erscheinen, sondern als Werkzeuge, die von denen, die sie gebrauchen, gehandhabt, manipuliert werden. (Certeau 1988, S. 64f.)
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Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks Stellt sich die Frage, wie eine Wissenschaft vom Alltäglichen, die, weil sie Wissenschaft ist, strategisches Handeln voraussetzt, zu verfahren hat, um Produkte zu schaffen – schriftliche Ethnographien, Grafiken, Photographien, Filme oder Museumsausstellungen –, in denen möglichst viele und deutliche Spuren des taktischen Handelns, das das Alltägliche ausmacht, zurückbleiben. Nach de Certeau gilt es, eine Poetik des Alltäglichen zu schaffen, die selbst kreativ genug auf die jeweiligen Gegebenheiten reagieren kann, um in der Lage zu sein, die die taktischen Alltagspraktiken charakterisierenden kreativen Aneignungen des NichtEigenen angemessen wiederzugeben. Wie vor ihm schon Lefebvre sieht auch de Certeau im literarischen Schreiben, das spätestens seit dem realistischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts die Erzählung des Partikulären pflegt, das geeignetere Modell für eine solche Poetik des Alltäglichen, als im wissenschaftlichen Schreiben, das seinen Genrekonventionen gemäß dazu neigt, das für die alltäglichen Praktiken kennzeichnende Partikuläre zugunsten einer Metasprache aufzugeben, der es um die Repräsentation des Allgemeingültigen zu tun ist (vgl. Certeau 1988, S. 144ff. und Gardiner 2000, S. 175). In diesem Zusammenhang ist es auch auffällig, dass sowohl Leiris (immer) als auch Barthes (später) ihre Tätigkeit mindestens ebenso sehr als die eines Schriftstellers wie als die eines Wissenschaftlers verstanden haben. Eine genaue Anleitung, wie diese Poetik als Methodologie einer Wissenschaft vom Alltäglichen beschaffen sein sollte, findet sich allerdings auch bei de Certeau nicht und kann sich dort vielleicht auch gar nicht finden, weil sich die Methoden zur strategischen Erfassung und Repräsentation von Alltagspraktiken je nach Art des taktischen Handelns, um das es dabei geht, unterscheiden müssen. Auch das methodische Vorgehen von Luce Giard und Pierre Mayol, die sich im zweiten, 1994 erschienenen Teil von L’Invention du quotidien mit der jeweiligen Logik zweier weiterer Alltagspraktiken, des Wohnens und des Kochens, befassen, ist nicht identisch und kann es, da es die eine, allen Alltagspraktiken zugrundeliegende Logik de Certeau zufolge nicht gibt, auch gar nicht sein. Das bedeutet, dass auch im Hinblick auf eine Musikwissenschaft des Alltäglichen nun, da sich abzeichnet, womit sie es zu tun haben wird, eine eigene Methodologie zu entwickeln sein wird. Doch zuvor gilt es, ihren Gegenstand genauer zu definieren.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen
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Entwurf einer Musikwissenschaft des Alltäglichen
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Vincent Delerm: I was a fan and I still really am singing along to my favourite song greatest thing I’ve heard but I didn’t get a word Neil Hannon: J’ai écouté toutes ces chansons françaises je ne savais pas ce qu’est une javanaise un poinçonneur des lilas ça veut dire quoi Vincent Delerm: I studied the booklet and searched for a sign made up a meaning of every line and a four letter word l.o.v.e. Neil Hannon: J’ai écouté allongé sur mon lit avec le temps alors tout s’évanouit c’est quoi un cheval fourbu j’ai jamais su
Vincent Delerm [Frankreich] mit Neil Hannon [UK], Auszug ausdem Text zu „Favourite Song“ (von der CD Les piqûres d’araignée, tôt Ou tard/vf musiques 2006)
Der Sinn des Augenblicks: Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen In diesem Augenblick, von dem ich hoffe, dass er in der Lage sein wird, dem Nährboden zu entsteigen, den für Lefebvre das Alltägliche darstellt – eine Musikwissenschaft des Alltäglichen kann selbst nicht alltäglich sein! –, sehe ich mich in der Lage, genauer zu bestimmen, worum es in meinem Projekt geht. Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ist ein Handeln, ein Akt,
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen und das bedeutet in erster Linie, dass es nicht um einen musikalischen Text geht, wie er üblicherweise den Gegenstand der Musikwissenschaft darstellt. Musikalisch ist dieser Akt aber deshalb, weil er sich an einem solchen Text vollzieht. Das bedeutet keineswegs, dass all das, was mitunter auch vorschnell und unreflektiert als Musik bezeichnet wird, zwangsläufig Textcharakter aufweisen muss. In der Geschichte der Musikethnologie z.B. gibt es nicht nur einen Fall, in dem die Frage, ob die außereuropäischen Klangproduktionen, um die es geht, auch in den Augen derjenigen, die sie hervorbringen, Textcharakter aufweisen und deshalb zurecht mit dem europäischen Begriff „Musik“ bezeichnet werden, der diesen Textcharakter konnotiert, gar nicht erst gestellt wurde. Gerade die unhinterfragte Annahme, Musik sei Text, hat ja dazu geführt, dass das aus dem Blickfeld der Musikwissenschaft geraten ist, was eine Musikwissenschaft des Alltäglichen als Gegenstand überhaupt erst zu rehabilitieren versucht. Aber wie Lefebvre gezeigt hat, ist das Alltagsleben als Residualkategorie das Resultat eines historisch und damit zwangsläufig auch kulturell spezifischen Selektionsprozesses. Und in den Gesellschaften, in denen sich dieser Prozess im Siegeszuge des Rationalismus, des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des „persönlichen Lebens“ initial vollzogen hat, also in den so genannten modernen, westlichen Industrienationen, wird Musik nun einmal Textcharakter zugesprochen. Es ist also davon auszugehen, dass der alltägliche Umgang mit Musik, um den es einer Musikwissenschaft des Alltäglichen zu tun ist, ein Umgang mit musikalischen Texten ist, was nicht bedeutet, dass sich die sozialen Akteure dieses Textcharakters und seiner Implikationen unbedingt bewusst sein müssen. Aber schon der „alltägliche“ Sprachgebrauch zeigt, dass wenn von „Musik“ die Rede ist, ein musikalischer Text gemeint ist, der als das Eigentliche angesehen wird, während die Verhaltensweisen, die nötig sind, um diesen Text hervorzubringen, und die ideellen Konzepte, die diesen Verhaltensweisen ebenso zugrunde liegen wie der Rezeption von Musik, zwar „musikalisch“ sind, aber eben nicht „Musik“. So bekommt man, wenn man als Musikwissenschaftler vornehmlich über musikalisches Verhalten oder musikalische Konzepte spricht, auch nicht selten zu hören, man sage zu wenig über „die Musik an sich“ und beschäftige sich zu sehr mit dem „Außermusikalischen“. Und das verhält sich im Deutschen nicht anders als im Französischen oder im Englischen. Das dreiteilige Modell bestehend aus den dialektisch aufeinander bezogenen Instanzen musikalischen Verhaltens, musikalischen Klangs und musikali-
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Der Sinn des Augenblicks scher Konzepte, das Alan P. Merriam 1964 in The Anthropology of Music entwarf, um musikalischen Wandel zu erklären (vgl. S. 32), zeugt ebenso von der empfundenen Notwendigkeit, dem schon sprachlich institutionalisierten Primat der Texthaftigkeit von Musik etwas entgegenzusetzen oder wenigsten beizufügen, wie Christopher Smalls 1998 geprägter Neologismus musicking (vgl. Small 1998). Trotz aller erkenntnistheoretischen Bemühungen von Seiten einzelner Musikwissenschaftler scheint sich in dem Zeitraum von vierunddreißig Jahren, der zwischen diesen beiden Publikationen liegt, wie nicht anders zu erwarten wenig an dem geändert zu haben, was über Jahrhunderte in den europäischen Sprachen und Kulturen zementiert worden ist. Natürlich geht es hier aber auch gar nicht darum, etwas an dem Primat der Texthaftigkeit von Musik zu ändern, sondern darum, sich ihrer bewusst zu werden und entsprechende epistemologische Konsequenzen daraus zu ziehen. Eine Musikwissenschaft des Alltäglichen, deren Gegenstand ein musikalischer Akt ist, also ein an einem musikalischen Text vollzogener Akt, ist in jedem Fall eine Performanzwissenschaft und verhält sich zu einer Musikwissenschaft, deren Gegenstand der musikalische Text selbst ist, wie die Sprechakttheorie zur Texthermeneutik. Während es letzterer darum geht, was gesagt wird, ist erstere daran interessiert, dass etwas gesagt wird und zwar unter bestimmten Umständen. Dabei ist überhaupt nicht egal, was gesagt wird, aber der Sprechakt erschöpft sich nicht in dem Gesagten. Die Äußerung des gleichen Textes kann unter verschiedenen Umständen unterschiedliche Akte darstellen. Die Äußerung „Ich liebe Dich“ – um bei Lefebvres bevorzugtem Beispiel für ein Moment zu bleiben – gegenüber einem geliebten Menschen, den man soeben geküsst hat, stellt einen grundlegend anderen Akt dar und hat andere Auswirkungen als die Äußerung der gleichen Worte durch einen Sänger, der sie auf der Bühne des Frankfurter Waldstadions in ein Mikrofon singt. Nach Austin (vgl. 2002) setzt sich jeder Sprechakt aus drei gleichzeitig vollzogenen Akten zusammen: einem lokutionären Akt, der darin besteht, dass man etwas aussagt (dass man z.B. die Worte „Ein wirklich schönes Lied!“ ausspricht); einem illokutionären Akt, der darin besteht, dass man, indem man diese Worte ausspricht etwas tut, das durch Konventionen geregelt ist (nämlich von einem Stück Musik schwärmt); und einem perlokutionären Akt, der darin besteht, dass man, indem man etwas tut, das konventionell geregelt ist, etwas bewirkt, für das es keine kla-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen re konventionelle Regelung gibt (z.B. denjenigen, dem gegenüber ich von dem Lied geschwärmt habe, dazu zu bringen, sich dieses bei nächster Gelegenheit aus dem Internet herunter zu laden ... oder sich genervt von mir abzuwenden, weil er meine ständige Schwärmerei für immer neue Songs satt hat ... oder gerade diesen Song in Zukunft zu meiden, weil er weiß, dass mein Musikgeschmack und der seine nicht kompatibel sind.) Wie für die Analyse eines Sprechaktes sind auch für die Analyse eines an einem musikalischen Text vollzogenen Aktes die Umstände des Augenblicks, in dem er sich vollzieht, entscheidend. Um mich von der Privilegiertheit abzugrenzen, die ein Charakteristikum sowohl des Lefebvreschen Begriffs des Moments als auch von Debords Situation darstellt, habe ich an dieser Stelle bewusst den in dieser Hinsicht neutraleren Begriff des Augenblicks gewählt, der auch in der deutschen Übersetzung von de Certeaus L’Invention du quotidien des Öfteren gebraucht wird, ohne dass er dort allerdings in den Rang eines terminus technicus erhoben würde. Anders als Lefevbre und die Situationisten, die ihre Auseinandersetzung mit dem Alltagsleben von vornherein als ein kritisches marxistisches Projekt angelegt hatten, verstehe ich eine Musikwissenschaft des Alltäglichen wie de Certeau zunächst einmal als ein ethnographisches Unterfangen. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Ethnographie des alltäglichen Umgangs mit Musik per se unkritisch sei – das Gegenteil ist der Fall, wie nicht zuletzt das immer noch Unfrieden stiftende Potential beweist, das der ihr immanente Kulturund sogar Individualrelativismus in sich birgt. Im Gegensatz zu Lefebvre und den Situationisten, vor allem aber zu Adorno und Horkheimer und ihrer in der Musikwissenschaft bis heute wirkmächtigen Kulturindustrietheorie, soll hier aber nicht a priori davon ausgegangen werden, dass der alltägliche Umgang mit Musik durch Entfremdung gekennzeichnet ist. Gerade weil er bislang keinen prominenten Gegenstand in der Musikwissenschaft darstellt und wir folglich wenig über ihn wissen, soll der Zugang zum alltäglichen Umgang mit Musik nicht auf Grundlage einer Prämisse erfolgen, die sich zwar zwingend aus der Anwendung der marxistischen Theorie auf diesen Gegenstand ergibt, von dem wir aber noch gar nicht wissen, ob er mithilfe der marxistischen Theorie überhaupt erklärbar ist. Angesichts der Allgegenwärtigkeit des Schlagwortes vom acoustic turn, im Zuge dessen das „das westliche Denken“ insgesamt und das wissenschaftliche Denken im Besonderen beherrschende visuelle Paradigma in Frage gestellt wird, bin ich mir dabei natürlich völlig über die Problematik im Klaren, die der Begriff des Au-
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Der Sinn des Augenblicks genblicks gerade im Hinblick auf eine Musikwissenschaft des Alltäglichen aufwirft. Vor allem um deren marxistische Konnotationen zu vermeiden, habe ich mich aber dennoch dazu entschlossen, ihn hier den Begriffen des Moments und der Situation vorzuziehen. Der oben vollzogenen Gegenstandsbestimmung einer Musikwissenschaft des Alltäglichen (und der vierten der von de Certeau genannten Kriterien für taktisches Handeln) gemäß ist es der musikalische Akt selbst, der die Einheit dieses Augenblickes definiert. Wie die situationistische Situation und – wenn man Lefebvres spätere Hinwendung zur Raumsoziologie als eine Reaktion auf die situationistische Kritik an seiner Theorie des Moments versteht – in letzter Instanz auch der Lefebvresche Moment ist auch der Augenblick wesentlich spatio-temporal, d.h. (gelebte) Zeit und (sozialer) Raum bilden die Koordinaten, innerhalb derer er sich unweigerlich abspielt. Auch wenn sich de Certeau zufolge das taktische Handeln, das der musikalische Akt darstellt, auf fremdem Terrain ereignet, über das es nicht selbst verfügen kann, weil es nicht sein eigenes ist, wirkt sich dieses Terrain doch prägend auf dieses Handeln aus. Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ist also ein musikalischer Akt, der nicht losgelöst von den Umständen eines räumlich und zeitlich zu konkretisierenden Augenblicks zu denken ist, in dem er sich abspielt und den er als Einheit überhaupt erst konstituiert. Da es sich um einen Akt handelt, der an einem musikalischen Text vollzogen wird, lässt sich auch die Art dieses Aktes genauer bestimmen. Es geht um einen Lesakt! Und das bedeutet nicht zuletzt, dass es nicht um einen Akt des Schreibens geht – und, wie gehabt, erst recht nicht um dessen Produkt, einen Text! Wie de Certeau gezeigt hat, hat das Lesen als taktisches Handeln, anders als das strategische Schreiben, das den Text hat, keinen Ort, an dem es das, was es produziert, aufbewahren könnte. Das heißt, dass es sich als Akt völlig in dem Augenblick erschöpft, in dem es sich vollzieht. Das Lesen hat eine konkrete Zeitlichkeit, die es nicht transzendieren kann, ohne seine Alltäglichkeit zu verlieren, denn gerade die Fähigkeit, die eigene Zeitlichkeit zu transzendieren, ist das entscheidende Kriterium in dem Selektionsprozess, als dessen Rückstand die Kategorie des Alltäglichen nach Lefebvre überhaupt erst entstanden ist. Produkt dieses im Sinne de Certeaus als die Aneignung von Elementen eines Systems, das nicht das eigene ist, verstandenen Lesaktes ist ein ephemerer, auf den Augenblick der Ausübung beschränkter
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Sinn. „Sinn“ ist dabei durchaus auch semantisch als „Bedeutung eines Zeichens oder einer Kombination von Zeichen“ gemeint, im Hinblick auf das Projekt einer Musikwissenschaft des Alltäglichen kann aber nicht a priori davon ausgegangen werden, das dieser Sinn in jedem Falle sprachlicher Natur ist oder sich überhaupt sprachlich repräsentieren lässt. Ganz im Sinne von de Certeaus nicht-oppositionellem Gebrauch binärer Begriffe stellt auch das Musizieren und sogar das Schreiben von Musik, in dem Augenblick, in dem es sich vollzieht, also solange es noch ein Handeln ist und noch keine Aufnahme und kein Notentext, einen solchen Lesakt dar. Auch die „Intention des Autors“ ist eine an den Augenblick gebundene Sinnproduktion, die sich an dem Text vollzieht, den er gerade im Begriff ist herzustellen. Denn wie Barthes in „Der Tod des Autors“ gezeigt hat, ist nicht davon auszugehen, dass diese Intention ohne weiteres dazu in der Lage ist, den Text als Ort für sich einzunehmen und, ihn gleichsam als Vehikel nutzend, die Zeitlichkeit seiner Produktion zu transzendieren. Weil sich Produktion und Konsumption nicht grundsätzlich ausschließen und weil auch das Lesen nicht passives Konsumieren ist, sondern eine „stille Produktion“, die einen Sinn hervorbringt, müsste in einer Musikwissenschaft des Alltäglichen also jeder musikalische Akt, egal ob er im Machen, Hören oder sogar Schreiben von Musik besteht, als ein Lesakt verstanden werden, solange er den Rahmen des Augenblicks nicht transzendiert. Den Begriff des Rahmens, der den durch den Lesakt eines musikalischen Textes konstituierten Augenblick umfasst, gilt es an dieser Stelle erst noch einzuführen, denn er stammt im weiteren Sinne aus jener anderen intellektuellen Tradition der Beschäftigung mit dem Alltagsleben, die, wie zuvor bereits vermerkt, hier nicht berücksichtigt wurde, da sie das Alltagsleben als eine objektiv gegebene Realität versteht und daher auf eine Problematisierung der Kategorie und eine Definition des Begriffes weitgehend verzichtet hat. Natürlich bedeutet dies aber nicht, dass nicht auch in dieser Denktradition Konzepte und Methoden entwickelt worden sind, die sich im Kontext eines Entwurfs einer Musikwissenschaft des Alltäglichen als nützlich erweisen könnten. Vor allem das Werk Erving Goffmans, der 1959 mit The Presentation of Self in Everyday Life (dt. 2003, Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag) einen der einflussreichsten Beiträge zur akademischen Literatur über das Alltagsleben überhaupt veröffentlichte, scheint besonders gut anbindbar an die aus der Beschäftigung mit dem französischsprachigen Diskurs über das All-
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Der Sinn des Augenblicks tägliche gezogenen theoretischen und methodologischen Konsequenzen. Den Begriff des Rahmens (frame) führt Goffman in seinem 1974 erschienenen Buch Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience (dt. 1977, Rahmen-Analyse: Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen) ein (vgl. auch Seibt 2010). Als Rahmen bezeichnet Goffman darin die kulturell erlernten Interpretationsschemata, auf die wir zurückgreifen, wenn wir eigentlich ständig implizit oder explizit vor der Frage stehen: „Was geht hier eigentlich vor?“: „Ich gehe davon aus, dass Menschen, die sich gerade in einer Situation befinden, vor der Frage stehen, was geht hier eigentlich vor? Ob sie nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung und Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewissheit besteht – die Frage wird gestellt, und die Antwort ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen.“ (Goffman 1977, S. 16)
Ohne eine Rahmung wäre jedwede Handlung unbestimmbar, schreibt der Regensburger Soziologe Robert Hettlage. Dabei sind unter Rahmen „nicht nur raum-zeitliche Vorgaben zu verstehen [...], sondern alle Ereignisbestimmungen, unausgesprochenen Informationen und Welterfahrungen, die einzuordnen erlauben, was innerhalb und was außerhalb einer Situation stattfindet“ (Hettlage 1999, S. 194). „Rahmen“ sind zugleich die Voraussetzung für und das Ergebnis von sozialer Interaktion. Auf Grundlage spezifischer Rahmungshinweise wie räumlichen und zeitlichen Klammern wird ein bestimmtes Ereignis als solches erkannt; gleichzeitig fungiert der Rahmen als Organisationsprinzip für das jeweilige Ereignis, gliedert seinen Ablauf, das Ausmaß unserer persönlichen Anteilnahme daran, das Verhältnis der an dem Ereignis Beteiligten zueinander und anderes mehr. „Wenn der einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis erkennt, neigt er dazu [...] seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. [...] Dabei sind ihm die Organisationseigenschaften des Rahmens im allgemeinen nicht bewusst, und wenn man ihn fragt, kann er ihn auch nicht annähernd vollständig beschreiben, doch das hindert nicht, dass er ihn mühelos und vollständig anwendet.“ (Goffman 1977, S. 31)
Goffman unterscheidet die primären Rahmen in natürliche und soziale Rahmen. Mit Hilfe von natürlichen Rahmen werden nicht
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen gerichtete, von keinem handelnden Akteur gelenkte Ereignisse identifiziert, deren Ursachen „rein physikalisch“ erklärt werden können; „Gewitter“ wären ein Beispiel. Soziale Rahmen hingegen „liefern einen Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Motive, Absichten und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Menschen, beteiligt sind“ (Eberle 1991, S. 184). Die Nähe von Goffmans Idee des sozialen Rahmens zur Sprechakt-Theorie ist offenkundig – nicht von ungefähr findet sich ein Auszug aus seiner Rahmen-Analyse unter den Beiträgen, die Uwe Wirth in seinem in die Performanztheorie einführenden Sammelband Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft (2002) zusammengestellt hat. In Austins Terminologie ließe sich der soziale Rahmen als eine der Konventionen verstehen, deren Vorhandensein den illokutionären Akt vom perlokutionären Akt unterscheidet. Es ist der Rahmen, der vorgibt, als was die Äußerung der Worte „Ich liebe Dich“ im jeweiligen Falle zu verstehen ist: als ein aufrichtig gemeintes Gefühlsbekenntnis, das der Beziehung zweier Menschen zueinander eventuell eine neue Dimension eröffnet, weil durch die Äußerung eine Verbindlichkeit entsteht, die es zuvor in dieser Beziehung noch nicht gegeben hat; oder als Bestandteil eines Liedtextes, der in dem Augenblick, als er verfasst wurde, vielleicht auch an eine bestimmte Person gerichtet war, der gegenüber der oder die Textende aufrichtige Gefühle hegt(e), der nun aber vor einem Publikum vorgetragen wird, in dem sich im Normalfall jede(r) Einzelne sehr wohl darüber bewusst ist, dass der Sänger, der nicht unbedingt auch der Texter sein muss, dieses Gefühl in dem Augenblick, in dem er die Worte äußert, nicht unbedingt wirklich empfindet, und dass der oder die Zuhörer(in) nicht der Adressat/die Adressatin dieser Worte ist. Der Umstand, mit seinem Partner zu zweit an einem mit Kerzen beleuchteten Tisch beim kleinen Italiener um die Ecke zu sitzen oder im Publikum des städtischen Theaters, auf dessen Bühne vielleicht eine eben solche Szene zu sehen ist – ein Paar, das zu zweit beim kleinen Italiener um die Ecke sitzt – entscheidet darüber, wie die Äußerung dieser identischen drei Worte verstanden wird. In letzterem Falle werde ich nicht nur nicht davon ausgehen, dass sie mir gelten könnten, sondern sogar davon nicht, dass sie von dem, der sie äußert, derjenigen Personen, der gegenüber sie geäußert werden, aufrichtig gemeint sind, weiß ich doch, dass es sich bei den beiden auf der Bühne um Schauspieler handelt, die in Rollen geschlüpft sind. Ohne die Rahmenbedingungen zu kennen, in denen eine Äußerung gemacht wird, kann
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Der Sinn des Augenblicks man also nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass man ihre Bedeutung erfasst hat. Der auf der Bühne des Stadttheaters dargestellte Italiener um die Ecke, an dessen Tisch die drei Worte ausgesprochen werden, stellt nach Goffman im Gegensatz zu dem tatsächlichen kleinen italienischen Restaurant um die Ecke keinen primären Rahmen, sondern einen transformierten Rahmen dar. Goffman nennt zwei grundsätzliche Arten der Transformation von Rahmen: Modulation, keying im Original, und Täuschungen, fabrications. Unter einem Modul versteht Goffman... „[...] das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation. Eine gewissen Analogie zur Musik ist beabsichtigt.“ (Goffman 1977, S. 55f.)
Als Formen der Modulation nennt er „So-tun-als-ob“ (im Spiel, als Scherz oder auf Grundlage eines „dramatischen Drehbuchs“), Wettkämpfe, Zeremonien, Sonderausführungen (z.B. zum Zwecke des Einübens, zu Demonstrationszwecken, zur Dokumentation oder als Experiment) und „In-anderen-Zusammenhang-stellen“ (die Aktivitäten z.B., die ein Soziologe oder Ethnologe während der Feldforschung ausführt, mögen sich phänomenlogisch zwar nicht von denen unterscheiden, die auch die Angehörigen der von ihm beobachteten Gesellschaft ausführen, als Bestandteil einer teilnehmenden Beobachtung stehen sie aber in einem anderen Zusammenhang). Ein besonders komplexer Transformationsvorgang, mehr als eine einfache Modulation aber weniger als eine Täuschung, liegt dem Theaterrahmen zugrunde, dem Goffman ein ganzes Kapitel in seinem Buch widmet. Als zweite Form der Transformation von Rahmen nennt Goffman die Täuschungen. Während die Modulation definitionsgemäß eine offen zugegebene Transformation ist, steht hinter der Täuschung „das ausdrückliche Bemühen einiger, das Handeln jeweils so zu lenken, dass andere (die Getäuschten, die Dummen, die Opfer) zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht. Offenbar werden aus einem einzigen Urbild zwei Ableitungen vorgenommen: für die Getäuschten geht das vor sich, was vorgetäuscht wird, für den Wissenden hingegen ein Täuschungsmanöver“ (Hettlage 1991, S. 139). Goffman unterscheidet zwischen Täuschungen in guter Absicht (scherzhaften
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Täuschungen, experimentellem Etwas-Vormachen, Täuschungsmanövern zu Ausbildungszwecken usw.), schädigenden Täuschungen (wie Tarnung, Mimikry, Falschheit etc.) und Selbsttäuschungen (im Traum, durch psychotische Produktionen, als hysterische Symptome oder unter Hypnose). „Wenn man also unter einem Täuschungsmanöver die absichtliche Erzeugung eines falschen Eindrucks durch Leute versteht, die sich von diesem Machwerk nicht selbst beeindrucken lassen, und man unter einem Irrtum eine Täuschung versteht, die sich aus einer von niemandem absichtlich hervorgerufenen Fehldeutung ergibt und unter den gegebenen Umständen verständlich ist, dann kann man unter einer Selbsttäuschung (oder Wahnvorstellung) eine Abwegigkeit verstehen, die von den Betroffenen selbst aktiv unterstützt, wenn nicht ausschließlich hervorgebracht worden ist.“ (Goffman 1977, S. 129f.)
In jedem Fall entscheidet der primäre oder transformierte Rahmen darüber, wie die in ihm vollzogene Äußerung oder nichtverbale Handlung, denn Goffmans Rahmen-Analyse beschränkt sich nicht nur auf die Analyse von Sprechakten, zu verstehen ist. Wenn es in einer Musikwissenschaft des Alltäglichen um einen an einem musikalischen Text vollzogenen Lesakt geht, dessen Produkt ein ephemerer Sinn ist, muss davon ausgegangen werden, dass der Rahmen, in dem sich dieser Akt vollzieht, auf illokutionärer Ebene Einfluss darauf haben wird, wie dieser Akt verläuft und dass er somit auch das Produkt des Aktes, den hergestellten Sinn, beeinflussen wird. Auf der perlokutionären Ebene aber, auf der die Wirkung eines Aktes nicht durch kulturell geteilte Konventionen wie z.B. Rahmungen geregelt ist, ist der an einem musikalischen Text vollzogene Lesakt nicht vorherbestimmt, sondern notwendigerweise individuell. Auf illokutionärer Ebene ist der Sinn des Singens der Nationalhymnen im Rahmen eines Fußballländerspiels jedem Spieler auf dem Feld und jedem Zuschauer auf den Tribünen des Stadions sehr wohl bewusst. Das Lesen, das Barthes das studium nennt, offenbart den Sinn des kollektiv vorgetragenen Textes: er steht in diesem Rahmen als Symbol für die der Hälfte der Spieler und einem Teil des Publikums gemeinsame, durch die geteilte Staatsbürgerschaft begründete nationale Identität. Das ist durchaus nicht der einzige Sinn den eine Nationalhymne haben kann. Im Kontext eines Staatsbesuchs erfüllt die Intonation der Nationalhymne des Gastes durchaus eine andere Funktion: In diesem
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Der Sinn des Augenblicks Rahmen ist ihr Sinn auf illokutionärer Ebene eine Ehrenbezeugung. Welche Wirkung die Intonation der Hymnen im Stadion kurz vor Beginn des Länderspiels auf perlokutionärer Ebene auf den einzelnen Spieler oder Zuschauer hat, ist hingegen nicht durch den Rahmen, den der Besuch eines Fussballländerspiels darstellt, vorherbestimmt. Während der eine eine Gänsehaut bekommt, weil er diesen Augenblick, den er mit zigtausend anderen teilt, als einen efferveszenten Moment erlebt, vielleicht sogar als zwei efferveszente Momente, weil, unabhängig davon welche der beiden Nationalmannschaften er unterstützt, das gemeinsame Musikerleben in der Masse – das auf dieser perlokutionären Ebene gar nicht so gemeinsam ist – ein Gefühl der Euphorie in ihm auslöst, erlebt der andere die Nationalhymne seiner eigenen Mannschaft zwar genauso, hat für die ihre Hymne singenden Fans auf der anderen Seite des Stadions anschließend aber nur Hohn und Spott übrig. In einem dritten löst gerade das gemeinsame Singen der eigenen Nationalhymne das Bedürfnis aus, sich zu distanzieren, weil er sich zwar mit der Mannschaft unten auf dem Feld identifizieren kann, nicht aber mit der Nation, die sie repräsentiert. Und wieder ein anderer hat nur sehr unbewusst realisiert, dass das die Nationalhymnen sind, die da gesungen werden, weil er seit fünfzehn Minuten verzweifelt versucht, den nächsten Bierverkäufer auf sich aufmerksam zu machen. Dabei hat gerade er ein besonders ausgeprägtes Nationalbewusstsein, singt sonst immer, Hand aufs Herz, mit und verspürt nun, da er es nicht tut, eine leichtes Schuldbewusstsein. Aber gerade als die mit der Hymne angefangen haben, da hätte er sie beinahe gehabt, die Aufmerksamkeit des Bierverkäufers. Keine dieser individuellen Sinnproduktionen auf perlokutionärer Ebene ist gänzlich unabhängig von dem kollektiven Sinn auf illokutionärer Ebene zu verstehen, aber es geht auch keine völlig in ihm auf. Jeder im Zuge eines Lesaktes produzierte Sinn hat einen kollektiven Anteil, der nicht zuletzt durch die Identifikation und den Vollzug einer kulturell erlernten, und damit per Definition kollektiv geteilten Rahmung hervorgebracht wird, und einen individuellen, der über diesen kollektiven Anteil hinausgeht. Als Modell für die den Alltagspraktiken im Allgemeinen und somit auch dem alltäglichen musikalischen Lesakt im Speziellen zugrunde liegenden Logiken scheinen die kulturell erlernten Rahmen Goffmans zunächst einmal greifbarer als de Certeaus „Jahrtausende alte“, in einem „unsystematischen Gedächtnis“ gespeicherte kollektive Grammatik taktischen Handelns. Da sie
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen sich aber nur auf illokutionärer Ebene auf die Sinnproduktion auswirken und das, was auf perlokutionärer Ebene darüber hinaus an Sinnproduktion im Zuge des Lesaktes zustande kommt, nicht determinieren, weil einem perlokutionären Akt per Definition keine Konventionen zugrunde liegen, lässt sich der Lesakt auch unter Berücksichtigung des Rahmens, innerhalb dessen er sich ereignet, nicht vollständig erfassen. Ein individueller, persönlicher Rest, der nur auf der Grundlage der Erfahrungen zu erklären ist, die der einzelne Akteur aktuell im Augenblick des „Wilderns“ macht oder zuvor in seinem Leben schon gemacht hat, bleibt immer. Vielleicht ist es dieser Rest, der verhindert, dass eine allumfassende kollektive Logik des taktischen Handelns formulierbar ist. Das individuelle, persönliche Moment des Lesaktes, das Barthes als punctum bezeichnet hat, und das lebenslange autobiographische Projekt Leiris’, für das Hand (2002) analog zum Begriff „writing culture“ die Bezeichnung „writing the self“ prägte, scheinen diesem Rest in stärkerem Maße gerecht zu werden, als Lefebvres Vorstellung vom überindividuellen Moment und de Certeaus Annahme einer kollektiven Logik des taktischen Handelns, wie abhängig von den jeweiligen Umständen dieses Handels auch immer sie gedacht sein mag. Dieser Rest ist sicher nicht identisch mit dem, was Barthes mit dem Begriff des punctum gemeint hat, Barthes punctum stellt aber sicherlich einen solchen Rest dar.
Abb. 15: Erkenntnisleitendes Modell für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen
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Der Sinn des Augenblicks Auf Grundlage der bislang vorgestellten Theorien und Überlegungen, schlage ich folgendes erkenntnisleitendes und am besten graphisch darzustellendes Modell vor, mit dessen Hilfe zunächst versucht werden soll, den Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen zu konkretisieren, und das im Anschluss daran als Ausgangsbasis für die Abgrenzung einzelner Forschungsfragen und für die Entwicklung einer geeigneten Methodologie dienen soll, um diesen Fragen nachzugehen. Legende: Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen sind solche Augenblicke, in denen sich ein individueller Akt des Lesens eines musikalischen Textes ereignet, dessen Produkt ein auf die Zeitlichkeit des Augenblicks beschränkter Sinn ist. Der Lesakt, der immer eine individuelle Aktualisierung kollektiver, vom Einzelnen kulturell erlernter und folglich ihm nicht eigener Bedeutungssysteme voraussetzt, wird dabei stets durch den Rahmen, in dem sich dieser Augenblick ereignet, determiniert. Auch das Wissen um die innerhalb einer sozialen Gruppe relevanten Rahmungen ist kulturell erlernt und stellt ein solches kollektives Bedeutungssystem dar. Indem die Rahmungen den Lesakt determinieren, wirken sie sich auch auf den Sinn als sein Produkt aus, bestimmen diesen aber nicht vollständig, sondern nur auf illokutionärer Ebene. Da die Bedeutungssysteme, die eine Voraussetzung dafür sind, dass ein solcher Lesakt überhaupt vollzogen werden kann, zwar kollektiv sind, ihre Aktualisierung aber immer eine individuelle Aneignung dieser Systeme darstellt, weist jeder im Zuge eines solchen Lesaktes hergestellte Sinn auf perlokutionärer Ebene einen Rest auf, der sich nicht auf Grundlage des Rahmens oder anderer zugrundeliegender kollektiver Bedeutungssysteme erklären lässt, sondern nur auf Grundlage aktueller, rezenter oder auch lange zurückliegender persönlicher Erfahrungen des Lesers. Auch wenn es sich bei diesem aus kollektiven und individuellen Bestandteilen zusammengesetzten Sinn auch um Sinn im semantischen Sinne handeln kann, darf nicht a priori davon ausgegangen werden, dass er sprachlicher Natur ist oder sich überhaupt sprachlich repräsentieren lässt. Es ist nicht einmal gesagt, dass dieser Sinn dem Leser im Augenblick des Lesens vollständig oder überhaupt bewusst sein muss. Diese Fragen zu beantworten, wird zu den Aufgaben einer empirisch vorgehenden Musikwissenschaft des Alltäglichen gehören. Der Moment, in dem sich der Leser diesen Sinn bewusst macht – so er denn unbewusst war – und ihn eine – mehr oder weniger adäquate, auch die Kriterien hierfür gilt es noch herauszufinden – sprachliche Reprä-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen sentation erfahren lässt, ist der Anfang vom Ende der Alltäglichkeit, liegt er doch zeitlich in der Regel jenseits des durch das taktische Verhalten des Lesens konstituierten Augenblicks. Dabei werden die beiden Begriffe „alltäglich“ und „nicht-alltäglich“ hier nicht als Bezeichnungen für sich prinzipiell gegenseitig ausschließende Zustände gebraucht, sondern für die sich gegenüberliegende Enden einer Skala von Zuständen, zwischen denen die Übergänge fließend sind. Je weiter ein sprachlich repräsentierter Sinn zeitlich von dem Augenblick, in dem er im Zuge eines Lesaktes hergestellt wurde, entfernt ist, desto angewiesener ist er darauf, eine mediale Fixierung zu erfahren, einen Ort zugewiesen zu bekommen, an dem er aufbewahrt werden kann. Hat er diesen Ort erhalten, verliert er seinen taktischen Charakter, auch wenn dieser de Certeau zufolge durchaus Spuren hinterlassen kann, und damit seine Alltäglichkeit. Schriftlich fixiert, als Klang-, Bildoder Filmdokument wird er über den Augenblick seiner Produktion hinaus auch für andere verfügbar, und kann selbst wieder Gegenstand des alltäglichen Konsums werden, der eine immer auch eine „stille Produktion“ ist. Sprachlich repräsentiert, vor allem medial fixiert wird er zur Äußerung im Rahmen diskursiver sozialer Verhandlungen, die langfristig zur Ausbildung kollektiver Bedeutungssysteme führen, die ihrerseits die Voraussetzung dafür bilden, dass es so etwas wie alltägliche Lesakte und Sinnproduktionen überhaupt geben kann. Aus obigem Modell lässt sich nun eine (keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebende) Reihe von Fragen theoretisch ableiten, die zu beantworten meines Erachtens Aufgabe einer Musikwissenschaft des Alltäglichen wäre. Diese Fragen bzw. Forschungsgegenstände lassen sich, je nachdem auf welchen Bestandteil des Modells sie jeweils fokussiert sind, auf vier Gruppen aufteilen, wobei diese Aufteilung lediglich der Übersichtlichkeit halber erfolgt und keine inhaltlich zu rechtfertigende Abgrenzbarkeit dieser Forschungsgegenstände voneinander suggerieren soll: 1. Der Lesakt: Da die in einer Gesellschaft relevanten Rahmen ein kollektiv geteiltes Bedeutungssystem darstellen, das sich auf die einzelnen Akte des Lesens musikalischer Texte und damit auf den im Vollzug dieser Akte produzierten Sinn auswirkt, sollten sich bei einem Vergleich der verbalen Repräsentationen dieses Sinns Regelhaftigkeiten feststellen lassen. Nachdem diese Regelhaftigkeiten in einem ersten Schritt identifiziert worden sind, gälte es in einem zweiten, diejenigen unter ihnen zu benennen, die eindeutig
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Der Sinn des Augenblicks rahmungsbedingt sind. Erst im Anschluss daran ließe sich die Beantwortung der wohl naheliegendsten und meines Erachtens vornehmlichsten Frage, die eine so konzipierte Musikwissenschaft des Alltäglichen zu beantworten hätte, in Angriff nehmen: Lassen sich über die durch die Rahmungen bedingten Regelhaftigkeiten, die nur auf illokutionärer Ebene auftauchen können, da nur diese Ebene durch Konventionen geregelt ist, auch auf perlokutionärer Ebene, auf der die individuellen Sinnanteile hergestellt werden, Regelhaftigkeiten feststellen? Und wenn ja, sind diese Regelhaftigkeiten auf die Lesakte einzelner Leser beschränkt und folglich auch nur individuell, z.B. biographisch zu erklären, oder lassen sich auch auf perlokutionärer Ebene überindividuelle Regelhaftigkeiten identifizieren? Wenn letzteres der Fall ist, erschiene de Certeaus Behauptung der Existenz einer kollektiv geteilten Grammatik, die den gesamten Bereich taktischen Handelns regelt, doch gerechtfertigt, auch wenn sich dann immer noch nichts Konkretes über deren Alter oder die Art und Weise sagen ließe, wie sie vom Individuum verinnerlicht worden ist (genetisch vererbt? – kulturell erlernt?), memoriert („unsystematisches Gedächtnis“?) und im konkreten Falle aktualisiert wird. 2. „Ich“ (das Individuum): Es ist davon auszugehen, dass die Erfahrung von Sinn im Augenblick des Lesaktes Spuren nicht nur in den sprachlichen und medial fixierten Repräsentationen hinterlässt, die der Leser, nachdem der Augenblick vergangen ist, diesen Sinn erfahren lässt, sondern auch im Leser selbst. Lässt sich sein individuelles Gedächtnis als ein Ort begreifen, an dem er diese Erfahrungen als Inhalte speichert, die nur deswegen nicht als „nicht-alltäglich“ auffallen, weil sie keine sprachliche Repräsentation erfahren und daher nicht kommuniziert werden? Werden sie dort als bewusste, jederzeit intentional abrufbare Inhalte aufbewahrt, sind sie unbewusst oder muss in dieser Hinsicht zwischen ihnen unterschieden werden? Wirkt sich vielleicht gerade diese Unterscheidung auf das Maß an Alltäglichkeit aus, das einem solchen Inhalt anhaftet? Lässt die Unbewusstheit eines solchen psychischen Inhalts diesen länger dem Alltäglichen verhaftet bleiben als einen bewussten Inhalt? Freuds Psychopathologie des Alltagslebens scheint einen solchen Schluss nahe zu legen und auch Leiris’ Insistieren auf dem Persönlichen des Alltäglichen scheint in diese Richtung zu deuten, lassen sich bewusste Inhalte doch leichter vom Individuum ablösen, da sie sprachlich repräsentiert und damit kommuniziert werden können, als unbewusste. Ob selbst alltäglich oder nicht, mit Sicherheit lässt sich davon
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ausgehen, dass sich diese im Individuum gespeicherten, keine wie auch immer geartete Repräsentation erfahren habenden und somit nicht kommunizierten Erfahrungen auf die alltäglichen Lesakte des Einzelnen auswirken. Eine wichtige Aufgabe für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen bestünde darin herauszufinden, in welche Beziehung(en) diese individuellen Inhalte zu den kollektiven Bedeutungssystemen treten, die im Augenblick des Lesaktes vom Leser angeeignet und aktualisiert werden. 3. Der musikalische Text: Folgt man nicht den Spuren, die der im Lesakt hergestellte Sinn im Leser zeichnet, sondern konzentriert man seine Aufmerksamkeit auf den musikalischen Text, lassen sich auch an ihm Spuren entdecken, die zu untersuchen meines Erachtens durchaus zu den Aufgaben einer so konzipierten Musikwissenschaft des Alltäglichen zählt. Julio Mendívil hat in seinem 2008 erschienenen Buch Ein musikalisches Stück Heimat: Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager für diese Spuren in Anlehnung an Arjun Appadurais Begriff von der „sozialen Biographie der Dinge“ den Begriff der „verpersönlichten Biographie der Lieder“ geprägt: „Die verpersönlichte Biographie eines Liedes ist [...] das Resultat seiner individuellen Domestizierung. Wenn ich hier von Domestizierung spreche, benutze ich das Wort im Sinne von domesticare, also im Sinne von ‚etwas Wildes zahm machen‘. [...] Ich möchte im Gegensatz zu [der] deterministischen Idee vom machtlosen Käufer die These vertreten, dass Musikkonsumenten nicht nur Musik kaufen, wenn sie einen Tonträger erwerben, sondern dass sie das Recht mitkaufen, den Ort und den Kontext der Rezeption zu bestimmen bzw. dass sie sich durch den Erwerb das Recht aneignen, die musikalischen Waren an konkret verortete Praktiken zu binden, denn wenn vor dem Kauf der Genuß des Liedes mehr oder weniger dem Zufall überlassen bleibt, erlaubt der Erwerb des ‚Bestimmungsrechts‘ den Konsumenten, selbst zu entscheiden, wann, wo und wie sie ‚ihre‘ Musik hören möchten. Ein wichtiger Bestandteil der Domestizierung ist aus diesem Grund, sich der Wiederholbarkeit der Rezeption zu versichern. Gerade weil die Wiederholbarkeit eine Ritualität generiert, schafft sie gleichzeitig die Existenzbedingungen für die Entstehung von Varianten.“ (Mendívil 2008, S. 112f.)
In gewisser Weise ließe sich die verpersönlichte Biographie eines musikalischen Textes – dabei muss es sich nicht unbedingt um ein Lied handeln – als eine Akkumulation der im Verlaufe mehrerer, am gleichen Text vollzogener Lesakte hergestellten individuellen Sinnanteile auf perlokutionärer Ebene verstehen. Obwohl durchaus kommunizierbar – Mendívil führt als Illustration das
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Der Sinn des Augenblicks Beispiel einer Frau an, die sich mit großer Beharrlichkeit darum bemüht, an eine Aufnahme eines nur auf einer schwer erhältlichen Promotion-CD veröffentlichten Liedes zu kommen, das an dem Abend gespielte wurde, an dem sie ihren Partner in einer Kneipe kennenlernte – ist die verpersönlichte Biographie eines musikalischen Textes eine dem Text anhaftende Spur, die nur für einen individuellen Leser zu erkennen ist – in dieser Hinsicht gleicht sie Barthes punctum. Wie dieses ist sie eine „Zutat“: etwas, das dem musikalischen Text von einem individuellen Leser hinzugefügt wird, „und was dennoch schon da ist“ (Barthes 1989, S. 65), durch das studium aber nicht entdeckt werden kann. Eine in dieser Hinsicht interessante und wegweisende Unternehmung stellt das Music in Daily Life Project dar, dessen Ergebnisse 1993 von Susan D. Crafts, Daniel Cavicchi und Charles Keil unter dem Titel My Music veröffentlicht wurden. 4. Die Rahmen: Einen weiteren Forschungsgegenstand für eine derart konzipierte Musikwissenschaft des Alltäglichen stellen die im Hinblick auf die alltäglichen musikalischen Lesakte relevanten Rahmen dar. Da es sich dabei per Definition um Bestandteile von Kultur, also um kollektiv geteiltes Wissen handelt, müsste es im Falle der Rahmen – anders als im Falle der einzelnen Lesakte oder der verpersönlichten Biographien von musikalischen Texten – möglich sein, einen mehr oder weniger vollständigen Katalog von ihnen anzufertigen. Ein solcher Katalog würde es wesentlich erleichtern, die auf Konventionen beruhenden illokutionären Anteile an dem im Zuge von Lesakten hergestellten Sinn von den individuellen perlokutionären Anteilen zu unterscheiden, um letztere anschließend auf nicht-rahmenbedingte Regelhaftigkeiten hin zu untersuchen. Bevor sich eine so konzipierte Musikwissenschaft des Alltäglichen aber daran machen kann, irgendeine dieser Fragen zu beantworten, gilt es zunächst noch, sich Gedanken über eine geeignete Methodologie zu machen, was sich als gar nicht so unproblematisch erweisen dürfte, hat sie es doch schließlich mit einem unsichtbaren Gegenstand zu tun.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen
Literatur Austin, John L. (2002): Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words) [1961], zweite, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam. Crafts, Susan D.; Daniel Cavicchi, Charles Keil and the Music in Daily Life Project (1993): My Music, Hanover und London: Wesleyan University Press. Eberle, Thomas S. (1991): „Rahmenanalyse und Lebensweltanalyse“, in: Robert Hettlage und Karl Lenz (Hg.), Erving Goffman, S. 157-210. Goffman, Erving (1959): The Presentation of Self in Everyday Life, New York: Doubleday. — (1974): Frame Analysis: An Essay on the Organisation of Experience, New York und London: Harper and Row. — (1977): Rahmen-Analyse: Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen [1974], Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (2003): Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag [1959], München und Zürich: Piper. Hettlage, Robert (1991): „Rahmenanalyse – oder die innere Organisation unseres Wissens um die Ordnung der sozialen Wirklichkeit“, in: ders. und Karl Lenz (Hg.), Erving Goffman, S. 95156. — (1999): „Ervin Goffman“, in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München: Beck, S. 188-205. Hettlage und Karl Lenz (Hg.) (1991): Erving Goffman – Ein soziologischer Klassiker der 2. Generation, Bern und Stuttgart: UTB für Wissenschaft. Mendívil, Julio (2008): Ein musikalisches Stück Heimat: Ethnologische Betrachtungen zum deutschen Schlager, Bielefeld: transcript. Merriam, Alan P. (1964): The Anthropology of Music, Evanston: Northwestern University Press. Seibt, Oliver (2010): „Aus dem Rahmen gefallen! Ein Versuch, mit Erving Goffman zu erklären, wann es in der Musik witzig wird“, in: Hartmut Hein und Fabian Kolb (Hg.), Musik und Humor, Laaber: Laaber, S. 13-29. Small, Christopher (1998): Musicking. The Meanings of Performance and Listening, Hanover, NH und London: Wesleyan University Press.
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Der Sinn des Augenblicks Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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„Über Musik zu reden, ist, wie über Architektur zu tanzen“ Frank Zappa
„Wenn Beethoven nach dem Sinn einer Sonate gefragt wurde, so hat er angeblich damit geantwortet, daß er sie noch einmal spielte.“ Michel de Certeau, Kunst des Handelns (1988, S. 161)
Idiographien, Flaneure und Idiologie: Methoden einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Um zu verhindern, dass Missverständnisse aufkommen: Es ist in keiner Weise meine Absicht zu behaupten, dass nicht schon einzelne Bestandteile dessen, was in seiner Gesamtheit soeben als Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen bestimmt worden ist, in der Musikwissenschaft Berücksichtigung gefunden hätten. Ich behaupte lediglich, dass wenn einzelne Bestandteile des hier vorgestellten Modells bislang als Gegenstand in der Musikwissenschaft behandelt wurden, dies nicht ausdrücklich im Hinblick auf den Aspekt ihrer Alltäglichkeit geschah. Was meine Recherche nach musikwissenschaftlicher Literatur, die sich explizit dem Thema des Alltäglichen widmet, hervorgebracht hat, wurde im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits erwähnt. Ebenfalls erwähnt wurden dort die Schwierigkeiten, vor die man sich gestellt sieht, wenn man eine solche Recherche in Angriff nimmt, und durch die ich mich nun in letzter Instanz dazu gezwungen sehe, über den – wie ich hoffe, gezeigt zu haben, epistemologisch begründeten – häufigen Gebrauch der Ersten Person Singular und die völlige Vernachlässigung des Themas Musik über weite Strecken dieser Arbeit hinaus auch noch ein drittes Mal etwas zu tun, was im Rahmen einer musikwissenschaftlichen Arbeit eher unüblich ist: Wie schon im vorausgegangenen Kapitel werde ich mich auch in diesem, in dem es darum geht, auf Grundlage des soeben
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen vorgestellten erkenntnisleitenden Modells eine geeignete Methodologie für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen vorzuschlagen, zwar nicht „im luftleeren Raum“, aber doch in einem Raum bewegen, der mehr oder weniger frei von Verweisen auf andere musikwissenschaftliche Literatur ist. Weil das Alltägliche ein quasi unsichtbarer Gegenstand ist, taucht der Begriff häufig selbst dann nicht in Katalogen und Titeln von Arbeiten auf, wenn es in diesen Arbeiten um etwas geht, was der hier vorgeschlagenen Definition entsprechend durchaus als „alltäglich“ bezeichnet werden könnte. Gleichzeitig taucht der Begriff aber des Öfteren im Rahmen und sogar in Titeln von Arbeiten auf, in denen er auf eine Art und Weise gebraucht wird, die mit der hier vorgeschlagenen Definition nicht vereinbar ist. Hätte ich es mir zum Ziel gesetzt, nun, nachdem der Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen bestimmt wurde, nach bereits existierender musikwissenschaftlicher Literatur zu suchen, in der dieser Gegenstand bzw. Teile davon behandelt werden, hätte ich – mit einer durch die hier vorgeschlagene Definition des Alltäglichen begründeten Einschränkung, doch dazu gleich – die gesamte musikwissenschaftliche Literatur durchsuchen müssen, ohne dass ich diese Suche dabei auf im Fach etablierte und eindeutig definierte Schlagworte hätte einschränken können. Da jede Auswahl an Literatur, die ich hier daraufhin hätte untersuchen können, wie sie sich zu der vorgeschlagenen Definition des Gegenstandes und zu der im Folgenden vorgeschlagenen Methodologie einer Musikwissenschaft des Alltäglichen verhält, zwangsläufig eine nach willkürlichen Kriterien zusammengestellte Auswahl gewesen wäre, habe ich mich daher, so unbefriedigend diese Entscheidung auch sein mag, dazu entschlossen, vorerst ganz auf Verweise auf andere musikwissenschaftliche Literatur zu verzichten. Die einzigen Ausnahmen stellen einige Titel dar, die sich explizit dem Alltäglichen widmen und in denen dieser Begriff in einer Weise gebraucht wird, die mit der hier verwendeten kompatibel ist, und Mendívil 2008, dem ich im vorangegangenen Kapitel den im Rahmen der Gegenstandbestimmung verwendeten Begriff der „verpersönlichten Biographie der Lieder“ entliehen habe. Die soeben erwähnte Einschränkung im Hinblick auf die für eine Abgleichung mit der hier vorgeschlagenen Definition des Alltäglichen in Frage kommenden Literatur ist durch Lefebvres Argument begründet, dass das Alltägliche eine Kategorie für einen historisch und kulturell spezifischen Lebensbereich darstellt. Wie viele Kategorien und Konzepte ist sicherlich auch die des Alltäglichen im Verlaufe der Zeit exportiert worden und hat sich in Spra-
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Idiographien, Flaneure und Idiologie chen eingeschrieben, in denen zuvor vielleicht keine vergleichbaren Vorstellungen existierten oder in denen sie sich auf bereits existente Kategorien modifizierend ausgewirkt hat. Mit großer Sicherheit ist davon auszugehen, dass sie mittlerweile auch das kulturelle Leben von Gesellschaften prägt, die eine andere historische Entwicklung vollzogen haben als die, deren Hervorbringung die Kategorie des Alltäglichen ist. Bevor die hier vorgeschlagene Methodologie aber auf andere Gesellschaften übertragen werden kann, müsste im Einzelfall geklärt werden, ob das Alltägliche in diesen Gesellschaften als Kategorie überhaupt virulent ist oder eine Entsprechung hat, die diese Übertragung rechtfertigt. Für Japan etwa hat Harry Harootunian dies unternommen (vg. Harootunian 2000). Aus dem gleichen Grund kann auch die Rückwendung des ethnographischen Blicks auf die eigene Gesellschaft nicht die einfache Antwort auf die Frage sein, wie eine Musikwissenschaft des Alltäglichen methodologisch beschaffen sein muss. Wenn das Alltagsleben das Produkt einer historisch und kulturell spezifischen Entwicklung ist, die sich in den sogenannten westlichen Industrienationen vollzogen hat, dann ist nicht davon auszugehen, dass sich ausgerechnet in einer Wissenschaft, die zwar in diesen Gesellschaften entstanden ist, die sich jahrzehntelang aber gerade darüber definiert hat, dass sie sich mit den anderen, den nichtwestlichen und nichtindustrialisierten Gesellschaften beschäftigte, eine Methodologie herausgebildet haben sollte, die, ohne der Modifikation zu bedürfen, geeignet ist, den Bereich des Alltagslebens zu ergründen, der nun zunächst einmal den westlichen Gesellschaften eigen ist. Das grundsätzliche Problem, mit dem sich eine Musikwissenschaft des Alltäglichen konfrontiert sieht, besteht darin, dass ihr Gegenstand unsichtbar ist. Michel de Certeau hat die erkenntnistheoretische Erklärung dafür geliefert: Das taktische Handeln, das das Alltägliche ausmacht, lässt sich von der Wissenschaft, die immer von einen strategischen Ort aus agiert und die darauf angewiesen ist, ihre Gegenstände an diesen Ort zu transferieren, nicht erfassen, ohne dass es eben der Eigenschaften beraubt würde, die seine Alltäglichkeit ausmachen: seiner Partikularität und seiner Eingebettetheit in einen raum-zeitlichen Kontext, auch wenn der Raum aus der Perspektive des taktischen Handelns niemals der eigene Ort ist, sondern immer ein fremdes Terrain, auf dessen Vorgaben es kreativ zu reagieren hat. Wie aus dem jungen afrikanischen Soldaten auf dem Titelbild der Ausgabe von Paris Match, die Barthes beim Friseurbesuch gereicht wurde, ein
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen junger afrikanischer Soldat wurde, so macht eine (Musik-) Wissenschaft, die einen konkreten alltäglichen (musikalischen) Lesakt aus seinem jeweiligen raum-zeitlichen Kontext herauslöst, um ihn als ihren Gegenstand an ihren Ort transferieren zu können – in Form eines verbalsprachlichen, wahrscheinlich schriftlich fixierten Berichts –, daraus zwangsläufig ein weitgehend seiner Partikularität beraubtes Beispiel für das alltägliche (musikalische) Lesen. Da Alltäglichkeit sich aber gerade durch Partikularität definiert – nicht umsonst weist de Certeau darauf hin, dass eine Wissenschaft des Alltäglichen eine Wissenschaft des Partikulären sein muss –, sieht sich eine (Musik-) Wissenschaft des Alltäglichen mit einem Paradox konfrontiert, das sich letztendlich nicht auflösen lässt. Aber das alltägliche taktische Handeln hinterlässt, auch darauf weist de Certeau hin, wenn er von seinem Besuch des Shelburne-Museums in Vermont berichtet, in den Produkten des strategischen Handelns der Wissenschaftler Spuren. Die entscheidende Frage im Hinblick auf die Methodologie einer (Musik-) Wissenschaft des Alltäglichen muss also lauten: Wie müsste das strategische Handeln, aus dem die wissenschaftliche Praxis nun einmal besteht, beschaffen sein, damit in seinen Produkten so viele dieser Spuren taktischen Handelns erhalten bleiben wie möglich?
Idiographien Der vorangegangenen Gegenstandsbestimmung einer Musikwissenschaft des Alltäglichen entsprechend kann ihre Materialgrundlage nur aus den sprachlichen Repräsentationen von in einzelnen musikalischen Lesakten produziertem, bereits vergangenem Sinn bestehen. Einen direkten empirischen Zugang habe ich als ein sich dem so definierten Alltäglichen widmender Musikwissenschaftler nur zu dem im Verlaufe der von mir selbst vollzogenen Akte des Lesens musikalischer Texte produzierten Sinn. Welcher Art auch immer dieser Sinn sein mag, spätestens in dem Moment, in dem er z.B. zum Zwecke des Vergleichs kommunizierbar gemacht werden soll, bin ich gezwungen, ihn eine sprachliche Repräsentation widerfahren zu lassen, die ich den Gepflogenheiten wissenschaftlichen Arbeitens entsprechend in Form eines verbalsprachlichen Textes schriftlich fixieren werde. Der mit „4“ über-
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Idiographien, Flaneure und Idiologie schriebene Abschnitt am Anfang dieser Arbeit15 kann als ein Beispiel für solche Texte angesehen werden, die ich im Folgenden in Anlehnung an die auf Wilhelm Windelband zurückgehende wissenschaftstheoretische Dichotomie zwischen idiographisch (den Einzelfall beschreibend – vom griechischen idios, „eigen“, und graphein, „beschreiben“) und nomothetisch (eine Gesetzmäßigkeit formulierend – vom griechischen nomos, „Gesetz“, und thesis, „aufbauen“) als Idiographien bezeichnen werde, worunter ich die sprachliche Repräsentation des im Verlaufe eines einzelnen Lesaktes produzierten Sinns verstehe. Nach de Certeau ist das Alltägliche durch taktisches Handeln geprägt, für das sich Kriterien benennen lassen, durch die es sich vom strategischen Handeln, das sich zwar prägend auf das Alltägliche auswirkt, es aber nicht ausmacht, unterscheidet: seine raum-zeitliche Gebundenheit und, da eine Wahrnehmung des raum-zeitlich Spezifischen immer nur aus einer individuellen Perspektive heraus erfolgen kann und jeder Lesakt nicht nur eine illokutionäre, sondern auch eine perlokutionäre Ebene hat, seine Subjektivität. Die Chance, die Zahl der Spuren des Alltäglichen in den selbst nicht alltäglichen, weil aus strategischem Handeln hervorgegangenen Idiographien möglichst groß zu halten, müsste sich also erhöhen, wenn ich bei ihrer Herstellung bewusst darauf achte, dass möglichst viel von der Besonderheit des Augenblicks, in dem sich der Lesakt eines musikalischen Textes vollzieht, und möglichst viel von der Subjektivität des in seinem Verlauf hergestellten Sinns erhalten bleibt. Denn im Falle der Idiographie 4 z.B. war es von entscheidender Bedeutung, dass in diesem Augenblick ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, und nicht nur aus stilistischen, sondern auch aus epistemologischen Erwägungen lässt sie sich sinnvollerweise nur in der Ersten Person Singular schildern. Ironischerweise spielt, gerade weil die Subjektivität einer Idiographie ein entscheidendes Kriterium für ihre Verwertbarkeit als Materialgrundlage für eine Analyse im Rahmen einer so konzipierten Musikwissenschaft des Alltäglichen darstellt, der Umstand, dass ich sie als Musikwissenschaftler selbst hergestellt habe, keine Rolle. Jede Idiographie, egal wer sie zu verantworten hat und zu welchem Zwecke sie verfasst worden ist, ist als Gegenstand der Analyse gleichermaßen geeignet, vorausgesetzt sie ist subjektiv
15 ..., in dem ich beschrieben habe, wie mich Mon Amour Tokyo von Pizzicato 5 während einer Bahnfahrt von Bern nach Heidelberg zuversichtlich stimmte, ...
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen genug und sie enthält ausreichend Informationen über die spezifischen raum-zeitlichen Gegebenheiten des Augenblicks, in dem sich der Akt des Lesens eines musikalischen Textes vollzog. Auch wenn eine davon von mir selbst stammt, die zweite (Idiographie 3)16 von einem mir persönlich bekannten Studenten der Musikethnologie und die dritte (Idiographie 5) aus dem Roman eines von mir zwar sehr geschätzten, mir persönlich aber unbekannten japanischen Schriftstellers, in epistemologischer Hinsicht sind sie als Materialgrundlage für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen gleichermaßen geeignet. Es besteht keine Notwendigkeit, zwischen ihnen zu unterscheiden und sie als Quellen unterschiedlich zu handhaben, selbst dann nicht, wenn derjenige, dem die Sinnproduktion im Roman Mister Aufziehvogel von MURAKAMI Haruki zugeschrieben wird, nur eine fiktive Figur ist. Sowohl Lefebvre als auch de Certeau haben darauf hingewiesen, dass sich die Literatur, vor allem der Roman viel besser zur Darstellung des Alltäglichen eignet als das Genre des wissenschaftlichen Textes, weil sie das subjektive Erzählen des Partikulären erlaubt. Auch Leiris und (zumindest der spätere) Barthes, von den Surrealisten ganz zu schweigen, haben sich mindestens ebenso sehr als Literaten wie als wissenschaftliche Autoren verstanden. Und Freud ist nicht nur zwölf Mal für den Nobelpreis für Medizin nominiert, sondern auch für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen worden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Idiographien, die die Materialgrundlage für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen darstellen, nicht von den mitunter ebenfalls der Literatur entnommenen Traumerzählungen und Berichten von Fehlleistungen, auf deren Grundlage Freud die Traumdeutung und die Psychopathologie des Alltagslebens verfasste. Anders verhält es sich mit den mit „1“17 und „2“18 überschriebenen Idiographien, denn bei diesen beiden handelt es sich um meine Interpretationen meiner Beobachtungen zweier von anderen ausgeführter Lesakte. Da der in ihrem Vollzug hergestellte Sinn nicht unbedingt bewusst sein muss und da nicht jeder beim Vollzug eines alltäglichen musikalischen Lesaktes beobachtbare Akteur immer dazu zu bringen oder in der Lage sein wird, selbst eine Idiographie des dabei produzierten Sinns zu verfassen, wird
16 Martin Bulawas Assoziationen zu Bittersweet Symphony von The Verve. 17 Die Frau mit Fahrrad in der Kölner Straßenbahn, der Viva Colonia von De Höhner dazu diente, sich ihrer selbst zu versichern. 18 Der am Karfreitag Wagners Parsifal hörende Schauspieler auf der Studiobühne Köln.
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Idiographien, Flaneure und Idiologie eine Musikwissenschaft des Alltäglichen nicht umhin können, auch auf solche Interpretationen „aus zweiter Hand“ zurückzugreifen, will sie vor den unbewussten Anteilen der Sinnproduktion und den Widrigkeiten, die empirische Datenerhebung nun einmal bereithält, nicht kapitulieren. Die geeigneten Kriterien für die Validität solcher Interpretationen zweiter Ordnung gälte es noch zu bestimmen. Vor dem vergleichbaren Problem stehend, die Validität dessen zu bestimmen, was er in Anlehnung an Gilbert Ryle als „dichte Beschreibungen“ bezeichnet, schlägt Clifford Geertz (1987) die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Interpretationen als Kriterium vor. Allerdings stellt das Lesen einer „dichten Beschreibung“ bzw. einer Idiographie – die ganz in Geertz’ bzw. in Ryles Sinne auch immer eine möglichst „dichte Beschreibung“ sein sollte – stets die Voraussetzung für die Bewertung ihrer Validität dar. Und da es sich auch bei diesem Lesen nur um einen individuellen Lesakt handeln kann, dessen Produkt, der Sinn, kollektive und subjektive Anteile aufweisen wird, stellt sich die Frage, ob intersubjektive Nachvollziehbarkeit, die ja auf die Spuren der auf illokutionärer Ebene hergestellten kollektiven Sinnanteile im Text beschränkt bleiben muss, ein hinreichendes Kriterium sein kann, vor allem dann, wenn es um unbewussten, eventuell sehr subjektiven Sinn geht. Wäre eine Musikwissenschaft des Alltäglichen langfristig in der Lage nachzuweisen, dass tatsächlich auch die auf perlokutionärer Ebene hergestellten, individuellen Sinnanteile Regelhaftigkeiten aufweisen, dass so etwas wie eine intersubjektiv gültige Grammatik des taktischen Handelns also auch auf dieser Ebene gilt, könnte Geertz’ Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit tatsächlich entscheidend sein für die Validität solcher Idiographien zweiter Ordnung. Das gilt es aber erst noch herauszufinden. Eine naheliegende Frage für eine so konzipierte Musikwissenschaft des Alltäglichen wird sein, wie sie an eine möglichst große Zahl solcher Idiographien (beider Ordnungen) gelangt. Da die Beantwortung der im vorangegangnen Kapitel formulierten Fragen den Vergleich einer größeren Zahl von Idiographien voraussetzt – in Anlehnung an den in der englischsprachigen cultural bzw. social anthropology geläufigen Begriff vom cross cultural comparison könnte man hier von einem cross individual comparison sprechen –, ist eine Musikwissenschaft des Alltäglichen auf eine umfangreiche Sammlung von Idiographien als Materialgrundlage angewiesen.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Da das Persönliche zwar einen ihrer wichtigsten Gegenstände darstellt, sie selbst aber keine Wissenschaft der einzelnen Person sein sollte, reicht es dabei nicht aus, eine Sammlung der sprachlichen Repräsentationen des Sinns anzulegen, den ich als Musikwissenschaftler im Verlaufe von mir selbst vollzogener Lesakte musikalischer Texte hergestellt habe, auch wenn es sich dabei um Idiographien erster Ordnung handelt. Und ein systematisches und kontinuierliches Arbeiten dürfte nur schwerlich möglich sein, wenn ich darauf warte, zufällig in der Literatur, die ich lese, auf Passagen zu stoßen, die den oben definierten Anforderungen an eine musikalische Idiographie genügen – ob es sich dabei um Fachliteratur, um Belletristik oder die Tagespresse handelt, macht, wie gesagt, keinen Unterschied.19 Es wird daher notwendig sein, gezielt auch andere Personen dazu zu bewegen, Idiographien von ihren alltäglichen Lesakten musikalischer Texte herzustellen. Im Rahmen der beiden eingangs bereits erwähnten Seminare am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln habe ich eben das getan. In dem Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen betitelten Seminar bestand die Aufgabe für die Studierenden darin, nach dem Vorbild von Michel Leiris Vortrag „Das Heilige in meinem Alltagsleben“ einen Essay mit dem Titel „Das Heilige in meinem alltäglichen Umgang mit Musik“ zu verfassen; in dem im folgenden Semester von mir angebotenen Seminar Legen Sie sich doch hier mal bitte auf den Plattenteller: Ein musikethnologischer Selbstversuch lautete eine der Aufgaben: „Bitte beschreiben Sie Ihren alltäglichen Umgang mit Musik“. Anders, als ich es zu diesem Zeitpunkt noch erwartet hätte, entsprachen die Essays über das Heilige im persönlichen alltäglichen Umgang mit Musik viel eher dem, was hier als musikalische Idiographie bezeichnet wird, als die Selbstbeschreibungen des eigenen alltäglichen Umgangs mit Musik, die mir im Anschluss an das zweite Seminar abgegeben wurden. Von einunddreißig eingereichten Texten trug die Hälfte, sechzehn um genau zu sein, den Begriff „Autobiographie“ im Titel, und auch bei den meisten Texten, bei denen dieses Wort nicht im Titel auftauchte, handelte es sich trotzdem dem literarischen Genre nach um Autobiographien. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt über die Bezie-
19 Eine reiche Materialbasis bieten in dieser Hinsicht auch die beiden auf ZEIT online veröffentlichten Artikelserien „Mein Leben mit Musik: Erfahrungsberichte aus dem tönenden Alltag“ (einzusehen unter www.zeit.de/ musik/Themenseiten/meinlebenmitmusik) und „Die Platte meines Lebens“ (www.zeit.de/musik/Themenseiten/platte-meines-lebens).
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Idiographien, Flaneure und Idiologie hung zwischen der Autobiographie als literarischem Genre und dem, was hier als musikalische Idiographie bezeichnet wird, noch überhaupt nicht bewusst, und es ist gut möglich, dass ich den Begriff „Autobiographie“ im Verlaufe des Seminars gebraucht hatte, um den Studierenden ihre Aufgabe zu verdeutlichen. Ich selbst habe damit begonnen, meine musikalische Autobiographie zu schreiben, und wollte damit diese Arbeit beginnen lassen, bis mir klar wurde, dass eine Autobiographie als eine textliche Repräsentation des alltäglichen Umgangs mit Musik völlig ungeeignet ist, weil auch sie wieder einen Versuch darstellt, den Sinn des Augenblicks über diesen hinausweisen zu lassen. Meines Erachtens ist der reflexhafte Rückgriff auf diese Textgattung vielmehr dem Umstand geschuldet, dass das Verfassen eines sich auf ein einzelnes Ereignis in all seiner Partikularität konzentrierenden und möglichst persönlichen, subjektiven Textes, wie er hier unter dem Begriff der musikalischen Idiographie gefordert wird, im Rahmen eines musikwissenschaftlichen Seminars (oder einer musikwissen-schaftlichen Dissertation) so abwegig erscheint, dass man fast instinktiv auf eine Textgattung ausweicht, die zwar per Definition persönlich ist, die im akademischen Diskurs aber (zumindest als Quelle) mit Akzeptanz rechnen darf. Der Widerspruch zwischen der Erzählung von Partikulärem und dem auf allgemeine, den Einzelfall transzendierende Aussagen zielenden wissenschaft-lichen Diskurs scheint in dieser Hinsicht, wenn auch vielleicht nur unbewusst, sogar als schwerwiegender empfunden worden zu sein, als der Widerspruch zwischen der Subjektivität autobiographischer und der für gewöhnlich geforderten Objektivität wissenschaftlicher Aussagen. Um an als Materialgrundlage für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen geeignete Idiographien zu gelangen, wird es also notwendig sein, diejenigen, die sich bereit erklären, diese Idiographien zu verfassen, explizit auf die Kriterien hinzuweisen, die diese erfüllen sollten: Sie sollten textliche Repräsentationen des Sinns sein, der während eines einzelnen Lesaktes eines musikalischen Textes durch eine konkrete Person hergestellt wird, verfasst in der in der wissenschaftlichen Literatur sonst eher unüblichen Ersten Person Singular. Dabei sollte so viel wie möglich von den raum-zeitlichen Gegebenheiten des Augenblicks, in dem sich dieser Lesakt vollzogen hat, beschrieben werden, egal wie unerheblich diese Gegebenheiten im Rahmen eines herkömmlichen Textes über Musik auch hätten wirken mögen. Wie die Ausführenden einer surrealistischen écriture automatique und wie der Patient im Rahmen ei-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ner psychoanalytischen Therapie sollten die Idiographen ausdrücklich dazu aufgefordert werden, soweit wie möglich jegliche Zensurmechanismen auszuschalten, die verhindern, dass sie etwas formulieren, was ihnen im Zusammenhang mit diesem Augenblick und dem im Verlaufe des sich in ihm ereignenden Lesaktes produzierten Sinn einfällt, und alle Assoziationen aufzuschreiben, selbst solche, die über den Augenblick hinausweisen aber mit ihm in Zusammenhang stehen. Je detaillierter, je „dichter“ der Augenblick, in dem sich der Lesakt ereignet, beschrieben wird und je persönlicher die sprachliche Repräsentation des in seinem Verlauf hergestellten Sinns und all der damit verknüpften Assoziationen gehalten wird, desto besser wird sich die musikalische Idiographie als Materialgrundlage für eine so konzipierte Musikwissenschaft des Alltäglichen eignen.
Flaneure Es stellt sich die Frage, ob es einen Weg gibt zu forcieren, dass ein mit dem Alltäglichen befasster Musikwissenschaftler selbst oder seine Idiographen alltägliche Lesakte musikalischer Texte begehen, in deren Verlauf sie Sinn produzieren, dessen sprachlichen Repräsentationen im Rahmen einer Musikwissenschaft des Alltäglichen als Materialgrundlage dienen können. Im Zusammenhang mit dem geeigneten Wahrnehmungsmodus für die Erfahrung des Alltäglichen taucht in der Literatur immer wieder ein Motiv auf: das des Gehens. „Vor nicht langer Zeit, eines frühen Abends im Herbst, saß ich an dem großen Bogenfenster des D...-Kaffeehauses in London. [...] Eine Zigarre im Mund und eine Zeitung auf dem Schoß, hatte ich mich den größten Teil des Nachmittags damit vergnügt, bald die Zeitungsinserate zu studieren, bald die zusammengewürfelte Gesellschaft in der Gaststube zu beobachten, bald durch die rauchtrüben Scheiben auf die Straße zu spähen. Diese ist eine der Hauptdurchgangsstraßen der Stadt und war den ganzen Tag lang voller Menschen gewesen. Als nun aber die Dunkelheit hereinbrach, nahm das Gedränge mit jedem Augenblick zu, und um die Zeit, da die Lampen hell aufleuchteten, wälzten sich zwei dichte, ununterbrochene Menschenströme an der Tür vorüber. Zu dieser Abendstunde war ich noch nie zuvor in einer ähnlichen Lage gewesen, und das wogenden Meer menschlicher Köpfe erfüllte mich daher mit nie gekannten köstlichen Empfindungen. Ich wendete schließlich meine ganze Aufmerksamkeit ganz von den Vorgängen in der Gaststube ab und überließ mich nur der Betrachtung des Schauplatzes draußen. [...]
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Idiographien, Flaneure und Idiologie Die phantastischen Effekte des Lichts machten, daß einzelne Gesichter mich in ihren Bann zogen; und wiewohl die Flüchtigkeit, mit der die lichtdurchflirrte Menge am Fenster vorüberstob, mich hinderte, mehr als nur einen kurzen Blick auf jedes Gesicht zu werfen, kam es mir doch so vor, als könnte ich in meiner derzeitigen eigentümlichen Gemütsverfassung selbst in jener kurzen Spanne eines Augenblicks oft die Geschichte langer Jahre lesen.“ (Poe 2008, S. 378ff.)
Als ein alter Mann mit einem Gesicht, „das wegen der unvergleichlichen Eigenart seines Ausdrucks auf der Stelle [seine] ganze Aufmerksamkeit bannte und fesselte“, am Fenster des Londoner Kaffeehauses vorbeiläuft, springt der namenlose Ich-Erzähler in Edgar Allan Poes 1840 erstmals im Burton’s Gentleman’s Magazine veröffentlichten Erzählung „The Man of the Crowd“ (dt. 2008, „Der Mann in der Menge“) auf, zieht seinen Mantel über und folgt dem Mann, in dem er bis zum Schluss den „Geist des Verbrechens“ erkannt zu haben glaubt, auch wenn er ihn während der Verfolgung bei keiner verbrecherischen Handlung beobachten wird, zu Fuß durch die Straßen der Stadt. Aber noch bevor er aufspringt, schon, als er noch am Tisch des Kaffeehauses sitzt und die Heerscharen der am Fenster vorbeidefilierenden Großstadtmenschen beobachtet, gibt er sich durch das, was er tut, als ein Verwandter des Flaneurs zu erkennen, jener Gestalt aus dem Personal der für die Moderne charakteristischen Figuren, der man im Zusammenhang mit der Erkundung des Alltäglichen immer wieder begegnet. 20 Es war vor allem Walter Benjamin, der in seinen Arbeiten über Charles Baudelaire (Benjamin 1977b und 2007), der für ihn den Prototyp des Flaneurs verkörperte, diesen als einen ziellos und gelassen durch die Straßen und vor allem die Einkaufspassagen von Paris streifenden Beobachter charakterisierte, dem ein besonderer Wahrnehmungsmodus eignet. Überdachte Einkaufspassagen wie die Passage de l’Opera, der schon Aragon 1926 mit Le Paysan de Paris ein Denkmal als Ort der Flanerie gesetzt hatte, gestatteten eine Art der Fortbewegung, die auf den hektischen und verkehrsreichen, Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht durchgängig mit Trottoirs ausgestatteten Straßen der französischen Hauptstadt nur unter erschwerten Bedingungen möglich war. In den Passagen, die ihm ein Gegenmittel gegen das Gefühl des ennui bieten, bewegt sich Benjamins Flaneur als ein unbeteiligter aber höchst aufmerksamer Beobachter. Selbst Teil der Menge, hebt er sich gleichzeitig von dieser ab durch die bewusst 20 Zur literarischen Figur des Flaneurs siehe vor allem Neumeyer 1999.
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen intendierte Zwecklosigkeit seines Tuns und die intellektuelle Reflexion des Beobachteten, die ihm gerade deshalb möglich ist, weil er kein Ziel verfolgt und daher über ein großes Maß an Zeit verfügt. „[Das] ziellose Schlendern durch die Großstadt [ermöglicht] eine Wahrnehmung, [...] der Objekte in den Blick geraten, die dem Vorbeieilenden nicht auffallen. Und wer verweilen kann, kann auch über das nachdenken, was er sieht, so daß die Bewegung des Flanierens die Möglichkeit zu einer kritischen Inspektion der Großstadt eröffnet.“ (Neumeyer 1999, S. 39)
Eine solche kritische Inspektion der modernen Großstadt auf Grundlage der Flanerie sollte auch Gegenstand eines Buches mit dem Titel „Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ werden, an dem Benjamin kontinuierlich arbeitete, nachdem er 1933 aufgrund der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland nach Paris ins Exil gegangen war, das aber Fragment bleiben sollte. Die Entwürfe zu diesem Buch wurden posthum unter dem Titel Das Passagenwerk veröffentlicht (vgl. Benjamin 1991 und 1977a). Auch wenn, wie Neumeyer (ebd., S. 52f.) betont, die Figur des Flaneurs nicht in der des Lesers der Großstadt aufgeht, weil nicht jede Art, die Stadt als eine Ansammlung von Signifikanten zu lesen, derjenigen entspricht, der sich der Flaneur hingibt – auch Poes Ich-Erzähler liest die Großstadt, hat aber, nachdem er das Kaffeehaus verlässt, um dem alten Mann zu folgen, ein Ziel, was ihn vom Flaneur unterscheidet –, so ist es doch genau das, was der Flaneur tut: sich langsam und ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen durch die Straßen der Großstadt zu bewegen, die ihn als „Signifikantenreservoir“ zur Lektüre auffordern. Anders als Malinowskis etwa zeitgleich zur zentralen Figur der Ethnologie werdender Ethnograph im Feld (vgl. Stocking 1983, vor allen S. 97-113) und auch als Poes Ich-Erzähler zumindest zu Beginn der Erzählung, ist der durch die Straßen der modernen Großstadt schreitende Flaneur selbst ein „Mann in der Menge“, stets in Bewegung, wenn auch mit viel Zeit, da er niemanden verfolgt, sondern im Gegenteil darauf bedacht ist, seine Aufmerksamkeit von jeder Zweckgerichtetheit zu befreien – „[d]enn der Flaneur, der eine Spur verfolgt, ist kein Flaneur mehr“ (Neumeyer 1999, S. 34). In dieser letzteren Hinsicht gleicht das Tun des Flaneurs eher dem von Poes Ich-Erzähler, während dieser noch im Kaffeehaus sitzt und nach draußen schaut, nur dass es hier der am Fenster vorbeiziehende Strom von Menschen ist und nicht der
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Idiographien, Flaneure und Idiologie Beobachter selbst, der sich bewegt. Bei Malinowski hingegen, bewegt sich niemand, was daran liegt, dass die klassische Feldforschung so konzipiert ist, dass sie während eines stationären Aufenthalts „vor Ort“ durchgeführt wird, wobei der Feldforscher zu Malinowskis Zeit üblicherweise einer anderen Gesellschaft angehörte als der, deren Leben er teilnehmend beobachtete, also kein „Mann in der Menge“ war, sondern sich von dieser „absetzte“ (vgl. auch Clifford 1997, S. 20ff.).
Abb. 16: Bronislaw Malinowski bei der Arbeit während seiner Feldforschung in Omarakana auf den Trobriand-Inseln, ca. 1917 (aus Stocking 1983, S. 101).
Aber Malinowskis empirische Forschungen auf den TrobriandInseln und die von ihm in der Ethnologie etablierte Methode der teilnehmenden Beobachtung fungierten als Vorbild für die Entwicklung eines sich bewegenden Beobachtertypus’ auch in den social sciences. Wie Rolf Lindner (1990) nachweist, waren die methodischen Anweisungen, die Robert Ezra Park, Begründer der sozialökologischen „Chicagoer Schule der Stadtethnographie“ (Lindner 2004, S. 113), seinen Schülern mit auf den Weg gab, eigentlich eher seinen Erfahrungen als Reporter denn einer theoretischen Auseinandersetzung mit den Arbeiten Malinowskis geschuldet:
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen „‚Go into the district‘, ‚Get the feeling‘, ‚Become acquainted with people‘, in diesen aus heutiger Sicht banal anmutenden Anweisungen ist die fundamentale Prämisse der Chicagoer Soziologie enthalten, das Studierzimmer zu verlassen und sich in das ungesicherte Terrain des ‚wirklichen Lebens‘ zu begeben“ (Linder 1990, S. 10f.).
Unter Berufung auf Malinowskis Methode der teilnehmenden Beobachtung im Feld konnte Park seine eigenen Vorstellungen davon, wie man sich dem Alltagsleben in einer modernen Großstadt methodisch zu nähern hat, aber auch vor solchen Fachkollegen rechtfertigen, die dem „nosing around“, dem „Herumbummeln und Herumschnüffeln“, das Park vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Reporter „zu einer empirischen Kunst“ entwickelt hatte, ansonsten die Anerkennung als wissenschaftliche Methode versagt hätten (ebd., S. 9f.). „‚Sie müssen sich Park als einen unermüdlichen Fußgänger vorstellen, der die Stadt Chicago kreuz und quer nach allen Richtungen hin durchstreift und seine Beobachtungen notiert‘, schreibt René König in seinem Abriß über ‚Die Pioniere der Sozialökologie in Chicago‘. Das erinnert an Riehls ‚Wanderstudium‘ und an die Figur des Flaneurs, wie sie von Walter Benjamin gezeichnet wurde.“ (Lindner 1990, S. 10; Lindner zitiert ohne Seitenangabe aus König 1978)
Wie Roland Ette bemerkt, findet sich das Motiv des Flaneurs als eines Lesers der Stadt auch bei Barthes, der den während des Gehens produzierten Sinn aber alsbald zum Zwecke der Analyse von der Straße in jene „Sinnküche“ heimholt, als die er seine semiologischen Seminare bezeichnete: „‚Wenn ich mich auf der Straße – oder im Leben – bewege (déplace) und auf diese Objekte treffe, dann wende ich auf alle, möglicherweise ohne dies selbst zu bemerken, ein und dieselbe Aktivität an, die einer gewissen Lektüre: Der Mensch, der Mensch der Städte verbringt seine Zeit mit lesen. Er ließt zunächst und vor allem Bilder, Gesten, Verhaltensweisen‘ (OC I, 1430) Es ist bezeichnend, daß Barthes hier die Optik des Flaneurs in der Großstadt wählt, um die Vielfalt und Heterogenität der in seinen Blick geratenen und untersuchten, ‚gelesenen‘ Gegenstände zu markieren und dennoch auf eine einzige, die strukturalistische bzw. semiologische Tätigkeit zu beziehen. Der implizite, aber gleichwohl deutliche Rückgriff auf die ‚klassische‘ Formulierung der modernité bei Baudelaire rückt die Problematik der Moderne in den Vordergrund, geht aber dann rasch von der Straße des Flaneurs zu einer geschlossenen Räumlichkeit über, der cuisine du sens, der Sinnküche, in der sich der Semiologe wie der Linguist zu bewegen hätten (OC I, 1431). In gewisser Weise war die Sinnküche Barthes’ sein Semiologie-Seminar an der Ecole Pratique des Hautes Etudes. Denn in dem 1963 abgefassten Bericht des
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Idiographien, Flaneure und Idiologie ersten Teils seiner von 1962 bis 1964 stattfindenden und später berühmt gewordenen Lehrveranstaltungen über zeitgenössische Bedeutungssysteme wie Kleidung, Nahrung oder Wohnung hebt er hervor, daß einer Diskussion der Saussureschen Semiologie, ihrer Grundlagen, ihrer Grenzen und der Möglichkeiten, ihre Begrifflichkeit den neuen Lebenskontexten anzupassen, in einem zweiten Schritt die Entwicklung von ‚Elementen der Semiologie‘ zu folgen habe, die den Studenten die Anwendung des erworbenen semiologischen Wissens auf die verschiedensten Bereiche erleichtern solle (OC I, 1153). [... B]edeutsam[...] ist die Tatsache, daß all jene Objekte, die der Flaneur gleichsam auf der Straße findet, in jene cuisine du sens gebracht werden und in mündlicher Form das Seminar, in schriftlicher aber die Elemente der Semiologie hervorbringen.“ (Ette 1998, S. 226f.; Ette zitiert im Bezug auf Barthes 1983 aus einem in Barthes 1993ff. enthaltenen Beitrag, den dieser 1964 für Le Nouvel Observateur verfasst hatte.)
Und als eine Form des surrealistisch inspirierten détournments, der „Entführung“ bzw. „Veruntreuung“ – gemeint ist eine Zweckentfremdung von Materialien, die bereits in einem anderen Zusammenhang verwendet wurden –, taucht das Motiv des ziellos umherstreifenden Beobachters unter dem Stichwort der dérive, der „Abdrift“, auch im Kontext der von den Situationisten empfohlenen Erkenntnisverfahren auf (vgl. Debord 2006b). „To dérive is to wander, to drift around the city. It can be seen as an important part of a more general acitivity – détournment [sic!], an approach to montage that stresses the necessity of negating elements of culture as a prelude to their transformation. A dérive is a practical détournment whereby the order of the city is negated in favour of a drift that allows the disordered forces of the city to be revealed: the play of affects and attractions of an urban psycho-geography. An often quoted example of this is the friend of Guy Debord who ‚wandered through the Hartz region of Germany while blindly following the directions of a map of London‘ (Debord 1981a: 7). […] The dérive, in its observant aimlessness, assumes that the urban everyday can best be perceived as a form of unconsciousness. Drifting around cities is a form of urban ‚free association‘ that is designed to reveal the hidden secrets of the urban everyday.“ (Highmore 2002a, S. 139f.; Highmore zitiert Debord [2006a, dort S. 11] aus der ersten Ausgabe von Knabb 2006)
Auf den „Gehen in der Stadt“ überschriebenen Abschnitt in de Certeaus Kunst des Handelns wurde bereits hingewiesen. Während de Certeau von seinem erhöhten, strategischen Ort im 110. Stockwerk des World Trade Centers die Stadt als eine „Dünung aus Vertikalen“ liest, die vor seinen Augen erstarrt und sich „in ein Textgewebe“ verwandelt (1988, S. 179), ereignet sich das für die alltägliche Erfahrung der Stadt charakteristische Gehen, das wie das Lesen eine „stille Produktion“ ist – die Fußgänger schrei213
Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ben den städtischen Text, ohne ihn lesen zu können (vgl. ebd., S. 182) – in den Straßen unter ihm. Wie de Certeaus „Wandersmänner“ (und -frauen) auf den Straßen der Stadt ist der Flaneur ständig in Bewegung, hat keinen eigenen Ort, an dem er verweilt, sondern ist in seinem taktischen Tun auf ein ihm vorgegebenes, fremdes Terrain angewiesen. Während die anderen aber ihren Geschäften nachgehend durch die Straßen eilen, ohne die Gelegenheit zu haben, ihrem alltäglichen Handeln Erfahrungen abzugewinnen, verfügt der Flaneur, der kein Ziel verfolgt, über genügend Zeit, das auch in seinem Fall flüchtige Produkt seines Tuns, des Gehens, zu reflektieren. Es ist dieses Ausschöpfen der Zeitlichkeit seines Handelns, das selbst ein taktisches ist, das den Flaneur zum idealen Beobachtertypus für die Erkundung des Alltäglichen macht.
Abb. 17: „Oft reichen schon ein paar Schritte, damit sich völlig neue Perspektiven eröffnen...“ (TANIGUCHI 2009, Umschlagtext, Abb. auf S. 30)
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Idiographien, Flaneure und Idiologie Der häufig als „der europäischste unter den japanischen Comicautoren“ bezeichnete mangaka TANIGUCHI Jirô hat dem Wahrnehmungsmodus des Flaneurs, den er allerdings aus den Pariser Arkaden des ausgehenden 19. auf die Straßen einer nicht näher bestimmten japanische Großstadt des späten 20. Jahrhunderts versetzt hat, mit Der spazierender Mann (2009) ein ganzes Buch gewidmet. Wenn es darum geht zu forcieren, selbst alltägliche musikalische Lesakte zu begehen oder andere dabei zu beobachten, wie sie solche Lesakte begehen, die zur Produktion von verwertbaren Idiographien erster bzw. zweiter Ordnung führen, ist man als sich dem Alltäglichen widmender Musikwissenschaftler meiner Erfahrung nach nicht schlecht damit beraten, es selbst dem spazierenden Mann gleich zu tun und auch seine Idiographen zur Flanerie aufzufordern. Es kommt sicherlich nicht von ungefähr, dass die musikwissenschaftliche Literatur, die sich explizit dem Alltäglichen widmet, dies so häufig am Beispiel der Benutzung von mobilen Audiotechnologien tut (vgl. neben Bull 2000 auch Hosokawa 1991).
Idiologie In Analogie zu der in der US-amerikanischen cultural anthropology üblichen Verwendung der Begriffe ethnography und ethnology, wobei mit ethnography die Beschreibung der Kultur einer einzelnen sozialen Gruppe gemeint ist, während die vergleichende Analyse verschiedener soziokultureller Systeme als ethnology bezeichnet wird, werde ich im Zusammenhang mit der vergleichenden Analyse von Idiographien im Folgenden von Idiologie sprechen. Eine solche vergleichende Forschung, für die sich eine nach den oben formulierten Kriterien zusammengetragene Sammlung von Idiographien meines Erachtens am besten als Ausgangsbasis eignen würde, stellt die Voraussetzung dar für die Beantwortung bzw. die Bearbeitung der im vorangegangenen Kapitel auf Grundlage des erkenntnisleitenden Modells spezifizierten Fragen und Forschungsgegenstände, wobei mir forschungsarchitektonisch eine Bearbeitung in umgekehrter Reihenfolge angeraten zu sein scheint. 4. Die Rahmen: Um herauszufinden, welchen Einfluss die jeweilige Rahmung in dem Augenblick, in dem ein musikalischer Text gelesen wird, auf diesen Lesakt hat, bietet sich ein Vergleich von
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen Idiographien an, die von verschiedenen Lesern stammen, die den gleichen Text unter verschiedenen Rahmenbedingungen gelesen haben. Die im vorangegangenen Kapitel angestellte Gegenüberstellung der Intonation der Nationalhymne im Rahmen eines Fußballländerspiels und im Rahmen eines Staatsbesuches stellt einen solchen, wenn auch nur an hypothetischen Beispielen vollzogenen Vergleich dar. Dass die dabei verglichenen Idiographien von unterschiedlichen Leser stammen, ist deshalb entscheidend, weil davon auszugehen ist, dass eine wiederholte Lektüre des gleichen Textes durch den gleichen Leser vielleicht mehr noch als durch die jeweilige Rahmung durch die Spuren beeinflusst wird, die die vorhergehende Lektüre dieses Textes in diesem Leser hinterlassen hat, dass also die verpersönlichte Biographie eines musikalischen Textes größeren Einfluss auf einen erneut an diesem Text vollzogenen Lesakt hat als die Rahmung, in der sich dieser erneute Lesakt abspielt: Der unglückliche Wagnerhörer aus der Idiographie 2 wird den Parsifal eventuell nie wieder so hören können wie vor jenem Karfreitag, an dem die Oper ihm in einer existentiellen Krise als Gefühlskatalysator diente, egal in welchem Rahmen sich dieses wiederholte Hören auch ereignet; und der Protagonist aus MURAKAMI Harukis Mister Aufziehvogel wird sich auch bei einer Aufführung der Diebischen Elster in einem Opernhaus, die er in Zukunft eventuell noch besuchen wird, der Assoziation der Musik mit italienischen Teigwaren nicht erwehren können. Da es sich bei den in einer Gesellschaft relevanten Rahmungen um ein kollektives, vom Einzelnen kulturell erlerntes Bedeutungssystem handelt, an dem ich als Musikwissenschaftler, der in seiner eigenen Gesellschaft forscht, ebenfalls Anteil habe, und da sich die Rahmen üblicherweise eher über raum-zeitliche und personelle Faktoren definieren als über einen bestimmten musikalischen Text – auch wenn nicht a priori ausgeschlossen werden kann, dass es Rahmen gibt, für die die Intonation eines spezifischen musikalischen Textes den entscheidenden Rahmungshinweis darstellt –, sollte eine Identifikation der Rahmen mit Hilfe des methodischen Rüstzeugs, das die von Goffman entwickelte Rahmenanalyse bereitstellt, ohne größere Probleme möglich sein. 3. Der musikalische Text: Nachdem ich Martin Bulawas Essay über seinen alltäglichen Umgang mit Musik und vor allem jenen zu Beginn dieser Arbeit als Idiographie 3 wiedergegebenen Abschnitt über die Bedeutung, die der Song Bitter Sweet Symphony von The Verve für ihn hat, gelesen hatte, bat ich eine Reihe von
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Idiographien, Flaneure und Idiologie Studierenden, die ebenfalls an dem Seminar teilgenommen hatten, zu mir, um ihnen dieses Lied vorzuspielen und zu hören, was es für sie bedeutet. Auch wenn im Zusammenhang mit dieser Einladung nicht von einer systematisch durchgeführten Forschung gesprochen werden kann – über ein kohärentes erkenntnisleitendes Modell, auf dessen Grundlage ein solches Verfahren überhaupt erst zu einer theoretisch begründeten Methode wird, verfügte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht – hat sich dieses Vorgehen, bei dem der Rahmen und der musikalische Text beibehalten, aber verschiedene Leser befragt wurden, im Nachhinein als recht erkenntnisreich im Hinblick darauf erwiesen, was die kollektiven und was die individuellen Anteile an dem im Vollzuge dieser Lesakte hergestellten Sinn sind. Der Song Bitter Sweet Symphony der britischen Band The Verve basiert auf einem als Hookline verwendeten Sample aus einer vom Andrew Oldham Orchestra eingespielten Version des Rolling Stones-Songs The Last Time. Da, wie nachher behauptet wurde, die Rechte für die Verwendung des Samples im Vorfeld nicht in ausreichendem Umfang eingeholt worden waren, kam es, nachdem der Song einen fulminanten Erfolg verzeichnete, zu einem von Allen Klein, dem Rechteinhaber an den frühen Rolling Stones-Songs aus den 1960er Jahren, angestrengten Prozess, in dessen Verlauf Mick Jagger und Keith Richards die Urheberrechte und Kleins Firma ABKCO Records die Verwertungsrechte für Bitters Sweet Symphony zugesprochen wurden (vgl. O’Connor 1999). In der medialen Aufmerksamkeit, die diesem Prozess zuteil wurde, ist sicherlich eine der Ursachen dafür zu sehen, dass der Song selbst von einigen der von mir befragten Studierenden mit den Rolling Stones assoziiert wurde, die deren Song The Last Time gar nicht kannten, geschweige denn die vom Andrew Oldham Orchester eingespielte orchestrale Version des Songs, und folglich die Assoziation nicht aufgrund des daraus verwendeten Samples hatten herstellen können. Noch häufiger als die Assoziation mit den Rolling Stones wurde aber die auch von Martin Bulawa beschriebene Assoziation mit dem Verhalten genannt, das Richard Ashcroft, Sänger von The Verve, im Musikvideo zu dem Song an den Tag legt: völlig unbeirrt von allem, was um ihn herum geschieht, und ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten oder seine Schritte zu verlangsamen geht er den Bürgersteig einer etwas heruntergekommenen Straße in North London entlang. Dabei wirkt er nicht offenkundig wütend, sondern nur ignorant und rücksichtslos, wenn er jede Person, die ihm entgegenkommt, ungeachtet ihres Alters, Geschlechts und ihrer körperlichen Verfasstheit vor die Alternati-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ve stellt, ihm entweder auszuweichen oder angerempelt zu werden. Interessanterweise wurde diese Assoziation sogar von Studierenden genannt, die später angaben, das Video, das ich ihnen erst im Anschluss an die Befragung zeigte, zuvor noch nie gesehen zu haben. Während diese von mehreren Studierenden hergestellten Assoziationen also offenkundig den kollektiven Anteil an dem im Vollzug der durch mich provozierten Lesakte hergestellten Sinn darstellten – sozusagen im Zuge von Barthes’ studium aufgedeckte Elemente der „soziale Biographie“ des Songs –, wurden von einzelnen Studierenden aber auch Assoziationen beschrieben, die eindeutig auf ihre jeweils persönlichen Erfahrungen bezogen und dementsprechend völlig individuell waren: die Erinnerung an den Augenblick, in dem sie diesen Song zum ersten Mal gehört hatten, oder an einen für sie persönlich besonderen Augenblick, in dem das Lied gespielt wurde, und der der Anlass dafür war, das aus diesem Lied unter vielen für sie ein besonderes Lied wurde. Diese Erinnerungen, die an Barthes’ punctum gemahnen, stellen Elemente dessen da, was Mendívil als die verpersönlichte Biographie eines Liedes bezeichnet hat. Es gab aber auch Studierende, die erklärten, trotz des enormen Erfolgs, den Bitter Sweet Symphony Ende der 1990er Jahre verzeichnen konnte, und obwohl es seitdem z.B. auch mehrfach zur musikalischen Untermalung von Fernseh- und Rundfunkwerbungen verwendet wurde, bislang weder den Song selbst, noch etwas über den Song gehört zu haben. Sie wussten weder etwas über das darin verwendete Rolling Stones-Sample, den darum geführten Prozess, die Verwendung des Songs in der Werbung, den Inhalt des dazugehörigen Musikvideos oder andere Elemente seiner soziale Biographie, noch hatte das Lied für sie eine persönliche Bedeutung. Auch diese Studierenden produzierten, während ich es ihnen – zunächst ohne das dazugehörige Video zu zeigen – vorspielte, Sinn: so erinnerte das Lied einen Studenten z.B. an Musicals. Ohne weiterführende Untersuchungen ist der Status der Assoziationen, die von diesen Studenten genannt wurden, im Hinblick auf ihre Kollektivität bzw. Individualität aber nur schwer zu bestimmen. Von den wenigen Studierenden, die ich damals ziemlich spontan und noch ohne eine theoretisch begründete Vorstellung davon zu haben, worauf ich eigentlich hinaus wollte, nach dem Sinn gefragt habe, den das Hören von Bitter Sweet Symphony für sie macht oder, genauer, den sie während des Hörens von Bitter Sweet Symphony machen, war es nur dieser eine Student, der die Assoziation zu den Musicals herstellte. Wäre das Sample der befragten Personen größer gewesen,
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Idiographien, Flaneure und Idiologie wäre die Assoziation vielleicht aber häufiger genannt worden, was zumindest darauf hingedeutet hätte, dass ihre Ursache eher in den im Lesakt aktualisierten kollektiven Bedeutungssystemen zu suchen ist, als in der Person des individuellen Hörers, der diese Assoziation herstellt. 2. Der einzelne Leser: Während die Beschäftigung mit den Rahmungen einzelner musikalischer Lesakte und mit den sozialen Biographien einzelner musikalischer Texte nur insofern als Bestandteil einer so konzipierten Musikwissenschaft des Alltäglichen gelten kann, als dass diese Rahmen und sozialen Biographien in ihrer Funktion als kollektive Bedeutungssysteme Einfluss auf den einzelnen Lesakt nehmen, während sich ihre Entstehung aber jenseits des Alltäglichen vollzieht, markieren die verpersönlichten Biographien einzelner musikalischer Texte den Grenzbereich zwischen dem Alltäglichen und dem NichtAlltäglichen. Aus der Perspektive des musikalischen Textes zwar als dessen verpersönlichte Biographien bezeichnet, ist ihr eigentlicher Ort der individuelle Leser. Und eben weil sie mit dem Gedächtnis des Lesers einen Ort haben, an dem der im Vollzug verschiedener Lesakte des gleichen musikalischen Textes fabrizierte Sinn über den Augenblick seiner Fabrikation hinaus akkumuliert und aufbewahrt werden kann, sind sie streng genommen nicht mehr alltäglich. Aufgrund ihrer Subjektivität und solange sie nur als eine diffuse mentale Einheit im Leser existieren, die sich auf eine Art und Weise aus dem in einzelnen Lesakten des gleichen musikalischen Textes produzierten Sinn zusammensetzen, die vom Leser selbst nicht bewusst gemacht, analysiert und kommuniziert worden ist, sind sie aber nach der hier in Anlehnung an de Certeau gemachten Definition dem Alltäglichen zumindest verhaftet. Es ist davon auszugehen, dass der individuelle Leser im Vollzuge eines einzelnen Lesakts nicht nur kollektive Bedeutungssysteme aktualisiert, sondern dass dabei auch Erfahrungen zum Tragen kommen, die er im Verlaufe der bis zu diesem Zeitpunkt von ihm an unterschiedlichen musikalischen Texten vollzogenen Lesakte gemacht hat, die sich in ihm akkumuliert und zur Ausbildung eines nicht nur sozial, sondern vor allem auch biographisch geprägten Habitus geführt haben. Um über die verpersönlichten Biographien einzelner musikalischer Texte hinaus herauszufinden, welchen Rolle der individuelle Leser als Instanz im Vollzuge eines einzelnen musikalischen Lesaktes spielt, bietet sich der Vergleich von Idiographien solcher Lesakte an, die von dem-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen selben individuellen Leser an verschiedenen musikalischen Texten vollzogen wurden. Natürlich würde ein solcher Vergleich erleichtert, wenn sich diese Lesakte innerhalb des gleichen Rahmens ereignet hätten. Es ist realistischerweise aber wohl kaum davon auszugehen, dass sich die Erfahrungen, die die Grundlage für die Ausprägung des individuellen Habitus eines Lesers in Bezug auf musikalische Texte bilden, aus Lesakten speisen, die allesamt unter gleichen Rahmungsbedingungen stattgefunden haben. Wenn es also darum gehen soll, das Zustandekommen eines solchen individuellen Habitus retrospektiv nachzuvollziehen, wird man bei der Analyse der diesen Habitus konstituierenden Lesakte nicht nur die unterschiedlichen musikalischen Texte, an denen sie sich vollzogen haben, zu berücksichtigen haben, sondern auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie sich ereigneten. Im Hinblick auf den individuellen Leser als Forschungsgegenstand wäre bei der Anlage einer als Materialgrundlage dienenden Sammlung von Idiographien also darauf zu achten, dass diese eine größere Zahl von Idiographien enthält, die den im Verlaufe von an verschiedenen musikalischen Texten vollzogenen Lesakten desselben Lesers produzierten Sinn repräsentieren. 1. Der einzelne Lesakt: Den zentrale Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen, wie sie hier konzipiert wird, stellt der einzelne Lesakt dar: nur er ist auch im engeren Sinne der hier vorgeschlagenen Definition alltäglich. Da dieser Lesakt aber stets durch im Sinne dieser Definition nicht- oder nicht gänzlich alltägliche Faktoren wie kollektiv geteilte und vom Einzelnen kulturell erlernte Bedeutungssysteme und einen jeweils durch persönliche Erfahrungen begründeten individuellen Lesehabitus determiniert wird, lässt sich der in seinem Vollzug hergestellte Sinn bzw. dessen sprachliche Repräsentation, die Idiographie, nicht isoliert als eine in sich abgeschlossene Entität untersuchen. Eine vorausgehende Bestimmung des fremden Terrains, auf dem sich der musikalische Lesakt als eine Form des alltäglichen, weil taktischen Handelns zwangsläufig vollzieht, ist, einer substrahierenden Logik folgend, sicherlich eine geeignete Maßnahme, will man das jeweils Partikuläre, und damit das eigentlich Alltägliche am einzelnen Lesakt bestimmen. Für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen gilt es das, was übrig bleibt, nachdem die auf illokutionärer Ebene hergestellten kollektiven Anteile an dem im Vollzug eines einzelnen Lesaktes hergestellten Sinn identifiziert worden sind, auf Regelhaftigkeiten hin zu untersuchen. Und eine, wenn nicht die
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Idiographien, Flaneure und Idiologie entscheidende Frage wird sein, ob sich dabei auch über die von einem einzelnen Leser vollzogenen Lesakte hinaus Regelmäßigkeiten feststellen lassen. Solche transindividuell gültigen Regelhaftigkeiten individuellen Verhaltens wären Bestandteile von und Beweis für die Existenz einer intersubjektiv gültigen Grammatik taktischen Handelns, wie sie Michel de Certeau vorschwebte. Dass eine solche Idee gar nicht so abwegig und auch keinesfalls einzigartig ist, davon zeugen Mechanismen wie die Verdrängung, die Verdichtung und die Verschiebung, die Freud im Rahmen der von ihm entworfenen Theorie des Unbewussten nur deshalb feststellen konnte, weil er sich der sicher naheliegenderen Idee einer Dechiffriermethode für die manifesten Trauminhalte verweigerte und auf den Umweg über die persönlichen Assoziationen des Träumers oder „Fehlleistenden“ beharrte, um an den latenten Traumgedanken zu gelangen, der sich hinter einem jeweils spezifischen Traum verbirgt. Es soll hier nicht die uneingeschränkte Gültigkeit der Freudschen Psychoanalyse im Allgemeinen oder der Traumdeutung und der Theorie der Fehlleistungen im Besonderen behauptet werden; im Hinblick auf die theoretische Architektur und den Stellenwert, der darin jeweils dem Kollektiven, dem Individuellen und dem Partikulären zugewiesen wird, kann Freuds Arbeit aber als Vorbild für eine Musikwissenschaft des Alltäglichen dienen, wie sie hier vorgeschlagen wird. Damit nicht zu guter Letzt doch noch Missverständnisse aufkommen: Die Forderung nach einer Musikwissenschaft des Alltäglichen ist nicht verbunden mit der Forderung, alles anders zu machen! Es geht nicht darum, dass musikalisches Verhalten nicht mehr durch Medialisierungen, durch Verschriftlichung, durch Klang- oder audiovisuelle Aufzeichnungen seinem raumzeitlichen Kontext enthoben werden dürfte, oder die Produkte dieser Transzendierungsprozesse – Notentexte, die die Voraussetzung sind für die Existenz musikalischer Werke, Musikaufnahmen, seien sie analog oder digital, Film- oder Fernsehmitschnitte von musikalischen Aufführungen oder Musikvideos – zu verhindern. Auch geht es nicht darum, dass diese Produkte nicht mehr als Texte, auch um ihrer selbst willen gelesen oder analysiert werden dürften. Nicht nur Musikwissenschaftler tun das andauernd, und es ist nicht einzusehen, warum man damit aufhören sollte. Vielmehr geht es darum, sich bewusst zu machen, dass diese Produkte und Werke losgelöst vom raum-zeitlichen Kontext ihrer Produktion und Rezeption (die auch immer eine stille Produktion ist), im empirischen Sinne nur schwer greifbare Gegen-
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen stände darstellen, dass die Identität des musikalischen Textes (und in stärkeren Maße noch die der Musik) eine Reifizierung darstellt – was, auf die Gefahr hin mich zu wiederholen, nicht bedeutet, dass diese Reifizierung nicht hätte stattfinden dürfen. Natürlich kann man eine Kopie von The Crying Light, der neuesten CD von Antony and the Johnsons, in der Hand halten, oder, besser noch, sie in den CD-Player legen und sich anhören. Wenn man mich fragt, sollte man das sogar tun, denn meiner sehr persönlichen Auffassung nach handelt es sich dabei um eines der schönsten Alben der letzten Jahre; ich weiß nicht, wie oft ich diese CD gehört habe, während ich diese Arbeit geschrieben habe. Wenn das, was ich in der Hand halte oder in den CD-Player lege, aber eine Kopie ist, was ist denn dann „die neue Antony and the Johnsons“? Das Masterband im Besitz der Plattenfirma? Die Notentexte, die den Musikern bei den Aufnahmen im Studio als Gedächtnisstützen gedient haben? Die autographe Partitur aus der Hand Antony Hegartys? Gibt es die überhaupt? The Crying Light ist das Ergebnis eines komplexen, Medialisierungen voraussetzenden Reifizierungsprozesses, der glücklicherweise stattgefunden hat, sonst hätte ich nicht in immer wieder neuen Lesakten Sinn daraus generieren können, und wenn auch nur einen augenblicklichen, den ich im Nachhinein vielleicht nicht mehr zu beschreiben vermag. Wenn musikalische Produkte den primären Gegenstand der Musikwissenschaft darstellen, dann tun sie das auf Kosten unzähliger, durchaus ganz realer und empirisch greifbarer musikalischer Akte, die, gleichsam als Nährboden, um den Lefebvreschen Begriff zu gebrauchen, erst die Voraussetzung dafür sind, dass diese Verdinglichungsprozesse überhaupt stattfinden können. Die Produkte der Musikindustrie, einzelne musikalische Werke und noch viel mehr die Musik an sich sind die im Zuge von Medialisierungsprozessen zustande gekommenen Verdinglichungen eben dieser alltäglichen Akte. Das sollen sie auch weiterhin sein und als solche sollen sie auch weiterhin ein Gegenstand der Musikwissenschaft sein. Darüber hinaus gilt es aber auch, verstärkt einen Fokus zu werfen auf die alltäglichen Akte, aus denen sie hervorgegangen sind, und auf die Prozesse, mittels derer sie daraus hervorgebracht wurden. Nicht, dass dies nicht vereinzelt schon getan worden wäre. Eine Musikwissenschaft des Alltäglichen, wie sie hier vorgeschlagen wird – der indefinite Artikel wurde hier bewusst verwendet; eine anders konzipierte Musikwissenschaft des Alltäglichen ist natürlich denkbar –, ist als ein Entwurf gedacht, der dazu dienen soll, die Thematisierungen dieser Pro-
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Idiographien, Flaneure und Idiologie zesse im Hinblick auf den Aspekt ihrer Alltäglichkeit zu bündeln und zu systematisieren. Als taktisches Handeln definiert, entzieht sich das Alltägliche der wissenschaftlichen Praxis, die per Definition ein strategisches Handeln ist. Es ist daher auch gar nicht verwunderlich, dass dem Alltäglichen auch von Seiten der Musikwissenschaft bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Um das zu ändern, bedarf es zunächst einer Definition des Begriffes „alltäglich“ und damit des Gegenstandes einer Musikwissenschaft des Alltäglichen. Da das Alltägliche ein Begriff ist, der weit über den Bereich der Musik hinausweist, war nicht davon auszugehen, dass sich innerhalb des musikwissenschaftlichen Diskurses eine Definition dafür finden lassen würde. Die „Abdrift“ – weg vom musikwissenschaftlichen Diskurs, weg von jeglicher Beschäftigung mit Musik über die Psychoanalyse, die avantgardistische Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, eine französische Soziologie, die noch keinen Unterschied zur Ethnologie kennt und sich nicht in erster Linie für das Alltägliche interessiert, hin zu einer marxistisch inspirierten französischen Soziologie, die diesen Unterschied kennt und sich des Alltäglichen als eine Gegenstandes sui generis annimmt, zur strukturalistischen und poststrukturalistischen Semiologie und zu jenem Buch von Michel de Certeau, das ich keiner einzelnen Fachdisziplin eindeutig zuzuordnen vermag – war umständlich, aber meines Erachten notwendig, um an eine solche Definition des Alltäglichen zu gelangen. Und als ich wusste, wonach genau ich suchte, war es mir möglich, mir Gedanken darüber zu machen, wie diese Suche am besten zu bewerkstelligen sein wird. Nun gilt es das zu tun, was mir bislang noch nicht möglich war, und was die Kapazitäten eines einzelnen Musikwissenschaftlers auch mit Sicherheit übersteigen wird. Sollte der hier gemachte Vorschlag auf Zustimmung stoßen, gälte es zunächst, eine möglichst umfangreiche Sammlung von Idiographien anzulegen, auf deren Grundlage anschließend eine idiologische Erkundung unseres alltäglichen Umgangs mit Musik erfolgen könnte. Parallel dazu wäre danach zu fragen, wie sich die hier vorgeschlagene Definition des alltäglichen Umgangs mit Musik und die daraus entwickelte Methodologie, die hier vorgestellt wurde, zu dem verhalten, was in der musikwissenschaftlichen Literatur an als Idiographien verwendbaren Informationen und im Hinblick auf das Alltägliche relevanten methodischen und theoretischen Überlegungen zu finden ist. Auch wenn ich nicht weiß, wie eine solche Fragestellung systematisch anzugehen ist, bin ich doch überzeugt davon, dass es viel ist, was gefunden werden wird. Denn auch, wenn sich das Alltägliche nicht zuletzt darüber
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Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen definiert, das es sich der Aufmerksamkeit der Wissenschaften als Gegenstand immer wieder entzieht, hinterlässt es nach Michel de Certeau doch auch in den Produkten der wissenschaftlichen Praxis seine Spuren.
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Silke Borgstedt Der Musik-Star Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams 2007, 314 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-772-1
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Studien zur Popularmusik Fernand Hörner, Oliver Kautny (Hg.) Die Stimme im HipHop Untersuchungen eines intermedialen Phänomens 2009, 204 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-998-5
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Julio Mendívil Ein musikalisches Stück Heimat Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager 2008, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-864-3
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Studien zur Popularmusik Michael Custodis Klassische Musik heute Eine Spurensuche in der Rockmusik 2009, 274 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1249-3
Annemarie Firme, Ramona Hocker (Hg.) Von Schlachthymnen und Protestsongs Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg 2006, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-561-1
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