Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft [1. Aufl.] 9783839422069

Was sind Bedingungen, Voraussetzungen und Gestaltungsmöglichkeiten einer interkulturellen Wissenschaft? Der Band versamm

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German Pages 336 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Laudatio anlässlich des Festkolloquiums zu Alois Wierlachers 80. Geburtstag
40 Jahre Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache
Laudatio zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Alois Wierlacher
Zugänge
Poetik und Hermeneutik der Interkulturalität
Interkulturalität
Wechselkritik und Ergänzung
Zwei Krisen, kulturelle Fremde und die eine Welt
Tischgespräche über das Fremde
Themen und Gegenstände
Orts-Botschaften
Reden und Essen im und vor dem Fernseher
Tempuswahn
Was ist ein Wort?
Günter Grass: Danzig und Polen
Verschränktes Nebeneinander
Sprechweisen
Zur Dialogfähigkeit in der interkulturellen Wissenschaftskommunikation
Vom Lesen sprechen
Der Essay als (Dis-)Kurs-Form
Gesprächsräume
Zwischen den Kulturen? Zwischen den Zeilen?
Vom Paradox fremdsprachlicher Kommunikation zur Potentialität mehrsprachiger Räume
Interkulturalität als kreatives Milieu
Autorinnen und Autoren
Tabula gratulatoria
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Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft [1. Aufl.]
 9783839422069

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Corinna Albrecht, Andrea Bogner (Hg.) Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 5

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Corinna Albrecht, Andrea Bogner (Hg.)

Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2206-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2206-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Laudatio anlässlich des Festkolloquiums zu Alois Wierlachers 80. Geburtstag – Zugleich eine Einführung in den Band

CORINNA ALBRECHT UND ANDREA BOGNER | 11 40 Jahre Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache

HANS-JÜRGEN KRUMM | 19 Laudatio zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Alois Wierlacher

WANG JIANBIN | 27

ZUGÄNGE Poetik und Hermeneutik der Interkulturalität

NORBERT MECKLENBURG | 31 Interkulturalität. Ein Konzept in der Diskussion

CORINNA ALBRECHT | 53 Wechselkritik und Ergänzung. Zur langzeitigen Wirkungsgeschichte der deutschfranzösischen Beziehungen – von Forster bis Durkheim

WILLY MICHEL / EDITH MICHEL | 69 Zwei Krisen, kulturelle Fremde und die eine Welt. Zum Wandel des Interesses, Andere zu verstehen

DIETRICH KRUSCHE | 87 Tischgespräche über das Fremde. Zum Problem der Xenophagie

WOLF DIETER OTTO | 105

THEMEN UND G EGENSTÄNDE Orts-Botschaften. Orte in Jordanien und Syrien

GÖTZ GROSSKLAUS | 127 Reden und Essen im und vor dem Fernseher. Serienfiguren und Serienzuschauer im Umgang mit dem Kulinarischen

REGINA F. BENDIX | 137 Tempuswahn

ULRICH ENGEL | 155 Was ist ein Wort? Von der Analyse der sprachlichen Spezifika zur Vermittlung interkultureller Kompetenz

LIU DEZHANG | 173 Günter Grass: Danzig und Polen. Eine essayistische Skizze

NORBERT HONSZA | 183 Verschränktes Nebeneinander. Überspielte Kulturdivergenzen an der deutsch-niederländischen Grenze

HORST STEINMETZ | 199

S PRECHWEISEN Zur Dialogfähigkeit in der interkulturellen Wissenschaftskommunikation

YONG LIANG | 215 Vom Lesen sprechen. Eine Miniatur über das interkulturelle Lesergespräch in der Vermittlungspraxis interkultureller Germanistik

BARBARA DENGEL | 235 Der Essay als (Dis-)Kurs-Form. Kleiner Beitrag zum interkulturellen Kanon

HINRICH C. SEEBA | 245

G ESPRÄCHSRÄUME Zwischen den Kulturen? Zwischen den Zeilen? Oder: Vom Umgang mit übersetzten Gedichten

ANDREAS F. KELLETAT | 263 Vom Paradox fremdsprachlicher Kommunikation zur Potentialität mehrsprachiger Räume

ANDREA BOGNER | 289 Interkulturalität als kreatives Milieu. Zum Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies

KARL ESSELBORN | 303 Autorinnen und Autoren | 32 7 Tabula gratulatoria | 331

Paul Klee: Twittering Machine (1922)

Laudatio anlässlich des Festkolloquiums zu Alois Wierlachers 80. Geburtstag Zugleich eine Einführung in den Band C ORINNA A LBRECHT UND A NDREA B OGNER

Lieber Herr Wierlacher, verehrte Gäste, an uns, die wir den Laureaten in der Entwicklung einer interkulturellen Germanistik in unterschiedlichen Phasen begleitet haben, ist es nun, eine Lobrede zu halten. Wie tun wir das? Wir folgen einem Leitgedanken interkultureller Germanistik, indem wir das vermeintlich Selbstverständliche zum Gegenstand des Fragens machen. Generationen von Studierenden hat Alois Wierlacher über die Erzählung Zum Geburtstag von Marie-Luise Kaschnitz in das Fach Interkulturelle Germanistik eingeführt, indem er die Infragestellung eines vermeintlich geteilten Wissens vorgeführt und den Gabentisch zum Symbol ethnozentrischer Selbstdarstellung erklärt hat. In diesem Sinne ist zunächst die Frage nach der kommunikativen Gattung ›Laudatio‹, der wir uns zuwenden und den Aufgaben, die uns daraus erwachsen, zu stellen. Denn auch die Lobrede, die Laus, wird erst zu einer solchen, wenn sie bestimmten kommunikativen Zwecken genügt und von einer Gemeinschaft geteilt, erkannt und anerkannt wird. Folgen wir der griechischen Tradition, die unabhängig von jedem praktischen Bezug allein der Unterhaltung der Zuhörer dient, oder weisen wir ihr – dem römischen Beispiel folgend – eine konkrete Rolle im öffentlichen Leben zu? Den mittelalterlichen Gepflogenheiten folgend müssten wir durch das Loben charakteristischer Eigenschaften den idealen Charakter eines Menschentypus zum Vorschein bringen, die dann im Sinne eines Vorbilds als lobenswert,

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erwünscht und angemessen erachtet werden. Da der Typus des Wissenschaftlers im mittelalterlichen Repertoire nicht vertreten ist und mithin auch keine Musterbeschreibungen vorliegen, folgen wir dem Modell der narratio und Melanchthons Empfehlungen für das Lob der Person. Aus seinem Katalog der sogenannten Beweisgründe wählen wir die folgenden aus: das ingenium, educatio und disciplina, die doctrina, die Taten und Auszeichnungen und werden versuchen zwischen persuadere und delectare Alois Wierlachers Werdegang zu skizzieren und seine besonderen Verdienste und Leistungen als Wissenschaftler zu würdigen. Seine akademische Laufbahn beginnt mit dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Köln, München, Wien und Bonn, wo er 1964 mit einer Arbeit zum Bürgerlichen Trauerspiel promoviert. Die Entscheidung für seinen Doktorvater, Richard Alewyn, war richtungsweisend. Mit ihm verbindet sich das Verständnis von Literatur und Literaturwissenschaft in konkreten historischen Kontexten, das sich von überzeitlichen universelleren und ungleich populäreren Auffassungen von Germanistik abhebt, wie sie in Bonn in der Person Benno von Wiese seinerzeit repräsentiert waren. Seinem akademischen Lehrer, Richard Alewyn, verdankt Alois Wierlacher auch seine Tätigkeit als Assistant Professor of German an der UCLA. Die dort verbrachten Jahre von 1964-66 waren in mehrfacher Hinsicht prägend und folgenreich. Zum einen eröffnen sie ihm eine bis dahin unbekannte akademische Freiheit und Gestaltungsspielräume, die ihren Nachhall in zwei Leitsätzen finden, die an Generationen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen als Kern seiner amerikanischen Lehrjahre weitergegeben wurden »it’s up to you« und »you must be devoted to your subject«. Zum anderen hatte ihm seine Auslandslehrerfahrung deutlich gemacht, dass das Modell einer in Deutschland praktizierten Germanistik weder die Lerninteressen noch die Lernbedingungen seiner kalifornischen Studierenden angemessen berücksichtigt. Mit dieser Erfahrung ist er nicht allein. Auch Dietrich Krusche – um nur einen der engen und langjährigen akademischen Freunde zu nennen – bringt diese von seinem Lehraufenthalt in Japan mit. Beide teilen die Einsicht, dass dies nicht ohne Konsequenzen für eine Germanistik in Deutschland bleiben sollte, sehen gleichzeitig aber auch die Widerstände, die einer lernerzugewandten Germanistik entgegenstehen, die eben diese Erfahrung sprachlicher und kultureller Fremdheit zum Ausgangspunkt macht. Eine konkrete Möglichkeit der Umsetzung bietet sich Alois Wierlacher, als das Akademische Rektorat und

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der Senat der Universität Heidelberg ihn beauftragt, ein Konzept für ein gegenwartsbezogenes Deutsch- und Deutschlandstudium ausländischer Studierender auszuarbeiten, das deren Interessen gerechter werden könnte als die im damaligen Kontext der deutschen Germanistik üblichen und möglichen Angebote. Dieser Auftrag und seine Umsetzung werden zum Auftakt für eine mit bewundernswerter Energie, Beharrlichkeit und visionärer Kraft auch gegen Widerstände unermüdlich vorangetriebenen Entwicklungsarbeit, die schließlich in die Etablierung des neuen Faches Interkulturelle Germanistik in der internationalen Hochschullandschaft mündet. Die damit verbundene Lebensleistung lässt sich schwer in wenige Zeilen fassen. Wenn wir im Folgenden nur einige zentrale Stationen schlaglichtartig herausheben, dann um dem genus demonstrativum gerecht zu werden. Die Gründung und Herausgabe des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache 1975, dessen Substanz und Fortbestehen zu würdigen andere übernommen haben, die Gründung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 1984 und deren Ausgestaltung in seiner 10-jährigen Präsidentschaft durch grundlegende und für das Fach richtungsweisende internationale Tagungen und Kongresse, die Institutionalisierung des Faches durch die Einrichtung des ersten grundständigen Magisterstudiengangs Deutsch als Fremdsprache (Interkulturelle Germanistik) in Bayreuth 1987, dessen Aufbau und Weiterentwicklung bis zu seiner Emeritierung 2001 seine Handschrift trägt. Zahlreiche Auszeichnungen belegen die Wirkung und Anerkennung seines Tuns, so die Verleihung der Honorarprofessur der Universität Karlsruhe (1984), die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (1994), der Preis der Dr. Rainer Wild-Stiftung (1994), die Honorarprofessor der Universität Qingdao (2005), die Ehrenmitgliedschaft der Akademie für interkulturelle Studien, die er 1996 mitbegründet hatte (2008), die Verleihung der Gastprofessor der Beijing Foreign Studies University (2011). Dazu unzählige grundlegende Publikationen zu zentralen Themen und Fragestellungen einer interkulturellen Germanistik von programmatischen Arbeiten über literaturwissenschaftliche Analysen und kulturthematische interdisziplinäre Studien bis zum Handbuch interkulturelle Germanistik, die er selbst als Schlussstein seines Aufbruchs und der dadurch angestoßenen Diskussion sieht. Die Universitäten Bonn, Los Angeles, Heidelberg und Bayreuth sind nicht nur Stationen der üblichen akademischen Lehr- und Wanderjahre. Sie stehen für ganz spezifische Lehr- und Forschungszusammenhänge, die

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Alois Wierlacher die Grenzen der Disziplinen haben hinterfragen lassen. Auf dem Weg von der Deutschen Philologie über die Auslandsgermanistik zum Fach Deutsch als Fremdsprachenphilologie entwirft er eine interkulturelle Germanistik als Zwischenposition, die ein Novum in der Wissenschaftslandschaft darstellt. In der öffentlichen Wahrnehmung sind vor allem seine programmatischen Beiträge zur Erweiterung der Philologien und der Begründung einer interkulturellen Germanistik präsent. Was ihn selbst letztlich inspiriert, angetrieben und begeistert hat, ist die Überzeugung, dass aus der Literatur alle ›großen Themen‹ und Modelle der Weltdeutung zu schöpfen sind. Essen, Fremdheit, Toleranz, Gastlichkeit sind die Themen, die er als Kulturthemen in interdisziplinären Forschungsprojekten ergründet hat. Seine Habilitationsschrift Vom Essen in der deutschen Literatur war zum Zeitpunkt ihres Entstehens eine gewagte Pionierleistung. Aus heutiger Sicht nur noch schwer nachvollziehbar hat er dadurch ein Thema im Feld der Literaturwissenschaften überhaupt erst wissenschaftsfähig gemacht. Will man das ingenium des Laureaten Alois Wierlacher fassen, dann in dieser Haltung des Pioniers, Gründers und Visionärs, der sich gegen ein überkommenes enges philologisches Verständnis von Germanistik, überhaupt gegen fachliche Enge und alltags- und lebensferne Wissenschaft stellt, der als Querdenker zwischen den Fächern Grenzen überschreitet und das Terrain des Akademischen nur allzu gerne verlässt: ein »Hugai«, wie es im Lande der Rujuks1 heißt, ein Abtrünniger, den es in die Ferne treibt. Auf glückliche Weise verbindet sich mit dieser Haltung eine Geselligkeit, die zu begeistern weiß, das Gespräch mit anderen sucht und in ihnen Mitstreiter gewinnt. Von Alois Wierlacher stammt der Satz »Unsere Berufe sind Redegeschäfte«. Und damit meint er nicht das Reden vom Pult, das Dozieren und akademische Belehren, sondern das gemeinschaftliche Erreden an Tischen. Viele seiner Projektideen verdanken sich diesen leiblichen Entstehungszusammenhängen. Was also lag näher als die ›Tischgespräche‹ im Gewand einer Festschrift für Alois Wierlacher fortzusetzen und sie als Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft zu verstehen, in der die geladenen Gäste ihre besonderen Forschungsgebiete, Arbeitsbereiche, Erkenntnisinteressen so einbringen können, dass man sich gegenseitig etwas

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Heinrich Böll: Im Lande der Rujuks. In: ders. (1994): Erzählungen. Hg. von Viktor Böll und Karl Heiner Busse. Köln. S. 525-529.

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zu sagen hat und daraus ein wechselseitig erhellendes und unterhaltsames Gespräch entsteht. Wenn man die lange international vernetzte aktive Vita Alois Wierlachers in den Blick nimmt, ist das Dilemma der Herausgeberinnen schnell offensichtlich. Wen lädt man ein, wer darf nicht vergessen werden, wie harmonieren die an den Tisch Geladenen? Wie gelingt es in diesem Gespräch, die Vielfalt und Reichweite einer so produktiven arbeitsreichen wissenschaftlichen Laufbahn zu spiegeln? Als Ergebnis dieser Überlegungen sind die Tischgespräche, die Einladungen zu einer interkulturellen Wissenschaft entstanden, die wir Ihnen hier in groben Zügen vorstellen wollen: Der Band versammelt Beiträge, die Zugänge, Themen und Gegenstände, Sprechweisen und Gesprächsräume einer interkulturellen Wissenschaft vorstellen. Mittels der Beschäftigung mit Sprache und Literatur werden Einblicke in Wahrnehmungsverhältnisse, Verstehensmöglichkeiten, Darstellungsund Erkenntnisformen einer auf Interkulturalität ausgerichteten Wissenschaft eröffnet. Bezugspunkte sind dabei immer wieder auch Ausgangspunkte der wissenschaftsgeschichtlichen Entstehungskontexte einer interkulturellen Germanistik und sich verändernde Problemlagen. Der Aufgabe, Bedingungen und Voraussetzungen einer interkulturellen Wissenschaft immer wieder neu zu prüfen, zu reflektieren und zu erproben, widmet sich der erste Teil der Festschrift unter dem Titel ZUGÄNGE. Die Beiträge dieses ersten Teils verbindet die Frage »Wie wird ein interkulturelles Wissenschaftsgespräch überhaupt möglich?« »Wie konkretisiert sich dieses in der Beschäftigung mit Sprache und Literatur?« Den Auftakt macht Norbert Mecklenburg mit grundsätzlichen Fragen zu einer Poetik und Hermeneutik der Interkulturalität. Er differenziert zentrale Konzepte, wie ›Fremdheit‹ und ›Alterität‹ in Bezug auf das interkulturelle Potential von Literatur aus und beschreibt methodische Zugänge zwischen ›Verstehen‹ und ›Erklären‹. Den in den letzten Jahren mit dem Konzept der Interkulturalität verbundenen kritischen Diskurs analysiert Corinna Albrecht und zeigt, wie das jeweilige Verständnis von Interkulturalität auf Vorentscheidungen für Konzepte von ›Kultur‹, ›Identität‹ und ›Fremdheit‹ aufruht. Edith und Willy Michel problematisieren die langzeitige Wirkungsgeschichte kultureller Beziehungen als wechselseitige Wahrnehmungsverhältnisse und plädieren für eine oszillierende Wechselperspektivierung zwischen den disziplinären und hermeneutischen Voraussetzungen und deren

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kulturellen Dispositionen. Das Überspringen kultureller Distanzen und einen Wandel der Verstehensinteressen anderen Kulturen gegenüber thematisiert Dietrich Krusche und sieht in der medialen Nahholung von krisenhaften Ereignissen einen Prozess der Umwertung von Weltgeschichte hin zu einer »Gemeinsamkeit in der Gefährdung«. Die Verdrängung der Frage des Fremdverstehens und der Hermeneutik macht Wolf Dieter Otto zum Tischgespräch. Er problematisiert die Xenophagie und beschreibt, wie mit der »Tilgung« des Fremden grundlegende Voraussetzungen einer interkulturellen Wissenschaft in Frage gestellt werden. Dass am Tisch nicht über alles gesprochen werden kann und darf, weiß der gute Gast, dass die Gespräche anregender Themen bedürfen, sollte er wissen. Angebote für THEMEN UND GEGENSTÄNDE liefern die Beiträger des zweiten Teils: Sie problematisieren deren Auswahl und Kanonisierung, worüber gesprochen werden kann, darf und soll. Nicht das Sprechen über Orte macht Götz Großklaus in seinen Orts-Botschaften zum Thema, sondern das Sprechen der Orte in veränderten raumzeitlichen Konstellationen. Er analysiert die veränderten Wahrnehmungs- und Deutungsvorgänge, in denen spezifische raumsprachlich formulierte Orts-Texte zu Botschaften werden. Regina Bendix macht in ihrem Beitrag das ›Tischgespräch‹ selbst zum Thema in der Doppelung des Umgangs mit Sprechen und Essen von Serienfiguren und Serienzuschauern im und vor dem sonntagsrituellen Fernsehkrimi. Als Aufruf zur Weiterführung eines Gesprächs inszeniert Ulrich Engel seine Auseinandersetzung mit dem Thema ›Tempus‹. Gesprochen und gestritten werden sollte über die vor allem in der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache aus seiner Sicht fälschlich bemühte Überzeugung, Tempus habe etwas mit Zeit zu tun. Das Sprechen über das ›Wort‹ wendet der Beitrag von Liu Dezhang zur Frage »Was ist ein Wort« und lädt ein, auf dem Weg über die ›fremde‹ Sprache den Blick auf die ›eigene‹ zu schärfen und die vermeintlichen Gewissheiten etablierter Kategorien in Frage zu stellen. Die Komplexität, über »meinen Grass, über unseren Grass« als den Repräsentanten deutscher Literatur in Polen zu sprechen, veranschaulicht Norbert Honsza in seiner essayistischen Skizze, in der er die Verflechtung von Grassʼ Rezeption und der Legitimation politischgesellschaftlicher und kultureller Diskurse im Bereich der deutschpolnischen Beziehungen aufzeigt. Als Sonderfall überspielter Kulturdivergenzen, beschreibt Horst Steinmetz das verschränkte Nebeneinander im deutsch-niederländischen Grenzraum, dessen Einmütigkeit nicht durch in-

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terkulturelle Kommunikation, sondern höfliches Beschweigen und geübte Unverbindlichkeit des täglichen Kontakts ermöglicht und aufrechterhalten wird. Der dritte Teil der Festschrift greift die Vorstellung von Wissenschaft als einer von Grund auf kommunikativen Veranstaltung auf und liefert Antworten auf die Frage nach den Darstellungsformen und -möglichkeiten einer interkulturellen Wissenschaft. Die Suche nach SPRECHWEISEN verfolgen Yong Liang, Barbara Dengel und Hinrich C. Seeba. Ihre Beiträge verbindet die Frage »Mit welchen Sprachen spricht eine interkulturelle Wissenschaft?« Den Voraussetzungen einer interkulturellen Wissenschaftskommunikation widmet sich der Beitrag von Yong Liang, der ausgehend von der Debatte um die Ausstellung Aufklärung im Dialog Dialogfähigkeit selbst als grundlegenden Verständigungsmodus herausarbeitet. Das Sprechen über Leseerfahrungen zu ermöglichen, thematisiert Barbara Dengel. Sie stellt das interkulturelle Lesergespräch als eine Vermittlungsform interkultureller Wissenschaft vor. Den Essay als Erkenntnis- und (Dis-)Kurs-Form und seine Kanonisierung profiliert Hinrich C. Seeba. In seinem Beitrag entwirft er den Essay als dialogische Sprechweise, die den Leser zum Gesprächspartner werden lässt. Die Beiträge des abschließenden vierten Teils GESPRÄCHSRÄUME nähern sich der Frage »Wie werden Räume für ein interkulturelles Wissenschaftsgespräch hergestellt?« auf sehr unterschiedliche Weise. Andreas F. Kelletats Beitrag Zwischen den Kulturen? Zwischen den Zeilen? Oder: Vom Umgang mit übersetzten Gedichten eröffnet über die Beschäftigung mit einem literarischen Tischgespräch komplex miteinander vernetzte Gesprächsräume, in denen literarisches Sprechen, translatorische Poetik und deren Analyse in ihrem Wechselspiel sichtbar werden. Den Weg Vom Paradox fremdsprachlicher Kommunikation zur Potentialität mehrsprachiger Räume geht der Beitrag von Andrea Bogner, in dem sie die in der tatsächlichen Interaktion hergestellten kommunikativen Räume vor dem Hintergrund der Reflexion zentraler Kategorien einer Linguistik interkultureller Germanistik aufzeigt. Zu den Gesprächsräumen zählen auch die unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit in Institutionen, Netzwerken, Publikationsorganen, die der Jubilar als Räume des interkulturellen Gesprächs und des Austauschs ins Leben gerufen hat. Karl Esselborn stellt diese als kreative Milieus und Freiräume vor. Mit seinem Beitrag schlägt er zugleich den Bogen zurück zu den wissenschaftsgeschichtlichen Entste-

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hungskontexten einer interkulturellen Germanistik und zeigt mit einem Blick insbesondere auf das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, wie sehr Wissenschaft auf die Herstellung von Räumen, die einen Austausch, das Miteinander und das Gespräch ermöglichen, angewiesen ist. Die Festschrift ist ein Gemeinschaftsprojekt, das von vielen getragen wurde, die an einen Tisch zu versammeln nicht immer leicht gewesen ist. Von Alois Wierlacher haben wir gelernt, dass Beharrungsvermögen genauso zu den wissenschaftlichen Tugenden zählt wie die Fähigkeit, sich auch durch Widerstände und Schwierigkeiten den Wind nicht aus den Segeln nehmen zu lassen. Allen Beiträgern sei an dieser Stelle herzlich für ihre Geduld und ihr Vertrauen in unwegsamen Gewässern gedankt. Möge es gelingen, mit diesen Tischgesprächen, die Vielfalt und Reichweite einer so produktiven arbeitsreichen wissenschaftlichen Laufbahn zu spiegeln. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

40 Jahre Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache H ANS -J ÜRGEN K RUMM

Sehr geehrte Festgäste, lieber Alois, Alois Wierlacher und ich kennen uns seit 1973 – er Dozent in Heidelberg, ich in Tübingen und gerade auf dem Weg nach Hamburg. Dorthin wollte er mir trotz eifrigen Bemühens nicht folgen – und damit hätte unsere gemeinsame Geschichte in gewisser Weise auch wieder zu Ende sein können, wäre da nicht das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache gewesen. Ich habe nun also eine Laudatio mit doppeltem Boden zu halten: Zum einen geht es darum, das 40jährige Bestehen des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache zu feiern – es ist ja keine Selbstverständlichkeit, dass ein wissenschaftliches Jahrbuch in den Geisteswissenschaften, und erst recht in einem Fachgebiet, das zum Zeitpunkt seines Entstehens noch kaum existierte, bereits eine solche Beständigkeit aufweisen kann – aber zugleich natürlich geht es dabei um Alois Wierlacher, dessen 80. Geburtstag wir heute feiern. Glücklicherweise hängt das eine mit dem anderen so eng zusammen, dass das eine, das Jahrbuch loben, zugleich eine Laudatio auf den anderen, unseren Alois, ist. Vom Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache soll also zunächst die Rede sein, das mit seinen jetzt 40 Bänden zum Glück nicht nur digital, sondern real in

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Printform vorliegt – auch das hat mit langfristigen und nachhaltigen Wirkungen zu tun, dass hier etwas Gedrucktes vorliegt. 40 Bände bis jetzt haben ein fachliches wie auch ein ganz reales Gewicht: Ich habe nicht gewogen, aber gezählt und gemessen: • • • •

17.333 Seiten, 1,34 Meter Platz in meinem Bücherregal, 743 Fachartikel, dazu Berichte, Dokumentationen, Bibliographien, Rezensionen, Würdigungen, Nachrufe.

Eine ganze Fachwelt ist hier entstanden und abgebildet. Und das war von Anfang an auch die Absicht dieses Jahrbuchs: 1974, als Alois Wierlacher mich und eine Reihe anderer Kollegen fragte, ob wir uns mit ihm auf die Gründung dieses Jahrbuchs einlassen würden, gab es das Fach Deutsch als Fremdsprache noch nicht als etabliertes wissenschaftliches Arbeitsfeld. Deutsch als Fremdsprache, das waren Sprachkurse für ausländische Studierende. Dass diese Aufgabe, wenn man sie denn ernsthaft und qualifiziert betreiben wollte, auch gewichtige wissenschaftliche Fragen aufwarf – nach den interkulturellen Differenzen zwischen Sprachen und Kulturen, nach den linguistischen, literarischen, kulturwissenschaftlichen, didaktischen und lernpsychologischen Grundlagen dieser Sprach- und Kulturvermittlung - das wollte zu dieser Zeit einer noch sehr stark den nationalen Grenzen verhafteten Germanistik nur schwer in den Kopf. Erst 1973 hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft begonnen, Fragen des Deutschen als Fremdsprache in den Katalog zu fördernder Forschungsfragen aufzunehmen, 1975 wurde in der Bundesrepublik – die DDR war uns damals einige Jahre voraus – gerade die erste Professur für Deutsch als Fremdsprache eingerichtet – für die Germanistik war dieses Fachgebiet zu komplex und interdisziplinär, zu praxisbezogen und international; wer sich damit befasste, wurde eher als Außenseiter wahrgenommen. Für jüngere Leute, und um die handelte es sich bei den Jahrbuch-Herausgebern, war das eine Zeit des Aufbruchs, der Suche nach neuen Perspektiven. Im April 1975, also quasi im Jahre Null der Fachentwicklung, erschien der erste Band des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache. Man kann diesen

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ersten Band als die Gründungsurkunde des Faches Deutsch als Fremdsprache sehen. Das Jahrbuch hat also die Fachentwicklung von Anfang an vorbereitet, begleitet, gefestigt und entscheidend zu seiner Weiterentwicklung beigetragen – heute hat jede Universität, die auf sich hält, ein oder zwei Professuren für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache oder interkulturelle Germanistik, heute gibt es internationale Handbücher, Zeitschriften, eine weltweite Vernetzung dieses Faches. Und in den Fachbibliotheken einschlägiger Fächer und Hochschulen, gleich ob in Shanghai oder Seoul, in Mexiko, Mainz, Jakarta oder Wien, steht das Jahrbuch im Regal. Es ist Dir, Alois, zu verdanken, dass dieses Jahrbuch begründet wurde, und es ist vor allem Dir zu verdanken, dass es eine solche ungewöhnliche Kontinuität und Wirksamkeit entfaltet hat: Die zweite Hälfte Deiner 80 Jahre, die wir heute feiern, hat dieses Jahrbuch Dich oder hast Du dieses Jahrbuch und unser Fach begleitet. Natürlich kann man ein solches langfristiges Projekt nicht als Ein-Personenschau realisieren, weil das Büchermachen, vor allem bei solchen Jahrbüchern und Sammelbänden, dem Akt des Zubereitens einer Mahlzeit in vieler Hinsicht ähnelt, wo ja auch gilt: ein Koch oder eine Köchin ergibt noch kein Festmahl. Was braucht es, um solch ein Jahrbuch 40 Jahre lang Jahr für Jahr zu servieren: auf der einen Seite die Produzentinnen und Produzenten der Texte, die Autorinnen und Autoren jener 743 Fachbeiträge (auch darunter zahlreiche, die Du selbst verfasst hat), die dann von den Köchen, den Herausgeberinnen und Herausgebern, zu einer verdaulichen Mahlzeit, einem lesenswerten Buch verarbeitet werden. Aber dazu gehören auch viele andere, die weniger prominent in Erscheinung treten, bis hin zu den Lektorinnen und Lektoren, den Verlegern und nicht zuletzt dann den Konsumentinnen und Konsumenten, denen das Gericht schmecken muss – will man, dass sie wiederkommen, so müssen Qualität, Geschmack und Service hervorragend sein, wie bei einem Jahrbuch, das ja jährlich wieder seine Leserinnen und Leser finden will. Die Hälfte Deines Lebens hast Du, Alois, mit großer Energie und jener Hartnäckigkeit, von der ich, der ich diese 40 Jahre dabei war, ebenso wie Deine bei diesem Festakt anwesende ehemalige Sekretärin, Frau Seiß, viel erzählen könnte, erfolgreich versucht, der Germanistik eine Fremdperspektive und interkulturelle Dimension einzuschreiben, in vielen Büchern und Aufsätzen und eben insbesondere mit diesem Jahrbuch: Auch wenn das

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Jahrbuch bei seinem Titel »Deutsch als Fremdsprache« geblieben ist und erst seit Band 21/1995 den Zusatz Intercultural German Studies führt, so war es in Wahrheit von Anfang an mehr, ein Jahrbuch Deutsch als Fremdund Zweitsprache und ein Jahrbuch der interkulturellen Germanistik. Schon im Vorwort zur »Absicht und Funktion des Jahrbuchs« 1975 ist nicht nur von den ausländischen Studenten, sondern auch von den ausländischen Arbeitnehmern die Rede. Es geht, so schreibt Alois Wierlacher in diesem Vorwort, »um die Effizienz der philologischen Fächer durch Erweiterung ihrer Forschungsprogramme und um die Dimension der Sprach- und Textumgebungen. Germanistik wird in ihrer Eigenschaft als Angewandte Philologie zu einer regionalen Kulturwissenschaft« (1975: 1). Ein Blick auf die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Bände zeigt, dass das Jahrbuch und damit auch Alois Wierlacher dieser Zielsetzung in einem internationalen Horizont von Anfang an und bis heute verpflichtet sind und die Horizonterweiterung der Germanistik in den Kernbereichen wie auch, so der Themenschwerpunkt von Band 12, als »Erkenntnisgewinn von den Rändern her«, oder, so Band 18, mit dem Thema »Grenzen und Grenzerfahrungen« bis in die jüngste Zeit treu geblieben ist: »Die Macht der Sprache: Mehrsprachigkeit – Sprachenpolitik – Sprachbildung«, das Thema von Band 33, »Kulturthema Wissenschaft« Band 39, alle 40 Themenschwerpunkte, die ich hier nicht einzeln anführen kann, belegen beides, die thematische Breite und die Klammer, die das Ganze zusammenhält und die schon Band 20 thematisch auf den Punkt brachte: Toleranzkultur. Viele Themen, die das Jahrbuch in die Fachdiskussion einbrachte, die Medientheorie (Bd. 7), Deutsch in der dritten Welt (Bd. 10), die Fachsprache (Bd. 12), die Wissenschaftliche Weiterbildung (Bd. 21), Mediation (Bd. 29), die Sprachenpolitik (Bd. 30), die Professionelle Kommunikation (Bd. 34), die Mehrsprachigkeitsdidaktik (Bd. 36) avancierten anschließend zu Modethemen weit über unser Fach hinaus: Das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache hat Impulse gegeben und Entwicklungslinien vorgezeichnet und wird das, so hoffe ich, auch weiterhin tun. Hier liegt Dein großes Verdienst, lieber Alois, in der Fähigkeit, unser Fach weiterzudenken und in Bewegung zu halten. Begonnen hat das alles vor gut 40 Jahren 1974/75 in einem Team, das Alois damals zusammengebracht, zusammengehalten und neue Kollegen immer

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wieder einbezogen hat. Du hast es verstanden, Kollegen und Kolleginnen der verschiedenen Dimensionen des Faches bei der Stange zu halten, ein Herausgebergremium mit erstaunlich wenig Fluktuation, auch wenn das Team von Band 40 sich naturgemäß von dem des ersten Bandes unterscheidet. 30 Jahre lang, bis 2005, warst Du geschäftsführender Herausgeber, Hauptherausgeber, seitdem bist Du einer der Mitherausgeber – allerdings in der spezifischen Rolle des Seniors, der grauen Eminenz, womit nicht nur die Haare gemeint sind. Andrea Bogner, die nunmehr als geschäftsführende Herausgeberin fungiert, sowie der Verlag, heute vertreten durch den Nestor Peter Kapitza und Elisabeth Schaidhammer sowie unsere Lektorin Frau Sabine Lambert, können wie ich beredt davon berichten, wie Alois Wierlacher mitnichten passiv geworden ist, sondern nach wie vor mit Leidenschaft an der Geschichte des Jahrbuchs weiterschreibt. An den Verlag möchte ich bei dieser Gelegenheit doch auch ein ganz besonderes Wort des Dankes richten: Zwei Mal hat das Jahrbuch den Verlag gewechselt: Begonnen hat es mit Band 1 beim Verlag Julius Groos in Heidelberg, die Bände 9-13 erschienen sodann im Hueber Verlag in Ismaning; und seit Band 14/1988 erscheint das Jahrbuch im iudicium Verlag in München. Das ist nun also auch schon eine lange, fast 30jährige Beziehung, bei der wir Herausgeber dem Verlag in besonderer Weise zu danken haben – der Verlag war zwar klug und hat das Kind erst adoptiert, als es die Pubertät schon fast hinter sich hatte, aber auch Jugendliche machen Mühe und das inzwischen erwachsen gewordene Jahrbuch verlangt weiterhin Zuwendung: Ein Versprechen, das Alois Wierlacher im Vorwort zu Band 1/1975 gegeben hatte, hat er wörtlich genommen: Dort heißt es lapidar »Als Erscheinungstermin eines jeden Bandes ist der April vorgesehen« . Und dass Alois gelegentlich die Opulenz liebt, ist ja auch kein Geheimnis: Hatten die ersten Bände noch einen Umfang von bis zu 350 Seiten, so gab es seitdem immer wieder Ausreißer: Band 18 mit 634 und die Bände 25 bis 27 mit 611, 624 und 648 waren die besonderen Höhepunkte. Dem Verlag sei auch an dieser Stelle Dank gesagt für die große Geduld und sein Engagement. Zu einem Teil hängen diese Umstände eines unregelmäßigen Erscheinens des Jahrbuchs natürlich auch mit etwas zusammen, was ich als besonderen Vorzug ansehe: Dass versucht wird, einen hohen Anteil von Autorinnen und Autoren aus den nichtdeutschsprachigen Ländern zu gewinnen, das

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Jahrbuch also wirklich als eine Plattform der internationalen Fachdiskussion zu gestalten, gehört zu seinem Markenzeichen, ist aber nicht immer leicht zu realisieren und erfordert trotz Email und Internet oft auch einen hohen Bearbeitungsaufwand. Zur Illustration seien einmal die Arbeitsorte der Autorinnen und Autoren von Band 40genannt; sie dokumentieren die internationale Natur des Jahrbuchs: Berlin – Bonn – Mainz – Poznan – Sevilla – Waterloo / Canada – Koblenz – Landau – Granada – Bochum – Buckinghamshire / UK – Hannover – Wien – Tampere / Finnland – Paris – Togo – Athen – Vilnius / Litauen. Abschließend tue ich etwas Naheliegendes: Ich schließe von dem, was über das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache zu sagen war, auf unseren Jubilar: Wie sein Kind, das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, so ist auch der Gründungsvater und langjährige Hauptherausgeber • • • • •

thematisch originell fachlich anregend international bekannt und geschätzt innovativ reisefreudig.

An den Schluss einer Würdigung des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache gehört auch ein Satz zu Frau Wierlacher – ich benutze dazu den Text, den Alois selbst 2005 aus Anlass des 30. Jahrbuchbandes formuliert hat: Der größte Dank geht, doppelt begründet, an meine Frau. Sie hat mich über drei Dekaden hin bei der alltäglichen Arbeit am und für das Jahrbuch kontinuierlich begleitet. Sie hat darüber hinaus bei den jährlichen Herausgeberkonferenzen, die der Verlag dankenswerterweise ermöglichte das gemeinsame Nachdenken der Herausgeber auf kulinarische und gastfreundliche Weise stets so zu stimulieren gewusst, dass uns vergönnt war, immer wieder die Erfahrung von Brechts Galileo Galilei zu machen: bei gutem Essen fällt einem am meisten ein (30/2005: 15).

Das ist mir aus dem Herzen gesprochen! Und für Frau Bogner eine große Herausforderung.

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Lieber Alois, großer Respekt vor Deiner Leistung – wobei das Jahrbuch ja nur eine unter vielen ist – aber es ist ein Monument, das Du in die Welt gesetzt hast, großer Dank für 40 Jahre freundschaftlicher und fruchtbarer Zusammenarbeit, herzlichen Glückwunsch zum doppelten Geburtstag, dem 40. und dem 80. und alles Gute für die Zukunft.

Laudatio zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Alois Wierlacher W ANG J IANBIN

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wierlacher, lieber Alois, zu Deinem 80. Geburtstag gratuliere ich Dir ganz herzlich. Das ist ein Alter, an das selbst Konfuzius nicht zu denken wagte, als er vor 2.500 Jahren sprach: »Ich war fünfzehn, und mein Wille stand aufs Lernen, mit dreißig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr, mit fünfzig war mir das Gesetz des Himmels kund, mit sechzig war mein Ohr aufgetan, mit siebzig konnte ich meines Herzens Wünschen folgen, ohne das Maß zu übertreten«. Rein rechnerisch bist Du mit dem heutigen Tag ein Jahr älter geworden, aber für mich bist Du nie alt geworden. Der Schweizer Romanautor John Knittel hat einmal gesagt: »Alt ist man erst dann, wenn man an der Vergangenheit mehr Freude hat als an der Zukunft«. Wenn das so ist, dann wirst Du wahrscheinlich nie wirklich alt werden. Denn der Alois, den ich erlebe, ist immer derjenige, der ständig neue Pläne schmiedet und neue innovative Gedanken entwickelt. Mit diesen Plänen und Gedanken bringt er der Germanistik in China frische Luft und gibt ihr neue Impulse. Ich denke an das Beijinger Chinesisch-Deutsche Doktorandenkolloquium, das er initiiert hat und betreut und das inzwischen viermal erfolgreich durchgeführt wurde. In diesem Kolloquium werden Forschungsvor-

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haben von jungen Promovenden aus China und Deutschland vorgestellt und gemeinsam beraten. Es schafft eine neue Plattform, um voneinander zu lernen und miteinander zu lernen über alle Alters-, Fach- und Kulturgrenzen hinweg, und es ist ein Inkubator für interkulturelles Wissen und Ideen geworden. Erwähnen möchte ich auch den »Reader« für Studenten der Germanistik: Mit einem einführenden Kommentar wird einschlägige Forschungsliteratur zusammengeführt, und zwar zu allen Komponenten dieses Studiums, nämlich zu Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Translatologie, Deutschlandstudien, Interkultureller Kommunikation, DaF-Didaktik und Methodik. Das ist eine Mammutaufgabe, an der unser Jubiliar seit drei Jahren eifrig arbeitet und dessen Veröffentlichung im Herbst 2016 erwartet wird. Mit diesem »Reader« wird den Germanistikstudenten zum ersten Mal ein systematischer Zugang zu der unüberschaubaren Forschungsliteratur in Germanistik ermöglicht, ein Verdienst, das man nicht hoch genug schätzen kann. Denken möchte ich auch daran, dass Alois die Gastlichkeitsforschung in die Germanistik nach China eingeführt hat; das ist für uns eine Erweiterung unseres Horizonts. Lieber Alois, die chinesische Germanistik schuldet Dir einen aufrichtigen Dank für alles, was Du in den vergangenen 20 Jahren für uns getan hast. Wir sehen in Dir nicht nur einen ausgewiesenen Wissenschaftler, einen guten Lehrer, sondern auch einen verlässlichen Freund, der global denkt und konsequent handelt. Für Dich ist Interkulturalität und die damit verbundene Offenheit gegenüber dem Fremden nicht nur Dein Forschungsgegenstand, sie ist Deine Überzeugung, die Du tagtäglich praktizierst und lebst. Wenn wir die internationale Familie der Interkulturellen Germanistik mit ihren vielfältigen Komponenten als ein Orchester betrachten, dann bist Du der Dirigent, der den Ton angibt und der versteht, jedes Instrument im Zusammenspiel mit den anderen voll zur Geltung zu bringen. Lieber Alois, dieses Zusammenspiel, auch mit Dir im Orchester, macht uns viel Freude. Wir möchten noch lange so weiterspielen. Deshalb wünschen wir Dir vor allem Gesundheit. Möge dieses Zusammenspiel uns noch viele Jahre begleiten.

ZUGÄNGE

Poetik und Hermeneutik der Interkulturalität N ORBERT M ECKLENBURG

Literatur wird von verschiedenen Faktoren geprägt: von sprachlichen und künstlerischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen, mentalen und medialen – sowie auch von kulturellen Faktoren. Die Vielfalt der Literatur, ihrer Entstehung, Gestaltung und Wirkung, ist auch von Pluralität, Differenzen, Beziehungen der Kulturen bestimmt. Damit zeigt sich ein weites Feld von Phänomenen und Problemen, dem sich die Literaturwissenschaften aus verschiedenen Richtungen nähern. Eine dieser Forschungsrichtungen nennen wir seit ihrer Begründung durch Alois Wierlacher interkulturelle Germanistik. Seit damals an deren literaturwissenschaftlichem Zweig beteiligt, verstehe ich diesen, im Gegenzug zu einer ›Wissenschaft des nicht Wissenswerten‹, als geleitet von einem praktisch-kritischen Erkenntnisinteresse: als Erschließung von inter- und transkulturellem Potential literarischer Kunst. Dieses ist gerade im Zeitalter ökonomisch dominierter Globalisierung und angesichts zunehmender politischer Weltkonflikte besonders wertvoll. Interkulturell und transkulturell dürfen Literaturwissenschaftler ihre eigene Arbeit nennen, wenn sie Kulturunterschiede bedenken und über Kulturgrenzen hinaus denken, d.h. wenn sie sowohl der Pluralität von Kulturen als auch der Kulturen überschreitenden Wirkung von Literatur gerecht zu werden versuchen. Denn Literatur ist als Zeichengebilde zwar an eine einzelne Sprache gebunden und in kulturelle Kontexte eingebettet, als Kunst aber zugleich »auf Universalität angelegt« (Wierlacher 1987: 194). Der Basisbegriff ›Kultur‹ ist allerdings sehr vieldeutig, und die Begriffe ›interkulturell‹ und ›transkulturell‹ sind umstritten (Mecklenburg 2008: 61-89,

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90-98). Wie man ›Kultur‹ auch bestimmt, für interkulturelle Literaturwissenschaft sind nur solche Bestimmungen brauchbar, die Kulturen als ebenso offene wie differente Systeme zu denken erlauben (Holenstein 1998: 257-287). Ihre einzelnen Bestandteile variieren zwischen rooted und transportable. (Regionale Volksbräuche z.B. sind in der Regel rooted, wissenschaftliche Erkenntnisse transportable.) Was aber Kulturdifferenzen betrifft – mit ihnen wissenschaftlich umgehen heißt immer auch: reale, in den empirischen Kulturwissenschaften erforschte Unterschiede von gesellschaftlich imaginären, in Vorurteilen, Stereotypen, Ideologien, Diskursen festgeschriebenen Unterschieden kritisch unterscheiden. Kulturen bilden einen, aber beileibe nicht, wie es uns ein modischer Kulturalismus weismachen will, den einzigen Kontext von Literatur. Das gilt noch mehr als für vormoderne für moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften. In diesen ist Literatur Teil des Kunstsystems (Mecklenburg 2008: 49-60), dieses Teil der Kultur, diese wiederum ein Teilbereich der Gesellschaft. Diese zu thematisieren, verschmäht der Kulturalismus; darin besteht sein ideologischer Kern. Der Denkfehler seiner literaturwissenschaftlichen Abart besteht somit darin, Literatur und Kultur kurz- und damit Kunst und Gesellschaft auszuschließen. Literaturwissenschaft ist eine Kulturwissenschaft jedoch nicht, indem sie sich nur bei anderen Kulturwissenschaften bedient, sondern ihrem primären und spezifischen Gegenstand gemäß als Philologie und Kunstwissenschaft. Als solche aber schließt sie den Kontext der Kultur ebenso wenig aus wie den weitest möglichen Kontext von Literatur: den gesellschaftlichen. Der Denkfehler eines Transkulturalismus, den ein postmoderner Philosoph mit unphilosophisch schwachen Argumenten als terminologische Innovation angepriesen hat, besteht darin, Transkulturalität kurzschlüssig gegen Interkulturalität auszuspielen (Welsch 2000: 327-351; Iljassova-Morger 2009b). In Wahrheit haben beide Begriffe nebeneinander ihren guten Sinn: Interkulturell ist, was es zwischen zwei oder mehreren bestimmten Kulturen gibt, transkulturell, was kulturübergreifend vorkommt: über eine besondere Kultur hinaus, unbestimmt weit oder sogar universal. Literatur ist immer insofern kulturell, als zu den Kontexten, in denen sie produziert und rezipiert wird, auch kulturelle gehören. Sie ist interkulturell, wenn sie sich zwischen verschiedenen Kulturen bewegt, z.B. durch Übersetzung, oder indem sie Kulturunterschiede thematisiert. Und sie ist transkulturell, sofern sie im Rahmen des internationalen Austauschs Kulturgrenzen zu über-

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schreiten vermag und dabei aufgrund ihres künstlerischen Potentials zu dem werden kann, was wir Weltliteratur nennen (Mecklenburg 2011). In größere terminologische Fallen als ein müßiger Streit zwischen Verfechtern von Inter- und Transkulturalität kann ein Basisbegriff interkultureller Germanistik führen: der Begriff der Fremdheit mit seinen Synonymen und Antonymen. Denn in Hinblick auf Phänomene und Probleme, die mit Kulturdifferenz zusammenhängen, stellt sich das Wort ›fremd‹ mit seinen Ableitungen fast unvermeidlich ein: ›der / die / das Fremde‹, Fremdkultur usw. (Albrecht 1997; Albrecht 2003; Hofmann 2006, 14-26). Nicht zuletzt darum hat man die interkulturelle Germanistik geradezu als eine ›Fremdheitswissenschaft‹ bezeichnen können. Es entsteht jedoch Verwirrung, wenn kulturwissenschaftliche Studien diese vieldeutigen Ausdrücke verwenden, ohne über die Art ihrer Verwendung Rechenschaft abzulegen. Denn dann führt begrifflicher Doppelsinn leicht zu Fehlschlüssen. Das betrifft besonders die allzu beliebte Entgegensetzung ›das Fremde / das Eigene‹. Als psychologisches, soziales, kulturelles Deutungsmuster, als semantische Basis von »Fremdheitszuschreibungen« (Aydin 2009) wird sie immer wieder zu ethnozentrischer oder anderer ideologischer Abgrenzung missbraucht. Das ist zwar als objektsprachliches Phänomen beobachtenswert, aber als metasprachliches, wissenschaftliches Begriffspaar hat sich ›das Eigene / das Fremde‹ m.E. als ungeeignet erwiesen. Das liegt vor allem an der Polysemie des Wortes ›fremd‹ und an falschem Denken, das Beschreibung von Verschiedenheit und Bewertung als Fremdheit nicht auseinander hält. Schon wenn die alltagssprachlichen Adjektive ›fremd‹, ›anders‹, ›verschieden‹ in abstrahierender Wissenschaftssprache, wie im vorigen Satz, zu Fremdheit, Andersheit (Alterität), Verschiedenheit (Differenz) substantiviert werden, kann das in eine Denkfalle führen, denn diese Substantive, vor allem ›Fremdheit‹, werden leicht fälschlich als Substanz, als Eigenschaft anstatt als Funktion, als Beziehung angesehen. ›Verschieden‹ (different) und ›anders‹ (›ein anderer‹, ›der andere‹, ›etwas anderes‹ usw.) sind sinnverwandt, wenn auch grammatisch nicht ganz verwendungsgleich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie jeweils zwei Bedeutungen haben, die unterschieden werden müssen: anders (1): ›nicht der-/dasselbe‹, ›nicht-identisch‹ (lat. alter): ›A ist nicht B‹ (mögen sie auch gleiche Merkmale haben);

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anders (2): ›ungleichartig‹, ›verschiedenartig‹, ›andersartig‹ (lat. alius): ›A und B haben verschiedene Merkmale‹ bzw. ›A hat andere Merkmale als B‹. Bei anders (2) besteht der grammatische Unterschied zu ›verschieden‹ darin, dass sich ›verschieden‹ immer auf beide (oder mehrere) Vergleichsobjekte (oder -mengen), ›anders‹ auf nur eines bezieht: Dasjenige, was (in dieser oder jener Hinsicht) verglichen wird, ist anders als das, womit verglichen wird. Ist dieses nun als das ›Eigene‹ aufgefasst, so wird jenes leicht als etwas ›Fremdes‹ angesprochen. Diese sprachliche Verschiebung von ›anders‹ zu ›fremd‹ aber enthält eine ganze Reihe von Denkfallen, in die ständig getappt wird und vor denen sich gerade eine ›Fremdheitswissenschaft‹ hüten muss. Das Adjektiv ›fremd‹ wird einerseits, wie z.B. in ›Fremdsprache‹, als Synonym, andererseits als Steigerung von anders (2) benutzt (denn ›anders‹ selbst kann nicht gesteigert werden), in diesem Fall etwa im Sinne von ›fremdartig‹, also von ›sehr anders‹. In diesem Sinne ist z.B. für einen deutschen Lerner die Fremdsprache Türkisch in der Regel fremder als die Fremdsprache Englisch (es sei denn, er ist als Kind mit türkischen Nachbarn aufgewachsen). Die Denkfalle tut sich auf, wenn etwas zuerst als fremd, synonym mit ›anders‹, bezeichnet und daraufhin dann diesem Etwas ein (zu) hoher Fremdheitsgrad zugeschrieben wird. Die Verwirrung wird noch größer, wenn dabei obendrein die beiden Grundbedeutungen von ›fremd‹ durcheinander gebracht werden: fremd (1): unbekannt, unvertraut, unverständlich: das kognitiv Fremde; fremd (2): nicht-eigen, nicht-zugehörig, (zu) (einem) anderen gehörend (lat. alienus): das normativ Fremde. (Denn Zugehörigkeiten bestimmen soziale Gruppen nach Normen.) ›Ich betrete eine fremde Wohnung.‹ Das kann entweder heißen: (1) eine mir unbekannte Wohnung, oder: (2) eine Wohnung, die nicht meine eigene ist, in der vielmehr andere wohnen. (Das müssen nicht Fremde, es können auch Nachbarn sein, deren Wohnung ich gut kenne.) (1) ›Der Islam ist vielen Deutschen fremd.‹ Das kann heißen: Er ist ihnen kognitiv fremd, sie wissen wenig über ihn. (2) ›Der Islam ist den Deutschen fremd, weil die deutsche Kultur christlich geprägt ist.‹ Diese Aussage folgert aus einem ohnehin problematischen normativen Satz (›deutsche Kultur‹ an der Norm der ›Christlichkeit‹ messend) problematisch die Nicht-Zugehörigkeit des Islam zur deutschen Kultur, egal wie viel die Deutschen über ihn wissen. Beruft sich die Aussage (2) außerdem noch

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auf Aussage (1), so wird kognitiv Fremdes fälschlich als normativ Fremdes ausgegeben. Außerdem kann ›fremd‹ ebenso wie ›anders‹ immer nur perspektivisch und relational gebraucht werden, da der Ausdruck ›fremd‹ eben keine Eigenschaft, sondern eine Beziehung bezeichnet. Er ist ein dreistelliger Prädikator, d.h. in einer Aussage bezieht er sich auf drei Größen: Fremd ist (1) jemand oder etwas (2) für jemanden (3) in einer bestimmten Hinsicht. A ist fremd für B, aber nicht für C, in der Hinsicht X, aber nicht in der Hinsicht Y. Diese Bezüge und Hinsichten zu beachten, kann sehr wichtig sein, wenn man falsche Homogenisierung oder Polarisierung vermeiden möchte. Fremdheit bzw. Andersheit (im Sinne von anders (2): als andersartig) ist ein Interpretament von Differenz (im Sinne von anders (1): als nichtidentisch), d.h. nicht alles, was verschieden ist, muss perspektivisch als fremd gesehen, interpretiert, bewertet werden. Was aus der Metaperspektive eines distanzierten Beobachters als Kulturdifferenz festgestellt wird, kann (aber muss nicht) aus der Perspektive eines engagierten Mitspielers, d.h. eines solchen Beobachters, der bewusst den Blickwinkel seiner eigenen Kultur einnimmt, als kulturelle Andersheit, Alterität (Wierlacher 1983: 2, 4, 8f.) oder Fremdheit angesehen werden. So kann sogar eine objektiv kleine Differenz subjektiv und kollektiv als große Fremdheit verstanden und – manchmal folgenreich – ausgespielt werden. Ein aktuelles Beispiel: Was die Sprachwissenschaftler seit Jacob Grimm mit guten Argumenten das Serbokroatische nennen, gibt es heute aus dem Blickwinkel vieler Serben und Kroaten, weil sie einander fremd bis feindlich geworden sind, plötzlich gar nicht: Die nationalistische Entgegensetzung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ verzerrt ihren Blick, so dass sie nicht sehen (wollen), dass die objektiven Unterschiede zwischen den serbokroatischen Dialekten untereinander größer sind als die zwischen ›Serbisch‹ und ›Kroatisch‹. Was aus der Beobachterperspektive poetische Differenz ist, der objektive, phänomenologische Unterschied literarischer von anderen Texten, wird aus der Mitspielerperspektive, d.h. subjektiv in der Lektüre, als poetische Alterität (des literarischen Kunstwerks) wahrgenommen, die eine andere Lektüre als bei nicht-literarischen Texten erfordert. Der Begriff der poetischen Alterität (Mecklenburg 1987) bezieht sich also nicht auf irgend eine metaphysische oder ›emphatische‹ Lehre von der Dichtung als einem rätselhaften »Fremdling aus der andern Welt« (Schiller: Die Macht des Ge-

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sanges), sondern ganz pragmatisch und sachlich auf die ästhetische Erfahrung der Besonderheit künstlerisch organisierter Texte beim Lesen. Diese Erfahrung ist Grundlage aller literarischen Kultur in ausdifferenzierten Gesellschaften und also auch aller sinnvollen literaturwissenschaftlichen Arbeit, natürlich auch auf interkulturellem Feld. Auf diesem Feld tummeln sich inzwischen viele Theorien und Konzepte. Es gibt auch manchen interessanten Ansatz zu »comparative poetics«, z.B. zu einer ost-westlichen Poetik (Miner 1990; Zhang 1992). Aber eine ›interkulturelle Literaturtheorie‹ oder Poetik gibt es bisher nicht, wird heute von manchen auch gar nicht für möglich gehalten. Der Titel besagt zweierlei: (1) auf den Gegenstand und (2) auf den Geltungsanspruch der Theorie bezogen: (1) Zum einen fasst er alle theoretischen Konzepte und Überlegungen zusammen, die sich auf Kulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität von Literatur als Kunst beziehen. (2) Zum anderen bezieht er sich auf den Status der Literaturtheorie / Poetik selbst: Wissenschaftliche Theorie als solche beansprucht zwar eine universale, also transkulturelle Geltung, aber Poetik und Literaturtheorie werden oft auch von vorwissenschaftlichen, soziokulturell eingebetteten Auffassungen von Dichtung gespeist. Das erfordert ständige kritische Selbstreflexion auf Sachnähe und Reichweite ihrer Begriffe und Theoreme, nötigenfalls deren Umbau. Literaturtheorie jedoch überhaupt relativistisch in Frage stellen hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Das tun traditioneller Historismus und postmoderner Kulturalismus, wenn sie behaupten, es gebe gar keine allgemeine Poetik, sondern nur eine Pluralität von Poetiken, denn in jeder Epoche und Kultur werde über Kunst und Literatur anders gedacht. Literaturtheorie sei somit gar nicht möglich, also auch keine interkulturelle. Diese Skepsis, die sich durch postkoloniale Eurozentrismus-Kritik noch verstärken kann, stellt alle literaturtheoretische Begriffsbildung als unüberwindbar kulturgebunden hin. Und wenn die Begriffe und Theorien im oder gar vom ›Westen‹ geprägt worden sind, trifft sie obendrein der Verdacht, westlichem ›Kulturimperialismus‹ zu dienen. Interkulturelle Literaturtheorie kann mindestens vier Gegenargumente gegen solche Skepsis ins Feld führen: 1. Wissenschaften als solche sind ihrem Wahrheitsanspruch nach notwendig transkulturell, auch Kulturwissenschaften, mögen kulturelle, politische, ökonomische und viele andere Verflechtungen dessen Einlösung auch behindern. 2. Einige Basisdisziplinen der Literaturwissenschaft wie Linguistik, Semiotik, Narratologie haben Be-

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griffe und Theoriebausteine bereitgestellt, deren transkulturelle, tendenziell universale Reichweite sich empirisch vielfach bewährt hat. So ist der Russische Formalismus alles andere als eine Literaturtheorie für die russische Kultur, vielmehr eine ausgesprochen und erfolgreich universalistische. 3. In vergleichenden Untersuchungen von Literaturtheorien sehr differenter Kulturen, z.B. der europäischen und der chinesischen, lassen sich außer Differenzen auch viele Gemeinsamkeiten finden. 4. Schließlich legitimiert sich ein transkultureller Universalitätsanspruch von Literaturtheorie mittelbar auch durch den der Literatur selbst: Wenn sich schon diese, als relativ universale ›symbolische Form‹ (Ernst Cassirer), in Kulturen nicht einsperren lässt, dann erst recht nicht jene. Bisher macht der Literaturwissenschaft auf ihrem interkulturellen Arbeitsfeld einerseits ein Überangebot an Theorien aus anderen Kulturwissenschaften zu schaffen, andererseits ein Defizit in ihrem eigenen theoretischen Kernbereich, der Poetik. Denn Kulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität der Literatur müssen genauer als bisher mit ihrem Hauptmerkmal: ihrer Poetizität, von der alle Literaturtheorie auszugehen hat, in Beziehung gesetzt werden. Diese und weitere ›Inter-Begriffe‹ (Intertextualität, Intermedialität, Interdiskursivität usw.) werden nur dann literaturwissenschaftlich angemessen verwendet, wenn sich mit ihrer Hilfe die Poetizität der Texte, ihre literarische Kunst, genauer erschließt. Kunstwerke sind ästhetische Verkörperungen von Sinn. Literarische Kunstwerke sind solche Texte, deren Sinn sich – anders als bei nicht-künstlerischen Texten – nur über die Wahrnehmung ihrer Form hinreichend erschließt. Genau darin besteht ihre poetische Alterität. Kulturelle Alterität lässt sich literaturwissenschaftlich seriös nur in enger Beziehung zu poetischer Alterität erforschen. Das bildet den Kerngedanken interkultureller Literaturtheorie und Poetik. Solange Literaturwissenschaft sich als eine Kunstwissenschaft definiert, stehen im Zentrum ihrer Arbeit nicht Theorie, Geschichte, Kultur, sondern die literarischen Werke, ihre Bewahrung und Vermittlung sowie ihre Analyse, Interpretation, Kritik. Das gilt auch für interkulturelle Forschungsfelder. Auf ihnen geht es, in Hinblick auf dieses Zentrum, darum, das Verhältnis von Verstehen, Fremdheit und Kultur sowie Reichweite, Grenzen, Kombination hermeneutischer und anderer Methoden möglichst klar zu erfassen, vor allem aber darum, interkulturelles Verstehen in literarisches, d.h. ästhetisches Lesen zu integrieren. Was interkulturelle Hermeneutik ge-

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nannt werden mag, ist keine philosophische, philologische oder kulturwissenschaftliche Spezialhermeneutik. Vielmehr lassen sich unter diesem Titel Themen allgemeiner und literarischer Hermeneutik, die sich auf das interkulturelle Phänomenfeld beziehen, locker bündeln sowie Regeln ermitteln und erproben, die es beim Lesen und Verstehen, Erforschen und Interpretieren von ›anderskulturellen‹ oder ›interkulturellen‹ literarischen Texten zu beachten gilt (Mecklenburg 2008: 153-185). Selbstverständlich bleiben auch für interkulturelles Verstehen allgemeine hermeneutische Prinzipien in Kraft: die Subjekt-Objekt- als eine Subjekt-Subjekt-Beziehung (hermeneutische als intentionale Gegenstände), dialogische Offenheit für den Anderen (das Subjekt im Objekt), das FrageAntwort-Modell, die Kunst des ›Übersetzens‹ fremder in eigene ›Sprachspiele‹, kritische Selbstreflexion und -relativierung des Interpretierenden, Lernen nicht als bloßes Einbringen des Fremden in den eigenen Horizont, sondern als kreative Erweiterung und Transformation eigener Erfahrungsund Denkschemata durch Kenntnisnahme anderer Möglichkeiten menschlicher Sinngebung, methodologisch: Einbettung von ›Erklären‹ in ›Verstehen‹, ›Beobachten‹ in ›Mitspielen‹. – Selbstverständlich gibt es aber auch eine ganze Reihe spezifischer interkultureller hermeneutischer Prinzipien, z.B. sehr beachtenswerte »Daumenregeln« zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse (Holenstein 1998: 288-312). Alois Wierlacher hat bereits 1983 schlüssig und wegweisend dargelegt, dass die in der deutschen Germanistik damals noch merkwürdig übermächtige Hermeneutik Gadamers – eigentlich ein typisches Geistesprodukt der Adenauerzeit – alles andere als eine gute Basis für interkulturelle philologische Studien liefert: Diese benötigen einen anderen Verstehensbegriff als den »des Einrückens in ein deutsch-europäisches Überlieferungsgeschehen« (Wierlacher 1983: 7). Ihren besonderen Akzent erhält Hermeneutik interkulturellen Verstehens als Hermeneutik der (kulturräumlichen) Distanz, der (kultursemiotischen) Differenz, der Verfremdung (eigener Verstehensvorgaben). Jedoch muss, wie wissenschaftstheoretische Reflexion erwiesen hat, diese ›Hermeneutik der Verfremdung‹ nötigenfalls in eine ›Verfremdung der Hermeneutik‹ selbst übergehen. Denn die Gegenstände können dazu zwingen, auch andere als hermeneutische Methoden: z.B. Semiotik und Diskursanalyse, heranzuziehen, also anstelle der Mitspieler- eine Beobachterposition einzunehmen. Denn wo etwas nicht oder noch nicht verstanden wird, kann dennoch manches daran erklärt werden.

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Dadurch transformieren diese nicht-hermeneutischen Methoden die Polarität von Fremdem und Eigenem in ein diskursives Feld von Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen Kulturen. Warum werden z.B. gemäß der Tischsitte einer Europäern recht fremden Kultur Verwandte gekocht und Feinde gebraten? Mit Hermeneutik à la Gadamer lässt sich das schwerlich beantworten, wohl aber mit Hilfe strukturaler Semiotik und Anthropologie (Lévi-Strauss). In allen Kulturwissenschaften: den Geschichts- und Sozialwissenschaften, den Kunstwissenschaften, der Religions- und der Geistesgeschichte, der Archäologie und Ethnologie, bedarf es ständig einer solchen Verfremdung der Hermeneutik durch nicht-hermeneutische, ›erklärende‹ Verfahren. Das gilt uneingeschränkt, sogar in erhöhtem Maße auch für das interkulturelle Arbeitsfeld. Auf ihm haben sich besonders Kombinationen von hermeneutischen und diskursanalytischen Verfahren bewährt. Verstehen ist immer die kognitive und kommunikative Leistung eines einzelnen Subjekts. Es vollzieht sich zwischen ego und alter und bedeutet Erfassen und Nachvollziehen eines ›fremden Sinns‹, d.h. des Sinns der Handlung oder Äußerung eines anderen Subjekts – egal wie nah oder fern ego und alter in dieser oder jener Hinsicht einander stehen. Interkulturelles Verstehen heißt Verstehen über Kulturgrenzen hinaus, genauer: Verstehen kulturell fremder Handlungen, Äußerungen und Sinngebilde. Dieses kulturell Fremde ist also nur ein Aspekt des subjektiv Fremden, dem alles Verstehen gilt. Wissenschaftliches Interpretieren ist regelgeleitetes Verstehen für andere, in Hinblick auf Texte: ›kunstmäßiges Auslegen fremder Rede‹. Interkulturelles Interpretieren richtet sich dabei besonders auf diejenigen Aspekte der Fremdheit, die mit Kulturdifferenzen zu tun haben. Nun ist jedoch alles Verstehen immer nur relativ, graduell, approximativ, d.h. es wird von einem Schatten des Nicht-Verstehens, des Fremdbleibens begleitet. Das gilt zwischen Mitgliedern einer Familie ebenso wie zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen oder zwischen einem heutigen Leser und einem Buch, das vor tausend Jahren auf der anderen Seite der Erde entstanden ist. Aber wie Verstehen ist auch Fremdheit immer nur relativ, beide begrenzen einander. Bei fehlender Fremdheit ist Verstehen nicht nötig, bei völliger nicht möglich. Es gibt Grade von Fremdheit, auch von kultureller, auf die Verstehen sich jeweils einstellen muss und kann. Kulturell sehr fremd sind häufig z.B. jene Objekte, um deren Interpretation sich Ethnologen und Archäologen bemühen, also Artefakte aus räumlich und / oder zeitlich jeweils sehr fernen Gesellschaften.

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Von ›radikal Fremdem‹, an dem Verstehen, wie ein notorischer Fremdheitsphilosoph lehrt (Waldenfels 1997; Leskovec 2009), teilweise oder ganz scheitern kann, lässt sich jedoch, auf empirischer Basis der Wissenschaften vom Menschen, nicht im Sinne von ›absolut fremd‹ reden, sondern höchstens von ›extrem fremd‹, und das auch nur im kognitiven Sinne von (annähernd oder ganz) ›unverständlich‹, niemals im normativen Sinne, denn das wäre tendenziell totalitär (weil eine totale soziale Exklusion). In der Regel dürfte es sich bei Figuren eines ›radikal Fremden‹ um mythologische (›der Teufel‹, Gespenster usw.) oder ideologische Konstrukte (›die Barbaren‹, ›der Feind‹, ›der Jude‹ usw.) handeln, die kritischer Analyse bedürfen, auch wo sie literarisch inszeniert erscheinen. Allenfalls in Hinblick auf Grenzphänomene wie Äußerungen von Hass, Rausch, Wahnsinn, Demenz usw. könnte es vielleicht angebracht sein, von radikal Fremdem zu reden, wenn auch nur mit sehr großem kognitiven und ethischen Vorbehalt: Selbst hate speech verlangt und erlaubt Verstehen, und solange ein Dementer spricht und Regungen zeigt, kommuniziert er. Vollends in Hinblick auf Kulturdifferenz und kulturell Fremdes ist es niemals angebracht, von radikal als absolut Fremdem zu reden. Verstehen, auch interkulturelles, hat nur dann Erfolg, wenn es außer Fremdem auch Bekanntes, Gemeinsames gibt (Zhang 1992: XIVf.) – egal, was dieses ist: Situation, Sache, Wissen, Erfahrung, Sprache, Gruppe, Geschlecht, Tradition, Kultur oder auch transkulturelle, anthropologische, universale Gemeinsamkeiten jenseits der Entgegensetzung von Eigenem und Fremden: Tat twam asi, d.h. ›das bist du‹ – wie es in der Chandogya-Upanischad heißt. Gilt jedes Einzelne als Teil eines umfassenden Ganzen, so relativiert das alle Differenzen (Surana 2009: 202, 214). Diese grundsätzliche Dialektik von Verstehen und Fremdheit bildet den Rahmen, in dem besondere Probleme interkulturellen Verstehens zu sehen sind. Da jedes Subjekt kulturell geprägt ist, kann kulturelle als ein Aspekt subjektiver Fremdheit Verstehensprobleme verursachen, so wie das auch jede andere Art von Fremdheit kann, z.B. solche, die auf sprachlicher, historischer, sozialer oder Geschlechter-Differenz beruht. Der Kulturdifferenz kommt als Ursache von Verstehensproblemen also keinerlei Vorrang zu. Interkulturell verstehen heißt Handlungen, Äußerungen, Sinngebilde aus einer anderen Kultur verstehen – im Rahmen der eigenen Kultur, versteht sich. Aber nicht jedes Sinngebilde aus einer anderen Kultur muss einem

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Rezipienten fremd erscheinen, und nicht alles, was er an ihm nicht versteht, muss auf kultureller Alterität beruhen. Interkulturelle oder transkulturelle Hermeneutik ist keine besondere Methode, vielmehr eine die wissenschaftliche Praxis begleitende Reflexionsebene. Auf ihr wird kritisch geprüft, was hermeneutische Konzepte und Verfahren auf interkulturellem Feld leisten, wie sie es tun, wo ihre Grenzen liegen und wie sich diese durch andere Methoden überwinden lassen. Unter den Konzepten sind ›Brückenkonzepte‹, die auch von der Literatur selbst aktiviert werden, wissenschaftlich besonders belangvoll und auf ihre hermeneutische Tragfähigkeit zu prüfen: Wohlwollen (Surana 2009: 12ff.), Empathie, Dialog, Horizontvermittlung, ›dritter Raum‹, Überschneidungen, Überlappungen (Mall 1995: 39-54). Der diesen Konzepten innewohnende Hang zu Idealismus kann allerdings dazu führen, die realen Asymmetrien interkultureller Kommunikation, auch in Kunst, Literatur und Wissenschaft, auch in der Literaturwissenschaft, auch in der interkulturellen, zu übersehen, ihre Verkettung mit Macht (Kreutzer 2009: 40; Ndong 1993; Hofmann 2006: 5-25), Herrschaft, Hegemonie, Ideologie, Geltung, Geld, ohne dass sie darauf jedoch reduziert werden darf, wie es viele postmoderne Kritiker des Verstehens tun. Hier müssen hermeneutische mit ideologiekritischen und diskursanalytischen Verfahren sachgerecht kombiniert werden, wie sozialgeschichtliche, namentlich postkoloniale Studien sie praktizieren (Uerlings 2006: 5-25; Mecklenburg 2008: 270-286). Postkoloniale Theorie darf dabei jedoch – ebenso wie andere – nicht in der Weise durchschlagen, dass poetische Alterität und Komplexität »nach vorgegebenen Maßstäben« reduziert werden (Esselborn 2010: 325, Anm. 4). Die Grenzen der Hermeneutik werden dort problematisch ausgeweitet, wo man von ›Kulturhermeneutik‹ redet, als könnte man nicht nur kulturelle Objekte, sondern auch Kultur selbst verstehen. So zu reden, kann interkulturelle wissenschaftliche Arbeit nur in die Irre führen. Verstehen als kognitiver Vorgang und Interpretieren als wissenschaftliches Verfahren beziehen sich in erster Linie auf einzelne Handlungen oder Sinngebilde, in zweiter Linie auch auf größere Sinnzusammenhänge, nicht jedoch auf Menschen, soziale Gruppen, Gesellschaften, Kulturen als ganze. Eine Kultur, sei es eine fremde, sei es die eigene, kann weder verstanden noch interpretiert werden, denn sie ist keine Handlung und kein Sinngebilde, vielmehr ein Rahmen, ein – jeweils verschieden dichter – Kontext von Handlungen und Sinngebilden.

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Ein Kontext kann natürlich seinerseits zum Erkenntnisobjekt gemacht werden, und die diversen Kulturwissenschaften tun das auch mit Erfolg. Nur beruht dieser nicht darauf, dass man statt einzelner kultureller Gebilde ganze Kulturen ›interpretiert‹. Je weiter und dichter Kulturen ihre Bedeutungsnetze spannen, desto weniger lassen diese sich als Objektivationen subjektiven, intentionalen Handelns auffassen. Sie entziehen sich damit dem hermeneutischen Zugriff. Hier greifen andere Verfahren wie z.B. das der Kultursemiotik, die als ausdifferenzierte wissenschaftliche Disziplin, im Unterschied zur Mogelpackung einer ›Kulturhermeneutik‹, der interkulturellen Literaturwissenschaft wertvolle Hilfe leisten kann, z.B. mit dem Konzept des ›kulturellen Wissens‹, das nur von Mitgliedern einer Kultur geteilt wird und das darum bei heterokultureller Lektüre erschlossen werden muss (Titzmann 2006). Die Grenzen der Hermeneutik werden problematisch eingeengt, wenn man die Perspektivität des Verstehens und den altehrwürdigen hermeneutischen Leitbegriff des ›Sehepunkts‹, des ›Blickwinkels‹ (Wierlacher/Wiedenmann 1996) aus einem heuristisch ergiebigen regulativen »Rahmenbegriff« (Wiedenmann/Wierlacher 2003: 210) zu einer konstitutiven Kategorie zu machen versucht. Zweifellos ist Verstehen niemals frei schwebend, sondern immer situiert und bewegt sich in Kontexten und Horizonten, darunter auch kulturellen. Aber es bewegt sich eben, d.h. es ist ein Prozess und verbleibt somit nicht bei einem ›Standpunkt‹, also, im ungünstigen Fall, bei einem ›Gesichtskreis mit dem Radius Null‹. Jede Erfahrung, auch jede hermeneutische, jede interkulturelle, durchkreuzt eine Erwartung, d.h. sie ist mit Lernen verbunden. Einen Blickwinkel kann man wählen und wechseln, man kann dadurch seinen blinden Fleck und seine Scheuklappen entdecken und kompensieren, und das trägt enorm zu interkulturellem Lernen und Verstehen bei. Auch kann man, bei hinreichender komparatistischer Kompetenz, inter- bzw. transkulturelle Blickwinkel (Wiedenmann/Wierlacher 2003: 213) einnehmen, z.B. »the perspective of EastWest studies« (Zhang 2007: IX), wobei »Konvergenzen und Divergenzen« gleichermaßen und »in ihrer Verwobenheit miteinander« zur Darstellung kommen können (Holenstein 2009: 11). Nimmt man Perspektivität dagegen als etwas Statisches, so führt das leicht zu einem hermeneutischen Determinismus und Kulturzentrismus, der interkulturelles Verstehen letztlich überhaupt unmöglich machen müsste. Kombiniert man ein statisches Verständnis von Blickwinkeln nun auch

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noch mit einem holistischen von Kulturen, das diese als in sich homogen ansieht, dann entsteht die nicht unproblematische Vorstellung von kulturspezifischen und -differenten kollektiven Blickwinkeln. Solche gibt es zweifellos, aber immer bleibt kritisch abzuwägen, ob sie ein eigenes interkulturelles hermeneutisches Potential bergen oder ob sie umgekehrt, als Vorurteile, einen die Erkenntnis behindernden Begleitumstand darstellen, den ein geübter und gewissenhafter Interpret selbstkritisch reflektieren, nötigenfalls überwinden muss. Das Potential aber bestünde gerade darin, dass solch ein kultureller Blickwinkel, so rooted er auch sein mag, zugleich transportable wäre, sich also aus der einen in eine andere Kultur übernehmen ließe. Unterbleibt das kritische Abwägen jedoch, dann wird kulturelle Differenz leicht zu statisch und homogen gedacht und von der »internen Heterogenität der Kulturen« (Holenstein 2009: 11, 15-39) oft abgesehen. Auch die intrakulturelle Heterogenität von Lektüren wird dann ebenso unterschätzt wie das transkulturelle Potential von Kunst, Literatur, Denken, Lernen, Verstehen, Lesen. Denn es gibt selbstverständlich auch den »transkulturellen Leser« (Iljassova-Morger 2009a: 229f.). Warum z.B. sollte ein indischer Leser nicht bis zu einem gewissen Grad ›europäisch‹, ein europäischer nicht ›indisch‹ lesen lernen können? Herder jedenfalls hat dem deutschen Leser empfohlen, Sakuntala »nicht Europäisch, d. i. um etwa nur den Ausgang zu wissen, mit flüchtiger Neugierde, sondern Indisch, mit feinaufmerkender Überlegung, Ruhe und Sorgfalt« zu lesen (Herder 18771913: XVI 88). Nebenbei: Natürlich hat Herder hier das ›indische Lesen‹ auch ironisch als Metapher für die Universalie des literarischen, d.h. ästhetischen Lesens gesetzt. Was aber sollte dabei herauskommen, wenn man z.B. von einem »spezifisch russischen Verständnis deutscher Texte« spricht, das besonders für Goethes ›ganzheitliches‹ Denken und Dichten offen sei, weil dieses Weltbild auch das »Prinzip der russischen Kultur« darstelle (Žerebin 2004)? Dann wird Goethe entweder als Russe interpretiert, oder das ganzheitliche Prinzip, wenn es sich sowohl bei ihm als auch in der russischen Kultur findet, ist eben deshalb gar nichts spezifisch Russisches, vielmehr etwas Transkulturelles. Gewiss kann es Unterschiede zwischen auto- und heterokulturellem Lesen geben, d.h. je danach, ob Leser und Text aus der gleichen oder aus verschiedenen Kulturen kommen. Denn bei der Heterogenität der Lektüren und Interpretationen von literarischen Werken dürften neben vielen anderen Faktoren auch Kulturdifferenzen eine Rolle spielen (Wierlacher/Eichheim

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1992). Nur können kulturspezifische Voraussetzungen des Lesers seine Lektüre ebenso behindern wie fördern. Und der Sinn eines Textes multipliziert sich nicht automatisch durch die Anzahl der Kulturen, denen seine Leser zugehören. Nun wäre es ein holistisches Hirngespinst, für jede Kultur jeweils eine gleiche, also gemeinsame Lektüre anzunehmen: die russische Goethe-Lektüre, die deutsche Shakespeare-Lektüre, die englische TolstoiLektüre usw. Da müsste ja die Vielzahl kulturell differenter Blickwinkel oder Verstehensrahmen dann auch noch mit der Vielzahl individuell differenter Lektüren multipliziert werden, denn kollektive Lektüren gibt es nicht. Vor allem aber erfordern literarische Texte aufgrund ihrer poetischen Alterität ein anderes, ein ästhetisches Lesen. Je adäquater dieses sich entfaltet, desto belangloser kann werden, ob es auto- oder heterokulturell ist und von welchem kulturellen Kontext es ausgeht, indem es über ihn hinausgeht (Mecklenburg 2008: 376-393). Hier genau muss hermeneutische Reflexion ansetzen, die über Phänomenen und Problemen der Inter- und Transkulturalität solche der Poetizität nicht vernachlässigt, d.h. sie muss sich der übergeordneten Prinzipien literarischer Hermeneutik vergewissern. Nun haben deren beste Vertreter in Theorie und Praxis wie Peter Szondi (1975; Lämmert 2005) oder Jean Bollack (2003) immer zu Recht eine kritische Distanz zu einer Hermeneutik auf der Linie von Heidegger und Gadamer mit deren wolkig antimodernen wissenschafts-, ästhetik- und kritikfeindlichen Theoremen gehalten. Darum krankt die bisherige Debatte darüber, ob interkulturelle Germanistik bzw. Literaturwissenschaft eine interkulturelle Hermeneutik braucht, sehr daran, dass sie sich immer wieder auf diese germano-/Gadamer-zentrische philosophische Linie bezieht, ohne jene genuin philologische Gegenlinie überhaupt wahrzunehmen. Außerdem würde es in die Irre führen, suchte man eine ›interkulturelle literarische Hermeneutik‹ als besondere Theorie oder Methode. Denn was man unter diesem Titel erfassen kann, ist ein bloßes Überschneidungsfeld: nämlich von interkultureller Hermeneutik, die das Verstehen von Sinngebilden aus verschiedenen Kulturen, und von literarischer Hermeneutik, die das Verstehen von poetischen Sinngebilden erörtert. Auf diesem Überschneidungsfeld geht es teils um Verstehen von literarischen Texten aus anderen, mehr oder weniger fremden Kulturen, teils um Analyse von literarischen Texten, die sich selber schon in diesem oder jenem Sinne als interkulturell bezeichnen lassen.

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Die hermeneutische Methode könnte dabei, wie sie es mit ihren Gipfelleistungen seit je auch war, mehr sein als nur eine Methode literaturwissenschaftlicher Textanalyse neben anderen. Denn als das Lesen und Interpretieren von Literatur als Kunst könnte sie die mittlerweile sehr brüchig gewordene Verbindung der Literaturwissenschaft mit der literarischen Kultur festigen und damit ihrer gesellschaftlichen Aufgabe entsprechen. Das vermag sie auf interkulturellem Feld jedoch nicht, indem sie literarische Kunstwerke, der augenblicklichen wissenschaftlichen Mode folgend, auf ›kulturwissenschaftliche‹ Objekte reduziert, sondern indem sie deren transund interkulturelles Potential für Leser erschließt. Das aber kann sie nur in der Weise, dass sie zugleich die sprachkünstlerische Gestaltung jeweils angemessen erfasst. Gelingt ihr das nicht, dann bleibt alle interkulturelle Sinnsuche literaturhermeneutisch unseriöse, textferne Spekulation. Dafür drei lehrreiche Beispiele: 1. Der Barockpoet Hoffmann von Hoffmannswaldau dichtete 1643 folgendes Epigramm als ›poetische Grabschrift‹ eines »Ziegeiners«: In strenger Wanderschafft bracht ich mein Leben hin / Zwey Reime lehren dich / wer ich gewesen bin. Aegypten / Ungern / Schweitz / Beeltzebub und Schwaben / Hat mich genennt / erzeugt / genehrt / erwürgt / begraben (Hoffmann von Hoffmannswaldau 1984: I/2 853).

Angesichts der traurigen Tradition gesellschaftlicher und auch literarischer Diskriminierung der Sinti und Roma und im Zeichen von Auschwitz möchte man dieses Gedicht gern als eine der wenigen Ausnahmen lesen, als von Empathie erfüllte Totenklage auf einen ermordeten ›Zigeuner‹ und somit als eine frühe poetische Solidaritätserklärung für eine heterokulturelle Minderheit (Solms 2008: 103). Allein, die Regeln literarischer Hermeneutik verhindern solch einen interkulturellen Kurzschluss. Befolgt man sie, so ergibt sich im Gegenteil: Die zweite Hälfte dieses Vierzeilers bietet die als typisch gedachte Kurzbiographie eines ›Zigeuners‹ in Form einer Folge von fünf gleichartigen Aussagesätzen. Diese ist jedoch – darin besteht das Formprinzip des Gedichts – zu jeweils einem Vers mit Subjekt- und einem Vers mit Prädikatreihung syntaktisch ›verfremdet‹. Dadurch wird sie, rhetorisch ebenso effektvoll – zwischen vier Ländernamen plötzlich der Name

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»Beeltzebub« – wie menschlich gedanken- und herzlos, zu einem Witz auf Kosten der Sinti und Roma zugespitzt: Dieser eine wurde von Beelzebub »erwürgt«, d.h. vom Teufel geholt, zweifellos für Missetaten, die er – wie seine Herkunft (Ägypten als angenommenes Ursprungsland) zeigt – als ›typischer Zigeuner‹, also, wie es das verbreitete Vorurteil will, als Spitzbube begangen hat. Folglich führt die letzte und ›strengste‹ Strecke seiner Migration, während sein irdischer Rest in Schwaben begraben liegt, verdientermaßen in die Hölle. Der Wunsch, aus diesem Gedicht, das in Wahrheit diskriminierenden Antiziganismus poetisch fortschreibt, eine humane, interkulturelle Gegenstimme herauszuhören, lässt sich mit philologischen Mitteln nicht realisieren. 2. Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Kannitverstan, in der ein schwäbischer Handwerksbursche in Amsterdam aufgrund eines sprachlichen Missverständnisses eine wertvolle Weisheit mit nach Hause nimmt, ist zweifellos ein kleines Meisterwerk der Erzählkunst. Umso bedauerlicher ist, dass Literaturwissenschaftler sie, ihren poetischen ›Eigen-Sinn‹ ignorierend, als bloße Illustration aller möglicher, darunter auch interkultureller Theorien missbraucht haben. Der eine verkürzt sie, arg platt, zu einem warnenden Exempel dafür, wozu es führen kann, wenn man keine Fremdsprachen lernt, der andere, arg hochgestochen, zu einem lehrreichen Beispiel für die epistemologischen Schwierigkeiten beim Verstehen kultureller Fremdheit. Bei einer literarischen Lektüre dagegen kommt die humoristische, ebenso liebevolle wie ironische Inszenierung eines komplexen Spannungsverhältnisses von Irrtum und Wahrheit zum Vorschein, die den Sinn – ob intendiert oder nicht – offen hält. Als interkultureller Aspekt wird dabei sichtbar, was gerade die interkulturellen Hermeneutiker nicht hätten übersehen dürfen: Die allgemein-menschlich gedachte, christlich geprägte Weisheit des Erzählers ist erkauft mit einem ideologischen, diskurshistorisch exakt bestimmbaren deutschen Negativbild ›der Anderen‹, hier in Gestalt der Amsterdamer bzw. Holländer (Mecklenburg 2008: 361-375). 3. Das literarische Werk von Jorge L. Borges ist voll von witzigen Gedankenspielen mit Fakten und Fiktionen, so auch der Text Die analytische Sprache John Wilkins’, eine literarische Wissenschaftssatire, die sich als sprachphilosophischen Essay ausgibt, also ein Fake. Darin wird auch eine »gewisse chinesische Enzyklopädie« mit einer komisch befremdlichen

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Klassifizierung von Tieren zitiert. Genau dieser Passage des Textes von Borges habe er – mit diesem Bekenntnis eröffnete Michel Foucault sein theoretisches Hauptwerk Die Ordnung der Dinge – die Entstehung seiner Diskurstheorie zu verdanken, denn darin werde der »exotische Zauber eines anderen Denkens« vorgeführt und damit »die Grenze unseres Denkens« (Foucault 1971: 17). Die kulturelle Alterität des chinesischen Diskurses relativiere unseren eigenen mitsamt seinem universalistischen Geltungsanspruch. Allein, Foucault konnte aus dieser Passage des Textes von Borges eine kulturelle Alterität nur deshalb herauslesen, weil er dessen poetische Alterität, seinen Charakter als Fake, überhaupt nicht wahrgenommen hat (Mecklenburg 2008: 200f.). Oder wollte er etwa durch dieses Bekenntnis mit abgründiger Selbstironie andeuten, seine eigene Diskurstheorie könne gleichfalls als Fake gelesen werden? Ausgangspunkt aller literaturwissenschaftlichen hermeneutischen Praxis, also nicht nur interkultureller, sind der Abstand zwischen Text und Interpret, die Verschiedenheit ihrer Kontexte und der ›Eigen-Sinn‹ dichterischer Gebilde. Eine mögliche Kulturdifferenz zwischen Text und Leser ist dabei immer nur ein Teilaspekt. Der Hauptaspekt aber bleibt die poetische Alterität (Leskovec 2009). Dieser Begriff besagt, dass ein literarisches Kunstwerk Sinn anders vermittelt als nichtkünstlerische Medien, nämlich indem es ihn verkörpert und damit bis zu einem gewissen Grad auch verfremdet und dekontextualisiert. Literarische Texte sperren sich gegen die doppelte Reduktion, der viele Literaturwissenschaftler sie und sich allzu oft unterwerfen: die Reduktion ästhetischer Erfahrung auf hermeneutische Sinnermittlung und dieser wiederum auf Kontextualisierung – Wissenschaft des nicht Wissenswerten. Nun erfordert wissenschaftliches Textverstehen zweifellos auch Kontexterschließung, auch kulturelle. Aber je mehr es sich auf diese fixiert, desto unsensibler wird es gegenüber einem transkulturellen Potential literarischer Werke. Der Begriff der poetischen Alterität meint die spezifische ästhetische Differenz literarischer Kunst und damit zugleich deren relative Autonomie: Kunst ist zwar immer in Gesellschaft und Kultur eingebettet, aber zugleich ein transkulturelles Medium, das »auf Universalität angelegt« ist (Wierlacher 1987: 194). Dichtung ist zwar immer durch die Zeit, Gesellschaft, Kultur bedingt, in der sie entsteht, sie »kann deren Horizont gleichwohl übersteigen« und damit auch deren Kunst- und Literaturdiskurse, die ihrerseits, z.B. durch ›Macht‹ und ›Geld‹, verzerrt sein können. Sie ist selbst fait

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social, hat aber zugleich das Vermögen, gewaltlos, subversiv, befreiend bestehende soziale, kulturelle und andere Ordnungen zu transzendieren (Jauss 1994: 311, 317). »As boundaries of different cultures get blurred in the experience invoked by the great works of literature, so also the divisions of time get transcended« (Verma 1996: 29). So ist es eine Aufgabe interkultureller literarischer Hermeneutik, »to appreciate literary genius everywhere in the world that transcends linguistic, cultural, and every other kind of boundary« (Zhang 2007: 22). Somit ist es eine ihrer Grundregeln, dass Literatur auf ihre Entstehungskultur nicht reduziert werden darf. Ihr transund interkulturelles Potential kann nicht zum Vorschein kommen, wo man Literatur nur als Repräsentation einer bestimmten Kultur sehen will und dabei ihre mögliche Nichtidentität mit dieser, ihre intrakulturelle Differenz, übersieht. Lesen und Verstehen vollziehen sich individuell, Interpretieren ist dagegen nicht nur auf den Text, sondern auch auf andere Leser bezogen: Interpretieren heißt anderen etwas verständlich machen, sein eigenes Textverständnis anderen anbieten. Es hat somit eine kommunikative, appellative Funktion. Interpretieren von Literatur hat kommunikativ Erfolg, d.h. überzeugt, indem es sich auf die künstlerische Wirkungskraft des Textes und auf die intersubjektive Plausibilität von Argumenten stützt: Dann erzeugt es eine unbegrenzt offene Gemeinschaft, der Leser aus ganz verschiedenen, auch kulturell verschiedenen Gruppen beitreten können. (Das hat, exemplarisch auf multikulturelle Lerner-Gruppen im DaF-Literaturunterricht sich beziehend, wunderbar anschaulich und erfahrungsgesättigt Dietrich Krusche (1985;1995) dargestellt.) Das steht also in positivem Gegensatz zu jenem Exklusions- und Konkurrenzkampf, der heute oft zwischen literaturwissenschaftlichen interpretive communities, Sekten, Monokulturen tobt. Ästhetische Kommunikation ist als solche potentiell trans- und interkulturell. Literarisches Lesen geht aber in Sinnverstehen nicht auf, Poetik nicht in Hermeneutik. (Gadamer behauptete das Gegenteil.) Dem muss auch wissenschaftliche Interpretationspraxis selbstreflexiv und -kritisch gerecht zu werden versuchen, d.h. sie muss sich immer wieder auf die ästhetische Wahrnehmung zurückbeziehen, aus der sie hervorgehen sollte. (Leider gibt es immer mehr Literaturwissenschaftler, deren veröffentlichte Lektüren keine Spur ästhetischer Wahrnehmung zeigen: ›Zwei Kulturen‹, die literarische und die wissenschaftliche, scheinen sich immer weiter voneinander zu

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entfernen.) Aufgrund der Besonderheit poetischer Rede als sprachkünstlerischer Verkörperung von Sinn ist Literaturverstehen Sinnverstehen nur als Formverstehen. Die Form aber, die einerseits zur Sinnbildung beiträgt, unterläuft sie andererseits auch wieder, hält das Sinnpotential offen. Poetische Alterität heißt somit auch: Ein literarisches Werk bleibt immer etwas anderes als das, worauf hermeneutischer ›Wille zur Macht‹ es jeweils festzuschreiben versucht. Diese Alterität hermeneutisch, szientistisch, historistisch oder kulturalistisch auflösen hieße ästhetische Erfahrung selbst auslöschen. So ist z.B. die poetische Alterität von Erzählungen Kafkas bekanntlich sehr groß. Dennoch lässt sich seine starke Verfremdungskunst teilweise als erstaunlich wirklichkeitsoffene interkulturelle Schreibweise verstehen: so die drastische, groteske, ›karnevalistische‹ Darstellung von kultureller Entwurzelung, Depersonalisierung und kolonialer Gewalt in den Erzählungen Ein Bericht für eine Akademie, In der Strafkolonie und vom »Neger, der von der Weltausstellung nach Hause gebracht wird«. Hier wird die Begegnung Europas mit seinen ›Anderen‹ bis zur Kenntlichkeit entstellt (Simo 1996). Dennoch lässt sich Leseerfahrung mit diesen Texten wie auf anderen so auch auf solch einen kulturkritischen, antikolonialen Sinn nicht festlegen. Literarische Hermeneutik darf, um einer interkulturellen Hermeneutik entgegenzukommen, diese poetische Sinnoffenheit von Kafkas inter- und transkulturellen »Traumparabeln« (Mecklenburg 2009) ebenso wie die von anderen imaginativen Texten nicht verleugnen. Sie verleugnete damit, was ihre Grundlage bildet: ästhetische Erfahrung. Interkulturelle Literaturwissenschaft bedarf einer Hermeneutik, die sich gegenüber dieser Erfahrung und deren theoretischer Bearbeitung als Poetik nicht verschließt. Vermöchte sie weltoffenen und geübten Lesern das interund transkulturelle Potential von Literatur selbst nachhaltig zu erschließen, so trüge sie damit ihr Teil dazu bei, dass literarische und literaturwissenschaftliche Kultur einander nicht gänzlich fremd werden.

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Interkulturalität Ein Konzept in der Diskussion C ORINNA A LBRECHT

1. E INLEITUNG Der Begriff der Interkulturalität hat sich als programmatische Kategorie in der Literaturwissenschaft etabliert,1 nicht jedoch ohne auf Widerstände zu stoßen und Gegenpositionen herauszufordern. Es lässt sich ein häufig geradezu habitualisierter Abwehrreflex gegenüber dem Konzept ›Interkulturalität‹ beobachten. Wer dennoch mit dieser Kategorie arbeitet, sieht sich zumeist genötigt, dem Missverstandenwerden vorzubeugen. So werden in Vorwegnahme kritischer Einwände diese zunächst durchbuchstabiert, um dann in Abgrenzung und Klärung das eigene spezifische Verständnis des

1

Dieser Ausgangspunkt lässt sich zumindest mit Blick auf die Aufnahme des Konzepts in literaturwissenschaftliche Lexika (Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2000; Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie 2008; Reclam Lexikon Literaturwissenschaft 2011) und die Zahl der mit Interkulturalität in Beziehung stehenden Publikationen formulieren. Dessen ungeachtet ist die Auseinandersetzung mit Perspektiven von Interkulturalität nach wie vor mit Blick auf akademische Institutionalisierungsprozesse in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft ein Randbereich, wie Herbert Uerlings den Grad der Etablierung bilanziert (Uerlings 2011: 27-38).

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Konzepts und sich daran anschließende methodische Verfahrensweisen darzulegen.2 Nicht ganz überraschend wird auch dieser Beitrag ähnlich verfahren, wobei es aber darum gehen soll, diesen interkulturalitätskritischen Diskurs nicht affirmativ zu referieren und Kritikpunkte etwa einer Frühphase der Entwicklung des Konzepts zuzurechnen, wie das häufig zu beobachten ist. Vielmehr soll der Diskurs seinerseits kritisch beleuchtet werden, wenn auch an dieser Stelle nur exemplarisch. Genauer genommen wäre von interkulturalitätskritischen Diskursen im Plural zu sprechen, insofern kritische Einwände ihre Argumentation mit Blick auf unterschiedliche Kontexte, Problemkonstellationen und Gegenstandsbereiche formulieren.3 In den prüfenden Blick gerückt wird im Folgenden vordringlich die durch die Formulierung eines Transkulturalitätskonzepts initiierte Infragestellung der Interkulturalitätskategorie. Erst auf der Grundlage dieser meines Erachtens notwendigen Klärungen, möchte ich mich dem Konzept ›Interkulturalität‹ im Spannungsverhältnis zu Konzepten wie ›Transkulturalität‹, ›Hybridität‹ oder der Figur des ›dritten Raums› nähern, um zu überlegen, ob dieser vermeintlich »offene[ ] Wettstreit« von Konzepten, den Lars Allolio-Näcke und Britta Kalscheuer im gegenwärtigen Theoriediskurs sehen, tatsächlich »konkurrierende« Begriffe ins Spiel bringt (Allolio-Näcke/Kalscheuer 2005: 15).

2. K RITISCHER D ISKURS

UND

D ISKURSKRITIK

Beginnen möchte ich mit den inzwischen ritualisiert vorgetragenen Kritikpunkten, die sich – wie ich zeigen möchte – auf ein reduktionistisches Verständnis von ›Interkulturalität‹ beziehen und die die Pluralität von Interkulturalitätskonzepten, ihre Begriffs- und Diskursgeschichte, ihre disziplinäre Einbindung und Funktion nicht hinreichend differenzierend in den Blick

2

Zu verweisen wäre u. a. auf die Einführungen in die interkulturelle Literaturwissenschaft von Michael Hofmann (2006), Norbert Mecklenburg (2009) und Andrea Leskovec (2011).

3

Eine ausführlichere Sichtung und Darstellung ist in Vorbereitung.

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nehmen.4 Die geläufigsten Zuschreibungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Dem Begriff der Interkulturalität liege ein holistischer Kulturbegriff zugrunde, der binnenkulturelle Differenzierungen ignoriere. Kulturelle Zugehörigkeit im Sinne kollektiver Identität werde eindimensional und essentialistisch festgeschrieben. Kulturen würden als ab- und ausgrenzend gegenüber anderen Kulturen verstanden. Als Modus dieser Abgrenzung werde ein binäres und dichotomisches Verständnis von ›Eigenem‹ versus ›Fremdem‹ zugrunde gelegt. Diese Zuschreibungen haben verschiedene Mütter und Väter. In nuce hat Wolfgang Welsch diese grundlegende Kritik gegen das Konzept Interkulturalität vorgebracht. In seinen Beiträgen zum Konzept der ›Transkulturalität‹, das er seit 1992 in einer Vielzahl leicht modifizierter Texte präsentiert,5 geht es ihm freilich gar nicht primär um eine Auseinandersetzung mit den Konzepten ›Interkulturalität‹ und ›Multikulturalität‹, wie sie seinerzeit vorlagen. Im Zentrum der Ausführungen steht seine Kritik an einem vorherrschenden traditionellen national gedachten Kulturbegriff, der die veränderten Lebensrealitäten in ihrer inneren Differenzierung und Komplexität völlig verfehle. Dieses kritisierte Kulturkonzept mit seinen weiteren Implikationen schreibt Welsch pauschal den Konzepten der ›Multikulturalität‹ und ›Interkulturalität‹ zu. Dabei ersetzt im Hinblick auf den hier interessierenden Fall der Interkulturalität ein Fußnotenverweis auf Publikationen zur interkulturellen Philosophie jede analytische Auseinandersetzung (Welsch 2000: 327-351, hier insbesondere 334f.). Dass er als Referenz für sein transkulturelles Kulturverständnis just auf einen Beitrag aus jener philosophischen

4

Interessante diskursgeschichtliche Einblicke gerade in den Wechsel der Leitdisziplinen, die sich mit dem Konzept der Interkulturalität beschäftigen, und den damit in Zusammenhang stehenden Veränderungen von gesellschaftlichen Kontexten und von Fragestellen gibt Elberfeld (2008).

5

Erstmal 1992 unter dem Titel Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, diese und weitere Textfassungen nennt Britta Kalscheuer in ihrer kritischen Sichtung des Transkulturalitätskonzepts (Kalscheuer: 2005b, 289-292); im Folgenden wird Bezug genommen auf die Fassung Welsch (2000), die im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 26, in dem thematischen Teil Zur Theoriebildung und Philosophie des Interkulturellen enthalten ist.

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Grundlegung der Interkulturalität zugreift, die vorher für das Gegenteil herhalten musste, sei hier nur am Rande erwähnt.6 Welschs Verdikt: »Das klassische Kulturmodell ist nicht nur deskriptiv falsch, sondern auch normativ gefährlich und unhaltbar. Der Abschied von diesem Konzept ist in jeder Hinsicht angezeigt« (ebd.: 332), diskreditiert das von ihm zugeordnete Konzept ›Interkulturalität‹ als ideologisch bedenklich und wissenschaftlich obsolet. Diese metonymische Zuschreibung hat sich zu einer inzwischen weitgehend unhinterfragten rhetorischen Formel des ›Überholtseins‹ verselbständigt und wird gern zur Profilierung eigener Entwürfe genutzt. Zur Illustration sei hier der Titel der Arbeit von Olga Iljassova-Morger Von der interkulturellen zur transkulturellen literarischen Hermeneutik angeführt. Zur Einordnung der von ihr diskutierten Begriffe ›inter, fremd oder trans-?‹ bedient sich die Autorin ebenfalls der Welsch Kritik und formuliert in scheinbarer Referenz auf ihn zugespitzt: »Er [der Interkulturalitätsbegriff, CA] sei das erste und unproduktivste Glied in der Kette interkulturell – multikulturell – transkulturell«, (Iljassova-Morger 2009: 30), ohne dass sich diese Einschätzung allerdings so bei Welsch finden ließ. Ein genauer Verweis fehlt entsprechend.7 Die Aporien und Tautologien von Welschs Transkulturalitätskonzept, das im Grunde ein Kulturkonzept ist, sollen an dieser Stelle gar nicht diskutiert werden. Sie sind bereits ausführlich und in gebührender Weise besprochen worden.8 Von Interesse ist für diesen Argumentationszusammenhang seine folgenreiche interkulturalitätskritische Rezeption. Für eine produktive Auseinandersetzung wird im weiteren Verlauf der Ausführungen auf ein anderes Konzept von ›Transkulturalität‹ zu verweisen sein. Kehren wir vorerst

6

Vgl. S. 334, Anm. 24 den kritischen Verweis auf den Sammelband von Mall/ Lohmar (1993) und S. 343, Anm. 39 die Referenz auf den Beitrag von Mohanty in eben diesem Band.

7

Die Arbeit von Iljassova-Morger dient hier lediglich als illustratives Beispiel für die undifferenzierte Rezeption und Weiterverarbeitung von Welschs Ansatz; eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren Entwürfen und deren Bewertung ist damit nicht intendiert.

8

Ich verweise etwa auf Dörr (2010), Elberfeld (2008), Mecklenburg (2009), Surana (2012) sowie den bereits erwähnten thematischen Teil des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies (2000).

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zum interkulturalitätskritischen Diskurs zurück und werfen einen weiteren Blick auf einen Modus der Auseinandersetzung mit dem Konzept. Ihren Erläuterungen eines Konzepts der ›Transdifferenz‹ widmen die Herausgeber und Beiträger Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke einen umsichtig angelegten Sammelband. Unter dem Titel Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz (2005), mustern die Autoren in umfänglichen Kapiteln aus Beiträgen und kritisch-bilanzierenden Kommentaren einzeln jeweils die Konzepte ›Multikulturalität‹, ›Interkulturalität‹, ›Transkulturalität‹ und ›Hybridität‹, um ihr Konzept der ›Transdifferenz‹ daran zu explizieren und zu profilieren. Einleitend schreiben sie: Historisch betrachtet deutet sich hier eine signifikante Verschiebung an: Während Konzepte wie Multikulturalität und Interkulturalität noch weitgehend von Kulturen als klar unterscheidbaren Entitäten ausgehen, hat sich in der jüngeren Debatte besonders durch Konzepte der Hybridität oder der Transkulturalität immer deutlicher gezeigt, dass ein statisches und autochthones Verständnis kultureller Entitäten respektive kultureller Identitäten nicht mehr haltbar ist (Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005: 9).

Was zum Beleg dieser vorweggenommen Einschätzung angeführt wird, sind Texte von zwei wie es heißt »Vertreter[n] der Interkulturalitätsdebatte«, welche die »Bandbreite des Diskurses abbilden [sollen]« (ebd.: 12)9: Edward T. Halls Nachdruck seiner Erläuterung des Kulturbegriffs aus dem Jahre 1973 und Alexander Thomas’ aktuellere, aber im Hinblick auf sein Kulturverständnis Hall verpflichtete Ausführungen zur interkulturellen Kompetenz. Diese Texte offenbaren in der Tat, was die oben skizzierte Kritik dem Konzept ›Interkulturalität‹ vorhält.

9

»Im dritten Teil des Buches finden sich Beiträge prominenter Vertreter bereits etablierter Konzepte zur kulturellen Mehrfachzugehörigkeit. Eine kurze Einleitung führt jeweils in Begriff, Debatte und die Texte ein. Jeweils zwei Texten, die die Bandbreite des Diskurses abbilden, folgt ein Kommentar, der aus einer ›transdifferenten Perspektive‹ Potential und Grenzen dieser Konzepte diskutiert. Diesen Teil eröffnen zwei Vertreter der Interkulturalitätsdebatte, Edward T. Hall und Alexander Thomas. Jürgen Gebhardt bilanziert in seinem Kommentar, dass beiden Konzepten nur eine geringe theoretische Fundierung eignet« (ebd.).

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Der Kommentator Jürgen Gebhardt zeigt in seiner kritischen Analyse, welchen gesellschaftlichen und wissenschaftshistorischen Konstellationen Halls Theoriebildungsprozesse entspringen und wie Thomas ein amerikanisches Wissenschaftsparadigma der 1950er Jahre reproduziere. Um den Autoren mit seiner grundlegenden Kritik nicht Unrecht zu tun, räumt er aber ein, dass ihr Verständnis von Interkulturalität nicht auf wissenschaftliche Einsichten abziele, dass es um den Begriff der Interkulturalität nicht eigentlich gehe und eine Auseinandersetzung mit anderen Positionen der Interkulturalität (wie etwa Entwürfen einer interkulturellen Philosophie von Ram Adhar Mall) geradezu mit Blick auf einen pragmatischen Imperativ verweigert werde. – Letzteres bezogen vor allem auf die Position von Thomas.10 Die Frage scheint mir dann mehr als berechtigt, warum diese beiden Vertreter bzw. Texte ausgewählt wurden, um stellvertretend in eine kritische Auseinandersetzung mit dem Interkulturalitätskonzept einzutreten. Eine, wenn auch unbefriedigende Antwort geben zumindest auch die Autoren, wenn Britta Kalscheuer formuliert:

10 »In gewissem Sinn tut diese grundsätzliche Kritik den Autoren Unrecht, denn ihr Verständnis von Interkulturalität zielt nicht auf wissenschaftliche Einsichten ab, sondern auf die praktische Anwendung eines theoretisch vorgegebenen Wissensbestandes der Sozialwissenschaft auf jeweils wechselnde politisch-soziale Situationen, die handlungsleitende Problemlösungsstrategien erfordern. Es geht nicht um einen Begriff der Interkulturalität, sondern um interkulturelle Handlungskompetenz, welche in methodisch angeleiteten kommunikativen Praktiken im Sinne spezifischer Zielvorgaben erfolgreiche Verständigungsprozesse gewährleisten« (Gebhardt 2005: 276). »Aber an Hall zeigt sich dem kritischen Analytiker von Theoriebildungsprozessen, dass diese gesellschaftlichen Konstellationen entspringen, welche wiederum in die Theoriebildung eingehen« (ebd.: 280). »Thomas liefert in seinen Arbeiten keinen Beitrag zur theoretischen Reflexion über den Kulturbegriff, denn hier reproduziert er das Wissenschaftsparadigma der 50er Jahre« (ebd.: 282). Eine Auseinandersetzung mit anderen Positionen der Interkulturalität (Mall) werde gerade an dem Punkt verweigert, wo es um die Frage gehe, »ob und inwieweit die interkulturelle Erfahrungswirklichkeit auf einen wissenschaftlich – diskursiven Begriff gebracht werden kann« (ebd.: 282).

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Zwar bietet den hierzulande wohl ausgereiftesten Ansatz zur Interkulturalität sicherlich Alois Wierlacher, […] der die in den einzelnen interkulturellen Spezialdisziplinen zusammen getragenen Erkenntnisse integriert. Doch für diesen Band wurde der Ansatz von Alexander Thomas ausgewählt, da er einerseits einen stärkeren Praxisbezug hat, andererseits auch populärer ist (Kalscheuer 2005a: 224f.).

Und – so müsste man wohl auch ergänzen – man sich gegen diesen Ansatz unschwer abgrenzen und profilieren kann. »In theoretischer Hinsicht jedoch bleibt einiges kritisch anzumerken«, so Volker Dörrs Fazit zur Diskussion um die Begriffe Inter- und Transkulturalität, das auch mit Blick auf die oben skizzierte Auseinandersetzung nur zu unterstreichen ist. Ihm ist auch darin zuzustimmen, dass »die Ersetzung des Begriffs der ›Interkulturalität‹ durch denjenigen der ›Transkulturalität‹ weder notwendige noch hinreichende Bedingung für ein weniger unterkomplexes Verständnis von Kulturalität selbst« sei (Dörr 2010: 73), wer den Begriff ›Transkulturalität‹ im Munde führe, denke Kulturen ebenso wenig als abgeschlossene homogene Identitäten, wie dies jemand tue, der am Begriff ›Interkulturalität‹ festhalte (vgl. ebd.). »Vielmehr ist in jedem Fall zu fragen, ob mit der Oberflächenrhetorik des Vokabulars auch eine Tiefengrammatik hinreichend komplexer Konzeptualität korrespondiert« (ebd.).

3. I NTERKULTURALITÄT ALS LITERATURWISSEN SCHAFTLICHE K ATEGORIE Verdeutlicht haben diese schlaglichtartig beleuchteten Effekte eines interkulturalitätskritischen Diskurses so wäre zu hoffen Folgendes. Ein Ausspielen der Konzepte Interkulturalität und Transkulturalität, das sich nicht auf deren theoretischen Potentiale differenzierend einlässt, bleibt letztlich leer. Das Konzept der Interkulturalität ruht genau wie das der Transkulturalität auf drei Konzepten auf, die miteinander ausbalanciert werden müssen. Dies sind vorgängige theoretische Annahmen darüber, was unter Kultur und Kulturen zu verstehen sei, wie Kulturalität im Sinne eines Spannungsverhältnisses von Individuum und Kultur zu fassen sei und wie Beziehungen und Bezugnahmen zwischen diesen Größen gedacht werden können, d.h.

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was letztlich ein ›Inter‹ oder ›Trans‹ an Bezügen und Beziehungen offenzulegen oder zu stiften vermag. Generalisierende Zuschreibungen wie die eingangs problematisierten Festschreibungen behindern, wenn nicht gar verhindern die Ausbildung und Ausdifferenzierung von Interkulturalitätsbegriffen, die mit der je spezifischen Wahl ihrer theoretischen Bezüge ihre Gegenstände und Frageinteressen konturieren und umgekehrt. Ein Konzept würde so bereits verabschiedet, bevor seine Potentiale zur Kenntnis genommen wurden. Zu klären wäre für die Arbeit an der oben formulierten Problemstellung also konkret, mit welchem Konzept von Kultur soll gearbeitet werden, wie wird dabei Subjektivität und Identität im Verhältnis zu Kultur gedacht und was bedeutet die Beziehung ›Inter‹ oder ›Trans‹? Beziehen wir diese Überlegungen auf Interkulturalität als eine literaturwissenschaftliche Kategorie, wird die Ausgangslage notwendigerweise komplexer, weil sich kultur- und identitätstheoretische Fragen unvermeidbar mit literaturtheoretischen Annahmen und ihren methodischen Implikationen durchkreuzen und überlagern (müssen). Konkretisieren lässt sich dieser Zusammenhang zumindest im Ansatz, wenn man Entwicklungen literaturwissenschaftlicher Interkulturalitätsperspektiven in einem kurzen Überblick daraufhin resümiert.11 Als Forschungsperspektive in die Literaturwissenschaft eingebracht wurde das Konzept der Interkulturalität mit Beginn der 1980er Jahre im Entstehungsprozess einer interkulturellen Germanistik mit der von Forschenden und Lehrenden aus der so genannten Inlands- und Auslandsgermanistik aufgeworfenen Frage nach Bedeutung und Relevanz von Kultur und Kulturalität als Dimension von (literarischen) Texten und als Wissens-, Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont des Lesers und der Lehrenden und Forschenden selbst. Gefragt wurde konkret, welche Rolle je verschiedene

11 Der folgende Überblick stützt sich vor allem auf Thum (1985), Wierlacher (1985), Krusche/Wierlacher (1990), Albrecht (1997), Mecklenburg 2(2009), Heimböckel/Honnef-Becker/Mein/Sieburg (2010); für eine vertiefende Auseinandersetzung sei die jährlich erscheinende Auswahlbibliographie Interkulturelle Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung von Karl Esselborn, seit 2009 gemeinsam mit Simone Schiedermair, im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies empfohlen.

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sprachliche und kulturelle Kontexte für das Lesen und Verstehen von (literarischen) Texten spielen, welche kulturbedingten Vorverständnisse den wissenschaftlichen Umgang mit Literatur und Sprache bestimmen, und welche Bedeutung beides für die Vermittlung von Sprache und Literatur hat. Um die besondere Beziehung zwischen Leser, (fremdsprachlichem) Text und (fremd-) kulturellem Kontext zu bestimmen, wurden Grundlagen einer ›interkulturellen Hermeneutik‹ und einer ›fremdkulturellen Rezeption‹ erarbeitet, die auf einem spezifischem Verständnis von Fremdheit bzw. Fremde und vom Verhältnis ›eigener‹ und ›fremder‹ Kultur beruhen: dass Fremdheit nicht die Eigenschaft von Texten oder kulturellen Kontexten ist, sondern eine Beziehung, in der »ein Subjekt zu dem Gegenstand seiner Erfahrung und Erkenntnis steht« (Krusche 1990: 143), und dass erst in der Begegnung mit anderen kulturellen Identitäten oder kulturellen Kontexten die jeweilige Kulturgebundenheit eigener Identität, eigener Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsweisen erfahrbar wird. Interkulturalität wäre in diesem Verständnis eine Zwischenposition, in der sich die prozesshafte und wechselseitige Herstellung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ vollzieht. Aus der Perspektive der beteiligten Subjekte ließe sich Interkulturalität dann als ein Bewusstseins- oder Erkenntnisprozess verstehen, der aus dieser selbstreflexiven Wahrnehmung und Erfahrung kultureller Pluralität erwächst und der Ethnozentrismus überwinden hilft, indem er ermöglicht, in der je eigenen Wirklichkeitskonstruktion und im eigenen Handeln die Perspektive des je anderen mitzudenken und zu antizipieren. Die Ausgangsprämissen, dass es eine Pluralität von Kulturen im Sinne kollektiver Lebensweisen gibt, und dass Individuen über ihre Sprache, über die Teilhabe an Überlieferungen und Traditionen, über geteilte Werte und geteiltes Wissen, Einstellungen, Überzeugungen und Weltbilder in einen dynamischen Gesamtzusammenhang ›Kultur‹ eingebunden sind, den sie ihrerseits mit gestalten und hervorbringen, sind im Laufe der kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen der Literaturwissenschaft seit Beginn der 1990er Jahre ausdifferenziert und zum Teil problematisiert worden. Die literaturwissenschaftliche Forschungsperspektive der Interkulturalität hat sich in diesem Zuge zunehmend auf Fragen der thematischen und sprachlichen Interkulturalität in und durch Texte fokussiert, jenseits der hermeneu-

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tischen Ausgangs- und damit verbundenen Vermittlungsproblematik. Ins Zentrum rücken Texte und Textgattungen, die Interkulturalität thematisch entfalten, poetisch zur Sprache bringen und durch spezifische Schreib- und Erzählverfahren hervorbringen. Ein wichtiger Impuls dafür war in Deutschland die sogenannte Migranten- oder Migrationsliteratur, für die sich zunehmend auch die Bezeichnung interkulturelle Literatur und Literatur der Interkulturalität etabliert. Mit der darin inszenierten Verortung kultureller Zugehörigkeit, Problematisierung von kulturellen Zuschreibungen und Verhaltenserwartungen, Auflösung und Vermischung von Identitäten richtet sich auch das analytische Interesse an diesen Texten vornehmlich auf die Verfahren und Funktionsweisen von Differenzzuschreibungen und Herstellung kultureller Identifikationen. Interkulturalität lässt sich in diesem Zusammenhang verstehen als der mediale Ort, in dem Kulturalität erst interaktiv und performativ hervorgebracht wird. Was dieser kurze Überblick erkennbar zu machen versucht, ist eine Pluralität wechselnder theoretischer Bezugnahmen und Grundlagen. In Verschränkung von literatur- und kulturwissenschaftlichen Modellen und möglicherweise auch Moden lassen sich hermeneutische, rezeptionsästhetische, diskurs-, medialitäts- und performanzorientierte Ausrichtungen von interkulturellen Perspektiven in der Literaturwissenschaft identifizieren. Die skizzierte Abfolge sollte nicht vorschnell historisiert werden. Sie ist zwar durchaus verknüpft mit wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Konstellationen, sollte aber eben nicht von vornherein als ein Ablösungsmodell verstanden werden – wie im vorgeführten Fall der Konzepte Interkulturalität und Transkulturalität – , sondern als ein potentieller spezifischer methodischer Zugriff, der wie alle Verfahren von der Frage ausgeht, welcher Literatur- bzw. Kulturbegriff leitend ist und welches spezifische Erkenntnisinteresse man verfolgt. Die vermeintlich grundlegende Divergenz und Unverträglichkeit der Konzepte ›Transkulturalität‹ und ›Interkulturalität‹ wäre damit, wie ich hoffe gezeigt zu haben, eine durchaus konstruierte. Diese Position bestätigt auch der Vorschlag von Blumentrath, Bodenburg, Hillmann und WagnerEgelhaaf ›Transkulturalität‹ nicht paradigmatisch als Ablösung des Interkulturalitätskonzepts zu verstehen, sondern als »ein von einem Ensemble neuerer Theorieansätze instruiertes Forschungs- und Analysekonzept, das

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den Blick auf die Problematisierung vermeintlicher kultureller Einheiten, auf Differenzen, Veränderungen und Übergänge richtet« (Blumentrath/Bodenburg/Hillmann/Wagner-Egelhaaf 2007: 54). Als geeignete Theorieansätze für ihre kulturwissenschaftliche Literatur- und Filmanalyse rezipieren die AutorInnen im Wesentlichen zentrale Kategorien der angloamerikanischen Postcolonial Studies (wie Alterität, Orientalismus, Hybridität, Dritter Raum, Mimikry, Subalternität), Differenztheorien im Spannungsfeld von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion sowie Performanz- und Genderansätze.12 Für eine interkulturelle literaturwissenschaftliche Perspektive wäre meines Erachtens im je eigenen Forschungsinteresse zu klären und zu prüfen, mit welchen theoretischen Bezugnahmen produktiv gearbeitet werden kann und welche theoretischen Anschlüsse für welche Fragestellungen nutzbar gemacht werden können. So zeigt die analytische Perspektive auf interkulturelle Schreibweisen und auf literarische Verfahren, die die Eindeutigkeit von Zugehörigkeiten und die Zuschreibungen von einsinnigen Bedeutungen unterlaufen, teilweise eine Affinität zu theoretischen Positionen des Poststrukturalismus, die einen Zugriff auf Deutung von Sprache und Schreibweisen jenseits identifikations- und bedeutungsstiftender Funktionen anbieten. Wenn als zentrale Kategorie das Konzept der Differenz übernommen wird, wären dessen Implikationen und Konsequenzen für ein Konzept von Interkulturalität zu durchdenken und zu reflektieren, insbesondere ob und wie ein ›Inter‹ dann gefasst werden könnte.13

12 Auch Mecklenburg urteilt, dass zwischen den Begriffen Interkulturalität und Transkulturalität »leicht eine falsche Konkurrenz aufgebaut« werde (Mecklenburg 2009: 92) und dass »die Ausdrücke ›interkulturell‹ und ›transkulturell‹ problemlos nebeneinander bestehen können, weil sie sich auf unterschiedliche Sachverhalte beziehen« (ebd.: 93); zu seinen Vorschlägen der terminologischen Unterscheidung vgl. vor allem ebd.. 13 Auch hier ist ein methodischer Pluralismus sich gleichwohl als ›interkulturell‹ verstehender Literaturwissenschaft möglich, vgl. etwa die unterschiedlichen Positionen von Herbert Uerlings u.a. in seinen Poetiken der Interkulturalität (1997) und Mecklenburgs Differenzierungen der Differenz (in Mecklenburg 2009: 99-111).

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Das gleiche gilt, wenn eine Anschließbarkeit an zentrale Begriffe postkolonialer Theoriebildung gesehen wird, im besonderen an Homi K. Bhabhas Konzept der ›Hybridität‹ von Subjekten und Kulturen und seine Konzeption eines ›Dritten Raums‹ (Bhabha 2000) als eines »Schwellenraums zwischen den Identitätsbestimmungen« (ebd.: 5). Beide Konzepte nehmen ihren Ausgang von einer Vermischung und Unabgeschlossenheit von Kulturen, wie sie – historisch – mit der Kolonialisierung einhergegangen ist und die auch in nachkolonialen (postcolonial) Konstellationen Subjekte hervorbringt, deren kulturelle Identität multipel und von innerer Widersprüchlichkeit ist, und die sich eindeutiger und dauerhafter Verortung entzieht. Das Spezifische postkolonialer Theoriebildung ist aber ihre Aufdeckung hegemonialer Diskurse sowie hierarchisierender und exkludierender Denkfiguren von Unterdrücker und Unterdrückten, Zentrum und Peripherie, von Sprachmacht und -ohnmacht (vgl. Said 1981; Spivak 1988). Zu fragen wäre auch hier nach dem jeweiligen Potential der Übertragung postkolonialer Konzepte auf literarische Texte, die Räume kultureller Vermischung und Mehrsprachigkeit ohne Bezüge auf (nach)koloniale Konstellationen thematisieren. Und es wäre grundsätzlicher zu fragen, ob Denkfiguren der Dezentrierung des Subjekts, in deren Nachfolge diese Ansätze stehen, die Vorstellung eines ›Inter‹ spezifisch neu bestimmen oder obsolet machen, indem sie es radikalisieren.

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Wechselkritik und Ergänzung Zur langzeitigen Wirkungsgeschichte der deutschfranzösischen Beziehungen – von Forster bis Durkheim W ILLY M ICHEL / E DITH M ICHEL

In sechzig Jahren Nachkriegszeit haben sich die deutsch-französischen Beziehungen so gefestigt, dass sie zur europäischen Rahmenbildung entscheidend beigetragen haben. Allerdings gab es immer wieder Krisen, deren tiefer liegende geistes- und mentalitätsgeschichtliche Ursachen selten anamnetisch ausgelotet wurden. Man begnügte sich mit pragmatischen Überformungen und Lösungen in der Politik, die letztlich durch die jeweiligen Personalkonstellationen von de Gaulle und Adenauer über Giscard d’Estaing und Schmidt, Kohl und Mitterand bis zu Chirac und Schröder gesichert wurden. Diese Reihe scheint nach etlichen Anfangsschwierigkeiten durch Sarkozy / Hollande und Merkel fortgesetzt zu werden. Allerdings sind seit 2011 auf drei Ebenen tiefer liegende Divergenzen aufgebrochen, die einen fundamentaleren anamnetischen Zugang erforderlich machen: die strategische Frage der Atomenergie, die militärische Frage des Eingreifens in Libyen und schließlich das Problem einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik. Zu einer historisch-hermeneutischen Anamnese gehört es, im Sinne einer langzeitigen Wirkungsgeschichte, zurückzugreifen auf Schlüsselphasen und Schlüsseltexte, in denen beide Länder polarisierend oder fundamentaldialektisch aufeinander bezogen wurden. Was die Trägergruppen anbe-

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langt, in welchen die wechselseitigen Kenntnisse verbreitet waren, so zeigt sich im 18. Jahrhundert eine tiefe Asymmetrie. Während der deutsche Adel die Vorbildgeltung der französischen Lebensformen bis hin zur Kavalierstour seines Nachwuchses anerkannte (Grosser 1989), gab es in Frankreich kein vergleichbares Wissen zu Deutschland. Die Vorurteile waren aufklärerisch unterlegt und resultierten in der Vorstellung, dass man in Deutschland weder mit Vernunft noch mit Geschmack rechnen könne. Vor diesem Hintergrund kollektiver ›praeiudicia‹ konnte Madame de Staël ihre Entdeckung Deutschlands glaubhaft vorführen (de Staël 1813; 1985). Die asymmetrische Struktur der Reiseberichte führte u.a. zu der bizarren Konstruktion des deutschen Journalisten Riesbeck, der in die Schweiz geflüchtet war und fiktive Berichte eines reisenden Franzosen über Deutschland veröffentlichte (Riesbeck 1783). Allerdings gibt es bei dieser indirekten Kritik am eigenen Land ebenfalls eine lange Traditionslinie, die von Tacitus’ Germania bis zu Montesquieus Les lettres persanes reicht. Selbst überlegene Reiseschriftsteller konnten jene Asymmetrie nicht überwinden. So hat Georg Forster, der einen europäischen Rollenplural verkörperte und in seiner Reise um die Welt englische Vielseitigkeit mit akribischer deutscher Naturwahrnehmung und französischer Geopolitik vereinigte, in seinen Ansichten vom Niederrhein (1790) die französische kameralistisch-enzyklopädische Betrachtungsweise nicht abstreifen können. Er stellt erstmals ein kleinregional-europäisches Entwicklungsgefälle dar, das von den mittelrheinischen Gebieten bis zu den holländischen Handels- und Seestädten reicht. Dabei legt er ein Zeitmodell an, in dem er die akzelerative Entwicklung in einer Dekade vergleicht. So wird der deutsche organologische Entwicklungsbegriff ausgeschaltet, was dazu führt, dass er makrohistorisches Entwicklungspotential in deutschen Städten wie Köln und Aachen verkennt. Die Diffusion frühindustrieller Techniken und die Verbreitung manueller Fertigkeiten und intellektueller Dispositionen werden direkt aufeinander bezogen. Er führt dies auf die Verbreitung aufklärerischer Ideen zurück, darauf, dass in den entwickelteren Gebieten eine »erstaunliche Menge neuer Ideen« im Umlauf seien (Forster 1958: 500). Diese allgemeine rationale Diffusion ermögliche erst Ausdifferenzierung und Spezialisierung, die sich darin zeige, dass sich »in verschiedenen einzelnen bald diese bald jene Fähigkeit entwickeln, auf Kosten jener allzu einfachen Bestimmung« (ebd.: 501).

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Dies entspricht durch und durch den französischen Gewohnheiten rationaler und enzyklopädischer Systematisierung. Es gehört zu den dialektischen Verwerfungen der Geistes- und Sozialgeschichte, dass zur Zeit der Veröffentlichung von Forsters Ansichten vom Niederrhein englische Reisende bereits in vorromantischer Weise das Rheintal entdeckt und damit der »grand tour« durch Frankreich und Italien eine deutsche Variante der Rückkehr hinzugefügt hatten. Die Vorgeschichte englischer Wahrnehmungsdispositionen bezieht sich auf den Ruinenkult und das Zusammenspiel zerklüfteter Landschaften und verdeckter historischer Bedeutungen. Forster hebt demgegenüber die Monokultur des Weinbaus hervor. Bedenkt man die langzeitige Wirkungsgeschichte der Rheinromantik bis zu dem heutigen Tage, so erscheint Forsters Urteil doppelt befremdlich: »Der Weinbau giebt wegen der krüppelhaften Figur der Reben einer jeden Landschaft etwas Kleinliches« (ebd.: 379). Der »Mangel an Industrie« führe in Verbindung mit dieser Monokultur zu »Indolenz, und daraus entspringender Verderbtheit des moralischen Charakters« (ebd.: 383). Forsters Reisebericht lenkt denn auch zurück zu den exotischen Fluchtphantasien, die deutsche Leser von seiner Reise um die Welt her kannten: »Auf der Fahrt durch den Rheingau hab’ ich, verzeih es mir der Nationalstolz meiner Landsleute! eine Reise durch Borneo gelesen und meine Phantasie an jenen glühenden Farben und jenem gewaltigen Pflanzenwuchs….gewärmt und gelabt« (ebd.: 379). Man kann an diesem Beispiel besonders deutlich die Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten französisch-enzyklopädischer und deutsch-romantischer Vorstellungen erkennen. Forsters enzyklopädisch-systematisches Erfassen ganzer Regionen in einem Entwicklungsgefälle hat sich bereits 1790 entfernt von der englischen Tradition komplexer Reisebeschreibungen, wie sie Smollet verkörpert. Hier werden punktuelle Beschreibungen von Industrieanlagen, Landschaftsbeschreibungen und Kunsteindrücke aufeinander zugeordnet, ohne dass eine übergreifende Teleologie vorgegeben wäre. Diese organologische Entwicklungsvorstellung schließt gerade auch Relikte mit ein – von Burgruinen bis zu aufgegebenen Manufakturen, die als Industrieruinen betrachtet werden. Die Diskrepanz zwischen französischen und englischen Fremdwahrnehmungen zeigt sich besonders deutlich in Goethes Dichtung und Wahrheit, in den Erinnerungen an seine Straßburger Zeit von 1770/71.

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Goethe markiert genau die sozialgeschichtliche und geschmackssoziologische Linie zwischen der Abwehr durchgreifender Einflüsse des deutschen Adels und den punktuellen Projektionen auf die fremdere englische Kultur. Er hat in Straßburg die Einflüsse der französischen Kameralistik und der administrativen Statistik in der Schule Schöpflins kennen gelernt, der seinerseits als Badener und als Begründer der pfälzischen Akademie der Wissenschaften französische Planungswissenschaftler und Diplomaten ausbildete. Dessen Schüler Koch, der wie einige der Studienfreunde Goethes aus Bouxwiller stammte, hat den jungen Goethe für neuere französische Entwicklungen interessieren und auf einen Aufenthalt in Paris hin orientieren wollen. Gleichzeitig aber hat Herder, der gerade enttäuscht aus Paris zurückgekehrt war, ihn mit englischen Impulsen bekannt gemacht. Durch Herder lernte der junge Goethe die neuere englische Literatur, so u.a. die Pfarrhausidylle von Goldsmith The Vicar of Wakefield kennen. Auch seine Vorliebe für Kleinstädte mit einem breiten Rollenplural mit archaischen, bäuerlichen und modernen Zügen stellte eine Verbindung zwischen deutschen Erfahrungen und Projektionen auf England dar. Durch Herder lernte er auch organologische Geschichtsbetrachtungen mit Landschaftsgliederungen zu verbinden. Dies zeigt sich 40 Jahre später im Rückblick von Dichtung und Wahrheit anlässlich seiner Reise von Straßburg ins Saarbrücker frühindustrielle Revier. Goethe hat bei dieser Gelegenheit die elsässisch-badischen, pfälzischen und saarländischen Kultur- und Industrieregionen so aufeinander zugeordnet, dass die organologische Ähnlichkeit mit dem modernen französischen Aspekt der Diffusion verbunden erscheint. In dieser Weise hat er Forsters mechanisch-französische Darstellung eines Akzelerationsgefälles zwischen mitteleuropäischen Regionen überboten. Natürlich war Goethe immer wieder den Fragen Frankfurter und anderer Freunde ausgesetzt, ob er schon in Paris gewesen sei. Diese Fragen bezogen sich natürlich auf die bürgerlichen Imitationen adliger Kavalierstouren. Er konnte diesem Drängen nur auf fiktionale Weise widerstehen, indem er nach dem Empfang der künftigen Königin Marie Antoinette in Straßburg, eine Parisreise erfunden hat. Diese erzwungene Erfindung setzte ihn frei von Begründungen für seine Studien an der Universität Straßburg. Das Thema Reise und Erfindung hat er dann in grandioser Weise in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre weiterverfolgt (Michel 1983: 23ff.) Der Protagonist kann seiner Kaufmannsfamilie vorgaukeln, dass er mehrere kaufmännische und industrielle Standorte besucht habe, weil er sich die ers-

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ten statistischen Handbücher beschafft hatte. Solche Handbücher waren eine Neuerung im Gefolge der englischen Reiseliteratur und der französischen Statistik. Goethe beschreibt voller Stolz im Jahre 1811 diese erste Industriereise nach Saarbrücken im Sinne der deutschen Pädagogik als Initiation. Dadurch, dass seine Familie mit dem Präsidenten von Günderode bekannt war, erhielt er Zutritt zu den seit dem Tode des Fürsten von NassauSaarbrücken stillgelegten Verkokungsanlagen. So beschrieb er in englischer Manier diese hochmodernen Feuerungsanlagen als Industrieruine, ja, den Innovator und Feuerungstechniker Stauf charakterisiert er als Sonderling und skurriles Original (ebd.: 35f.) quasi als Präfiguration des Faust. Tatsächlich haben französische Wissenschaftler wie de Genssane, der als Mitglied der Académie des Sciences zur selben Zeit diese Anlagen besichtigte, den Schlüsselcharakter dieser Innovation erkannt, der darin bestand, dass mit Hilfe der Verkokung hohe Hitzegrade bei der Eisenschmelze erzielt werden konnten. Während bei Forster die Übernahme französischer statistischer Parameter zu Fehleinschätzungen führte, hat Goethe die industriepolitischen Schlüsseldaten nicht rechtzeitig erkannt, gerade weil er englische äußerliche Beschreibungsformen übernommen hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass er im Jahre 1811 seine Reise von Straßburg nach Saarbrücken und zurück in der dichotomischen Manier englischer Reiseliteratur beschreibt. Die Reise ins Industrierevier mit einem ganzen Ensemble moderner Anlagen ist in der Art Smollets konstruiert, die Rückreise in der von Fieldings Sentimental Journey. Die Künstlichkeit dieser Konstruktion ist offenkundig, da der junge Goethe die Pfarrerstochter Friederike Brion noch gar nicht kannte. Die erste geistesgeschichtliche und sozialgeschichtliche Dynamisierungsvorstellung im deutsch-französischen Verhältnis entwickelt sich erst in der Zeit der Frühromantik, genau genommen zwischen 1795 und 1802. Friedrich Schlegel hat in drei Reihen von Kritiken (literarische, philosophisch-theologische und historisch-politische) eine intensivere Wechselperspektivierung zwischen den Disziplinen und damit den hermeneutischen Voraussetzungen und den kulturellen Dispositionen vorbereitet und durchgeführt. Im Vergleich zu den standortgebundenen Perspektivierungen der Aufklärungszeit (Chladenius: Von einem ›Sehe-Punckt‹ aus) hat er von »oszillierenden Gesichtspunkten« her urteilen wollen (Michel 1982: 207).

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Gerade in seiner Forsterkritik stellte er sich diese Oszillation dialektisch vor, insofern ein redlicher Forscher die Gegenstände absichtlich aus entgegen gesetzten Standorten betrachten müsse. Dies erweitert er bis zu den »entgegen gesetzten Standorten« der einzelnen Nationen, so dass die zukunftsweisenden Tendenzen eines Landes in der »öffentlichen Meinung« der anderen Länder bekannt gemacht werden müssten (Schlegel 1958: 89; Michel 1982: 192). Schlegel geht dabei davon aus, dass es geradezu ein Merkmal der Dynamisierung in der Moderne sei, das jede Nation »schnell praeponderierende Bildungsarten« aufweise. Der Dialektiker und Ironiker, den Friedrich Schlegel als »kritischen Mimus« bezeichnet (Schlegel 1958: 29 Fragment 118; Michel 1982: 159ff) tritt gewissermaßen als Vermittler und Dolmetscher auf, der auch in anamnetisch-historischer Absicht die kulturellen und politischen Hintergründe erschließt. Er ist also auch ein »kritischer Mimus« der »Historie« selbst. (Schlegel 1958: 140, Fr. 612 und Fr. 650; Michel 1982: 70/297). Schlegels übergreifend europäische Perspektive zeigt sich in der Umwertung des Begriffs Provinz: »Jede Nazion in Europa ist nur als eine Provinz der Modernheit zu betrachten« (Schlegel 1958: 98, Fr. 167; Michel 1982: 297). Aus diesen Kontexten ergibt sich die Schlussfolgerung, dass jeder, der eine »Symphilosophie mit dem Zeitalter« (Schlegel 1958: 141, Fr. 222) betreiben wolle, die ›praeponderierenden Bildungsarten‹ dialektisch aufeinander beziehen müsse. Der Grundzug der Dynamisierung, den Friedrich Schlegel in ironischer und dialektischer Weise betont, richtet sich auch gegen jene Autoren, die er für zeitgemäß und vorbildlich zu halten scheint. Schlegel durchschaut die verdeckte Statik in den historischen Vergleichsansätzen Forsters und Goethes. Gerade indem er Goethes Wilhelm Meister als Höhepunkt des zeitgenössischen Romanschaffens herausstellt, gibt er in seinen Fragmentheften seiner esoterischen Kritik an Goethe freien Raum: »Goethe’s Werke sind nicht dynamisch, in die Zeit eingreifend genug« (ebd.: 386, Fr. 781). Die Wechselperspektivierung zwischen Deutschland und Frankreich führt er als ironische ›Wechselannihilation‹ vor. So kritisiert er Condorçets enzyklopädisch-nomothetische Geschichtsbetrachtung aus der Sicht einer weitergedachten deutschen Geschichtsphilosophie, aber gleichzeitig kritisiert er Kant und die »Reinholdische Schule« aus dem politisierten Geschichtsbewusstsein der Franzosen heraus: »Die Universalhistorie (wie Kant sie sich denkt) ist eine Groteske…« (ebd.: 57, Fr. 376). Insofern Kant sich nie auf realhistorische Konfliktlagen und deren Analysealternativen

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eingelassen habe, bezeichnet Schlegel die Hermeneutik der Kantianer als »antihistorisch« (Michel 1982: 180ff). Unter das Verdikt der Ironie fallen aber ebenso Herders organologische Betrachtungen, die Schlegel in den Briefen zu Beförderung der Humanität (1796) erschlossen hat. Herder gehe in den bewunderten Texten »gleichsam botanisiren« (Schlegel 1958: 96, Fr. 135; W. M. S. 109). Die organologische Kulturbetrachtung der Deutschen sei zu homogenisierend und erörtere zu wenig die aufgebrochenen zeitlichen und geschmacklichen Diskrepanzen. Dies beruht auf der unbedingt innovativen Feststellung Friedrich Schlegels, die von aller klassizistischen Betrachtung weggeführt hat, dass es »in dem Geiste gleichzeitiger Werke…keine gemeinschaftlichen Verhältnisse mehr gebe« (ebd.: 221f.). Novalis überträgt in seinem Redenentwurf von 1799 Die Christenheit oder Europa, deren Abdruck von Goethe verhindert wurde, den oszillierenden Perspektivenwechsel auf den »Wechsel entgegengesetzter Bewegungen«. Diese Oszillation präge bestimmte »Zeiten und Perioden« (Novalis 1984: 71). Er wählt dann zur Charakterisierung der Teleologie durch diese Oszillation hindurch Formeln aus verschiedenen philosophischen und theologischen Perioden – »Wachstum« und »Abnehmen«, »Auferstehung« und »Verjüngung«, »fortschreitende immer mehr sich vergrößernde Evolutionen« (ebd.). Auf diese Weise leistet er eine dialektische Aufhebung entgegen gesetzter geschichtsphilosophischer Ansätze, ganz so wie er sie zusammen mit seinem Freund Friedrich Schlegel aus Lessings Erziehung des Menschengeschlechts herausinterpretiert hatte. Der oszillierende Gesichtspunktwechsel erlaubt es aber auch, auseinander liegende Perioden zwischen den Nationen zueinander in Beziehung zu setzen. So betrachtet er die Französische Revolution unter bestimmten Gesichtspunkten als eine Fortsetzung des deutschen Protestantismus. Er hebt zugleich den quasi religiösen, politischen Totalitätsanspruch der französischen Revolution hervor und kritisiert zugleich das substantielle Weiterwirken aufklärerisch-enzyklopädischer Denkweisen: »Frankreich war so glücklich der Schoß und der Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammen geklebt war« (ebd.: 78). Die Vorstellung eines »schlummernden Europa«, das »wider erwachen« wollte, bestimmt seine geschichtsphilosophische Perspektive jenseits der »Standpunkte der Kabinette« (ebd.: 86).

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Novalis kannte sehr viel genauer als Friedrich Schlegel die industriepolitische Zurückgebliebenheit Deutschlands gegenüber England und Frankreich. Er hat als Bergassessor genaue Studien zur Ausdifferenzierung der Leitungsebenen der Industrien, und zur Spezialisierung der Kompetenzen in einem System horizontaler und vertikaler Rollenaufspaltungen angestellt. So hat er das Schlegelsche System ›praeponderierender Bildungsarten‹ zugleich in idealistischer und realistischer Weise ausfüllen können. Das was man im Anschluss an Snows Theorie der zwei Kulturen in einer diskutierte, hat er in seinen Fragmentheften bereits bedacht (Michel 1987). Allerdings blieben diese Ansätze ebenso wie seine Europaideen lange Zeit verdeckt zugunsten eines kitschigen Bildes eines Jünglings, der auf dem Grab seiner kindlichen Geliebten Hymnen an die Nacht schreibt. Die französischen Anschlüsse der frühen Romantik, so insbesondere Chateaubriand (Le Génie du Christanisme, 1803), konnten diese Verbindung zwischen Politik und geschichtsphilosophischer Esoterik noch nicht erkennen. Einen historischen Einschnitt in der Wechselperspektivierung bedeutet Madame de Staëls Buch De l’Allemagne, das auf den Eindrücken ihrer Deutschlandreisen der Jahre 1803/04 und 1807/08 beruht und dessen erste französische Auflage 1810 Napoleon einstampfen ließ und das 1813 im Londoner Exil erschien. Die wechselvolle Publikationsgeschichte zeigt bereits den brisanten politischen Charakter des Buches an. Mme de Staël wurde von Napoleon wie eine politische Großmacht gefürchtet. Natürlich steht diese Abhandlung in der Tradition der fremdkulturellen Umspiegelung nach Montesquieu und der indirekten Kritik an der eigenen Kultur, deren kollektive Vorurteile und Überlegenheitsgefühle sie treffen will. Aber zugleich geht es doch um eine europäische Urteilsperspektive, die auf Wechselkritiken beruht. Die Bipolarität zwischen Deutschland und Frankreich wird so in ein übergreifendes Spektrum gerückt: »Man könnte mit Recht behaupten, dass die Franzosen und die Deutschen an den beiden äußersten Enden der moralischen Kette stehen, da jene die äußeren Gegenstände als den Hebel aller Ideen annehmen und diese die Ideen für den Hebel aller Eindrücke halten« (de Staël 1985: 19). Sie hat so das Verhältnis von Idealismus und Realismus, das Friedrich Schlegel bereits in eine dynamisch-dialektische Abfolge gesetzt hatte, wieder in eine statische Vergleichsbeziehung rückversetzt, ja, die unterlegte Erkenntnistheorie wird gleichsam nationalkulturell ontologisiert. Allerdings formuliert sie oftmals

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in witzigen Chiasmen aus, was tatsächlich auf ernsthaften Unterschieden beruht: Die Deutschen begehen oft den Fehler, was in die Bücher gehört, zum Gegenstand der Unterhaltung zu machen; die Franzosen verfallen nicht selten in den entgegengesetzten Fehler; sie geben uns zu lesen, was bloß zum Hören sich eignete. Wir haben, mit einem Worte, dergestalt alles Oberflächliche erschöpft, daß wir, dünkt mich, der Unterhaltung und vor allem der Abwechslung wegen, es einmal mit der Tiefe versuchen sollten (de Staël ebd.).

Sie spricht so die Unterschiede im Diskurs und Publikationsverhalten an, vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Kenntnisse der französischen Salons, deren Bedeutung für die philosophischen, literarischen und politischen Bewusstseinshorizonte sie als Tochter des Finanzministers Necker genauestens kannte. Der deutsche Mangel an aktuellen Diskursformen verdeckt allerdings, dass die mündliche Tradierung in Deutschland eine größere Bedeutung hat als in Frankreich. Madame de Staël möchte in metakritischer Weise den scheinbar durchgesetzten aufklärerischen Kampf gegen die Vorurteile in seiner Erstarrung treffen: »Geschmack und Vernunft sind Redensarten, die sich gut im Munde führen lassen« (ebd.: 21). Nach diesen Vorüberlegungen wird der Affront gegen die französische Aufklärungsphilosophie, den durchgesetzten Cartesianismus auf die Spitze getrieben, indem sie Deutschland als das »Vaterland des Denkens« bezeichnet (ebd.: 19). Die Selektionsmechanismen sind verschieden. Man könne in Frankreich leichter als geistreich erscheinen, während man in Deutschland »Genie haben muß, um geistreich zu sein« (ebd.: 47). Der Minoritätscharakter der deutschen Intelligenztypen grenze diese schärfer ab von der »berechnenden Kleingeistigkeit« (ebd.: 67). Die kleinbürgerliche Gemütlichkeit der Deutschen weist selten Züge einer anspruchsvollen »Geselligkeit« auf: »Die Öfen, das Bier, der Tabaksrauch umgeben den einfachen Mann in Deutschland mit einer Art schwerer, heißer Atmosphäre, aus welcher er nicht gern hervorgeht« (ebd.: 33). Die Beobachtung zur Abgrenzung der sozialen Schichten und Klassen, insbesondere die zwischen Adel und »Bürgerstand« führt zu der Schlussfolgerung, »daß die (deutsche) Nation im ganzen minder kriegerisch wurde« (ebd.). Dieses Urteil sollte sich im 19. und 20. Jahrhundert ins genaue Gegenteil verkehren. Das behäbige, schwerfällige und schwerblütige

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Deutschland mit seinem Hang zur Melancholie habe gar keinen Sinn gehabt für kriegerische Heldenverehrung: »Ein deutscher General, der eine Schlacht verliert, ist sicherer, Nachsicht zu erhalten, als einer, der sie gewinnt, glänzendes Lob einzuernten« (ebd.: 34). Bei der Beurteilung von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg könnte man den Wertewandel des 19. Jahrhunderts zwischen beiden Ländern genauer einschätzen. Madame de Staël hat nicht zuletzt erkannt, dass die Verbindung von Literatur und Philosophie in Deutschland potenzierungsfähiger, aber zugleich abgehobener und elitärer bleiben musste. Friedrich Schlegel bescheinigt sie gerade in dieser Verbindung »höchste Originalität« (ebd.: 477): »Bei alldem ist es, wie mir scheint, ungleich besser für die Literatur eines Landes, dass seine Poetik auf philosophische Ideen, selbst wenn sie ein wenig abstrakt sein sollten, gegründet ist, als auf bloße äußerliche Regeln« (ebd.: 581). Die Wirkungsgeschichte der deutschen Frühromantiker blieb hinsichtlich ihrer hermeneutischen Innovationen unterbrochen oder verdeckt. Tatsächlich aber gab es eine verdeckte Anknüpfung im Gesamtwerk Heinrich Heines, der in der Forschungsgeschichte vielseitigen Missverständnissen ausgesetzt war. Dabei bestimmt die deutsch-französische Wechselperspektivierung, ja, die ironische Wechselannihilation den Grundzug seines Denkens. Bekannt war, dass er bereits im ersten Satz seiner »Romantischen Schule« an de Staëls Werk anknüpfte: »Frau de Staëls Werk ›De l’Allemagne‹ ist die einzige umfassende Kunde, welche die Franzosen über das geistige Leben Deutschlands erhalten haben« (Michel 2011: 138). Er spielt einleitend auf die Diskurs- und Salonvorstellungen des ersten Kapitels an: »Frau von Staël, glorreichen Andenkens, hat hier, in der Form eines Buches gleichsam einen Salon eröffnet, worin sie deutsche Schriftsteller empfing und ihnen Gelegenheit gab sich der französischen zivilisierten Welt bekannt zu machen« (Heine 1973 DHA, 8, 1, 125; Michel 2011: 138). Heine sah seine Arbeit als »Fortsetzung« an, auch wenn er Madame de Staëls Buch gleichzeitig annihilatorisch als »Koteriebuch« für eine politische Clique geschrieben betrachtete. Im Verstehenskontext der Schlegelschen Kritiken entspricht dies einem ironischen Ritual. Kritische Setzung und partielle ironische Abwertung bestimmen den Duktus der 1801 herausgegebenen Charakteristiken und Kritiken, mit denen Friedrich Schlegel an die Polysemie der Lessingschen Erziehung des

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Menschengeschlechts anknüpft und sich zugleich von der bisherigen »Geschichte der Wirkungen« distanziert (Michel 1982: 207ff). Die Vorstellung einer durchgesetzten aber flach gewordenen Wirkungsgeschichte wird hier zum ersten Mal dokumentiert. Heine sieht Schlegel als einen »Nachahmer des alten Lessings«, der sich dessen »großen Schlachtschwerts« zu bedienen wusste (Heine 1973: DHA, 8, 1, 127). Er erkennt die Überlegenheit Schlegels gegenüber der Lessingschen Ästhetik und Hermeneutik an (ebd.: DHA, 8, 1, 137; Michel 2011: 140). Den erkenntnistheoretischen Fundamentalunterschied zwischen Deutschland und Frankreich, den Madame de Staël konstatiert hatte, und den Friedrich Schlegel in eine geschichtliche Abfolge zwischen Idealismus und Realismus gebracht hatte, wendet Heine im Sinne einer coincidentia oppositorum auf beide Länder an: »zu derselben Zeit wobey uns in Deutschland der Idealismus auf die Spitze getrieben und die Materie geleugnet wurde, erklomm in Frankreich das materialistische Prinzip seinen höchsten Gipfel und man leugnete hier den Geist. Destutt de Tracy war sozusagen der Fichte des Materialismus« (ebd.: DHA, 14, 1, 16f.; Michel ebd.: 141). Heine betrachtet diesen Unterschied aber nicht als kulturontologisches Phänomen; vielmehr relativiert er ihn in der Metapher der Migration: Es schien fast, der Geist habe jenseits des Rheins Rache gesucht für die Beleidigung, die ihm diesseits des Rheines widerfahren als man den Geist hier in Frankreich leugnete, da immigrierte er gleichsam nach Deutschland und leugnete dort die Materie. Fichte könnte man in dieser Beziehung als den Herzog von Braunschweig des Spiritualismus betrachten, und seine idealistische Philosophie wäre nichts ander als ein Manifest gegen den französischen Materialismus (Heine ebd.: DHA, 8, 1, 186; Michel ebd.: 142).

Um den Perspektivenwechsel körperlich vorzustellen, greift er auf das Märchen von den Siebenmeilenstiefeln zurück und stellt sich vor, dass er »wie mit ungeheuer langen Beinen, von Deutschland nach Frankreich und wieder zurück liefe« (ebd.: DHA, 11, 51f.; Michel ebd.: 143). Der Wechselkritik entsprechen in bestimmten Perioden wechselseitige Überidentifikationen. Diese reichten in Frankreich bis in die politischen Eliten hinein. Heine zeigt in dialektisch-ironischer Manier auf, dass der Hegelkenner Victor Cousin genau zu der Zeit in Frankreich Minister geworden sei, als in

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Deutschland ein antifranzösischer »Groll« ausgebrochen sei (ebd.: DHA, 13, 1, 136; Michel ebd.: 144). Aber der Minister habe zugleich die deutschen Nazarener verehrt, was ja von schlechtem Geschmack zeuge. Der Historiker und Unterrichtsminister Guizot habe die Überidentifikation bis zu einer »gewissen germanischen Gemütsruhe« getrieben. Heine setzt darin Mme de Staëls Verdikt von der »Langsamkeit« der Deutschen fort (Michel ebd.: 146). Guizot wurde später in einer entscheidenden Phase der deutschfranzösischen Beziehungen Außenminister (1840-1848). Heine weist an anderer Stelle auf die Inkonsistenz der Überidentifikation hin. Chateaubriand folgte zuerst bis in die Rheinromantik hinein den europäischen Vorstellungen der deutschen Frühromantiker und habe dann als Außenminister 1823 die alten geopolitischen Vorstellungen natürlicher Grenzen und damit den Anspruch auf das linke Rheinufer wiederbelebt. Diesem politischen Postulat schlossen sich später übrigens die Romantiker Lamartine (1840 in einer Rede vor der französischen Kammer) und Victor Hugo an (Michel ebd.: 157). Die Gegenperspektive der deutschen Überidentifikationen beobachtete er bei den Verehrern der politischen Tathandlungen der Franzosen. Um Börnes Mangel an interkultureller Dialektik bloßzustellen, schildert er, wie dieser vor 600 Handwerksgesellen auf dem Montmartre eine »Bergpredigt« gehalten habe: »Als ich sah, dass Schmierlappen von Schuster- und Schneidergesellen in ihrer plumpen Herbergssprache die Existenz Gottes zu läugnen sich unterfingen – als der Atheismus anfing, sehr stark nach Käse, Branntwein und Tabak zu stinken, da gingen mir plötzlich die Augen auf….« (Heine ebd.: DHA, 15, 30; Michel ebd.: 150). Die Ungleichzeitigkeit des Geschmacks und der Ideen verweist wiederum auf Friedrich Schlegel. Börne überidentifiziere sich scheinbar mit dem politischen Frankreich bei gleichzeitiger Kultivierung altdeutschen Geschmacks und altdeutscher Gesinnungen. Der Perspektivenwechsel zwischen beiden Ländern ist bei Heine so angelegt, dass er selbst die Mitte im Sinne der alten mesotes einnehmen kann. Aber er begrenzt seine Vermittlerkompetenz wiederum im Sinne einer angeschlossenen Schlegelschen ›Selbstannihilation‹, indem er schildert, wie er für ein französisches Publikum eine Abhandlung über Hegel zu schreiben versuchte. Das Ergebnis führte zu einer Identitätsspaltung, die er in der Manier E.T.A. Hoffmanns beschreibt: »Als das Werk endlich fertig war, erfasste mich bey seinem Anblick ein unheimliches Grauen, und es kam mir vor, als ob das Manuskript mich mit fremden, ironischen, ja boshaften Au-

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gen ansähe. Ich war in eine sonderbare Verlegenheit gerathen: Autor und Schrift passten nicht mehr zusammen« (Heine ebd.: DHA, 15, 35). Darin formuliert er eine extreme Variante der hermeneutischen Subjekt-Objekt Trennung Schlegels aus. Heine liefert zahlreiche Beispiele für Übersetzungsprobleme, die tiefenhermeneutisch zu erklären sind, aber auch witzige Inadäquatheiten, wie etwa Napoleons Anweisung man möge ihm die Kantsche Philosophie auf wenigen Seiten erklären (ebd.: DHA, 14, 1, 15). Die Grenzen der ›Selbstannihilation‹, in denen er allzu destruktive Analogien befürchten musste, zeigten sich darin, dass er einen Satz über die »Dachstube in der Fremde«, in der Georg Forster gestorben war, für die deutsche Ausgabe gestrichen hatte, um die »feuchten Schatte(n)« nicht vollends auf sich selbst zu ziehen (ebd.: DHA, 11, 114). Ansonsten folgt er Friedrich Schlegel in der Art einer ›rettenden Kritik‹. Friedrich Schlegel hatte seine sozialkritische Bestandsaufnahme gegen jeden aufkommenden Nationalismus gewendet: »Über nichts wehklagt der Deutsche mehr als über Mangel an Deutschheit. ›Wir haben siebentausend Schriftsteller, sagt Georg Forster […] und noch gibt es in Deutschland keine öffentliche Meinung‹« (F. Schlegel 1958: KA II, 78). Ansonsten folgt Heine der intermittierenden Linie der Wirkungsgeschichte, die Friedrich Schlegel vorgezeichnet hatte, und zwar unter Umwertung der Werkfolge Lessings mit starkem Akzent auf Georg Forsters Rollenplural. Damit wendet er sich gegen die durchgesetzte »Geschichte der Wirkungen« Lessings in der Spätaufklärung und umgeht ebenso die zwischenzeitlich durchgesetzte Wirkungsgeschichte der Dialektik Hegels. Heine ist sich dessen bewusst, dass der Typus der intermittierenden Wirkungsgeschichte zum verkapselten Elitesystem einer Minoritätskultur wie der deutschen gehört. In der intermittierenden Wirkungsgeschichte der deutsch-französischen Vergleichssysteme markiert Emile Durkheim mit seinen Texten aus den Jahren 1887 bis 1915, die in der edition discours unter dem bezeichnenden Titel Über Deutschland erschienen sind, die nächste Position. Durkheim hatte für 1885/86 ein Urlaubsjahr beantragt, um seine Examensarbeit über Le rapport de l’individu et de la société weiterzuverfolgen, die in sein späteres Buch über die Division du travail einfließen sollte. Er gehörte zu einer kleinen Gruppe französischer Elitestudenten, die die grundlegenden Veränderungen im deutschen Bildungs- und Gesellschaftssystem analysieren sollten. Das französische Deutschlandbild hatte sich unter dem Schock der Kriegsereignisse von 1870/71 stark verändert. De Staëls Be-

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hauptung, ›Deutschland sei das Vaterland des Denkens‹ wurde kompensiert vom Bild der zurückgebliebenen deutschen Industriegesellschaft. Die Tatsache, dass das preußisch dominierte neue Deutschland selbst in einem Kernbereich des militärisch-industriellen Komplexes wie der Artillerie sich als dominant erwiesen hatte, rührte an die Substanz des französischen Selbstbewusstseins. Man erinnere sich wie sehr noch Goethe in seiner Campagne in Frankreich die Überlegenheit der französischen Artillerie bei der Kanonade von Valmy erfahren hatte. Die französischen Befürchtungen gingen dahin, dass der vermeintliche deutsche Vorsprung tatsächlich in wissenschaftspolitische und kulturelle Dimensionen hineinreiche. So stellt Renan im Jahre 1872 in seiner Réforme intellectuelle et sociale fest, dass »der Sieg Deutschlands der Sieg des disziplinierten Menschen über den undisziplinierten gewesen ist […]. Es war ein Sieg von Wissenschaft und Vernunft« (Durkheim 1995: 8). Renan hebt Methodenbewusstsein und deutschen Gemeinschaftssinn hervor. Für Emile Durkheim, den künftigen Begründer der französischen Soziologie, war dies das entscheidende Inzitament. Aber er sollte in Deutschland auf viele Widerspruchsformationen treffen, die er sich kulturhistorisch und tiefenhermeneutisch nicht erklären konnte. Auf den Spuren von Mme de Staëls Bewunderung für das ›Vaterland des Denkens‹ trifft er nur auf Epigonen der großen idealistischen Systeme wie Kuno Fischer als Fortsetzer der Hegelschen Dialektik. Auch die Renaissance der Kantschen Philosophie schrieb er einer zwischenzeitlichen Ermattung der metaphysischen Energien zu (Durkheim 1995: 48). Die Dezentralisierung der deutschen Universitätslandschaft und die damit einhergehende Wahlfreiheit der Studenten und Professoren nimmt er verwundert zur Kenntnis, ohne sie auf die Jahrhunderte langen Ideale der Gelehrtenrepublik zurückführen zu können. Der politische Republikanismus des jungen Franzosen ließ eine enklavierte Vorstellung dieser Art von Gelehrtenrepublik nicht zu. Die dominanten Wissenschaftsvorstellungen der Gründerjahre haben für ihn einen ›technokratischen Zug‹, den er gerade mittels einer ›republikanischen Soziologie‹ überwinden wollte (Durkheim 1995: 14). Insofern hielt er die akzelerative ›Arbeitsteilung‹ in Deutschland für gefährlich. Aber noch war er selbst auf der Suche nach einer neuen ›Universalwissenschaft‹, die er in einer breit angelegten Soziologie zu finden hoffte. An den Universitäten Leipzig und Berlin interessierte ihn ein sozioökonomisches Denken, das unter der Bezeichnung ›Volkswirtschaft‹ (Durkheim 1995: 12)

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Eingang in den Fächerkanon gefunden hatte. Bei der Feststellung dieser Widersprüche traf er auf ein grundlegendes Buch von Ferdinand Tönnies über Gemeinschaft und Gesellschaft (Leipzig 1887), das sich auf den deutsch-französischen Vergleich beziehen ließ. Das organologische Denken der Deutschen drückt sich darin aus: »Das Leben der Gruppe ist nicht das Werk individueller Willensbestrebungen, sondern wird ganz und gar von Gebräuchen, Sitten und Traditionen geleitet« (ebd.: 220). Durkheim erkennt genau, dass damit der Begriff des Vertrages als Grundelement der staatsphilosophischen Konstruktion des contrat social keine Anwendung mehr finden kann. Durkheim sucht nach einer dialektischen Formel, in der das Spektrum der deutsch-französischen Trennung und Ergänzung erfasst werden kann, ohne dass Vorzüge und Nachteile die Balance stören. So gestaltet er schließlich mit einem Teilzitat von Tönnies einen Chiasmus aus: »Die Gesellschaft impliziert einen ›Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft auf friedliche Art neben einander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten‹« (ebd.: 220f.). Ja er versucht sogar eine Anwendung des hermeneutischen Zirkels von Ganzen und Teilen: »Während also früher das Ganze den Teilen vorausging, gehen heute die Teile dem Ganzen voraus« (ebd.: 222). Problematisch wird diese balancierte Dichotomie erst, wenn er der Gemeinschaft das Prädikat »organisch« attribuiert, die Gesellschaft aber als »mechanisch« definiert, denn die pejorative Verwendung des Begriffs der Maschine und des Mechanischen weicht spätestens seit Schillers Theorieschriften von 1795 von dem positiv besetzten französischen Begriff ab, der seit den Enzyklopädisten auf viele Lebensbereiche ausstrahlt. Durkheim vermag noch nicht in Tönnies’ Buch die Vorboten des deutschen ›Sonderwegs‹ zu erkennen, die u.a. auf eine historisierende Ontologisierung des Gemeinschaftsbegriffs hinauslaufen. Aber er sucht dennoch die agrargesellschaftliche Herleitung des »Gemeinbesitzes« nachzuvollziehen, allerdings ohne die Allmende genauer zu bestimmen: »Die Dinge, die man gemeinsam besitzt, zirkulieren nicht, sondern bleiben unwandelbar mit der Gruppe verbunden. Der Inbegriff des Besitzes ist daher der Bodenbesitz« (ebd.: 220). Aber Tönnies wie Durkheim erkennen noch nicht, dass darin ein Mangel an regionaler und sozialer Mobilität begründet lag, der die Zu-

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rückgebliebenheit der deutschen Industrialisierung, aber auch positiv die regionale Fundierung ausmachte. Die späte Wirkungsgeschichte lässt erkennen, dass der deutsche Nachteil teilweise umgeschlagen ist in eine multizentrale Schwerpunktbildung der Industriestandorte und der kulturellen Vielfalt und der französische Zentralismus selbst zahlreicher Programme der Dezentralisierung bedurfte. In der langen Wirkungsgeschichte deutsch-französischer Beziehungen wurden trotz der kriegerischen Unterbrechungen viele dieser dialektischen Formeln der Ergänzung trotz Polarisierung wieder aufgegriffen. Insbesondere hat Friedrich Sieburg in seinem weit verbreiteten Buch Gott in Frankreich? solche Denkfiguren wieder aufgegriffen. In einer der zahlreichen Neuauflagen hat er 1954 unter dem Titel Frankreich und kein Ende einen fiktiven Rezipienten mit interkulturellem Hintergrund eingeführt, einen »Holländer mit englischem Paß« in einer tropischen Welt: Mein Gedächtnis nimmt ab, meine Hände zittern. Was mein Herz und mein Hirn nachts treiben, hat kaum noch etwas mit Schlaf zu tun. Aber trotzdem bin ich Europäer geblieben, das ist mir wieder einmal klar geworden, als ich ihr Buch las. Das deutsche und das französische Wesen verkörpern zwei verschiedene Arten des Menschseins, - nicht die einzigen Arten, aber die beiden Pole. Wenn ich in mich selbst hinein horche, und die Zwiespältigkeit meiner Natur rumoren fühle, dann bin ich beides, Deutscher und Franzose (Sieburg 1965: 16).

Der ontologisierende psychohistorische Ansatz dieser Sätze müsste wiederum anamnetisch rehistorisiert werden. Aber der Mangel an dialektischer Kompetenz bei Intellektuellen und Journalisten beider Länder wird einem immer wieder bewusst. Die interkulturellen und interpersonellen Missverständnisse bei allem wechselseitigen Wohlwollen reichen in Bereiche des Grotesken und Absurden hinein, obwohl jeder das Gefühl hat, dass es weiter geht, kraft der Hegelschen »List der Vernunft«, die kaum noch einer kennt.

L ITERATUR Durkheim, Emile (1995): Über Deutschland. Texte aus den Jahren 1887 bis 1915. Hg. von Franz Schultheis und Andreas Gipper. Konstanz.

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Forster, Georg (1958): Werke. Steiner, Gerhard (Hg.). Bd.2: Ansichten vom Niederrhein. Leipzig. Goethe, Johann Wolfgang von (1959): Hamburger Ausgabe Bd. 9 u. 10: Autobiographische Schriften. Leipzig. Grosser, Thomas (1989): Reiseziel Frankreich. Deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution. Opladen. Heine, Heinrich (1973-1997). Historisch-kritische Ausgabe (DHA). Hg. von Manfred Windfuhr. Düsseldorf. Michel, Willy (1982a): Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Göttingen. Michel, Willy (1982b): Exotische Fremde und regionale Fremde. Teil I: Georg Forster »Reise um die Welt« und die »Ansichten vom Niederrhein«. Teil II: Entwicklungsgefälle und industrielle Fremde. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 39-58 und 59-71. Michel, Willy (1983): Goethes Erfahrung frühindustrieller Fremde. Initiation und Fiktion im Kontext der zeitgenössischen Reiseliteratur. In: Deutsch als Fremdsprache 9, S. 17-43. Michel, Willy (1987): Der »innere Plural« in der Hermeneutik und Rollentheorie des Novalis. In: Behler, Ernst / Hörisch, Jochen (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn, S. 33-50. Michel, Willy / Michel, Edith (2007): Kulturräumliche Perspektivierungen und soziales Beziehungsgeflecht. Goethes Straßburger Zeit aus der Erinnerungssicht von »Dichtung und Wahrheit«. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 33, S. 15-38. Michel, Willy (2011): Deutsch-französische Wechselperspektivierungen. Heines verdeckte Anschlüsse an die frühromantische Kritik. In: Frick, Werner (Hg.): Heinrich Heine. Neue Lektüren. Freiburg. Novalis (1984): Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart. Riesbek, Johann Kaspar (1783): Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland. Zürich. Schlegel, Friedrich (1958 ff): Friedrich Schlegel-Ausgabe (KA I). Hg. von Ernst Behler, Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München / Paderborn / Wien. Sieburg, Friedrich (1929 u. 1965): Gott in Frankreich. Societäts-Verlag. o.O. de Staël, Germaine (1985): Über Deutschland. Frankfurt / Leipzig.

Zwei Krisen, kulturelle Fremde und die eine Welt Zum Wandel des Interesses, Andere zu verstehen D IETRICH K RUSCHE

1 Zwei gleichzeitige Ereignisfolgen haben die mediale Berichterstattung während der ersten Hälfte des Jahres 2011 beherrscht: die Serie der »Rebellionen« in arabisch-islamischen Ländern und die Mehrfach-Katastrophe in Japan am 11. März, die als doppeltes Naturereignis, Erdbeben und Tsunami, begann und sich rasch zu einem Problem der japanischen Großtechnologie, ja zu einer Krise der japanischen Gesellschaft insgesamt verwandelte. Hier wie dort geht es um Protest gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse – freilich in sehr unterschiedlicher Weise: Die arabischislamischen Rebellionen sind auf den Sturz der herrschenden Regime und auf Verfassungsänderung aus und zur Gewaltanwendung bereit, das Aufbegehren in Japan gegen die Verfilzung von Staat, Parteiwesen und Atomindustrie beginnt sich eben erst zu formieren, ja die Frage, warum Japan zu einem öffentlichen Protest gegen längst offensichtliche Missstände (noch?) unfähig zu sein scheint, ist unversehens selbst zu einem Bestandteil der gesellschaftlichen Krise geworden. Für uns in Europa (im »Westen«) vollzieht sich all das in einer erheblichen Distanz. Beide hier aufgegriffenen Krisen ereignen sich in kulturellen Kontexten und aus Traditionen heraus, die für uns nicht unmittelbar zugänglich oder gar in ihrer Komplexität überschaubar sind. Umso überra-

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schender erscheint, wie sie in der medialen Berichterstattung und dem daran anschließenden öffentlichen Diskurs behandelt werden – in einer entschiedenen Nahholung der Ereignisse, so, als geschähen sie nebenan. Die verschiedensten Deutungen werden probiert: religiöse, sozialpsychologische, staatstheoretische (usf.), und alle werden sie in Spekulationen umgemünzt, wie »die Geschichte« in den betreffenden Ländern denn weitergehen werde. Dabei wandert das Interesse, das den Deutungen zugrunde liegt, mehr oder weniger explizit, zuweilen ganz unverhohlen, in die Deutungen mit ein. Unsere europäischen (»westlichen«) Interessen werden mit den vermeintlichen Interessen der vor Ort Handelnden parallelisiert, ja, es kommt nicht nur zu Solidarisierungen, sondern zu ausgesprochenen Identifikationen mit den Aufbegehrenden. Dieses Überspringen kultureller Distanz könnte als Rückfall in ›westliche‹ Dominanzansprüche verstanden werden. Das aber wäre, wie gezeigt werden soll, ein Missverständnis. Die Verstehensinteressen anderen (›fremden‹) Kulturen gegenüber haben sich verändert. In den letzten Jahrzehnten waren alle diejenigen, die sich mit fremden Kulturen beschäftigten, gut beraten, sich in ihren Deutungen zurückzuhalten. Ich meine die Jahrzehnte, die von den Spätfolgen des europäischen Kolonialismus geprägt waren und in denen sich nur ganz allmählich die Einsicht durchsetzte, dass nicht die militärisch-ökonomische Überwältigung als die nachhaltigste Art der Kolonialisierung empfunden wurde, sondern – wie Edward Saids Orientalismus-Buch exemplarisch gezeigt hat – die Überwältigung durch die begrifflich-analytische Deutungsmacht Europas, der die Traditionen der Kolonisierten und ihr anders gelebtes Leben zum Opfer fielen. Diese Durchschauung hatte Methode. Die begreifende Tätigkeit, wie ›objektiv‹ sie sich auch selbst begründete, kam von oben, sie stülpte sich den durchschauten Zusammenhängen über. Nur Europa hat aus der eigenen Reaktion auf andere Kulturen eine objektivierende Wissenschaft gemacht. Die Interessen, die das verstehende Erkennen Anderer befeuerten, waren von dem Interesse, sie in den Griff zu bekommen, nicht zu trennen. Immerhin, das abendländische Denken hat auch die Skepsis sich selbst gegenüber in die Welt gebracht. Die allmähliche Wirkung dieser Skepsis lässt sich besonders anschaulich in der Ethnologie beobachten, der Fremdkultur-Wissenschaft par excellence: Sie wird ablesbar an dem allmählichen Rückbau der Ansprüche, mit denen die Rolle des »wissenschaftlichen Beobachters« ausgestattet war.

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Verstand dieser sich ursprünglich als der reine, quasi interesselose »Forscher«, der seine Blicke auf das Leben der Anderen richtete, um es in seiner ›Tiefenstruktur‹ zu durchschauen, wollte bereits Bronislaw Malinowski als empathisch involvierter, als »teilnehmender« Beobachter verstanden sein; von da aus war es nur ein Schritt zum mit-lebenden oder, noch prägnanter, zum mit-arbeitenden, also am gesellschaftlichen Produktionsprozess beteiligten Beobachter. Clifford Geertz schließlich hat seine Zweifel an der analytisch-begrifflichen Bearbeitung fremder Kultur so umgesetzt, dass er seine ethnologischen Studien methodisch nur noch als »dichte Beschreibung« verstanden sehen wollte. Dieser letzte Schritt ist besonders aufschlussreich. Denn die ›Beschreibung‹ verzichtet explizit auf die analytische Begriffsverwendung als Merkmal ihrer systemischen Kohärenz und nimmt die Kontingenz des Einzelfalls und des Erzählens in sich auf. Den Selbstzweifeln der Wissenschaft entsprach in den letzten Jahrzehnten ein zunehmendes Desinteresse der europäischen Öffentlichkeit gegenüber fremden Kulturen – es sei denn, sie begegneten uns als Exotika, in ihrer Folklore, ihrem ›Kunsthandwerk‹, das man dem eigenen Hausstand hinzufügen konnte, oder in ihrer exotischen Erotik.

2 Zumal die arabisch-islamischen Gesellschaften waren in den letzten Jahrzehnten in den Schatten der europäischen Aufmerksamkeit geraten – von dem dort geförderten Öl und den dort liegenden Ferienstränden abgesehen. Wofür standen diese Gesellschaften politisch? Weder begriffen wir so recht, was, von der Konfrontation mit Israel abgesehen, ihre Zeitgenossenschaft ausmachte, noch wollten wir es wirklich wissen. Zu wenig war, was uns z.B. zu ihrer Familien- und Gesellschaftsstruktur einfallen konnte – Patriarchat plus X. Die Familienrollen, so schien es, entwickelten sich nicht, und an der Spitze der Staaten hatte sich eine Riege von Alleinherrschern etabliert, die durch einen Militärputsch, durch ein mehr oder weniger usurpiertes Königtum oder als Exponenten einer Einheitspartei an die Macht gekommen waren. Die Frage nach deren »Legitimität«, dem Einverstandensein der Mehrheit mit dieser Herrschaft, zumal deren oft unbegrenzter Dauer, stellte sich gar nicht. Wie sollte man sich darauf beziehen? Am einfachsten war es, dem eigenen materiellen Nutzen zu folgen und mit all

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denen zu paktieren, die fest im Sattel saßen. Ben Ali, Gaddafi, Mubarak, Assad waren Gestalten, die man als black boxes zu tolerieren bereit war, solange ihr output eine gewisse Erwartbarkeit behielt. Das änderte sich ruckartig mit dem Datum 9/11, als eine unter dem Namen Al-Qaida vage bekannte Gruppe die Vereinigten Staaten von Amerika durch die Zerstörung des World-Trade-Center ins Mark traf. Jetzt gab es eine brennende Frage: Was trieb diese Handvoll junger Männer an, zu Attentätern zu werden? Antworten, die sich aufdrängten: in Auflehnung gegen die einzige nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches verbliebene Weltmacht, als Reaktion auf die Tatsache, dass amerikanische Truppen im Kernland des Islam stationiert worden waren, als Kampfansage gegen die ›Ungläubigen‹, als späte Rache dafür, dass die westliche Kultur zur »Leitkultur« geworden war, als Spätfolge also eines Ressentiments, das die Zeit der kolonialen Beherrschung überlebt hatte. Keine bestimmte politische Stoßrichtung ließ sich ausmachen. Der Angriff auf die westliche Moderne und die einzige Weltmacht schien aus einem merkwürdig statischen Geschichtsverständnis zu kommen, aus einer in Gut und Böse unterteilten Welt, die von Gläubigen und Ungläubigen bewohnt wird. Die Selbstmordattentäter Al-Qaidas handelten aus einem politischen Nichts heraus – und gradewegs auf ein religiöses Jenseits zu. Der grundlegendste Versuch, all diese Unbegreiflichkeiten plausibel zusammenzuführen, stammt von Dan Diner und kulminiert in einer kompakten These: Das Charakteristikum der arabisch-islamischen Welt heute bestehe in ihrer Abkopplung von »der Geschichte«. Weder werde, so Diner, eine aktive Beteiligung an der Evolution der Moderne ausgelebt, noch werde die eigene religiöse Tradition auf die Bedingungen gegenwärtigen Lebens umgedacht – eine ahistorische Deutung dominiere den exegetischen Koran-Diskurs. Eben diese Binnenverfassung der arabischen Gesellschaften, die Dominanz des Monotheistisch-Sakralen, führe unweigerlich zu einer Radikalisierung. Diners Generalbefund: In der arabisch-islamischen Welt begegne uns eine besondere Zeitverfassung, die er bereits im Titel seines Buches benennt: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (Dan Diner 2005). All das gilt nicht mehr. Die Rebellionen, die in Tunesien, Ägypten, in Libyen, im Jemen, in Syrien ausgebrochen sind, die sich in Algerien, Bahrain, Jordanien andeuten, haben ein völlig anderes Bild der arabisch-

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islamischen Welt entstehen lassen – eines, auf das wir uns beziehen können, eines, das uns betrifft, zu dem uns (allzu?) viel einfällt. Ich konterkariere das Diner-Zitat mit einem Zitat aus einem aktuellen Beitrag des französischen Soziologen und Philosophen, Edgar Morin, Präsident der Agence européenne pour la culture (Unesco) und Präsident der Association pour la pensée complexe, für die Zeitung Le Monde: Die ungestüme Erhebung, die von der jungen Generation ausgeht, die eine unerbittliche Einforderung von Freiheit und Würde darstellt, eine radikale Zurückweisung der Korruption, von der die Despoten umgeben sind, hat uns in einer entschiedenen Weise gezeigt, dass das Streben nach Demokratie kein Monopol des Westens, sondern ein globales Streben ist, wie es sich schon in China 1989 bewahrheitet hat, ehe es unterdrückt wurde (wie es aber unter der Oberfläche der Normalität fortbesteht). Daher der Ausruf, der mir bei einem unvergesslichen Treffen in Tunesien in den Sinn kam: ›Les Arabes sont comme nous et nous sommes comme les Arabes (Die Araber sind wie wir, und wir sind wie die Araber)‹, eingerechnet natürlich alle historischen und kulturellen Unterschiede (Le Monde 26. April 2011 – Der Schlüsselsatz des Interviews ist im französischen Urtext wiedergegeben, um die Fanfare hörbar zu machen, in der das Jahr 1789 fortklingt.)

Dazu, dass Frankreich sich als erste Nation zu einem militärischen Eingreifen in Libyen entschloss und vor allen anderen handelte, hat der Journalist und Philosoph Bernard-Henri Lévy beigetragen. Nach einem Gespräch mit Rebellenführern in Bengasi machte er von seiner direkten Zugangsmöglichkeit zum französischen Staatspräsidenten Gebrauch. Was er Sarkozy über die Rebellenführer, ihre Ziele und seine Gesprächserfahrungen mit ihnen berichtete, hat dazu beigetragen, dass der französische Staatspräsident selbst einige von ihnen empfing. Offenbar ist auch er zu dem Ergebnis gekommen, dass man mit diesen Leuten ›reden kann‹ – anders als mit Gaddafi, und ihre politischen Ziele scheinen mit europäischen Vorstellungen von einem künftigen »demokratischen« Staatswesen kompatibel gewesen zu sein. Daraufhin starteten französische Kampfjets, um in Libyen einzugreifen. Die Botschaft, die davon an die anderen Staaten der westlichen Welt ausging, lautete: Nostra res agitur! Die nahezu völlige Einhelligkeit, mit der die arabisch-islamischen Rebellionen in den europäischen Medien und dem öffentlichen Diskurs begrüßt werden, ist erstaunlich. Dabei sind die Verhältnisse, unter denen da

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revoltiert wird, alles andere als gleich, und der Ausgang – einen Erfolg der jeweiligen Rebellion vorausgesetzt – höchst ungewiss. Welche politischen Kräfte werden sich in Tunesien damit durchsetzen, das »System Ben Ali« endgültig zu überkommen? Wie wird sich in Libyen die Zersplitterung der Gesellschaft in Stämme überwinden lassen? Wie wird in Ägypten das Militär taktieren, und wie die Muslim-Brüder? Werden laizistische / bürgerliche Parteien sich dort vor den nächsten (bereits sehr früh angesetzten) Wahlen etablieren können, und welche prominenten Ägypter, die nicht vom »System Mubarak« kontaminiert sind (El Baradei?), werden es schaffen, in den Vordergrund zu kommen? Fast kein Kommentar, der nicht Warnungen vor »Radikalisierung«, »Zersplitterung«, »Unregierbarkeit«, »Chaos« einschließt. Trotzdem überwiegt die Zustimmung, nein, mehr, die Begeisterung über das, was sich an der nordafrikanischen Küste, am östlichen Rand des Mittelmeers und bis weit in den Vorderen Orient hinein vollzieht. Was ist es, was – inmitten aller Ungewissheit – auch in den »westlichen« Gesellschaften diese breite Zustimmung auslöst? Die Erwartung auf politische Verschiebungen zu unseren eigenen Gunsten? Auf größere wirtschaftliche Vorteile? Auf Chancen für eine Mittelmeerunion, wie sie der französische Präsident bisher vergeblich zu bauen versucht hat, samt den daraus erwachsenden Einflussmöglichkeiten für Europa? Sind es also ›egoistische‹ Motive, die unsere begeisterte Zustimmung auslösen? Ich möchte hier eine Trennung vornehmen, um das, was ich zu artikulieren versuche, zu schärfen: Ich unterscheide zwischen der Zielsetzung der Rebellierenden und den Motiven, die sie überhaupt erst zur Teilnahme an den Demonstrationen und dann, wie jetzt in Libyen und in Syrien, zum Kampf gegen die bestehende Herrschaft bewegt haben. Das, was sich in Ägypten auf dem Tahrir-Platz abgespielt hat, scheint mir die Motivation für den Protest am besten zu veranschaulichen. Die Bilder aus Kairo waren für die Dokumentation eines Geschichtsmoments ein Glücksfall. Wir konnten sehen, wer neben wem stand, wie enorm die Verschiedenheit, Buntheit, ja Heterogenität der Protestierenden war und wie diese agierten. Männer und Frauen, Alte und Junge, Angehörige aller sozialen Schichten, Vertreter aller Berufe, mehr oder weniger religiös Motivierte, mehr oder weniger Gebildete usf. Und was vereinte sie? Kein gesellschaftspolitisches Programm, kein definiertes Ziel, sondern eine Motivation, die aus ihrem jeweils individuellen Leben heraus gewachsen war, so eindeutig gleichgerichtet, dass aus den

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zahllosen Einzelentschlüssen, um jeden Preis mit-protestieren zu wollen, eine für die Stunden, Tage, Wochen des Protestes homogen agierende Gemeinschaft der Protestierenden wurde. Ich benenne diese Motivation als das – untergründig und weitgehend unbemerkt erstarkte – Bedürfnis all dieser vereinten Einzelnen, die Zukunft Ägyptens und die eigene Zukunft darin mitzubestimmen. Ein Missverständnis wäre es, hier das Auftauchen eines von Europa induzierten Individualismus zu unterstellen. Nein, dieser Anspruch ist nicht um die Stärkung der Individualrechte zentriert, sondern um den Anspruch auf Mitgestaltung der künftigen Art des Zusammenlebens – u. a. (vor allem?) in der Frage, welche Rolle in Familie und Gesellschaft die Religion spielen soll. Erst dahinter rangiert die Frage, ob das Bedürfnis, selbstzuständig zu sein und mitbestimmen zu können, eine Tendenz zur Staatsform der Demokratie einschließt. Einige Kommentatoren sind eben dieser Meinung. So schreibt der Journalist, Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Lawrence Wright: »Wir erleben zurzeit dramatische Entwicklungen in der arabischen Welt, darunter auch die islamischer Bewegungen wie der Hamas und der Muslimbrüder. Eine neue Generation übernimmt da, die der Demokratie und der Moderne gegenüber viel aufgeschlossener ist. Der Wille, Teil der modernen Welt zu sein, ist unter jungen Arabern sehr ausgeprägt« (Der Spiegel, 19, 2011, S. 92). Aber auch arabische Beobachter äußern sich in diesem Sinn. Der saudi-arabische Journalist Dschamal Kaschoggi verknüpft pointiert die neue Attraktivität von Demokratie mit dem Niedergang AlQaidas: »Demokratie war hier keine Option – bis jetzt. Al Qaida wurde auf dem Tahrir-Platz in Kairo begraben« (Der Spiegel, 19, 2011, S. 94 und S. 100). Dass nur wenige Wochen nach dem Erfolg der ägyptischen Rebellion der Tod Osama bin Ladens gemeldet wurde, gehört zu den Zufällen, in denen – im Rückblick – so etwas wie ein geschichtlicher Nicht-Zufall gesehen werden kann. Demokratie also als »Entwicklungsziel« im vorderen Orient? »Demokratie« als Konvergenzpunkt künftiger Geschichte? Gesicherter scheint mir die Annahme, dass in den Rebellionen der Jugend – auch – ein Bruch mit der »versiegelten« Tradition zum Ausdruck kommt, die Ablehnung eines fundamentalistischen Verständnisses von Religion und mit Blick auf Al-Qaida die Abkehr von blindwütiger Gewalt ›gegen alles Mögliche auf einmal‹: ungerechte Herrschaft, Verwestlichung, Verwässerung des Glaubens, den Verzicht auf Dschihad usf. Der Weg zur ›Demokratie‹ in den arabisch-islamischen Gesellschaften könnte anders

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sein als bisheriger geschichtlicher Erfahrung nach erwartbar – und auch der Zielbegriff selbst könnte sich wandeln.

3 Seit dem 11. März ist uns Japan, dieses »fernste Land«, das uns immer wieder zu überraschen vermag, nähergerückt – seit dem Tag, an dem drei Naturgewalten das Inselreich gleichzeitig angriffen, zwei davon, Erdbeben und Tsunami, plötzlich und mit elementarer Gewalt, die dritte, die scheinbar gebändigte Kernenergie, allmählich wirkend, mit den Sinnen nicht wahrnehmbar und in ihrer Unerschöpflichkeit verstörend grausam. Auch hieran haben die Medien den Rest der Welt in einer exemplarischen Intensität teilnehmen lassen – als Beobachter über eine große räumliche Distanz hinweg, aber, was das empathische Vorstellungsvermögen des einzelnen Zuschauers angeht, einer überwältigenden Kraft der Nahholung und Detaillierung. Die Nähe und Deutlichkeit hat auch einiges von dem aufgerufen, was uns an Japan erstaunlich geblieben ist. So sind wir berührt und betroffen von der Art und Weise, wie sie auf das Unheil reagieren, von ihrer Haltung in der Katastrophe. Bestimmte Merkmale davon werden in den Kommentaren zu den Bildern besonders hervorgehoben: die äußere Ruhe, Gefasstheit, ja scheinbare Unerschütterlichkeit in der Beherrschung ihrer Gestik und Mimik. Das Wort, mit dem diese Haltung von den europäischen Kommentatoren häufig bezeichnet wird, ist »stoisch«. Umso bestürzender wirkt es, wenn wir einen Japaner dabei beobachten können, wie er seine Fassung verliert. So konnte man in einem Fernsehspot einen Mann sehen, einen Mitarbeiter des Atomkraftwerks Fukushima, der daran beteiligt gewesen war, hochgradig verstrahltes Wasser ins Meer abzulassen – und der bei der bloßen Erwähnung dieses Vorgangs, der absichtsvollen Verseuchung des Meeres, in Tränen ausbrach. Die heftige, nicht mehr beherrschbare Erschütterung wurde offenbar von einem Gefühl ausgelöst, das umfassender war als individuelles Leid. Eine Emotion drang durch, die einen bedeutsamen Zusammenhang in der Natur- und Welterfahrung der Japaner offenbar machte: ihr Verhältnis zum Wasser, dem Element, das ihr Land rings umgibt und ihr Leben in allen seinen Aspekten

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prägt, als Nahrungsquelle, Beförderungsweg, Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt usf. Von den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts an konnte man an den japanischen Küsten einen verblüffenden, unvermittelt einsetzenden Vorgang beobachten: Die Küstenbereiche, zumal die Sandstrände, wurden gereinigt. Das war in der Tat notwendig, denn Plastikabfälle, weggeworfenes Kinderspielzeug, überflüssig gewordenes Verpackungsmaterial, abgenutzte Haushaltsgegenstände usf. hatten die Küsten verunstaltet, das Baden nahezu unmöglich gemacht. Aber auch das Meer in Küstennähe, zumal in der Japanischen Inlandsee (Setonaikai) zwischen Honshu, Shikoku und Kyushu war betroffen, ganze Müllinseln hatten sich gebildet, die das Fischen behinderten und den zu Schiff Reisenden beklommen machten. Darauf wurde nun ruckartig reagiert. Nicht nur kommunale Arbeitskräfte kamen in der Müllbeseitigung zum Einsatz, ganze Schulen wurden klassenweise dazu abgestellt. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen hatte dabei eine doppelte Funktion, eine fällige Arbeit wurde geleistet, und zugleich fand eine Umerziehung statt: Das Meer sollte künftig nicht mehr als Entsorgungsbereich gesehen werden, sondern als Teil des Lebensraums, für dessen Sauberkeit man aktiv sorgen müsse. Überraschend schnell gelang es, das Problem, als es erst einmal erkannt war, zu lösen. Zentralistische Strukturen nicht nur im Bildungssystem, sondern in der Organisation der Gesellschaft allgemein sowie die Bereitschaft und Fähigkeit der Einzelnen zu kooperieren, machten es möglich, der Verschmutzung von Meer und Strand innerhalb weniger Jahre Herr zu werden. Blieb die Frage, wie es denn überhaupt zu einem derartigen ›Missbrauch‹ des Meeres ausgerechnet an Japans Küsten hatte kommen können. Die Antworten, die wir damals erhielten, waren zögernd, vorsichtig und irgendwie maskiert: »Wir sind es gewohnt, alles Überflüssige, ins Meer zu werfen«, »Das Meer kann alles in sich aufnehmen«, »Das Meer verschmutzt nicht«. Offenbar empfand man das Meer, das ›grenzenlose Wasser‹, als das Element, das im national-kulturellen Alltag seit eh und je die Funktion und Fähigkeit hatte, das Unerwünschte zu entsorgen. Darin war die Überzeugung eingegangen, dass etwas, das die Kraft der Reinigung in sich trage, nicht selbst verschmutzen könne. Diese Annahmen hatten die ganze bisherige Geschichtszeit hindurch getragen. Solange der Abfall sich in Grenzen hielt, solange es sich um natürliche Materialien handelte, die in

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natürlichen Zeiträumen verrotteten, hatte es mit diesem Verständnis des Meeres kein Problem gegeben; erst mit dem Beginn des Wegwerfzeitalters auch in Japan, mit dem Aufkommen von Kunststoffen, deren ›Verfallsdauer‹ im Meer entscheidend verlängert war, hatte die Situation sich verändert. Der mythische Untergrund dieser Einschätzung des Wassers erschloss sich mir aus einem ganz anderen Erfahrungszusammenhang und in einem anderen Gesprächsrahmen – zufällig. In einer Lehrveranstaltung an einer deutschen Universität, an der StudentInnen aus verschiedenen Nationen und Erdteilen teilnahmen und die darauf angelegt war, kulturbedingte Leseunterschiede hervortreten zu lassen, ging es eines Tages auch um Franz Kafkas berühmte Erzählung Das Urteil, in der ein Vater seinen Sohn »zum Tod durch Ertrinken« verurteilt. Die StudentInnen hatten sich ihrer Herkunft nach in Untergruppen aufgeteilt, um die ›Bedeutung‹ dieses monströsen Urteilsspruches zu erörtern. Die europäischen Gruppen deuteten ihn aus der Biographie des Autors, zitierten Franz Kafkas Brief an den Vater als Ausdruck eines realen Familienkonflikts oder bezogen sich auf Sigmund Freuds Hypothesen zur Tiefenpsychologie. Ganz anders die Japaner in ihrer Teilgruppe. Wie alle anderen außereuropäischen StudentInnen vermieden auch sie es, das »Urteil« des Vaters wörtlich zu nehmen – aus einem Verständnis der Vaterrolle heraus, die eine reale ›Verurteilung‹ des Sohnes ausschließt. Das Spezifische ihrer Deutung ergab sich aus dem Verständnis des Elementes »Wasser«. Ihre Deutungsvariante besagte, dass der Tod des Sohnes eigentlich ein Akt der Versöhnung sei. Dem Vater komme dabei die Rolle des Mittlers zu, der dem Sohn den Zugang zum »Ganzen« eröffne. Der Ausdruck »Tod durch Ertrinken« verweise auf das Element des Wassers, dem die Funktion der ›Reinigung‹ zukomme – als Voraussetzung zur Wiedergeburt, und das zugleich »das Ganze« symbolisiere. In diesen Annahmen lassen sich unschwer Traditionslinien japanischer Kulturgeschichte erkennen, in denen Konfuzianismus, Shintoismus und Buddhismus sich verschränken. In der Berichterstattung über die japanische Katastrophe, die sich mit dem Datum des 11. März verbindet, hat sich mir noch eine weitere von den Medien übermittelte Szene eingeprägt – auch diese deshalb, weil darin eine aus dem Üblichen und Typischen herausfallende Verhaltensweise sichtbar wird: der Versuch eines jungen Mannes, der mit einem Megaphon in der

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Hand vor dem Hauptquartier der Tepco steht, der Betreiberfirma auch des Kernkraftwerkes Fukushima, und seine Landsleute zum »demonstrativen Protest« zu bewegen versucht. Er müht sich, er schreit, er erregt sich. Mit wenig Erfolg. Etwa 100 Individuen hat er heute in ihren Alltagsroutinen aufhalten und zu einer Art schweigenden Demonstration vereinen können – was, wie er dem europäischen Berichterstatter aufwendig versichert, für Japan »schon sehr viel sei«. Nun ist es nicht so, dass den Japanern das Protesthandeln völlig fernliegt. Der rituelle Selbstmord (seppuku) hat etwas davon – er ist die letzte Möglichkeit eines Einzelnen (oder eines Kollektivs), sein Nicht-Einverstandensein zu demonstrieren und seine Integrität (»Ehre«) zu retten. Ich selbst habe gegen Ende des letzten Jahrhunderts ungemein dynamische, im Laufschritt vollzogene Demonstrationen des Japanischen Studentenverbandes (sengakuren) erlebt, in denen die von der Regierung verfolgte Politik vehement in Frage gestellt wurde. Freilich richteten diese Proteste, an denen Zehntausende von Studenten in ihren schwarzen Studentenuniformen teilnahmen, sich nicht so sehr gegen die Regierung selbst, sondern gegen die Stationierung amerikanischer Truppen auf dem Archipel. Eine dieser Demonstrationen des sengakuren zielte auf den Besuch des amerikanischen Flugzeugträgers Enterprise, und die rhythmisch geschärften Rufe »hantai Enterprise!« (»Gegen die Enterprise!«) hallen mir noch immer in den Ohren. Die Demonstranten protestierten damit vordergründig – auch – gegen ihre eigene Regierung, vertraten aber im Kern ihres Engagements nicht mehr und nicht weniger als die japanische Eigenstaatlichkeit und nationale Identität. Außerdem waren die Studenten, die da in ihren schwarzen Uniformen und den weißen Binden um die Stirn durch die Straßen liefen, nicht als Einzelne, sondern als Mitglieder einer Organisation, eines »StudentenBundes«, gekommen, sie konnten sich von Anfang an als Mitglieder eines Kollektivs erleben. Hier liegt ein Unterschied, der festzuhalten ist: Zu einer Demonstration gegen die Art und Weise, wie in Japan heute die Kernkraft kommerzialisiert wird, müssten sich lauter Einzelne und aus je individuellem Entschluss heraus zusammenfinden. Die Schwelle, die dabei zu überwinden wäre: Eine bereits angebahnte, selbst bereits als Kollektiv wirkende Anti-Atomkraft-Bewegung gibt es in Japan (noch) nicht. Trotzdem, Anlass zu demonstrativem Protest gegen die Atomindustrie, gegen das Funktionieren ihrer Lobby und gegen die Bereitschaft der japani-

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schen Regierung, sich von der Lobby dieser Großtechnologie korrumpieren zu lassen, gäbe es jetzt, angesichts der katastrophalen Havarie in Fukushima, mehr als genug. Was nicht nur ausländische Beobachter des Geschehens um Fukushima, sondern auch viele einzelne Japaner zuallererst befremdete, war die taktierend perfide Informationspolitik von Tepco einerseits, der japanischen Regierung andererseits, die nur ein – gemeinsames – Ziel zu haben schienen: ihre Landsleute so verzögert und so ungenau wie möglich über das Ausmaß der Havarie zu unterrichten. Angebote aus den USA und Europa, mit dem Sachverstand und der Erfahrung ihrer jeweiligen Experten Beistand zu leisten, wurden zurückgewiesen, möglicherweise auch deswegen, um den Ausgangszustand der Atommeiler vor Eintreten der Havarie nicht offenzulegen. Trotzdem sind in den Wochen, die seit dem 11. März vergangen sind, immer neue Details über Versäumnisse und Verfehlungen ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, mitgeteilt von ehemaligen Mitarbeitern von Tepco, von ehemaligen Kontrolleuren der Kraftwerke und sogar von Regierungsbeamten – nicht aus dem Bereich der Zentralregierung, aber von Provinzgouverneuren, in deren Zuständigkeitsbereich sich Atommeiler befanden. Was inzwischen außer Zweifel steht, ist, dass es bei der Wartung, Kontrolle und Nachrüstung der Kernkraftanlagen zu erheblichen Unterlassungen und Verfehlungen gekommen ist. Um dem Konzern Kosten zu ersparen, haben Betriebsleitung, Kontrollinstanz und Regierung kollaboriert. Fest steht außerdem, dass die Risiken, zumal des FukushimaStandorts, unterschätzt bzw. wissentlich heruntergespielt, fällige Reparaturen und Verbesserungen unterlassen wurden. Wie sich im Rückblick zeigt, sind Japans Atomanlagen nicht so verlässlich gebaut und nicht so verantwortungsvoll geführt, wie die beiden zuständigen und ineinander verstrickten Instanzen, Regierung und Betreiber, es haben erscheinen lassen. Dazu zitiert Der Spiegel den britischen Nuklearexperten Shaun Burnie, der die Anlage Fukushima »mehrfach besichtigt und auch immer wieder in Japan gearbeitet hat«. Das Fazit: »Block eins und zwei in Fukushima Daiichi sind Anfang der siebziger Jahre in Betrieb gegangen, mit wesentlich laxeren Sicherheitsstandards, als es heute üblich ist. Sie stammen aus einer Zeit, als VW den Käfer baute, ohne Sicherheitsgurte, Airbags und Kopfstützen« (Der Spiegel 11, 2011, S. 132). Bleibt die Frage, warum die japanische Öffentlichkeit den immer weiteren Ausbau der Atomenergie im eigenen Land mit dieser für uns Europäer erstaunlichen, ja bestürzenden Passivität hat geschehen lassen – und das

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trotz der Tatsache, dass Japan als erstes Land der Welt auf ganz und gar »unfriedliche« Weise von der Kernenergie betroffen worden ist. Sicher, auch hier mag das Naturbild Japans eine Rolle spielen, wie es sich in langer und kontinuierlicher Tradition herausgebildet hat und das eine generelle Skepsis der Technologie gegenüber nicht nahelegt; die Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie wird in Japan nicht so scharf gezeichnet wie in Europa, der Mensch beansprucht keine Sonderstellung in der einen, alles umfassenden Naturwelt, im Gegenteil, er wünscht, darin eingebettet zu sein und zu bleiben – in dem großen Ganzen, zu dem auch die Atomenergie und deren nicht nur unvermeidliche, sondern gleichsam fällige Nutzung gehört. Aber ist diese Einstellung angesichts der aktuellen Ereignisse haltbar? Geht es bei der Bereitschaft / Nichtbereitschaft, gegen die manifest gewordene Bedrohung durch die Kernenergie zu protestieren, nicht um etwas anderes als ein bestimmtes – in diesem Fall mythisch-mystisches – Verhältnis zur Natur? Kommen wir noch einmal auf das Wort »stoisch« zurück, mit dem man in Europa die Haltung der Japaner im Unglück charakterisiert hat. Der »stoischen Philosophie« nach, deren »erste Schule« (die Ältere Stoa) im dritten Jahrhundert v. Chr. in Griechenland von Zenon begründet wurde und die dann vor allem in der römischen Aristokratie Anhänger fand, war es das wichtigste Ziel im Leben, die ataraxia, die unerschütterliche Ruhe im Inneren, zu erlangen; diese verhalf dem Einzelnen dazu, seine moralische Unabhängigkeit in Lebensweise und Urteil zu gewinnen. Nur solchen ›zu sich selbst gekommenen Einzelnen‹ wurde die Fähigkeit zugetraut, dem Staatsganzen verlässlich und unbestechlich zu dienen. Die Weisheitslehre der Stoiker zielt auf Selbständigkeit des Einzelnen und seine darauf gründende Zuständigkeit für das gesellschaftliche Ganze. Als Paradebeispiel stoischer Haltung gilt Cato der Jüngere (95-46 v. Chr.), der in dem Kampf zwischen Anhängern der Senatsherrschaft, der ›Republik‹ einerseits, der Herrschaft eines Einzelnen andererseits dem überlegenen Gegenspieler Julius Caesar unerschütterlich widerstand, auch dann noch, als seine Partei längst verloren hatte, und der alle Kompromiss- und Versöhnungsvorschläge ablehnte, um sich schließlich selbst das Leben zu nehmen. Die Disziplinierung der eigenen inneren Regungen, wie man sie in Japan beobachten kann, entspringt offenbar einer anderen Motivationslage

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und wird mit einer anderen Zielrichtung ausgelebt: Man beherrscht sich, um den Mitmenschen den Anblick der eigenen Verzweiflung und Hilflosigkeit zu ersparen und zugleich das eigene »Gesicht zu wahren«. Nicht einem fernöstlichen Stoizismus begegnen wir, wenn wir die »Selbstbeherrschung« der Japaner in der Katastrophe beobachten, sondern einer Tradition des Konfuzianismus, die mit bestimmten anderen Merkmalen des Sozialverhaltens verbunden ist: dem Bemühen, nicht ›auffällig‹ zu werden, sich nicht gegen die Gesellschaft und schon gar nicht gegen deren Repräsentanz, die Obrigkeit, aufzulehnen, so weit wie möglich im Kollektiv aufzugehen. Nun hat sich in Japan, spätestens seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, auch eine eher gegenläufige Bewegung angebahnt, die man mit »westlichen« Einflüssen in Verbindung bringen, die aber auch als Reaktion auf die immer komplexer werdende Technologie begriffen werden kann, die ihrerseits eine größere Variabilität und Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen erfordert. Seitdem gibt es eine pädagogische Vision, die sich allmählich zu einem Konzept entwickelt hat und in die Didaktik und Methodik der Schulen und Universitäten vorgedrungen ist. Sowohl dem einzelnen Lehrer als auch dem einzelnen Schüler werden größere Verfügungsund Spielräume eingeräumt, die Anforderungen der zentralen Lehrpläne werden weniger strikt formuliert, ihre Optionsbreite erweitert. Bei dieser Entwicklung hat der Einfluss der Montessori-Pädagogik keine unbeträchtliche Rolle gespielt. Auch in Japan, so kann man resümieren, hat sich die Einsicht etabliert, dass man ohne die Förderung der »Kreativität des Individuums« nicht genügend Spitzenmanager heranbilden könne, um die einmal erreichte Position im internationalen Wettbewerb zu halten. Inwieweit das Kalkül für die japanische Wirtschaft aufgegangen ist, ist schwer feststellbar. Unübersehbar dagegen sind die Folgen, die sich in Fragen der privaten Lebensführung ergeben haben – ablesbar an dem Wandel der Geschlechter- und Familienrollen und, hier besonders gut sichtbar, an der Spielbreite der Bekleidungsmode. Japan ist bunter geworden. Aber die Grenzen des Wandels werden überall dort sichtbar, wo Individualität und soziales Rollenverhalten interferieren. Noch immer wird, soweit irgend möglich, der Konflikt mit dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem man seine berufliche Funktion auslebt, vermieden. So neigen, wie in der gegenwärtigen Krise zu erkennen war, auch die Akteure der öffentlichen Medien dazu, denen gegenüber »loyal« zu sein, über die sie kritisch berichten sollten. »Japanische Reporter haben ihre Büros oft direkt in den Institutionen, über

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die sie berichten. Sie gehören praktisch dazu und warten mit den Kollegen anderer Zeitungen und Sender geduldig auf die Presseverlautbarungen, die man ihnen hereinreicht« (Der Spiegel, 12, 2011, S. 98). Sich der korrumpierenden Verstrickung von Regierung einerseits, atomarer Großtechnologie andererseits zu konfrontieren, verlangt von dem Einzelnen eine Verhaltensänderung, die in der Öffentlichkeit, in die hinein er wirken will, als Rollenbruch erlebt wird – was er selbst am deutlichsten erlebt. Auch der junge Mann, der mit dem Megaphon in der Hand vor der Zentrale von Tepco in Tokyo um protestierende Mit-Demonstranten wirbt, weiß, dass seine Erfolgsaussichten – noch – begrenzt sind. Wie komme ich dazu, wie kämen wir Europäer dazu, uns eine Verhaltensänderung von immer mehr Japanern in Sachen des öffentlichen Protestes zu wünschen? Andere Länder, andere Sitten – andere kulturelle Traditionen, andere Verhaltensweisen des Einzelnen in der Gesellschaft und ihr gegenüber. Kurz und gut: Was geht die Sozial-Intimität Japans uns an? Seit dem 11. März ist die Evidenz der längst gewussten Tatsache, dass wir alle unter der gleichen Bedrohung durch eine Energiequelle stehen, sprunghaft gewachsen – der Energiequelle, deren Unvermeidbarkeit / Vermeidbarkeit seitdem neu überdacht wird. In Deutschland ist die Havarie in Fukushima binnen weniger Tage zu einem Schlüsselereignis für die deutsche Atompolitik geworden. Das bei Fukushima kontaminierte Meer, das von Fukushima aus kontaminierte Luftmeer ist plötzlich zum (Luft-) Meer aller geworden. Die Globalisierung der Furcht vor der atomaren Verstrahlung des Planeten verbindet Japan mit dem Rest der Welt anschaulicher, emotional wirksamer, als es die unkontaminierte Luft, das unkontaminierte Meer vor dem 11. März getan hat.

4 Wie komme ich dazu, die Krise in Japan und die in den arabischislamischen Ländern zu parallelisieren? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus einer Veränderung unseres Verständnisses von Geschichte. Wir haben gelernt, die Vernetzung all der Faktoren zu sehen, die für das Weiter- und Überleben der Menschheit insgesamt entscheidend sind (vgl. z.B. Elmar Altvater: Der große Krach, 2010). Dabei verändert sich die Bewertung, unter der wir das Unternehmen

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Menschheit zu sehen gewohnt sind. Aus der gesicherten Annahme, dass die verschiedenen Spielarten der Menschlichkeit ihre Gemeinsamkeit im Fortschritt finden, ist die immer schwerer abzuweisende Frage geworden, ob wir nicht künftig von einer Gemeinsamkeit in der Gefährdung ausgehen müssen. Der Prozess der Umwertung von Weltgeschichte ist es auch, der einen Wandel des Interesses an fremden Kulturen mit sich bringt. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns für kulturelle Unterschiede zu interessieren, es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, uns auf die da und dort ausbrechenden Krisen »einen Reim zu machen« – was die Entscheidung zu einer womöglich fälligen Parteinahme einschließt. Die wachsende Einsicht in die Vernetzung aller Risikofaktoren für alle Menschen auf der »begrenzten Oberfläche des Globus«, von der schon Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden gesprochen hat, drängt uns dazu, je offensichtlicher die Gefahr wird, desto zwingender. Erste Konsequenzen solcher Parteinahmen haben sich bereits ergeben. Die völkerrechtliche Frage, ob man die Gewaltanwendung des GaddafiRegimes gegen die Bevölkerung des eigenen Landes hinnehmen könne, ist im Weltsicherheitsrat verneint worden. Zugleich ist gegen den libyschen Staatschef vor dem internationalen Gerichtshof für Menschenrecht Anklage eingereicht worden. Eine ähnliche Entwicklung droht in Syrien. Die Europäische Gemeinschaft hat bereits Sanktionen gegen die Assad-Clique verhängt, Sanktionen der Uno dürften folgen. Aber es sind nicht diese aus dem internationalen Recht hervorgegangenen Konsequenzen, um die es hier geht. Die Erwägungen, die angesichts der beiden hier aufgegriffenen Krisen zu einer Parteinahme auffordern, sind anderer Art. Sie greifen weiter in die Zukunft aus und schließen Probleme ein, von denen die internationale Staatengemeinschaft insgesamt betroffen ist: Ist es in Libyen das System Gaddafi, in Syrien die Clique um Assad, mit denen die religiös grundgelegten Konflikte des Vorderen Orients besser, offener, erfolgversprechender zu verhandeln sein werden, oder sind es diejenigen, die Gaddafi bzw. die Assad-Clique stürzen wollen? Wer wird die Sicherheit der Kernkraftwerke in Japan bzw. die Nutzung der Kernenergie überhaupt offener und verantwortungsbewusster gewährleisten: die bisherigen Regierungsvertreter und die bisherigen Manager der Atomin-

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dustrie oder die künftigen Repräsentanten des Teiles der Gesellschaft, der eben jetzt erst – zögernd – gegen den Partei-Atom-Filz zu protestieren beginnt? Der allgemeinste Horizont, in dem die Krisen in Japan und rings um das Mittelmeer zusammenfinden, ist die Hoffnung, in den Rebellierenden unter den Arabern, in den ihre Protestierfähigkeit eben jetzt erprobenden Japanern bessere Gesprächspartner auch in der Bearbeitung globaler Probleme zu finden – Probleme, die sich bisher als kaum verhandelbar erwiesen haben: Umweltverbrauch, Klimawandel, das Wildlaufen der Finanzmärkte usf. Das soll nicht heißen, dass unser ›Verstehen‹ über kulturelle Unterschiede hinweg heute eine bessere Chance hat. Aber unser Interesse daran, wie ein Kommunizieren und Paktieren unter der Bedingung kultureller Verschiedenheit möglich sein könnte, ist größer denn je. Das Überleben in der einen – gefährdeten – Menschenwelt hängt daran.

Tischgespräche über das Fremde Zum Problem der Xenophagie W OLF D IETER O TTO

Die von Praxisfragen in der Kulturvermittlung ausgehende Thematisierung des Fremdverstehens ist eines der zentralen Theorieelemente der interkulturellen Germanistik. Seit der Begründung des Fachs hat die dazu geführte Debatte zu sehr kontroversen Diskussionen und schließlich auch zu ablehnenden Positionen geführt, die sich in dem Maße beruhigt haben, in dem der Interkulturalitätsdiskurs sich zwar etablierte, aber die Auseinandersetzung mit Fragen der Wahrnehmung des Fremden unter dem Stichwort einer ›interkulturellen Hermeneutik‹ erledigt erschien. Der Weg von der interkulturellen Hermeneutik zu einer kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung ist hingegen vielfach nicht mehr zur Kenntnis genommen worden, was unter Umständen auch in der Pluralisierung kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze und ihrer Unübersichtlichkeit begründet liegt. In den Hintergrund gerückt ist ferner auch der Umstand, dass diese Debatte von Praxisfragen ausging, dadurch auch ihren Stellenwert erhielt, aber eben auch in dem Maße fragwürdig wurde, je weniger praxisrelevant Kulturwissenschaften erachtet wurden, es sei denn, sie verstünden sich als Hilfswissenschaften ökonomischen Handelns. Überzeugend ist das freilich nicht, festzustellen ist jedoch schon, dass unter dem Eindruck der Internationalisierung und Globalisierung der Lebensbedingungen die Beschäftigung mit Fremdheitsfragen überflüssig, ja sinnlos erschien; erst mit den Ereignissen des 11. September 2001 wurde das Interesse an Fremdheit wieder belebt, jedoch vorwiegend unter den Gesichtspunkten der Bedrohung durch das

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Fremde oder als Auseinandersetzung mit Xenophobie, insbesondere der Islamophobie. Wird Fremdheitsforschung in erster Linie als Feindbildforschung betrieben, ist die Beschäftigung mit dem Fremden eher eine mit Sicherheitsfragen und etwas für die Polizei, als dass sie zum Anlass genommen würde, Fremdheitsfragen zu diskutieren oder gar eine Toleranzdebatte zu führen. Dass die Bemühungen um das Kulturthema Toleranz, eine Schlussfolgerung aus der Beschäftigung mit Fremdheitsfragen, unter diesen diskursgeschichtlichen Rahmenbedingungen ebenfalls litten und in eine Sackgasse gerieten, ist nicht verwunderlich. Die Überzeugung von der erkenntniserweiternden Funktion der Begegnung mit dem Fremden trat dagegen in den Hintergrund, reduzierte sich auf eine akademisch gutgemeinte Hoffnung oder verwandelte sich zu einer von Bildungsperspektiven befreiten interkulturell apostrophierten Kompetenz im Anschluss an Bemühungen um eine interkulturelle Kommunikationsfähigkeit im Wirtschaftsbereich – und das mit Erfolg, handelt es sich doch um unmittelbar nützliches Wissen. Bedauerlich bleibt freilich, dass sich das in der xenologischen Reflexion enthaltene kritische Potential nicht wirklich entfalten konnte, wo doch die Kontroversen um die Fremdheitsfrage lediglich signalisieren, dass sich im Zuge ihrer Thematisierung zu Selbstverständlichkeit geronnene theoretische Positionen und Gewissheiten in Frage gestellt sehen, die als Provokation aufgefasst werden und Gegenreaktionen veranlassen. Die Provokation liegt vor allem darin, dass mit der Frage des ›Fremdverstehens‹ Fragen aufgeworfen wurden, die im Zuge einer zunächst sozialwissenschaftlichen, strukturalistischen, dann auch poststrukturalistischen und postmodernen Verdrängung der Hermeneutik fast in Vergessenheit geraten waren. Man kann zwar bezweifeln, ob es die Absicht der Begründer der interkulturellen Germanistik war, zu provozieren, denn die ›Praxisfragen der Kulturvermittlung‹ drängten die ›alten Fragen‹ ja auf, aber eine beobachtbare Wirkung war es doch, und das vor allem unter jenen, die die entscheidende Denkvoraussetzung gerade nicht teilten und oft auch nicht kannten, nämlich die kulturelle Überschneidungssituation im Zuge kulturübergreifender fremdsprachlicher Vermittlungstätigkeiten, ein konkretes Praxisfeld also, in dem es um das Verstehen von Manifestationen einer anderen Kultur geht. Eine der stärksten Infragestellungen ist mit der Verbreitung des postkolonialen Diskurses in Amerika und Europa, wie er von nicht-europäischen Kul-

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turen und Ländern in Gang gebracht wurde, verbunden. Die Frage ungleicher und asymmetrischer Kommunikationsbedingungen in der Vergangenheit und in der Gegenwart waren zwar bereits zum Inhalt des Forschungsgesprächs geworden, aber es meldeten sich auch Stimmen zu Wort, die anmerkten, dass angesichts des postkolonialen Bewusstseins die interkulturelle Hermeneutik westlicher und auch deutscher Herkunft nicht mehr als Ausdruck des alten imperialistischen Hegemoniestrebens sei. Der ideologiekritische Impetus derartiger Aussagen ist durchaus berechtigt, auch wenn er übersieht, dass das Anliegen, eine neue Qualität im Umgangs mit dem Fremden zu etablieren, stets mit der rückbezüglichen Reflexion der kulturellen Denkvoraussetzungen der Wahrnehmung des Fremden verbunden war und ist. Und doch kommt man an der Einschätzung nicht vorbei, dass man als Europäer und als Deutscher nicht selbstverständlich glaubwürdig ist, wenn man weltweit im Bereich interkulturell orientierter Kulturvermittlung tätig ist und dabei die Positivität und Kreativität der Begegnung mit dem Fremden im Auge hat. Selbst wenn man eine verminderte Selbstreflexivität in dieser Frage feststellen kann, so gibt es freilich auch Ausnahmen davon. Zu erinnern wäre an das Japan-Buch von Dietrich Krusche, das exemplarisch den erkenntniskritischen Konstruktivismus und Perspektivismus in der Wahrnehmung kultureller Fremde samt seinen praktischen Konsequenzen vorführt. Sein Ausgangspunkt, der immer noch ein zentrales Problem der Begegnung mit dem Fremden beschreibt, ist, dass die »Modalitäten, Fremde zu erfahren, […] ein Merkmal gemeinsam« haben, nämlich: »Das Fremde wird nicht stehengelassen in seiner Besonderheit, die Auseinandersetzung damit geschieht nicht partnerhaft-dialogisch, sondern alle Andersheit wird auf dem kürzestmöglichen Wege als Eben-dochEigenes vereinnahmt« (Krusche 1983: 11). Die Glaubwürdigkeitsfrage ist damit freilich nicht gelöst. Als Beispiel sei auf eine Publikation mit dem Titel Den Fremden gibt es nicht verwiesen. Die Autoren des Sammelbandes, die sich auf den Begründer der Xenologie Munasu Duala-M'bedi berufen, opponieren mit ihrer Titelformulierung gegen eine bestimmte Art des Umgangs mit dem Fremden, die man mit Alois Wierlacher eine intentionale Fremdstellung (Fremdheitskonstruktion) im Kontext des Kolonialismus nennen kann: Die »Warnung, das Phänomen der Fremdheit sei eine der größten Herausforderungen der europäischen Kultur im beginnenden 21. Jahrhundert«, so die Autoren, sei »zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Rhetorik avanciert. Das Verständnis von Fremdheit, das dieser

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Rhetorik zugrunde liegt, leitet sich dabei aus dem klassisch gewordenen Postulat ab, wonach zur Fremdheit wesensmäßig gehört, was nicht genuin dem abendländisch-europäischen Kulturkreis entsprungen ist« (Bremshey u.a. 2004: 5). Die Auseinandersetzung mit der Ideologie des Kolonialismus ist die eine Sache, ihre Projektion auf die Gegenwart ist die andere und muss deshalb keinen Beitrag zu deren Verständnis leisten. Auffassungen und Lesarten wie diese knüpfen an die Ambivalenz des Wortes ›fremd‹ an: es ist eben ein polysemes Negationswort und als solches in erster Linie im sprachlichen Bewusstsein präsent und durch historische Fremdheitserfahrungen untermauert. Der Begriff der Interkulturalität stellt mit Blick auf die Euphorisierung kultureller Andersheit, die auch als eine der Fremdheit gesehen werden kann, ein wichtiges Korrektiv dar, das einen entscheidenden Unterschied markiert. Der nationalsozialistische antisemitische Alteritätsdiskurs, der den deutschsprachigen Fremdheitsdiskurs bis in die Gegenwart begleitet, beinhaltete eine intentionale Fremdstellung und ist ein Ausgrenzungsdiskurs und damit nicht-interkulturell. Unter dem Stichwort der Interkulturalität werden Aussagen über die Qualität einer kulturellen Begegnung getätigt. Es ist daher sehr wichtig, in Gesprächen über Fremdheit immer den Zusammenhang mit dem Begriff der Interkulturalität zu sehen, der eben keinem exklusivistischen, sondern im Gegenteil einem inklusivistischen, und damit gerade nicht vereinnahmenden Denken entspringt. Diskussionen über derartige Divergenzen von Perspektiven im Umgang mit kultureller Fremde mögen schwierig sein, was sie jedoch unbedingt fördern oder fördern sollten, ist die Einsicht in die Kulturalität und Standortgebundenheit von Verstehenskonzepten – nicht nur in das der interkulturellen Germanistik. Die Kritik dieses Verstehenskonzepts durch nichteuropäische Diskursteilnehmer etwa ist daher ein komplementäres Element; virulent wird das vor allem, wenn man an die kulturanthroplogische Basis des Kulturthemas Fremdheit denkt, bei der es kulturanthropologisch um den Universalismus von Inklusion und Exklusion (Antweiler 2009: 175) geht, der in hohem Maße mit korrespondierenden kulturgeprägten Grundeinstellungen dem Fremden gegenüber bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund sollte dann deutlich werden, dass ›Interkulturalität‹ als ein Konzept der Überbrückung kultureller ›Fremde‹ und ›Distanz‹ kultur- und wissenschaftsgeschichtlich ein neuartiges Spätphänomen ist, auf dessen Erfordernisse wir uns seit geraumer Zeit einzustellen versuchen. In diesem Sinne hat Ram Mall die hermeneutische Situation der Gegenwart beschrieben:

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Das heutige Angesprochensein der Kulturen, Philosophien, Religionen und politischen Weltanschauungen ist von ganz anderer Qualität als das gewesene. Dieses erneute Angesprochensein Asiens, Afrikas und Lateinamerikas durch Europa und Europas durch Asien, Afrika und Lateinamerika ist gekennzeichnet durch eine konkrete Situation, in der die nichteuropäischen Kontinente mit ihren je eigenen Stimmen am Gespräch beteiligt sind. Dieses Gespräch ist begleitet von einer vierdimensionalen hermeneutischen Dialektik. Erstens geht es um ein Selbstverständnis Europas durch Europa. Trotz aller inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum größten Teil unter dem Einfluss außerphilosophischer Faktoren, den Nichteuropäern als etwas Einheitliches präsentiert. Zweitens gibt es das europäische Verstehen der nichteuropäischen Kulturen, Religionen und Philosophien. Die institutionalisierten Fächer der Orientalistik und Ethnologie belegen dies. Drittens sind da die nichteuropäischen Kulturkreise, die ihr Selbstverständnis heute auch selbst vortragen und dies nicht den anderen überlassen. Viertens ist da das Verstehen Europas durch die außereuropäischen Kulturen. In dieser Situation stellt sich die Frage: Wer versteht wen, wie und warum am besten? Es mag Europa überraschen, dass Europa heute interpretierbar geworden ist. So verlangt die de facto existierende hermeneutische Situation nach einer Philosophie der Hermeneutik, die offen genug ist, um die Traditionsgebundenheit einzusehen, auch des eigenen Standpunkts. Eine interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie muss die Forderung nach einer Theorie erfüllen, nach der weder die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, noch die Begriffe, Methoden, Auffassungen und Systeme, die wir dabei entwickeln, historisch unveränderliche, apriorische Größen darstellen (Mall 2000: 313f.).

Was Ram Adhar Mall formuliert, hat eine große Affinität zu den grundlegenden Überlegungen der interkulturellen Germanistik und nichts von seiner Aktualität verloren, geht aber in seiner Bedeutung für moderne Kulturwissenschaften darüber hinaus! Es handelt sich um keine neue ›Vereinnahmungsstrategie‹ des Westens, und unter dem Stichwort der Interkulturalität geht es nicht um eine Verlängerung des Umstandes, dass ›Kulturbegegnungen‹ seit der Zeit der Entdeckung der Welt durch die Europäer zumeist Prozesse schrankenloser kultureller ›Aneignung‹ und damit ›intentio naler Fremdstellungen‹ oder ihrer exotischen Verklärung beinhalteten. Seine Aufforderung, »die Traditionsgebundenheit einzusehen, auch des eigenen Standpunkts« scheint jedoch noch kaum beherzigt zu werden, vermutlich, weil das lästig ist.

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Begreift man Fremdheit als ein Kulturthema, dann können verschiedene Formen des Sprechens über das Fremde beobachtet werden. Im Fachdiskurs der interkulturellen Germanistik stand die Verständigung über die Frage, wie Fremdheit verstanden wird, im Mittelpunkt, es gibt jedoch auch Formen, die genau diese Frage ausklammern und stattdessen ausschließlich Fragen der Herrschafts- und Machtkritik ins Zentrum rücken und vor allem Studien zur historischen Dimension des Kulturthemas Fremdheit in den Mittelpunkt stellen (Honold/Scherpe: 2000). Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt in der Eindeutigkeit der immer wieder auch politischen Aussagen! Wer würde den von Edward Said analysierten ›Orientalismus‹ nicht kritisieren? Danach ist das Verstehenwollen des Fremden nicht Ausdruck der Anerkennung des Fremden, sondern des Willens zur Macht. Der Orientalist bestimmt, was als orientalistisch zu gelten habe, und entscheidet, wer das Recht hat, an dem Diskurs über den Orient teilzunehmen – das ist die Praxis des exklusivierenden, ethnozentrischen Kulturmonologs. Und so lautet ja ein Vorwurf gegenüber dem Fremdheitsdiskurs der interkulturellen Germanistik, dass sie den Fremden überhaupt erst hervorbringe! Etwa im Sinne exotistischer Bewunderung oder einer Bedrohung, der gegenüber dann die ›Normalität des Fremden‹ ins Feld geführt wird. Unter einem kulturthematischen Gesichtspunkt betrachtet, müssen sich diese unterschiedlichen Herangehensweisen nicht ausschließen. Das damit verbundene hermeneutische Problem der Wahrnehmung des Fremden in seinen verschiedenen Schattierungen und Konsequenzen und vor allem auch seiner Ambivalenz wird dagegen nicht und will eventuell bewusst nicht thematisiert werden. Fremdheitskonstruktionen, verstanden als intentionale Fremdstellungen von Menschen oder Gruppen, sind ein Thema der deutschen Kultur und insofern auch ein Thema interkultureller Deutschstudien. Gerade die Auseinandersetzung mit der Judenfeindschaft in der deutschen Kultur umfasst unter einer xenologisch motivierten Fragestellung nicht nur die Auseinandersetzung mit einem zum Wertungssystem geronnenen Vorurteil, sondern auch die Frage nach den Mechanismen der Wahrnehmung der Juden in ihrer Fremdheit und Unzugehörigkeit – und das in einem über die mehrere Jahrhunderte andauernden Diskurs. Beachtet man komplementär die Toleranzfrage, so wird der kritische Impetus des xenologischen Zugangs deutlich: die deutsche Kultur hat zwar eine große Toleranztradition, weist aber keine korrespondierende Toleranzpraxis auf, und der Beleg dafür ist die

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Ermordung der Juden Europas (Rest 1948: 60) – zumindest ist das die Analyse in der unmittelbaren Nachkriegszeit und, auch wenn es bis zur Einweihung des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas noch einige Jahrzehnte dauert, der Ausgangspunkt aller folgenden Bemühungen, dem Toleranzbegriff ein neues Fundament zu geben. Alexander Mitscherlich hat bezüglich eines xenologisch motivierten Toleranzbegriffs wegweisende Beiträge geliefert, die als Eckpfeiler eines kritischen Modus des Fremdverstehens zu verstehen sind. Erstens ist es der Blick für die Kulturalität des Verstehens: Mitscherlich wird nicht müde, Toleranz und aktives tolerantes Verhalten als ein kulturgebundenes Denk- und Verhaltensrepertoire zu verdeutlichen: »Toleranz als Möglichkeit reicht demnach genau so weit, wie sich die kritischen Fähigkeiten des Individuums und einer Kultur entfalten konnten und durften« (Mitscherlich 1974: 445). Zweitens ist es der selbstkritische, weil relativierende Umgang mit eigenkulturellen Idealen, der einen positiven Zugang zum Anderen und Fremden ermöglicht, weil wir mit seiner Hilfe Erkenntnis gewinnen (können) für die besonderen Schwächen und Unsicherheiten, denen wir ausgesetzt sind, und Wege zu ihrer leidlichen Bemeisterung finden, wenn wir mehr von den Tatsachen, insbesondere von der Tatsache einsehen gelernt haben, daß dem Menschen nicht gegeben ist, eine beste Kultur zu haben, eine, an der er endgültig genesen könnte, und daß das ganz bestimmt nicht die eigene ist (Mitscherlich 1983: 22).

Die von Mitscherlich am Beispiel von Friedrich Nietzsche vorgenommene Kritik der Intoleranz des Ideals ist nicht hoch genug einzuschätzen (Mitscherlich 1977: 270). Toleranz ist damit gleichbedeutend mit einem Misstrauen gegen im eigenkulturellen Kontext gewonnene Ideale und damit gleichbedeutend mit einer Sensibilisierung für den mit wahrheits- und definitionsmächtiger Selbstüberschätzung gepaarten Irrtum. Luzide ist Mitscherlichs heuristische Frage »Wo kommen wir mit weniger Intoleranz, mit mehr Toleranz hin?«, die noch gesteigert wird durch folgenden Verweis »Dabei muß freilich zunächst mit Scharfsinn geklärt werden, wo überall wir intolerant sein können, ohne dessen bewusst zu sein« (ebd.). Mitscherlichs Überlegungen sind vor allem mit Blick auf die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und deren jeweiligen Normen und Praktiken interessant.

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Mitscherlich begreift Toleranz als eine »Wissensmethodik« (Mitscherlich 1983: 19), und es sei die Frage erlaubt, was das für die hermeneutische Frage der Wahrnehmung des Fremden bedeutet, die ein unverzichtbares Zentrum der Xenologie bildet, mit dem jedoch alle anderen Aspekte des thematischen Fächers verbunden bleiben. Werden die verschiedenen Infragestellungen bedacht, die die Frage nach dem Verstehen des Fremden erfahren hat, so ist deren unschätzbarer Wert darin zu sehen, die Grenzen des Fremdverstehens verdeutlicht zu haben. Entgegen immer wieder zu vernehmenden objektivistischen Auffassungen von Fremdheit als Eigenschaften einer Person oder Sache, hat sich im Diskurs über das Fremdverstehen das Ergebnis des Nachdenkens in der Formel, Fremdheit sei das ›aufgefasste Andere‹ oder das Ergebnis eines »Interpretaments von Andersheit und Differenz« (Wierlacher/Albrecht 2002: 284) niedergeschlagen. Das wahrnehmende Subjekt und seine kulturellen Vorverständnisse stehen damit ebenso im Zentrum wie die als fremd interpretierten Eigenheiten einer Person oder Sache. Abb. 1: Franz von Siebold (1796-1866) aus der Sicht Keiga Kawahara (1826) und von Johann Joseph Schmeller (1835)

Quelle: Siebold Familienarchiv Burg Brandenstein

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An den unterschiedlichen Portraits von Franz von Siebold lassen sich kulturdifferente Auffassungen und deren Konstruktionsmerkmale ein und derselben Person studieren. Zur Frage steht natürlich, warum der japanische Maler Siebold so gesehen hat, wie er doch offensichtlich nicht ausgesehen hat. Die Abweichungen von Schmellers Portrait legen nahe, dass Kawaharas Bild eher eine Karikatur, also eine ›verzerrte Wahrnehmung‹ darstellt, mit der auffällige Merkmale einer Person in übertriebener Art und Weise betont werden. Die Vermutung, es handle sich um eine Karikatur, ist nur plausibel, würde man eine kritische Absicht unterstellen. Dem ist aber nicht so! Zu diesem Zeitpunkt erfreut sich Siebold einer gewissen Verehrung als Arzt und Naturforscher, und der Maler möchte das auch zum Ausdruck bringen durch die Japanisierung Siebolds. Aber wie geschieht dies? Auffällig ist die kulturdifferente Wahrnehmung der Nase und der Augen, wobei nun die übertrieben ›lange‹ Nase als ein Unterscheidungsmerkmal kultureller Andersheit besonders deutlich hervorgehoben wird, was auch der üblich gewordenen Bezeichnung westlicher Menschen als ›Langnasen‹ in fernöstlichen Ländern entspricht. Der eigentliche Differenzpunkt hingegen bildet die Augenpartie und regt zum Nachdenken an. Die Augen sind offensichtlich für den japanischen Maler kein Differenzmerkmal: Die ›fremden‹ Augen werden nicht als solche anerkannt, sondern mit der Eigenwahrnehmung ›verschmolzen‹, was einer ›Nostrifizierung‹ Siebolds als Japaner gleichkommt. Aus der Sichtweise Kawaharas ist das vermutlich als eine Form der Anerkennung und Ehrerbietung gemeint, ob Siebold das auch so gesehen hat, ist hingegen unbekannt. Im Zuge des Nachdenkens über die zentrale Rolle des hermeneutischen Bewusstseins wurde insbesondere die Bedeutung der ›Aneignung‹ im Sinne der Integration des Fremden in das eigene, also bekannte Begriffssystem diskutiert und kritisiert. Die Nostrifizierung und Normalisierung des Fremden – vor allem von Steinmetz mit Blick auf die literarischen Rezeptionsund Interpretationstätigkeit analysiert – kann jedoch durchaus in Sinne einer starken europäisch-westlichen Kulturtypik aller Verstehensprozesse gesehen werden. Hat doch bereits Axel Horstmann in seinen philosopiehistorischen Ausführungen über die Assimilation als hermeneutischer Kategorie auf diesen Vorgang assimilierenden Verstehens verwiesen (vgl. Horstmann 1993: 371-410). Danach handelt es sich um eine ursprünglich religiöse Praxis, Gott näher zu kommen. Horstmann bezeichnet das als ›reflexive Assi-

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milation‹, wobei es sich um ein ›Sich-selbst-Angleichen-an-das-Andere handelt‹ (ebd.: 380). Die Voraussetzung ist, dass zwischen dem ›Erkennenden‹ und dem ›Erkannten‹ – wie verdeckt auch immer – bereits etwas ›Gemeinsames‹ angelegt ist. In einer säkularisierten Form entfaltet dies als ›assimilierender Bildungstrieb‹ (ebd.: 387) bei Wilhelm von Humboldt für die Bildungsphilosophie um 1800 eine große Wirksamkeit, vor allem wenn man an den Begriff des ›Studiums‹ bei F. Schlegel, an die Bildungswirkung und Vorbild- und Nachahmungsfunktion der Antike sowie all die noch kommenden Ergänzungsphantasien zur eigenen Kultur denkt. Die zweite von Horstmann beschriebene Assimilationsform, die im Kulturdiskurs um 1800 konkurrierend auftritt, die ›aktiv-transitive Assimilation‹, wird dagegen als Inkorporation in einen Organismus in Analogie zur Nahrungsaufnahme beschrieben (ebd.: 383). Der Begriff von Fremdheit, der diesem Verstehen zugrunde liegt, setzt immer schon die Existenz von Bekanntem voraus, mit dem man bereits in einer Gemeinsamkeit verbunden ist, so dass das Verstehen eher ein Wiedererkennen ist, selbst dann, wenn das Bekannte in einem historisch großen Abstand tatsächlich ›fremdartig‹ wahrgenommen wird. Doch diese Art der Gemeinsamkeit wurde bereits von Alois Wierlacher in seiner Auseinandersetzung mit Gadamers Hermeneutik zurückgewiesen (Wierlacher 1983: 53); in seinem vorbereitenden Ausführungen zur Entwicklung einer interkulturellen Hermeneutik wird für die Verstehensprozesse in der kulturellen Überschneidungssituation nicht von der Voraussetzung einer Traditionsgemeinschaft und der damit verbundenen ›Horizontverschmelzung‹ ausgegangen, gleichzeitig jedoch die Anknüpfung an ›universalistische Fragestellungen‹ ebenfalls nicht ausdrücklich ausgeschlossen (ebd.: 68). Das kann man als Widerspruch wahrnehmen, diente jedoch hauptsächlich der Kritik des Einrückens in die jeweils eigene kulturelle Tradition und spielt in der Theorie der Kulturthemen wieder eine Rolle. Aus der Sicht eines extremen Universalismus gibt es Fremde nicht und das Ansinnen einer interkulturellen Hermeneutik ist nur eine Chimäre und deshalb abzulehnen. Das Argument ist überzeugend, wenn man akzeptiert, dass das Fremde, von dem wir sprechen, das ›ganz Andere‹ ist, für das wir keine Wahrnehmungsmuster haben. Wie Georg Simmel in seinem Exkurs über den Fremden schreibt, existiert das ›ganz Andere‹ für uns eigentlich nicht, denn es befindet sich »jenseits von Fern und Nah« wie Simmels Beispiel der Bewohner des Sirius (Simmel 1908: 509). ›Der, die, das Fremde‹ ist nicht ›exterritorial‹, sondern: »Der Fremde ist ein Element der Grup-

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pe selbst […] – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt« (ebd.: 509). Seine ›formale Position‹ zeichnet sich durch eine ›Beweglichkeit‹ aus, in der eine »Synthese aus Nähe und Ferne« zu beobachten ist (ebd.: 510). An dieser Stelle entstehen auch die ›Begegnungssituationen‹, die ›kulturellen Überschneidungssituationen‹ – und damit steht auch die Frage nach der jeweiligen Kultur des Umgangs mit dem Fremden im Zentrum! Für Simmel sind die europäischen Juden das Modell und vieles was wissenschaftlich über die Fremden geschrieben und gesagt wurde, kann als Anmerkung zu diesem Exkurs gelesen werden. Wenn es um die Positivität der Begegnung mit dem Fremden geht, kann daher von der jüdischen Tradition etwas gelernt werden, denn in ihr sind Fremderfahrungen schon immer lebendige Erfahrungen, die sie universalisiert zu den »Fremden par excellence« hat werden lassen als die sie Simmel analysiert (Lapide 1992: 28; Slezkine 2006). Elie Wiesel führt aus, dass in »der jüdischen Tradition, aus der ich schöpfe«, man davon ausgeht, dass »jeder Fremde ein Weiser sein könnte, der sich nicht zu erkennen gibt« (Wiesel 1992: 21). Und der Rabiner und Theologe Pinchas Lapide ergänzt, dass mit dieser Erwartungshaltung eine besondere Neugierhaltung verbunden ist, die die Praxis der Gastfreundschaft entscheidend beeinflusst, denn in ihr sieht er eine »Pädagogik Gottes« im Sinne einer Prüfung bei ständiger Erinnerung an den Exodus und an das Leben in der Fremde wirken (Lapide 1992: 28). Wir finden hier eine aus der Erfahrung der Fremde geborene Xenopädagik – die wir säkular verstehen wollen –, in der eine schlechte Behandlung des Fremden, selbst wenn er sich schlecht benehmen sollte, unter Strafe steht und demzufolge von dem Gastgeber äußerste Geduld abverlangt. In den Darlegungen Lapides wird verdeutlicht, dass man es sich nicht leicht machen sollte mit der Eingliederung der Fremden in die bestehende Gesellschaft. In der Doppelseitigkeit von ›Ent-Fremdung‹ und ›Be-Freundung‹ wird ein geduldiger, höchstens drei Generationen dauernder Prozess angedeutet, wobei die Zwischenstufe des »inamicus« zwischen ›Gast‹ und ›Feind‹ eine große Rolle spielt (ebd.: 36). Der Prozess der Ent-Fremdung bzw. ›Be-Freundung‹ selbst umfasst verschiedene, ineinandergreifende Aspekte, nämlich 1) die Anerkennung des Fremdseins als ›gegenseitige Angelegenheit‹ verbunden mit Einfühlsamkeit; 2) Konfliktfähigkeit; 3) Kompromissfähigkeit und Dialogbereitschaft und 4) die Akzeptanz des Anderen in seiner Andersheit als

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Ausdruck ›echter Toleranz‹ (ebd.: 36f.). Die Frage, ob Fremdheit am Ende des Prozesses der Be-Freundung aufgehoben ist oder sich erhält, ist hingegen nicht ganz klar, was nicht verwundern sollte, denn es geht entscheidend um eine Grenze der Verstehbarkeit, die im wissenschaftlichen Diskurs über das Fremdverstehen sehr deutlich geworden ist. Da der ›Fremde‹ nicht ›exterritorial‹ ist, gibt es ›Gemeinsamkeiten‹ mit ihm und den Anderen, z.B. eine gemeinsame ›Lebenswelt‹ in Überschneidungsflächen oder convivial contexts, wie es in neueren soziologischen Arbeiten genannt wird. Dadurch ist er prinzipiell ›verstehbar‹, zumindest in den Bereichen, die er mit den ›Anderen‹ teilt! Zu welchem Ergebnis führt jetzt jedoch der Prozess des Verstehens? Sämtliche Mechanismen des ›assimilierenden Verstehens‹ und damit des ›Aneignens‹ werden wirksam. In den Augen des ›Verstehenden‹ wird der Fremde zu einem Teil des ›Eigenen‹. Handelt es sich um ›fremde‹ Texte, dann werden sie in die eigene Kulturtradition eingegliedert bzw. aus ihr heraus ›verstanden‹. Immer handelt es sich um eine ›Überwindung des Fremden‹, das somit getilgt wird. Diese Xenophagie hat Bernhard Waldenfels grundsätzlich aus der Ego-, Logo-, und Ethnozentrik des modernen europäischen Weltbildes erklärt (Waldenfels 1990: 61). Danach ist das Verstehen des Fremden unmöglich, die Auseinandersetzung mit dem Fremden soll aber dennoch möglich sein, aber aus einer Zwischensphäre heraus; nicht über das Zwischen solle gehandelt, sondern aus dem oder besser im Zwischen solle gedacht werden, wodurch der Dialog und das Modell von Frage und Antwort besondere Bedeutung erlangt. Das Verstehen des Fremden ist ein Problem der Distanz. In der Literatur wird das immer wieder angesprochen. In Bezug auf die soziale Position des Fremden spricht Simmel von der Synthese aus Nähe und Entferntheit, und auch Alois Wierlachers Formulierung einer ›Hermeneutik der Distanz‹ greift einen Grundgedanken Helmuth Plessners auf, nämlich, dass es um ein »Vertrautwerden in der Distanz gehe, die das Andere als das Andere und das Fremde zugleich sehen läßt« (Wierlacher 1983: 68). Das ist gegen das assimilierende Denken gerichtet und so kommen wir wieder zu dem Problem der Xenophagie zurück. Dagegen richtet sich insbesondere Heike Kämpf, die die Hermeneutik Plessners unter diesem Gesichtspunkt und im Hinblick auf die ethnographische Feldforschung, also im Hinblick auf die Begegnung mit konkreter Fremde untersucht und darin das zentrale Motiv

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der »prinzipiellen Entzogenheit des Zu-Verstehenden« (Kämpf 2003: 10) gewürdigt hat. Die doppelte Anforderung, dem Fremden nahe zu kommen, dennoch ihn in seiner Fremdheit zu belassen, wird bei Waldenfels zum ›Stachel des Fremden‹, womit jener Rest gemeint ist, der nicht aufgeht in unserem Verstehen. Die Nostrifizierung des Fremden will die ›Hermeneutik der Fremde‹ vermeiden, steht aber vor dem Problem, dass das ›Verstehen‹ in der äußerst starken europäischen Tradition des ›assimilierenden Verstehens‹ stets zur ›Aneignung‹ führt bzw. Gefahr läuft, die ›Aneignung des Fremden‹ zu betreiben. Das hermeneutische Problem ist unlösbar: Wir können den ›Fremden‹ auf eine bestimmte Weise, eben die unsere, verstehen, aber ob dieses Verstehen dem Selbstverständnis des als ›fremd‹ empfundenen ›Anderen‹ nahe kommt und er sich ›verstanden‹ fühlt, ist unklar, weshalb wir mit ihm das Gespräch suchen müssen. Angesichts der Schwierigkeiten des Fremdverstehens liegt es nahe, den Begriff des ›Fremden‹ aufzugeben und stattdessen den Begriff der ›Differenz‹ einzuführen. Das tut Wolfgang Welsch, der einer der bekanntesten und meistrezipierten Multiplikatoren des Transkulturalitätskonzepts ist. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht in der Umgehung des Problems, das ›fremd‹ und ›eigen‹ auch hierarchisierende Wertungsbegriffe sein können; nach dem ›Differenzbegriff‹ ist alles ›gleich‹ ›gültig‹, was durchaus seinen Charme besitzt; das ›Differenzdenken‹ ist verbunden mit ›universalistischen‹ Konzepten der ›Transkulturalität‹ (Welsch 2000) denen ›Fremdheit‹ ›fremd‹ ist und die Konzepte der Interkulturalität ablehnen. Welsch Empfehlung lautet daher: »weg von hermeneutischen Bemühungen (mit ihrer Annahme völliger Fremdheit des Anderen auf der einen Seite und der misslichen Aneignungsdialektik des Verstehens auf der anderen Seite hin zu entschieden pragmatischen Interaktionsbemühungen« (Welsch 2000: 346). Welsch setzt sich nicht mit dem Begriff der Fremde auseinander, sondern mit dem der Kultur. Der Begriff der Transkulturalität stellt zweifellos eine wichtige Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff dar und es ist lohnenswert, gerade aus der Sicht einer auf eine Region der deutschsprachigen Länder konzentrierten (Fremd)Kulturwissenschaft ihn auf seine Brauchbarkeit hin zu beurteilen. Bedenkt man, dass Welschs Argumentation davon lebt, dass er jedem Kulturbegriff eine an Herderschen Kugeln orientierte essentialistische Kulturauffassung unterstellt, so tangiert das die Diskussion über den Kulturbegriff der interkulturellen Germanistik nicht, denn davon hatte man sich in der Theoriediskussion des interkulturellen Germanistik

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schon immer abgegrenzt – und das mit Blick auf die Kulturspezifik des explizit deutschen Kulturbegriffs mit seiner Unterscheidung von Kultur und Zivilisation (vgl. Bausinger 1975). Im Umkreis der interkulturellen Germanistik wurde die Annahme eines homogenen und ganzheitlichen Kulturbegriffs immer abgelehnt und durch die Orientierung an einem funktionalen ethnographischen Kulturbegriff ersetzt. Diese Ablehnung resultierte nicht nur aus einer rein akademischen Kontroverse, sondern reagierte auf die Probleme der kulturüberschreitenden Vermittlung von Wissen über die deutschsprachigen Länder (Sprache, Literatur, Landeskunde) im Fach Deutsch als Fremdsprache. Seit Mitte der 70er Jahre wurde also, angestoßen durch die Praxisprobleme der Kulturvermittlung, ein Diskurs initiiert, der im Inland erst rund zwei Jahrzehnte später als ›cultural turn‹ in anderen Bereichen der Kulturwissenschaften für Diskussionsstoff sorgte. Welschs Beobachtung kulturübergreifender Phänomene und Beeinflussungen als Grundlage des Transkulturalitätsbegriffs sorgt, im Kontext des Kulturdiskurses der interkulturellen Germanistik betrachtet, kaum für Aufsehen, während der Versuch ein »Jenseits der Kultur« (Welsch 2000: 336, Anm. 26) zu imaginieren, eher skurril wirkt. Das ›Fremde‹ wird Welsch jedoch nicht los und so fängt Welsch unvermittelt doch wieder an von ›Fremdheiten‹ zu sprechen, ohne dem Begriff weitere Aufmerksamkeit zu schenken: »Im Innenverhältnis einer Kultur − zwischen ihren diversen Lebensformen existieren – heute ebenso viele Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen« (Welsch 2000: 338). Welschs Kritik und Ablehnung des Interkulturalitätsbegriffs basiert auf dem holistischen ›Kugelbegriff‹ der Kultur, der zwar nicht der der interkulturellen Germanistik ist, wohl aber etwa in den Vorlesungen des interkulturellen Philosophen Franz Martin Wimmer eine Rolle spielt. Wimmer versteht Interkulturalität vor allem im Sinne eines kontrastierenden Kulturvergleichs und funktionalisiert ihn für die Kritik des Kulturzentrismus. Seine differenzierte Argumentation arbeitet allerdings tatsächlich mit der graphischen Darstellung von Kugeln (vgl. Wimmer 2000: 60-70). So sehen Kulturen eben aus: separat, sich nicht gegenseitig beeinflussend, mit Kernen und Peripherien ausgestattet – das ganze Problem und Elend bildlicher und metaphorischer Darstellungen von Kulturen, das insbesondere in der Lehre virulent ist, wird damit aufgerufen. Gegen eine Beschäftigung mit dem Thema kultureller Zentrismen ist kaum etwas einzuwenden, was bei Welsch und Wimmer jedoch verloren geht, ist die aus der ›verstehenden‹ Ethnologie und Sozio-

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logie herrührende Konzeption, Kultur als Diskursfeld zu betrachten. Der Vorteil dieser Zugänge besteht darin, die Probleme des Verstehens von Kulturen gerade nicht auszuklammern. An erster Stelle ist hier an die Aufforderung von Joachim Matthes zu erinnern: die Bestimmung von Kulturen sollte von ihrer geläufigen raum-zeitlichen Fixierung auf Gebilde mit merkmalshaften Andersartigkeiten und deren Festschreibung darauf, je Kultur zu sein, befreit werden, und es sollte alles Augenmerk darauf gerichtet werden, wie sich die Bestimmung von Kulturen als ein wechselseitiger Prozeß der Fremd- und Selbstbestimmung mit Folgen für alle an ihm beteiligten Seiten vollzieht […] (Matthes 1992: 5).

Was wir bei Welsch finden, ist eine weitgehend geschichts- und diskursvergessene Auseinandersetzung mit Herders Kulturbegriff, die der Einsicht entgegensteht, dass – wie die deutsche Geschichte es zeigt – ethnische und ›völkische‹ Kulturdefinitionen (Deutschtum, Antisemitismus) hochgradig fiktive Konstrukte sind und krampfhaft gegen die historische Evidenz von Mischungen durchgesetzt werden müssen. Ihre Gefährlichkeit kann in der bundesrepublikanischen Gegenwart des Jahres 2016 sowie dem europäischen Diskurs über ›Flüchtlinge‹ immer wieder, auch in den Diskussionen um die ›Identitätsfalle‹ (Sen 2007) registriert werden. Welsch unterstellt den Interkulturalisten einen extremen Kulturrelativismus und vertritt im Gegenzug einen ebenso extremen Universalismus und beides wurde von Alois Wierlacher und seinem Konzept der Interkulturalität (Wierlacher 2003) und in der Praxis der Kulturthemenforschung (Hudson-Wiedenmann 1999), in der es darum geht, kulturanthropogische Universalien und ihre kulturspezifische Praxis in der deutschsprachigen Kultur zu studieren, immer abgelehnt. Erst in der Gegenwart rückt, so scheint es, die im Bereich der interkulturellen Germanistik xenologisch begründete Mittelstellung zwischen Kulturuniversalismus und -Relativismus mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Derartige ›Zwischenpositionen‹ haben es im Wissenschaftsbetrieb jedoch schwer, obwohl Aleida Assmann bereits 1996 die ›Spannung zwischen Einheit und Vielheit als Grundstruktur der Toleranz‹ (vgl. Assman 1996: 83-102) herausgearbeitet hat, der Ethnologe Christoph Antweiler, der sich im Interesse eines ›kontextbezogenen Universalismus mit Universalien beschäftigt‹ (Antweiler 2009), und den verbreiteten extremen

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Kulturrelativismus der Ethnologie kritisiert sowie Kwame Anthony Appiah sein Konzept des ›verwurzelten Kosmopolitismus‹ (Appiah 2009) vorträgt. Der Begriff der Transkulturalität scheint aber attraktiv zu sein, weil man sich mit ihm von historischen und kulturellen Lasten befreien kann, obwohl die von Welsch angeführten transversalen Manifestationen von Kultur das Ergebnis eines Expansionsdrangs der europäischen Staaten und später der USA im 19. und 20. Jahrhundert oder der freiwilligen Übernahme der westlichen Industriekultur und ihrer Wissenschaften sind. Allein die weltweite Verbreitung westlicher Konzeptionen von Bildung (Schulsystem, Universitäten) sind ein lohnenswerter Bereich, um kulturelle Mischungsverhältnisse zu studieren, und dieser Bereich ist es ja auch, an dem die Fremdsprachenvermittlungsexperten ihre bis heute gültige Notwendigkeit des ›Adressatenbezugs‹ gebildet haben. Der Kulturbegriff von Welsch ist dagegen frei von einer hermeneutischen Standortbestimmung, frei von der Reflexion des eigenen kulturellen Ausgangspunkts. Für eine regionale Fremdkulturwissenschaft – und zu fragen wäre, ob das auch für die allgemeinen Kulturwissenschaften gilt – ist das eine unmögliche Position, schließlich beschäftigt sie sich mit der kulturübergreifenden Vermittlung von Wissen über eine Kultur, nämlich der deutschsprachigen Kultur. Interessant ist nun, dass sich, bei aller Fragwürdigkeit und Widersprüchlichkeit dieser Argumentation doch wieder Gemeinsamkeiten mit den Bemühungen der interkulturellen Germanistik ergeben, und zwar dort, wo es um Konsequenzen aus dem Kulturkonzept geht. Welsch geht davon aus, dass das »Konzept der Transkulturalität« auf ein »vielmaschiges und inklusivistisches, nicht separatistisches und exklusives Verständnis von Kultur« zielt (Welsch 2000: 344). Es intendiert eine Kultur und Gesellschaft, deren pragmatische Leistungen nicht in Ausgrenzung, sondern in Anschluss- und Übergangsfähigkeit bestehen. Welsch denkt hier an die Potentiale zur Überschreitung unserer herkömmlichen und vermeintlich bindenden kulturellen Standpunkte, und zwar durch transkulturelle Formen der Kommunikation und Interaktion – hier ergibt sich eine Überschneidungsfläche mit dem Kulturkonzept und den Perspektiven der Kulturvermittlung der interkulturellen Germanistik. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass das Interesse an Überlappungsbereichen zwischen Kulturen hermeneutisch begründet ist. Die jeweiligen kulturspezifischen Vorverständnisse ›gemeinsamer‹ Bereiche der Lebenswelt sind es nämlich, die den Zugang zur − fremden − deutschsprachigen Kultur und ihr Diskursfeld, das sie

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mit anderen Kulturen teilt, eröffnen. Der Universalismus des Transkulturalismus verkürzt diesen Prozess mit seinem »Anspruch auf universelle Geltung und Akzeptanz« (Mall 2000: 310). Das »Konzept der Interkulturalität« meint hingegen »eine grundlegende Einstellung«, »die verschiedene Kulturen begleitet und verhindert, dass diese sich in den absoluten Stand setzen und so eine interkulturelle Verständigung erschweren oder gar unmöglich machen« (ebd.). Der durch die Frage des Fremdverstehens initiierte Diskurs hat vor allem die ›aporetische‹ Problemkonstellation des Fremdverstehens verdeutlicht, aber nicht überwunden, weil das nicht möglich ist! Ist die ›Hermeneutik des Fremden‹ damit gescheitert? Nein, denn der teilweise sehr erbittert kontrovers geführte Diskurs hat vor allem die kritische ›Reflexivität‹ des ›Fremdverstehens‹ entscheidend erhöht, und zwar in dem Sinne, dass es sich um ein ›Verstehen‹ an der ›Grenze‹ von ›Verstehbarkeit‹ und ›Nichtverstehbarkeit‹ handelt (Kämpf 2012: 139; 167). Im Zuge dieser Einsicht wird das Fremdverstehen sich selbst fraglich und führt zu der Konsequenz, ›Distanz‹ gegenüber dem ›Verstehen‹ zu gewinnen, weshalb Wierlacher schließlich auch von einer ›Hermeneutik der Distanz‹ spricht (1983: 59). Insbesondere die Formel, ›Fremdheit‹ sei ein ›Interpretament von Andersheit‹ ist der Ausdruck einer skeptischen, die Bedingungen des Fremdverstehens reflektierenden Grundhaltung. Der Skeptizismus gegenüber der ›Verstehbarkeit‹ des Fremden erlaubt auch den Transfer auf das Verständnis des ›Eigenen‹: Das Verständnis von dem, was wir die eigene Kultur nennen, ist ebenfalls ein ›Interpretament‹ und keinesfalls ein ›sicherer‹ intellektueller Besitz. Die Skepsis der ›Hermeneutik der Distanz‹, die den Fächer der kulturwissenschaftliche Xenologie entscheidend in kritischer Absicht mitbestimmt, kann in den Kontext der von Mitscherlich skizzierten als Toleranz verstandenen ›Wissensmethodik‹ gestellt werden, in deren Praxis ein dialogisches Verständigungshandeln unverzichtbar ist.

L ITERATUR Aleida Assmann (1996): Die Spannung von Einheit und Vielheit als Grundstruktur der Toleranz. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Toleranz. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung. München, S. 83-102.

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Antweiler, Christoph (2009): Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2., aktual. und erw. Auflage. Darmstadt. Appiah, Kwame Antony (2007): Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München. Bausinger, Hermann (1975): Zur Problematik des Kulturbegriffs. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1, S. 7-16. Bremshey, Christian / Hoffmann, Hilde / May, Yomb / Ortu, Marco (Hg.) (2004): Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster. Honold, Alexander / Scherpe, Klaus R. (Hg.) (2000): Das Fremde. Reiserfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Frankfurt a.M. (=Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Beiheft 2). Horstmann, Axel (1993): Das Fremde und das Eigene – »Assimilation« als hermeneutischer Begriff (1986). In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriff und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München, S. 371-410. Hudson-Wiedenmann, Ursula (1999): Cultural Studies und Kulturthematische Praxis. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 25, S. 187-211. Kämpf, Heike (2003): Die Exzentrizität des Verstehens. Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und Ethnologie. Berlin. Kämpf, Heike (2012): Aspekte der Kulturanthropologie. Kultur, Mensch, Verstehen. Kap. Das Verstehen: Die Herausforderung fremder Kulturen. Saarbrücken, S. 139-174 Krusche, Dietrich (1983): Japan. Konkrete Fremde: Dialog mit einer fernen Kultur. 2., überarb. Auflage mit einem Namen- und Sachregister. Stuttgart. Lapide, Pinchas (1992): Der Fremdling in deinen Toren, In: Angelica Schütz / Mitterer, Felix (Hg.): Fremdsein. Literarische Wanderungen. Wien, S. 60-68. Mall, Ram Adhar (2000): Konzept der interkulturellen Philosophie. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 26, S. 307-327. Matthes, Joachim (2003): Vergleichen. In: Bogner, Andrea / Wierlacher, Alois (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 287-293.

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Matthes, Joachim (1992): »Zwischen den Kulturen?«. In: Ders. (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen, S. 3-9. Mitscherlich, Alexander (1974): Toleranz – Überprüfung eines Begriffs. Frankfurt a.M., zitiert nach Ders. (1983): Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt a.M., S. 429-455. Mitscherlich, Alexander (1983): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München. Mitscherlich, Alexander / Mitscherlich, Margarete (1977): Proklamierte und praktizierte Toleranz. In Dies. (Hg.): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München, S. 263-276. (Erstausgabe 1968). Rest, Walter (2002): Toleranz. Eine Bildungsaufgabe und eine Gewissensfrage (1948). In: Otto, Wolf Dieter / Wierlacher, Alois (Hg.): Toleranztheorie in Deutschland (1949-1999). Eine anthologische Dokumentation. Tübingen, S. 56-63. Sen, Amartya (2007): Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München. Simmel, Georg [1908]: Exkurs über den Fremden. In: Ders. (1968): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesammelte Werke, Bd. 2., 5. Auflage. Berlin, S. 509-512. Slezkine, Yuri (2006): Das jüdische Jahrhundert. Mit einem Vorwort von Dan Diner. Göttingen. Waldenfels, Bernhard (1990): Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M. Welsch, Wolfgang (2000): Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 26, S. 327-352. Wierlacher, Alois (1983): Mit fremden Augen oder: Fremdheit als Ferment. Überlegungen zur Begründung einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur. In: Krusche, Dietrich / Wierlacher, Alois (Hg.) (1990): Hermeneutik der Fremde. München, S. 51-80. Wierlacher, Alois (2003): Interkulturalität. In: Bogner, Andrea / Wierlacher, Alois (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 257-264. Wierlacher, Alois / Albrecht, Corinna (2003): Kulturwissenschaftliche Xenologie. In: Nünning, Angar / Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart, S. 280-306.

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THEMEN UND GEGENSTÄNDE

Orts-Botschaften Orte in Jordanien und Syrien G ÖTZ G ROSSKLAUS

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Wir befinden uns auf dem Berg Nebo in Jordanien – genauer auf dem Hügel Khirbet es Syagha. Wir blicken nach Westen hinunter auf das Jordantal und das Tote Meer – nur im Dunst zeichnen sich am Horizont schwach die Umrisse zweier Städte ab: Jerichos und Jerusalems: Eine wunderbare Aussicht. Auf dem Hügel lediglich die Überreste einer Basilika aus dem 6. Jahrhundert. Jetzt schreiben wir das Jahr 2009. Unsere augenblickliche neuzeitliche Wahrnehmung dieses Ortes versichert sich der Leistung unseres Vorstellungs- und Erinnerungsvermögens. Wir rufen uns ins Gedächtnis, dass es sich um einen besonderen Ort handelt: um einen uralten KultOrt, um eine geweihte, heilige Stätte – und zwar in Bezug auf eine bestimmte alttestamentarische Geschichte. Dieser besondere Ort verweist auf ein legendäres biblisches Ereignis in einem angenommenen Zeitraum des letzten Jahrtausends v. Chr. Hier habe Gott Moses das gelobte Land gezeigt, hier sei der Todesort des historisch sonst nicht bezeugten Mannes Moses, hier sei er von Engeln beigesetzt. So nimmt dieser Ort am Berg Nebo in der Topographie der kultischen Stätten im »heiligen Land« einen wichtigen Platz ein. Die Jahrhunderte der frühchristlichen Gedächtnisfeiern an diesem Ort haben zu seiner symbolischen Aufladung geführt. »Der Raum saugt gleichsam all die kollektiven Bedeutungen in sich auf, ist ge-

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sättigt mit ›Sinn‹, mit Vorstellungen und Werten, Gedanken und Gefühlen« (Egger 2003: 262), um sie für alle Zeiten im materialen Text des Ortes und des Raumes zu bewahren. An ihrem alten kultischen Versammlungsort bezeugt der »heilige Ort« den Christen die Wahrheit ihres Glaubens – wie umgekehrt der an dieser Stelle immer wieder bekundete Glauben den Sinn des authentischen Ortes überhaupt erst verbürgt. In seiner Topographie legendaire hat Maurice Halbwachs diese Thematik für die heiligen Stätten im Heiligen Land ausführlich behandelt. In unserem Zusammenhang einer Erkundung des Wechselspiels von Bote und Botschaft, von Botschaft und Empfänger ist interessant, wie sich diese Akte des Bezeugens und Verbürgens am Ort des Gedächtnisses als kommunikative Tauschhandlungen beschreiben lassen. Wenn Halbwachs nicht müde wird, von den zwei Seiten des Gedächtnis- oder Erinnerungsgegenstandes zu sprechen: »einerseits seiner materiellen Wirklichkeit [...] wie der eines Ortes im Raum – und auf der anderen Seite einer symbolischen Vorstellung, einer spirituellen Bedeutung [...] die sich an die materielle Wirklichkeit heftet« (Halbwachs 2003: 169) – dann erfasst er nichts anderes als den Zeichen-Charakter des Ortes überhaupt. Denken wir den Gedächtnisort als Versammlungsort und als Tauschort – so wäre der Raum als Medium vorzustellen, in dem ein spezifischer, raumsprachlich formulierter Orts-Text eine Botschaft überbringt, dessen Bote mit dem Empfänger identisch ist. Indem der Empfänger-Bote die Wahrheit des Orts-Textes verbürgt, bezeugt der Boten-Empfänger die Authentizität des Text-Ortes. Über die Botschaft des Ortes kommt es zum Tausch von »Bürgschaft« und »Zeugenschaft«. Kreisschlüssig verweist die Botschaft des »heiligen Ortes« auf sich selbst (Nora 1998: 40). Seit dem 4. Jahrhundert n.Chr. besuchen christliche Pilger die geweihte Stätte auf dem Berg Nebo. Auch nach der arabisch-islamischen Eroberung Syriens und Palästinas (631-635) blieb der Wallfahrtsort durch viele Jahrhunderte hindurch erhalten. Erst 1564 berichtet ein Franziskaner, der den heiligen Ort auf dem Berg Nebo aufsucht, »von einem verlassenen Ort mit zerstörten Bauten« (Scheck 2008: 265). Als Wallfahrtsort entdeckt das 19. Jahrhundert den Berg Nebo neu. So lässt sich von einer »materiellen und symbolischen Permanenz« (Egger 2003: 262) dieses Ortes sprechen. Die symbolisch-spirituelle Kommunikation im Medium des kultisch ausgezeichneten Raums kann nur im kollektiven Sinnrahmen der christlichen Heilsgeschichte gelingen. Der moderne, agnostische Tourist ist auf die Rol-

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le des Voyeurs verwiesen, der den heiligen Ort lediglich als exotischinteressante Stelle wahrnimmt. Als Voyeur aber partizipiert er an der RestAura des alten Kult-Ortes, Pierre Nora spricht von Überresten und Spuren, die die Bewegung der Geschichte am Ort der Erinnerung hinterlassen hat: von sichtbaren Zeichen dessen, was einst war (vgl. Nora 1998: 20). Die topographische Einheit des Raums, die eindeutige Begrenzung des Ortes erscheint »neuzeitlich« zersplittert, diffus, sowohl nach der Seite seiner materiellen Substanz, als auch nach der Seite seiner symbolischen Repräsentanz. »Das Heilige«– so heißt es bei Pierre Nora – »steckt jetzt in der Spur, die doch seine Negation ist« (ebd.: 23). Die fragmentarische Raum-Schrift der Spur übergibt dem modernen Touristen-Pilger keine Botschaft mehr, sondern lediglich Daten.

P ROFANE T AUSCHORTE :

DIE

B OTSCHAFT

DER

D INGE

Ein arabischer Suq ist der profane Tauschort par excellence. Betreten wir den Suq von Damaskus, betrachten wir seine Topographie abstrakt von »oben«, so fallen jene zwei Raum-Muster auf, nach denen das gesamte Raumfeld gegliedert und strukturiert ist: • •

das Raum-Muster des Netzes (der sich verzweigenden Gassen), das Raum-Muster des Platzes (der Innenhöfe, der Khane).

Bewegen wir uns durch den Raum des Suq, nehmen wir das räumliche Netz als verwirrendes Labyrinth wahr, dessen Ordnung nach Arealen der unterschiedlichen Gewerbe sich dem Fremden erst nach und nach erschließt. Den sich hinter Torbögen öffnenden Platz und Hof des Khans, dessen Galerien- und Kolonnaden-gesäumte Gebäude früher als Herberge und Warenlager der Karawanen aus fernen Ländern dienten, nehmen wir wahr als beruhigte Zone und Insel inmitten der Flüsse und Ströme des Labyrinths. Wir befinden uns überall im Reich der Dinge, der Waren und Güter – und doch vermittelt die materielle Wirklichkeit der unterschiedlichen Orte – der SuqGassen, der Khane – die funktionale und symbolische Differenz: Die Tausch-Rituale gingen im Labyrinth der Gassen anders vonstatten als in den Höfen der Khane, den Orten der Ankunft und Abreise der Karawanen, den Orten des Waren- und Güterumschlags, der Lagerung und Verteilung,

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den Orten der Herberge für die Karawanenführer und -begleiter. Mit etwas historischer Phantasie könnte man sich vorstellen, dass im geschlossenen, abgegrenzten Ort des Khans sich materialer Güter-Tausch immer auch als symbolischer Tausch von Kenntnissen, Fertigkeiten, von Konzepten und Rezepten abgespielt hat. Der Tausch- und Umschlag-Ort des Khans war immer auch Ort des kommunikativ-transkulturellen Tausches von Botschaften. Der materiale Tausch von Dingen ging einher mit dem Tausch von Informationen, Nachrichten und Geschichten aus der Fremde einer anderen Kultur. Als direkte Boten kommen die Händler, die Karawanenführer, kommen Handwerker und Künstler in Frage. Sie sind es, die am Versammlungs- und Tauschort der Khane mit den Einheimischen zusammentreffen. Auszugehen ist davon, dass die Suq-Khane so etwas wie verdichtete kommunikative Knotenpunkte bildeten – im weitläufigen Netzwerk der Suq-Gassen. Das materielle Korrelat dieser Verdichtung ist der abgeschlossene Innenraum des Khan-Hofes. Gewissermaßen am Gegenort zu diesen umfriedeten Höfen werden in den Gassen die Einzel-Güter ausgestellt, angeboten, gehandelt und getauscht. Das Angebot macht auf die dem Waren-Ding eingeschriebene Botschaft aufmerksam. Der Zeichenkörper des Dings selbst verweist auf den kulturellen Kontext seiner Herkunft und seiner Verwendung – so z.B. für fremde Objekte wie Papyrus und Idole aus Ägypten, Seide aus China, Weihrauch, Myrrhe, Aloe und Kassia aus Südarabien etc. Symbolisch konnotiert das fremde Objekt seinen Status, seine Funktion und sein Versprechen im Gefüge der kollektiven Bedürfnisse, Wünsche und Begierden der anderen Gesellschaft. Als Fetisch übernimmt das Ding die Rolle des Boten seiner Botschaft. Fügen wir noch einen Satz von Marx – in Abwandlung – an: Man sieht, wie die Geschichte der Industrie [= des Karawanen-Handels] und das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie [= des Suqs] das aufgeschlagene Buch der menschlichen Bewusstseinskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist (Marx 2012: 542).

In historischer Sicht sind die großen Suqs der einflussreichen arabischen Metropolen Damaskus und Aleppo durch Jahrhunderte Orte des fluktuierenden Tausches materialer und symbolischer Güter gewesen: von Dingen, Botschaften und Geschichten. Seit dem 2. Jahrhundert v.Chr. verbindet ein

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Netz von Seidenstraßen den fernen Osten Chinas und Indiens mit den Tausch- und Umschlagplätzen in Syrien. Aber schon ab Mitte des 3. Jahrtausends v.Chr. wird die Weihrauchstraße genutzt zum Gütertausch zwischen Südarabien, Ägypten, Mesopotamien und der Mittelmeer-Region. Die Suqs von Damaskus und Aleppo liegen im Schnittpunkt dieser großen Handelsrouten: Orte äußerster Verdichtung und Akkumulation. Unterschiedlichste Waren- und Informationsströme fließen hier zusammen. In den Khanen, den Karawansereien begegnen sich Menschen aus den Weiten der damaligen Ökumene. Die Suqs und ihre Khane werden zu Orten intensivsten transkulturellen Austausches. Stellen wir sie uns vor als besondere Versammlungsorte einer Menge von Boten und Empfängern, als einzigartige Tausch-Orte einer Vielzahl von Botschaften – übrigens immer in der unmittelbaren Nachbarschaft zu den Stätten, die allein dem mentalen Austausch von Botschaften zwischen den Irdischen und dem Überirdischen gewidmet sind: den Moscheen.

D ER R UINENORT : (P ALMYRA)

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B OTSCHAFT

DER

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Am Abend sitze ich auf den Mauern einer Burg aus der Osmanenzeit – und schaue vom Burgberg herab auf das Ruinenfeld der Jahrtausende alten Oasenstadt Palmyra in der Syrischen Wüste. Etwa 150 km weiter östlich fließt der Euphrat. Vor genau 224 Jahren hatte vom gleichen Aussichtspunkt auf dem Burgberg, zur gleichen Abendstunde der Comte Constantin Francois de Volney auf die Ruinen von Palmyra herabgesehen und war in tiefes Nachdenken versunken: Der Anblick einer großen verödeten Stadt, das Andenken an vergangene Zeiten, die Vergleichung mit den gegenwärtigen Zuständen, alles erhob mein Herz zu hohen Gedanken [...] Hier, sagte ich zu mir, hier blühte ehemals eine begüterte Stadt; hier war der Sitz eines mächtigen Reichs. Eine lebendige Menge beseelte vormals diese jetzt so verödeten Plätze und belebte ihren Umkreis. In diesen Mauern, wo jetzt totes Schweigen herrscht, ertönte unaufhörlich das Geräusch der Künste, das Geschrei der Festlichkeit und Freude [...] Hier sammelte sich ein zahlreiches Volk, um die ehrwürdigen Pflichten des Glaubens zu verrichten [...] hier rief eine an Genüssen schöp-

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ferische Erfindungskraft die Reichtümer aller Himmelsgegenden herbei. Der Purpur von Tyrus wurde gegen die kostbare Seide von Serica, die reichen Gürtel von Kaschmir gegen die prächtigen Teppiche von Lydien, der Ambra des Baltischen Meeres gegen die Perlen und Wohlgerüche aus Arabien, das Gold von Ophir gegen das Zinn von Thule vertauscht [...]. Und was bleibt jetzt von dieser mächtigen Stadt? – ein trauriges Skelett. Was bleibt von einem großen Gebiet? – ein dunkles, leeres Andenken! (Volney 1977: 24f.).

Der melancholische Blick des Comte ist gebannt gerichtet auf das Hier dieses Ruinenorts vor seinen Augen; gefangen in diesem gegenwärtigen Augenblick des Jetzt erweckt der Anblick von Ödnis und Untergang nur ein »dunkles und leeres Andenken« an die einstige Größe. Dem Hier und Jetzt des Ruinenorts versucht die Imagination des Gewesenen zu entkommen. Doch die Schattenbilder des Vergangenen scheinen die Trauer im Anblick des geschichtlichen Verhängnisses nur zu bestärken. Was geht in dem einsamen Betrachter und Reisenden des 18. Jahrhunderts vor? Wie verhalten sich sein Anblick (vergangener Größe), seine Vergleichung (mit seiner Gegenwart), und sein Andenken zum konkreten und sichtbaren Trümmerfeld als »authentischen Ort«? Als der Comte de Volney nach dreitägigem Marsch durch die Wüste Palmyra erreicht, trifft er dort nur auf ein paar arme arabische Bauern, die in Strohhütten am Eingang des großen Baal-Tempels hausen. Hier findet Volney Gastfreundschaft und Unterkommen. Mit Sicherheit ist er an diesem Tag des Jahres 1784 der einzige europäische Reisende in Palmyra. Wir sind indessen nicht mehr die einzigen in Palmyra – auf dem Aussichtsberg. Zerstreut lassen wir unsere Blicke schweifen, Versunkenheit im Anblick des Ruinenfeldes stellt sich nicht mehr ein. Die Erlebnisse der frühen Reise-Abenteurer bleiben uns versagt. Angereist im Bus besichtigen wir den Ruinenort nicht mit der inneren Sammlung des einsamen, von Trauer über das geschichtliche Vergängnis erfassten Reisenden des Jahres 1784. Der Ruinenort jedoch dürfte sich – von einigen Ausgrabungen und Freilegungen abgesehen – nicht wesentlich verändert haben. Verändert aber haben sich offensichtlich die Formen der Wahrnehmung und des Andenkens – und damit die Lesarten einer diesen Überresten eingeschriebenen Botschaft. Überhaupt erst nach Jahrhunderten des Absinkens in die vollkommene Bedeutungslosigkeit und Verödung wird Palmyra von ein paar europäischen Orient-Reisenden im 17. und 18. Jahrhundert als exotischer Ruinen-

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ort (wieder)entdeckt. In Europa aber werden ihre Berichte kaum zur Kenntnis genommen. Erst der 1787 veröffentlichte Reisebericht des Comte de Volney Voyage en Egypte et en Syrie findet aufgeklärte Leser, die sich in ihrem säkularen Verständnis geschichtlicher Abläufe bestätigt sehen. Tatsächlich artikuliert Volneys Text einen Wahrnehmungswandel: Ein Ruinenort im fernen Syrien, der – anders als etwa die »heiligen Stätten« in Palästina – nicht dem sog. christlich-okzidentalen Erinnerungs-Kontext zuzurechnen ist, erfährt die Würdigung als ein Gedächtnisort ganz anderer Art wahrgenommen zu werden. Es geht nicht mehr darum, an einem ausgezeichneten Ort die kollektive Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis der eigenen (nationalen) Geschichte wachzuhalten, sondern darum, den fremden Ruinenort als Schauplatz universal-historischer Abläufe aufzufassen: »Und was bleibt jetzt von dieser mächtigen Stadt? – ein trauriges Skelett. Was bleibt von einem großen Gebiet? – ein dunkles, leeres Andenken! […] Gehen so die Werke der Menschen zu Grunde? Verschwinden so Reiche und Nationen?« (ebd.: 25). Nichts anderes beschreibt dieses Fazit Volneys als die neuzeitliche Transformation eines entlegenen exotischen Ruinenortes in einen »universalen Gedächtnisort« der Zeugnis ablegt von der Geschichte als Kette ewiger Auf- und Niedergänge: eine Botschaft, die sichtbar niedergelegt ist in dem Text, den eine Masse von Spuren zusammensetzt. Der Spuren-Text bekundet, die Wahrheit der Geschichte: eine Botschaft, die im Betrachter Gefühle des Erhabenen und der Trauer zugleich zu erregen vermag. Das 19. Jahrhundert wird Landschaften und Regionen fernab Europas mit einem Netzwerk »universaler Gedächtnisorte« überziehen. Der europäische Reisende wird sich als Spuren-Kundiger verstehen, um sich, wo immer er hingelangt, an den bezeichneten Orten dem Studium der immer gleichen Botschaft widmen zu können. Anders allerdings als der Tourist des 20./21. Jahrhunderts wird er sich in der Regel besonders kundig machen, um vor den Ruinen allen Spuren nachgehen zu können. Alles, auch das geringste Trümmerstück auf dem Ruinenfeld, erlebt seine parallele Transformation zur Spur, die von der Wahrheit des Gewesenen zeugt: jeder Stein wird zum Zeichen dessen, was einst war. Pierre Nora spricht von den Gedächtnisorten als den »flüchtigen Heiligtümern in einer Gesellschaft der Entheiligung« (ebd.: 19f.) – von einer Ritualisierung der Begehung von Gedächtnisorten in einer Zeit der Entritualisierung. »Das Heilige steckt jetzt in der Spur« (ebd.: 23).

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Wenn Reisende des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Volneys nach Palmyra kamen, besuchten sie schon einen, im Netzwerk der Gedächtnisorte besonders markierten und angeeigneten Ort, an dem man sich dem europäischen Kult der Geschichte hingeben konnte. So errichteten die Europäer ihre »flüchtigen Heiligtümer« des Gedächtnisses überall in der Fremde – in Form eines symbolischen Kolonialismus. Die Orts-Aneignung ging einher mit der funktionalen Festlegung der Rollen von Bote, Botschaft und Empfänger. Man bedurfte der Materialisierung in Form des dinglich-konkreten Spuren-Feldes, um sich der Geschichte zu vergewissern. Allein die sichtbare Spur verbürgt die Wahrheit des geschichtlichen Prozesses, dessen Ziel der Untergang ist. Diese Botschaft überbringt der dingliche Bote der authentischen Spur. In der Tat erlangt die Spur in diesem Kontext den Status des allein gültigen Zeichens und Symbols. Der Reisende betritt den »universalen Gedächtnisort« als Kundiger: wiederum nur im Rahmen von »festgelegten Beständen kulturellen Wissens« (Egger 2003: 265) gelingt ihm die Dechiffrierung der Zeichen-Spur – nur so findet er kreisschlüssig Zugang zum »Ersatz-Imaginären der Geschichte« – wie Pierre Nora es ausdrückt (1998: 41). Für den frühbürgerlichen Reisenden wie Volney ging der Reise ins Imaginäre der Geschichte eine intensive Vorbereitungs-Arbeit voraus. Nach einem Studium der alten Sprachen und der Geschichte entschloss er sich 1782 zu seiner Reise nach Ägypten und Syrien, auf die er sich gezielt noch einmal ein Jahr lang vorbereitete. In Ägypten hielt er sich 8 Monate in einem koptischen Kloster auf, um sich in der arabischen Sprache zu vervollkommnen. Erst danach begann er seine fast vier Jahre dauernde Wanderung durch den Vorderen Orient (Günther 1977: 359f.). Vergleichen wir diesen Zusammenhang von Interesse – Studium – Sprachkenntnissen und OrtsErkundung mit einem gebuchten Besichtigungspaket unserer Tage, wird überdeutlich wie fundamental sich die Wahrnehmungen in Raum und Zeit geändert haben. Beschleunigt bewegt sich der moderne Tourist in dem zum Netzwerk von »Event-Spots« mutierten alteuropäischen Netz der Gedächtnisorte. Der Beschleunigung der Bewegung von Event-Spot zu Event-Spot entspricht eine zerstreute Wahrnehmung in einem engen Zeitfenster von Stunden. Die symbolische Dimension der Spur als authentisches Zeichen bleibt dieser Wahrnehmung verschlossen, der es darauf anzukommen scheint, pro Zeiteinheit möglichst viele äußere Einzel-Eindrücke zu sammeln. In dieser

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Hinsicht hat sich unsere Wahrnehmung der fotografischen Aufnahme in Tempo und Punktualität angeglichen. Die zerstreute Wahrnehmung schweift umher, ohne allzu lange zu verweilen. Die Spuren eines Ruinenortes vermitteln dem modernen Touristen Informationen und Daten – aber keine Botschaft. Die quasi-rituelle Differenz des Gedächtnisortes: seine auratische Besonderheit erscheint geschleift. Das zwischen Boten und Empfängern vereinbarte Spiel des Austausches von Botschaften ist geschrumpft zur flüchtigen Daten-Übergabe. Der universale Gedächtnisort erlebt seine Einebnung zum botschaftslosen globalen Event-Spot.

L ITERATUR Egger, Stephan (2003): Auf den Spuren der verlorenen Zeit. Maurice Halbwachs und die Wege des »kollektiven Gedächtnisses«. In: Halbwachs, Maurice: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land (Topographie legendaire des Evangiles en Terre Sainte). Konstanz, S. 219268. Halbwachs, Maurice (2003): Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis. (Topographie legendaire des Evangiles en Terre Sainte). Übersetzt und hg. von Stephan Egger. Konstanz. Marx, Karl (2012): Ökonomisch-philosophische Manuskripte: 3. Manuskript: Privateigentum und Kommunismus. In: MEW, Bd. 40. Berlin. Mensching, Günther (1977): Zur Dialektik des Kosmopolitismus in Volneys »Ruinen«. Nachwort in: Volney, Constantin François de: Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche. Frankfurt a.M., S. 331-363. Nora, Pierre (1998): Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M. Scheck, Frank Rainer (2008): Jordanien. Völker und Kulturen zwischen Jordan und Rotem Meer. 4. Aufl. Ostfildern. Volney, Constantin François de (1977): Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche. Mit einem Essay und hg. von Günther Mensching. Frankfurt a.M.

Reden und Essen im und vor dem Fernseher Serienfiguren und Serienzuschauer im Umgang mit dem Kulinarischen1 R EGINA F. B ENDIX

Frau M. hat Schälchen mit Oliven und Nüssen auf den kleinen runden Tisch vor dem Sofa gestellt. Ihr Mann sitzt bereits im Ohrensessel und während er sich an einer Pralinenschachtel zu schaffen macht, bringt Frau M. noch den Rotwein und eine Flasche Mineralwasser. Es ist Sonntag, der ARD-Nachrichtensprecher ist schon fast durch mit dem Sport, gleich kommt das Wetter, dann die Ankündigung weiterer Programme, gefolgt von der Bierwerbung und schließlich beginnt der Tatort, markiert durch das seit mehr als vierzig Jahren genutzte Augenpaar und die untrennbar damit verbundene, unfertig gehaltene Jazzmelodie. Das Ehepaar M. ist im Ruhestand. Wenn die beiden zu Hause sind, wird am Sonntagabend meist der Tatort geguckt. Das Abendessen liegt dann schon 1-2 Stunden zurück, aber elegante Knabbe-

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Dieser Beitrag baut u.a. auf Materialien auf, die im Rahmen des Teilprojektes »Alltagsintegration und soziale Positionierungen von Heft- und Fernsehserien« der von Prof. Dr. Frank Kelleter geleiteten DFG Forschergruppe 1091 »Populäre Serialität« erhoben wurden (vgl. http://serialitaet.uni-goettingen.de/about). Dank geht an meine Projektmitarbeiterin Christine Hämmerling sowie an Lisa Peppler, die in der Antragsphase erstes Material erhoben hat. Gewährspersonen aus meiner eigenen teilnehmenden Beobachtung wie auch aus derjenigen meiner Mitarbeiterin sind anonymisiert.

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reien und ein schöner Wein gehören allemal dazu. Geredet wird wenig; hin und wieder hat Frau M. eine Verständnisfrage – die heutige Episode spielt jedoch in Kiel und nicht in Wien, wo das Idiom bisweilen stärker ausgeprägt ist. Während die Handlungsstränge sich entfalten, kommt es zu kleinen Anmerkungen und Vermutungen, wer nun wohl der Täter sein könnte. Mit Sendungsschluss steht Herr M. auf, und während er beginnt, Gläser und Schälchen zusammenzustellen und wegzuräumen, wird die Qualität der Sendung besprochen, und schnell mischen sich andere Anliegen – die Gestaltung des kommenden Tages, ein Brief, der noch fertig geschrieben werden müsste – in das Gespräch (Feldnotizen vom 9.9.2012).

Der Tatort ist in den Jahrzehnten seit seiner Erstausstrahlung 1971 zu einer deutschen Institution geworden. Mit Ausnahme einer Sommerpause wird fast jeden Sonntagabend um 20:15 Uhr ein neuer Tatort-Krimi im Ersten Deutschen Fernsehprogramm (ARD) ausgestrahlt. Gestaltet in abgeschlossenen Erzählungen und lokalisiert mit wechselnden Ermittler-Teams in verschiedenen Städten und Bundesländern ist Tatort zu einer in ihrer föderalistischen Anlage einzigartigen Reihe gewachsen (Hißnauer u.a. 2012). Wesentlichster Grund für diesen auch unter Serien ungewöhnlichen Langzeiterfolg sind Zuschauer wie Herr und Frau M., die den Tatort gleichsam zu einem Fixpunkt ihres Sonntags gemacht haben und die 90-minütige Sendung als Schlusspunkt des Wochenendes und Einläuten der neuen Woche betrachten (Bendix, Hämmerling, Masse und Nast 2012). Das altersmäßige Gegenstück zum Ehepaar M. sind mittlerweile tausende von Zuschauern zwischen 20 und 30, die sich den Sonntagskrimi alleine, zu zweit oder in kleinen Gruppen in einer Kneipe beim Public Viewing ansehen; Großstädte machen dies gleich in Dutzenden von Lokalen möglich, aber auch Mittelstädte und insbesondere Universitätsstädte weisen meist ein paar Kneipen auf, wo man sich den Tatort live ansehen kann – was wiederum von der ARD als koordinierendem Medium der Reihe aktiv gefördert wird.2 Es gibt Wohngemeinschaften, die neben diversen Serien und Soaps auch Tatort gemeinsam anschauen; Familien mit Kindern, Tatortsehgemeinschaften ebenso wie überzeugte Einzelgänger gehören zur Zuschauerschaft, die wö-

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Auf der Homepage des Tatort beim ARD wird für das gemeinsame Ermitteln beim Public Viewing geworben und entsprechende Poster können bestellt werden; vgl. http://www.daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/specials/gemeinsamermitteln-100.html (überprüft am 7.7.2012).

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chentlich Einschaltquoten zwischen 5 und 8 Millionen aufweist. Trinken und Knabbern, bisweilen aber auch Essen gehört wie beim Ehepaar M. sehr oft zu diesem Sonntagsritual. Diese sonntagsrituelle Verankerung eines Fernsehkrimis macht die Frage nach dem »Tischgespräch« im und vor dem Fernseher besonders reizvoll – denn eigentlich sollte es gar nicht stattfinden: Die soziale Situation des Fernsehens verlangt nach Konzentration auf das Programm, zusätzliche Unterhaltung wird mehr oder weniger streng geahndet. Die Gattung Krimi ist handlungsgetrieben, die Ermittler decken einen Mord und weitere Machenschaften auf, und wenn sie sich doch einmal zum Essen hinsetzen, darf man darauf zählen, dass ein Anruf mit Aufforderung, sich schleunigst an den Tatort, ins Labor, zur Pathologie, zum Staatsanwalt, zu einer Zeugin, zu Verdächtigen – aber doch auf jeden Fall irgendwohin zu begeben, diesen Anflug an Muße sogleich wieder unterbricht. Wie so oft wiederlegt jedoch die Praxis die Theorie, und dies gibt mir Gelegenheit, im Folgenden zuerst zu zeigen, dass das Totalphänomen Essen (Marcel Mauss, vgl. Wierlacher 2008a) in der populären Gattung des (Fernseh-)Krimis eine genauso wichtige Rolle spielt wie in der Belletristik (vgl. Wierlacher 1987). In einem zweiten Teil soll das Essen und Flüstern der Zuschauer während des Fernsehkrimis beleuchtet werden und in einem dritten, ausblickenden Teil schließlich den Spuren der Interdependenzen von on and off screen Essen nachgegangen werden. Die Erforschung von Tatort hat, nicht zuletzt wegen des 40-Jahre Jubiläums 2011, erheblichen Aufschwung genommen, doch ist die Facette des Essens dabei fast gänzlich außen vor geblieben, sodass dieser Beitrag nicht nur zum »Tischgespräch« sondern auch zur TatortForschung beitragen möchte.3

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Stockinger (2011) hat sich mit dem Katholizismus im Tatort auseinandergesetzt; Scherer und Stockinger (2010) haben an der Dimension des Raums gearbeitet, Bollhöfer (2007) widmete sich dem Räumlichen im Kölner Tatort und Welke (2012) untersuchte ostdeutsche Identitätskonstruktionen nach der Wende anhand des Leipziger Tatorts.

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W ARUM T ATORT -E RMITTLER SEHR WOHL

ESSEN

Die Grande Dame unter den lebenden Krimiautorinnen, P.D. James, publizierte 2009 ein Buch zum Krimischreiben, in welchem sie auch verdeutlichte, dass der Einbezug des Alltäglichen Detektive zu glaubhaften Personen macht. Man darf hier schon fast von einer ethnographischen Affinität sprechen (Bendix 2012), und manche Krimiautorinnen, wie etwa Sarah Paretsky oder Jenny White, verfügen auch über eine entsprechende wissenschaftliche Qualifikation. Essen als lebensnotwendige Aktivität ist gleichzeitig ein Kommunikationssystem, dessen semiotische Potentiale sich zur narrativen Vermittlung alltäglicher Lebenssituationen im Krimi bestens eignen. Hat Agatha Christie ihren Belgier Hercule Poirot noch stereotyp mit einem Hang zu vornehmster frankophiler Küche ausgestattet, ist Andrea Camilleris sizilianischer Montalbano höchst glaubhaft der Küche seiner eigenen Region verfallen, und die Leserin kann anhand seines häufigen zu viel Bestellens im Lieblingsrestaurant, der gelegentlichen Flasche Whiskey und seiner Dankbarkeit für das, was die Haushälterin jeweils in seinem Ofen warmstellt, seinen Gemütszustand ebenso wie seine Einschätzung des Gangs seiner Ermittlungen nachvollziehen. Henning Mankells Wallander ist das Paradebeispiel des sich schlecht ernährenden und die gesundheitlichen Konsequenzen erfahrenden südschwedischen Polizeibeamten, und auch Colin Dexters Morse trank zu viel. Während Tatort-Teams der 1970er und 80er vor allem ermittelten und ihren Charakter noch am ehesten im Umgang mit Vorgesetzten und Untergebenen entfalteten, haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten Aspekte des Privatlebens zunehmend in den ARD Sonntagskrimi eingeschlichen und die Einbettung in das Alltägliche gefördert. Die Folgen im Ruhrgebiet, die auch unter dem Namen des Titelhelden Schimanski bekannt wurden, bereiteten diese Wende und damit auch eine Popularitätssteigerung des Tatort vor. Dies beinhaltet etwa das Familienleben von Freddy Schenk im Kölner Team, dessen Tochter im Lauf der Jahre erwachsen und schließlich alleinerziehende Mutter wurde. Die niedersächsische Kommissarin Charlotte Lindholm, eher unglücklich in ihren diversen Beziehungen, erzieht ihren Sohn mit unbekanntem Vater mittlerweile alleine. Der geschiedene Kieler Borowski erhält bisweilen Telefonanrufe seiner Teenage Tochter und war nicht fähig, die Beziehung zur Polizeipsychologin auf eine solide Grundlage zu stellen, und die Leipziger Kommissarin Saalfeld erhält als Kollegen

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ausgerechnet ihren im Westen zurückgelassenen Exmann Keppler. Keines dieser Beziehungsgeflechte dominiert in der Erzählung des jeweiligen Falles – nicht zuletzt weil Zuschauer zwar Charaktere von Fleisch und Blut erfahren, aber einen Krimi sehen wollen. Die Ermittler gewinnen so – wie dies in der seriellen Ästhetik unabdingbar ist (Kelleter 2012) – an Konturen. Selbst wenn jede Folge in sich selbst geschlossen ist, bauen die Zuschauenden Wissensbestände auf, die beim nächsten Fall mit Team Köln, Team Stuttgart oder Team Bodensee latent vorhanden sind und ein sich verdichtendes Gewebe, ein kumulatives Narrativ (Newcombe 1974, vgl. Mittell 2007) bilden, das für treue Zuschauer das Sehvergnügen erhöhen kann. Als Reihe unterscheidet sich Tatort zwar von Serien, wo der Aufbau affektiver Nähe zu Charakteren für Zuschauende wichtig und für Erzählende entsprechend wesentlich ist (Eder 2006; Ganz-Blättler 2011), aber es baut sich über die Ermittler-Figuren und die jeweiligen Polizeidezernate, über Sekretärinnen und Pathologen Kontinuität auf, die wiederum mit der jeweiligen Region verbunden ist und zumindest für einen Teil der Zuschauer die Identifikation erhöht.4 Trinken und Essen gehören zur Konstruktion der Realitätsnähe nicht nur der Figuren selbst, sondern auch ihres sozialen Miteinanders. Eingefleischte Tatort Fans wissen um die Rolle des Kulinarischen bei ihren Lieblingsermittlern. Der Kölner Tatort beinhaltet oft einen Stopp bei »der« Currywurst Bude5 oder die Episode endet dort, und über dem Bier und der meist von Freddy Schenk gegessenen Wurst kommt es auch zum schweigenden Austausch von Blicken, die das Nichteinvernehmliche der geleisteten Ermittlungsarbeit bereinigen, oder zum (Stehtisch-)Gespräch, das sich fast immer um Familiäres dreht – Freddy wirft dem Kollegen Ballauf seine

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Tatort hat damit das »City Branding« auf kleinem Feuer vorbereitet, welches im amerikanischen Serienschaffen heute essentiell geworden ist; die Krimiserie CSI ist gleich auf mehrere Großstäde verteilt; Serien wie Dallas, Grey’s Anatomy (Seattle) oder Breaking Bad (Albuquerque) werben direkt und indirekt für bestimmte Städte und etablieren so eine Verbindung zwischen Fernseh- und Tourismusmarkt.

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Diese Wurstbude ist längst auch Teil des Kölner Tourismusangebots, obwohl sie eigentlich gar nicht da steht, wo sie jeweils im Tatort gezeigt wird (vgl. http://www.koeln.de/koeln/koelns_beruehmteste_wurstbude_sucht_neues_zuha use_318096.html, überprüft am 7.10.2012).

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Beziehungsunfähigkeit vor, Ballauf fragt danach, warum Freddy sich so sehr, ja, zu sehr in das Leben von Tochter und Enkelin einbringt. Neben diesen regulären, rudimentären Mahlzeiten gibt es immer wieder das Versprechen eines guten Essens, etwa bei der Ludwigshafener Kommissarin Odenthal, die die Wohnung – aber keine Liebesbeziehung – mit dem Arbeitskollegen Kopper teilt. Kopper ist italienischer Abstammung, versteht viel von Rotwein und nutzt seine Pasta-Kochkünste, um etwas wieder gutzumachen oder um die niedergeschlagene Kollegin aufzurichten; zum Essen selbst kommt die Kommissarin aber meistens nicht, weil die Arbeit ruft; aber bisweilen findet Odenthal Indikatoren dafür in der Küche, dass Kopper wohl eine Dame mit eben solchem Essen bezirzt hat. Das Münchner Team setzt kaum auf die Vertiefung des persönlichen Lebens der beiden Kommissare, doch immerhin sieht man Kommissar Ivo Batic gelegentlich beim Vertiefen seiner Kochkünste. Bis 2007 ermittelte in Leipzig Kommissar Ehrlicher, dessen gleich ihm alternde Freundin einen Waschsalon mit Kneipendimension führte, und wo er, bisweilen begleitet von seinem Teamkollegen Kain auf einen Absacker einkehrte und in minimaler Weise ein Tischgespräch pflegte – über den gelösten Fall, über die Unlust zu Urlauben, über sein Desinteresse, seine Wohnsituation zu verändern. Am demonstrativsten wird Essen als Marker für Status und Zugehörigkeit im Münsteraner Tatort eingesetzt. Kommissar Thiel gibt den fahrradfahrenden Proleten, dessen Kühlschrank meist leer ist. Er verfügt nicht einmal über einen Esstisch, sondern isst für gewöhnlich Brot und Aufschnitt aus der Packung gleich vor dem Fernseher und das in der Wohnung gegenüber derjenigen seines Vermieters, der den ostentativen Bourgeois mit Hang zu ausgezeichnetem Essen, hochwertigem Wein und elegantem Geschirr verkörpert und der gleichzeitig als Professor Boerne die Rolle des Pathologen inne hat. Doch es gibt auch die subtileren kulinarischen Marker im Tatort. Der allgegenwärtige Kaffee kommt mal aus dem Automaten des Dezernats, mal wird er von einer Sekretärin liebevoll aufgebrüht und in richtigen Tassen serviert. Kaffee, selbst wenn seine schlechte Qualität durch Blicke kommuniziert wird, hält wach und kommentiert die Daueranstrengung der Ermittler-Arbeit.6 Ebenso unterschwellig äußert sich der Status zuarbeitender

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Von Gewährspersonen aus dem Bereich Polizei, die Christine Hämmerling für unser Projekt interviewte, wurde, gefragt nach dem Realitätsbezug des Tatorts,

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Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in verschiedenen Tatortsettings über Essen. Franziska (deren Nachname quasi nie genannt wird) unterstützt das Kölner Team Tag und Nacht, hält Kaffee und Aspirin bereit, wird aber selbst kaum eingeladen zur finalen Wurst; ihre vergebliche Suche nach einer dauerhaften Beziehung ebenso wie nach Anerkennung durch ihre Vorgesetzten äußert sich auch im alleine verzehrten Snack vor ihrem Computer. Carlo Menzinger wurde als zudienender Ermittler vom Münchner Team Batic und Leitmayr immer wieder des Essens »beraubt«: die Kommissare nahmen das, was er für sich geholt hatte, mit größter Selbstverständlichkeit als eine Dienstleistung seinerseits für seine Vorgesetzten in Anspruch. Ein sorgfältiges Durchforsten der verschiedenen Tatort Reihen würde die integrale Nutzung von Essen als Beziehungs- und Statusmarker in einem Gutteil der Teamanlagen aufzeigen. Gekoppelt mit einem Blick auf Schweigen und Reden, Palavern und Nicht-Reden-Können beim Essen dürfte damit auch ein Messer der Realitätsdimension der jeweiligen Teilreihe ersichtlich werden.

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Wer Krimis liest, tut dies abgesehen von Vorlesesituationen alleine. Und wer liest, nutzt meist seine Hände zum Offenhalten des Buches, so dass die Hände höchstens frei sind, um mal eine salzige Knabberei oder ein Bonbon in den Mund zu schieben. Fernsehen dagegen befreit die Hände, denn der Inhalt wird durch das Gerät an Ohren und Augen vermittelt, und die ständig anwachsende Größe von Bildschirmen ermöglicht durchaus ein Hantieren mit Gläsern, Tellern und sogar Besteck, ohne dass das Geschehen aus den Augen verloren ginge. Das Fernsehen steht, so könnte man meinen, dem Tischgespräch entgegen. Die auf das Geschehen auf dem Bildschirm gerichtete Aufmerksamkeit mindert, so läuft das Argument, die Zuwendung zum »lebenden« bzw. anwesenden, essenden Gegenüber. Der Fernseher mag nicht gleichermaßen in deutsche Haushalte verwoben sein wie dies etwa in den USA der Fall ist, wo Fernseher so häufig Mahlzeiten begleiten wie das hierzulande das Radio

gar geäußert: »Es stimmt da eigentlich gar nichts, außer dass wir morgens auch einen Kaffee trinken« (vgl. Hämmerling/Hißnauer, im Druck).

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tut. Doch ist die Integration von Medien in das Alltagshandeln ein kulturell vielleicht unterschiedlich gehandhabter, aber historisch überall nachvollziehbarer Prozess. Auch die Zeitung am Frühstückstisch war einst eine zu verhandelnde Neuerung, während es heute nicht ungewöhnlich ist, dass Familienmitglieder neben papiernen Lokalzeitungen beim Frühstückskaffee auch noch weitere Nachrichtenquellen über iPad und Handy konsultieren – und je nach Lust und Laune über das Gelesene auch miteinander reden. Neue Gerätschaften regulieren das soziale Miteinander (Elias 1992), und wenn Kommunikationsgeräte auch nicht gleich dem Besteck direkt den Essvorgang beeinflussen, so umgeben sie doch die Esssituation, verdichten sie im Falle des Radios kommunikativ oder musikalisch und beeinflussen den Gesprächsverlauf, etwa durch Inhalte aus den Nachrichten. Auch das Medium Fernsehen ist längst in individuelle und kollektive Momente des Alltags eingebunden, wie dies Hermann Bausinger in kulturwissenschaftlichen Geschichten (2011) und Lothar Mikos in verschiedenen Arbeiten zur Integrierung von Fernsehserien im Zuschauerleben darstellen (1993; 2000). Insbesondere Sportanlässe laden zu gemeinschaftlichem Fernsehen ein, wie etwa Fußball-Europa- und Weltmeisterschaften, während welcher sich nicht nur Familien gemeinsam vor dem Fernseher einfinden, sondern auch Lokale unterschiedlichster Größenordnung mit Bildschirmen drinnen und bei guter Witterung auch draußen zum gemeinsamen Mitfiebern – und gemeinsamen Konsumieren – einladen. Für die in Deutschland ausgerichtete Fußball-Weltmeisterschaft 2008 installierten viele Gaststätten und Kneipen Bildschirme, die in der Folge auch weiter genutzt werden, für Sport, für Anlässe wie etwa den Grand Prix Eurovision de la Chanson, für Reality Shows wie etwa Germany’s Next Top Model und durchaus auch für den sonntäglichen Tatort. Wer den Tatort »öffentlich« ansieht, wird und muss dies je nach der Kneipe oder Bar, wo er oder sie dies tut, auch mit Speisen oder zumindest einem Getränk verbinden, denn darauf bauen die anbietenden Kneipen.7 Da die meisten »Public Viewers« sich mit Freunden zu diesem Anlass treffen, wird dabei auch gesprochen bzw. geflüstert. In einer Universitätsstadt in der Mitte Deutschlands sieht dies je nach dem gewählten Lokal etwas anders aus. Eine etwas vornehmere Bar lädt in ihren Keller ein, wo Cocktails,

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Folgende Beschreibung wurde aus Feldnotizen von 2010 (Regina Bendix) und 2011 (Christine Hämmerling) generiert.

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Prosecco, Wein und hin und wieder Bier bestellt werden, gegessen wird hier kaum, aber die Zuschauer sind meist schon mit Beginn der 20 Uhr Nachrichten da, um sich einen Platz entlang der Wand an einem der acht Tischchen zu erobern und nicht eher unbequem auf einem lehnenlosen Hocker im mittigen Korridor zu sitzen. Während der Nachrichten wird noch laut geredet, man begrüßt sich und tauscht sich über dies und jenes aus. Sobald das Tatort-Signet aufscheint, kehrt Ruhe ein, wer sich etwas zu sagen hat, tut dies sehr leise, und auch die Bedienung, die während der 90 Minuten immer mal wieder in den Keller schaut, nimmt Nachbestellungen flüsternd auf. Selbst wenn Störungen über den Bildschirm flimmern, sitzen die Gäste geduldig da, und am Ende der Sendung bleiben wenige Grüppchen sitzen, um sich weiter zu unterhalten. Eine räumlich etwas kommunikativer angelegte, studentische Kneipe weist dennoch ganz ähnliches Verhalten auf. Hier wird aber auch einiges gegessen. Die Zuschauenden sitzen lockerer, z.T. auch auf Sofas, essen Snackfood und trinken Bier und Säfte oder Cola. Wer weiteres Essen möchte, bestellt vom hin und wieder zirkulierenden Personal oder geht zur Theke und holt es sich. Spricht oder flüstert jemand in störender Weise, sorgt das Plenum für angemessene Ruhe. Überraschende und beängstigende Szenen lösen Ausrufe aus, aber jeder bleibt – bei einem guten Tatort zumindest! – gebannt und verfolgt den Erzählstrang. Kaum ist der Tatort vorbei, stehen die meisten auch schon auf, bezahlen an der Theke und gehen. Manche reden vielleicht noch draußen, schauen die neusten SMS auf ihrem Handy durch, bevor sie das Fahrrad aufschließen und wegradeln. Manche Kneipen erweitern das Angebot mit zusätzlichen Tatort- und Mörderratespielen8; insgesamt jedoch erstaunt das ruhige Ambiente beim Tatort Public Viewing, was auch aus diesem Bonner Bericht hervorgeht: ›Das ist das genaue Gegenteil zu der sonstigen Stimmung in einer Kneipe‹, so Inhaber Jürgen Koch. ›Das ist total kurios, hier ist für eineinhalb Stunden Klosterstimmung‹. Das kennen viele vom Public Viewing eher nicht, beim FußballRudelgucken wird jedes Detail lautstark von den Zuschauern kommentiert. Anders am Sonntagabend. Ein waschechter Tatort-Fan ermittelt natürlich auch mit und hat spätestens um 21 Uhr den ersten Verdacht. Der wird dann allerdings im Flüsterton dem Nachbarn weitergegeben (Potting 2012).

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Vgl. http://blog.alles-und-umsonst.de/author/labi/ (überprüft am 16.10.2012).

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Der Kontrast zur oft lautstark geäußerten emotionalen Teilhabe beim Public Viewing etwa von Fußballspielen ergibt sich aus dem Genre; dass dennoch auch für eine Krimireihe ein gemeinschaftliches Setting wie eine Kneipe aufgesucht wird, zeugt von den alltäglichen Integrationsmöglichkeiten, die gemeinschaftliches Fernsehen einer zunehmend individualisierter lebenden Gesellschaft bietet (Berkowitz 2012). Selbst wer alleine zum Tatort kommt, schafft sich gerade wegen des Bildschirms, gekoppelt mit Getränk und Speisen, ein Ambiente des Essens und Redens mit anderen. Die ARD unterstützt das junge Phänomen mit Gratisplakaten, und auch soziale Netzwerke wie der schon seit den 1990er Jahren bestehende Tatort-Fundus werben dafür: Mit der Fußballweltmeisterschaft 2006 begann die Popularität des Public Viewing in Deutschland. Neben Sportveranstaltungen hat sich seitdem der Tatort als eines der Hauptsubjekte des gemeinsamen Fernsehens entwickelt. Viele Vorteile begründen den Erfolg dieses Phänomens: Die Zuschauer können den Film gemeinsam erleben, mitraten und im Anschluss über die Auflösung und Thematik diskutieren. Gleichzeitig können Gastronomieangebote genutzt werden und die oftmals vorhandenen Großbildleinwände bieten ein höheres Sehvergnügen als der heimische Fernseher. Auf diese Weise lässt sich der Sonntagabend in zahlreichen Kneipen und ähnlichen Lokalitäten gemeinsam ausklingen.9

Die meisten treuen Tatort-Zuschauer gucken aber dennoch zu Hause. Im häuslichen Kontext pendeln sich idiosynkratischere Muster ein, wo die Kombination von Krimigucken, Essen und (vielleicht) Reden sich je nach Menschen und deren jeweiliger Sozialisation in der Handhabung von Fernsehen unterschiedlich gestalten. Viele Interviewpartner haben recht strikte Regeln verinnerlicht dazu, dass man eben beim Essen nicht fernsieht, denn »wenn man zusammensitzt und isst, dann ist das das wichtige und dann hat man sich auf den mit dem man zusammen ist zu konzentrieren und auf den einzugehen«.10 Eine Gewährsperson isst entsprechend beim Fernsehen auch

9

Aus dem Text auf Tatort-Fundus, vgl. http://www.tatort-fundus.de/web/aktion/ tatort-public-viewing-kneipen-2011-06-23.html (überprüft am 17.10.2012).

10 Interview mit Ehepaar HL und BA vom 15.2.2011 geführt von Christine Hämmerling.

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nur, wenn sie allein ist11, eine andere Alleinguckerin isst zwar kein Abendessen, aber Chips und Gummibärchen gehören dann trotzdem zum Tatort.12 Nach den Dikta zur Ungehörigkeit des Fernsehens beim Essen werden jedoch auch gleich Ausnahmen erwähnt, die bisweilen noch in die eigene Kindheit zurückreichen, wie etwa der Nachmittagsfilm, den man durchaus auch mal während dem heiligen Sonntagskaffee mitlaufen ließ. Tatort hat jedoch meist keinen beliebigen Stellenwert, und es gibt Paare, Familien und Sehgemeinschaften, die den Abend in quasi ritueller Weise planen. Wenn das Abendessen vorbei ist, die Kinder ins Bett gebracht sind, darf dann auch nichts anderes mehr intervenieren: »Da ist wirklich nur noch der Rotwein einzuschenken«.13 Beim Ehepaar K. zieht sich Herr K. nach dem Abendessen gern nochmal in sein Arbeitszimmer zurück und bereitet die Lehrveranstaltung für den Montag vor. Seine Frau holt das Bügelbrett aus dem Keller und schenkt sich ein Getränk ein. Sie stellt um 20:15 Uhr den Fernseher ein und beginnt die Wäsche zu bügeln, während sich ein neuer Tatort entfaltet. Gegen 21 Uhr stößt Herr K. dazu, und fragt, ob er mitgucken dürfe. Frau K. antwortet: »Nur wenn Du keine unpassenden Kommentare machst«. Später stellt sich heraus, dass »unpassend« hier »nicht informiert«, weil nicht von Anfang an dabei gewesen, bedeutet. Herr K. holt ein Glas Rotwein, greift sich eine Praline und eine Dattel aus der kleinen, eleganten Schale auf dem Wohnzimmertisch und richtet sich auf dem Sofa ein. Und prompt kommt etwa nach zwanzig Minuten eine solche Frage, die seine Frau trotz der Vorwarnung geduldig klärt. Hin und wieder wird etwas gelacht, und sobald die Sendung aus ist, kommt es zu einem kurzen Austausch: Herr K. mochte die Kommissare gar nicht, sie schienen ihm brutal. Frau K., die regelmäßiger zusieht, ist erstaunt, weil sie gerade diese zwei Kommissare – Freddy Schenk und Ballauf – und ihre Arbeitsbeziehung eigentlich ganz gern mag.14 Der Bedarf, das Gesehene gemeinsam zu verarbeiten, ergibt sich hier regelmäßig und wandert hin und her zwischen medialen (Qualität der Episode) und gesellschaftlichen Anliegen, die der jeweilige Tatort erhoben hat.

11 Interview mit OL vom 4.5.2011 geführt von Christine Hämmerling. 12 Interview mit UA vom 4.5.2011 geführt von Christine Hämmerling. 13 Wie Fußnote 7. 14 Feldnotizen vom 25.9.2011.

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In Wohn- und / oder Sehgemeinschaften ist der Tatort häufig mit Essen verbunden. Eine Gewährsperson aus einer Vierer-Sehgemeinschaft berichtet ausführlich zu den Gebräuchen rund um eine der verschiedenen Serien und Reihen, die gemeinsam genossen werden: Also wir treffen uns eigentlich immer um 20 Uhr. Wir haben dann... Also es kommt immer darauf an, ob jemand schon was gegessen hat oder nicht. Inzwischen ist es so, dass meine Freunde einfach ihr Essen dann mitbringen und hier äh, in die Küche gehen, Paprika schneiden und den Kräuterquark dazustellen, und dann wird das hier hingestellt und wir essen das. Aber wir kochen nicht vorher oder so. Selten. Manchmal bringen sie ne Pizza mit, weil sie noch nichts gegessen haben, oder ein Kräuterbaguette und schieben das hier in den Backofen. Aber ansonsten... Wir haben immer Chips da stehen. Jeder bringt irgendwas mit.15

In einer anderen Wohngemeinschaft gehört das Essen zum Tatort und ist eine wesentliche Ingredienz für den gelungenen Wochenabschluss. »Wir essen oft beim Tatort auch. Also Essen kochen, Essen bestellen wir auch immer kurz vorher. Und dann mit Essen 20 Uhr auf’s Sofa. Während Tatort aufessen. Oder mit dem Tatort aufessen«. Und abschließend zum Thema meint diese Gewährsperson: »Die Mischung aus gutem Essen, netten Leuten und ’nem guten Film. Wenn das alles gut war, ist... Also das ist dann die perfekte Mischung«.16 Eine weitere Wohngemeinschaft, wo frühere Mitbewohnern auch gerne für den Tatort zurückkommen, thematisiert das Essen als Ingredienz des Tatortabends ebenfalls ausführlich: Es wird gekocht und vielleicht schon vorher gegessen, aber da gibt es noch Nachtisch beim Zuschauen, jemand hat vielleicht sogar extra noch einen Kuchen gebacken, wenn noch Gäste dazu stoßen, gibt es für diese immer auch noch etwas in der Küche. Geschaut wird im Zimmer einer Mitbewohnerin, die gleichzeitig als Gastgeberin gilt. Zwischenzeitlich wurde auch einmal bei einem andern Mitbewohner, der das größte Zimmer und den größten Fernseher hatte, geschaut, weshalb man sich besonders gern hinsetzte, nur: »Auf

15 Interview mit BA vom 21.3.2011, geführt von Christine Hämmerling. 16 Interview mit TS vom 27.7.2011, geführt von Christine Hämmerling.

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seinem Bett durften wir nicht essen«, was so ausführlich thematisiert wird, dass die Verminderung der Sehfreude auch gleich mitklingt.17 Auch wenn das Reden und Essen beim Tatort höchstens ein Nebengespräch und kein Tischgespräch generiert, so ist die Kombination von Fernsehkrimi und gemeinschaftlichem Trinken und Essen durchaus nachweisbar. Das ritualisierte Gewicht, dass den sonntäglichen Tatort-Filmen zukommt und sich gerade im Beifügen eines guten Weins oder eines extra gebackenen Stücks Kuchens äußert, untermauert auch die Integration von Fernsehinhalten im Alltag. Weitet man die Untersuchung aus auf die Alleinzuschauer, die sich neben dem Tatortschauen gleichzeitig über verschiedene soziale Netzwerke in einer online-Zuschauercommunity unterhalten (Bendix, im Druck), so lässt sich das verbindende Element televisionärer Unterhaltung noch deutlicher nachweisen. Gerade weil es nicht in einem Theatersaal stattfindet, wo die Essens- und Trinkregeln anders gestaltet sind, wird das Essen zu einer Communitas fördernden Komponente.

D AS S ERIELLE DER U NTERHALTUNG – DAS R EPETITI VE DES ALLTAGS – DAS K ONSTITUTIVE DES E SSENS Alltagskulturen verhandeln und integrieren Technik: dies hat Hermann Bausinger schon in seiner Volkskultur in der technischen Welt (1961) überzeugend nachgewiesen und damit gleichzeitig dazu aufgefordert, statt kulturkritischer Thematisierung der »zerstörerischen« Wirkung von technischen Innovationen auf hergebrachte Kulturen vielmehr die kulturellen Veränderungen, Anpassungen und Innovationen zu dokumentieren und zu verstehen. Fernsehserien und -reihen, zu welchen Tatort trotz seiner diskursiven Denotation als »gehobene« Fernsehunterhaltung gehört, haben sich als narrative Formate in den Alltag eingenistet. Dabei kommt die Repetition, die menschliches Handeln zu Habitus und damit unreflektiertem Alltagshandeln macht, dem seriellen Erzählen entgegen, das im Zuschauer eine naturalisierte Haltung des »es geht weiter« verstärkt, die dem Alltagshandeln bereits inhärent ist (vgl. Kelleter 2012). Man darf noch stärker argumentieren: Im Lauf der Jahrzehnte televisionärer Entwicklung haben die

17 Interview mit Wohngemeinschaft J. vom 26.9.2011, geführt von Christine Hämmerling.

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Tages- und Wochenpläne von Fernsehsendern zu einer Taktung beigetragen, die gerade was narrative Angebote betrifft, für manche Menschen zu einer unabdingbaren Ingredienz ihres Alltags geworden ist. Essen als vielleicht fundamentalste weil physisch unverzichtbare Komponente der Alltagsroutine hat sich, wie das hier durchexerzierte TatortBeispiel, zutiefst verknüpft sowohl mit serieller Unterhaltung – in den Inhalten wie auch in den Praxen der Zuschauer. Wenn man aufblendet und über den Tatort hinaus einige Blicke auf Serien- und Alltagshandeln wirft, so wird man von der Omnipräsenz des Essens fast überwältigt. Die Nutzung von Essensgewohnheiten und Essenssituationen in Serien ist gerade anhand langlaufender Erzählwerke mit frappanter Häufigkeit wahrnehmbar – die Frühstückszenen bei The Sopranos, die verschiedenen, sich wiederholenden Essen- und Trink-Settings in Serien wie Seinfeld, Friends oder How I met your Mother, die Gilmore Girls im Diner oder bei ihren beständigen Take-Out-Orgien, bei welchen sie dann allerdings kaum etwas essen, oder das Bones Team, dessen Mitglieder sich in wechselnder Kombination aber in steter Regelmäßigkeit beim selben Diner treffen: Bei allen ist Essen ein fast logischer Kontext für Gespräche und für die Vermittlung von glaubhaft verankertem Alltag. Lässt man den Blick weiter schweifen auf das tägliche Fernsehangebot, so wird die Hyperpräsenz von seriell angelegten KochShows weiteren Anstoß geben zur Reflektion über die Interdependenz von Serien, Alltag, Essen und Reden. In ihrer Anlage sind Koch-Shows so angelegt, dass sie zum Gesprächspartner für die Zuschauenden werden: Sie werden angesprochen, erhalten Anweisungen, werden zur Begutachtung aufgefordert und sind, für manche Menschen, längst zum Ersatz für das Kochbuch geworden. Wen wundert es also, dass viele Kleinfernseher oder auch über den Laptop live-gestreamtes Fernsehen in vielen Küchen zu finden sind. Serielles – nicht nur im Kochbereich – unterhält die Alltagsköche und -köchinnen und wird, über die interaktiven Funktionen des Internets, zum Gesprächspartner. Für die Kulinaristik ist somit die Trias von Essen, Reden und Fernsehen ein nach vertiefter, interdisziplinärer Forschung rufendes Feld.

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L ITERATUR Bausinger, Hermann (1961): Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart: Kohlhammer. Bausinger, Hermann (2011): Wie ich Günther Jauch schaffte. 13 Zappgeschichten. Tübingen: Klöper und Meyer. Bendix, Regina F. / Hämmerling, Christine / Maase, Kaspar / Nast, Mirjam (2012): Lesen, Sehen, Hängenbleiben. Zur Integration serieller Narrative im Alltag ihrer Nutzerinnen und Nutzer. In: Kelleter, Frank (Hg.) Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, S. 295-321. Bendix, Regina F. (2012): »Tatorte« – or: Why Anthropologists like Mysteries. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript vom Symposium in Honor of Andre Gingrich, 3. Oktober, Wien. Bendix, Regina F. (2013): Teilhaben: Zur Tatort-Fankultur auf Facebook. In: kulturen, H. 1, S. 30-43. Berkowitz, Sören (2012): Kollektives Fernsehen im öffentlichen Raum – Public Viewing im Zeitalter einer individualisierten Gesellschaft. Hamburg: Diplomica Verlag. Bollhöfer, Björn (2007): Geographien des Fernsehen. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript. Eder, Jens. (2006): Ways of Being Close to Characters. In: Film Studies: An International Review 8, S. 68-80. Ganz-Blättler, Ursula (2011): »Sometimes against all odds, against all logic, we touch«. Kumulatives Erzählen und Handlungsbögen als Mittel der Zuschauerbindung in Lost und Grey’s Anatomy. In: Blanchet, Robert / Köhler, Kristina / Smid, Tereza / Zutavern, Julia (Hg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuellen Quality-TV- und Onlineserien. Marburg: Schüren, S. 73-91. Hämmerling, Christine / Hißnauer, Christian (im Druck): »Es stimmt da eigentlich gar nichts, außer dass wir morgens auch einen Kaffee trinken«. Polizeiarbeit im Tatort aus der Perspektive von Zuschauern, Polizisten und dramaturgisch-narrativen Erfordernissen. In: Mescher, Heidi / Geuther, Jens-Peter (Hg.): Polizeikrimi und Wirklichkeit. Münster: LIT. Hißnauer, Christian / Scherer, Stefan / Stockinger, Claudia (2012): Formen und Verfahren der Serialität in der ARD. Reihe Tatort. In: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion.

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Wierlacher, Alois (2008b): Die kulinarische Sprache. In: Wierlacher, Alois / Bendix Regina (Hg.): Kulinaristik: Forschung – Lehre – Praxis. Berlin: LIT, S. 112-126.

Tempuswahn U LRICH E NGEL

1 P ROBLEMSTELLUNG Dass es im Deutschen1 ein am Verb hängendes ›Tempussystem‹ und dass dieses Zeitinformationen in die Äußerungen einbringe, gehört zum Grammatikkanon unserer Schulen und auch vieler Lehrerbildungsanstalten und Universitäten, im Ausland, soweit es um Deutsch als Fremdsprache geht, verständlicherweise noch konsequenter als im Inland. Wir brauchen Tempus, um die Sachverhalte, über die wir reden, zeitlich festzumachen – dies kann weithin als opinio communis gelten. Gezweifelt wurde selten. Harald Weinrich hat immerhin 1964 mit seinem Buch Tempus. Besprochene und erzählte Welt das ganze vorgebliche Gemeinwissen in Frage gestellt und damit viel Widerspruch, aber auch positive Reaktionen hervorgerufen. Man muss Weinrich nicht in allen Punkten zustimmen (und ich tue es auch nicht), um doch an der alten Tempustradition irrewerden zu können und nach neuen Tempuskonzeptionen zu suchen. Im Folgenden wird die Frage behandelt, ob die deutschen Tempora primär mit Zeit zu tun haben und ob es überhaupt sinnvoll ist, für das Deutsche ein Tempussystem anzusetzen.

1

Die gleiche Problematik gibt es in vielen anderen Sprachen. Diese sollen jedoch hier ausdrücklich ausgeklammert bleiben.

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2 T EMPUS

IN DEUTSCHEN

G RAMMATIKEN

Vor aller Kritik scheint es angebracht, eine Übersicht darüber zu geben, was in einer Auswahl von Handbüchern zum Deutschen über das Tempus gesagt wird. Ich werde dabei keine Vollständigkeit anstreben, ich beziehe mich zum Teil auch bewusst auf ältere Auflagen Glinz (1952)2 erkennt als ›Leitglieder‹ nur die einfachen Formen an, also Präsens und Präteritum, und gesellt ihnen interessanterweise die beiden Konjunktivformen bei, also bin, war, sei, wäre. Diesen Formen kommt jeweils ein Zeitwert zu: »Jedes Verb ist zeitlich gefaßt« (Glinz 1961: 102). Den komplexen Tempora Perfekt, Plusquamperfekt und Futur, die er an anderer Stelle als ›Verbgefüge‹ oder ›Vorgangsgefüge‹ behandelt, schreibt er ebenfalls Zeitwerte zu. Schulz/Griesbach: Das heute noch im Bereich Deutsch als Fremdsprache zu Recht viel benutzte Werk enthält auf 7 Seiten ein Kapitel »Der Gebrauch der Zeitformen«. Behandelt werden Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt und Futur. Diese Verbformen »dienen zum Ausdruck der Zeit, in der der beschriebene Sachverhalt anzutreffen ist« (Schulz/Griesbach 1986: 43). Erben: Die Verbformen liefern »die Information über das zeitliche Verhältnis des geschilderten Vorgangs oder Zustands zum Sprecher und die Einordnung in seine zeitliche Perspektive« (Erben 1980: 85). Die speziellen Zeitwerte hängen an Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt und Futur. Brinkmanns Buch von 19623 enthält im 4. Hauptteil (Das Verbum) ein eigenes Kapitel »Das Tempussystem«, das 35 Seiten umfasst. Auch bei ihm haben die klassischen Tempora (Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur) vor allem Zeitwerte, freilich neben anderen Werten. Die Grammatik von Helbig/Buscha4, die vor allem in den sozialistischen Ländern systematisch eingesetzt wurde, aber heute allgemein als Grundlage des Fremdsprachenunterrichts gebraucht und geschätzt wird, nennt im Kapitel »Tempora« wieder die klassischen Tempora (hier 6, weil Futur II neben Futur I aufgeführt wird). Es wird zwar die von Reichenbach

2

Zitiert wird hier nach der 2. Auflage von 1961.

3

Zitiert wird nach der 2. Auflage von 1971.

4

Zitiert wird die (nicht mehr nummerierte) Ausgabe von 2001.

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inspirierte Dreigliederung nach Aktzeit, Sprechzeit, Betrachtzeit eingeführt, dann bleibt es aber doch im Wesentlichen bei der zeitlichen Interpretation der einzelnen Tempora nach gewohntem Muster. Flämigs Grammatik, die auf die vielbeachteten Grundzüge der deutschen Grammatik der Berliner Akademie der Wissenschaften zurückgeht, behandelt das Tempus auf ca. 15 Seiten. Es gibt auch hier die klassischen 6 Tempora, von denen es heißt: »Die Tempora des Verbs kennzeichnen das zeitliche Verhältnis […] eines geäußerten Sachverhalts zum Redemoment allgemein« (Flämig 1991: 389). Erwartungsgemäß findet man die üblichen Vorbehalte, dass Tempus nicht mit objektiver Zeit gleichzusetzen sei. Die Duden-Grammatik (2005) schließlich gibt ihre Tempusauffassung mit teilweise abgeänderter, an Ballweg (1988) angelehnter Terminologie wieder: Auch hier dominiert der Zeitwert der Tempusformen, nichtzeitliche Werte erscheinen allenfalls nebenbei. Zieht man das Resümee aus diesem Überblick, so findet man eine erstaunliche Einhelligkeit: Die Tempora – und es handelt sich dabei im Wesentlichen um die klassischen 6 Verbformen – werden überall auf ihre ZeitInhalte hin geprüft und beschrieben. Nun kann man nicht sagen, die Autoren der genannten Grammatiken hätten andere Inhalte der Tempora gar nicht gesehen; diese anderen Inhalte werden ja auch erwähnt, wenngleich meist nebenbei. Man hat eher den Eindruck, dass in den betreffenden Darstellungen schlicht nach dem ZeitWert der Tempora gefragt wurde und kaum nach Andere m. Einzig Weinrichs Textgrammatik macht da eine Ausnahme. Bei ihm allein hat Tempus nichts mit Zeit zu tun, genau besehen: nur am Rande. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

3 T EMPUSREALITÄT Der Satz Die Heidelberger Straße bleibt vorerst befahrbar. – eine Zeitungsüberschrift – enthält ein finites Verb im PRÄSENS. Wer nach der Zeit fragt, könnte nun finden, dass sich dieses Verb auf die Gegenwart beziehe; ein Zeitraum, der den Sprechzeitpunkt mit einschließt, gelte für den genannten Sachverhalt. Allein das Adverb vorerst legt nahe, dass der Sachverhalt, von jetzt an gerechnet, in die Zukunft weise. Dann kann frei-

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lich der Verdacht, das Adverb und nicht das Verb gebe die fällige Zeitinformation, nicht vom Tisch gewischt werden. Überdies gibt es noch mindestens eine dritte Interpretationsmöglichkeit: Die Heidelberger Straße bleibt vorerst befahrbar. könnte auch als Teil eines Berichts, etwa über eine Stadtverordnetenversammlung, zu verstehen sein, konkret als Formulierung eines Abstimmungsergebnisses. Dann läge der Sachverhalt in irgendeiner Vergangenheit. Derlei Fälle mehrerer Interpretationsmöglichkeiten sind der Forschung seit langem bekannt. Viele Grammatiker haben sich dann geholfen mit der Aussage, dass das Präsens eben mehrere mögliche Bedeutungen habe: Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit (Präsens historicum) und vielleicht auch noch allgemeine Geltung, was etwa für Sprichwörter gilt. Dagegen gibt es freilich einen massiven Einwand: In der Flexematik ist Polysemie (oder Homonymie5) nur dann zulässig, wenn unterschiedliche, aber gleich lautende Formen verschiedenen Stellen in einem Paradigma entsprechen. So kann etwa bei den Person-Numerus-Endungen des Verbs das Flexem en sowohl die erste wie die dritte Person Plural bezeichnen. Setzt man jedoch, wie das die meisten Grammatiken tun, für das Tempus ein sechsgliedriges Paradigma an, so nimmt das Präsens in diesem Paradigma nur eine bestimmte Stelle ein. Daraus ist die Folgerung zu ziehen, dass semantische Unterschiede in der Gesamtäußerung nicht in diesem Element – hier dem Präsensflexem – zu suchen sind, sondern in seinem engeren oder weiteren Kontext. Das Präsens für sich genommen hat nur eine einzige Bedeutung. Der Einzige, der das deutlich gesagt hat, ist Joachim Ballweg (vgl. Ballweg 1988: 45). Andererseits: Ungeachtet des konkreten Zeitwertes liegt das Präsens im vorliegenden Fall, ob Zeitungsüberschrift oder Bericht oder Ankündigung, besonders nahe, ja der Verfasser hat streng genommen gar keine andere Wahl: Wenn er ausdrücken will, was er meint, dann muss er das Präsens verwenden. Wir dürfen versuchsweise schließen, dass Gleiches für die übrigen Tempora gilt: Jedes von ihnen hat eine klar umreißbare Bedeutung, und

5

Die Problematik der Abgrenzung von Polysemie vs. Homonymie steht hier nicht zur Diskussion. Es geht hier einfach um die Möglichkeit, dass einer und derselben Ausdrucksform verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden.

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wenn man einen Sachverhalt beschreiben will (was in der Regel nur mit Hilfe eines finiten Verbs möglich ist), muss man sich für ein bestimmtes Tempus entscheiden. Quod erit demonstrandum. Das PRÄTERITUM, wie es vorliegt in Auch die Ladenburger Straße blieb befahrbar. bezeichnet Vergangenes schlechthin, und wenn Tempus irgend mit Zeit zu tun hat, dann ist das Präteritum ein echtes Tempus. Das Präteritum ist das ideale und eigentlich das einzige Erzähltempus, das rückschauend zuvor Geschehenes berichtet, und zwar dediziert als zuvor Geschehenes. Alle Einwände gegen diese Bedeutung sind leicht ad absurdum zu führen. Wenn man belletristische Gegenstände, die fast ausnahmslos im Präteritum stehen, als ›nicht vergangen‹ charakterisieren will, weil sie ja gar nicht geschehen seien, so hat man das Wesen der narrativen Literatur nicht verstanden: Diese Werke erzählen Vorgänge, als ob sie geschehen seien, der Autor will, dass der Leser sie als geschehen rezipiert, und eben deshalb muss das Präteritum verwendet werden. Zwar gibt es, selten genug, Präsensromane, aber die bedienen sich des Präsens, weil sie bestimmte Aspekte des NichtVergangenen hervorheben wollen. Das wird einsehbar werden, wenn wir weiter unten Präsens und Präteritum vergleichend beschreiben. Und genau hier muss der Schritt vollzogen werden zum PERFEKT, das bei Ballweg und neuerdings auch im Duden als »Präsensperfekt« erscheint, weil es (s. unten) auch ein Präteritumperfekt gibt. Dieses Perfekt, wie es in Der Magistrat hat zugestimmt. vorliegt, gilt ja vielfach als »Konkurrenzform« zum Präteritum, und im süddeutschen Sprachbereich hat es, jedenfalls in mündlicher Kommunikation, auch einfach die Rolle des Präteritums als Vergangenheitstempus übernommen: Das Bairische, das Alemannische, das Schwäbische kennen, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, kein Präteritum, in der mündlichen Rede geben sie vielmehr alles Vergangene im Perfekt wieder: Sie haben sich im Hotel am See getroffen. Dieser Satz ist freilich auch in gemeindeutscher Schriftsprache möglich, aber als Stück einer Erzählung wird gewöhnlich im Präteritum formuliert: Sie trafen sich im Hotel am See. Der Unterschied zwischen den beiden Sätzen ist auffallend: Beide Male wird der Vorgang in die Vergangenheit gelegt, aber die Perfektform wird man in der deutschen Gemeinsprache nur verwenden, wenn der Sachverhalt für die Gesprächsbeteiligten von besonderem Interesse ist. Und dieser Un-

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terschied liegt offenbar am finiten Verb: Dieses spricht im Präsens den Partner unmittelbar an, oder der Sprecher will zeigen, dass er sich von dem Vorgang besonders betroffen fühlt. Das Präteritum hingegen rückt als reines Erzähltempus den Vorgang gewissermaßen in die Ferne. Der Unterschied zwischen den beiden Tempora wird in vielen Zeitungsmeldungen erkennbar. Häufig erscheint hier der erste Satz im Präsens oder auch im Perfekt, das ja immerhin ein präsentisches Finitum aufweist: Mit einer gelungenen doppelten Premiere hat sich am Freitag der Saal des ›Halben Monds‹ erstmals nach der Renovierung offiziell als Veranstaltungsort im Herzen der Stadt bewährt. Mit mehr als 80 Teilnehmern kam die erste öffentliche Veranstaltung im Saal nach mehrjähriger Pause zustande (Bergsträßer Echo, 27.8.2011).

Die finiten Verben der Folgesätze lauten war, unterstrich, kamen, war, richtete, lobte, verlegte, schaffte, verwies sowie einige Konjunktivformen, mit denen die Äußerungen anderer Personen zitiert werden. Die Wahl der Verbformen ist durch den gewünschten Kontakt mit dem Leser bedingt. Mit dem ersten, präsentischen Verb soll der Leser direkt angesprochen und so der Kontakt zu ihm hergestellt werden. Ist das Interesse erst geweckt, so kann im Präteritum weiterberichtet werden. Die Frage muss aber gestellt werden, wie denn die »Präsensform« Perfekt auf Vergangenes hinweisen könne. Ich sehe den Vergangenheitscharakter des Perfekts in dem obligatorischen Partizip II. Dieses hat in jedem Fall eine nach rückwärtsgewandte Zeitbedeutung, die je nach der semantischen Grundkategorie des Verbs variiert. Diese Grundkategorien lassen sich in einer Dichotomie fassen, die eine interessante Nähe zu dem in slawischen Sprachen fest verankerten Verbalspekt zeigt. Wir können im Deutschen telische von atelischen Verben unterscheiden. Die telischen Verben beschreiben Geschehen, die als am Anfang und / oder am Ende begrenzt markiert sind. Es lassen sich folgende Subkategorien definieren: inchoative Verben (anpacken, erblühen, eingreifen), terminative Verben (erlöschen, verdunsten, verglühen), affektive Verben (anbraten, erhitzen, einfrieren), effektive Verben (entzünden, zertrümmern) und Punktverben (explodieren, knallen). Die atelischen Verben beschreiben demgegenüber Geschehen, die weder am Anfang noch am Ende begrenzt sind. Subkategorien sind hier die durativen Verben (blühen, strahlen, sitzen) und die iterativen Verben (trällern, zittern). Es lässt sich nun erkennen, dass das Partizip II der telischen

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Verben das semantische Merkmal ›abgeschlossen‹ enthält, das Partizip II der atelischen Verben jedoch das Merkmal ›vergangen‹. Im Sinn des kompositionalen Verfahrens lässt sich nun das Perfekt telischer Verben als ›unmittelbar‹ + ›abgeschlossen‹, das Perfekt atelischer Verben als ›unmittelbar‹ + ›vergangen‹ beschreiben. Das Merkmal ›unmittelbar‹ ist durch die Präsensform des Finitums, die Merkmale ›abgeschlossen‹ bzw. ›vergangen‹ durch das Partizip II bedingt. Und da ein Geschehen, wenn es abgeschlossen ist, in jedem Fall auch als von irgendeinem Zeitpunkt aus ›vergangen‹ aufgefasst werden kann, ist die Vergangenheitsbedeutung des Perfekts damit gesichert. Über das Plusquamperfekt muss nicht mehr viel gesagt werden: Aus den Bedeutungen von Finitum und Partizip II ergibt sich ohne weitere Umstände die Gesamtbedeutung ›in der Vergangenheit abgeschlossen bzw. vergangen‹: Der Gast hatte sich in das Goldene Buch der Stadt eingetragen. Sie hatten früher in dieser Stadt gelebt. Das Futur besteht aus einer finiten und einer oder zwei infiniten Formen: Ich werde sie nächsten Monat besuchen. Sie wird den Artikel schon gelesen haben. Die Gesamtbedeutungen ergeben sich aus der lexikalischen Bedeutung des Nebenverbs werden und der strukturellen Bedeutungen der infiniten Formen. Dabei gilt für das Partizip II wieder ›abgeschlossen‹ bzw. ›vergangen‹, für werden die lexikalische Bedeutung ›zu erwarten‹. Dieses Merkmal kann sowohl in zeitlicher wie in präsumptiver Dimension gelten, was bisher gemeinhin mit »Zukunft« bzw. mit »modaler Gebrauch des Futurs« umschrieben wurde. Damit sind sämtliche klassischen Tempora auf ihre zeitliche Charakteristik hin abgefragt worden. Einzig das Präsens scheint keinen konkreten Zeitwert zu besitzen. Bei näherem Zusehen zeigt sich indessen, dass hier durchaus ein Zeitwert vorliegt, denn Präsenssätze verankern ein Geschehen sehr wohl in der Zeit, nur eben nicht in einer speziellen Zeit, sie sagen aber deutlich aus, dass das Geschehen wahr und damit auch zeitlich situiert ist. Das zeitbezogene Merkmal des Präsens muss daher als ›zeitlich unspezifisch festgelegt‹ definiert werden. Ohne Zweifel haben die fünf oder sechs klassischen Tempora noch andere semantische Merkmale, die zum Teil schon erwähnt wurden. Ihre detaillierte Betrachtung wird unten erfolgen. Sollten sie von gleichem Ge-

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wicht oder gar noch vielfältiger sein als die Zeitmerkmale, so drängt sich die Frage auf, warum das Tempus eigentlich »Tempus« heißt. Außerdem sollte überlegt werden, ob es wirklich sinnvoll ist, die sechs Tempora als grammatische Subkategorie aufzufassen und zusammenhängend zu beschreiben. Dass sie im Einzelnen semantisch divergent sind, wurde gezeigt. Dass sie morphologisch divergent sind, kommt hinzu. Im Lateinischen und im Griechischen, dem großen Vorbild, handelt es sich, wie noch gezeigt wird, jeweils um einwortige Formen. Das Deutsche aber kennt nur zwei einfache Formen, dazu drei zweiteilige Verbalkomplexe und einen dreiteiligen. Es müsste die Frage gestattet sein, ob es nicht andere Ausdrucksformen gibt, die sich sinnvoller zusammenstellen lassen.

4 D AS

FINITE

V ERB : ALTERNATIVE

ZUM

T EMPUS

Alle Tempora, so war zu sehen, enthalten je ein finites Verb. Zwar gibt es auch infinite Ausprägungen, wie sie in den folgenden Beispielen enthalten sind: das Bedürfnis, nach der Ursache zu fragen die Vorstellung, nicht nach der Ursache gefragt zu haben Aber man spricht dann mit Recht gemeinhin nicht von Tempusformen, sondern von temporalen Infinitformen. Tempusformen sind immer Finitformen, d.h. sie bestehen immer mindestens aus einem finiten Verb, bei temporalen Komplexen fungiert das Finitum als Kopf des Komplexes. Wenn also die finiten Verbformen nach übereinstimmenden Inhaltskriterien geordnet werden können und wenn sie außerdem in ihren Ausdrucksformen übereinstimmen, dann könnte es sinnvoll erscheinen, sie anstelle der formal und semantisch heterogenen Tempusformen als verbale Subkategorie zu verstehen und zu beschreiben. Finite Verben erscheinen nicht nur als Tempusformen, sie können auch in den Konjunktiv oder in den Imperativ gesetzt werden. Geht man davon aus, dass im Grunde nur die einfachen Tempusformen Präsens und Präteritum den antiken Tempusformen auch in ihrer Ausdruckscharakteristik entsprechen, akzeptiert man weiter die herrschende Ansicht, dass es zwei Konjunktivparadigmen gibt, die wir fortan als Konjunktiv I und Konjunktiv II bezeichnen, und nimmt man den Imperativ hinzu, so ergeben sich fünf Finitparadigmen. Deren größter Teil erlaubt mit Hilfe von Nebenverben den

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Ausbau zu Verbalkomplexen; lediglich der Imperativ ist nur ganz beschränkt ausbaubar (seid gegrüßt u.a.). Von der Ausdruckscharakteristik her erscheint es, wie gesagt, konsequent, die Finitformen zusammenzustellen, denn es handelt sich ausnahmslos um einwortige Ausdrucksmittel: Präsens Präteritum Konjunktiv I Konjunktiv II Imperativ Die Semantik dieser Formen zeigt Aufschlussreiches. Zunächst wird deutlich, dass die Finitformen Stellung zur Wirklichkeit des beschriebenen Sachverhaltes nehmen. Dies erscheint besonders wichtig, weil ja jeder Satz einen Sachverhalt beschreibt und dabei von vorrangiger Bedeutung sein müsste, ob dieser Sachverhalt als real ausgewiesen wird oder nicht. Hier stehen Präsens und Präteritum eindeutig für Realität des Sachverhalts. Daran ändert auch die Möglichkeit der Negation nichts. Jeder Sachverhalt kann negiert werden, und im Falle der sogenannten »Satznegation« von Aussagen wird lediglich der Wahrheitswert der Aussage verändert. Der negierte Satz Dieser Vorschlag bringt nicht die Lösung aller Probleme. bedeutet dann einfach, dass der Sachverhalt Dieser Vorschlag bringt die Lösung aller Probleme. den umgekehrten Wahrheitswert hat, umgangssprachlich umschrieben als ›Es trifft nicht zu, dass dieser Vorschlag die Lösung aller Probleme bringt‹. Die beiden Konjunktive hingegen drücken eingeschränkte Realität des beschriebenen Sachverhaltes aus. Der Konjunktiv I kennzeichnet eine Sachverhaltsbeschreibung als ›bedingt real‹, da von der Aussage eines Anderen abhängig, also nur dann real, wenn die Aussage des Anderen zutrifft: Dieser Vorschlag bringe die Lösung aller Probleme. Diese Einschränkung gilt auch in den sogenannten »irrealen Vergleichssätzen«: Du trittst hier auf, als bringe dieser Vorschlag die Lösung aller Probleme.

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Eine solche Formulierung lässt noch die Möglichkeit offen, dass der Auftritt des Partners die Lösung aller Probleme garantiert. Bei Ersatz durch den Konjunktiv II (s. unten) wird diese Möglichkeit gegen Null reduziert. Und auch wenn der Konjunktiv I eine adhortative Bedeutung annimmt, ist die ›bedingte Realität‹ immer noch gültig. In Sätzen wie Angenommen sei ein Verkehrsstau am Viernheimer Kreuz. wird nicht ausgesagt, dass dieser Stau am Viernheimer Kreuz tatsächlich besteht. Es wird nur gesagt, dass der Kommunikationsteilnehmer sich in diese Situation versetzen soll. Der Konjunktiv II kennzeichnet einen Sachverhalt dezidiert als irreal. Der Satz Dieser Vorschlag brächte die Lösung aller Probleme. unterstellt, dass dieser Vorschlag die Lösung nicht bringt, weil eine bestimmte Bedingung nicht erfüllt ist. Die Irrealis-Bedeutung dieser Verbform zeigt sich auch, wenn man in irrealen Vergleichssätzen den Konjunktiv I durch den Konjunktiv II ersetzt. Den Satz Du trittst hier auf, als brächte dieser Vorschlag die Lösung aller Probleme. jedenfalls wird man im Allgemeinen so verstehen, dass eine Voraussetzung nicht erfüllt ist, die für die Lösung aller Probleme notwendig wäre, folglich die Lösung aller Probleme nicht zu erwarten ist. Schließlich der Imperativ. Diese Form ist nicht nur morphologisch deutlich beschränkt, sie kann auch nicht zu beliebigen Verben gebildet werden, sondern nur zu solchen, die ein durch den Partner willentlich steuerbares Verhalten ausdrücken. Daher kann man zwar sagen: Setz dich doch! Gib mir mal den Krug. Halte mir bitte die Stange. aber eben nicht *Höre den Knall nicht! Der Imperativ bezeichnet einen Sachverhalt als gegenwärtig irreal, verbindet diese Feststellung aber mit dem Wunsch, dass dieser Sachverhalt durch den Partner realisiert werden möge. Damit sind die fünf Finitformen semantisch eindeutig charakterisiert. Es gibt indessen weitere Merkmale, durch die sie sich charakterisieren und gegebenenfalls unterscheiden lassen. Es war schon die Rede davon, dass man eine Sachverhaltsbeschreibung neutral-nüchtern oder aber unmittelbar

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formulieren kann; im zweiten Fall muss sich der Partner direkt angesprochen fühlen, diese Sache geht ihn an, ist wichtig für ihn. Diese Merkmalopposition, die Thieroff (1992) der Kategorie der »Distanz« zuordnet, kann dem breiten Bereich der (kommunikativen) MODALITÄT zugeordnet werden; unterscheiden lassen sich hier direkte und indirekte Äußerungen. Dann lässt sich sagen, dass Präsens und Imperativ im Prinzip die Direktheit von Äußerungen sichern, während das Präteritum für indirekte Äußerungen steht. Die beiden Konjunktive sind in dieser Hinsicht neutral. Der Unterschied wird besonders deutlich, wenn Vergangenes beschrieben wird und man hier das Präteritum mit dem Präsens (historicum) vergleicht. Der Satz Eine Versammlung liberaler Politiker fand im Oktober 1847 im »Halben Mond« in Heppenheim statt. berichtet von einem nicht unwichtigen Ereignis, das dem Zusammentreten des Parlaments in der Frankfurter Paulskirche (1848) voraus ging. Hier wird erzählt, nüchtern und gelassen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hatte. Wird aber formuliert Eine Versammlung liberaler Politiker findet im Oktober 1847 im »Halben Mond« in Heppenheim statt. so finden wir uns mitten im Geschehen, das uns bewegt (oder bewegen soll). Die Verwendung des Präsens allein schafft diese Unmittelbarkeit. Und setzen wir diesen Satz ins Perfekt, so zeigt sich Ähnliches: Eine Versammlung liberaler Politiker hat im Oktober 1847 im »Halben Mond« in Heppenheim stattgefunden. Eine Formulierung dieser Art wird zum Beispiel gewählt, wenn unter direkt Betroffenen über die Vorgeschichte der »Paulskirche« diskutiert wird. Die Begebenheit dürfte dann nur kurze Zeit zurückliegen, das Gespräch also wenig später geführt werden. Auch hier ist also das besprochene Ereignis von unmittelbarem Belang für die Gesprächsbeteiligten. Und in allen drei Fällen handelt es sich unbestritten um etwas Vergangenes. Das führt uns schließlich wieder zur Zeit, die unser Ausgangspunkt war. Dabei ging es in der wissenschaftlichen Diskussion immer darum, welchen Zeitpunkt / Zeitraum eine Verbform verbindlich nennt. Die Entscheidung ist nach dem oben Gesagten eindeutig: Nur Präteritum und Imperativ nennen eindeutige Zeiträume: Das Präteritum bezeichnet einen Sachverhalt als ›vergangen‹, der Imperativ als ›gegenwärtig‹ nicht zutreffend, wobei aber ›zukünftig‹ eine Realisierung ge-

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fordert wird. Alle übrigen Finitformen geben keinerlei, jedenfalls keine eindeutigen Zeitinformationen. Sie sagen allenfalls aus, dass sie mit einer jeweils bestimmten Zeit, die anderweitig festgelegt, d.h. durch andere Elemente definiert ist, kombinierbar sind. Der Vergangenheitswert des Präteritums ist von verschiedenen Forschern bezweifelt worden. Aber nicht nur in fiktionaler Literatur, auch in gewissen anderen Bereichen ist das Präteritum des Erzähltempus schlechthin. Sollen vergangene Dinge als tatsächlich realisiert berichtet werden, so muss, falls keine Sonderbedingungen vorliegen, das Präteritum verwendet werden, um den Leser glauben zu machen, dass hier eine vergangene Wirklichkeit wiedergegeben wird. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es ja auch Erzählungen, selbst Romane im Präsens gibt. Hierbei wird aber Vergangenheit nicht ausgeschlossen, da das Präsens ja keinen spezifischen Zeitwert hat. In solchen Darstellungen überwiegt das Merkmal der Modalität, die zeitliche Einordnung des Geschehens bleibt dem Leser überlassen. Die Semantik der finiten Verbformen, wie sie vorstehend beschrieben wurde, lässt sich in folgender Tabelle zusammenfassen:

Präsens Präteritum Konjunktiv I Konjunktiv II Imperativ

Realität real real bedingt real irreal irreal/real

5 Z UR G ESCHICHTE G RAMMATIK

DER

Modalität direkt – – indirekt direkt

T EMPORA

Zeit unspezifiziert festgelegt vergangen unspezifiziert festgelegt unspezifiziert festgelegt gegenwärtig/zukünftig

IN DER

Wie schon gesagt wurde, sind die Tempora (und meistens die fünf oder sechs »klassischen« Tempora) mehr oder weniger selbstverständlicher Teil jeder Grammatik. Wenn nun an den vorstehenden Ausführungen etwas Wahres ist, so muss sich die Grammatikschreibung mindestens an dieser Stelle ändern.

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Es muss aber die Frage erlaubt sein, wie denn etwas offenkundig Falsches, mindestens etwas kaum Motivierbares in unsere Grammatiken geraten konnte. Dazu ist ein Blick in frühere Grammatiken erforderlich. Die Geschichte der Grammatik im heutigen Sinne beginnt mit den griechischen Philosophen.6 Vor allem ist Aristoteles zu nennen, der mit dem Begriff des »Rhema« etwas vorweg genommen hat, was in unseren traditionellen Grammatiken als »Prädikat« eine vielgesichtige, im Ganzen besehen eher unheilvolle Rolle gespielt hat. Das Rhema enthält nach Aristoteles ein Zeitelement, eine zeitliche Bestimmung. Gemeint ist aber im Grunde »Realität zu einer bestimmten Zeit«. Dass hier das Zeitelement gegenüber der Realität hervorgehoben erscheint, ist vermutlich als Keim der Entwicklung zur klassischen Tempuslehre anzusehen. Dieser Teil der Grammatik des Aristoteles wurde später ausgebaut und erscheint detailliert bei Dionysius Thrax, der im 1. Jahrhundert vor Chr. lebte. Hier werden die (griechischen) Tempora aufgezählt und recht naiv den als selbstverständlich empfundenen Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugeordnet. Das ging ins Lateinische über, das später das unmittelbare Vorbild für das Deutsche und die anderen europäischen Sprachen war. Nur war es im Lateinischen ganz anders. Da standen, genau wie übrigens im Griechischen, für die einzelnen Tempora einfache Formen des finiten Verbs: Präsens: Aorist / Präteritum: Perfekt: Plusquamperfekt: Futur (I): Futur II:

παιδευω επαιδευσα πεπαιδευκα – παιδευσω –

educo educabam educavi educaveram educabo educavero

Der Einfluss auf die neuere Grammatik ist unverkennbar: es gibt eine »Gegenwart«, vier Stufen der Vergangenheit (für das Griechische, später für einige modernen Sprachen auf drei reduziert), eine, unter Umständen auch zwei Stufen für die Zukunft. Von Dionysius Thrax haben die späten Stoiker, die Philosophen des Mittelalters, die Grammatiker des Humanismus diese Tempuslehre übernommen. Und die neuzeitlichen Grammatiker, nicht

6

Von der völlig andersartigen Grammatik des Panini (um 400 v.Chr.) wird hier abgesehen.

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nur die deutschen, haben sich offenbar unbesehen an dieses Konstrukt gehalten: Es gibt im Deutschen und in anderen europäischen Sprachen diese »Tempora«, die im Wesentlichen Zeitinformationen vermitteln; ihre Zahl ist sechs oder fünf, bei wenigen auch eine Minderzahl, bei vielen mehr – und ihre wesentliche Leistung sei die Information über die Zeit. Darum musste das Verb in der deutschtümelnden Grundschulgrammatik früherer Zeiten auch »Zeitwort« heißen.

6 F AZIT

UND

S CHLUSSBETRACHTUNG

Unsere Tempora, wie sie in den Schulen gelehrt werden, haben entweder gar nicht oder nur nebenbei mit Zeit, mit der zeitlichen Situierung des Sachverhalts zu tun. Die Zeitinformationen werden im Wesentlichen von anderen Elementen übernommen, und der »Zeitwert« der Tempora besteht, sieht man von Präteritum und Imperativ ab, darin, mit anderweitig festgelegten Zeitwerten kompatibel zu sein. Dies gilt auch und gerade für die Erscheinung der sogenannten Consecutio temporum, der »Zeitenfolge« in komplexen Sätzen.7 Man mag nun zur Tempusproblematik stehen, wie man will – sicher und vielfach nachweisbar ist, dass diese Tempuskonzeption von Generationen von Grammatikern quasi unbesehen übernommen, in Schülerhirne eingepflanzt und so als Gemeinwissen eines großen Teils der Bevölkerung gesichert wurde. Nachgedacht wurde wenig über den Zusammenhang zwischen Tempusformen und Zeit, allenfalls über Dimension und Gewicht einzelner Tempora wurde geforscht und geschrieben. Die hier vorgelegten Gedanken wurden in ihrer frühesten Fassung erstmals 1970 niedergeschrieben, später in Vorträgen und Aufsätzen teilweise abgeändert und neu akzentuiert. Gelegentlich gab es Zustimmung, häufiger Kritik. Und für fundierte Kritik bin ich weiterhin sehr dankbar. Wenig geholfen haben mir allerdings die zahlreichen Reaktionen von Kollegen, Konkurrenten, Mitstreitern, die etwa dem Muster folgten: »Er hat zwar in manchen Einzelheiten recht. Aber die Tempora haben eben doch sehr viel mit Zeit zu tun«. Mit derlei Gemeinplätzen ist, auch wenn sie Beifall fin-

7

Vgl. dazu die grundlegende und weiterführende Arbeit von Mariola Wierzbicka (2004).

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den, wenig anzufangen. Man muss, um eine Attacke zu erschüttern, schon gehörig in die Details gehen. Auf solche Details angelegt war eine Podiumsdiskussion, die im September 2007 während einer Konferenz über die deutsch-polnische kontrastive Grammatik in Karpacz im Riesengebirge stattfand.8 Kontrahenten waren Rolf Thieroff und Ulrich Engel; weitere Teilnehmer nahmen zwischendurch an der Diskussion teil. In dieser Diskussion konnte keine Einigung zwischen Thieroff und Engel erzielt werden. Die Auseinandersetzung wird also weitergehen, hoffentlich.

L ITERATUR Arens, Hans (1969): Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bände. Frankfurt a.M. Ballweg, Joachim (1988): Die Semantik der deutschen Tempusformen. Eine indirekte Analyse im Rahmen einer temporal erweiterten Aussagenlogik (=Sprache der Gegenwart, Band 70). Düsseldorf. Bartsch, Werner (1980): Tempus, Modus, Aspekt. Die systembildenden Ausdrücke beim deutschen Verbalkomplex. Frankfurt a.M. Bäuerle, Rainer (1979): Temporale Deixis – temporale Frage. Zum propositionalen Gehalt deklarativer und interrogativer Sätze (=Ergebnisse und Methoden moderner Sprachwissenschaft, Band 5). Tübingen. Brinkmann, Hennig (1962, ²1971): Die deutsche Sprache. Gestalt und Leistung. Düsseldorf. Błachut, Edyta / Golębiowski, Adam / Tworek, Artur (Hg.) (2008): Phänomene im pragmatisch-semantischen Grenzbereich. Akten der 19. Internationalen Linguistenkonferenz Karpacz 19.-21.5.2008. Wroclaw / Dresden. Der Duden in zwölf Bänden. Band 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Auflage 2005. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim usw. Engel, Ulrich (2004, 22009a): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. München.

8

Die Niederschrift dieser Diskussion ist enthalten in Błachut et al. (Hg.) (2008), S. 181-211.

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Engel, Ulrich (1977, 42009b): Syntax der deutschen Gegenwartssprache (=Grundlagen der Germanistik, Band 22). Berlin. Erben, Johannes (121980): Deutsche Grammatik. Ein Abriss. München. Fabricius-Hansen, Cathrine (1986): Tempus fugit. Über die Interpretation temporaler Strukturen im Deutschen (=Sprache der Gegenwart, Band 64). Düsseldorf. Flämig, Walter (1991): Grammatik des Deutschen. Einführung in Strukturund Wirkungszusammenhänge. Berlin. Glinz, Hans (1952, 21961): Die innere Form des Deutschen. Bern / München. Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (1972): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig. Klein, Wolfgang (1994): Time in language. London / New York. Krifka, Manfred (1989: Nominalreferenz und Zeitkonstitution. Zur Semantik von Massentermen, Pluraltermen und Aspektklassen. München. Naumann, Bernd (1986): Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856 (=Philologische Studien und Quellen, Heft 114). Berlin. Podiumsdiskussion Engel – Thieroff (2007). In: Błachut, Edyta et al. (Hg.) (2008), S. 181-211. Reichenbach, Hans (1947): Elements of symbolic logic. New York. Schecker, Michael (1987): Gegenwart und Vergangenheit. Zu den Vergangenheitstempora des Standarddeutschen. In: Deutsche Sprache 3 (1987), S. 209-225. Schulz, Dora; Griesbach, Heinz (1986): Grammatik der deutschen Sprache. Neubearbeitung. München. Thieroff, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus – Modus – Distanz (=Studien zur deutschen Grammatik, Band 40). Tübingen. Weinrich, Harald (1964): Tempus – besprochene und erzählte Welt. Stuttgart. Weinrich, Harald (1993, 42007): Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim / Zürich / New York. Wierzbicka, Mariola (2004): Zeitbeziehungen in den temporalen Satzgefügen, erörtert an den Gegebenheiten der Consecutio temporum im Deutschen und im Polnischen. München. Wunderlich, Dieter (1970, 21973): Tempus und Zeitreferenz im Deutschen. München.

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Zifonun, Gisela et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin / New York.

Was ist ein Wort? Von der Analyse der sprachlichen Spezifika zur Vermittlung interkultureller Kompetenz L IU D EZHANG

Der Unterricht in Deutsch als Fremdsprache oder die Lehrveranstaltung im Bereich der chinesischen Germanistik gilt m.E. als eine Plattform, wo Lehrende und Studierende ständig einer fremden Sprache bzw. Kultur begegnen und sich damit konfrontieren, wobei man bewusst und unbewusst versucht, die beiden Sprachen bzw. Kulturen (hier die chinesische und die deutsche) zu vergleichen und zu analysieren. Im Vergleich und bei der Analyse begegnet man immer wieder Ähnlichkeiten, aber mehr noch Unterschieden bzw. Spezifika, die in jeder der beiden Sprachen bzw. Kulturen herausgefunden werden. Wie soll man solche Unterschiede bzw. Spezifika wahrnehmen und bewerten? Früher gab es eine einfache Methode, die folgendermaßen lautet: Die kennen das nicht, die können das nicht unterscheiden. Ein solches Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster bringt einen in eine Gefahr, nämlich die Gefahr des Ethnozentrismus. Darüber hinaus kann eine einfache Gegenüberstellung der Unterschiede bzw. Spezifika beider Sprachen sicher auch nicht viel helfen. Wichtig und notwendig ist, den Blick bei der Konfrontation und Analyse darauf zu lenken, wie man diese Unterschiede bzw. Spezifika versteht und wie die Unterschiede zwischen Ausgangssprache und Zielsprache jeweils überbrückt werden, denn Verstehen ist Teil der interkulturellen Kommunikation, und »Interkulturell verstehendes Vorgehen setzt eine Analyse der Kultur und Sprache voraus« (Heringer 2004: 40).

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Im vorliegenden Artikel ist ein Fallbeispiel im Chinesischen und im Deutschen ausgewählt, das sich auf die Definition von »Wort« bezieht, ein Problem, dem man in der universitären Lehrveranstaltung im Fachbereich der Linguistik oft begegnet. Bei der Beschreibung und Analyse der chinesischen Sprache kommt gelegentlich folgende Vorstellung vor, dass der Begriff Wort im Chinesischen viel schwieriger zu definieren ist als in flektierenden Sprachen, weil es im Chinesischen keine morphologischen Merkmale gibt, so dass es schwierig ist, eine klare Grenze zwischen Wort und Phrase zu ziehen. Umgekehrt ist der Terminus Wort in flektierenden Sprachen mit Hilfe von klaren morphologischen Merkmalen eindeutig zu definieren, und dadurch kann sich ein Wort von einer Phrase deutlich abgrenzen, wie Ge im Folgenden formuliert: »Weil die Wörter im Chinesischen keine hinreichenden morphologischen Merkmale wie in den indoeuropäischen Sprachen haben, ist es wirklich schwieriger, den Begriff Wort klar und deutlich zu definieren« (Ge 2001: 30; vgl. Lü 1999: 361). Darüber hinaus ist das Wort für den Sprecher einer flektierenden Sprache meist etwas, was beim Schreiben durch Zwischenräume abgetrennt wird. Umgekehrt ist die durch Zwischenräume abgetrennte bzw. isolierte Einheit im Chinesischen normalerweise nicht ein Wort, sondern ein Morphem (vgl. Zhang 2005: 45). Wie oben erwähnt, fehlt es im Chinesischen an morphologischen und graphemischen Merkmalen für die Definition des Terminus Wort. Daher existiert nach wie vor eine Kontroverse um die Definition des Begriffs Wort sowie um die Unterscheidung zwischen Wort und Phrase. Dann bemüht man sich, den Begriff Wort unter syntaktischem Aspekt zu definieren. Demnach wird das Wort im Allgemeinen folgendermaßen formuliert: »Wörter sind die kleinsten akustisch-semantischen Einheiten, die selbständig verwendet werden« (Qi 1996:149; xiandai hanyz cidian (Wörterbuch der chinesischen Gegenwartssprache) 2001: 205; vgl. Qian 2001: 37f.). Eine solche Wortdefinition ist aber nicht widerspruchsfrei. Zum einen kann selbständige Verwendung unterschiedlich verstanden werden. Zum anderen gibt es im Chinesischen Elemente, die normalerweise nicht selbständig verwendet werden können, sondern wie ein gebundenes Morphem in Verbindung mit einem anderen Morphem in einem zusammengesetzten Wort auftreten müssen. In bestimmten Kontexten können sie wieder allein als Wörter frei und selbständig vorkommen. In beiden Fällen haben sowohl das frei vorkommende Wort wie auch das im zusammengesetzten Wort fungie-

W AS IST

EIN

W ORT ? | 175

rende gebundene Morphem und das zusammengesetzte Wort die gleiche wörtliche Bedeutung. Dazu gehört lou- (Haus) in loufang (Haus, hier muss lou- in Verbindung mit dem Morphem fang vorkommen) vs. lou (Haus) in sanhao lou (Haus Nr. 3, hier kommt lou frei als Wort in der Phrase vor) oder ye- (Blatt) in yezi (Blatt, ye- muss in diesem Fall gebunden an das Morphem zi auftreten) vs. ye (Blatt, hier wird ye frei als Wort z.B. in der botanischen Literatur verwendet) (vgl. Lü 1999: 492f.; Zhao 2000: 50f.). Darüber hinaus sieht man sich bei der Definition des Begriffs Wort mit einer Subklasse, nämlich den sogenannten trenn- und schließbaren Wörtern konfrontiert, die normalerweise aus zwei Elementen bestehen, wie xizao (baden), shuijiao (schlafen), jugong (sich vorbeugen), fangjia (Feiertag haben / Ferien machen), zhangang (Wache / Posten stehen), jiehun (heiraten), jianmian (sich treffen / sich sehen), chikui (Schaden erleiden / nehmen, zu kurz kommen), fahuo (in Wut geraten / zornig werden) usw. (vgl. Qi 2000: 17ff.). Alle o.g. Beispiele können einerseits als eine Einheit verwendet werden, nämlich als eine strukturell geschlossene Einheit, wie in den folgenden Sätzen demonstriert wird: 1a) ta schuijiao (Er schläft). 2a) ta zhangang (Er hat Wachdienst). 3a) ta jiehun le (Er ist verheiratet). Andererseits können sie durch das Einsetzen anderer Elemente zwischen die Bestandteile erweitert bzw. getrennt werden, was der obigen Wortdefinition widerspricht: 1b) ta shui yi jiao (Er schläft einmal). 2b) ta zhan guo yici gang. (Er hat einmal Wachdienst gehabt) 3b) ta jie le liangci hun (Er hat zweimal geheiratet). Solchen sprachlichen Einheiten bzw. Segmenten gegenüber ist man in ein Dilemma geraten. Bis heute sind Linguisten nicht einig, ob solche Einheiten bzw. Segmente als Wörter oder als Phrasen klassifiziert werden sollten. Es werden hauptsächlich drei Meinungen vertreten. Zum einen hat man die Auffassung, dass solche Einheiten als eine Subklasse von Verben zu klassifizieren sind, da ihre innere Struktur ähnlich ist wie ein verbales Kompositum, das aus einem verbalen und einem nominalen Morphem besteht. Zum

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anderen bestehen manche Linguisten darauf, dass sie nicht der Klasse Wort zugeordnet werden sollten, weil sie einfach durch das Einsetzen anderer sprachlichen Elemente getrennt bzw. erweitert werden können und wie verbale Phrasen fungieren. Die dritte Auffassung geht einen Kompromiss ein: Wenn solche Einheiten bzw. Segmente nicht getrennt bzw. erweitert sind, dann fungieren sie als eine geschlossene Einheit. In diesem Fall sind sie als Wörter zu betrachten. Falls sie erweitert sind, fungieren sie nicht mehr als Wörter, sondern als Phrasen. Zum Bezeichnen solcher Einheiten bzw. Segmente wurde daher eine Wortsubklasse geschaffen mit dem Namen liheci (trenn- und schließbare Wörter) (vgl. Qi 2000: 19f.; Ge 2001: 44ff.). Stimmt es, dass der Begriff Wort in einer flektierenden Sprache relativ leichter und eindeutiger zu definieren ist als im Chinesischen, das gemäß der Sprachtypologie eine sogenannte isolierende bzw. analytische Sprache ist und daher fast keine morphologischen Merkmale hat? Mit dieser Frage haben wir gemeinsam mit den Studierenden die Definition von Wort im Deutschen, das gemäß der Sprachtypologie zu den flektierenden Sprachen gehört, betrachtet und analysiert. Das Ergebnis der Analyse zeigt, dass die Definition auch im Deutschen sowohl theoretisch als auch praktisch sehr problematisch ist. Wir meinen zwar intuitiv zu wissen, was ein Wort im Deutschen ist, weil wir nach unserem Sprachgefühl wissen, dass das Wort zu den Grundbausteinen einer Sprache gehört. Wenn wir eine sprachliche Äußerung tun, so verknüpfen wir Wörter zu größeren Einheiten, den Sätzen und Texten. Hier akzeptieren wir das Wort bewusst und unbewusst als empirischen Gegenstand, nämlich als intuitiv vorgegebenen und umgangssprachlich verwendeten Begriff (vgl. Bünting 1996: 94; Bußmann 1990: 849). In der Tat sind wir aber nicht einmal im Deutschen in der Lage, den Begriff Wort sprachwissenschaftlich zu definieren. Ein einfaches Beispiel zur Wortproblematik. Man weiß, dass einzelne Wörter im Deutschen zu Komposita zusammengesetzt werden. Umgekehrt können bestimmte Komposita in ihre Bestandteile zerlegt werden, etwa durch Minimalpaarbildung. Die Komposita Erdbeere, Schwarzbeere können in die Wortbestandteile Erd, schwarz und Beere segmentiert werden. Aber wie ist das Wort Himbeere zu beschreiben? Was ist Him-, das wir auf diese Weise isolieren können? Ist es ein Wort? Wenn ja, was bedeutet es? Und wenn nicht, was ist es dann? Aus synchronischer Sicht ist diese Frage nicht leicht zu beantworten.

W AS IST

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Wie können wir die Einheit Wort im Deutschen fassen und definieren? Zusammenfassend sind folgende Definitionsvorschläge aufgelistet, die sich jeweils auf andere Ebenen beziehen. •







Auf orthografisch-graphemischer Ebene wird ein Wort als eine durch Zwischenräume im Schriftbild isolierte Einheit betrachtet. Dieses Kriterium ist aber anfechtbar. Einerseits gibt es im Deutschen komplexe Wörter, die ganze Sätze enthalten wie Vergissmeinnicht, Rührmichnichtan usw. Intuitiv sind die o.g. Beispiele für deutsche Sprachteilnehmer problemlos jeweils als ein Wort anzunehmen. Aber andererseits gibt es auch Konstruktionen wie wiederzusehen in Ich freue mich sehr, Sie bald wiederzusehen. Eine solche strukturelle Einheit, die durch Zwischenräume abgetrennt wird, als ein Wort zu akzeptieren, ist sehr problematisch (vgl. Ernst 2004: 103). Auf phonetisch-phonologischer Ebene gilt ein Wort als kleinste durch Wortakzent und Grenzsignale wie Pause, Knacklaut u.a. theoretisch isolierbare lautliche Einheit, die eine eigenständige Bedeutung hat. Hier liegt die Betonung auf theoretisch, weil Wörter innerhalb einer Phrase in der natürlichen Sprechweise nicht durch Pausen unterbrochen werden. Außerdem gibt es auch Wörter, die phonologisch jeweils eine lautliche Einheit bilden, obwohl morphologisch zwei lexikalische Wörter darin enthalten sind, wie im in im Frühling, am in am Sonntag, zur in zur Tagung, aufs in aufs Land etc. Man fragt: Handelt es sich jeweils um ein Wort oder um zwei Wörter? Formal repräsentieren sie jeweils nur eine Einheit, nämlich eine phonologische Einheit. Aber inhaltlich bezieht es sich jeweils auf zwei Wörter. Um dieses Dilemma zu bewältigen, wird für solche Einheiten eine Bezeichnung vorgeschlagen, nämlich phonologisches Wort (vgl. Vater 1996: 70). Morphologisch sind Wörter als Grundeinheiten durch grammatische Paradigmen wie Flexion gekennzeichnet (vgl. machen vs. machst, machte und gemacht). Es gibt aber auch nicht flektierbare Wörter, die kein Paradigma bilden. Dazu gehören Präposition (in, auf, zu usw.), Konjunktion (dass, und, ob etc.), Adverb und Interjektion (vgl. Bußmann 1990: 849). Lexikalisch-semantisch ist ein Wort die »kleinste selbständige sprachliche Einheit von Lautung und Inhalt bzw. Bedeutung« (Duden 2001: 1828), die im Lexikon kodifiziert ist. Mit selbständig ist hier gemeint,

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dass solche Einheiten frei, nicht gebunden an andere Elemente vorkommen können. Auch hier muss erwähnt werden, dass dieses Kriterium problematisch ist. Es gibt Wörter, die anscheinend keine deutliche Bedeutung aufweisen. Dazu gehört das Wort »dass« in Wir wissen, dass er morgen kommt oder das Wort es in Es regnet jeden Tag (vgl. Meibauer/Demske/Geilfuß-Wolfgang/Pafel/Ramers/Rothweiler/Steinbach 2002: 18). Auch das oben erwähnte Him- ist semantisch problematisch. Auf syntaktischer Ebene lassen sich Wörter als kleinste verschiebbare und ersetzbare Einheiten des Satzes beschreiben. Diese Definition gilt aber nicht als unproblematisch, da wir Wörter nicht beliebig im Satz verschieben oder ersetzen können, wie in den folgenden Beispielsätzen gezeigt werden: 4a) Er weiß, dass Anna morgens sehr früh aufsteht. 4b) Anna steht morgens sehr früh auf. Steht ... auf ist ein Beispiel für einen anderen Fall: Zwei Einheiten in verschiedenen Satzpositionen und Funktionen bilden zusammen ein Wort im Sinne von Wortform. Hier wird eine Bezeichnung, nämlich syntaktisches Wort vorgeschlagen. Der Nichtzusammenfall eines morphologischen Worts mit einem syntaktischen ist charakteristisch für das Deutsche. Zwischen den beiden syntaktischen Wörtern, die zusammen ein morphologisches Wort bilden, können sehr viele andere Wörter bzw. Wortgruppen eingesetzt werden (vgl. Vater 1996: 70; Ernst 2004: 104).

Durch die obige Darstellung und Analyse wird gezeigt, dass das Wort im Deutschen auch niemals allein durch das orthographisch-graphemische oder allein durch das morphologische Merkmal beschrieben werden kann. Es müssen stets mehrere Merkmale, die sich jeweils auf verschiedene Ebenen beziehen, zugleich vorhanden sein. Daher kann gesagt werden, dass jede Wortdefinition z.B. im Deutschen zugleich ein Merkmalbündel ist. In diesem Sinne ist die Annahme, dass der Begriff Wort im Chinesischen viel schwieriger zu definieren sei als in flektierenden Sprachen, folglich nicht mehr aufrecht zu erhalten. Wir wissen, dass Klassifizieren oder Kategorisierung eine wichtige menschliche kognitive Kompetenz ist. Wenn einem etwas Neues begegnet, versucht man automatisch, es einer bestimmten Kategorie zuzuordnen mit

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der Annahme: Kategorien seien klar umgrenzt. Kategorien würden vollständig durch eine begrenzte Menge von notwendigen und hinreichenden Merkmalen definiert. Alle Vertreter einer Kategorie seien gleichwertig, nämlich alle Vertreter einer Kategorie erfüllten alle Merkmale und könnten deswegen eindeutig und klar einer Kategorie zugeordnet werden. Aber eine ganze Reihe von empirischen Daten in der Forschung der Kognitionspsychologie haben gezeigt, dass nicht alle Konzepte als definitorische Merkmalbündel zu beschreiben sind, weil unser Geist nicht nur mit wohldefinierten, eindeutig umgrenzten Kategorien arbeitet. Unsere alltagssprachlichen Kategorien lassen sich oft nicht eindeutig beschreiben. Dies hängt mit der Randbereichsunschärfe zusammen, die charakteristisch für viele Kategorienkonzepte ist. Manche Mitglieder einer Gruppe sind Grenzfälle von Kategorien: Der Wal sieht z.B. wie ein Fisch aus, lebt auch wie ein Fisch im Wasser, aber er ist doch ein Säugetier (vgl. Schwarz 2007: 46ff.). Diese neuen Erkenntnisse der Kognitionspsychologie gelten m.E. auch für die Definition / Abgrenzung des Begriffs Wort. Demnach können wir mit Recht formulieren, dass es ein normales Phänomen in beiden Sprachen ist, wenn nicht alle Wörter sich eindeutig durch ein einzelnes Merkmal bzw. Kriterium von den anderen abgrenzen lassen. Obwohl der intuitiv vorgegebene und umgangssprachlich verwendete Terminus Wort in beiden Sprachen sehr problematisch ist, wie oben dargestellt, wird der Begriff Wort in der Linguistik sowohl im Chinesischen als auch im Deutschen weiter verwendet, etwa bei Wortbildung, Wörterbuch usw. Es haben sich auch verschiedene linguistische Schulen ihren Wortbegriff zurecht gelegt. Es wird sicher noch weitere Definitionsversuche geben, weil einerseits unsere Kognition ein ununterbrochener Prozess ist, wo immer noch neue Erkenntnisse für den Begriff Wort entdeckt werden. Andererseits befindet sich unsere Sprache ständig im Wandel und ist in diesem Sinne kein statisch geschlossenes System, weil sich die Welt und die soziale Welt ständig ändern. Was Unterschiede bzw. Spezifika anbelangt, die in der einen Sprache zu formulieren sind und in einer anderen ausfallen, darf man solche Wirklichkeitsbereiche nicht grob verallgemeinern und vorschnell auf einige z.T. gar nicht zutreffende Attribute reduzieren. Das ist sicher eine einfache, aber falsche Methode, und ein solches Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster hängt eng mit dem zusammen, was wir falsche Vorstellung bzw. Vorurteil nennen. Das oben erwähnte morphologische Merkmal ist zwar spezifisch

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für eine flektierende Sprache und fungiert als eines der Merkmale für die Wortdefinition und -abgrenzung, aber es ist nicht als einziges Kriterium dafür zu betrachten, wie wir oben bereits dargestellt haben. Darüber hinaus darf die Behauptung, der Begriff Wort sei im Chinesischen deshalb nicht deutlich zu definieren, weil es dort an morphologischen Merkmalen fehle, keineswegs als Maßstab für eine Beurteilung des Phänomens Wort gelten. Dies ist eine falsche Vorstellung bzw. ein Vorurteil gegenüber der chinesischen Sprache, weil Sprachen als Zeichensysteme fast ganz auf Arbitrarität und Konventionalität beruhen und unterschiedlich konventionalisiert sind (vgl. Heringer 2004: 109). In der Tat kann man in der chinesischen Sprache gemäß ihrer Konvention im Allgemeinen intersubjektiv anerkannte Merkmale bzw. Kriterien für die Definition des intuitiv vorgegebenen Begriffs Wort finden, obwohl dort zahlreiche Definitionsversuche uneinheitlich und kontrovers sind (vgl. Lü 1999: 366f.; Qi 2000: 2ff.; Ge 2000: 30 ff.; Qian 2001: 37f.). Im alltäglichen Leben tauchen oft Missverständnisse und Vorurteile in Bezug auf Sprache auf. Z.B. hört man oft solche Fragen: wie Sprache ist oder sein soll, was richtig oder falsch, welche Sprache schön klingt, welche Sprache schwer ist. In diesem Fall sind wir der Auffassung, dass Umgang mit Sprache lebensnotwendig ist, worauf auch Langacker hingewiesen hat: »Trotz ihrer Bedeutung für das menschliche Leben kennt man die Sprache ungenügend. Auch unter gebildeten Leuten gibt es tausende von falschen Vorstellungen über die Sprache, und nicht einmal Linguisten von Beruf können den Anspruch erheben, sie völlig zu verstehen« (Langacker, zitiert nach Vater 1996: 20). In Analogie zu dem obigen Zitat möchten wir Folgendes formulieren: Wir kennen das eigene Ich ungenügend, wir kennen die Anderen (bzw. Fremden) ungenügend, wir kennen die eigene Sprache ungenügend, wir kennen die anderen bzw. fremden Sprachen immer noch wenig. Wir sind zwar alle gebildete Leute, aber wir können nicht den Anspruch erheben, das eigene Ich und die eigene Sprache sowie die Anderen bzw. Fremden und deren Sprachen völlig zu verstehen. Um uns selbst besser zu verstehen, müssen wir uns bemühen, die Anderen bzw. Fremden und deren Sprachen zu verstehen, wie durch Analyse und Untersuchung der eigenen und fremden Sprache sowie ihrer Unterschiede bzw. Spezifika. Das Verstehen stellt eine Basis der interkulturellen Kommunikation dar und gilt daher als ein

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wichtiger Prozess der Ausbildung der interkulturellen Kommunikationskompetenz. In diesem Sinne enthält der im Titel verwendete Begriff Vermittlung m.E. inhaltlich mindestens folgende Komponenten: das Verstehen, das Lernen, das Von-einander-Lernen, das Weiterlernen etc., wir legen eher Wert auf das Verstehen und das Von-einander-Lernen. Alle diese Komponenten sind ununterbrochene Prozesse, die uns das ganze Leben hindurch begleiten und für uns lebensnotwendig sind.

L ITERATUR Bünting, Karl-Dieter (1996): Einführung in die Linguistik, 15. Auflage. Weinheim. Bußmann, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft, 2., völlig neu bearb. Auflage. Stuttgart. Duden (2001): Deutsches Universalwörterbuch, 4., neu bearb. und erw. Auflage. Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich. Ernst, Peter (2004): Germanistische Sprachwissenschaft. Wien. Ge, Benyi (2001): xiandai hanyu cihuixue (Lexikologie der chinesischen Gegenwartssprache). Jinan. Heringer, Hans Jürgen (2004): Interkulturelle Kommunikation. Tübingen. Lü, Shuxiang (1999): hanyu yufa lunwenji (Sammelband über die chinesische Grammatik). Beijing. Meibauer, Jörg / Demske, Ulrike / Geilfuß-Wolfgang, Jochen / Pafel, Jürgen / Ramers, Karl Heinz / Rotweiler, Monika / Steinbach, Markus (2002): Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart, Weimar. Qi, Huyang (2000): xiandai hanyu duanyu (Phrasen der chinesischen Gegenwartssprache). Shanghai. Qi, Yucun (Hg.) (1996): yuyanxue yinlun (Einführung in die Linguistik). Shanghai. Qian, Wencai (2001): hande yuyan shiyong duibi yanjiu (Kontrastive Untersuchung der chinesischen und deutschen Sprache). Beijing. Schwarz, Monika / Chur, Jennette (2007): Semantik. Ein Arbeitsbuch, 5., aktual. Auflage. Tübingen. Vater, Heinz (1996): Einführung in die Sprachwissenschaft, 2., verb. Auflage. München.

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Zhang, Bin (2005): xiandai hanyu yufa shijiang (Zehn Vorträge über die Grammatik der chinesischen Gegenwartssprache). Shanghai. Zhao, Yuanren (2001): yuyan wenti (Probleme mit der Sprache). Beijing.

Günter Grass: Danzig und Polen Eine essayistische Skizze N ORBERT H ONSZA

E INFÜHRUNG Am 15. April 2015 starb Günter Grass, einer der profiliertesten Schriftsteller der modernen deutschen Literatur. Neben Blumen und Nüssen wurde eine echte Blechtrommel ins Grab geworfen: ein Symbol seines Welterfolges und dies – so der Regisseur Volker Schlöndorff – »für den Fall, dass er sich noch einmal melden wollte« (Bild 2015). Vor seinem Tode schrieb der altersgewitzte Dichter (Grass 1997): Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er.

Die deutsche Literatur verlor einen Dichter von Weltrang, den man neben Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine, Hermann Hesse, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Heinrich Böll und Elias Canetti stellen muss. Seine Verdienste galten nicht nur der Literatur. Immer hat er auch zentrale gesell-

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schaftspolitische Fragen aufgegriffen und – so Grass selbst – »das Maul nicht gehalten« (vgl. Der Spiegel 1999). Er war ein kämpferischer und mutiger Intellektueller, ein wacher Geist, der oft bewusst Irritationen hervorrief. Zeuge und Repräsentant eines Jahrhunderts. Schwer belehrbar, allzu oft von Selbstzweifeln frei, mit einem Wort: Ein Querkopf, wie ihn Deutschland lange nicht mehr haben wird. Einer wie alle, keiner wie er, schrieb im Nachruf im Spiegel Volker Hage. Sein fiktives Alter Ego aus der Blechtrommel hatte eine neue Phase in der Literatur eingeleitet, denn er verkörperte die deutsche Nachkriegsliteratur; Markenzeichen, Repräsentant und Aushängeschild (Hage 2015: 107b) in einem. Auch Schriftsteller, Künstler und Bürger in einem. Über meinen Grass, über unseren Grass zu sprechen, dazu gehört vielleicht viel Mut, denn über ihn ist schon alles gesagt worden: Pfeife, Schnurrbart, ewiger Spötter mit frivolem Altmännergerede, oft Nörgler mit Besserwisser-Gehabe und gelegentlich MöchtegernPolitiker mit vielen Fehleinschätzungen. Aber das ist manchmal eine Klischeebildkollage. Denn dieser »umstrittene Autor«, wie er immer wieder genannt wird, hat Werke geschaffen, die wahrscheinlich in den nächsten 100 Jahren nicht wiederholt werden. Als 1959 Die Blechtrommel erschien, war Deutschland in einer ziemlich schlechten moralischen Verfassung. Die etwas erschrockene, mit einem Hauch von Provinzialität umwehte Nachkriegsgesellschaft musste den bitteren Geschmack eines linken Nonkonformismus des Dichters hinnehmen, der sich zwischen konfliktreichem Geschehen, politischem Streit, kulturellem Diskurs und künstlerischer Tätigkeit sicher und selbstbewusst bewegte. Das war für viele ein offensichtlicher Affront. Die »sexuelle Akrobatik« seiner Helden, Hohn und Spott gegenüber der Kirche und dem konservativen Staat, konnte man nur schwer ertragen. Da kam ein aus Danzig zugelaufener Spötter, der die ewigen und heiligen Werte des Kleinbürgers blasphemisch darstellte. Wer war eigentlich dieser moralische Schmutzfink und Pornograph? Pole, Deutscher, Kaschube, Moskauer Agent? Man könnte das alles ins Absurde treiben und wahrscheinlich würde es immer lächerlicher. Hans Werner Richter entschuldigte sich 1955, dass Grass zur Tagung der Gruppe 47 erschienen war: Ich hatte ihn nicht eingeladen, und eigentlich wollte ich ihn auch nicht dabeihaben. Günter Grass, das bedeutete mir nichts, und der Name besagte mir nichts. Niemand meiner Tagungsteilnehmer kannte ihn. Nur ein sehr junger Lektor quälte mich mit

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diesem Namen. So ließ ich mich schließlich doch noch im letzten Augenblick erweichen. (Richter 1986: 122)

Man brauchte nicht lange zu warten und er ist zum intellektuellen »Primus inter pares« der deutschen Nachkriegsliteratur geworden und trug wesentlich zu ihrer Internalisierung bei. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass er Mitbegründer der demokratischen Kultur und Literatur in Deutschland war, die er seit der Blechtrommel in die Weltkultur hievte. Das grelle Narrenkleid seines Romanhelden ist zur Ikone einer entseelten Welt geworden. Grass war ein bewundernswerter Pragmatiker, der jedoch mit fortschreitendem Alter immer unduldsamer wurde. Er setzte mit der Blechtrommel und einigen weiteren Werken deutliche Akzente für die Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre. Ohne ihn, diesen Multi-Künstler, wäre die deutsche Nachkriegsliteratur undenkbar. Die Blechtrommel ist ein Kind der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, das Vorzeigestück der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch 1978 mit Heinz Ludwig Arnold bemerkte Grass, dass er »bei dem Roman Blechtrommel bewusst gegen eine Tendenz der unmittelbaren Nachkriegsliteratur angeschrieben habe, die sich ortlos verstand, zeitlos verstand einer teils epigonalen, teils unbewussten Kafkanachfolge« (Kölner Stadt-Anzeiger 2006). Schon in diesem Debütroman, wie übrigens auch dann in den späteren Werken – Der Butt, Die Rättin bis zur Box und Grimms Wörtern, ist – wie es seinerzeit Hans Magnus Enzensberger formulierte – »eine Phantastik am Werk, die vor nichts Halt macht, am Dunkel rührt, und immer wieder, fast zwanghaft, in eine Sphäre des infantilen Aufruhrs zurückkehrt« (Kesting 2008: 260).

I N D ANZIG

GEBOREN UND AUFGEWACHSEN

Unser Grass ist 1927 im Freistaat Danzig geboren. Väterlicherseits entstammt er einer protestantischen Handwerkerfamilie, die im Vorort Langfuhr eine Tischlerei betrieb. Im Gedicht Schlager im Ohr lesen wir: »Die Kreissäge meines Großvaters konnte einen hellen langen Vormittag zu Dachlatten verschneiden« (Neuhaus 1998: 6). Grass’ Vater – Wilhelm Ernst (von allen Willy genannt) – ging wohl aus Gesundheitsgründen die-

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sem Beruf nicht nach und betrieb im Labesweg einen kleinen Kolonialladen mit Grass’ Mutter Helene, einer Kaschubin katholischer Konfession. Kaisers Kaffee wurde von Willy, der inzwischen der NSDAP beitrat, besonders Volksgenossen empfohlen. Grass litt das ganze Leben an einem spezifischen Mutterkomplex. Helene hat früh Günters künstlerische Fähigkeiten erkannt und nach Möglichkeiten unterstützt. Der Vater wusste zwar, in den späteren Jahren, dass sein Sohn ein großer Schriftsteller ist, aber wahrscheinlich hat er von ihm nichts gelesen. In der Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel (2006) finden wir eine der Mutter gewidmete Passage, die zu den schönsten Fragmenten der Weltliteratur zählt.

P ROVOKATIONEN

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B EKENNTNISSE

Obsessive Faszination durch die Heimatstadt ist in der Weltliteratur keine Seltenheit. James Joyce und Dublin, Franz Kafka und Prag, Thomas Mann und Lübeck und viele andere Autoren sowohl der deutschen als auch der Weltliteratur waren mit ihren Geburts- und Wirkungsorten verbunden. Stadtlandschaften gehören zu den interessanten »Welten« der Literatur, sie werden von Schriftstellern intensiv, manchmal gar obsessiv erfahren, geprägt und gelegentlich auch mythologisiert (Weimar, Berlin, Prag, Dublin, Danzig u.a.). Eine Debatte um die soziokulturelle Bedeutung des Urbanen steht bei vielen Schriftstellern im Vordergrund und findet starken Ausdruck im literarischen Werk. Zu meiner Person: Ich wurde im Jahre 1927 in Danzig geboren. Mit zehn Jahren war ich Mitglied des Jungvolkes, mit vierzehn Jahren wurde ich in die Hitlerjugend eingegliedert. Als Fünfzehnjähriger nannte ich mich Luftwaffenhelfer. Als Siebzehnjähriger war ich ein Panzerschütze. Und als Achtzehnjähriger wurde ich aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen: Jetzt erst war ich erwachsen. Jetzt erst, nein, vielmehr nach und nach wurde mir deutlich, was man, verdeckt von Fanfarenruf und Ostlandgeschwafel mit meiner Jugend angestellt hatte. Jetzt erst, und Jahre später in immer erschreckenderem Maße, begriff ich, welch unfaßliche Verbrechen im Namen der Zukunft meiner Generation begangen worden waren. Als Neuzehnjähriger begann ich zu ahnen, welch eine Schuld unser Volk wissend und unwissend angehhäuft hatte, welche Last und Verantwortung meine und die folgende Generati-

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on zu tragen haben würden. Ich begann zu arbeiten, zu lernen und mein Mißtrauen einer sich wieder harmlos gebenden kleinbürgerlichen Welt gegenüber zu schärfen.

In der Autobiographie aus dem Jahre 2006 Beim Häuten der Zwiebel kommt es dann zum Bekenntnis, dass er in die Panzereinheit Waffen SS einberufen wurde, was fast ein Erdbeben hervorgerufen hat. Abgesehen davon, dass dieses Bekenntnis zu spät erfolgte, hat dieses biographische Detail keine größere Bedeutung. Dass bei dieser Gelegenheit viele konservative Blätter Grass als Nazi abstempelten, finde ich lächerlich, denn Grass hatte die Verblendung jener Jahre öfter angesprochen und sie als »Ausmaß meiner Dummheit« bezeichnet. Wir haben in der Literatur wesentlich ernstere Beispiele faschistischer Verführung, um nur Knut Hamsun und Ezra Pound zu erwähnen. Beim Häuten der Zwiebel ist neben der Blechtrommel das Kernstück von Grass. Diese Autobiographie widerlegt alle bösen Gerüchte von einer nachlassenden dichterischen Schaffenskraft des Dichters. Seine Meisterschaft realisiert sich in Erinnerungsgeschichten und in einer – wie es Hanjo Kesting formulierte – »unmerklichen Epochentransgression, einer Art Übertragung einer romantischen Figur in ein Jahrhundert menschlicher Untaten« (Kesting 2008: 279). Einen mächtigen Skandal hat Günter Grass nochmals 2012 mit seinem Gedicht Was gesagt werden muss hervorgerufen, in dem man dem Dichter Antisemitismus und hundert andere Sünden vorgeworfen hat. Schriftsteller, Journalisten, Botschaften, der Bundestag und die israelische Regierung nahmen an diesem ideologischen Spektakel teil. Alles steigerte sich ins Absurde dahingehend, dass man Grass sogar den literarischen Nobelpreis absprechen wollte. Aus allen Ecken forderte man auf Biegen und Brechen den Großschriftsteller in die Hölle zu schicken, so auch der Kritiker Marcel Reich-Ranicki.

D ANZIGER K ONNOTATIONEN Literaturlandschaften der Regionen zu beschreiben ist keine dankbare Aufgabe, zumal im 20. Jahrhundert Probleme wie intensive Modernisierungsund Globalisierungsprozesse, totalitäre Ideologien, die auch mit der Dekon-

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struktion eines Mythos Günter Grass und Danzig, der Regionalgeschichte verbunden waren, einer starken Polarisierung erlagen (Provinz Ostpreußen, Freie Stadt Danzig, Memelgebiet). Um im 20. Jahrhundert zu bleiben: Es fehlte nach 1945 ebenfalls nicht an Versuchen, eine so genannte »Danziger Literatur« zu konstruieren. »Danzig war« ‒ konstatiert Peter Oliver Loew in seiner interessanten Arbeit Das literarische Danzig 1793-1945 ‒ »keine Stadt der Musen, sondern der Museen: Kalliope, Melpomene, Thalia und ihre Freundinnen konnten an diesem Ort keinen Gefallen finden« (Loew 2009). Natürlich, im Vergleich zu solchen Städten wie Berlin, München, Wien, Prag (und wohl auch vielen kleineren Städten) blieb Danzig eher Provinz. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, »denn den literarischen Diskurs in Danzig und über Danzig« – schreibt mit Recht Loew – »haben eben auch Schriftsteller mitgeprägt, die ohne in Danzig zu leben über Danzig geschrieben haben und ohne über Danzig zu schreiben in Danzig gelesen wurden. Wesentliche Bezugsgröße ist somit der Raum – Danzig, sei es als sozialer, sei es als literarischer Ort« (Loew 2009: 11). Ein reales Danzig / Gdańsk finden wir ebenfalls in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Werken der polnischen Schriftsteller Paweł Huelle und Stefan Chwin. Auch fern von Danzig konnte eine Literatur der Erinnerung und großer Sehnsucht entstehen, doch erst die Werke von Günter Grass zerstörten stereotype Bilder vom kleinbürgerlichen Danzig. Sein Schaffen ist in einen deutschen Gegenwarts- und Identitätsdiskurs einbezogen worden. Dank der Blechtrommel ist Danzig zu einem literarischen Zentrum der Weltliteratur geworden. Günter Grass genießt in Polen einen hohen Bekanntheitsgrad. Die Leser und Verehrer fasziniert die biografische Annäherung an Polen, an die Weichselmündung und an Danzig. »Langfuhr war so groß und so kann das alles, was sich auf der Welt ereignet oder ereignen könnte, sich auch in Langfuhr ereignen oder hätte sich ereignen können« (Grass 1999). Der moralische und geografische Verlust der Heimat hat ihn angespornt, jene Langfuhrer Ereignisse in seiner Imagination zu umspielen und so zu vervielfältigen. Unermüdlich erzählt er »seine« Geschichte und »andere« Geschichten. Als Bürger, Zeitgenosse, Künstler, Essayist, wunderbarer Schöpfer von Kopfgeburten und »Lügengeschichten« ist er zugleich Illustrator und Interpret der deutschen und polnischen Geschichte. Mit Bravour und unwahrscheinlicher Imagination zeigt er in seinem ersten großen epischen Werk einen Ausschnitt jener kleinen Welt, in der Deutsche, Polen, Kaschu-

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ben und Juden zusammenlebten. Er zeigt »Spannungen, Brechungen und Verwerfungen eines Grenzraumes« (Neuhaus 1998: 11). Er verschneidet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so kühn, dass er dieses Produkt mit Recht »Vergegenkunft« nennt. Die von ihm gezeigten Verflechtungen der Geschichte lassen ihn zum Kombattanten eines sachhaltigen Zeitdiskurses werden, in dem auch alle Empfindlichkeiten der Bundesrepublik ihren Niederschlag gefunden haben. Mit dem Nobelpreis 1999 hat Günter Grass den Gipfel der Anerkennung erreicht. Unabhängig davon, ob wir Grass selbst und seine Tätigkeit positiv oder negativ einschätzen (›Zuchtmeister der Nation‹), kein anderer hat als Repräsentant des 20. Jahrhunderts so lebhafte, ›erfrischende‹ und zugleich kontroverse Debatten hergerufen wie er. Seine Ideen scheinen fast unerschöpflich zu sein. Der alte und weise Grass stellt zwar immer öfter den Zeigestock in die Ecke, doch nicht seinen Anspruch, in der Gegenwartsliteratur weiter mitzuspielen (Jürgs 2002: 428).

T OPOGRAPHISCHER F ADEN Danzig ist meistens Handlungsort und Thema des Werkes von Günter Grass. Danzig als stetige Metapher unterstützt seine Schreibstrategie. Günter Grass und Danzig, das ihm erlaubte, vor allem in der Danziger Trilogie originelle literarische Stadtbilder zu schaffen. Dieser Erkenntnisraum (die Stadt, die Ostsee, die Weichsel) bildet einen Mikrokosmos. Aber auch in anderen Werken (Die Rättin) bildet die Stadt (Apokalypse und Utopie) eine interessante Projektionsebene und drückt zugleich Obsessionen des Autors aus, die vielleicht nur »harmlose« Erinnerungslandschaften sind und die ein bewusst sentimentales Bild inszenieren. Ohne Danzig und den deutschpolnischen und kaschubischen Faden hätte wahrscheinlich Günter Grass den Nobelpreis niemals erhalten. Man kann mit Gertrude Cepl-Kaufmann übereinstimmen, dass ohne die besondere Geschichte dieser Stadt und die Topographie der Grass’schen Kindheit kaum ein Werk entstanden wäre, welches unser Interesse wecken würde. In der Danziger Trilogie, in Örtlich betäubt, Der Butt, Die Rättin, Unkenrufe, Im Krebsgang – in allen diesen Werken ist Danzig durchgehend stark anwesend. Aber auch Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Das Treffen in Telgte, etliche dramatische Versuche, viele Gedichte und bildkünstlerische Arbeiten kommen ohne Danziger Re-

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miniszenzen nicht aus. In Essays, Artikeln und Reden finden wir immer wieder Verweise auf heimatliche Erfahrungen. Seine Schreibstrategie ist stets durch Annäherung und Rekonstruktion der realen Lebenswelt von Danzig gekennzeichnet. Sogar seine Ehrungen und Auszeichnungen befinden sich im »Dunstkreis« dieser Stadt. Danzig als eine Art Opium ist in seinem Werk allgegenwärtig. Auch wenn der Autor stark »literarisiert«, wird die historische Identität dieser Stadt niemals aufgegeben.

D EKONSTRUKTION EINES M YTHOS Günter Grass gehörte in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zu den Wegbereitern der deutsch-polnischen Verständigung. Beharrlich suchte er nach einer Wiederbegegnung mit seiner alten Heimat, wofür ihn Anhänger einer konfrontativen Vertriebenenpolitik als Vaterlandsverräter abstempelten. Er ließ sich nicht beirren. Mit dem genialen »Prosawurf« Die Blechtrommel wurde sein Einstieg in die Weltliteratur gesichert und der Schelm Oskar ist eine der bekanntesten literarischen Figuren geworden. Danzig als Erfahrungs-, Erkenntnis- und Erinnerungsraum ist als Mikrokosmos in ein literarisches Makrokosmos-Modell übergegangen. Die Stadt erliegt einer Mythologie und zugleich Dekonstruktion: In diesem Vorort zwischen Schrebergärten, Exerzierplätzen, Rieselfeldern, leicht ansteigenden Friedhöfen, Werftanlagen, Sportplätzen und Kasernenblöcken, in Langfuhr, das rund zweiundsiebzigtausend gemeldete Einwohner beherbergte, das drei Kirchen und eine Kapelle, zwei Gymnasien, ein Lyzeum, eine Mittelschule, eine Gewerbe- und Haushaltsschule, immer zu wenig Volksschulen aber eine Bierbrauerei mit Aktienteich und Eiskeller besaß, in Langfuhr, die Schokoladenfabrik Baltic, der Flugplatz der Stadt, der Bahnhof und die berühmte Technische Hochschule, zwei ungleich große Kinos, ein Straßenbahndepot, die immer überfüllte Sporthalle und eine ausgebrannte Synagoge Ansehen gaben.

Die Rezeption der Zeitgeschichte und ihre fiktionale Umsetzung in der Blechtrommel ist immer zu Recht mit vorrangigem Interesse betrachtet worden, wobei die Verknüpfung der deutsch-polnischen Beziehungen hier außerordentlich groß ist. Die einzelnen Figuren repräsentieren somit auch das Deutsche Reich, Polen und den »Freistaat« Danzig. Der Rheinländer

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Alfred Matzerath heiratet die aus dem kaschubischen Raum stammende Agnes. Ihr Cousin und Geliebter, Jan Bronski, ist Pole. Oskar ist wiederum eine Art »Geist der Erzählung«. Der Roman besitzt ein klares autobiographisches Argumentationsmuster. Konsequent wird eine kleinbürgerliche Welt mit Verhaltensweisen aufgebaut, die eine bestimmte sozialpsychologische Prägung haben: Aufsteigerdenken, Anpassungsbereitschaft, lächerliche Subordination und Privatisierung politischer und geschichtlicher Vorgänge. Oskar bewegt sich in einer Danziger Lebenswelt, die sich zu Beginn des Krieges als Antiwelt erweist. Sowohl das Stadterlebnis als auch die fast leitmotivische Raumerkundung sind eine deutliche Heimatsuche. Zugleich ist es »Flucht in einen mythischen Heilsraum« (Cepl-Kaufmann 2007): Diese Heimat kann ihm die Stadt Danzig nicht mehr bieten. Erlebnisse in drei kulturell und kultisch begründeten Stadtinstanzen, dem Aufmarschplatz der Nazis, den Theatern und den Kirchen, werden für diesen Zustand zum Anschauungsbild. Für seine Zeugen- und Täterschaft muss sich Oskar in deren Innerstes begeben, unter die Tribünen, in die Rolle des harmlosen Theaterbesuchers, der sich im Stadttheater das Märchenspiel vom Däumling im Bauch des Wolfes und im Waldtheater eine Wagneroper ansieht, nicht zuletzt als Konkurrent des gipsernen Jesuskindes im Andachtsbild der Heiligen Familie, der unbezwingbaren Trias im Innern der Herz-JesuKirche (ebd.).

P OLNISCHER M OTIVFADEN Die Werke von Grass erlauben auch eine wichtige ästhetische Selbsterkenntnis, wobei man die geschichtliche Realität (insbesondere die mit Danzig verbundene) niemals aus den Augen verlieren kann, denn seine Projektionen sind zugleich kollektive Erfahrungen, die eng mit der deutschen und polnischen Geschichte verknüpft sind. Das Beziehungsfeld hat der Autor 1985 schlicht als »Zeitgenossenschaft« bezeichnet. Mit vielen Werken von Grass ist ein »polnischer Mythos« verknüpft (von Janion 1999 als polnische Schlinge bezeichnet), wie er im Zusammenhang mit der Darstellung der Verteidigung der Polnischen Post in Danzig in der Blechtrommel, in einigen Gedichten und in außerliterarischen Aussagen zur Sprache kam und womöglich auch Emotionen und gelegent-

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lich auch Fehlinterpretationen zum Ausdruck brachte. Dass es gelegentlich bei Grass zu parodistischen Verzerrungen kommt, ist nur ein Beweis dafür, dass er den »Mythos vom Polentum« bewusst zur Sprache bringt, um in den vielleicht etwas dunklen und undurchsichtigen polnischen Patriotismus einzudringen, ihn zu erkunden und verstehen zu lernen, gelegentlich auch etwas anzuzweifeln und zu verhöhnen. Denn dass der Patriotismus manchmal übertrieben ist und an Irrsinn grenzt, daran lässt der Schriftsteller keinen Zweifel: Ich sag es immer, Polen sind begabt. Sind zu begabt, wozu begabt, begabt mit Händen, küssen mit dem Mund, begabt auch darin: Schwermut, Kavallerie; kam Don Quichotte, ein hoch begabter Pole, der stand bei Kutno auf dem Hügel, hielt hinter sich das Abendrot und senkte die weißrotbegabte Lanze und ritt den unbegabten Tieren, die auf Motoren angewiesen, direkt ins Feldgrau, in die Flanke... Da brach begabt, da küßten Pan Kiehot die Hände. Der schämte sich, errötete begabt; mir fällt kein Wort ein – Polen sind begabt.

In fast trockener Tonart wird ein nationales Stereotyp angesprochen und wohl auch moralisch bewertet. Klar und deutlich weist der Dichter auf die Symbolik im polnischen Geschichtsdenken hin. Der polnische Patriotismus-Mythos zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Ausbruch des nationalen Instinkts im Augenblick der Bedrohung des Vaterlands ein heftiger und endgültiger ist, der alles vereinnahmt, der sich nicht nur in die Mentalität, das gesellschaftliche Verhalten, die Ideologie einmischt, sondern intensiv die ganze Persönlichkeit mitreißt und jede andere Motivation, Reaktion, jede andere Handlungsweise auslöscht. Daher ist dieser Patriotismus auch manchmal übertrieben, grenzt an Irrsinn und man kann ihn als eine Art exaltierter Verrücktheit betrachten, die zum Untergang, zum Tode führt. Die äußerste Verkörperung der patrioti-

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schen Selbstzerstörung ist der so genannte verrückte Patriot, ein sowohl metaphorischer als auch realer Irrer (Janion 1999).

Der polnische Motivfaden ist fest in das kommunikative Bezugssystem und die Argumentationsstrategie der Blechtrommel eingesponnen. Ohne Danzig, ohne seine wechselreiche Geschichte, ohne den Langfuhrer Labesweg hätte diese Geschichte – heute eine Binsenweisheit – nicht entstehen können. Günter Grass sprechen die polnischen Nationalsymbole nicht wegen ihrer feierlich-pathetischen »Dimension« an. Wesentlich überzeugender wirkt auf ihn die »ästhetische Variante« einer volkstümlichen Intimität, die wir so vordergründig in der polnischen Fahne finden. Der polnische Faden oder die polnische Motivgeschichte in Grass’ Werken entzieht sich eindeutig kollektiven Stereotypen und ist stets von ästhetischen Motivationen getragen. Auch seine Reisen nach Polen können als solche gedeutet werden. Ziemlich nüchtern, aber auch mit Humor erinnert er an seine erste Polenreise in Rückblick auf die Blechtrommel: Die Arbeit an der Schlußfassung der Kapitel über die Verteidigung der Polnischen Post in Danzig machte im Frühjahr eine Reise nach Polen notwendig. Höllerer vermittelte, Andrzej Wirth schrieb die Einladung, und über Warschau reiste ich nach Gdańsk. [...] In Gdańsk schritt ich Danziger Schulwege ab, sprach ich auf Friedhöfen mit anheimelnden Grabsteinen, saß ich (wie ich als Schüler gesessen hatte) im Lesesaal der Stadtbibliothek und durchblätterte Jahrgänge des ›Danziger Vorposten‹, roch ich Mottlau und Radaune. In Gdańsk war ich fremd und fand dennoch in Bruchstücken alles wieder: Badeanstalten, Waldwege, Backsteingotik und jene Mietskaserne im Labesweg, zwischen Max-Halbe-Platz und Neuem Markt; auch besuchte ich (auf Oskars Anraten) noch einmal die Herz-Jesu-Kirche: der stehen gebliebene katholische Mief (Grass 1997).

Über Grass und sein wechselreiches Verhältnis zu Danzig ist bisher viel gesagt worden. Die Interpretationen schweben zwischen Imagination, Geschichte, Mythologie und »Kindheitsmustern«. Historische Erzählvorgänge werden mit Brisanz dargestellt, manchmal konstruiert, aber oft auch korrigiert und einer satirischen Demontage unterzogen. Denn Geschichte und Gegengeschichte lautet das Thema der Blechtrommel. Sein Danzig ist sicher einerseits Abbild historischer Vorgänge, andererseits Summe amüsanter Geschichten, erzählt in allen möglichen literarischen Konventionen.

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Kaum einem anderen deutschen Autor sind so perfekt die Darstellung der Zeitgeschichte und ihre fiktionale Umsetzung gelungen. Die ganze Erinnerungsproblematik – das Gerüst der Blechtrommel – Berichtigungen und Wiederholungen, die historisch-gesellschaftliche und individuelle Realitätsdarstellung fließen im Roman zusammen. Im pikaresken Erzählen, das von der Lust am Fabulieren lebt, ist der Verfasser der »kaschubischen Mythologie« unübertroffen. Die Rolle des Sinngehaltes der polnischen Nationalsymbole ist auch in Katz und Maus zu finden. Joachim Mahlke sammelt polnische Andenken (u.a. eine Plakette, auf der das Porträt von Pilsudski abgebildet ist). Besonders stark wird die religiöse Anhänglichkeit als Phänomen des polnischen Geschichtsdenkens gezeigt. Die Beziehung der Polen zu »Matka Boska« als Patronin Polens, diese in kaum einem anderen katholischen Land so tief verwurzelte Jungfrauenverehrung ist eine Komponente der polnischen Nationaleigenschaft, die von Grass grotesk, teils ironisch einer Kritik unterzogen wird. Der Schauplatz der 1992 erschienenen Erzählung Unkenrufe ist auch diesmal wieder Danzig. In der Danziger Trilogie wurde die Stadt reizend und mit Bravour gezeigt, im Butt und in der Rättin fällt vieles fade aus. In Unkenrufe wird Danzig ohne Reiz und Glanz reflektiert und die etwas flüchtigen Beschreibungen von einigen Stadtteilen, Straßen und Kirchen sind ziemlich dürftig ausgefallen. Es ist eine etwas seltsame Versöhnungsparabel, teils ironisch, teils parodistisch behandelt. Dass Grass mit Absurditäten und grotesken Schilderungen die mitteleuropäische Geschichte festhalten wollte, dürfen wir ihm schon ein wenig unterstellen. Die heftige Diskussion um diese Erzählung, wie auch um den späteren »Vereinigungsroman« Ein weites Feld, zeigen die Widersprüchlichkeiten und großen Emotionen, die Grass weckt.

H EIMAT - EIN Z AUBERWORT Gdańsk war für Günter Grass die fast göttlich verehrte Heimatstadt. Dieser autobiographische Hintergrund ist in fast allen seinen Werken anwesend. Der Autor besuchte sehr oft seine Heimatstadt, Erinnerungen wurden mit der Gegenwart konfrontiert, die Traumwelt der Vergangenheit wird mit der manchmal sehr nüchternen Gegenwart verglichen. Grass meidet eine Kon-

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frontation mit dem Erwarteten. Er zeigt uns sein Danzig der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Seine Erinnerungen werden in fiktionalen Werken mit vielen Lügengeschichten ausgestattet und dem Leser als Nachspeise geboten. Die Destruktion der Bilder der Vergangenheit ärgerte die Leser, darunter viele Polen, die seine Ironie, wie etwa über die Verteidigung der Polnischen Post, als eine Beleidigung der nationalen Gefühle empfanden. Natürlich ist in seiner Vergangenheitsdarstellung viel Blasphemie, aber das alles ist eine bewusste Schreibstrategie, um den Leser wachzurütteln und ihn überzeugen, dass das Rad der Zeit nicht rückwärts läuft. Hier sprechen Günter Grass über Danzig, Graf von Krockow über Hinterpommern, Horst Bienek über Gleiwitz, Gräfin Dönhoff über Ostpreußen mit der gleichen Stimme: Heimat, das sind Bilder der Kindheit, das frühe Glück und die ersten Schrecken. Die komplizierten Geschicke der Stadt Danzig, Probleme der Multikulturalität, der schleichende Faschismus, dargestellt am Beispiel der eigenen Familie, das Schicksal der Juden – das alles wird von Günter Grass literarisch, aber oft auch publizistisch, dargestellt.

D ER R EZEPTIONSFADEN Obwohl in Polen gut bekannt und reflektiert, gelten nicht Thomas Mann, Franz Kafka oder Rainer Maria Rilke, sondern Günter Grass gilt als Repräsentant der deutschen Literatur in Polen. Die professionell-akademische Auseinandersetzung mit Grass zählt bereits einige Hundert Positionen, die in der Grass-Forschung nicht ignoriert werden können. Sie legitimieren oft widersprüchlich einen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs im Bereich der deutsch-polnischen Verhältnisse. Darüber hinaus haben zahlreiche Besuche des Autors in Polen, seine Teilnahme an Konferenzen und Symposien, seine Lesungen, Ehrendoktorate und persönlichen Kontakte wesentlich dazu beigetragen, dass diese Rezeption auch eine stark autorbezogene gewesen ist. Wenn wir nun dazu die Übersetzungen fast aller seiner Werke von Boleslaw Fac und Slawomir Blaut erwähnen, dann erhalten wir ein vollständiges und glaubwürdiges Rezeptionsnetz. Die zahlreichen Danzig-Besuche von Grass waren auch Reisen in die Kindheit, dabei suchte er immer wieder familiäre Spuren in der ganzen Kaschubei. Danzig würdigte die Besuche entsprechend. Er ist Ehrendoktor der

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Universität, Ehrenbürger der Stadt und besitzt Auszeichnungen des Kaschubischen Kulturvereins. Grass revanchierte sich mit der Gründung der Chodowiecki-Stiftung. Die Stadt richtete ein Grass-Museum mit geschenkten Radierungen und Skulpturen ein. Über seine Identifikation mit der Stadt hat sich Grass eindrucksvoll geäußert: Der Wiederaufbau ist eine Leistung, die an vielen anderen Orten in Polen erbracht wurde, aber speziell hier in Gdansk einmalig ist. Das geht weit über meine, deckt sich auch zum Teil mit meinen persönlichen Interessen, nicht nur zur Stadt Danzig, sondern auch zur Stadt ›Gdańsk‹. Wann immer ich her komme, ist das nicht mehr in erster Linie, weil ich von hierher komme – das war die erste Motivation, sondern, weil auch ein Stück meiner Nachkriegsgeschichte mit Gdańsk verbunden ist. Ich habe Interesse genommen, was hier mit der Stadt in Sachen Wiederaufbau passiert, was sich hier politisch ereignet (Polen 1976: 52).

Zuletzt ein kurzer Exkurs zum Thema Grass und Polen. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts befasste man sich oft mit dem Danziger. Es waren Literaturwissenschaftler (H. Orłowski, M. Janion, Z. Światłowski, M. Ossowski, J. Jaroszewski, N. Honsza u.a.), Übersetzer (B. Fac, S. Błaut), Publizisten und Kulturschaffende (R. Ciemiński, A. Krzemiński). Seine Werke wurden von der polnischen Öffentlichkeit und literarischen Kritik meistens wohlwollend aufgenommen. Auch seine vielen Reisen nach Polen dienten einem ständigen Dialog und der deutsch-polnischen Verständigung. Gelegentliche negative Stimmen waren eher Ausdruck einer gewissen Gesetzmäßigkeit. Die Polenfaszination des deutschen Schriftstellers wurde trefflich von Bolesław Fac kommentiert: »Wenn man das Gesamtwerk von Grass betrachtet, sieht man einen Schriftsteller, der sich mit seiner polnischen Abstammung auseinandersetzt und für den Polen, selbst in einer mythologisierten Weise dargestellt, eine dominierende und konstante Obsession bedeutet. Das ist nicht wenig« (Fac 1990: 165).

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L ITERATUR Bild (2015): Günter Grass im engsten Familienkreis beerdigt. In: Bild Zeitung URL: http://www.bild.de/unterhaltung/leute/guenter-grass/mitblechtrommel-beerdigt-40770504.bild.html (überprüft am 30.04.2015). Cepl-Kaufmann, Gertrude (2007): Günter Grass und Danzig. In: Stüben, Jens (Hg.): Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Landschaft, München, S. 563-587. Der Spiegel (1999): Grass zu Lafontaine »Halt’s Maul, trink deinen Rotwein!«. In: Der Spiegel URL: http://www.spiegel.de/politik/deutsch land/grass-zu-lafontaine-halt-s-maul-trink-deinen-rotwein-a-45421.html (überprüft am 06.10.1999). Fac, Boleslaw (1990): Fast alle seine Bücher... In: Hermes, Daniela (Hg.): Günter Grass im Ausland. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt a.M., S. 165. Grass, Günter (1997): Wegzehrung, In: Fundsachen für Nichtleser. 1. Auflage. Göttingen: Steidl Verlag. Grass, Günter (1997): Rückblick auf die Blechtrommel - oder der Autor als fragwürdiger Zeuge. Ein Versuch in eigener Sache, In: Grass, Günter (Hg.): Der Autor als fragwürdiger Zeuge. München, S. 102-114. Grass, Günter (1999): Hundejahre. 4. Auflage. München: dtv-TB. Hage, Volker (2015): Einer wie alle, keiner wie er. Der Spiegel, 17/2015. Janion, Maria (1999): Günter Grass i polski Pan Kichot. Gdańsk: Słowo / Obraz Terytoria. Jürgs, Michael (2015): Bürger Grass. Eine deutsche Biografie. München: C. Bertelsmann Verlag. Kesting, Hanjo (2008): Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945. Göttingen: Wallstein-Verlag. Kölner Stadt-Anzeiger (2006): Eine dunkle Ironie. In: Kölner StadtAnzeiger URL: http://www.ksta.de/eine-dunkle-ironie-13753366 (überprüft am 13.08.2006). Loew, Peter Oliver (2009): Das literarische Danzig, 1793 bis 1945. Bausteine für eine lokale Kulturgeschichte. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Neuhaus, Volker (1998): Schreiben gegen verstreichende Zeit. Zu Leben und Werk von Günter Grass. 2. Auflage. München: dtv-TB. Polen (1976): Interview mit Günter Grass in der Zeitschrift »Polen« 4/1976.

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Richter, Hans Werner (1986): Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47. München / Wien: Hanser.

Verschränktes Nebeneinander Überspielte Kulturdivergenzen an der deutschniederländischen Grenze H ORST S TEINMETZ

1 Interkulturalität, interkulturelle Kommunikation, interkulturelle Bildung, kulturelle Integration, kulturelles Gespräch, kulturelle Aufklärung, kulturelle Differenz – mit solchen und ähnlichen Begriffen wird seit etwa 20 Jahren ein Terrain umschrieben, mit dessen Anwendung das Miteinander der Völker und Nationen erleichtert und befördert werden soll. Nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in der Diplomatie und in der Wirtschaft ist Interkulturalität ein Schlüsselbegriff geworden. Gerade im Zeichen einer expansiven Globalisierung, Emigration und Immigration, einer erwünschten Integration der Asylantenströme wird Kenntnis der kulturellen Eigenarten des anderen zu einer unabwendbaren Notwendigkeit. Das haben u.a. gerade auch die Wirtschaftsunternehmen erkannt, die ihre Auslandsvertreter zum Teil in speziellen Kursen auf die Kultur des aufzusuchenden Landes vorbereiten. In der Regel denkt man in diesem Zusammenhang an die Kulturdifferenzen zwischen Völkern und Menschen, die entfernt voneinander leben, deren Kulturen wenige oder keine Berührungspunkte haben. So will man zum Beispiel durch kulturelle Aufklärung das Zusammenleben zwischen Deutschen und zugewanderten Türken verbessern, bereiten Industrieunter-

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nehmen ihre Mitarbeiter auf die fremden Kulturen und Lebensgewohnheiten vor, die diese etwa in Asien antreffen. Dergleichen interkulturelle Problemfelder haben heute so sehr an Gewicht gewonnen, dass sich die Aufmerksamkeit interkultureller Konzepte so gut wie ausschließlich auf sie richtet. Wie steht es jedoch mit den Auswirkungen kultureller Differenzen auf Menschen, die nahe beieinander, gewissermaßen miteinander leben, jedoch in verschiedenen und national begrenzten Regionen? In Kulturregionen, deren Inhalte nicht allzu weit auseinander liegen, aber doch deutliche Unterschiede kennen. Spielen die verschiedenen Kulturstandards in solchen Fällen überhaupt eine Rolle? Weiß man von den Unterschieden? Führen sie zu Schwierigkeiten oder wenigstens zu Missverständnissen? Nimmt man auf sie Rücksicht? Oder werden sie durch die Verwandtschaft der Kulturkreise einfach außer Acht gelassen? Werden sie möglicherweise sogar kurzerhand überspielt, negiert? Wie sieht das Miteinander in solcher Konstellation aus? Gibt es überhaupt ein Miteinander? Es geht also nicht, das sei wiederholt, um mögliche Kulturdifferenzen, auf die Einwanderer stoßen und die möglicherweise überwunden oder doch verarbeitet werden sollen. Über die durch derartige Kulturdifferenzen ausgelösten Probleme und deren Bewältigung informiert eine vorhandene ausgebreitete Literatur, informieren auch zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Institutionen. Es geht hier hingegen um das Verhalten von Menschen, die an einer innereuropäischen Grenze leben und intensiven Kontakt mit den Bewohnern des anderen Landes haben. Beispiel soll die Situation an einer Stelle der deutsch-niederländischen Grenze sein, dessen Darstellung weitgehend auf persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen beruht. Ich habe beinahe 40 Jahre in den Niederlanden gelebt und gearbeitet, wohne seit 2003 in Gronau / Westfalen. Die Stadt hat ca. 45.000 Einwohner und liegt direkt an der niederländischen Grenze. Die Entfernung zu kleineren niederländischen Orten (Overdinkel, Losser, Glanerbrug) beträgt zwischen zwei und fünf Kilometern, die größere Stadt Enschede (über 150.000 Einwohner) liegt ca. 16 Kilometer entfernt. Die Kontakte zwischen Deutschen und Niederländern sind an dieser Stelle der Grenze seit langem besonders intensiv. Schon im 16. und 17. Jahrhundert zogen deutsche Handwerker und Tagelöhner hier regelmäßig nach Holland. Selbst während des Naziregimes und der Besetzung der Nie-

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derlande durch Hitlers Truppen brachen die traditionellen Kontakte nicht völlig ab, obwohl sie verständlicherweise auf sporadische und nicht ungefährliche Begegnungen beschränkt blieben. Nach 1945 kamen die traditionellen Kontakte langsam und zögernd wieder zustande. Diese Kontakte steigerten sich jedoch erheblich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund einer auf beiden Seiten der Grenze angesiedelten Textilindustrie, die ihre hochwertigen Stoffe und Garne über die ganze Welt verkaufte. Diese so mächtige Textilindustrie ist in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts vollständig untergegangen. Geblieben sind lediglich zum Teil leere und langsam verfallende große Fabrikgebäude als stumme Zeugen einer einst glorreichen Geschichte. Aber auch nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie blieb der Grenzverkehr äußerst lebhaft. Natürlich gibt es vielerlei wirtschaftliche Verbindungen über die Grenze in beide Richtungen. In Gronau hat zum Beispiel die »Euregio Rhein-Waal« ihren Sitz, in der über 50 deutsche und niederländische Kommunen, dazu regionale Behörden sowie Industrie- und Handelskammern sich darum bemühen, auch mit finanzieller Unterstützung, grenzüberschreitende (gemeinsame) Aktivitäten auf den Gebieten von Wirtschaft, Kultur und Tourismus zu stimulieren, auch zu initiieren. Auch andere offizielle Einrichtungen, wie etwa deutsche Kreisverwaltungen, organisieren von Zeit zu Zeit Informationsabende, zu denen Unternehmer eingeladen werden, um über holländische Gewohnheiten und Verhaltensweisen aufgeklärt zu werden, so dass die geschäftlichen Vorhaben nicht an der Unkenntnis über charakteristische Kulturdifferenzen scheitern. Neben diesen offiziellen und halboffiziellen Kontaktinitiativen und -projekten aber gibt es einen gewissermaßen privaten sehr regen Grenzverkehr in beiden Richtungen. Die Grenze ist seit dem Abkommen von Schengen als solche ohnehin nicht mehr erkennbar. In Gronau sieht man täglich sehr viele Autos mit niederländischem Kennzeichen, auf der anderen Seite der Grenze ebenso viele mit deutschem Kennzeichen. Die vor zehn Jahren wiedereröffnete Bahnverbindung zwischen Gronau und Enschede wird von einer kontinuierlich steigenden Anzahl Passagiere genutzt. Fragt man die Grenzgänger, zu welchem Zweck sie so häufig in das jeweils andere Land fahren, hört man, dass die meisten zum Einkaufen die Grenze überqueren, andere wollen Restaurants besuchen oder ihren im Nachbarland liegenden Sportverein aufsuchen. Von den Holländern kommen einige auch über die Grenze, um in Deutschland wohnende holländi-

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sche Freunde zu treffen (von diesen wird noch zu reden sein). Das Gronauer Krankenhaus kennt nicht wenig Holländer als Patienten. In Notfällen werden auch deutsche Patienten in das (größere) Krankenhaus in Enschede gebracht. An der Universität in Enschede sind viele deutsche Studenten eingeschrieben. Die viel genannten Einkauftrips erstaunen. Denn das Warenangebot ähnelt sich auf beiden Seiten der Grenze in sehr hohem Maße. Niederländische Supermärkte oder niederländische Baumärkte bieten kaum ein anderes Sortiment an als die entsprechenden Märkte in Deutschland. Gewiss, Zigaretten und Kaffee sind in den Niederlanden billiger als in Deutschland, die Fleisch- und Wurstwaren in Deutschland schmecken in der Regel herzhafter als in Holland, weil dort weniger geräuchert wird. Man sagt, dass die Kleidermode in den Niederlanden schneller auf dem aktuellsten Stand ist als in Deutschland. Zeitweilig ist das Benzin auf der deutschen Seite billiger. Die Gronauer besuchen gerne und regelmäßig den Wochenmarkt in Enschede. Die Deutschen betonen immer wieder wie freundlich und offen man ihnen in den Niederlanden entgegentrete. Man kann allerdings nicht behaupten, dass man auf der deutschen Seite unfreundlich ist. Bemerkenswert ist es, dass bei allen Begegnungen zwischen Niederländern und Deutschen so gut wie immer deutsch gesprochen wird. Auch in den Geschäften, die die Deutschen in den Niederlanden aufsuchen. Von den deutschen Grenzbewohnern spricht praktisch niemand niederländisch. Das Deutsch der Holländer ist in der Regel weit davon entfernt, fehlerfrei zu sein, führt bisweilen auch zu Missverständnissen, etwa wenn ein Niederländer seinem deutschen Gesprächspartner erklärt, die geplante Verabredung »nicht kann durchgehen« (»niet kan doorgaan«), was bedeutet »nicht stattfinden kann«. Im Allgemeinen aber gelingt die alltägliche Kommunikation, solange jedenfalls, wie sie keine spezifischen Sachthemen betrifft. Übrigens nimmt in den Niederlanden die Bereitschaft, deutsch zu lernen, in schnellem Tempo ab. Die Zahl der Germanistikstudenten ist seit ca. 15 Jahren dramatisch rückläufig, als zweite Fremdsprache (nach Englisch) wird Deutsch in den Schulen immer weniger gewählt. Es gibt Schätzungen in den Niederlanden, nach denen der holländischen Exportwirtschaft durch die mangelnden Deutschkenntnisse Milliardenbeträge entgangen sind. Bei einem derartig regen Grenzverkehr, den es nicht erst seit Kurzem gibt, sollte man erwarten, dass einzelne Kultur- oder Lebensformen, vielleicht sogar bestimmte Einrichtungen des Nachbarlandes in das Grenzge-

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biet des eigenen Landes Eingang gefunden haben, dass man die Nachbarn, ihr Leben und Handeln mit Interesse verfolgt. Davon ist jedoch überraschenderweise so gut wie nichts zu bemerken. Die Grenze, die nicht mehr erkennbar ist, existiert im täglichen Leben, in den Köpfen der Menschen in unerwartet großer Schärfe. So kann man in Gronau nur an einer einzigen Tankstelle zum Beispiel eine holländische Zeitung kaufen. Die »Westfälischen Nachrichten«, die Tageszeitung des Münsterlandes, die in jeder Ausgabe einen Lokalteil »Gronau« enthält, berichtet nur sporadisch über die Niederlande, natürlich über auffällige politische Ereignisse, über große Kulturveranstaltungen in Enschede, doch sonst hauptsächlich über aus Holland kommende Drogenschmuggler, gelegentlich über den Fußballclub FC Twente, der in Enschede beheimatet ist. Man kann darum auch davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Grenzbewohner den Namen des amtierenden niederländischen Ministerpräsidenten nicht kennt. Doch man kennt noch mehr nicht. Jeder, der die Niederlande besucht hat, weiß, dass es kaum so etwas wie eine charakteristische niederländische Küche gibt. Die in allen denkbaren Größen und Geschmacksrichtungen erhältlichen Pfannkuchen oder die frischen Heringe, die man im Stehen zu verzehren pflegt, können kaum als akzeptabler Ersatz gelten. Es gibt jedoch eine kulinarische Spezialität, mit der man alle Besucher verwöhnen kann: die chinesischen Restaurants. Nicht immer sind es wirklich chinesische Speisen, die dort angeboten werden, sondern indonesische, bisweilen sogar indische oder vietnamesische, aber auch sie fallen in der Regel unter den Sammelbegriff »chinesisch«. Die Qualitätsskala der chinesischen Gaststätten reicht von einfachen Imbissstuben bis zu teuren, exklusiven Restaurants. Sollte man nicht erwarten, dass diese spezifische kulinarische Besonderheit, gerade angesichts des intensiven Grenzverkehrs, auf der deutschen Seite Anklang gefunden hätte? Doch das ist nicht der Fall. In Gronau gibt es ein einziges chinesisches Restaurant von höchst mittelmäßiger Qualität. In den umliegenden Orten (Bad Bentheim, Nordhorn u.a.) ist es nicht anders.

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2 Im Großen und Ganzen ist man in den Niederlanden über Deutschland besser informiert als umgekehrt. Das hat natürlich damit zu tun, dass Deutschland der starke, mächtige Nachbar ist, der gewisse Abhängigkeiten schafft, die nicht geringen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Kultur haben. So hat zum Beispiel bis vor kurzem die niederländische Zentralbank ihr Handeln nach der deutschen Zentralbank ausgerichtet, ist die Bundesrepublik für die Niederlande das wichtigste Exportland. Es hat aber auch damit zu tun, dass der niederländische Fernsehzuschauer auch deutsche Sender empfangen kann. Die niederländischen Kabelgesellschaften (das Land ist fast vollständig verkabelt) nehmen in ihr Programmangebot regelmäßig zwei bis drei deutsche Sender auf (neben anderen nichtniederländischen). Im deutschen Grenzgebiet, wie in ganz Deutschland, kann man hingegen das niederländische Fernsehen nicht empfangen. Die Programme, die Sender sind kodiert. Offensichtlich besteht dafür auf der deutschen Seite auch keinerlei Interesse. In Gronau kann niemand erklären, auch bei der »Euregio Rhein-Waal« kann man es nicht, wie man es anstellen muss, um in den Genuss des holländischen Fernsehens zu kommen. Erst nach mühseligen Erkundigungen in den Niederlanden selbst erfährt man, dass der Empfang grundsätzlich nur möglich ist, sofern man seinen Wohnsitz in Holland hat und über ein holländisches Konto verfügt. Wer diese Bedingungen nicht erfüllt, muss einen Umweg wählen. Um niederländisches Fernsehen in Deutschland empfangen zu können, muss man unter seinen Verwandten oder Freunden jemanden finden, der gleichsam als Stellvertreter ein Abonnement in Holland nimmt. Den gelieferten Receiver samt Smartcard kann man dann nach Deutschland »exportieren« und dort installieren. Weil man das niederländische Fernsehen in Deutschland, auch direkt an der Grenze, nicht kennt, weiß man auch nichts über die sehr besondere Organisation von Rundfunk und Fernsehen in den Niederlanden. Das niederländische System ist einzigartig in Europa, wenn nicht gar in der Welt. Neben den kommerziellen Sendern, wie RTL u.a., die sich über Werbeeinnahmen finanzieren, gibt es drei Sender (NPO 1, 2 und 3), die den öffentlich-rechtlichen in Deutschland vergleichbar sind. Ihre Programme werden jedoch nicht von sendereigenen Redaktionen erstellt, sondern von Rundfunk- bzw. Fernsehvereinigungen, die auf den drei Sendern entsprechend ihrer Mitgliederzahl Sendezeit erhalten, die sie nach eigenem Gutdünken

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füllen können. Diese Vereinigungen waren ursprünglich sehr stark ideologisch-weltanschaulich ausgerichtet (protestantisch, katholisch, sozialistisch, freisinnig). Eine Folge der sog. »Versäulung«, die die niederländische Gesellschaft über Jahrzehnte nachhaltig geprägt hat. Versäulung bedeutete eine vertikale Gliederung in hauptsächlich vier Gruppen: die protestantischcalvinistische, die katholische, die sozialistische und die neutral-liberale. Die Grenzen zwischen diesen Säulen waren scharf und unüberschreitbar. Heute sind die ideologisch-weltanschaulichen Konturen nur noch ansatzweise erkennbar. Um eine von den Rundfunkvereinigungen nicht beeinflusste Berichterstattung zu garantieren, werden u.a. die nationalen Nachrichten von einer unabhängigen Stiftung versorgt (NOS, Nederlandse Omroep Stichting). Es sind nicht wenige Holländer, die ihren Wohnsitz in den Niederlanden haben und doch Mitglied eines deutschen Sportvereins sind, vor allem der Golfclubs, die kurz hinter der Grenze liegen (Bad Bentheim, Ahaus u.a.). Es sind gern gesehene Mitglieder. Niederländer bevorzugen ein informelles, lockeres Auftreten, sind immer zu einem launigen Gespräch bereit, sie scheinen, jedenfalls auf den ersten Blick, das Leben weniger ernst zu nehmen. Ehe man zur Sache kommt, überlässt man sich dem small talk, trinkt man zunächst einmal eine Tasse Kaffee, das berühmte kopje coffie. Die Situation muss unter allen Umständen »gesellig« sein. Man hat keine Eile, Entscheidungen zu treffen, muss jede Angelegenheit in möglichst vielen Perspektiven betrachten. Die Niederlande sind das Land der hinausgeschobenen Entscheidungen, das Land der unzähligen Sitzungen, Konferenzen und Kommissionen. Und wenn Entscheidungen getroffen werden, müssen sie nicht für die Ewigkeit gelten. Es reicht, wenn sie die nächste, die gut zu überschauende Zukunft regeln. Was man ganz und gar nicht schätzt, ist die sprichwörtliche »deutsche Gründlichkeit«. Und geradezu gereizt droht man zu reagieren, wenn Deutsche etwas »grundsätzlich« regeln wollen. Die lockere, entspannte Atmosphäre kennzeichnet nicht allein die Kommunikationssituation auf der Terrasse des Sportvereins, sondern charakterisiert in der Regel auch geschäftliche Unterhandlungen. Auch bei solchen Gelegenheiten legen die Niederländer großen Wert auf Ungezwungenheit und Leichtigkeit, die oftmals Privates vor das Sachliche zu schieben scheinen, beginnt alles mit dem kopje coffie. Die deutschen Teilnehmer einer geschäftlichen Besprechung lassen sich bisweilen durch den unge-

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zwungenen Ton täuschen und meinen, leichtes Spiel zu haben. Das umso eher, als Niederländer zu mündlichen Abmachungen bereit sind, während man den Deutschen Förmlichkeit vorhält, die auf schriftlichen Festlegungen besteht. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden in Holland auch sehr umfangreiche Verträge per Handschlag geregelt. Hinzu kommt, dass die Holländer ohne großes Zögern zum »Du« übergehen. In den Niederlanden duzt man sich sehr schnell: Wenn man den gleichen Beruf hat, wenn man Nachbar ist, überhaupt wenn man sich länger als zwei Stunden kennt. Aber dieses Du ist nicht dem deutschen Du vergleichbar. Es kündigt keineswegs eine tiefere Beziehung an, eine Freundschaft, die eine besondere Vertraulichkeit einschlösse. Es kündigt darum auch keineswegs ein Entgegenkommen bei Unterhandlungen an. Es gehört überhaupt zu den Merkwürdigkeiten der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Niederländern und Deutschen, dass es nur selten zu wirklichen Freundschaften kommt. Das in den Sportvereinen von allen sehr geschätzte unproblematische Miteinander führt nur in Ausnahmefällen zu persönlichen Beziehungen oder gar Freundschaften, die über das gemeinsame Clubleben hinausreichen. Nach Meinung mancher Deutscher liegt das an der vergleichsweise wesentlich festeren familiären Bindung der Niederländer, die zusätzliche emotionale Beziehungen kaum zulassen. Ob darin wirklich der Grund zu suchen ist, sei dahingestellt. Kommt es jedoch einmal zu einer Einladung in die Familie eines der Clubmitglieder, dann werden Kulturunterschiede sofort sichtbar. Denn dass es bei einer abendlichen Einladung zu 20 Uhr Kaffee und Kuchen gibt, darauf ist kein deutscher Gast vorbereitet. Umgekehrt verfallen die Niederländer beinahe in eine Art Hilflosigkeit, wenn sie in Deutschland zum Frühstück eingeladen werden. Es gibt jedoch trotz des lebhaften Kontaktes in beiden Richtungen über die Grenze noch andere bemerkenswerte Ungereimtheiten und Unkenntnisse über einander. Jedermann weiß, gewiss in den Grenzregionen, dass in den Niederlanden Eigenheime und Eigentumswohnungen erheblich teurer sind als in Deutschland. Darum erwerben nicht wenige Niederländer Häuser auf der deutschen Seite der Grenze, behalten gleichzeitig jedoch ihren Arbeitsplatz in den Niederlanden, versteuern auch dort ihr Einkommen. Warum Immobilien in Holland so viel teurer sind als in Deutschland, weiß in Deutschland so gut wie niemand. Aber auch den wenigsten Niederländern sind die wirklichen Hintergründe bewusst. Es ist darum nicht über-

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flüssig, die Ursachen hier einmal zu nennen. Es sind mindestens zwei. Zum einen hat sich seit dem zweiten Weltkrieg die Einwohnerzahl der Niederlande mehr als verdoppelt. Gab es 1945 ca. acht Millionen Niederländer, sind es heute ca. 17 Millionen (davon ca. eine Million Ein- und Zuwanderer). Das ursprünglich urprotestantische Land kennt heute übrigens eine katholische Mehrheit. Angesichts eines derartigen Wachstums der Bevölkerung konnte auch eine äußerst intensive Bautätigkeit den immer größer werdenden Bedarf an Wohneigentum kaum befriedigen, so dass sehr stark und schnell steigende Preise die notwendige Folge waren. Die zweite Ursache lag vor allem in den überaus günstigen finanziellen Bedingungen, unter denen der Immobilienmarkt sich entwickeln konnte. Der Käufer eines Hauses brauchte über keinerlei Eigenkapital zu verfügen, er konnte die jährlich anfallenden Zinsen einer aufgenommenen Hypothek von seinem zu versteuernden Einkommen abziehen. Schließlich brauchte er keinen Cent der Hypothek während deren Laufzeit abzuzahlen. Wirkliche Kosten verursachte der Hauptbesitz eigentlich nur durch das sog. eigenwoningforfait, eine jährliche Kommunalsteuer, die wenige Prozente oder gar Prozentteile des Kaufwertes des Eigentums umfasste. Der Kaufwert wurde jedes Jahr von den Kommunen festgesetzt und lag in der Regel weit unter dem tatsächlichen Marktwert. Die Banken und Versicherungen waren bei der Vergabe von Hypotheken und Krediten ungemein großzügig. Man gewährte Hypotheken, die weit über dem aktuellen Kaufwert eines Hauses lagen. Man ging ja von einem kontinuierlichen Steigen des Wertes des Objekts aus. Tatsächlich hat sich zum Beispiel der Wert eines Einfamilienhauses, gewiss im dicht bevölkerten Westen des Landes, in der Zeit zwischen 1970 und 2005 versechst- oder -siebenfacht. Veräußerte man dann 2005 seinen Besitz, war der große finanzielle Gewinn garantiert, man konnte die Hypothek mühelos ablösen, hatte bis dahin überdies den steuerlichen Vorteil des Zinsabzugs genossen. Erst mit der Finanzkrise des Jahres 2008 hat sich diese Situation grundlegend geändert. Die Banken und Versicherungen gewähren nur noch Hypotheken in der Höhe des vierfachen Jahreseinkommens eines potentiellen Immobilienkäufers oder in Höhe des Kaufwertes. Man erwägt überdies eine Begrenzung des steuerlichen Zinsabzugs (ab einem Hypothekvolumen von 500.000€) und eine (geringe) Tilgung des Kredits in jährlichen Raten. Seitdem stagniert der niederländische Immobilienmarkt. Die Preise sind allerdings aufgrund der vorangegangenen Entwicklungen immer noch so hoch, dass vor allem junge Familien (sog.

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»Starter«) praktisch nicht mehr in der Lage sind, Wohneigentum zu erwerben. Es ist darum nicht verwunderlich, dass in den letzten Jahren gerade junge niederländische Familien Wohneigentum auf der deutschen Seite der Grenze suchen (u.a. auch in Gronau), da hier die Preise erheblich niedriger sind. Zum Arbeitsplatz, etwa in Enschede, sind es nur wenige Kilometer. Eigenartigerweise aber legen nicht wenige dieser »Übersiedler« ein Verhalten an den Tag, das mit dem gewohnten und beliebten weltoffenen Auftreten der Niederländer nicht vereinbar ist. Man arbeitet nicht nur in den Niederlanden, sondern bringt auch seine Kinder täglich in niederländische Schulen, die darum in ihrer Wohnstraße keine Spielkameraden haben. Überhaupt schottet man sich geradezu gegen alles Deutsche ab. Man wohnt zwar in Deutschland, lebt aber eigentlich weiter in seinem ursprünglichen Heimatland. Auch etwa der Kontakt zu deutschen Nachbarn bleibt mehr als oberflächlich, die über dieses Verhalten nicht nur erstaunt, sondern zum Teil auch regelrecht verärgert sind. Selbstverständlich aber charakterisiert solches Verhalten nicht alle in Deutschland lebenden Niederländer. Andere haben sich ohne Vorurteile in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, halten normalen Kontakt zu ihren deutschen Nachbarn, nehmen an Straßenfesten teil usw. Aber auch dann kann es zu unerwarteten und überraschenden Situationen kommen. Hat einer der deutschen Nachbarn Geburtstag, kann es sein, dass Holländer unangemeldet und uneingeladen vor der Tür stehen, um zu gratulieren und sich in die Geburtstagsparty einzufügen. Umgekehrt wundert sich der Geburtstag feiernde Holländer, dass keiner seiner deutschen Nachbarn zur Party erscheint, obwohl doch bekannt ist, dass man Geburtstag hat. In den Niederlanden nämlich bedarf es keiner Einladung. Man sucht den Jubilar spontan und unangemeldet auf. Übrigens gratuliert man dann nicht nur dem Geburtstagskind, sondern auch den Angehörigen.

3 Es ist ein eigenartiges Mit- und Nebeneinander, mit dem die niederländischen und deutschen Grenzbewohner leben. Neben einer gewissen Kontaktlosigkeit einerseits und dem geselligen Konversieren andererseits entsteht gelegentlich auch ein ernsthaftes Gespräch, etwa beim zufälligen Zusam-

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mentreffen in einem italienischen Restaurant auf der deutschen Seite. In solchen Gesprächen kommen hin und wieder die ehemals komplizierten Beziehungen zwischen beiden Ländern und ihren Bewohnern zur Sprache. Manchmal werden sogar die schrecklichen Jahre der deutschen Besetzung der Niederlande von 1940 bis 1945 Thema. Das geschieht, wie gesagt, selten. Auch in den seriösen Gesprächen diskutiert man lieber über den IrakKrieg oder die Flutkatastrophe in Japan als über die schwierigen Vorgänge in der Vergangenheit. Tritt dieser Fall ein, dann fehlen in der Regel die früher üblichen antideutschen Affekte völlig. Die heftigen gegen alles Deutsche gerichteten Äußerungen und Einstellungen aus den Jahrzehnten nach 1945 sind so gut wie vollständig verschwunden. Auf den Alltag hat die böse Vergangenheit kaum noch Einfluss. Deutschland ist inzwischen zu einem der beliebtesten Ferienländer geworden. Vor gut zwanzig Jahren war das noch anders. Noch in den 1990er Jahren hat man zum Beispiel Deutschen an der Grenze geraten, Enschede am 5. Mai nicht zu besuchen, dem Tag, an dem man jährlich in ganz Holland die Befreiung von den Deutschen feiert. Heute werden selbst deutsche Politiker zu den Befreiungsfeierlichkeiten eingeladen. Es kommt bei solchen Begegnungen selbst vor, dass ein Deutscher lächelnd, fast nachsichtig gefragt wird, ob er das stärkste Schimpfwort kenne, mit denen man Deutsche bezeichne. In der Regel kennen die Deutschen, auch die an der Grenze lebenden, das Wort nicht. Das Wort lautet »mof«. Was genau es buchstäblich bedeutet wie auch seine Herkunft sind bis heute nicht geklärt. Manche Quellen behaupten, es sei eine Ableitung von »Muff«, das im Deutschen vor allem noch in dem zugehörigen Adjektiv »muffig«, im Sinne von muffig riechen existiert. Nach anderen sei es unter deutschen Soldaten schon im 16. Jahrhundert als Bezeichnung für »Nörgler« oder »Griesgram« in Gebrauch gewesen. Die meisten Niederländer sind übrigens der Meinung, dass Wort stamme aus der Zeit der deutschen Besatzung. In den Jahren der Besatzung und den Jahrzehnten danach ist es sicherlich am häufigsten benutzt worden. Aber es ist zweifellos älter. In Grimms Wörterbuch kann man lesen, dass »Mof« ein »Spottwort der Holländer wider die Niedersachsen« sei. Ein früherer Beleg findet sich in Friedrich Nicolais Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, erschienen 1773-1776. Darin wird der Titelheld auf seiner Flucht vor der protestantischen Orthodoxie in Holland als »Mof«

210 | H ORST STEINMETZ

bezeichnet. Heute ist das Wort kaum noch zu hören. Es wird mehr und mehr zum virtuellen Bestandteil des niederländischen Wortschatzes. Ein anderes Thema, das gelegentlich zum Gegenstand ernster Gespräche werden kann, ist die gesetzliche Regelung der aktiven Sterbehilfe, die es in den Niederlanden gibt. Obwohl das Gesetz, das die Bedingungen regelt, unter denen die Sterbehilfe angewandt werden darf, 15 Jahre alt ist, herrschen darüber auf der deutschen Seite der Grenze noch immer weit verbreitete jegliche Kenntnis entbehrende Vorurteile. Die kulminieren bisweilen in der Meinung, in Holland brauche man nur mit dem Hausarzt zu sprechen, um sich des pflegebedürftigen Großvaters zu entledigen, der einer geplanten Ferienreise im Wege ist, oder das Krankenhaus teile einem mit, der Angehörige oder Freund, dem man einem Krankenbesuch abstatten wollte, sei tot, weil das Krankenhaus das Bett nötig gehabt habe. (Übrigens verbreitete sogar das ZDF derartige Ungeheuerlichkeiten nach Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 2002). Offenbar hat vor einiger Zeit eine Reihe niederländischer Ärzte sich genötigt gesehen, deutsche Kollegen von jenseits der Grenze zu einem Treffen einzuladen, um wenigstens diese deutschen Ärzte aufzuklären. Das Gesetz kennt eine ganze Reihe sog. Sorgfaltskriterien, denen Genüge getan werden muss. Dazu gehören die Einwilligung des Patienten, seine unheilbare, unausweichlich zum baldigen Tod führende Krankheit, die Zustimmung eines zweiten Arztes, sowie ein Bericht des behandelnden Arztes über die angewandte Sterbehilfe an eine von der Regierung eingesetzte Kontrollkommission. Das Ziel ist nicht die Beendigung des Lebens, sondern aussichtslosen Leidens. Selbstverständlich kann man über das Für und Wider aktiver Sterbehilfe diskutieren. Das genau aber geschieht nicht in der Gegend um Gronau und Enschede. Und es geschieht nicht, weil man im deutsch-niederländischen Dialog heikle Themen zu umgehen bemüht ist. Denn in der möglichen Erregung einer ernsthaft inhaltlichen Auseinandersetzung droht doch wieder das latent stets anwesende nicht unproblematische Verhältnis zwischen dem großen und dem kleinen Nachbarn sich zu aktualisieren, droht vor allem auch die Erinnerung an die Schreckensjahre der deutschen Besetzung ihren Schatten über das Gespräch zu werfen. Diese Erinnerung ist trotz aller im Alltag gepflegten Umgänglichkeit nie vollkommen ausgelöscht. Expressis verbis wird sie nur selten thematisiert. Indirekt aber erscheint sie z.B. im Zusammenhang mit den Fußballwettkämpfen zwischen den Niederlanden und Deutschland. Darüber wird im Übrigen von beiden Seiten heute la-

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chend und ironisch gesprochen. Aber diese Geste kann nicht wirklich verdecken, dass die Niederlage im Endspiel der Weltmeisterschaft im Jahre 1974 von den Niederländern, jedenfalls damals, als eine Art verpasster Revanche für die Besatzung empfunden wurde. Der Sieg im Halbfinale 1988, der beinahe wichtiger war als der Sieg im Finale gegen die UdSSR, konnte dafür nur halbwegs entschädigen. Heute ist diese »Fußballfeindschaft« weitgehend entschärft. In den Golfclubs organisiert man Turniere, in denen die Niederlande gegen Deutschland spielen. Die Ergebnisse sind kein Anlass für irgendwelche Unstimmigkeiten. Wenngleich in den harmlosen Sticheleien anlässlich der Ergebnisse die Fußballgeschichte beider Länder regelmäßig wieder aufgerufen wird, und damit erscheinen am Horizont doch auch wieder die damit ehemals verbundenen vehementen Konnotationen. Man kann es auch anders formulieren. Man spricht über heikle Themen nicht, weil man, trotz aller regelmäßigen Kontakte, im Grunde gar nicht miteinander spricht. Natürlich verständigt man sich beim Einkaufen, im Restaurant, im Sportverein, man tauscht seine Ansichten über die aktuellen Vorgänge in der Welt aus. Man tut es in dem Streben, möglichst einer Meinung zu sein, Einmütigkeit herzustellen, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Man ahnt jedoch dunkel, dass hinter der im Alltag praktizierten Harmonie Unterschiede, wenn nicht gar Gefahren lauern. In der Regel könnte man nicht einmal genau sagen, welche es sind. Aber man trachtet den mehr oder weniger unbekannten Divergenzen aus dem Wege zu gehen, die potentiell zum Streit führenden Unterschiede, seien sie politischer oder kultureller Art, zu vermeiden. Man will die geübte Unverbindlichkeit des täglichen Kontaktes erhalten. Im Grunde weiß man nicht viel voneinander. Die gegenseitig großmütig gewährte Toleranz ist keine verwirklichte Akzeptanz. Das friedliche tägliche Miteinander ist eigentlich ein umsichtig praktiziertes Nebeneinander, das nicht zu gefährden, sich alle bemühen.

SPRECHWEISEN

Zur Dialogfähigkeit in der interkulturellen Wissenschaftskommunikation Y ONG L IANG

1. P ROBLEMSTELLUNG Der Begriff ›Dialog‹ ist inzwischen nicht nur in (welt-)politischen und gesellschaftlichen Diskursen, sondern auch im internationalen Wissenschaftsaustausch ein sehr beliebtes Schlagwort geworden. In Deutschland kennen wir eine Reihe von akademischen Fachdisziplinen, bei denen interkulturelle Dialoge konzeptuell gleichsam die methodische Grundlage bilden sollen (siehe z.B. Wierlacher/Wiedenmann 1996: 31). Im deutsch-chinesischen Kontext wird mittlerweile die Notwendigkeit ›interkultureller Dialoge‹ ebenfalls erkannt. In seiner auf Chinesisch publizierten Schrift Intercultural Dialogue with China (与中国作跨文化对话) sieht Karl-Heinz Pohl (2003: 3) den Dialog als Möglichkeit, im Zeitalter unserer globalisierten Welt »verschiedene Wertvorstellungen zu teilen«. Mit erfolgreichen Dialogen können wir, so Pohl, »nicht nur eine andere Kultur besser verstehen und respektieren, sondern sie bringen uns auch eine neue Offenheit und Sensibilität, bewusst von einer anderen Kultur zu lernen«. In China selbst hat die interkulturelle Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten eine schnelle Entwicklung erfahren, wobei dem ›Dialog‹ als Kommunikations- und Austauschmodus ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Im Geleitwort zur Erstausgabe der Fachzeitschrift Cross-cultural Dialogues (跨文化对话) werden ›interkulturelle Dialoge zwischen Ost und

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West‹ als »eine wichtige historische Herausforderung für die Entwicklung der Kulturen in unserer Zeit« (Le 1998: 1f.) hervorgehoben. Auch in dem 2013 in Beijing erschienenen Sammelband unter dem Titel Distance of Face to Face (面对面的距离), in dem die Ergebnisse eines Austauschprojektes zwischen China und der Europäischen Union (ChinaEU High-Level Culture Forum) veröffentlicht wurden, haben die Herausgeber die große Bedeutung des Dialogs unterstrichen: »China wie Europa treten dafür ein, die Vielfalt der Kulturen dieser Welt zu respektieren, Dialoge zwischen den verschiedenen Zivilisationen zu fördern, die kulturellen Eigenheiten einzelner Nationen zu schützen und ihre kulturelle Souveränität zu wahren« (Huang/Zhao 2013: 1). Der Harvard-Philosoph Tu Weiming hat anlässlich der Weltkonferenz der Philosophie, die 2018 in China stattfinden wird, den Aufbau einer ›Zivilisation des Dialogs‹ angeregt: »Was den Dialog angeht, brauchen wir zunächst eine Zivilisation des Dialogs. Das heißt, dass zwischen den verschiedenen Zivilisationen Toleranz, Anerkennung, Respekt und Lernbereitschaft herrschen müssen«.1 Die Notwendigkeit und Bedeutung interkultureller Dialoge sind gut begründbar. Aber wie soll ein interkultureller Dialog – etwa im deutschchinesischen Kontext – konkret erfolgen? Von den grundlegenden Voraussetzungen, Kriterien und Realisierungsverfahren eines interkulturellen Dialogs wissen wir nur wenig, nicht zuletzt, weil Untersuchungen zu kulturdifferenten europäischen und außereuropäischen Dialog- bzw. GesprächsKonzepten, worauf Karl Esselborn (2003: 215) zu Recht hingewiesen hat, bislang weitgehend fehlen. Im Folgenden möchte ich zunächst am Beispiel eines deutschchinesischen Austauschprojektes versuchen, die Problematik des interkulturellen Dialogs im wissenschaftlichen Bereich auszuleuchten und die Diskussion dann im Hinblick auf einige allgemeine Implikationen eines Dialogs, wie sie in der einschlägigen Forschungsliteratur thematisiert werden, fortzuführen.

1

Siehe sein Interviewgespräch, das in der Wenhui-Zeitung (文汇报) vom 21.10.2013 veröffentlicht wurde.

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2. F ALLBEISPIEL : ›AUFKLÄRUNG IM D IALOG ‹ Die Veranstaltungsreihe Aufklärung im Dialog wurde von der Stiftung Mercator – zusammen mit dem National Museum of China – initiiert und als wissenschaftliches Begleitprogramm zur Ausstellung Kunst der Aufklärung konzipiert, die 2011-2012 in Beijing stattfand.2 Ziel des akademisch ausgerichteten Programms, an dem zahlreiche deutsche und chinesische Vertreter verschiedener Fachbereiche teilnahmen, war es, eine Plattform für den interkulturellen Dialog und die gemeinsame Verständigung zwischen deutschen und chinesischen Intellektuellen zum Thema ›Aufklärung‹ bereitzustellen (Stiftung Mercator 2013: 212f.). Dabei sollte keiner Seite »ein privilegiertes Deutungsmonopol über ›ihre‹ Aufklärung eingeräumt werden – also mussten chinesische Diskussionsbeiträge ebenso befugt sein, vom ›Westen‹ zu handeln, wie umgekehrt auch westliche Sinologinnen und Sinologen sich zu China äußern sollten« (S. 8). ›Dialog‹ wird hierbei ersichtlich nicht als eine floskelhafte Leerformel benutzt, sondern es sollte ein ausgesprochen interkulturell motiviertes Konzept realisiert werden, um das wechselseitige »Sich-Einlassen auf einen Anderen« zu fördern, was als eine unabdingbare Voraussetzung für jede interkulturelle Kommunikation bzw. Kooperation zu verstehen ist. Die Umsetzung des Konzeptes scheint jedoch auf große Schwierigkeiten gestoßen zu sein. Interkultureller Dialog ist, so resümiert Michael Kahn-Ackermann, der die Veranstaltungen moderiert hat, »ein mühseliges Geschäft«. Die Schwierigkeiten des Dialogs liegen nach seiner Ansicht vor allem »in der mangelnden Kenntnis des kulturellen und historischen Umfelds der Gesprächsteilnehmer auf der anderen Seite, in unterschiedlichen Diskurs-Kulturen, Voraussetzungen und Absichten« (S. 20). Was für Probleme und Schwierigkeiten bei der Realisierung des ›interkulturellen Dialogs‹ beobachtet bzw. erlebt wurden, soll nun anhand einiger Momentaufnahmen der Veranstaltungsreihe näher beleuchtet werden.

2

Die wichtigsten Vortrags- und Diskussionsbeiträge wurden in einem Sammelband unter dem Titel Aufklärung im Dialog. Eine deutsch-chinesische Annäherung dokumentiert und im Jahr 2013 (Hg. von Stiftung Mercator) veröffentlicht. Alle in der folgenden Diskussion zitierten Textstellen, wenn nicht gesondert markiert, stammen aus dieser Publikation.

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Beobachtung 1: Für die deutschen Organisatoren war es wichtig zu betonen, dass es sich bei der Veranstaltungsreihe nicht um ein ›Belehrungsprogramm‹ handeln sollte. Es wurde ausdrücklich auf eine naive Vorannahme, die es unbedingt zu vermeiden galt, hingewiesen, nämlich »die Vorstellung, die Chinesen hätten Aufklärung weder gekannt noch erlebt – eine Vorstellung, die zur Folge gehabt hätte, dass die Reihe in ein Belehrungsprogramm abgeglitten wäre« (S. 8). In diesem Sinne verfolgte die ›Aufklärung im Dialog‹ die Absicht, »nicht durch Unkenntnis der chinesischen und westlichen Geschichte falsche Belehrungen erteilen zu wollen; das Thema sollte dagegen nicht nur auf einen Dialog über europäische Aufklärung zielen, sondern der Begriff selbst sollte hinterfragt und auf seine unterschiedlichen und ähnlichen Ausprägungen in verschiedenen Zivilisationen geprüft werden« (S. 8f.). Trotz dieses mit klaren Worten erklärten Vorhabens hatten nicht wenige chinesische Teilnehmer den Eindruck, »dass die Deutschen die Chinesen belehren wollten«, so die Philosophin Wang Ge: Denn eine »Besonderheit der Ausstellung war, dass sie passgenau auf den chinesischen Besucher zugeschnitten war. Eine der ersten Reaktionen in China war daher die Mutmaßung, dass die Deutschen die Chinesen belehren wollten« (S. 14). Auch der chinesische Germanist Huang Liaoyu äußerte schon vor Eröffnung der Ausstellung den Verdacht, das Unternehmen erhebe den Anspruch, »Aufklärung nach China zu tragen«. Er war mit dieser Vermutung nicht allein (S. 21). Ob es hierbei um ein sachlich begründetes Bedenken ging, oder eher um allgemeine Vorbehalte gegenüber der vermeintlichen ›europäischen Belehrungskultur‹, sei dahingestellt; offenbar war unter den chinesischen Teilnehmern die Ansicht weit verbreitet, dass das als ›Dialog‹ bezeichnete Austauschformat nicht auf einer Gleichberechtigung der Gesprächspartner basierte. In einem so wahrgenommenen Verhältnis zwischen Gesprächspartnern als Lehrenden bzw. Lernenden ist ein interkultureller Dialog erdenklich schwer realisierbar. Beobachtung 2: Bei den Veranstaltungen, insbesondere bei den Foren, bekam man häufig den Eindruck, »dass der Dialog eher aus einem Nebeneinander statt einem Gegen- oder Miteinander von Stimmen bestand« (S. 20). Ein Dialog lebt von einem ›Gegeneinander‹ im Sinne eines Artikulierens differenter bzw. gegensätzlicher Standpunkte und von einem ›Mitei-

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nander‹ im Sinne eines Austauschs unterschiedlicher Kenntnisse und Meinungen, die sich auf ein gemeinsames Thema, ja eine gemeinsame Mitte beziehen, um schließlich ›das eventuell Gemeinsame‹ (Scheiffele 2003: 572) erarbeiten zu können. Bei der Aufklärung im Dialog fehlte dieses dialogische Prinzip, zumindest aus der Sicht einiger deutscher Teilnehmer, weitgehend. Wenn man die veröffentlichten Diskussionsbeiträge genau liest, ist an zahlreichen Stellen tatsächlich ein völliges Nebeneinander bzw. ein Aneinander-vorbei-Reden anzutreffen. Die Übernahme des Vorrednerthemas scheint nur dazu zu dienen, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen, ohne sich auf das Gegenüber einzulassen bzw. ohne auf die Standpunkte des Gegenübers einzugehen (S. 39ff.). Es finden an einigen Stellen durchaus Rede und Gegenrede bzw. Behauptung und Widerlegung statt, jedoch ohne dass ein wechselseitiger Bezug erkennbar wäre (z.B. S. 45). Das Nebeneinander der Stimmen könnte auch damit zu tun haben, dass mit international scheinbar gleichen oder ähnlichen Ausdrücken kulturhistorisch bzw. gegenwartsgesellschaftlich bedingt sehr unterschiedliche Begrifflichkeiten verbunden werden, ohne dass sich die Redner dieses Problems bewusst sind (z.B. S. 42). Beobachtung 3: Bei der Veranstaltung Aufklärung im Dialog ließen deutsche Teilnehmer manche Gelegenheit zu einem inhaltlichen Schlagaustausch ungenutzt verstreichen. Ihr Diskursverhalten wird »oft durch die Vermutung bestimmt, besondere Zurückhaltung und Vorsicht seien angezeigt, um die Gastgeber nicht vor den Kopf zu stoßen und ihre chinesischen Gesprächspartner nicht ›in Gefahr zu bringen‹« (S. 22f.). Es war für die Mehrzahl der deutschen Teilnehmer offenbar eine große Herausforderung, »einen Mittelweg zwischen einer noch stets möglichen Gefährdung der chinesischen Teilnehmer durch allzu simple Fingerzeige und Herausforderungen auf der einen und plumper Anbiederung an vermeintliche Tabus auf der anderen Seite« (S. 9) zu finden. Die Frage ist, ob ein solches Diskursverhalten bzw. ein Fachgespräch solchen Stils für deutsche Teilnehmer noch Sinn macht bzw. noch als Dialog gelten kann. Es war in diesem Zusammenhang bemerkenswert, »dass ausgerechnet ein chinesischer Teilnehmer das interkulturelle Diskursritual durchbrach« (S. 22f.). Gemeint ist der chinesische Gelehrte Gan Yang von der Sun Yatsen University in Guangzhou. Seine Redebeiträge wurden von KahnAckermann charakterisiert mit Worten wie:

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Auf unakademisch rüde Weise verbat er sich jede Belehrung darüber, dass China die Universalität aufklärerischen Ideengutes aus dem Westen anzuerkennen habe. […] In einer waghalsigen Verkürzung definierte er ›Aufklärung‹ als ›Kampf gegen Aberglauben‹. […] Es war mehr der polemische Ton als der Inhalt von Gans Beitrag, der den anwesenden deutschen Gesprächspartnern die Sprache verschlug. […] Das Publikum dankte es ihm mit Applaus, der vermutlich weniger Gans Aufklärungskritik galt als seinem rotzig geäußerten Missvergnügen an Belehrungen aus dem Westen (S. 21-23).

Aus der gedruckten Publikation können wir die nonverbalen bzw. parasprachlichen Mittel in den Redebeiträgen des besagten chinesischen Redners nicht mitverfolgen bzw. rekonstruieren. Es sei hier lediglich das Schlusswort seiner Rede im Forum ›Aufklärung und Moderne‹ zitiert, wobei er die Meinung vertritt, dass das moderne China sich vom Aberglauben an den Westen befreien müsse: Meine Schlussfolgerung ist daher, wenn die Menschen in China heute ›sich ihres eigenen Verstandes bedienen‹ wollen, benötigen sie keine ›Leitung anderer‹ und müssen sich somit vom Aberglauben gegenüber dem Westen und der Zweiten westlichen Aufklärung befreien. Bei der Befreiung von diesem Aberglauben können Chinas eigene Aufklärungstradition sowie die erste und die dritte westliche Aufklärung als wichtige Ideenquellen dienen. In den letzten Jahren haben bereits einige chinesische Gelehrte damit angefangen, auf diese Aufklärungstraditionen aufmerksam zu werden, die eben nicht mit der Zweiten westlichen Aufklärungstradition identisch sind (S. 38).

Hier ist eine interessante Überschneidungssituation zu beobachten, die viele Fragen aufwirft: Was wäre ein akademisch korrektes Diskursverhalten in einem interkulturellen Dialog? Warum verschlug Gans Redeweise den deutschen Teilnehmern die Sprache? Weil sie diese nicht von einem chinesischen Teilnehmer erwartet hatten? Warum ernteten Gans Beiträge viel Applaus vom chinesischen Publikum? Nur wegen der Art und Weise seines Redens? Was sein Redeverhalten angeht, sei abschließend angemerkt, dass der Gelehrte aus Guangzhou im Zuge seiner wissenschaftlichen Sozialisation mehr als 15 Jahre in Amerika verbracht hat.

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Beobachtung 4: Die chinesischen Teilnehmer verfolgten bei dem Dialog der Aufklärung offenbar andere Annahmen und Interessen. So stellte der deutsche Moderator Kahn-Ackermann fest, dass sie mit ihren Beiträgen weniger den interkulturellen Dialog als den innerchinesischen Diskurs im Auge hatten. Das galt für Tang Yijies und Chen Lais Ruf nach einer Rehabilitation des Konfuzianismus ebenso wie für Zhao Tingyangs Kritik am sich im postsozialistischen China ausbreitenden Streben nach individuellem Glück auf Kosten von Mit- und Gemeinschaftsgefühl. […] Nicht zufällig bewerteten die chinesischen Gesprächsteilnehmer den Einfluss der Ideen der europäischen Aufklärung auf die Entwicklung der modernen chinesischen Gesellschaft äußerst unterschiedlich (S. 23).

Daraus ist zu schließen, dass für einen erfolgreichen Dialog im interkulturellen Kontext die Erkundung bzw. Verdeutlichung eigener wie fremder Interessen, Bedürfnisse sowie Erwartungen unabdingbar ist. Wenn in einem Dialog eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Denken und Artikulieren des Einzelnen gefördert werden soll, hat ein solcher Dialog immer auch auf Reziprozität im Sinne eines Wechseltauschs von Eigenem und Fremdem zu beruhen. Beobachtung 5: Aus der Erfahrung der Veranstaltung wird ersichtlich, dass in Europa und China »eine sehr unterschiedliche Diskurskultur« vorherrscht; dazu Kahn-Ackermann: Verbal offene Kontroverse ist im innerchinesischen Diskurs ungewöhnlich, gegensätzliche Positionen werden sprachlich gemildert statt akzentuiert. Äußerungen wie ›Da bin ich völlig anderer Meinung‹, oder ›Da muss ich widersprechen‹ sind in der öffentlichen Debatte selten zu hören, und die Wendung ›Ich möchte den Ausführungen von Herrn XZ etwas hinzufügen‹, ist häufig die Einleitung für eine gänzlich gegensätzliche Position. Westliche Diskursteilnehmer nehmen Unterschiede zwischen den Positionen ihrer chinesischen Gesprächspartner daher manchmal nicht wahr (S. 22).

Ob die geschilderten Besonderheiten des chinesischen Diskursverhaltens im Allgemeinen zutreffen, mag zunächst dahin gestellt sein. Wichtig ist hierbei der Hinweis auf die kulturdifferenten Handlungsmuster und Kommunikationsstile. Bei der Dialogfähigkeit geht es schließlich nicht nur um

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eine philosophische bzw. politische, sondern auch um eine linguistisch und kommunikationswissenschaftlich relevante Frage. Beobachtung 6: Insgesamt ist jedoch deutlich geworden, dass die Veranstaltungsreihe Aufklärung im Dialog weniger Dialoge hervorgebracht hat als vielmehr ein Spannungsfeld zwischen verschiedenen grunddifferenten Meinungen und Interessen. Meinungsverschiedenheiten mündeten selten in einem geduldigen ›Wechseltausch‹ der Perspektiven, sondern wurden vielmehr auf eine voreilige und hektische Weise ausgetragen. So klingt die Schlussbetrachtung von Kahn-Ackermann dementsprechend nüchtern und realistisch: »Ob Salons oder Foren, Aufklärung im Dialog machte deutlich, dass Dialog zwischen Kulturen mit dem Ziel der Auflösung von Grenzen ebenso unmöglich, wie er im Sinne des Erkennens von Grenzen unverzichtbar ist« (S. 25). Es ist sicher richtig, wenn die Stiftung Mercator, der Initiator der Veranstaltungsreihe, resümierend an der Überzeugung festhält, dass der Dialog mit China »möglich, notwendig und wertvoll« ist und »eine Vertiefung des deutsch-chinesischen Dialogs gelingen kann« (S. 213). Bis zum Erreichen dieses Ziels ist aber ohne Zweifel noch eine lange Strecke zurückzulegen. Dementsprechend konstatiert auch Tu Weiming (2001: 16): How is it possible for strangers to leap across the so-called civilizational divide to take part in genuine dialogue, especially if the ›partner‹ is perceived as the radical other, the adversary, the enemy? It seems simpleminded to believe that it is not only possible, but realizable. Surely, it could take years or generations to completely realize the benefits of dialogical relationships at the personal, local, national and intercivilizational levels.

3. E INIGE

ZENTRALE ASPEKTE DES INTERKULTURELLEN D IALOGS

Wir nehmen das oben skizzierte Fallbeispiel als Lernchance und Anlass, uns kurz näher mit den Grundvoraussetzungen und Handlungsmodalitäten eines interkulturellen Dialogs auseinanderzusetzen und uns interkulturell darüber zu verständigen. Die folgende Diskussion beschränkt sich zunächst auf einige wenige Aspekte, die für den Wissenschaftsaustausch im deutschchinesischen Kontext von besonderer Relevanz sind.

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3.1 Der Dialog-Begriff Es wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass der heutige DialogBegriff, wie er in der diesbezüglichen Forschungsliteratur verwendet wird, im Wesentlichen durch die philosophische Tradition Europas geprägt und stark vom Vorbild des sokratisch-platonischen Dialogs beeinflusst ist (vgl. Kimmerle 2002: 15). Zudem wird allgemein vermutet, dass Gespräche in den asiatischen Ländern »nicht im gleichen Maße die spezifischen Eigenschaften des Dialogs als vermittelnder und Distanz setzender Auseinandersetzung und Erkenntnisgewinnung unter potentiell Gleichberechtigten aufweisen, […]« (Esselborn 2003: 220). Hierbei ist zunächst anzumerken, dass das Gespräch bzw. die besondere Kommunikationsform des Dialogs konzeptgeschichtlich auch in China eine lange Tradition hat, auch wenn der chinesische Ausdruck 对话 (duihua), der in der Gegenwartssprache als Entsprechung für ›Dialog‹ verwendet wird, erst jüngeren Datums ist.3 In der sog. Vor-Qin-Zeit (etwa zwischen dem fünften Jahrhundert und dem Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts), also etwa zur gleichen Zeit, als die griechischen Philosophen das Fundament für die europäische Tradition des Dialogs legten, dachten chinesische Gelehrte viel über die Bedeutung, Funktion und Form des Redens bzw. Nichtredens, Streitens und Nichtstreitens nach. In den überlieferten Klassikern finden wir nicht nur zahlreiche Ausführungen, die in Dialogform erfolgen, sondern auch tiefgehende Gedanken über die Frage, wie ein Gespräch dialogisch gestaltet werden sollte.4

3

In den großen Enzyklopädien für Chinesisch (z.B. 辞海 Cihai, Shanghai 1999) findet sich kein Eintrag für das Wort ›Dialog‹ (duihua). Auch in den etymologischen Wörterbüchern (z.B. 辞源 Ciyuan, Beijing 1979) sucht man das Lemma für ›Dialog‹ vergebens. In den gängigen Gebrauchswörterbüchern für Modernes Chinesisch wird das Stichwort ›Dialog‹ in der Regel angeführt, und zwar definiert als »Gespräch zwischen zwei oder mehreren Personen, insbesondere in literarischen Werken und Theaterstücken« (siehe z.B. 现代汉语词典 ›Wörterbuch für Modernes Chinesisch‹, Beijing 2012). Diese Auslegung dürfte in Anlehnung an europäische lexikographische Begriffserläuterungen entstanden sein.

4

Eine ausführliche Diskussion zur chinesischen Kulturtradition des Dialogs findet sich in Liang 2015: 96-115.

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Es gilt vor diesem Hintergrund zu fragen, wie diese Kulturtradition auf das heutige Kommunikationsverhalten nachwirkt und inwiefern bei chinesischen Austauschpartnern auch heute noch ein anderes Verständnis bezüglich grundlegender Aspekte eines dialogischen Gesprächs vorliegt. 3.2 Gleichberechtigung der Dialogpartner In den in China geführten Diskussionen zum Thema ›interkulturelle Dialoge‹ fällt auf, dass dort der Wunsch nach Gleichberechtigung der Dialogteilnehmer (平等对话) besonders hervorgehoben wird. Das entspricht theoretisch durchaus dem Verständnis eines in Europa tradierten DialogKonzeptes, nach dem Dialoge zwischen gleichberechtigten Partnern geführt werden müssen. In der Praxis nehmen chinesische Gesprächsteilnehmer jedoch regelmäßig eine asymmetrische Partnerbeziehung wahr und sind zudem besonders sensibel gegenüber Belehrungsversuchen aus dem Westen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es könnte damit zu tun haben, dass China historisch gesehen besonders schlechte Erfahrungen mit dem Westen gemacht hat (vgl. Pohl 2002: 8). Gemeint sind die Untaten der westlichen Kolonialmächte in China nach dem Opiumkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts und in den nachfolgenden Jahrzehnten. Und diese »Vorgeschichte« ist, so Pohl, »ganz wesentlich, um chinesische Sensibilität verstehen zu können«. Die Wahrnehmung eines ›ungleichen Austauschs‹ zwischen Lehrenden (aus dem Westen) und Lernenden (aus China) könnte auch mit einer in China ausgeprägten Lernkultur in Zusammenhang stehen, wonach man in Gesprächen vor allem daran denken sollte, was man von den Gesprächspartnern lernen kann. Man sollte vornehmlich sich selbst verbessern, statt andere wegen ihrer Fehler oder Unzulänglichkeiten zu kritisieren. Es gilt daher als unkultiviert, »in Gesprächen als Lehrmeister aufzutreten« (Liang 2015: 100). Ausschlaggebend für die genannte Wahrnehmung und Interpretation des Umgangs mit westlichen Partnern scheinen jedoch die Erfahrungen im Modernisierungsprozess zu sein, der bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen gesellschaftlichen Bereichen zutiefst von der materiellen und geistigen Kultur des Westens beeinflusst war. Die Konzeption der Anpassung und Adaption wird seit Beginn der Reformära Ende der 1970er Jahre in einem noch größeren Ausmaß fortgesetzt. So hat China in seinen Modernisierungsbestrebungen wie auch im heutigen Globalisie-

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rungsprozess im Wesentlichen die Position eines Lerners eingenommen, wobei die westlichen Kulturen von beiden Seiten als Ursprung und Vorbild der wissenschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklung gesehen werden (Liang 2000: 91). Als Folge dieses fast völlig einseitigen Kulturaustauschs ist ein eklatantes Missverhältnis im Wissenstransfer zwischen beiden Kulturkreisen entstanden: »Während in China seit über hundert Jahren die Zeugnisse westlichen Denkens übersetzt, rezipiert und in den eigenen Diskurs eingebracht werden, liegen von den denkerischen, literarischen und wissenschaftlichen Bemühungen chinesischer Autoren nur wenige verstreute Texte vor, […]« (Schmidt 2009: 9f.). Auch in direkten Begegnungen ist eine Gleichberechtigung der Beteiligten beider Seiten, zumindest aus der Sicht der chinesischen Gelehrten, nur selten erfolgt. Nach Qian Linsen (1998: 155ff.) »herrscht zum Beispiel in der Komparatistik und in der vergleichenden Kulturwissenschaft ein Eurozentrismus vor, der vor allem in der Betonung der Überlegenheit westlicher Zivilisation und in Unwissen, Vorurteil und gar Leugnung gegenüber östlicher Zivilisation zum Ausdruck kommt«. Wir sind seit langer Zeit – im Westen wie in China – an diese Rollenverteilung gewöhnt. Inzwischen hört man zwar immer wieder die Beteuerung vonseiten der westlichen Austauschpartner, »dass man voneinander lernen sollte und auch wollte – das scheint jedoch eher höflich und weniger ehrlich gemeint zu sein« (Pohl 2002: 17). Vor diesem Hintergrund sind in letzter Zeit in China zunehmend nachdenkliche und selbstkritische Stimmen zu hören. Das Wort ›Sprachverlust‹ (shiyu失语) macht die Runde. Gemeint ist, dass China im internationalen Kulturaustausch keine eigenen Begrifflichkeiten und damit auch keine eigenen Konzepte hat. Huang Ping, ein Soziologe aus Beijing, beklagte während der oben vorgestellten Veranstaltungsreihe, dass man in China nicht mehr die eigene Sprache verwendet: »Das moderne Chinesisch, selbst die Alltagssprache, ist verwestlicht, so als wären wir Chinesen die Studenten, die Professoren hingegen kämen alle aus dem Westen. Dadurch ist der Dialog zwischen Europa und China aus dem Gleichgewicht geraten – ein Problem, das wir näher betrachten sollten« (Stiftung Mercator 2013: 40).

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3.3 Zielsetzung eines interkulturellen Dialogs Wenn interkulturelle Dialoge zur Verständigung zwischen gleichberechtigten Partnern dienen sollen, ist davon auszugehen, dass sich die Gesprächspartner möglicherweise mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Erwartungen an einem Dialog beteiligen. Eine wechselseitige Verständigung über die eigene Zielsetzung und über die des kulturdifferenten Partners musst daher mit bedacht werden. Es lässt sich beobachten, dass das Interesse Europas an einem Austausch mit China in den letzten Jahren stetig gewachsen ist. Dabei könnte allerdings ein völlig anderes Interesse verfolgt werden als das, welches chinesische Austauschpartner hegen. So hat der chinesische Komponist Chen Qigang festgestellt: Im Westen griff und greift man in Phasen der künstlerischen Krise gerne auf Materialien der asiatischen Musik zurück, ebenso wie auf andere Ressourcen, um das eigene System zu bereichern und zu erfrischen. In China ist andererseits als Folge der Kolonialisierung eine sehr starke Orientierung an westlicher Technologie, Modernisierung und westlichem Denken festzustellen, das für uns heute bereits Teil unserer Natur geworden ist. Genauso ist die Ausbildung in westlicher Musik für uns nicht eine inspirierende Zutat, sondern bildet einen wesentlichen Teil unseres künstlerischen Fundaments […] (zitiert nach Utz 2002: 64f.).

Ähnliches wurde auch beim chinesisch-französischen Filmprojekt ›Wenn der Louvre die Verbotene Stadt trifft‹ (Rencontre Du Louvre Et De La Cité Interdite 当卢浮宫遇见紫禁城) beobachtet. In dem Dokumentarfilm mit 12 Folgen (2010) geht es um einen Vergleich der chinesischen mit der westlichen Kunst und insbesondere darum, die europäische Kunst aus chinesischer Perspektive zu betrachten. Das Motto des Filmprojekts lautet dementsprechend: »Ein nie dagewesener Dialog zwischen den Zivilisationen: chinesische Perspektive, moderne Standpunkte« (一次前所未有的 文明对话,中国的眼光、现代的立场). Der Drehbuchautor und Professor der Peking Universität, Zhu Qingsheng, teilte in einem Diskussionsbeitrag jedoch mit, dass das Vorhaben in Wirklichkeit gar nicht möglich war, »weil China keine eigenen Methoden mehr hat, künstlerisches Schaffen auszubilden und zu bewerten« (Zhu 2013: 123f.). Aus seiner Sicht ist an Kunsthochschulen Chinas das chinesische Kunst-Verständnis längst durch das

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westliche verdrängt bzw. ersetzt worden. Daher äußerte er den grundsätzlichen Zweifel, ob vor diesem Hintergrund ein Dialog zwischen China und Europa überhaupt noch sinnvoll und möglich ist: »Das Anliegen und die Erwartung des Westens, mit China Dialoge zu führen, bestehen vor allem in der Suche nach einem China, das seine traditionellen Eigenheiten aufbewahrt hat. […] Solche Dialoge sind schwierig und unrealistisch« (Zhu 2013: 128). Was ist die eigene und was ist die fremde Perspektive? Diese Frage muss vor dem geschilderten Hintergrund wohl neu bedacht werden. In den oben zitierten Äußerungen des chinesischen Gelehrten drückt sich nicht zuletzt die Sorge um den Verlust der eigenen Tradition und der eigenen kulturellen Identität aus, eine Sorge, die im heutigen China nicht nur in den künstlerischen Bereichen weit verbreitet ist. »Wir fürchten uns«, so die Philosophin aus Beijing während der Veranstaltungsreihe Aufklärung im Dialog, »vor dem Verlust unseres eigenen Fundaments, wenn wir die Wurzel anderer übernehmen« (Stiftung Mercator 2013: 16). Wenn ein interkultureller Dialog zur gemeinsamen Wissensbildung und zur Suche nach Wahrheit beitragen soll, muss auch die Ausgangssituation, in der sich die Beteiligten beider Seiten befinden, genau in Betracht gezogen werden. 3.4 Gemeinsame Diskurse in Dialogen Zu den Voraussetzungen eines interkulturellen Dialogs gehört auch, dass von den Dialogpartnern die gleiche Sprache – im Sinne gemeinsamer Diskurse – gesprochen wird. In chinesischen Beiträgen zum Thema ›Dialog‹ wird jedoch des Öfteren beklagt, dass nach einem Diskurs für ›interkulturelle Dialoge‹ noch gesucht werden muss. So meint z.B. die Herausgeberin der vorhin zitierten Fachzeitschrift Cross-cultural Dialogues: Die wichtigste Voraussetzung für Dialoge ist ein Diskurs, der von beiden Seiten verstanden und akzeptiert werden kann und zur wechselseitigen Verständigung beiträgt. Jedoch sind die entwickelten Industrieländer seit langem zu sehr an die Denkweisen und Handlungsmuster eines westlich orientierten Ethnozentrismus gewöhnt und haben es daher schwer, als gleichberechtigte Dialogpartner die fremden Diskurse anderer Kulturen zu verstehen. Den Ländern der Dritten Welt steht ein ganzes Begriffssystem gegenüber, das die entwickelten Länder fertig aufgebaut haben. Das sind

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Diskurse, die in verschiedenen Bereichen der Politik, Wirtschaft und Kultur weit verbreitet sind, eine langdauernde Dominanz besitzen und eine breite Anwendung finden (Le 1998: 2).

Selbst unter denjenigen chinesischen Gelehrten, die sich seit Jahren um eine interkulturelle Verständigung mit dem Westen bemühen, ist die Sorge um den vorhin genannten ›Sprachverlust‹ groß. Diese Sorge ist zugleich eine Selbstkritik in Bezug auf die innerchinesischen Diskurse. Die Fehlleistung wird vor allem darin gesehen, dass man die eingeführten Theorien und Konzepte benutzt, ohne ihren Ursprung in der fremden Ausgangskultur und auch ohne ihre Einordnung in chinesische Kontexte zu berücksichtigen. Nicht selten wird, statt sich in einer offenen Mitte um gemeinsame Diskurse zu bemühen, vom ›Kampf ums Diskursrecht‹ gesprochen. Auch hier wird die Dominanz der westlichen Diskurse Gegenstand der Diskussion: Tatsächlich ist im heutigen Austausch zwischen den verschiedenen Ländern das Ringen um das Diskursrecht ein wichtiger Teil des internationalen Wettbewerbs. Amerika und die wichtigsten westlichen Länder in Europa lassen nichts unversucht, das internationale Diskursrecht zu kontrollieren. […] Chinas internationale Diskursmacht wächst wesentlich weniger stark als die chinesische Wirtschaft. Und seine Fähigkeit, bei der Themenwahl und Regelfestlegung in globalen Angelegenheiten mitzuwirken, ist noch sehr begrenzt. Es existiert eine reale Differenz zwischen den vielen Pflichten und den wenigen Rechten (Huang/Zhao 2013: 2).

In den Studien zum Thema ›Interkulturalität‹ tauchen indes auch Stimmen auf, in denen von ›Diskurshegemonie‹ (话语霸权) die Rede ist, wobei westlichen Partnern zuweilen sogar böse Absichten unterstellt werden: Die entwickelten Länder im Westen, allen voran die USA, haben mithilfe der Diskurs-Hegemonie, die ihnen ihre Überlegenheit im wissenschaftlich-technischen Bereich beschert hat, die Mainstream-Kultur des Westens samt ihren Wertvorstellungen mit großem Getöse verkauft, propagiert und verbreitet. Zugleich versuchen sie, die Geschichte und Kultur der Entwicklungsländer in heimtückischer Weise herabzuwürdigen und zu zerstören, und setzen dabei alles daran, dass die Geschichte und Kultur der Entwicklungsländer im Prozess der Globalisierung entweder ihre Sprache verlieren bzw. zu verblassen drohen oder marginalisiert werden (Yin 2005: 10).

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Worte in dieser Radikalität hört man zwar eher selten. Aber die Auffassung, die hier artikuliert wird, stellt in den diesbezüglichen Diskussionen in China keinesfalls eine Ausnahme dar. Es wäre allerdings zu einfach, die Gründe für den ›Sprachverlust‹ allein auf die westliche Diskurs-Hegemonie zu reduzieren. Auch hier sehen wir deutlich, wie notwendig es ist, bei der Suche nach gemeinsamen Diskursen die historischen Bedingungen sowie die gegenwärtigen Voraussetzungen zu ermitteln, aufzuzeigen und zu problematisieren, damit die Diskussionen nicht im Vakuum politisch-ideologischer Spekulationen enden. In den Auseinandersetzungen zeigen sich aber auch ernsthafte Bemühungen um einen wirklich dialogischen Kooperationsmodus. Anne Cheng vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass die wissenschaftliche Arbeit in methodischer Hinsicht zwei Hindernisse aus dem Weg räumen muss. Zum einen gilt es zu vermeiden, von den methodischtheoretischen Diskursen westlicher Prägung verblendet zu werden. Zum anderen sollte eine Haltung vermieden werden, die sich starr an das Altgewohnte klammert (Cheng/Qian 2001: 86). 3.5 Kommunikationsstile Im Kern eines jeden Dialogs steht der Austausch von differenten Kenntnissen und Meinungen. Die ›Dialogizität setzt zwei oder mehr distinkte Stimmen voraus‹, wie es Norbert Mecklenburg (2003: 435) einmal formuliert hat. Die Meinungsvielfalt und -verschiedenheit gehört ebenfalls zu den Voraussetzungen von Dialogen, erst damit macht ein dialogischer Austausch Sinn. Hierbei ist die Frage entscheidend, wie die Meinungsverschiedenheit kommuniziert wird. Dialog ist charakterisiert ›durch Frage und Antwort, durch Rede und Gegenrede, in philosophisch-wissenschaftlicher Tradition durch Behauptung und Bestreitung, Beweis und Widerlegung und andere Elemente der Argumentation‹ (Esselborn 2003: 215). Kurzum, es darf und soll auch gestritten werden. Nach Krusche (1983: 12) sieht wissenschaftlicher Austausch in asiatischen Ländern anders aus als ein kontroverser Dialog unter europäischen Forschern. Dort wird offensichtlich ein Kommunikationsstil gepflegt und eingesetzt, der dem europäischen geradezu diametral entgegengesetzt ist.

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Den Kommunikationsstil chinesischer Gelehrter hat Fung Yu-Lan einmal zutreffend wie folgt beschrieben: »Im Chinesischen verwendet man eher Hinweise bzw. Anspielungen als klare Formulierungen. […] Das Gesagte ist inhaltsreich, sprachlich aber kurz und bündig« (Fung 1966: 25). Damit wird eine in China gerne praktizierte und hoch geschätzte Gesprächstechnik präsentiert, nämlich die Betonung von 言外之意 (wörtl.: der Sinn über die geäußerten Worte hinaus). In dieser Kulturtechnik des Gesprächs werden zweierlei Aspekte des Sprechens zum Ausdruck gebracht. Zum einen sollte stets angestrebt werden, die nötigen Informationen mit möglichst wenigen Worten zu vermitteln. Das ist möglich, weil sich vieles von selbst versteht und deshalb nicht extra in Worte gefasst werden muss, und immer dann nötig, wenn man etwas vermitteln will, für dessen Verstehen man ein Gespür haben muss (只可意会), das sich aber nicht in Worten ausdrücken lässt (不可言传). Zum anderen zielt diese Gesprächstechnik darauf, den vom Sprecher beabsichtigten kommunikativen Sinn verbal möglichst nicht direkt zu präsentieren. Was gesagt wird, ist nicht selten vage und mehrdeutig. Vagheit und Mehrdeutigkeit der Aussagen können durchaus positiv sein, da sie mehr Interpretationsräume schaffen, nicht zuletzt um mögliche Konflikte zu vermeiden (Liang 1998: 172). Die größte Herausforderung für einen erfolgreichen Dialog stellt indes die unterschiedliche Grundhaltung zum Konflikt und zu kritischen Meinungsäußerungen dar. Während in Deutschland die Meinungsverschiedenheit bzw. -vielfalt grundsätzlich als etwas Positives angesehen wird und Konfliktbereitschaft bzw. Streitkultur gefördert werden, gilt in China auch heute noch im Allgemeinen die Maxime, dass verbale Konflikte die Partnerbeziehung belasten und beeinträchtigen können. Kulturhistorisch gesehen finden wir sowohl in den konfuzianischen als auch in den daoistischen Klassikern – auch wenn unterschiedlich motiviert und akzentuiert – zahlreiche Äußerungen, in denen der Streit negativ bewertet wird (Liang 2014: 50f.). Für Karl-Heinz Pohl gehen chinesische Gesellschaftsvorstellungen vom Modell der Familie aus. »Wie für die Familie wird auch für die Gesellschaft Streit als etwas grundsätzlich Schädliches angesehen, was beider Zusammenhalt gefährdet. […] Von daher gesehen, hätten wir in China keine ›Streitkultur‹, sondern eine Konsenskultur« (Pohl 2002: 10f.). Es ist ersichtlich, dass ein interkultureller Dialog nur dann erfolgreich sein kann, wenn man sich auch über die unterschiedlichen Kommunikationsstile verständigt, die den Verlauf und die Gestaltung eines wissenschaft-

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lichen Gesprächs beeinflussen. Wenn die Beteiligten sich um eine ›gemeinsame Mitte‹ bemühen, muss auch beachtet werden, dass bei den chinesischen Austauschpartnern ein anderes Verständnis bezüglich grundlegender Aspekte eines dialogischen Gesprächs wie Rede und Gegenrede, Frage und Antwort, Behaupten und Widersprechen etc. vorliegt.

4. S CHLUSSBEMERKUNGEN Interkulturelle Dialoge sind möglich. Wenn die Dialoge, die von der europäisch-westlichen Seite für den interkulturellen Austausch initiiert werden, als ein Angebot kreativer Vielfalt der Ideen und Methoden verstanden werden sollen, muss man allerdings damit rechnen, dass sie auch scheitern können, und zwar in dem Sinne, dass dabei keine ›gemeinsame Mitte‹ erlangt werden kann. Nach Beobachtungen von Scheiffele (2003: 572) spricht sogar vieles dafür, »dass sich die Ausgangssituation hier und die Ergebnissituation dort nicht so recht vergleichen lassen. […] Man könnte die Situation mit einem Platz vergleichen, der durch die Überkreuzung von aus vielen Richtungen und von weither kommenden Straßen als deren gemeinsame Mitte zuwege gebracht wird. Doch findet dabei keine ›Horizontverschmelzung‹ statt. In der Konsequenz unserer Allegorie liegt ja auch, dass die ›Straßen‹ von diesem ›Platz‹ aus wieder in unterschiedliche Richtungen auseinander gehen«. Für interkulturelle Dialoge brauchen wir, wenn wir in der Metaphorik bleiben wollen, eine Art ›Zweibahnstraße mit Gegenverkehr‹, wie Alois Wierlacher (2003: 18) bei der Zielbestimmung der Interkulturellen Germanistik einmal formuliert hat. Ein interkultureller Dialog kann, wenn wir das Attribut ›interkulturell‹ ernst nehmen, nur dann erfolgen, wenn wir neben der Offenheit gegenüber der jeweils anderen Kultur und der Bereitschaft, von der anderen Kultur zu lernen, auch über eine historische Reflexion und ein historisches Bewusstsein sowie über Kenntnisse hinsichtlich der eigenen Kulturtradition bzw. jener der Austauschpartner verfügen. Nur dann sind wir in der Lage, den Dialog-Begriff konzeptuell und methodisch im Sinne der interkulturellen Kommunikation zu klären und für die Praxis der interkulturellen Kooperation fruchtbar zu machen.

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L ITERATUR Cheng, Anne / Qian, Linsen (2001): Hervorbringen des Gefühls als ›Andere‹, Brückenschlag chinesisch-westlicher Dialoge (程艾兰、钱林森: 让›他者‹的感觉升华,构筑中西对话的桥梁). In: Cross-cultural Dialogues (跨文化对话). Shanghai, S. 83-92. Esselborn, Karl (2003): Dialog. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart, S. 214-221. Fung, Yu-Lan (1966): A Short History of Chinese Philosophy. New York. Huang, Ping / Zhao, Tingyang (Hg.) (2013): Distance of Face to Face. China-EU High-Level Culture Forum (黄平、赵汀阳主编:面对面的 距离。中欧文化高峰对话). Beijing. Kimmerle, Heinz (2002): Interkulturelle Philosophie. Zur Einführung. Hamburg. Krusche, Dietrich (1983): Japan, konkrete Fremde – Dialog mit einer fernen Kultur. Stuttgart. Le, Daiyun (1998): Suche nach Diskursen des interkulturellen Dialogs (乐黛云:寻求跨文化对话的话语). In: Cross-cultural Dialogues (跨文化对话). Shanghai, S. 1-3. Liang, Yong (1998): Höflichkeit im Chinesischen. Geschichte, Konzepte, Handlungsmuster. München. Liang, Yong (2000): Werte-Management in deutsch-chinesischen Kooperationen. In: Wieland, Josef (Hg.): Dezentralisierung und weltweite Kooperationen. Die moralische Herausforderung der Unternehmen. Marburg, S. 87-122. Liang, Yong (2014): Kulturspezifische Perspektiven interkultureller Kompetenz / Culture-specific Perspectives of Intercultural Competence. In: Interculture Journal. 13/22, S. 45-55. Liang, Yong (2015): Höre nicht mit den Ohren, höre mit dem Herzen! Zur kommunikativen Leistung des Zuhörens in der internationalen Wissenschaftskommunikation. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies. 39 (2013), S. 96-115. Mecklenburg, Norbert (2003): Interkulturelle Literaturwissenschaft. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart, S. 433-439. Pohl, Karl-Heinz (2002): Zwischen Universalismus und Relativismus. Menschenrechte und interkultureller Dialog mit China. Trier.

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Pohl, Karl-Heinz (2003): Intercultural Dialogue with China (卜松山: 与中国作跨文化对话). Beijing. Qian, Linsen (1998): Ein gutes Beispiel für gleichberechtigte Dialoge zwischen China und Europa (钱林森:中欧文化平等对话的一个范例). In: Cross-cultural Dialogues (跨文化对话). Shanghai, S. 155-165. Scheiffele, Eberhard (2003): Interkulturelle Germanistik und Literaturkomparatistik: Konvergenzen, Divergenzen. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart, S. 569-576. Schmidt, Stefan (2009): Vorwort. In: Schmidt, Stephan (Hg.): Chun-Chieh Huang. Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung. Studien zur chinesischen Geistesgeschichte. Bielefeld, S. 9-27. Stiftung Mercator (Hg.) (2013): Aufklärung im Dialog. Eine deutschchinesische Annäherung. Essen. Tu, Weiming (2001): The Context of Dialogue: Globalization and Diversity. In: Crossing the Divide: Dialogue among Civilizations. New York, S. 51-96. Utz, Christian (2002): Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun. Stuttgart. Wierlacher, Alois / Wiedenmann, Ursula (1996): Blickwinkel der Interkulturalität. Zur Standortbestimmung interkultureller Germanistik. In: Wierlacher, Alois / Stötzel, Georg (Hg.): Blickwinkel. München, S. 23-64. Wierlacher, Alois (2003): Interkulturelle Germanistik. Zu ihrer Geschichte und Theorie. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart, S. 1-34. Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.) (2003): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart. Yin, Yungong (2005): Wer agiert gegen wen? Überlegungen zur interkulturellen Kommunikation (尹韵公:谁在对谁行为?跨文化传播的思考). Geleitwort. In: F. Jiang: Der postkoloniale Kontext der interkulturellen Kommunikation (姜飞:跨文化传播的后殖民语境). Beijing, S. 7-13. Zhu, Qingsheng (2013): Louvre (朱青山:卢浮宫). In: Huang, Ping / Zhao, Tingyang (Hg.). Distance of Face to Face. China-EU High-Level Culture Forum. Beijing, S. 123-129.

Vom Lesen sprechen Eine Miniatur über das interkulturelle Lesergespräch in der Vermittlungspraxis interkultureller Germanistik B ARBARA D ENGEL

»das ist wirklich etwas das hätt ich für den text gern selbst selbst gedacht«

Mit diesem Satz reflektiert eine Autorin ein etwa einstündiges Gespräch zwischen ihr, einem chinesischen Schriftsteller und Übersetzer und chinesischen Germanistikstudierenden im Kontext einer Veranstaltung des Bamberger Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia. Das Gespräch entwickelte sich im Anschluss an die Lesung von drei Texten: der Erzählung »Einführung in die Anatomie« von Claudia Klischat, der Übersetzung dieses Textes ins Chinesische und der Rückübersetzung der chinesischen Übersetzung ins Deutsche. Mit der Lektüre der Rückübersetzung ins Deutsche wurde die Autorin sozusagen zur Leserin eines ihr vertrauten, nun ›fremdgestellten‹ Textes. Sie formuliert einen Erkenntnisprozess, der auf einer Differenz-Erfahrung und dem »anderen Leser als methodisches Prinzip« beruht: »Das Kriterium, unter dem diese Verschiedenheit sich zeigt, ist das der Alterität. Nicht beim Lesen eines literarischen Textes ›für mich‹, sehr wohl aber beim Formulieren von dessen möglicher Bedeutung auch ›für andere‹ (als Zeitgenossen) ist den durch mich als empirisches Subjekt ins Spiel kommenden Vorprägungen (Vorverständnissen) reflexiv Rechnung zu tragen. Der andere Leser ist – nicht psychologisch bzw. didaktisch, sondern textanalytisch

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systematisch – in das Deutungsverfahren einzubeziehen« (Krusche 2000: 96f.). Am Verlauf dieser einstündigen Diskussion lässt sich zeigen, wie Formen der Versprachlichung entwickelt werden, die das Verhältnis der eigenen zur fremdkulturellen Rezeption (Steinmetz 1992) darstellen und wie im Gespräch Verstehensrahmen erarbeitet werden, die Auffassungen über Missverstehen in produktives Fremdverstehen wenden lassen. Besonders relevant sind dabei Strategien der Übersetzung im weiteren Sinne, die auf allen Ebenen der Auseinandersetzung mit den Texten zum Einsatz kommen: d.h. dem Sprechen über die Beziehung zwischen den Texten, über die Beziehung zu den Texten und über deren Verstehenshorizonte. Ist das Übersetzen selbst durch eine doppelte Bindung charakterisiert, einer Bindung an den Ausgangstext und einer Bindung an die kommunikativen Bedingungen in der Zielsprachkultur (House 2005), so potenziert die hier vorgestellte trilaterale Konzeption diese zweifache Bindung in eine sechsfache. Der Zielsprachentext wird zum Ausgangstext, der ursprüngliche Ausgangstext zu einem Zielsprachentext, mit dem er allerdings nicht identisch ist. Darüber lassen sich Kontrastierungen, wie sie vielfach in bilateralen Konzeptionen auftreten, vermeiden. Durch die Konzeption des Gesprächs als interkulturelles Lesergespräch (Krusche 1985) sind die Beteiligten aufgefordert kulturelle Positionen, in diesem Fall Leser-Positionen, zu beziehen und damit in Vermittlungsprozesse eingebunden, in denen sie als Sprecher und Rezipienten zwischen den Sprachen wechseln und ihr Fremdheitswissen derart aktualisieren, dass das Wechselverhältnis von Wissen und Nicht-Wissen immer wieder neu auszuhandeln, zu modifizieren und zu begründen ist. Die Erzählung »Einführung in die Anatomie« beginnt mit einer Szene im Elternhaus eines zwölfjährigen Mädchens. Der Vater holte ein eingefrorenes Huhn aus der Gefriertruhe: Er drückte mir das eingefrorene Huhn in die Hand, schob mich vor sich her die Kellertreppe hinauf in die Küche, wo meine Mutter saß, und den Kopf schüttelte und sagte, sie wird dich enttäuschen, und mein Vater strich mir über den Kopf, nahm mir das eingefrorene Huhn aus der Hand, legte es in heißes Wasser, und als es aufgetaut war, riss er dem Huhn einen Schenkel ab, ging ins Wohnzimmer, kam wieder, gab mir Nadel und blauen Faden, sah auf den Schenkel, dann in meine Augen und sagte, los näh ihn wieder dran! Es hat nicht lange gedauert, bis der Schenkel wieder dran

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war, ich war gut, mein Vater zufrieden, er holte seinen Kognak, das Glas lag in seiner Hand, und während er in der Küche auf und ab ging, bewegte er es genüsslich aus dem Handgelenk, der Kognak drehte sich einige Sekunden um sich selbst, dann nahm mein Vater einen Schluck und sagte zu meiner Mutter, siehst du, wie schön sie es gemacht hat. Meine Mutter schüttelte erneut ihren Kopf, hob das Huhn an dem angenähten Schenkel mit zwei Fingern von der Küchenzeile, schmiss es in den Kompostabfall und sagte, das ist kein Beweis, sie wird niemals eine Chirurgin, ihre Finger sind zu dick. Zu dick, und von wem hat sie die, sagte mein Vater, er schrie, griff nach der Hand meiner Mutter, von mir nicht, brüllte er, und ich zog die Ärmel meines Pullovers lang, bis meine Hände darin verschwanden und wünschte mir, mein Vater würde meine Mutter in einen Hühnerstall sperren, und sie erst wieder herauslassen, wenn die Hühner alles an ihr aufgepickt hätten, ihre Ohren, ihre Nase, ihre schrille Stimme, die den Regen übertönte (Klischat 2003: 5f.).

»Wir wissen nur was gesagt ist aber wir wissen nicht was gemeint ist«. So beschreibt der chinesische »Rückübersetzer« rückblickend seine Erfahrung im Übersetzungsprozess als Fremderfahrung und bringt damit die Distanz zwischen dem eigenen und dem fremdkulturellen Verstehensrahmen zum Ausdruck. Als ›Übersetzer-Autor‹ übernimmt er Verantwortung für ›seinen‹ Text und legt die mit der Übersetzung getroffenen Selektionsprozesse offen. Die Autorin bezeichnet diese Distanz zu Beginn des Gesprächs als »ganz großes problem«, »ein ganz gravierender unterschied«. Die Ursache sieht sie in nicht zu vereinbarenden Perspektiven auf das Thema Familie, das in der Erzählung über die Vater-Tochter- bzw. Mutter-TochterBeziehung aufgerufen wird. So positionieren die Gesprächsteilnehmer sich als Leser oder Autoren. Sie aktualisieren und verändern diese Bedingungen, indem sie sich je nach Rolle zu den Texten verhalten und leiten damit einen Reflexionsprozess ein. Die Autorin, die ihren eigenen Text nun sozusagen aus einer chinesischen Perspektive wiederliest, versucht zu Beginn den ihr fremden Blickwinkel zu erklären: ich hab das vorhin schon gesagt dieser familienpunkt der hier ja ganz wichtig ist diese diese beziehung diese vater tochter beziehung is ja sehr stark und dann kommt die mutter und ich glaub dass in china dass zumindest hatte ich das so in den diskussionen über die tage auch mit frau hu auch wie familie da in china auch gesehen wird das würden die so nie niemals denken also die würden so nie diesen blick auf die familie haben also wir sind da bisschen sehr irgendwie psycho versaut sag ich mal

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so die abnabelung dieses kindes oder in der jugend ist ne ganz andere als die in china und man würde nie über mütter vielleicht denken ich weiß nicht aber ich glaube man würde es nie so aussprechen (.) als ich das gelesen habe kann ich mir vorstellen dass die bewegung zwischen den familienmitgliedern wie die sich auch ansehen oder wie die (…) so nen satz sagen der ziemlich gemein ist ja (…) diese mutter tochter beziehung gar nicht (.) was ist das ja (.) hilfe und dieser vater auch das ist ja alles ziemlich eigenartig (.) ich glaub das können können die gar nicht so greifen wie das in deutschland oder jetzt in unserem kulturkreis gesehen wird hab ich mir gedacht also auch schon vor der übersetzung hab ich mir das gedacht weil wir da viel hier im haus auch darüber geredet haben (.) und es ist fällt auch am anfang schon auf (…) wie das in deutschland in unserem kulturkreis gesehen wird (…)

Um die Produktivität dieses Verhältnisses der Fremdheit zu zeigen, ist es erforderlich über die Alltagsbedeutungen von fremd hinaus, die diesen mit »nicht aus unserem Orte«, »nicht zu uns gehörig« weitgehend als Negationswort fassen, einen Begriff von Fremdheit zu setzen, wie er im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung1 entwickelt wurde. Das Fremde ist demnach nicht das Andere, nicht das von uns Abweichende, sondern das ›aufgefasste Andere‹, ein ›Interpretament der Andersheit und Differenz‹ (Wierlacher 1993, Weinrich 1985). »Fremde ist keine Eigenschaft, die ein Objekt für ein betrachtendes Subjekt hat; sie ist ein Verhältnis, in dem ein Subjekt zu dem Gegenstand seiner Erfahrung und Erkenntnis steht« (Krusche 1990: 143). Wie in Vermittlungsprozessen die produktive Auseinandersetzung mit einem anderen »Blick« nur diskursiv erreicht werden kann, soll im Folgenden in Anlehnung an das von Andrea Bogner und mir entwickelte ›Modell für den Kulturvergleich‹ (2012) nachgezeichnet werden. In der Rekonstruktion lässt sich das Gespräch in drei Phasen gliedern, von einer Phase der Kontrastivität über eine Phase der Relationalität bis zu einer Phase der Interkulturalität, die in ihrem Verlauf einen interkulturellen Lernprozess darstellen.

1

Vgl. Wierlacher 1993 und Wierlacher/Albrecht 2003; zum Begriff der Fremdheit Albrecht 1997, Albrecht 2003 sowie Albrecht 2012; zu Fremdheitsprofilen Krusche 1987; zu Fremdheitskonstruktionen Horn 1987, Ohle 1978, zur Fremdheit der Sprache Weinrich 1985 und Redder 1998.

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Phase 1 als Phase der Orientierung zieht Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem und etabliert Zugehörigkeiten. Durch die Gegensetzung »in china« – »in deutschland« und in »die« und »wir« bestätigt die Autorin die allein schon durch die Anlage des Lesergesprächs vollzogene Kategorisierung in nationale Zugehörigkeiten, die wichtig ist, um den spezifischen »Blick« als kulturelle Differenz überhaupt erst wahrzunehmen. Gleichzeitig wird diese Beziehung von nationaler Zugehörigkeit und Familienstrukturen und Sozialisation als Negation des Eigenen bezeichnet und damit qualitativ als fremd gefasst: »so die abnabelung dieses kindes ist ne ganz andere«, »niemals denken«, »nie diesen blick auf die familie haben«, »nie über mütter«, »nie so aussprechen«. Diese Negation und Ablehnung bringt sie auch gestisch zum Ausdruck. An dieser Stelle wird deutlich, dass diese Stufe der Kategorisierung im Vermittlungsprozess eine ist, die auf ungesichertem Wissen und Vermutungen beruht, in dem Fall Wissen und nicht überprüfte Annahmen über Familienbeziehungen in China. Sprachlich realisieren sich diese in auffallend vielen Konjunktiven und Einschränkungen: »ich glaub dass in china das zumindest hatte ich das in diskussionen über die tage / zumindest, das würden, würden / würden / vielleicht / ich weiß nicht aber ich glaube man würde / kann ich mir vorstellen«. Die Herstellung von Zugehörigkeiten als Positionsnahmen stiften nur dann Orientierung, wenn sie nur vorübergehend Reduktionen von Komplexität vornehmen. Als Stereotype auf Zeit wirken sie so Polarisierungen und eindimensionalen Zuschreibungen von Ordnungsmustern weitgehend entgegen (Bogner/Dengel 2012: 90). In Phase 2 werden die Verhältnisse, in denen die Subjekte zu Gegenständen ihrer Erfahrung stehen, als Auffassungsvorgänge von Andersheit beschrieben. Die Fremdheit einer Lesart, Rezeption oder auch Interpretation ist dann keine objektive Größe und Eigenschaft des Fernen, Ausländischen, Nichteigenen, Ungewohnten, Unbekannten, des Unvertrauten oder Seltenen mehr, sondern gewinnt eine relationale Qualität, »die den Anderen als Fremden für jemanden an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Hinsicht, zu einer bestimmten Zeit qualifiziert. Wir können also über den, die oder das ›Fremde‹ (Albrecht 1997) nur reden, wenn wir den Blickwinkel mitbedenken, unter dem wir den, die oder das Andere als ›fremd‹ auffassen« (Wierlacher/Albrecht 2008: 285). In dieser Phase kann wahrgenom-

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mene kulturelle Differenz zu differenzierter Texterfassung und zu unterscheidendem Bewerten führen. Anhand des folgenden Textvergleichs möchte ich zeigen, wie die Nichtübereinstimmung von Original und Übersetzung in Sinne Isers zum Vergnügen werden kann und eine Chance bietet, das eigene Vermögen zu betätigen und produktiv zu werden (Iser 1994, 254). Am Ende der Erzählung macht das Mädchen, das inzwischen als junge Frau das Medizinstudium aufgenommen hat, an der Universität erste Liebeserfahrungen. Die Erzählung endet mit einer Kussszene in einem Universitätsgebäude, und einer Art innerer Monolog der jungen Frau: »Und dann wurde ich traurig, ich hatte meinen Mund ganz weit geöffnet, spürte Oliver Schütz’ Zunge an meiner, und mir fiel ein, dass ich erst ein Mal mit einem Mann geschlafen hatte, der mir seinen Namen nicht verraten hatte (…)« (Klischat 2003: 12). In der Rückübersetzung aus dem Chinesischen lautet diese Textstelle: »Mir fiel plötzlich ein, ich hatte ein Mal mit einem Mann geschlafen. Seinen Namen durfte ich nicht verraten, (…)« Diese Differenz zwischen »der mir seinen Namen nicht verraten hatte« und »Seinen Namen durfte ich nicht verraten« bezeichnet die Autorin zu Beginn als »ganz ganz groben Fehler« (Z. 50)2. Auch der chinesische Übersetzer bestätigt die Abweichung, die »kleine Verzerrung« (Z. 52) zu Beginn des Gesprächs als Übersetzungsfehler »ja das ist ein missverstehen« (Seg. 21, Z. 53) und die Dolmetscherin unterstreicht diese Vorstellung: »ja jetzt hat er auch eingesehen dass es ein missverstehen gibt DIR MIR das ist in chinesischer sprache« (Z. 54, 55). Gleichzeitig wird diese Differenz Ausgangspunkt für einen »prozesshaften Vollzug der Verflechtung von Fremd- und Selbsterfahrung beim Lesen« selbst (Krusche 1985: 371) und im konkreten Fall des Lesergesprächs beim Reden über die Lese-Erfahrung. Denn sie lässt sich auch als Kommunikationsangebot fassen, das die Texte im Vergleichen machen. Ausgehend von dieser Textstelle entwickelt sich das Lesergespräch um die Vereindeutigung interpersonaler Beziehungen (Wer gehört zu wem) und um die Verknüpfung von Personen mit ihren Handlungen. Es geht also darum, wer darf was. So begründet der chinesische Übersetzer seine Umdeutung: »wegen normale äh ein mädchen mit einem mann es ist unmöglich äh es äh weiß nicht den namen« (Z. 55-57).

2

Die Transkripte werden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht abgedruckt.

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In Phase 3 wird das Gespräch zu einer kulturellen Überschneidungssituation ausgestaltet, die es den beteiligten Individuen ermöglicht, wahrgenommene kulturelle Differenz als produktiv für die eigene, entdeckende Lektüre zu artikulieren. In dieser Phase verändern sich Leser-Positionen und Rezeptionsfelder im wechselseitigen Austausch und schaffen letztlich tragfähige Zwischenpositionen (Synn 1996), die für beide Seiten einen Gewinn an Produktivität bedeuten. Wenn in den ersten Phasen des Lesergesprächs vor allem Formulierungen von Defiziten auffallen, so verweist dies auch auf eine der größten Herausforderung an die Gesprächsbeteiligten, die damit verbunden ist, die Vorstellungen sprachlicher Korrektheit und Texttreue beim Übersetzen, die zuweilen explizit formuliert werden, zugunsten einer Produktivität von Missverständnissen aufzugeben. Im Verlauf dieses Gespräches konnte allerdings schrittweise so viel Fremdheitswissen aktiviert und in produktives Fremdverstehen umgesetzt werden, dass ausgehend von der Verschiedenheit nicht Konsens um jeden Preis, sondern Erweiterung der eigenen Sicht erreicht wurde. Am Ende der Erzählung wird der zu Beginn dargestellte chirurgische Eingriff an einem tief gefrorenen Huhn rückblickend von der IchErzählerin wieder aufgenommen. Im Ausgangstext lautet dies wie folgt: Plötzlich erinnerte ich mich, dass wir in der Universität standen, dass es hier eine Aufgabe gab, und in dem Moment wusste ich nicht mehr, ob es meine Aufgabe war, ich dachte an meinen Vater, und ich fragte mich, ob Oliver Schütz jemals ein Huhn zusammennähen musste.

Die chinesische Übersetzung gibt dieser Eingangsszene am Ende eine andere Wendung, die lautet: Auf einmal fiel mir ein, dass wir uns auf dem Campus befanden, wo es eine Aufgabe gab. Aber in diesem Moment wusste ich schon nicht mehr, ob es meine Aufgabe war oder nicht. Ich dachte an meinen Vater und fragte mich, ob Oliver Schultz das Huhn wäre, das ich zusammen nähen musste?

Der von der Autorin gesetzte Handlungsstrang, der seinen Ausgang nicht zuletzt im Titel »Einführung in die Anatomie« nimmt, wird von den chinesischen Lesern konsequent zu Ende gedacht. Die Qualität dieser Bezugnahme, dass das Huhn vom Anfang der Erzählung und Oliver Schütz nicht

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mehr zwei getrennte Figuren sind, sondern als eins gedacht werden, was dann auch ganz andere Personen-Handlungs-Konstellationen erlaubt (wer macht was mit wem?) wird in dieser veränderten Beziehungnahme auch in der eingangs zitierten Äußerung von der Autorin formuliert: »aber was ich euch sagen möchte das ist wirklich etwas das hätt ich für den text gern selbst selbst gedacht ich dachte ähm moment (.) ich dachte an meinen vater und fragte mich ob oliver schütz das huhn wäre das ich zusammen nähen musste das ist wunderbar« (Z. 418). Für einen schrittweise aufgebauten interkulturellen Lernprozess bedeutet dies, dass die neue, in dem Fall chinesische Lesart, der Autorin jene Form des Fremdverstehens ermöglicht, in der die eigene Perspektive in der Auseinandersetzung mit einer anderen korrigiert und erweitert wird. Ausgehend von der Verschiedensprachigkeit der Texte boten sich für alle Beteiligten neue Potenziale der Verständigung, die sie im Modus des wechselseitigen Übersetzens und Abgleichens ausloteten. Für die internationale Vermittlungspraxis lässt sich über diese mehrdimensionale Anlage des interkulturellen Lesergesprächs das von Wierlacher und Albrecht (Wierlacher/Albrecht 2008: 281) beschriebene Fremdheitswissen aufbauen, das den Umgang und die Auseinandersetzung mit kultureller Alterität reflektiert und handlungsleitend wirkt.

L ITERATUR Bogner, Andrea / Dengel, Barbara (2010): Wissenschaftskulturen im Vergleich. In: Grucza, Franciszek (Hg.): Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau. Bd. 13: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern u.a., S. 89-94. Horn, Peter (1987): Fremdheitskonstruktionen weißer Kolonisten. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Akten des I. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. München, S. 405-418. House, Juliane (2005): Offene und verdeckte Übersetzung. Zwei Arten, in einer anderen Sprache ›das Gleiche‹ zu sagen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. H. 139, S. 76-101. Iser, Wolfgang (1994): Der Lesevorgang. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. 4. unveränderte Auflage. München, S. 253-276.

V OM L ESEN

SPRECHEN

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Der Essay als (Dis-)Kurs-Form Kleiner Beitrag zum interkulturellen Kanon H INRICH C. S EEBA

Karl Kraus war ein spitzzüngiger Vertreter des Feuilletons und hat sich selbst nicht ausgenommen von der brillanten Pointe seines vielleicht bekanntesten Aperçus über die von ihm selbst auf die Spitze getriebene Gattung: ›Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen; aber diese Locken gefallen dem Publikum besser als eine Löwenmähne der Gedanken.‹1 Je dünner das Haar – zwar nicht des zu feiernden Jubilars, aber vielleicht doch des einen oder anderen nicht minder in die Jahre kommenden Festschrift-Beiträgers –, desto größer wird auch die Versuchung, die kaum noch zu schüttelnde Löwenmähne durch eine Zierlocke zu ersetzen und, statt grundsätzlich Neues umständlich und möglichst abstrakt darzulegen, aus dem bereits angehauenen Steinbruch Funken zu schlagen, also knapper, amüsanter, konkreter und handfester zu werden. Das bedeutet nun aber gerade nicht wie in dem von Karl Kraus gemeinten Extremfall, dass man aus Nichts einen Hauch von Etwas zaubern und aus Wasser gar Schaum schlagen sollte. Vielmehr gilt es, in der ganzen Palette bekömmlicher Darstellungsformen etwas leichter verdauliche und schmackhafte Kost zu finden, angemessen für jemanden, der sich um die Kulturgeschichte des Essens so verdient gemacht hat wie Alois Wierlacher.

1

Karl Kraus: Heine und die Folgen (zuerst in: Die Fackel Nr. 329/330, 1. September 1911, S. 1-33), hier zitiert nach der Ausgabe Simon (o.J.: 293).

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Und da bietet sich der Essay an, jene zwischen gewichtiger Abhandlung und leichtem Feuilleton angesiedelte Diskursform, die dem Adressaten dieser Beiträge besonders am Herzen liegt. Jedenfalls hat der gern schmunzelnde und stets zum befreienden Lachen aufgelegte Jubilar, der die Lockenpracht seines Lebens nicht ohne berechtigten Stolz schütteln kann, im September 2010, nachdem ich auf der Göttinger Tagung der von ihm gegründeten Gesellschaft für interkulturelle Germanistik einige Fragen zur interkulturellen Bedeutung der Kanonisierung von Texten aufgeworfen hatte, mir hinterher zustimmend zugeraunt: ›Wir sollten mal etwas zusammen über den Essay machen‹. Hier folgt, in direkter Anknüpfung an jenen Göttinger Abend, meine, wie es die Gattung verlangt, sehr tentative Einlösung des damals etwas kleinlaut gegebenen Versprechens, im Wortsinn ein ›Versuch‹, für die interkulturelle Relevanz des Essays zu plädieren und für seine weithin zu beobachtende Aufwertung über mögliche Gründe zu spekulieren. Wohl bekomm’s! Die Aufwertung des Essays als literarischer Gattung, die in den Germanistik-Studiengängen verschiedener Länder und Universitätssysteme neben Roman, Drama und Lyrik getreten ist, ist im Grunde, so abschreckend der Verdacht einer Bevormundung durch eine verbindliche Textauswahl heute vielen erscheinen mag, eine Frage kulturell bedingter Kanonisierung von literarischer Tradition. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Umverteilung der in den Deutsch- und Kulturkursen bevorzugten Textsorten zugunsten kritischer Prosa hat weitreichende Konsequenzen auch für das in den jeweiligen Ländern gepflegte Deutschland-Bild, weil nicht mehr einzelne literarische Werke ein von den historischen, politischen und sozialen Bedingungen abgelöstes, vorwiegend romantisches Bild der deutschen Kultur suggerieren, sondern weil auf einer anspruchsvolleren Ebene Probleme aufgezeigt und konzeptionell auf den Begriff gebracht werden, die den deutschen Kulturwandel und die immer wieder andere Funktionalisierung von Literatur im Rahmen nationaler Identitätsbildung betreffen. Dabei ist als Auswahlkriterium die kulturelle Repräsentanz der Texte wichtiger geworden als ihre literarische Qualität. Die deshalb von manchen Traditionalisten bedauerte Entliterarisierung des Kanons, der ohnehin durch immer mehr Bild- und Filmmaterial ohnehin ausgeweitet wurde, kann positiv auch als Sensibilisierung der Studenten für eine komparative Kulturkritik be-

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grüßt werden, die eine andere kritische Kombinatorik verlangt als literarische Sensibilität und interpretatorische Einfühlung. Aber soweit ich sehen kann, hat die kulturgeleitete und den Wechselfällen der Geschichte unterworfene Zusammenstellung der Lektürelisten, an denen die Prüfungskenntnisse unserer Studenten gemessen werden, noch viel zu wenig Beachtung gefunden. Noch weniger scheinen wir zu wissen über die unterschiedliche Verteilung der Textsorten oder auch ganzer Literaturgattungen und -epochen, die in der Ausbildung nicht-deutscher Studenten eine prägende Rolle spielen. Die pädagogische Grundsatzentscheidung, ob man Studenten durch exemplarische Lektüre gewissermaßen in einem Schnupperkurs nur mit relevanten Auszügen großer, auch umfangreicher oder auch nur schwer zugänglicher Werke vertraut machen oder sie doch lieber nur vollständige, ungekürzte Texte lesen lassen will, ob also das biographische Verständnis eines Autors, die kulturkritische Einführung in ein von mehreren Autoren dokumentiertes Problem oder die interpretatorische Analyse eines literarischen Werks im Vordergrund steht, betrifft natürlich auch die Auswahl der Texte, die die Studenten kennenlernen und schließlich als repräsentativ für die deutsche Literatur / Kultur einmal selber tradieren sollen. Das zu entscheiden wird umso schwieriger, je mehr, wie in den USA, das Prinzip der coverage dafür sorgt, dass in den Kulturund Literaturkursen möglichst viel gelesen wird, weil sich die Examina vorwiegend auf Texte stützen, die im Unterricht behandelt (eben: abgedeckt = covered) worden sind und deshalb auch auf den individuellen Leselisten der Kandidaten erscheinen. Die Auswahl jeder Kurslektüre ist offensichtlich, wenn auch uneingestanden, ein Beitrag zur Kanonisierung, ob der Kanon nun verbindlich vorgeschrieben (und dennoch alle paar Jahre geändert) oder von vornherein flexibel gehalten (und deshalb nicht mehr »Kanon« genannt) wird. Bestimmend bleiben dabei die an ganz unterschiedlichen Studentengruppen orientierten und durch strukturelle und inhaltliche Vorgaben der jeweiligen Universität bestimmten Bedürfnisse der Unterrichtspraxis. Die Berufung auf einen von solcher Praxis losgelösten, universal gültigen Kanon ist mit dem Glauben an eine verbindliche Bildungstradition schon längst überholt. Die Universalität von Geltung ist unter dem Stich-

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wort local knowledge2 (vgl. Geertz 1983) schon lange einer Regionalisierung der Standorte und schließlich einer postmodernen Austauschbarkeit gewichen, wie sie die gesamte Kultur ergriffen hat. Die radikale demographische Veränderung in der Zusammensetzung der Studentenschaft, die Heterogenisierung der kulturellen Perspektiven und der größere Praxisbezug berufsvorbereitender Ausbildungsgänge hat jeden Anspruch auf einen allgemeingültigen, universalen und kulturunabhängigen Kanon abgelöst. Aber weil im Zeichen globaler Netzwerke auch nationale und regionale Kulturen nicht mehr unverwechselbar sind und ihre Spezifizität in einer unüberschaubaren Beliebigkeit oft nur noch schwer erkennbar ist, ist auch der Griff zum Essay als leichter und schneller verdaulicher Textsorte meistens kaum noch das Ergebnis einer bewussten Kanon-Entscheidung, die sich nur an den besonderen Bedürfnissen der jeweiligen Kultur orientiert. Sicherlich hat auch die digitale Revolution mit ihrer Omnipräsenz unmittelbar zugänglicher Textpassagen, die in immer neuen Collagen mühelos verbunden werden können, um immer neue Bedeutungen zu assoziieren, den Essay zu einem bevorzugten Reservoir abrufbarer, aus dem Zusammenhang gerissener Gedanken werden lassen. Das Internet hat, wie kürzlich in einem grundlegenden Zeitungsartikel ausgeführt wurde, die traditionelle Trennung zwischen Konsument und Produzent aufgehoben und eine »weitgehende Granularisierung der Informationen« mit sich gebracht: »Rezipiert wird immer seltener ein ganzes Buch oder wenigstens eine Zeitung, sondern ein einzelner Artikel. [...] Einzelne Stücke werden isoliert von ihrer Historie und den mit dieser verwobenen Intentionen eines Autors interpretiert« (Kausch 2011). Während Reflexionen im Roman oft der übergeordneten Charakterisierung der Figuren dienen, Szenenausschnitte kaum vom Handlungsablauf eines Dramas abstrahiert werden können und erst recht ein Gedicht, das auf ein oder zwei Zitate reduziert wird, seine Integrität verliert, gewinnen einzelne Aussagen eines Essays, auf den eingängig zitierten Spruch reduziert, die Autonomie selbständiger Versatzstücke, deren dynamische Kombination dem neuen, seit den sechziger Jahren entwi-

2

Geertz hat wohl am nachhaltigsten in der Kulturanthropologie für eine regionale Wahrnehmung und Einordnung gesellschaftlicher und kultureller Phänomene plädiert: »[t]o turn from trying to explain social phenomena by weaving them into grand textures of cause and effect to trying to explain them by placing them in local frames of awareness« (1983: 6).

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ckelten und seit zwanzig Jahren allgegenwärtigen Hypertext-Verständnis des Internet entspricht. Man könnte das Verfahren der Auswahl markanter Leitsätze, an denen die Positionen wichtiger Autoren und ihrer als repräsentativ geltenden Essays festgemacht werden, auch »Büchmannisierung« nennen,3 weil es bei diesen Geflügelten Worten zwar nicht um die Bestätigung des einst bürgerlich genannten Bildungskanons geht, aber doch darum, in schnell abrufbaren Zitaten den Gedankengang eines Autors auf den Punkt zu bringen und mit ähnlichen Extrakten anderer Autoren so zu vergleichen, dass sich ein bewegliches Spektrum von bestimmten Problemstellungen und Perspektiven ergibt, die auf einer selbstreflexiven Gesprächsebene das Prinzip der Perspektivität selbst in den Mittelpunkt kritischer Auseinandersetzung rückt. Die kulturelle Perspektivierung des Zugriffs auf die deutsche Literatur / Kultur aber ist die Voraussetzung aller interkulturellen Überlegungen zum Unterschied solcher Perspektiven. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass die außerdeutsche, durch die besondere Unterrichtspraxis bedingte Konzentration auf den Essay mit dazu beigetragen hat, dass die darin verhandelten Kulturfragen den cultural turn in den German Studies beschleunigt haben, bevor er auch in Deutschland selbst Fuß gefasst hat; denn in der oft nur aus sprachpädagogischen Gründen bevorzugten Form des Essays wurden die Studenten schon sehr früh mit Problemen der Kulturkritik konfrontiert, die in den traditionellen Gattungen viel weniger so direkt zur Sprache kommen konnten. So waren amerikanische Studenten, zumindest in meiner Erfahrung in Berkeley, viel früher mit entscheidenden Essays der Kulturkritik vertraut, als ich das über Jahre hin an deutschen Studienbewerbern beobachten konnte. Zu den kulturkritischen, im 18. Jahrhundert noch »Discourse« genannten Prosatexten, von denen nicht alle die Gattungsnormen eines Essays erfüllen und manche als »Rede«, »Gespräch«, »Epistel« oder »Abhandlung« firmieren, gehören u.a. Winckelmann Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Lessing Wie die Alten den Tod gebildet, Kant Was ist Aufklärung?, Herder Abhandlung über den Ursprung

3

Die von Georg Büchmann gesammelten Geflügelten Worte, die mit dem Untertitel Der Zitatenschatz des deutschen Volkes zum erstenmal 1864 erschienen sind, enthalten bekanntlich sprichwörtliche Redensarten und berühmte Zitate, die sich als Gedankensplitter und auf jede Lebenssituation anwendbare Spruchweisheit verselbständigt haben.

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der Sprache, Goethe Zum Shakepeares-Tag, Schiller Was kann eine gute stehende Bühne eigentlich wirken?, Über naive und sentimentalische Dichtung, Kleist Über das Marionettentheater, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, Novalis Monolog, Friedrich Schlegel Gespräch über die Poesie, Heinrich Heine Briefe aus Berlin, Verschiedenartige Geschichtsauffassung, Karl Immermann Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren, Grillparzer Worin unterscheiden sich die österreichischen Dichter von den übrigen?, Richard Wagner Das Judentum in der Musik, Friedrich Nietzsche Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Karl Kraus Heine und die Folgen, Sigmund Freud Das Unbehagen in der Kultur, Hugo von Hofmannsthal Ein Brief, Max Weber Wissenschaft als Beruf, Georg Simmel Die Großstädte und das Geistesleben, Siegfried Kracauer Abschied von der Lindenpassage, Hermann Broch Hofmannsthal und seine Zeit, Walter Benjamin Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Herbert Marcuse Über den affirmativen Charakter der Kultur, Thomas Mann Deutschland und die Deutschen, Theodor W. Adorno Engagement, Paul Celan Bremer Literaturpreisrede, Max Frisch Öffentlichkeit als Partner. Eine bunte Fülle also an kritischen Essays, in denen grundsätzliche Fragen zur Antike-Rezeption, zur Sprachlichkeit des Denkens, zur Konstruktion von Fiktion, zur nationalen Identitätsbildung, zu antisemitischen Stereotypen, zur Metaphorisierung des Wahrheitsbegriffs, zum urbanen Diskurs der Flanerie, zur Authentizität von Kunstwerken, zur Ideologie des Kulturbetriebs, zur sozialen Funktion der Kunst, zur Sprachkrise nach dem Holocaust und zur immer populäreren Meinungskultur aufgeworfen und aus verschiedenen Perspektiven und mit ganz unterschiedlichem Anwendungspotential für die jeweilige Kulturdebatte einzelner Länder diskutiert werden. Hier wird, vielleicht gestützt auf einen Konversationskurs, sofern es da um mehr als bloßes survival training für Touristen in Deutschland geht, der thematische Rahmen abgesteckt, in dem die problemorientierte Lektüre auch fiktionaler Werke, Erzählungen und Romane, Dramen und Gedichte, eine ganz neue interkulturelle Relevanz gewinnt, weil der Rahmen auf je andere Erfahrungen eines Deutschen und, zum Beispiel, einer Amerikanerin oder eines Brasilianers, einer Deutschen in Amerika und eines Amerikaners in Deutschland bezogen werden kann. So bestätigt die Unterrichts-

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praxis die unter Julia Kristevas Titel Strangers to Ourselves4 bekannt gewordene Erfahrung kultureller Selbstverfremdung als Voraussetzung vergleichender Kulturkritik. Wem die philosophische Abhandlung zu kopflastig und andererseits das Gedicht zu flüchtig, der Roman zu lang und, fern deutschen Theatern, das Drama ohne Umsetzung auf der Bühne zu gestelzt erscheint, findet in der scheinbar viel »einfacheren Form«5 des Essays eine Alternative zur traditionellen, von Emil Staiger (1946) anthropologisierten Trias des literarischen Kanons6 und einen viel gefälligeren, gleichwohl reflektierteren Zugang zum Selbstverständnis einer anderen Kultur. Die Aussicht, nicht nur in der Form unterhalten, sondern in der Sache auch belehrt zu werden und so dem Prinzip der horazischen Poetik (aut prodesse aut delectare) bestens zu genügen, rückt die generische Einheit von Sachverstand und Sprachvergnügen sogar auf die Ebene einer Bildungsfreude, die ihre motivierende Kraft noch nicht ganz verloren hat. Diesen Vorzug hat der Essay wegen seiner größeren Zugänglichkeit – aktuelles, philosophisch vertieftes Thema, überschaubare Kürze, ansprechende Leichtigkeit und unterhaltsamer Witz sind seine beliebtesten Merkmale – vor allem bei nicht-deutschen Studenten, die lieber mit Lessing als mit Kant, lieber mit Friedrich Schlegel als mit Fichte, lieber mit Heine als mit Hegel, lieber mit Nietzsche als mit Marx, lieber mit Karl Kraus als mit Dilthey, lieber mit Walter Benjamin als mit Heidegger, lieber mit Botho Strauss als mit Niklas Luhmann ringen. Selbst dieser Vergleich von Autorenpaaren bedient noch das Stereotyp, dass auf einer Seite Tiefe und Unverständlichkeit ebenso identisch sind wie auf der Gegenseite Witz und Oberflächlichkeit, ein Stereotyp übrigens, das im antisemitischen Diskurs

4

Vgl. Kristeva (engl. 1991) »It is not simply – humanistically – a matter of our being able to accept the other, but of being in his place, and this means to imagine and make oneself other for oneself« (ebd.: 13).

5

Der Essay stützt sich, mit seiner Anleihe beim witzigen Spruch/Aperçu und bei logischen Casus, auf »einfache Formen«, wie sie Alfred Jolles (1930) beschrieben hat.

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Staigers Ablösung des epischen, lyrischen und dramatischen Stils von den traditionellen Gattungen Epos, Lyrik und Drama hat die überlieferte Trias geöffnet für auch andere Kombinationen, sobald der von Staiger noch weihevoll gepflegte Dichtungsbegriff durch den der Literatur ersetzt wurde.

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noch bis zum Gegensatz deutschen Tiefgangs und jüdischer Oberflächenreize gesteigert wurde. Unter antisemitischem Vorzeichen wurde der Essay als Form geistreicher Oberfläche gerne gegeißelt wie in Treitschkes nachhaltiger Abkanzlung eines seiner Hauptvertreter: Heinrich Heine, der Düsseldorfer Jude. Von der menschlichen Größe unserer klassischen Dichter besaß er nichts. Geistreich ohne Tiefe, witzig ohne Überzeugung, selbstisch, lüstern, verlogen und doch zuweilen unwiderstehlich liebenswürdig, war er auch als Dichter charakterlos und darum merkwürdig ungleich in seinem Schaffen. Oft missbrauchte er sein Formtalent, um seelenlos das Anempfinden nachzudichten (Treitschke [1876]; o.J: 458).

Die gängige Formel ›formale Virtuosität bei mangelndem Tiefgang‹ war so schnell bei der Hand, dass sie ein Jahrhundert lang dem Essay den Zugang zum deutschen Gattungskanon versperrt hat. Erst im Zeichen der Kritik an antisemitischen Vorurteilen, die Heine bis in die siebziger Jahre vom Kanon ›klassischer‹ Literatur ferngehalten hat, hat der, positiv gewendet, Kitzel provozierender, oft kurzweilig dargebotener Diskurse wohl zuerst nicht-deutsche, in meiner Erfahrung amerikanische Studenten schneller engagiert, mitzudenken und eigene Positionen zu beziehen, zugleich aber auch sowohl die Historizität der Standpunkte als auch die Sprachlichkeit ihrer Vermittlung genauer wahrzunehmen, als es ein rein identifikatorisches Lesen nur fiktionaler Texte je vermocht hätte. Diesem Umschwung in der Popularität des Essays kam aber noch ein anderes, gegen die deutsche Wissenschaftskultur gerichtetes Vorurteil zugute. Tief zu schürfen galt zumindest damals, als die sprachpädagogische Aufwertung des Essays begann, so sehr als deutsches Merkmal, und Abstraktionen in Nominalkonstruktionen hypotaktischer Schachtelsätze, die, ins Englische übersetzt, keinen Sinn mehr ergeben, waren so gefürchtete Kennzeichen deutscher Dissertationsprosa, dass sich einige amerikanische Studenten von damals noch heute gerne an eine hintergründig gewitzte Aussage des deutschen Germanisten Richard Brinkmann Ende der sechziger Jahre erinnern: »Deutsche Wissenschaftler haben eine panische Angst davor, verstanden zu werden«. Deshalb galt auch einem jungen deutschen Germanisten, als er 1967 in die USA kam und meinte, eine in Deutschland definierte deutsche Kulturtradition vertreten zu müssen, ein flotter Stilist wie Erich Heller, der unter dem Titel Enterbter Geist Essays zur deutschen

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Kulturgeschichte veröffentlicht hatte, als wissenschaftlich weniger ernst zu nehmender, womöglich gar schöngeistiger »Essayist« – wie derselbe Germanist von seinen älteren amerikanischen Kollegen auch erst lernen musste, dass intellektuelle Kreativität eines Doktoranden nicht etwa am Umfang des Anmerkungsapparats zu messen ist, sondern an der Originalität innovativen Denkens. So hat es der genannte Germanist schätzen gelernt, dass seine amerikanischen Studenten, die durchweg das Schreiben in eigenen Creative Writing-Kursen geübt hatten, manchmal nur über Nacht ein gut geschriebenes zehnseitiges paper zustandebrachten, das vielleicht mehr eigene Gedanken enthielt als manche aufgeblasene Semesterarbeit von 40 Seiten, an die er sich aus der eigenen Studienzeit in Deutschland erinnerte. Dem akademischen Ziel konzeptioneller (und lesbarer) Originalität entspricht nun auf ideale Weise das Genre des Essays, weil er zwischen der umfassenderen Abhandlung und dem spritzigen Feuilleton erlaubt, meistens ganz ohne Anmerkungen einen einzelnen Gedanken durchzuspielen, ihn ohne übergroße Belastung durch von anderen Vorgedachtes auszuführen, mit ihm intelligent zu spielen und so zur Diskussion zu stellen, dass sich der engagierte Leser hineingezogen fühlt in Erwägungen, die ihn weiterdenken lassen, die ihn inspirieren und nicht erdrücken, die ihn zum Gesprächspartner anheben und nicht in die Rolle des zu belehrenden Rezipienten abdrängen. Wohl keiner hat es besser als Heine verstanden, die unterhaltsame Form des Essays als sokratisches Gespräch mit einem gedachten Partner auszuspielen, und nirgends hat er es besser als in den frühen Briefen aus Berlin (1822) verstanden, diesen fiktiven Gesprächspartner in das essayistische Genre urbaner Flanerie einzuspannen, mit ihm, in ständigen Ausblicken auf lukullische Verlockungen, durch das im Umbruch befindliche Berlin zu lustwandeln und mit der Ironie auch des okularen Gaumenkitzels so ganz nebenbei auf Widersprüche der Gesellschaft hinzuweisen. Dabei beharrt er auf der leichten Form der Causerie: »Nur verlangen Sie von mir keine Systematie; das ist der Würgeengel aller Korrespondenz«.7 Ganz im Sinne des Ahnherrn des französischen essai, Michel de Montaigne, der entschieden den mittelalterlichen Ordo-Gedanken zurückgewiesen und damit die entsystematisierte Welt für eine mehr impressionistische Betrachtung geöffnet hatte, hat auch Heine in der unsystematischen Beobachtung urbaner Gesell-

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(Heine [1822]; 1969: 10); vgl. dazu Hinrich C. Seeba (1999).

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schaft eine Enthierarchisierung der Machtstrukturen gesehen und damit dem Essay eine gewissermaßen demokratisierende Rolle zugeschrieben, in der der angesprochene Leser ein Mitspracherecht hat. Praktisch gesehen, eignet sich der Essay besonders für die Unterrichtung von Studenten, die fortgeschritten genug sind, um daran über das sprachliche Verständnis hinaus das konzeptionelle Verständnis, das zu den erstrebten Kernzielen des kulturkritischen Graduate-Studiums in den USA zählt, sprachkritisch und mit zunehmender Lust an der Sprachgestaltung zu erproben. Gerade weil für sie die deutsche Sprache kein transparentes Medium der Gedanken ist, können sie, indem sie sich an der Opazität der Sprache abarbeiten, leichter als Muttersprachler einen kritischen Sinn für die, mit Kleist gesprochen, ›allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ entwickeln und so, mit Friedrich Schlegel, weniger das Produkt als »das Produzierende«, also weniger das abstrakte Ergebnis als den konkreten Denkprozess bedenken.8 Im Nachvollzug der sprachlichen Konzeptionalisierung können sie die Entstehung eines Gedankengangs in statu nascendi als sprachlichen Prozess besser verstehen und so Mut und Vorbilder für den eigenen immer geschliffeneren Diskurs gewinnen. Das Unfertige des Essays, die Unabgeschlossenheit des Gedankens, der den Leser in den Prozess des Denkens einbindet, entspricht der besonderen amerikanischen Affinität zum interaktiven Lernen, zur letzten Endes demokratischen Aushandlung eines vermittelnden Standpunktes, den man auch als Kompromiss missverstehen könnte. Dabei eignet dem Essay gerade ein entschiedenes Meinungsangebot, weil es eher um auch polemisch vorgetragene, immer aber subjektive Ansichten als um die objektive Darstellung von Tatsachen geht. Sachverhalte werden perspektivisch beleuchtet und erhalten ihre kulturrelevante Brillanz erst in der Einseitigkeit ihrer Darstellung, die zum Protest herausfordert. Weil der Essay – im Sinne von Emile Zolas Aufschrei gegen die Verurteilung von Alfred Dreyfus J’accuse! und der aufrüttelnden Essays von Stéphane Hessel Empört euch! Und Engagiert euch! in unserer Zeit – mit der Empörung auch auf das Engagement zielt, ist er potentiell immer auch politisch, im Sinne eines Eingriffs in laufende

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Vgl. Friedrich Schlegels Begründung der Transzendentalpoesie, die »auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte« (1964: 53).

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Debatten gestützt auf den Glauben an die Wirkungskraft des Wortes, dem auch Taten folgen müssen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass der Essay im Rahmen der deutschen Literaturgeschichte seine erste Blütezeit, abgesehen von der offensichtlichen Aufklärung, im Vormärz hatte, also in einer Epoche, die dem Intellektuellen eine gesellschaftskritische Rolle zuwies, die Aufgabe, den von Metternich verfügten status quo zu verunsichern und schließlich aus den Angeln zu heben. So zeichnet den engagierten Essay auch eine Dynamik des rebellischen Denkens aus, die in einigen Fällen, wie im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, sogar zur Revolution aufrufen kann. Damit tritt als Autor des Essays der in der Öffentlichkeit wirkende und diese mitgestaltende Intellektuelle auf die Bühne, the public intellectual, dessen sicher unbequeme und oft misstrauisch beäugte Rolle als kritischer Mahner zwischen Wissenschaftler und Journalist lange unbestritten war. Erst im Zeitalter der virtuellen Öffentlichkeit privatester Auslassungen, wo jeder Blogger zu jedem Thema und zu jedem Buch eine persönliche Meinung, manchmal unbegründet abschätzig und manchmal ebenso leichtfertig hochjubelnd, ins Netz stellen kann, ist die Rolle des Intellektuellen so diffus geworden, dass die professionelle Kritik immer mehr an Bedeutung zu verlieren droht. Deshalb hat vor kurzem The New York Times Review of Books zu einer Debatte über Literaturkritik aufgerufen, in der der Beitrag von Katie Roiphe, einer Professorin der Journalistik an der New York University, auf eine Verteidigung des traditionellen Essays hinauslief: The answer to the angry Amazon reviewer who mangles sentences in an effort to berate or praise an author is the perfectly constructed old-fashioned essay that holds within its well-formed sentences and graceful rhetoric the values it protects and projects. More than ever, critical authority comes from the power of the critic’s prose, the force and clarity of her language; it is in the art of writing itself that information and knowledge are carried, in the sentences themselves that literature is preserved. The secret function of the critic today is to write beautifully, and in so doing protect beautiful writing.9

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Roiphe (2011), hier zitiert nach der erweiterten Fassung der Essays im Internet: http://www.nytimes.com/2011/01/02/books/review/Roiphe-t-web.html.

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Der gute Stil als Protest gegen den Verfall der politischen Kultur hat seine Vorgeschichte ebenso wie der Essay als Form des Widerstands gegen die Aufweichung kritischer Standards. Ob man nun, stilistisch zeitlos, den Anschluss an die klassische Tradition rhetorischer Brillanz oder, historisch relativiert, an die kritische Essayistik der Aufklärung und ihrer Fortsetzung in der Romantik und im Vormärz betont, immer ist die interkulturelle Fragestellung, also die Frage nach der kulturellen Perspektivierung auch philosophischer Aspekte, die pragmatische Antwort auch auf ein Bedürfnis der Unterrichtssituation, weil der Essay nicht nur als Form, sondern gerade durch seine kritische Aussagen den amerikanischen, brasilianischen oder afrikanischen Studenten einen sprachlich leichteren Einblick in das diskursive Selbstverständnis deutscher Intellektueller gibt. Der Essay als (Diskurs-)Form oder, wofür ich im Titel dieser vorläufigen Gedanken das oft prätentiöse Wortspiel der Poststrukturalisten übernommen habe: der Essay als (Dis-)Kursform, der sich an den ganz unterschiedlichen Anforderungen der in verschiedenen Ländern angebotenen Unterrichtskurse orientiert, ist natürlich die ironisch-pragmatische Umkehrung eines sehr abstrakt gemeinten Titels von Theodor W. Adorno. Sein Essay Der Essay als Form (1958), ist ein – inzwischen historisch relativierter – Klassiker unter den Theoretikern einer Gattung, die vor über fünfzig Jahren als solche erst entdeckt und gegen Vorurteile durchgesetzt werden musste. Er beginnt mit dem Satz: »Dass der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist; dass es an überzeugender Tradition der Form gebricht; dass man ihrem nachdrücklichen Anspruch nur intermittierend genügte, wurde oft genug festgestellt und gerügt« (ebd.: 9). Was Adorno, immer auf der Hut vor der Einverleibung in den affirmativen Kulturbetrieb, »die permanente Versuchung einer Form« nennt, »deren Verdacht gegen die falsche Tiefe durch nichts gefeit ist vor dem Umschlag in versierte Oberflächlichkeit« (ebd.: 14), hatte dem Essay das inzwischen längst überholte Misstrauen eingebracht, er könne wie Karl Kraus’ feuilletonistische Locke auf der Glatze kaum mehr als unterhaltsame Schaumschlägerei sein. Wichtiger ist für Adorno die Abgrenzung gegen die andere formale Herausforderung, die wissenschaftliche Abhandlung. Dabei steht der Essay, dem immer etwas Ketzerisch-Missionarisches eignet, »nicht im einfachen Gegensatz zum diskursiven Verfahren« (ebd.: 46), auch er vermeidet Widersprüche in der Logik des Arguments, aber nur, um desto polemischer Widersprüche bloßzustellen, die in der »Sache«, also nach Adornos marxisti-

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schem Verständnis in der gesellschaftlichen Praxis liegen. Anders als der philosophisch begründete wissenschaftliche Aufsatz ist der Essay für Adorno grundsätzlich Gesellschaftskritik: »Im Verhältnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer philosophischen Grundlegung als Methode zieht der Essay, der Idee nach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System« (ebd.: 21). Im Plädoyer für den Essay als Widerstand der Form gegen das falsche Gesellschaftssystem antizipiert Adorno seinen berühmteren Essay über das Engagement (1962), in dem der Anspruch widerständiger Form noch einmal radikalisiert ist, um damit die inhaltlich um Zustimmung buhlende und deshalb im Kulturbetrieb schnell vermarktete Meinung als Ideologie zu brandmarken. Damit musste der ›epische‹, in der Inszenierung seiner Thesen geradezu ›essayistische‹ Dramatiker Bertolt Brecht das Feld räumen zugunsten des absurden Theaters von Samuel Beckett, der sich der inhaltlichen Vereinnahmung entschieden entzieht. In solcher ›negativen Ästhetik‹, die sich schließlich gegen ihren eigenen Autor wenden musste, hat sich der um die Meinung gebrachte »Essay als Form« dialektisch selber aufgehoben. Es ist dieser universale Anspruch nur in der Form geübter Gesellschaftskritik, von der sich eine interkulturell begründete Aufwertung des Essays radikal unterscheidet, weil der Anspruch auf Universalität selbst ein kulturell und historisch bedingtes, heute gern ›eurozentrisch‹ genanntes Kulturfaktum ist, das je nach den Bedingungen der Rezipienten immer wieder anders verstanden und – in der Unterrichtspraxis eines Kulturkurses – zur Diskussion gestellt werden muss, damit die Studenten ihre eigenen Ansprüche auf Allgemeingültigkeit ihrer Meinungen kritisch in Frage stellen lernen. Der Essay bietet sich deshalb für den Kulturkurs wegen seiner formal zugänglicher präsentierten Standpunkte an, also gerade wegen der von Adorno unter Ideologieverdacht gestellten Meinungen, die mit anderen entsprechenden Aussagen zum selben Problembereich in Bezug gesetzt und mit kulturbedingten Perspektiven ihrer unterschiedlichen Bewertung abgeglichen werden. Unter dem Aspekt interkultureller Kursanforderungen geht die soziale Entlastung der Form also mit einer kulturkritischen Aufwertung des Inhalts einher. So ergibt sich als vorläufiges Ergebnis dieser interkulturell pragmatischen, im Sinne Heines ganz unsystematischen Überlegungen zur Kanonfrage immerhin eine These, die sich wie folgt zuspitzen lässt: Aus amerikanischer Sicht ist der Essay nicht deshalb als bevorzugte Textsorte aufgewer-

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tet worden, weil er einem zuvor vollzogenen cultural turn am besten entspräche, sondern umgekehrt: Unter dem Aspekt interkultureller German Studies (vgl. Seeba 2003) ist die Bevorzugung des Essays aus den Bedürfnissen der Unterrichtspraxis hervorgegangen und hat deshalb, in seiner kulturkritischen Ausrichtung, den cultural turn erst herbeiführen helfen, als dessen Ergebnis er vielleicht nur in deutscher Sicht erscheint.

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GESPRÄCHSRÄUME

Zwischen den Kulturen? Zwischen den Zeilen? Oder: Vom Umgang mit übersetzten Gedichten A NDREAS F. K ELLETAT

E IN DEUTSCHES G EDICHT In einer 1991 im Zürcher Ammann-Verlag erschienenen Sammlung mit Kindergedichten hat Manfred Peter Hein zwischen Zeitgeschichtliches thematisierenden Gedichten mit Titeln wie Das Holzgewehr, Kinderreim 1942 oder Soldatenhumor auch das Gedicht Revolution 1905 veröffentlicht. Das lautet so: Revolution 1905 1

Pläpp pläpp pläpp, plapperte ich. Iß deinen Brei, sagte Mama. Blei Blei, sagte ich. In Moskau kämpfen sie,

5

sagte Papa. Moksau dämpfen, sagte ich. Wo hat er das denn aufgeschnappt, fragte Papa.

10

Von dir, sagte Mama. Moksau dämpfen

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Moksau dämpfen, plapperte ich. Sei lieb, der Weihnachtsmann kommt, 15

sagte Mama. Weinermann kommt Weinermann kommt, plapperte ich. Ist der denn ganz bei Trost, fragte Papa.

(Hein 1991: 36)

Dass der Text (nach den derzeit für die deutsche Literatur geltenden Konventionen) als Gedicht funktioniert, verdankt er u.a. einzelnen Elementen poetischer Sprachverwendung, die ungleichmäßig über den Gesamttext verteilt sind. Dies wird deutlich, wenn man auf die vier unterschiedlichen Stimmen achtet, die in den 19 Zeilen zu hören sind. Es handelt sich um das lyrische Subjekt bzw. lyrische Ich, das mal als Sprecher und mal als kleiner Junge zu Wort kommt, sowie um Mutter und Vater. Ordnet man die einzelnen Sequenzen diesen vier Stimmen zu, so ergibt sich folgendes Bild: Sprecher

Junge

1

plapperte ich

2

sagte Mama

3

sagte ich

5

sagte Papa

7

sagte ich

9

fragte Papa

10

sagte Mama

13

plapperte ich

15

sagte Mama

17

plapperte ich

19

fragte Papa

1

Pläpp pläpp pläpp

3

Blei Blei

6

Moksau dämpfen

11

Moksau dämpfen

12

Moksau dämpfen

16

Weinermann kommt Weinermann kommt

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Mutter

2

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Iß deinen Brei

10 Von dir 14 Sei lieb, der Weihnachtsmann kommt Vater

4

In Moskau kämpfen sie

8

Wo hat er das denn aufgeschnappt

18 Ist der denn ganz bei Trost

Der Sprecher fungiert demnach wie ein Ansager, er hat das erste und das letzte Wort und teilt regelmäßig mit, wer gerade etwas gesagt bzw. gefragt hat. Seine Kommentare sind äußerst knapp und zurückhaltend. Nur an drei Stellen verknüpft er die Mitteilung, wer gerade gesprochen hat, mit einer Charakterisierung der Art und Weise, wie gesprochen wurde: »plapperte ich«. Es ergibt sich ferner, dass die Identität zwischen dem textinternen Sprecher und dem Kind eine bestimmte Zeitstruktur voraussetzt: Der Sprecher zitiert, was er einmal gesagt hat, als er ein noch sehr kleiner Junge war und was seine Eltern damals geredet haben. Das Gedicht hat eine Jetztdamals-Struktur. Dass es sich bei diesen Zitaten um Fiktion und nicht etwa um reale Erinnerungen handelt, versteht sich (fast) von selbst: Das Kind des Gedichts bewegt sich zwischen der Periode des Lallens (»Pläpp pläpp pläpp«) und der des nachahmenden Sprechens (Vers 3, 6, 11, 12 und 16). Das Kind ist also zwölf oder achtzehn Monate alt und in diese frühe Kindheitsphase reicht unsere Erinnerung nicht hinab. Interessant an den Repliken der Mutter und des Vaters ist u.a., an wen sie sich jeweils richten. Die Mutter wendet sich zweimal mit Aufforderungen an das Kind, einmal beantwortet sie eine Frage ihres Mannes. Von ihm stammt auch der Satz, der den Titel Revolution 1905 verständlicher macht: »In Moskau kämpfen sie« (Vers 4). Während sich in den Äußerungen von Mutter und Vater keinerlei von der Standard- bzw. Alltags- und Umgangssprache abweichender Sprachgebrauch findet, sind die Äußerungen des Kindes mehrheitlich sprachkünstlerisch. Diese in den Text montierten Einheiten aus der Sprache bzw. Sprachkunst der Kinder verleihen dem Gedicht seinen poetischen Reiz. Die Äußerungen des Kindes nutzen vor allem die Techniken des Parallelismus, also der Reduplikation und Variation. Das beginnt mit dem dreifachen »pläpp«, einem kleinen Lallkonzert, und der Wiederholung bzw. Variation von »Brei«. Dass der Verfasser des Textes das Kind dieses Wort als »Blei«

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aussprechen lässt, zeigt seine Vertrautheit mit den Artikulationsschwierigkeiten kleiner Kinder. Die Unterscheidung zwischen den Phonemen /r/ und /l/ wird von Kindern in fast allen Sprachgemeinschaften erst in einem späten Stadium des Lauterwerbs gelernt. Und manche lernen es nie, nicht nur der eine oder andere Chinese, sondern auch jene, von denen Ernst Jandls Klassiker lichtung spricht: »manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!« (Jandl 1980: 135). Mögen das »Pläpp pläpp pläpp« und die Verwandlung von »Brei« in den Reimpartner »Blei« noch nicht besonders originell sein, so muss man die nächste Replik des Kindes (Vers 6) als gehobene sprachkünstlerische Leistung würdigen. »In Moskau kämpfen sie« (Vers 4) zu »Moksau dämpfen« (V. 6) ummodeln zu können, zeugt von erstaunlicher Kreativität des kleinen Kindes. Die Reduplikation bezieht sich dabei auf metrisch-rhythmische Einheiten und auf die Reimstruktur, die Variation auf den Inhalt des Verspaares. Aus der Folge v – v – v v (»in MOSkau KÄMpfen sie«) isoliert das Kind die auffällige trochäische Abfolge – v – v (»MOSkau KÄMpfen«) und wiederholt genau dieses Betonungsmuster. Aber das Kind hat nicht nur die Betonungsfolge nachgebildet, es hat auch die Lautstruktur (O – AU – Ä – E) bewahrt, zu »kämpfen« den Reimpartner »dämpfen« gefunden und das Wort »Moskau« in »Mok-sau« verwandelt. Entstanden ist eine authentisch kindersprachliche Formulierung, die an den agrammatischen Depeschenstil bzw. an Minimal-Sätze aus der Zwei-Wort-Phase des Spracherwerbs erinnert, an Sätze wie »Mama kommen« und dergleichen. Daraus resultiert die Mehrdeutigkeit der Phrase: Wird Moksau gedämpft? Soll Moksau gedämpft werden? Das kindliche Wortspiel bekommt durch das Kompositionsglied »Sau« eine entschieden vulgäre Färbung. Darauf mag die konsternierte Frage des Vaters zielen: »Wo hat er das denn aufgeschnappt«. Doch auch das ist mehrdeutig. Bezieht sich die Frage auf »Sau« oder auf die aus dem ZweiWort-Satz ja auch heraushörbare Aufforderung, dass Moskau gedämpft werden solle? Die leicht schnippische Antwort der Mutter (»Von dir«) spricht meines Erachtens für die erste Möglichkeit. Woraus folgt, dass der Vater auch im Beisein seines Kindes vulgäre Wörter wie »Sau« benutzt haben muss. Solcher Sprachgebrauch dürfte (zumal 1905) eher in einem proletarischen als in einem bürgerlichen Milieu anzutreffen gewesen sein. Die vorweihnachtliche Szene müssen wir uns in einer Arbeiterfamilie spielend vorstellen. Die vierte Äußerung des Kindes ist wiederum ein Lautkunst-

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werk. Aus dem »Weihnachtsmann« wird durch Austausch einer Silbe ein »Weinermann«, was wiederum wie ein authentisches Kinderwort klingt. Der Blick auf die poetischen Techniken des Gedichts Revolution 1905 zeigt, dass diese vor allem auf Adaptionen aus der Lall- und Sprachkunst der Kinder beruhen. Das Gedicht demonstriert auf engstem Raum den »parallelen Erwerb der Sprache und der dichterischen Grundlagen durch das Kind«. Der russische Kindersprachforscher Kornej Čukovskij (1882-1969) behauptete sogar, dass »jeder Reim dem Kind eine besondere Freude macht« und dass »Reimen im Alter von zwei Jahren ein regelmäßiges Stadium unserer sprachlichen Entwicklung ist. Diejenigen Kinder, die solche sprachlichen Übungen nicht durchmachen, sind anormal oder krank« (zitiert nach Jakobson/Waugh 1986: 239). Welche Situation wird im Gedicht evoziert? In der Vorweihnachtszeit sitzt eine Arbeiterfamilie am Küchentisch. Der Vater spricht über das, was in Russland gerade geschieht. Der historische Kontext lässt sich leicht ermitteln: In Moskau begannen am 8. Dezember 1905 gewaltsame Proteste der Arbeiter gegen Nikolaus II. Am 20. Dezember 1905 wurden die Arbeiter von aus der Hauptstadt Sankt Petersburg herangeführten Elitetruppen besiegt. Der erste bewaffnete Kampf um die soziale und politische Neuordnung Russlands war vorbei. Dieses Resultat der revolutionären »Generalprobe« kennt der im Gedicht sprechende Vater noch nicht: »In Moskau kämpfen sie«, sagt er. Und doch weiß das Gedicht bereits um den Ausgang dieses Kampfes. Wie das? Das durch den Vater angesprochene Thema »Revolution 1905« bzw. »Kämpfe in Moskau« wird durch die von dem kleinen Reimfreund gebildeten Wörter »Blei«, »Sau«, »dämpfen« und »Weinermann« auf eindrückliche Weise ergänzt, kommentiert. Es ergibt sich eine auffällige Isotopiekette. Zu ihr gehört das Wort »Blei«, an das sich Konnotationen heften wie »Bleikugel«, »Gewehr«, »schießen« und »kämpfen«. Die Äußerung des Vaters »In Moskau kämpfen sie« wirkt wie durch das »Blei Blei«-Geplapper seines Sohnes erst ausgelöst. Verstärkt wird der Eindruck einer isotopischen Verknüpfung durch Vers 6, in dem zu »kämpfen« der Reimpartner »dämpfen« gesetzt wird. »Dämpfen« hat eine große Bedeutungsvielfalt: Lebensmittel können gedämpft werden, Fisch oder Gemüse. Gedämpft werden auch Kleidungsstücke, Stoffe oder Holz. Schließlich wird »dämpfen« im übertragenen Sinne gebraucht, etwa wenn Schmerzen, Fieber,

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Zorn, Freude oder Erwartungen gedämpft werden. An diese Bedeutung schließen sich Wendungen an wie »einen Dämpfer bekommen« bzw. »jemandem einen Dämpfer verpassen«. Als »veraltend« notieren einzelne Wörterbücher der Gegenwartssprache schließlich »einen Aufruhr, den Aufstand dämpfen (eindämmen)«. Für diesen – im Kontext des Gedichts Revolution 1905 am ehesten Sinn machenden – Gebrauch liefert Wilhelm Grimm im zweiten Band des Deutschen Wörterbuchs (1860: 717-719) unter dem Lemma »dämpfen« reichlich Belege, z.B.: • • • •

den widersacher dämpf und tritt den feind zu grund wolan, wolan mein freund, so musz man denn nur dämpfen / den rauch der bittern zeit seinen feind soll man nicht lassen grosz werden, sondern ihn dämpfen, weil er noch klein ist Pompejus dämpfte den aufstand mit blutiger strenge

Dass der Leser des Gedichts zuerst an diese veraltende Bedeutung von »dämpfen« denkt, liegt an dem vorangegangenen Reimpartner »kämpfen«. Was im Gedicht ähnlich klingt, muss auch auf semantischer Ebene einen Bezug haben. Das gilt auch für das »kämpfen / dämpfen«-Paar, das zudem in Grimms Wörterbuch vielfach belegt ist. Nur zwei Beispiele: • •

mit dir, einem solchen lauser kempfen? / wie wol ich dich gar leicht wolt dempfen umsonst, je hitziger ihr kämpft, / je minder wird sein trotz gedämpft

Hier zeigt sich im winzigen Ausschnitt die historische Tiefe der deutschen Sprache und Literatur. Wörter und Wortverbindungen, sogar einzelne Lautspiele sind in hohem Maße historisch gesättigt bzw. intertextuell konnotiert. Bei einem politischen Gedicht, das mit einer r-l-Vertauschung operiert, stoßen wir – gewollt oder nicht – automatisch auf Jandls »lechts und rinks«Verse, auf den Irrtum über die Richtung, den »illtum« über die »lichtung«. Selbst das derb-vulgäre Wort »Sau« hat im Deutschen eine solche intertextuell-historische Tiefe. Seine Vulgarität hat verhindert, dass es als Schimpfwort in die Schrift- und Literatursprache einging, so dass die seltene Ausnahme dem Leser zeitgenössischer Literatur im Gedächtnis bleiben muss. Ich denke an Paul Celans im Dezember 1967 entstandenes Gedicht DU

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LIEGST im großen Gelausche (Celan 2003: 315f.). Es ist gleich Heins Text ein Vorweihnachtsgedicht und es ist ein Text über ein Revolutionsdatum, über die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs im Januar 1919: »[…] / Der Mann ward zum Sieb, die Frau / mußte schwimmen, die Sau, / für sich, für keinen, für jeden – / […]« heißt es bei Celan. Und er zitiert hier, wie sein Interpret Szondi mitgeteilt hat, aus den Berliner Prozessprotokollen: »[…] einer der Mörder, der Jäger Runge, berichtete, über Rosa Luxemburg habe es geheißen: Die alte Sau schwimmt schon« (Szondi 1972: 119; vgl. Celan 2003: 833). Auch das Wort »Brei« wird rückwirkend in dieses Isotopie-Geflecht eingebunden, man hört beim Wiederlesen bereits »jemanden zu Brei schlagen«. Wie für »kämpfen / dämpfen« gilt auch für die »Brei / Blei«Gleichung Jakobsons Beobachtung, wonach in der Poesie »phonemische Ähnlichkeit als semantische Beziehung empfunden (wird)« (Jakobson 1981: 197). Wenn nach so viel Gewalt zu Weihnachten statt des Gabenbringers ein »Weinermann« kommen wird, ein Mann, der weint oder jemanden zum Weinen bringt, vermag das nicht mehr zu erstaunen. Aus dem Phraseologismus der vorletzten Zeile kann nun sogar das Wort »Trost« isoliert werden und in seiner Standardbedeutung und den aus ihr resultierenden paradigmatischen Beziehungen als Schlusselement der Isotopiekette gelesen werden – als sei ein Wort wie »Trostlosigkeit« das letzte Wort über der Weihnachtszeit im Moskau des Winters 1905. Dort kämpfen sie – die russischen Arbeiter. Aber wie stand es um jene Arbeiter, die nicht in Russland dabei waren? Diese Frage scheint das »sie« am Ende des vierten Verses zu gestatten oder sogar zu provozieren und damit die Frage nach der Sympathielenkung bzw. der Perspektive, aus der im Gedicht über die Erhebung von 1905 gesprochen wird. Stünde in der Zeile eine unpersönliche Wendung wie »In Moskau wird gekämpft« oder »In Moskau kämpft man«, würde das Interesse des Lesers nicht so stark auf den Geschehensträger und den Aspekt der »internationalen Solidarität« gelenkt. Revolution 1905 kann als politische Lyrik bzw. »Geschichtslyrik« (Hinck 1979) gelesen und neben andere Gedichte gerückt werden, die sich auf bedeutende politische und soziale Umwälzungen beziehen und dabei auf eine »sie«-Gruppe weisen, z.B. Klopstocks Sie, und nicht wir von 1790, eine Ode auf die Revolution im Nachbarland Frankreich, »das der Freiheit / Gipfel erstieg, Beispiel strahlte den Völkern umher«. Über Klopstock (1981:

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141) lässt sich die intertextuelle »sie«-Linie weiter zu Bertolt Brechts Wir sind sie-Gedicht aus der Maßnahme von 1931 (Brecht 1988: 234f.) ziehen sowie zu Volker Brauns Gedichtband Wir und nicht sie von 1970, der in vielen Texten über den »Auftritt der Massen« und den »allmählichen Schlag ins Kontor der Geschichte« berichtet. Von hier aus könnten für das Gedicht weitere kulturgeschichtliche Kontextualisierungen vorgenommen werden, etwa indem gefragt würde, wie denn von deutschen Arbeitern im Dezember 1905 der Aufstand im fernen Moskau wahrgenommen wurde und ob die im Gedicht erkennbare Sympathiesteuerung den eruierbaren historischen Fakten entspricht. Dem soll hier nicht weiter nachgefragt werden. Auch muss nicht entschieden werden, ob Revolution 1905 als Kindergedicht geeignet ist (denn Rhabarber Rhababer gilt als Kinderbuch). Ich verweise nur auf eine Antwort Heins, die er im Januar 2014 vor Studenten in Germersheim auf entsprechende Fragen hin gegeben hat: »Kinder wollen überfordert werden!«

E IN FINNISCHER D ICHTER IN DEUTSCHEN Ü BERSETZUNGEN Der von mir (auch auf der Basis intertextueller Bezüge) vorgenommenen Einordnung des Gedichts Revolution 1905 in die Sparte »deutsche Geschichtslyrik« dürfte auf Widerspruch stoßen. Denn über dem Titel des von Hein in Rhabarber Rhabarber veröffentlichten Gedichts steht als Verfassername »Arvo Turtiainen« und unter dem Titel: »Übersetzung aus dem Finnischen«. Die in unserer Kultur verfestigte Norm, wonach der Autor eines fremdsprachigen Gedichts auch als Autor jeder Übersetzung dieses Gedichts anzusehen ist, verhindert in aller Regel, dass ein ins Deutsche gebrachter Text als Faktum der deutschen Literatur ernst genommen und als Gegenstand der germanistischen Literaturwissenschaft behandelt wird. Denn es handelt sich ja »nur« um eine Übersetzung und Übersetzungen haben im von der Germanistik zu bearbeitenden Textensemble nichts zu suchen. Mit derartigen Kuckuckseiern sollen sich jene wissenschaftlich beschäftigen, die auch die Originalsprachen beherrschen. Übersetzte Gedichte taugen nur für jeweils vom Original ausgehende Vergleiche, in denen die Abweichungen vom Original zu ermitteln, zu kommentieren und zu kritisieren sind. Das ist, grob vereinfachend formuliert, unsere gängige philolo-

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gische Praxis. Was im vorliegenden Fall dazu führen dürfte, dass das Interesse an wissenschaftlicher Beschäftigung gen Null tendiert, denn wer kann oder mag sich mit finnischen Gedichten befassen – oder mit ungarischen, lettischen, slowakischen, griechischen, türkischen usw.? Die Germanistik kaum und wohl auch nicht die Komparatistik, die sich in ihrem Mainstream auf die Beschäftigung mit englisch- und romanischsprachigen Literaturen konzentriert (vgl. Kelletat 2013). Dabei ist es im Falle Turtiainen sogar möglich, auf der Basis bereits vorliegender deutschsprachiger Beiträge ein durchaus differenziertes Bild des finnischen Autors zu gewinnen und auch von der Position, die seinen Übersetzern zukommt. Das Wichtigste zur deutschsprachigen TurtiainenRezeption soll knapp angedeutet werden. Die erste Übersetzung eines seiner Gedichte stammt von Erkki Vala (geb. 1902), der ab Ende der 20er Jahre Herausgeber der linksorientierten Helsinkier Literaturzeitschrift Tulenkantajat (Feuerträger) war. Die Forschung kennt ihn als einen der Gesprächspartner Bertolt Brechts in dessen finnischer Exilzeit (vgl. Neureuter 2007: 66-70). In einem dieser Gespräche – Brecht hat es am 15. April 1941 in seinem Journal festgehalten – berichtet ihm Vala von einem jungen finnischen Autor und dessen Gedicht Sotakoira / Kriegshund. Vala diktiert Brecht eine deutsche Rohfassung, die Brecht zum einen bearbeitet (1993: 39f. u. 336) und zum anderen als Vorlage für sein später entstandenes Chronik-Gedicht Kinderkreuzzug benutzt. Das Gedicht stammte von Arvo Turtiainen. Brecht selbst hat er erst 1952 in Berlin kennengelernt, wo Turtiainen am dritten Schriftstellerkongress der DDR teilnahm (Neureuter 2007: 70-73). Damit ist die Spur schon angedeutet, in der ein Kapitel deutschdeutscher Übersetzungsgeschichte zu schreiben wäre: Die Teilung des kulturellen Subsystems Übersetzung in zwei Bereiche, den der DDR und den der BRD. Wobei die linksorientierten finnischen Autoren in der DDR mit Fleiß verlegt wurden, während es die konservativen bzw. bürgerlichen finnischen Autoren in der BRD schwerer hatten – zu sehr hatten sich ihre Wortführer in den 30er und 40er Jahren mit der nationalsozialistischen Literaturpolitik verbandelt – stellvertretend sei auf einen Autor wie V. A. Koskenniemi verwiesen, den finnischen Goethe-Forscher und Dichter, der sich in Weimar von Goebbels zum stellvertretenden Vorsitzenden der Europäischen Schriftstellervereinigung machen ließ. Das sorgte für hohe Präsenz im Kulturleben des Dritten Reiches, aber das so erworbene Prestige

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war nach dem Krieg nicht mehr viel wert. Umgekehrt wurden jene finnischen Autoren, die sich in den Jahren 1941 bis 1944 gegen die »Waffenbrüderschaft« zwischen Finnland und dem Deutschen Reich engagiert hatten und dafür – wie Arvo Turtiainen – ins Gefängnis mussten, nun in der DDR als Verbündete und Freunde im antiimperialistischen Weltkampf begrüßt, besonders wenn es sich um Parteikommunisten wie Turtiainen handelte. 1956 erscheint im Verlag Neues Leben eine von Friedrich Ege besorgte Auswahl mit Gedichten von Elvi Sinervo und Arvo Turtiainen. Der Umschlag des Bandes aus imitierter Birkenrinde kontrastiert mit dem Inhalt der Gedichte: Nicht finnische Natur wurde besungen, sondern – wie der Übersetzer Ege in seinem auf den 1. Mai, den internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, datierten Vorwort schreibt, der »Kampf der Werktätigen gegen die sozialen Mißstände«, ein Kampf, der in Finnland »im Zusammenhang mit den großen sozialen Erschütterungen um das Jahr 1905« eingesetzt habe. Der Vater des 1904 in Helsinki geborenen Arvo Turtiainen, so heißt es in Eges Vorwort, »betätigte sich aktiv in der sozialistischen Bewegung und kämpfte im Bürgerkrieg [1918] auf der Seite der Arbeiterschaft. So erlebte der heranwachsende Sohn schon im Elternhaus die Atmosphäre des Kampfes der finnischen Arbeiterklasse« (Sinervo/Turtiainen 1956: 11). Die beachtliche Präsenz der linken bzw. kommunistischen finnischen Autoren im literarischen Leben der DDR führte analog zu ihrer fast völligen Ignorierung im zweiten deutschen Staat. Zu einem Rezeptionswandel kommt es 1962, als der 1931 in Ostpreußen geborene und seit 1958 in Finnland lebende westdeutsche Lyriker Manfred Peter Hein eine Anthologie mit dem Titel Moderne finnische Lyrik bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen veröffentlicht. Seine Übersetzungen werden in dieser Sammlung nicht nach den Dichotomien des Kalten Krieges präsentiert, sondern unter der Perspektive ihrer ästhetischen Qualität, ihrer Anschlussfähigkeit an das, was in den 50er Jahren schrittweise als internationale moderne Poesie in der ehemaligen Bundesrepublik ins Gespräch gebracht wurde. Nicht Bertolt Brecht ist der Gewährsmann der Hein’schen Poetik, sondern es sind Gottfried Benn, insbesondere dessen Marburger Vortrag über Probleme der Lyrik von 1951, Hugo Friedrichs epochemachende Studie über Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart (ein Rowohlt-Taschenbuch, das 1956 in einer Startauflage von 40.000 Exemplaren erschien und bis 1962 bereits mehr als 80.000 mal verkauft wurde) sowie das von Hans Magnus Enzensberger 1960 bei Suhrkamp her-

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ausgegebene Museum der modernen Poesie. Unter diesem Blickwinkel der europäischen Maßstäbe einer literarischen Moderne sichtet Hein ab 1958 die finnische Lyrik und positioniert Turtiainen in seiner Anthologie von 1962 in genau diesem Kontext, ohne freilich dessen Herkommen aus der Tradition der finnischen Arbeiterdichtung zu unterschlagen. Der Unterschied zum Übersetzer Friedrich Ege ist, dass Hein Turtiainens Texte nicht aus primär politischen Gründen interessieren, sondern aus Gründen ihrer ihn überzeugenden ästhetischen Potenz. Dass Heins Turtiainen-Übersetzungen auch von anderen literarischen Institutionen als Repräsentationen des modernen Gedichts (im Sinne Hugo Friedrichs bzw. Hans Magnus Enzensbergers) akzeptiert werden, lässt sich z.B. an der damals führenden westdeutschen Literaturzeitschrift Akzente erkennen, die im dritten Heft des Jahrgangs 1970 Heins Turtiainen-Versionen veröffentlicht – neben Übersetzungen von Gedichten Anne Beresfords (aus dem Englischen von Ernst Jandl), Nazim Hikmets, Giuseppe Ungarettis und Lars Gustafssons. Dass in diesem Akzente-Heft auch noch Walter Hincks Essay über Jürgen Becker und ein Aufsatz über Pound, Joyce und Flaubert erschien, macht das literarische Umfeld, in dem 1970 der finnische Autor präsentiert und rezipiert wurde, noch deutlicher. Auf die weiteren Veröffentlichungen deutscher Turtiainen-Übersetzungen soll hier nicht detailliert eingegangen werden, hervorheben will ich nur zwei: Erstens das 1986 von Hans Peter Neureuter zusammengestellte Dossier zu Brechts aus dem Finnischen gespeisten Lyrik-Neuschreibungen. Zweitens die dem »Andenken Arvo Turtiainens (1904-1980)« gewidmete Ausgabe des fennistischen Jahrbuchs Trajekt von 1982, das neben einer umfangreichen Gedicht-Auswahl auch einen Essay von Vesa Karonen über Turtiainens Leben und Werk enthält. Mit Blick auf das Gedicht Revolution 1905 sind Karonens Hinweise auf Turtiainens »thematische Linie« aufschlussreich, auf das »zeitbewusst Biographische« seiner Lyrik, auf das »erinnernde Bewusstsein«, das den »Blick frei(gibt) für die Vergegenwärtigung der Kindheits- und Jugendlandschaft mit ihren Behausungen, Straßen und Hafenkais im [Helsinkier] Arbeiterkiez zur Zeit der zaristischen Herrschaft und der Umbruchzeit des Bürgerkriegsjahrs 1918. In Rollengedichten leben authentisch nicht nur die Einzelschicksale eines versunkenen Milieus, sondern auch dessen Sprache […]« (Karonen 1982: 61f.).

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Sind die auf Deutsch erschienenen Beiträge zu Turtiainen Fakten der finnischen oder der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte? Welchem kulturellen Subsystem sind sie zuzuordnen? Wenn man sie als Fakten des deutschsprachigen literarischen Lebens ansieht, sollten sie als solche erforscht werden – auch von den Experten für Deutsch und Deutsches, von Germanisten also (vgl. Kelletat 2013). Ein weiterer Punkt soll in diesem Zusammenhang kurz angesprochen werden, die Frage nach der Qualität von Gedicht-Übersetzungen. Auch diese gehört m.E. primär in die Zuständigkeit von mit der Zielkultur vertrauten Fachleuten. Aber wie ist es um unsere Urteilskraft bestellt? Als Test könnte das unter Turtiainens Namen in zwei Varianten veröffentlichte Gedicht Als ich vierzehn war dienen. Hätten wir als Redakteure etwa der Zeitschrift Akzente oder als Herausgeber einer Anthologie europäischer Lyrik zu bestimmen, welcher der beiden Fassungen der Vorzug zu geben ist, welche also dort gedruckt werden soll und welche nicht: Wie würden wir entscheiden? Und wie könnten wir unsere Wahl – etwa gegenüber den beiden Übersetzern – begründen? Ohne Blick auf das Original, denn das Finnische beherrschen wir in diesem fiktiven Qualitätstest nicht: (Version A) Als ich vierzehn war röchelte durch den Kopf geschossen ein Rotgardist einen Nachmittag, eine Nacht lang und noch einen halben Tag unter unserem Fenster in der Hohenbergstraße. Er wußte nichts von dieser Welt nicht einmal, daß Helsinki schon vor einem Tag erobert wurde. Als er schließlich starb nahm mein Vater seine Habseligkeiten in Verwahrung: den Geldbeutel, zwölf Mark in Münzen, eine Uhr, an der Kette eine Medaille, auf der zu lesen stand: III. Preis, Jyrys nationale Ringwettkämpfe. Eine Frau kam im Sommer Um die Habseligkeiten zu holen, sie sagte:

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Paavo war ein guter Mann. (Version B) Als ich vierzehn war – röchelte, lag mit Kopfschuß, der Rotgardist den Nachmittag, die Nacht, den halben Tag noch unter unserm Fenster in der Högbergstraße. Schon hinüber, wußte nicht mal daß Helsinki, seit einem Tag schon, gefallen war. Als er starb nahm mein Vater sich seiner Sachen an: sein Portemonnaie, 20 Mark Inhalt, seine Uhr, an der Kette auf einem Stück Blech eingraviert: III. Preis, Donar Regionaler Ringwettkampf. Im Sommer kam die Frau seine Sachen holen, sie sagte: Er war ein guter Kerl, der Paavo.

L EICHT P ARODISTISCHES ZUM Ü BERSETZUNGSVERGLEICH

TRADITIONELLEN

In der nach wie vor dominierenden Form der Analyse und Bewertung unterschiedlicher Übersetzungsversionen wird vor allem ins Original geschaut und verglichen. Dadurch lässt sich z.B. feststellen, dass in Version B das finnische Zahlwort »kaksitoista« mit »20« statt »12« wiedergegeben wurde, ein Übersetzungsfehler mithin. Dass in der ersten Fassung von »einem« Rotgardisten, von »einem Nachmittag«, »einer Nacht« »einem halben Tag« und »einer Frau« gesprochen wird, in der zweiten hingegen konsequent bestimmte Artikel benutzt werden, würde in einem auf die Textoberfläche ausgerichteten Übersetzungsvergleich mit typologischen Besonderheiten erklärt: Das Finnische ist eine artikellose Sprache, der Übersetzer hat hier gewissermaßen freie Hand. Beide Varianten sind, von der Ausgangssprache

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her gesehen, vertretbar. Der kontrastiv arbeitenden Linguist kann das als weiteren Beleg für Jakobsons Feststellung verbuchen, wonach sich Sprachen weniger durch das unterscheiden, was sie jeweils ausdrücken können als durch das, was sie jeweils ausdrücken müssen. Die »Hohenbergstraße« der Version A kann als Glied-für-Glied-Übersetzung des Straßennamens »Korkea+vuoren+katu« erklärt werden, die »Högbergstraße« der Version B nutzt den für deutsche Leser leichter auszusprechenden schwedischen Namen dieser Straße. Ob die Information, dass Finnland ein zweisprachiges Land ist und dass in Helsinki bzw. Helsingfors seit eh alle Straßenschilder zweisprachig sind und dass ausländische Gäste der Stadt sich i.d.R. an den schwedischsprachigen Bezeichnungen orientieren, den Rahmen eines linguistischen finnisch-deutschen Übersetzungsvergleichs bereits sprengt, bleibe dahingestellt. Der »III. Preis« in »Jyrys nationalen Ringwettkämpfen« folgt einschließlich der Pluralform den vom Original ausgehenden Instruktionen. Der finnische Text spricht von »kansalliset painikisat«. Die im westdeutschen Sprachgebrauch der 60er und 70er Jahre zu beobachtende Scheu vor der Verwendung des Wortes »national« (»kansallinen«) hatte in Finnland keine Parallele. Genau diese Scheu vor national-»völkischem« Vokabular und den dadurch evozierten Konnotationen dürfte den Verfasser der Version B dazu gebracht haben, statt von Nationalem von einem »Regionalen Ringwettkampf« zu sprechen. Mit »Donar« hat er – analog zur »Högbergstraße« – erneut einen schwedischen Namen für den Sportverein gewählt, die Konnotationen könnten bei einem deutschen Leser Richtung Donner, Gewitter, Kraft usw. gehen. Was einem Deutschen zu dem Wort »Jyry« einfallen mag, kann ich nicht sagen. In finnischen Ohren klingt das Wort nach Lärm und Krachen, nach Poltern und Donnern. Kritisieren lässt sich nicht nur aus kontrastiver Sicht, dass Version A davon berichtet, dass einer, dem durch den Kopf geschossen worden ist, noch röcheln kann – hier hilft als Ausrede auch nicht eine angebliche Nähe zum Original, das lediglich von »päähän ammuttu« spricht – von »in den Kopf geschossen«, nicht durch ihn hindurch, das wäre im Finnischen »ammuttu pään läpi«. Version A berichtet davon, dass Helsinki »erobert« worden sei, Version B hingegen davon, dass die Stadt »gefallen« sei. Das finnische Original (»Helsinki oli valloitettu«) entspricht eher Version A. Wie bei der 12- bzw. 20-Mark-Variation dürfte es allerdings auch hier müßig sein, eine unzu-

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reichende fremdsprachliche Kompetenz des Übersetzers zu vermuten. Der Verfasser der Version B ist offenkundig bewusst von den linguistisch beschreibbaren Instruktionen des Originals abgewichen. Es dürfte ihm u.a. darum gegangen sein, dass für das »Ich« dieses Gedichts wie für seinen Autor Arvo Turtiainen die Stadt Helsinki im Frühjahr 1918 »gefallen« war. Man war fürchterlich besiegt worden in diesem Jahr, als Turtiainen 14 Jahre alt wurde, wie dreizehn Jahre zuvor, in den Weihnachtstagen des Jahres 1905, als die Arbeiter in Moskau ihre Niederlage erlitten hatten. Der Nachweis möglichst exakter Wiedergabe der im Original vorhandenen lexikalischen Einheiten kann – das soll dieser knappe Blick gezeigt haben – zur Frage nach der Gesamtqualität der beiden Übersetzungen kaum beitragen. Aber auch die Frage nach dem Skopos als »oberster Entscheidungsinstanz« für eine Bewertung der beiden Fassungen scheint mir nicht recht weiter zu helfen, denn worin sollte der Unterschied in diesem Skopos liegen? Nicht einmal unterschiedliche Übersetzungsstrategien lassen sich erkennen, lediglich eine unterschiedlich ausgeprägte kreativ-poetische Potenz. Dass die Translationswissenschaft auf ästhetisch begründete Bewertungen von Übersetzungsleistungen meist verzichtet und sich auf eine vermeintlich neutrale Deskription beschränkt, halte ich für ein gravierendes Defizit. Denn so verbaut sich diese Wissenschaft u.a. die Chance, auch von praktizierenden Literaturübersetzern ernster genommen zu werden als dies bisher geschieht.

E IN FINNISCHES G EDICHT Ergiebiger als ein Wort-für-Wort-Abgleich zwischen Original und Übersetzung(en) kann m.E. eine Beschäftigung mit der jeweiligen fremdsprachigen Vorlage sein, wenn es darum geht herauszufinden, welche in der Übersetzung dominanten poetischen Verfahren, welche Überstrukturierungen, durch das Original initiiert worden sind. Dies soll erneut an Turtianens Gedicht über das Jahr 1905 gezeigt werden. Bereits vor der Aufnahme in sein Kinderbuch Rhabarber Rhabarber hat Hein eine Version des TurtiainenGedichts im Jahrbuch Trajekt (Turtiainen 1982: 69) veröffentlicht, in einem Zyklus mit insgesamt 17 zeitgeschichtlich-biographischen TurtiainenGedichten. Die beiden Hein-Texte auf das Jahr 1905 unterscheiden sich

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durch die Wahl des Titels (in der Trajekt-Fassung von 1982 lautet er statt Revolution 1905 nur 1905) und die Interpunktion, auf die in der früheren Version konsequent verzichtet wurde. Die Kinderbuch-Fassung ist also leserfreundlicher, kindgerechter, könnte man auch sagen. Das finnische Original, erschienen erstmals 1967 in dem Zyklus Kun olin pieni (Als ich klein war), lautet (Turtiainen 1976: 287): (1905) 1

sanoin pläp pläp pläp Syö puuroa sanoi äiti puuloa puuloa sanoin minä Moskovassa taistellaan

5

sanoi isä moskopaska haistamaan sanoin minä Mistä se on tuollaista oppinut sanoi isä

10

Sinulta sanoi äiti moskopaska haistamaan moskopaska haistamaan pölisin minä Ole kiltti, pukki tulee

15

sanoi äiti tukki pulee tukki pulee pölisin minä Onkohan se oikein viisas sanoi isä

Die für Heins deutschen Text aufgezeigten Verfahren des phonemischen, metrischen und grammatischen Parallelismus sind durch das finnische Gedicht vorgegeben, ebenso der vorherrschende Gebrauch kindersprachlicher Reimtechniken. Aus dem Wort »puuroa« (Vers 2) wird durch die /r/-/l/Verwechslung das Wort »puuloa« und aus »pukki tulee« (»Weihnachtsmann kommt«, Vers 14) durch Vertauschen der anlautenden Konsonanten »tukki pulee«. Bleiben diese lautlichen Variationen im Original fast genau-

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so semantisch unbestimmbar wie das eröffnende Pläp-pläp-pläpLallkonzert, so ist die Umwandlung von »Moskovassa taistellaan« in »moskopaska haistamaan« (Vers 4, 6, 11 und 12) ein neben der phonemischen und metrischen Ebene auch die Semantik einbeziehender Parallelismus. In Zeile 4 spricht der Vater von den Kämpfen in Moskau, in Zeile 6 spricht das Kind von so etwas wie »Moskauer Scheiße«. Besonders gelungen ist die Variation von MOSKOVA+ssa durch MOSKO+PASKA, denn der Austausch von v durch p spielt in der Morphologie des Finnischen eine zentrale Rolle. Mit den Phonemen /p/ und /v/ werden Allomorphe gebildet, es handelt sich um den sog. Stufenwechsel, z.B. TUPA (Nominativ des Wortes Stube) versus TUVAN (Genitiv; vgl. sprachgeschichtlich Formen wie pater – vater). Dem Kind ist jedoch nicht nur auf der Ausdrucksseite eine raffinierte Konstruktion gelungen, es hat auch inhaltlich Verblüffendes fabriziert, wie ein Blick auf die Morphologie zeigt: 4

MOSKOVA+ssa TAISTEL+laan

in MOSKAU wird geKÄMPFt

6

MOSKO+PASKA HAISTA+maan MOSKO+SCHEISSE RIECHen gehen

Dem Vers 6 liegt das finnische Verbphrasem »haista paska« (wörtlich etwa: »Schnupper an der Scheiße«; vgl. deutsch: »Leck mich am Arsch«) zugrunde, eine deftige Wendung, mit der man jemanden definitiv auffordert, den Mund zu halten oder zu verschwinden. Dieses Verbphrasem, das das Finnische nur im Imperativ benutzt, wird in Zeile 6 in den Illativ des Infinitiv III überführt, so dass man Morphem für Morphem etwa übersetzen könnte: »Moskoscheiße riechen gehen«. Entsprechend konsterniert reagiert der Vater: »Mistä se on tuollaista oppinut« (V.8; »Wo hat der so etwas gelernt«). »Von dir«, antwortet die Mutter, woraus geschlossen werden darf, dass der Vater auch zu Hause in Gegenwart seines Kindes die Wendung »haista paska« benutzt. Dass solch derber Sprachgebrauch vor allem im proletarischen Milieu Finnlands keine Ausnahmeerscheinung ist, dass die vorweihnachtliche Szene des Gedichts »(1905)« in einer Arbeiterfamilie spielen muss, ist damit deutlich.

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D AS SEMANTISCHE M EHR DER DEUTSCHEN Ü BERSETZUNG Für die Frage, welche weiteren Anregungen Hein für seinen deutschen Text über das Jahr 1905 durch seine Beschäftigung mit Turtiainens Gedicht erhalten hat und wie seine translatorische Poetik zu charakterisieren ist, mag auch die Erstellung einer Interlinearversion hilfreich sein. (1905) 1

(1905)

sanoin pläp pläp pläp

1

Syö puuroa sanoi äiti

5

ich sagte pläpp pläpp pläpp Iss (von dem) Brei sagte (die) Mutter

puuloa puuloa sanoin minä

B?ei B?ei sagte ich

Moskovassa taistellaan

In Moskau wird gekämpft

sanoi isä

5

sagte (der) Vater

moskopaska haistamaan

Mosko+Scheiße riechen gehen

sanoin minä

sagte ich

Mistä se on tuollaista oppinut

Wo hat das (ugs.) so etwas gelernt?

sanoi isä

sagte (der) Vater

10 Sinulta sanoi äiti

10 Von dir sagte (die) Mutter

moskopaska haistamaan

Mosko+Scheiße riechen gehen

moskopaska haistamaan

Mosko+Scheiße riechen gehen

pölisin minä

brabbelte ich

Ole kiltti, pukki tulee

Sei artig, der Weihnachtsmann kommt

15 sanoi äiti

15

sagte (die) Mutter

tukki pulee tukki pulee

Baumstamm + (bedeutungsloses) VERB (2x)

pölisin minä

brabbelte ich

Onkohan se oikein viisas

Hat das (ugs.) noch alle Tassen im Schrank

sanoi isä

sagte (der) Vater

Eine solche Interlinearversion hat primär eine heuristische Funktion: Aus dem Vergleich zwischen ihr und dem Hein/Turtiainen-Gedicht lassen sich jene Alternativen erkennen, zwischen denen der Übersetzer wählen konnte bzw. musste. Vers 1

Warum hat der Übersetzer die Wortfolge geändert?

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Warum hat er »sanoin« (»ich sagte«) mit »plapperte ich« übersetzt? Was bedeutet diese Änderung für den Gesamttext, z.B. für seine Lautstruktur, für seine rhythmische Struktur? Gefragt wird also nach Funktion und Wirkung.

Vers 2

Warum hat der Übersetzer »deinen Brei« geschrieben? Warum hat der Übersetzer für »äiti« »Mama« statt »Mutter« gewählt?

Vers 2/3

Welche Lösung hat er für den »puuloa / puuroa«-Reim gefunden? Wie ist seine Lösung zu bewerten?

Vers 4

Warum wird statt der unpersönlichen Passiv-Form »In Moskau wird gekämpft« die Formulierung »In Moskau kämpfen sie« gewählt? Welche Konsequenzen hat diese Fokussierung auf den Geschehensträger? Was bedeutet die Entscheidung für die Sympathiesteuerung im Text? Wie verhält sich diese Perspektivierung zur Intention des Autors Turtiainen?

Vers 18

Der Übersetzer macht aus dem Kind des Gedichts einen Jungen, im finnischen Original ist das Geschlecht des Kindes nicht auszumachen, es könnte sich auch um ein Mädchen handeln. Wie ist die Entscheidung für den Jungen zu begründen, zu bewerten?

Heins Text unterscheidet sich in einem Punkt besonders markant von der finnischen Vorlage bzw. der Interlinearversion. Während die kindersprachlichen Äußerungen in Turtiainens Gedicht vorwiegend sinnloses Geplapper bleiben – mit Ausnahme der zentralen »moskopaska«-Zeile! – gewinnt Heins Text über die Wörter »Blei«, »Sau«, »dämpfen« und »Weinermann« eine im Original so nicht vorhandene zusätzliche Struktur: Die Übersetzung ist »überstrukturierter« als die finnische Vorlage, sie enthält eine weitere Isotopiekette, ein semantisches Mehr. Dieses durch weitere Konnotationen entstandene semantische Mehr des deutschen Textes ist im finnischen Original allerdings angelegt, in seinem für das Verständnis des Gesamttextes zentralen antithetischen Parallelismus der Verse 4 und 6: »Moskovassa taistellaan / Moskopaska haistamaan«. Aber in den Versen 2/3 und 14/16 beschränkt Turtiainen den Parallelismus der Paare »puuroa / puuloa« bzw. »pukki tulee / tukki pulee« auf die phonemische, metrische und grammatische Ebene, während der Parallelismus in der deutschen Version auch auf

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die lexikalisch-semantische Ebene ausgeweitet wird. Heins Übersetzungsstrategie lässt sich veranschaulichen, indem man die Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen im Original und im deutschen Text nebeneinander hält: A

phonemischer Parallelismus

B

metrischer Parallelismus

C

grammatischer Parallelismus

D

semantischer Parallelismus

E

semantische Verknüpfung von I, II und III (Isotopie)

I

puuroa

ABC––

Brei [zu Brei schlagen]

ABCDE

puuloa

ABC––

Blei [schießen]

ABCDE

Turtiainen

II

III

Hein

AB–D–

Moskau kämpfen

ABCDE

Moskopaska haistamaan A B – D –

Moskovassa taistellaan

Moksau dämpfen

ABCDE

pukki tulee

ABC––

Weihnachtsmann kommt A B C D –

tukki pulee

ABC––

Weinermann kommt

ABCDE

Es handelt sich somit bei dieser Übersetzung um eine kreative und konsequente Ausweitung von im Original bereits vorhandenen Strukturen. Naheliegend ist dann die Frage, ob die Übersetzung »besser« sei als der finnische »Urtext«. Akzeptiert man als tertium comparationis Jan Mukařovskýs These, dass »der Wert des Werks als Ganzes sich danach bestimmt, in welchem Maße das strukturelle Prinzip, auf dem das Werk gründet, im Werk realisiert wird« (Mukařovský 1986: 113), so muss man den ästhetischen Wert des deutschen Gedichts höher veranschlagen als den seiner finnischen Vorlage. Die aus Kontrast- und Ähnlichkeitsbeziehungen konstruierten drei Parallelismen erstrecken sich im Original auf je drei Ebenen, in der Übersetzung indes auf insgesamt fünf. Die literarische Werke konstituierende Überstrukturierung wird im deutschen Text überboten. Beide Gedichte spielen mit dem Übergang vom Plappern und Lallen zur Wort- und Sprachgewinnung. Beide zeigen, dass mit Sprache immer auch Welt gewonnen wird, Anteil an ihr. Dabei signalisiert das semantische Mehr der Übersetzung sowie der Aufbau einer weiteren Isotopie-Kette (die Buchstabenkolonnen D und E) dem deutschen Leser, was für eine Welt mit

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der Sprache gewonnen wird. Bei genauem Lesen und wiederholtem Abhorchen der Verse mag ein des Deutschen kundiger Leser ahnen, wie jene Welt beschaffen sein wird, in die ein Helsinkier Arbeiterkind im Dezember 1905 hineinwuchs. Da reimte sich auf »Brei« nur »Blei«, da sorgte sich der Vater um seine in Moskau kämpfenden Genossen, da stand statt des Weihnachtsmanns ein »Weinermann« vor der Tür.

W AS

VERLOREN GEHT

Übersetzungsvergleiche sind oft auf das fixiert, was in einer Übersetzung verloren geht – und das wird dann an sprachlichen und / oder formalen Besonderheiten demonstriert, an bestimmten vermeintlich »unübersetzbaren« Textpassagen. Eher weniger beachtet wird das, was sich an »Verlusten« durch die mehr oder minder große Verschiebung des kulturellen Kontextes ergibt. So dürfte es einiger Anstrengung bedürfen, für ein kulturspezifisches Phänomen wie den Weihnachtsmann eine Entsprechung zu finden, wenn Turtiainens Gedicht – oder auch Heins deutsche Fassung – ins Arabische oder Chinesische zu übersetzen wäre. Hier lässt sich vielleicht noch mit einem Surrogat arbeiten. Aber kaum lässt sich im Zuge einer Übersetzung der spezifische finnische Kontext des Turtiainen-Gedichts vermitteln. Was ist damit gemeint? Finnland gehörte 1905 noch zum russischen Imperium. Der russische Zar war zugleich Herrscher über das Großfürstentum Finnland. Für einen finnischen Leser dürfte sich mit dem Jahr 1905 eine bestimmte historische Erinnerung verbinden. Jedes finnische Schulkind lernt etwas über den »suurlakko« des Jahres 1905, den ersten Generalstreik, der durch die Unruhen in Russland ausgelöst wurde und vom 30. Oktober bis zum 5. November dauerte. Der Streik fiel in die Zeit der (eher vom Bürgertum getragenen) Proteste gegen die Russifizierungspolitik Nikolaus II. und in die Zeit des rapiden Anwachsens der sozialistischen Arbeiterbewegung. Das finnische Bürgertum erreichte damals seine Ziele (eine Wahlrechtsreform z.B., die auch den Frauen das Wahlrecht einräumte, als ersten in ganz Europa), die Arbeiter in Helsinki aber konnten ihre Forderungen nicht durchsetzen. Und was 1905 in kleinerem Rahmen scheiterte, mündete 1918 in den finnischen Bürgerkrieg, nach dessen Ende in Konzentrationslagern jene Sozialisten umkamen, die im Herbst 1905 die Streiks organisiert und zu Weih-

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nachten 1905 voll Hoffnung auf ihre Genossen in Moskau geschaut hatten (vgl. Hoesch 2009: 107-116). Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund dürfte das Original in Finnland seine Wirkung entfalten. Das lässt sich in keiner auf den einzelnen Text beschränkten Übersetzung reproduzieren, allenfalls in einem der Übersetzung beizugebenden Begleittext. Noch vertrackter steht es um die Wendung »moskopaska haistamaan« (»Mosko+Scheiße schnuppern gehen«). Turtiainen war seit seiner Jugend Bewunderer der russischen Arbeiterbewegung. Seine Sympathien galten der Sowjetunion. Er übersetzte Majakovskij und wurde wegen seiner kommunistischen Haltung 1941 bis 1944 ins Gefängnis gesteckt. Dass er in dem 1967 veröffentlichten Gedicht auf das Jahr 1905 von »moskopaska« spricht, zeigt, wie skeptisch er inzwischen vieles sah, was sich in Moskau und der Sowjetunion entwickelt hatte. Auch diesen sich aus der Biographie Turtiainens ergebenden Kontext kann eine isoliert erscheinende Übersetzung des einzelnen Gedichts nicht vermitteln – wieder ist ein erklärender Begleittext erforderlich. Und es sind solche Begleittexte, die als feste Bestandteile translatorischen Handelns mit in den Blick genommen werden müssen. Für Turtiainen lassen sich die genannten Kontexte sogar in deutscher Sprache erschließen, denn zu Heins Translationsstrategie gehörte es stets, den von ihm übersetzten literarischen Werken den entsprechenden Kontext erhellende Essays beizugeben. Das entspricht dem Diktum Goethes: »Wer den Dichter will verstehen, muss in Dichters Lande gehen« – ein Weg, der mitunter leichter zu beschreiten sein dürfte als jener andere, von dem Goethe ebenfalls sprach: »Wer das Dichten will verstehen, muss ins Land der Dichtung gehen«. Ohne gründlichere Beschäftigung mit Fragen der Poetik scheint mir die wissenschaftliche Beschäftigung mit literarischen Übersetzungen nicht sonderlich vielversprechend.

H EINS

TRANSLATORISCHE

P OETIK

Heins Übersetzungspoetik lässt sich am vorgeführten Beispiel wie folgt charakterisieren: Der ausgangssprachliche Text wird von ihm in Bild- und Handlungssequenzen überführt, die er anschließend (quasi intersemiotisch) ins Deutsche überträgt. Die vor dem inneren Auge ganz konkret evozierte Situation (Vater, Mutter und Kind sitzen in der Vorweihnachtszeit zusam-

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men, der Vater spricht über Politik usw.) wird möglichst stimmig beschrieben. Als Norm für diese Stimmigkeit dienen nicht die Regeln der deutschen Standardsprache bzw. Alltagskommunikation, sondern die des literarischen Textes. Dies lässt sich z.B. auch an der auf den ersten Blick ganz unscheinbaren Entscheidung ablesen, die finnischen Wörter »äiti« und »isä« nicht durch ihre »neutralen« Wörterbuch-Äquivalente »Mutter« bzw. »Vater« wiederzugeben, sondern durch »Mama« und »Papa«. In der Alltagskommunikation würden wir uns wundern, wenn uns ein älterer Mann berichtete, was seine »Mama« dann und dann getan hat. Die Koseform wird im familiären Kreis benutzt. Doch der »Adressat« seines lyrischen Ich ist offenkundig nicht der Leser, ihn haben wir uns – in Heins Poetik zumindest – allenfalls als Zuhörer eines Selbstgesprächs dieses lyrischen Subjekts vorzustellen. Auch an dieser Stelle zeigt die Übersetzung ihre Orientierung an der Poetik der Moderne, der deutsche Text ist »autonomer« als die finnische Vorlage. Durchaus streng beachtet werden von Hein die innovativen sprachkünstlerisch-formalen Besonderheiten des finnischen Gedichts. Sie scheinen für ihn als eine Art Wegweiser zur Intention des Textes zu funktionieren, die ihm im Zweifelsfall mehr gilt als das konkret vom Originalautor im Blick auf diese Intention Ausformulierte. Dass etwas im sog. »Urtext« so und so und nicht anders stehe, ist für Hein niemals eine hinnehmbare Begründung für etwas, das nach seinen eigenen ästhetischen Maßstäben nicht in einem zeitgenössischen in deutscher Sprache geschriebenen Gedicht zu stehen hat. Wie die Abwägung darüber, was als derzeit akzeptabel bzw. als inakzeptabel zu gelten hat, im Einzelnen erfolgt ist – das zu erforschen und zu beschreiben ist auch die Aufgabe des mit seinem Werk sich beschäftigenden Translationswissenschaftlers. Nicht zeitlos gültige Normen für die Technik bzw. Kunst des Literaturübersetzens sind dabei aufzustellen, sondern es ist die Geprägtheit dieser Normen durch das jeweilige kulturelle bzw. literarische Umfeld zu analysieren. Für viele herausragende zeitgenössische Lyrik-Übersetzer ist dieses literarische Umfeld als »tragendes Element« primär dadurch wirksam, dass es der Übersetzung dort ins Wort redet, »wo diese im sprachlich Verbrauchten sich bewegt«. So hat es Manfred Peter Hein im Mai 2001 in einem translationspoetologischen Vortrag vor Studenten in Germersheim formuliert und dabei den »Übersetzungsprozess definiert als interkulturelle Überführung aus weniger vertrautem in vertrauten Kontext« (Hein 2006: 107).

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N ACHBEMERKUNG Mit Heins Übersetzung des Turtiainen-Gedichts habe ich mich erstmals in einer 1988 in Finnland erschienenen Publikation intensiver beschäftigt. Damals hatte ich das traditionell philologische Vorgehen gewählt, also zuerst den finnischen Ausgangstext nach allen Regeln der Kunst analysiert und anschließend die deutsche Übersetzung daraufhin überprüft, in welchem Maße sie den Instruktionen des Originals treu gefolgt war. Jetzt wollte ich ein Vorgehen erproben, das in einem ersten Schritt nur den übersetzten Text vorstellt, wobei gar nicht »verraten« wurde, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Das geschah auch, um den Leser dazu zu bringen, das Gedicht Revolution 1905 zunächst einmal als Faktum der deutschen Literatur zu verstehen. Ob und in welchem Umfang sich diese Methode auf andere Gattungen bzw. Textsorten (Romane, Theaterstücke, Kinderbücher usw.) anwenden lässt, bleibt offen – wie auch die Frage, ob sich bei solch zielkulturorientiertem Verfahren unsere traditionellen Vorstellungen von Original und Autorschaft nicht ein wenig ändern müssten.

L ITERATUR Benn, Gottfried (1951): Probleme der Lyrik. In: Ders. (1982): Das Hauptwerk. Hg. von Marguerite Schlüter. Bd. 2. Wiesbaden / München, S. 317-355. Braun, Volker (1970): Wir und nicht sie. Gedichte. Halle / Leipzig. Brecht, Bertolt (1988): Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 11. Gedichte 1. Sammlungen 1918-1938. Bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf. Berlin / Weimar. Brecht, Bertolt (1993): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 5. Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 19401956. Bearbeitet von Jan Knopf und Brigitte Bergheim. Berlin / Weimar. Deutsches Wörterbuch (1860). Von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 2: Biermörder – D. Leipzig. Celan, Paul (2003): Die Gedichte. Kommentierte Ausgabe in einem Band. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.

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Vom Paradox fremdsprachlicher Kommunikation zur Potentialität mehrsprachiger Räume A NDREA B OGNER

Der vorliegende Beitrag will uns nun an die (fremden) Tische bringen und die Tischgespräche nicht im Sinne einer gattungstheoretischen Analyse1 untersuchen, sondern nach den besonderen Bedingungen fragen, die diese Gespräche erst ermöglichen. Der Optimismus, der in der Wegbeschreibung, die der Vortragstitel beinhaltet, zum Ausdruck kommt, indem er Ausgangspunkte und Zielvorstellungen in den Blick nimmt, erscheint mir der Gattung ›Beitrag zu einer Festschrift‹ angemessen. Offen bleibt – ob des unterschlagenen explikativen Untertitels – von wem dieser Weg zurückzulegen ist. Wer sind die an der Entwicklung Beteiligten und für welches Handlungsfeld sollen die Überlegungen geltend gemacht werden? Im Sinne einer ersten Annäherung sollen drei mögliche Handlungs- und Anwendungsfelder aufgerufen und daran Konkretisationen dieses Wegs skizziert werden: •

1

die Analyse von Kommunikation in kulturellen Überschneidungssituationen, Untersuchungen zum (familiären) Tischgespräch liegen beispielsweise mit der Publikation von Angela Keppler (1994) vor, die am Beispiel der Konversation in Familien Tischgespräche als Formen kommunikativer Vergemeinschaftung analysiert.

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• •

die Anlage von Vermittlungshandeln und schließlich die Bestimmung der Sprachlichkeit von Interkulturalität und damit die Konturierung einer Linguistik interkultureller Germanistik.

Als eine »sich immer neu reproduzierende Gefährdung ihrer selbst als Verfahren«, das »der Bearbeitung durch die an der Kommunikation Beteiligten« bedarf, hat Konrad Ehlich (1986: 45) fremdsprachliche Kommunikation bezeichnet, der schon, wie er ausführt, die von Searle formulierten normalen Ein- und Ausgabebedingungen zum Hindernis werden, und dies vor allen Möglichkeiten, spezielle kommunikative Zwecke zu erreichen, und sich als Erfahrungen einschreiben, auch wenn es gelungen ist, sprachlich erfolgreich zu handeln. In der fremdsprachlichen Kommunikation werde etwas manifest, das alles Sprechen – Ehlich spricht hier explizit vom muttersprachlichen – als geteilte Vorstellung begleite. Aufgrund seiner Unmerklichkeit entziehe sich dieser Aspekt sprachlichen Handelns weitgehend der Analyse: die Tatsache, dass unabhängig von den jeweiligen Erscheinungsformen, d.h. ob kooperativ oder vom Dissens geprägt und bestimmt, Kommunikation vor allem anderen immer »eine elementare, von allen an der Kommunikation Beteiligten geteilte Gemeinsamkeit« (ebd.) darstelle. Und auch wenn die historischen Zusammenhänge und Diskurse, in denen der Ausdruck Kommunikation entstanden ist und die seine Bedeutung geprägt haben, eher die Ökonomie und der Krieg sind (Nothdurft 2007), so bezieht diese unterstellte – oder wie im vorliegenden Fall – gefährdete Gemeinsamkeit ihre Berechtigung aus der Etymologie des Ausdrucks Kommunikation, der communio (Ehlich 1996). In der fremdsprachlichen Kommunikation steht sie ständig auf dem Spiel (Ehlich 1986). Auslöser dieser Infragestellungen und Verweigerungen von Mitgliedschaft sind sogenannte ›Xenismen‹2, d.h. »sprachliche Produktionen, die sich außerhalb des sprachlichen Systems bewegen, aber in sprachliche Realisierungen eben dieses Systems eingebettet sind. Sie können alle Teildisziplinen des Systems von der phonologischen über die morphologische, le-

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Der Ausdruck ›Xenismus‹ hat mittlerweile Eingang in linguistische Lexika gefunden: Glück (2005) und ist in der Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation zu einem Arbeitsbegriff geworden: Moser (1996), Hess-Lüttich (2006). Müller-Jacquier (2007) hat ihn in der Festschrift für Konrad Ehlich explizit zum Thema gemacht.

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xikalische, idiomatische, syntaktische, pragmatische, betreffen« (Ehlich 1986: 50). Was sie verbindet ist eine extreme Auffälligkeit, die sie ins Auge bzw. mehr und eindringlicher noch ins Ohr springen lässt. Sie stellen die unterstellte Gemeinsamkeit der Kommunikation in Frage, »weisen den Sprecher als Nicht-Mitglied aus und können zu einer kommunikativen Verunsicherung führen. Derjenige, der den Xenismus produziert, gerät dadurch sozusagen schlagartig in die Kategorie des Fremden« (Ehlich 1986: 50f.). Mit der Nichtmitgliedschaft wird auch die Möglichkeit des Verstehens und der Verständigung grundsätzlich in Frage gestellt, denn – so die unterstellte Logik – »[w]er nicht Mitglied ist, darf und kann nicht verstehen« (Redder 1998: 38). Für die handlungspraktischen Folgerungen, die sich für den weiteren Verlauf der Interaktion zwischen dem Fremdsprachensprecher und seinem Adressaten ergeben, macht Ehlich (1986) die Position verantwortlich, die der Adressat auf der Skala zwischen ›xenophob‹ und ›xenophil‹ einnimmt. Lässt man – zum Zwecke der weiteren Überlegungen die Positionen der Xenophobie außer Acht – so zeigt sich ganz im Sinne des Xenos3, dass die Zugehörigkeit zur Gruppe der Fremden, dem Sprecher zwar Handlungsmöglichkeiten entzieht, ihm aber gleichzeitig auch einen gewissen Schutz bietet, der gerne unter dem Begriff der ›Ambivalenz der Fremde‹ diskutiert wird. Der Fremde erfährt größere Aufmerksamkeit, die »Mitkonstruktion des Hörers« (Ehlich 1986: 48) verstärkt sich und der Adressat bringt insgesamt mehr Geduld auf. Die bereits angesprochenen Einund Ausgabebedingungen erfahren eine – nun im positiven Sinn – verstärkte Beachtung und treten in einer jeder sprachlichen Ökonomie entgegengesetzten Weise in den Vordergrund. Die besondere Verschränkung von Mitgliedschaft und sprachlichem Handeln zeigt sich darin, dass in der Herstellung einer Beziehung zur Adressatengruppe der Abstand solange wieder aufreißt, wie Zeichen einer Mitgliedschaft präsent sind. »Effizient zu kommunizieren, neben den einzelnen Zielen auch das zu erreichen, die Mitgliedschaft der Zielgruppe zu erwerben, zwingt ihn [den Fremden, AB] zur zunehmenden Näherung seiner Sprache an die der Zielgruppe« (ebd.).

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Auf diesen Zusammenhang ist im Zusammenhang der Begründung der Xenologie wiederholt verwiesen worden. Vgl. u.a. die Beiträge in Wierlacher (1993), Waldenfels (1994). Weinrich (1985) macht dies speziell für den Umgang mit Fremdsprachensprecher geltend, auf dessen Gastrecht er verweist.

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Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses Szenario auf ganz bestimmten Vorstellungen – wohl gemeint der Interaktanten – darüber aufruht, was Kommunikation bedeutet und was damit als Ziel fremdsprachlichen Sprechens in den Blick kommt. Diese Vorstellungen bilden Teil einer Sprachkonzeption, die der Idee anhängt, Gemeinschaftlichkeit sei auf Homogenität angewiesen und damit einem Purismus das Wort redet, der mit der Ausübung von Gewalt verbunden ist und von Derrida als »Homo‐Hegemonie« bezeichnet: Die Einsprachigkeit des Anderen ist zunächst einmal: die vom Anderen durch koloniale Gewalt, die immer dazu tendiert, die Sprachen auf das Eine und auf die Hegemonie des Homogenen zu reduzieren, verordnete Einsprachigkeit. Und das gilt überall, wo diese Homogenisierung in der Kultur arbeitet, wo die Falten glattgestrichen und geplättet werden (Derrida 1997: 28).

Die Homogenitätsverpflichtungen verbannen die Mehrsprachigkeit in die »Modalität des Nicht-Dürfens« (Ehlich 2009: 13). Das ›Projekt Nation‹ (Anderson) aktualisiert sich im jedesmaligen Sprechen und die Kategorie ›Native Speaker‹ entfaltet ihre Wirkmacht, wird zur »flexiblen Ressource«4 eines diskriminierenden Sprachhandelns. Matthes (2000) betont, dass diese Homogenitätsvorstellungen insbesondere in Gesellschaften zu Tragen kommen, denen – wie den europäischen – die alltagspraktische Bedeutung von Mehrsprachigkeit schwer aufgehen, da ihr Spracherwerb und ihre alltägliche Sprachpraxis in aller Regel monolingual angelegt seien, und sie weitere Sprache meist ohne Einbettung in einen anderen Alltagskontext als den des Lernens erwerben. Ihnen fehle eine Grunderfahrung der »Einübung in mehr als nur eine Sprache« als »Einübung darin, ob – und wie – sich grundlegende kulturelle Wahrnehmungen und Ordnungen von »Welt«, wie sie sich in der Sprache zeigen, zueinander ins Verhältnis setzen, ineinander übersetzen lassen – oder auch nicht« (Matthes 2000: 201).

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İnci Dirim und Natascha Khakpour nutzen den Begriff in ihrem Vortrag im Rahmen der Internationalen Tagung Formen der Mehrsprachigkeit in sekundären und tertiären Bildungskontexten 2016 in Innsbruck in Anlehnung an Scherschel (2006), vgl. dazu auch Dirim 2013.

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Von der ›Fremdheit des Fremdsprachensprechers‹ ausgehend, lässt sich aber auch eine ganz andere Geschichte erzählen: Als eine »menschliche Grund- und Grenzerfahrung, bei der Andersheit und Fremdheit zusammenfallen« – »eine tiefdeprimierende Erfahrung« – beschreibt Harald Weinrich »die Rat- und Hilflosigkeit gegenüber einem anderen Menschen, mit dem man sich nicht verständigen kann« (Weinrich 1985: 134). Und auch er konstatiert ein Paradox, nämlich, dass »gerade dort, wo uns die Andersheit am unmittelbarsten als Fremdheit entgegentritt, […] sie auch am leichtesten zu überwinden [ist], wenigstens im Prinzip« (ebd.: 133) – durch Lernen nämlich. Diese bereits 1985 vorgebrachten Überlegungen zu den Fremdsprachen als fremden Sprachen, beinhalten im Kern die Konzeption, die wesentlich zur xenologischen Begründung einer interkulturellen Germanistik als angewandter Kulturwissenschaft beigetragen hat: dass Fremdheit nicht notwendig aus der Andersheit folgt, sondern erst durch Interpretation aus ihr entsteht. Fremdheit also ein »lnterpretament der Andersheit« ist (ebd.: 131), wie Weinrich im Anschluss an Spitzer, Gadamer, Krusche (1983) und Wierlacher (1985) formuliert und sich damit explizit auf die Herausbildung einer interkulturellen Hermeneutik bezieht.5 Im Zuge der Weiterentwicklung der xenologischen Konturierung des Faches und der Schärfung seiner zentralen Begriffe verweist Albrecht auf Fremde als »kulturelle und kulturkonstitutive Deutungskategorie, die wir uns wiederum nur deutend zugänglich machen können« (Albrecht 2012: 109). Für die Frage nach diesen Zugängen zum Fremden bezieht sie sich dort auf ein Konzept des Interkulturellen, »das nicht Interaktion oder Vermischung von Kulturen und Identitäten konstatiert, sondern Interkulturalität als eine Qualität versteht, die erst hergestellt werden muss«, ein Konzept das »mit der Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung dem Konzept der Fremde beigestellt [wurde] und […] sich zugleich als Methodenperspektive [versteht]« (ebd.: 119).6

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Vgl. zu den wissenschaftshistorischen und konzeptionellen Grundlagen einer xenologischen Begründung einer interkulturellen Germanistik die Ausführungen von Wierlacher/Albrecht 2008 und die Beiträge von Norbert Mecklenburg, Wolf Dieter Otto und Karl Esselborn in diesem Band.

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Sie dazu auch Wierlacher (1993), Albrecht (1997) und zu Interkulturalität als Forschungsperspektive Elberfeld (2008).

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Dass dieser Deutungskategorie im Bereich der (interkulturellen) Linguistik noch nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden ist,7 wie dies für die Literaturwissenschaft geltend gemacht werden kann, ist Teil einer anderen Geschichte und soll hier mitnichten die disziplinären Klüfte weiten. Vielmehr greifen die folgenden Überlegungen dieses Desiderat auf und versuchen, die sprachlichen Bedingungen von Interkulturalität auszuleuchten und die Konzepte Mehrsprachigkeit und Interkulturalität aufeinander zu beziehen. Was im Zuge der kulturwissenschaftlichen Erweiterungen unserer Disziplinen für die Konstrukte Identität, Sprache und Kultur geltend gemacht wird, nämlich der Übergang von der Stabilität zur Veränderung, von der Einheit zur Pluralität, eine Überwindung essentialistischer Denkmodelle zugunsten konstruktivistischer oder aber narrativer Konzepte unter Betonung von Heterogenität statt Homogenität, auf die auch mit dem Einsatz entsprechender Forschungsmethoden zu reagieren wäre (Hu 2003), machen die folgenden Überlegungen auch für die Kategorie des Raumes geltend. Die lang anhaltende Vernachlässigung des Raums insbesondere vonseiten der Linguistik führt Auer (2004) auf zwei Faktoren zurück: zum einen auf ein ›naives‹ Verständnis des geographischen Raums und seiner Abgrenzungen als natürliche Gegebenheiten, die nicht weiter begründet werden müssen; zum anderen auf das Nachwirken nationalstaatlicher Ideologeme, die eine Korrelation zwischen Nation, Territorium und Sprache unterstellen. Der Rest der Geschichte ist hinlänglich bekannt: Sesshaftigkeit und Einsprachigkeit werden als dem Menschen inhärente Eigenschaften inszeniert. Die Geschichte der Sprachwissenschaft selbst – so Franceschini – liefere viele Beispiele dafür, wie sie sich »durch ihre Geburt aus dem Geiste der Einsprachigkeit bei der Erweiterung oder Umgestaltung der Perspektive in Richtung einer übereinzelsprachigen (gemeint: mehrsprachigen) Linguistik im Wege« gestanden habe (Franceschini 2003: 247). Für die Dynamisierung des Raumes bietet sich eine Anknüpfung an Auffassungen aus der frühen Soziologie an, die Grenzen nicht als Abgrenzungen im Sinne naturräumlicher Gegebenheiten betrachten, sondern als

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Verwiesen sei hier explizit auf die Bände von Naguschewski/Trabant (1997) und Jostes/Trabant (2001).

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Konstrukte, die unsere Wahrnehmung vom Raum erst steuern und die sprachlich vermittelt sind. Der Sprache kommt als einem wesentlich an Grenzziehungen beteiligten Faktor eine entscheidende Bedeutung zu: Sprachgrenzen produzieren – wie Staatsgrenzen – gesellschaftliche Unterschiede und sind gleichzeitig ihr Produkt (Jung 1993). Scheinbar natürliche Sprach-Räume werden für Grenzziehungen instrumentalisiert und führen zu einer – wie Anja Stukenbrock sie bezeichnet – »doppelten Heterogentitätsreduktion« in Bezug auf ihre zeitliche und soziale Dimension, das Erfinden einer Nationalgeschichte für imagined communities, in denen die Mehrsprachigkeit nur in der bereits genannten »Modalität des Nicht-Dürfens« auftritt. Den auf Homogenität ausgerichteten Räumen setzt die Migrationslinguistik ein Konzept von Raum entgegen, das aus der Wissenssoziologie stammt und dem Begriff des ›gelebten Kommunikationsraums‹8 verpflichtet ist (Krefeld 2004). Es versucht, die ›räumliche Aufschichtung‹ der Lebenswelt, wie sie Schütz/Luckmann (1979) bezeichnen, auch linguistisch zu explizieren. Die Unterscheidung in ›Welt in aktueller‹ und ›Welt in potentieller Reichweite‹ scheint dabei durchaus geeignet, den Sprachengebrauch in kulturellen Überschneidungssituationen angemessen zu beschreiben. Raum wird dann nicht mehr als objektiv vorgegebener Rahmen betrachtet, sondern als Produkt der Interagierenden, die unabhängig vom Ort des Sprechens über mehrere Varietäten verfügen und durch den aktuellen Einsatz und die Habitualisierung der ihnen zu Verfügung stehenden sprachlichen Mittel im Sprechen selbst zum Aufbau dieses kommunikativen Handlungsraums in den sich verändernden Sprache-Sprecher-Sprechen Konstellationen beitragen. Identische Räume dürfe man entsprechend nie voraussetzen; »vielmehr ergeben sich mehr oder weniger große gemeinschaftliche Teilräume aus dem Gebrauch bzw. aus der Entwicklung gemeinsam verfügbarer Idiome und Varietäten – und aus deren analoger Bewertung« (Krefeld 2004: 20). Sprecher verfügen demnach unabhängig vom Ort des Sprechens über mehrere Varietäten, über deren Aktualisierung sie im konkreten Sprachengebrauch in kulturellen Überschneidungssituationen auch auf der Grundla-

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Krefeld übernimmt den Begriff des spazio vissuto bzw. espace vécu aus der italienischen Sprachwissenschaft bzw. der französischen Geographie und verweist auf die Übersicht in Mongardini 1996.

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ge erwarteter Bewertungen entscheiden. Jenseits der vermeintlichen Fatalität, mit der Sprecher sich ihren Sprachen ausgeliefert glauben, was vorzugsweise für die Muttersprache in Anspruch genommen wird, werden die Sprecher nicht aus der Verantwortung für ihre jeweiligen Sprachenwahlentscheidungen entlassen. Vielmehr sind sie gehalten an jedem Punkt der Interaktion Auskunft darüber zu geben, »wieso der einzelne so spricht, wie er spricht«, und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, »wie individuelle Entscheidungen im Sprachverhalten in kollektive Produkte umgesetzt werden« (Coulmas 1995: 130). Was als Einzelsprache, was als ihr jeweiliges Sprechen in Erscheinung tritt, sind dann »besonders stark fokussierte, große Übereinstimmung erzeugende, historisch gestützte […] und meist institutionell normierte Ausschnitte eines zugrundeliegenden potentiellen Sprachsystems« (Franceschini 2003: 249f.). Die Sprachenwahl wird – so Mondada – zu einer lokalen Entscheidung im Verlauf der Interaktion und nicht zu einer vorweg getroffenen nicht mehr revidierbaren Entscheidung. »Il exhibe ainsi que le choix de langue n’est pas une question arrêtée à l’avance mais qu’il est localement décidé au fil de l’interaction« (Mondada 2005: 93). Sie bildet die Voraussetzung für eine mehrsprachige Praxis und mit ihr zeigen sich auch unterschiedliche Perspektiven auf die Umsetzung einer Mehrsprachigkeit, »[c]es choix manifestent des perspectives différentes sur la gestion du plurilinguisme du groupe et font coexister une pluralité de solutions, relatives aux locuteurs, à l’activité, au contexte interactionnel« (ebd.). Insbesondere dann, wenn die Wahl der sprachlichen Ressource einen Sprachenwechsel einleitet und eine vermeintlich fremde Ressource in den Diskurs eingebracht wird, stellt die Sprachenwahl eine jener Entscheidungen dar, bei der die Evaluationen als Teil der Rezeptionsbedingungen in die Prozesse der Produktion mit eingehen (Bourdieu), dies nicht selten als Ressentiment gegen Mehrsprachigkeit, das sich weniger dem Phänomen selbst, sondern den sozialen Umständen, in denen Sprachen verwendet werden und den Ideologien, die rund um Sprache und Sprachen angesiedelt sind, verdankt (Franceschini 2003), die mitunter zur Verleugnung der eigenen Sprache als einer möglichen im Interaktionsraum reichen. Vor dem Hintergrund von reellen oder als solchen wahrgenommenen Sprach(en)verboten stellt die Sprachenwahl eine besonders starke Form der Selbstpositionierung dar. Mit ihrer – bisweilen auch metasprachlichen Aushandlung – wird den Teilnehmern auch eine Aktualisierung der verfügba-

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ren sprachlichen Ressourcen bzw. die Neuaushandlung verfügbarer sprachlicher Repertoires angezeigt. An Schlüsselstellen der Interaktion muss der praktische Vollzug der Sprachenwahl immer wieder neu bestätigt werden. Die Kategorie der Fremdheit eröffnet nun die Möglichkeit, die Polarität von Eigenem und Fremdem aufzulösen und über Konzepte der Interrelation und Interdependenz Grundlegungen für eine Ausgestaltung ›kultureller Überschneidungssituationen‹ (Breitenbach 1980) zu leisten und jene kommunikative Ethik zu entwickeln, die den sprachlichen Rechten angemessene Räume eröffnet und dazu beiträgt, sie aus einer immer wieder »genutzten aggressive kommunitäre Identitätsbildung« herauszunehmen und hin zu einem »Medium einer auf Verständigung hin orientierten Kommunikation« (Ehlich 2009: 29) zu entwickeln. Eine solche auf Verständigung in einem substantiellen Sinn abzielende Kommunikation hat die Anerkennung des Anderen und seiner Sprache zur Grundlage. […] die Notwendigkeit der Anerkennung der Sprachlichkeit des Anderen und damit die Modalität der Notwendigkeit der Mehrsprachigkeit (ebd.).

Fest steht, dass sich diese Modalität der Kommunikation nicht von selbst quasi natürlich einstellt, sondern eine Leistung aller an der Interaktion Beteiligten darstellt. Die Bedingungen der Möglichkeit dieser Mehrsprachigkeit und ihre besondere Qualität als einer Verstehenssituation, in der eine ›kooperative Selbstaufklärung der Kommunizierenden‹9 stattfindet, gilt es nun auszuloten. Der Zuordnung Muttersprache, fremde Sprache, Fremdsprache kommt dabei der Charakter einer vorläufigen Setzung zu, über die – auch dies nur vorläufig – Positionen bezogen werden, von denen aus sich ergebende sprachliche Handlungsspielräume angezeigt werden können. In der konkreten Interaktion der Beteiligten leisten sie diese Etablierungen von Zugehörigkeiten kommunikativ über die Indexikalität der Referenz, so dass mehr oder weniger große gemeinschaftliche Teilräume entstehen. In der Umsetzung einer mehrsprachigen Praxis kommt Figuren der Mehrsprachigkeit eine besondere Rolle zu, verschiedene Ausprägungen

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An vielen Stellen im Begründungsdiskurs einer interkulturellen Germanistik als Modus der Herstellung von Interkulturalität gefasst.

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zweisprachiger Rede, die Verwendungen von unterschiedlichen Formen von transkodischen Markierungen, die eine Absage an Vorstellungen sprachlicher Homogenität, das Individuum, das Territorium und schließlich auch den Kommunikationsvorgang selbst betreffend zum Ausdruck bringen. All dies trägt letztlich dazu bei, dass die Vernetzungen im kommunikativen Raum verdichtet werden, und diese systematische Verdichtung wiederum bildet die Voraussetzung für eine mehrsprachige Praxis. Über diese Figuren der Zwei- und Mehrsprachigkeit wird – dies zeigen die Analysen konkreter Interaktionen in kulturellen Überschneidungssituationen, wie wir sie andernorts vorgelegt haben (Dengel/Bogner 2005, Bogner/Dengel 2009, 2013a) – der Aufbau von gegensätzlichen Positionen im bewussten Abgleich mit eigenen Wissensstrukturen vollzogen und entsprechend markiert. An ihnen lässt sich veranschaulichen, wie Positionsnahmen, von denen aus Eigen- und Fremderfahrungen festgestellt, abgeglichen und mitunter stilisiert werden und zu jener ›Operation des Vergleichens‹ beitragen, wie sie Matthes (1992, 2003) einfordert. Eine besondere Bedeutung kommt dabei Übersetzungsprozessen zu. Als »substantielle Vermittlung der Erkenntnis im Medium ihrer Formulierung« (Ehlich 2005: 237) leisten sie eine Rückbindung von Konzepten und Wissensbeständen und führen das Vergleichshandeln konsequent weiter (Bogner/Dengel 2012). Ein Blick in die kollaborativen Prozesse der Herstellung von Wissen in mehrsprachigen Interaktionen zeigt, wie die eindeutigen (homogenen) Beziehungen zwischen Sprache-Sprecher und Sprechen differenziert, die Herstellung mehrsprachigen Verstehens ermöglicht und das Wissen selbst im Modus der Mehrsprachigkeit eine erhöhte Reflexivität erfährt und damit die Voraussetzungen für ein auf Interkulturalität ausgerichteten Handelns geschaffen.

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Interkulturalität als kreatives Milieu Zum Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies K ARL E SSELBORN »… dass nur ein kreatives Milieu Menschen als Wissenschaftler in ein lebendiges Verhältnis zueinander zu setzen vermag« – »Interkulturalität ist auch ein kreatives Milieu« (WIERLACHER 2003c: 267; 2003b: 262)

In der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Umbruchsituation Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre musste die deutsche Germanistik nicht nur auf ihre jüngste Vergangenheit (vgl. z.B. Lämmert 1969), sondern auch auf die veränderten Verhältnisse, Bedürfnisse und Erwartungen an das Fach reagieren, die vor allem im Ausland das Interesse an traditioneller deutscher Philologie drastisch wegbrechen ließen. Dies war speziell etwa in den von der internationalen Studentenbewegung geprägten westlichen Staaten oder in weit entfernten fremden Ländern bzw. in selbständig gewordenen ehemaligen Kolonien der Fall, wo ein neues Verhältnis zu Europa und ein alternatives Bildungssystem gefunden werden musste. Die entsprechenden Forderungen an eine zu aktualisierende Auslandsgermanistik wurden mit am deutlichsten von deutschen Lektoren vertreten, die vor Ort im Umfeld fremder Kulturen eindrücklich die Unzulänglichkeiten der konventionellen Germanistik erlebten und deshalb zusammen mit »Auslandsgermanisten« eine neue Praxis und ein neues Konzept des Faches

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für dringend notwendig hielten. Alois Wierlacher hat beschrieben, wie er 1970 – nach einer Gastdozentur 1964-1966 an der University of California Los Angeles und gerade von der Universität Heidelberg mit der Entwicklung einer »Deutschen Abteilung für Ausländer« beauftragt – sich in einem Heidelberger Straßencafé zum ersten Mal mit Dietrich Krusche traf – der fünf Jahre als Auslandslektor an Universitäten in Sri Lanka und Japan gearbeitet und in Fernost besonders deutlich die Probleme einer Vermittlung der deutschen als fremdkultureller Literatur erlebt hatte – und wie sie sich darin einig waren,1 »dass Deutschstudien im Ausland andere Funktionen, andere Aufgaben und einen anderen Grundriss als den der binnendeutschen Germanistik besäßen und dass es gelte, diese Unterschiede zu entfalten« (Krusche/Wierlacher 1990: 7). Dabei war »Deutsch für Ausländer« damals noch kein Thema für die Wissenschaft oder die Bildungspolitik und der Lernende und Leser mit seinen besonderen Interessen, bei denen eine »angewandte Philologie des Deutschen« ansetzen sollte, noch nicht entdeckt. Zwar hatte es schon früher Empfehlungen des Wissenschaftsrats der Bundesrepublik Deutschland gegeben, zwischen Germanistik als Grundsprachenphilologie (Muttersprachengermanistik, Inlandsgermanistik, Ökogermanistik) und einer Fremdsprachenphilologie (Auslandsgermanistik, Xenogermanistik) zu unterscheiden, doch angesichts des Widerstands der traditionellen deutschen Germanistik, die auch im Ausland dominierte, schienen die neuen Ideen, wie sie in einem kleinen Kreis von kreativen Engagierten entwickelt wurden, zunächst fast aussichtslos. Wierlachers Konzept für das Fach »Deutsch als Fremdsprachenphilologie« an der Universität Heidelberg von 1972 (vgl. Wierlacher 1972; 1975) – als ein gegenwartsbezogenes Deutschlandstudium ausländischer, vornehmlich US-amerikanischer undergraduates und als einer am Kulturaus-

1

Die Bekanntschaft wurde durch Eberhard Lämmert vermittelt, der Krusche von einer Lektorenfortbildung kannte. Krusche war auch stets ein wichtiger Beiträger des 1975 gegründeten Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies (und 1983-1996 Mitherausgeber) und 1984 in Karlsruhe Gründungsmitglied der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG), wo die Konturen einer interkulturell angelegten Germanistik entworfen wurden; vgl. dazu den thematischen Teil des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache (Wierlacher 1985a) sowie die Berichte von Sagmo (1985) und Thum (1985).

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tausch interessierten Angewandten Deutschen Philologie, als sprach- und textbezogenes Kulturstudium mit einem »Kultur-Curriculum« – und Krusches Überlegungen zu einer »Hermeneutik der Fremde«, wie er sie am 1979 gegründeten »Institut für Deutsch als Fremdsprache« der Universität München konsequent weiterführte, wurden dann zu entscheidenden Ausgangspunkten bei der Entstehung der »interkulturellen Germanistik« (vgl. Wierlacher 2003a; Krusche 1985). Fast gleichzeitig entwickelte sich im Zusammenhang mit einer systematischen Erneuerung der Fremdsprachendidaktik in den Neueren Fremdsprachen (und der Einrichtung von Sprachenzentren und Lehrstühlen) auch im Bereich von »Deutsch für Ausländer« (nach der bisherigen Sprachregelung des Goethe-Instituts) das neue Konzept von »Deutsch als Fremdsprache«, vorbereitet zuerst vom Leipziger »Herder-Institut« (das seit 1956 Sprachkurse für ein Studium von Ausländern in der DDR durchführte und 1961 im Blick auf das Goethe-Institut den neuen Namen erhielt), wo 1968 ein erster Lehrstuhl für Deutsch als Fremdsprache für Gerhard Helbig eingerichtet wurde. Zudem wurden, unterstützt durch Forderungen der kritischen deutschen Studentenschaft, an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik und in Westberlin Sprachkurse für ausländische Studienbewerber eingerichtet, die nicht mehr von germanistischen Sprachhistorikern, sondern von eigens dafür rekrutierten Tutoren abgehalten wurden, die auch im Blick auf die innovativen Ansätze der Fremdsprachenvermittlung neue Konzepte für den Deutschunterricht entwickelten und sich bald in regelmäßigen Tagungen zum »Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache« (AKDaF beim DAAD seit 1973) zusammenschlossen (vgl. Eggers/Palzer 1975; Krumm 1978).2 In diesem Umfeld gründete Alois Wierlacher 1975 in Kooperation mit dem Julius Groos Verlag (Heidelberg) das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache als ein eigenes Kommunikationsorgan der neuen Fachrichtung und gewann als Mitherausgeber wichtige Vertreter auch benachbarter Disziplinen wie den Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Ulrich Engel), den Leiter des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg

2

Anfang der 1960er waren die Studentenzahlen (auch von Ausländern) stark angestiegen. 1976 wurde der Sprachverband, Mainz, für Probleme der Arbeitsmigranten und ihrer Kinder gegründet. 1979 wurde die Professur für Deutsch als Fremdsprache für Harald Weinrich in München eingerichtet, es folgten weitere in Karlsruhe, Mainz, Bielefeld usw.

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(Robert Picht), den Lexikologen Gerhard Wahrig (Mainz), dazu die Sprachdidaktiker Dietrich Eggers, Alois Palzer (Mainz) und Hans Jürgen Krumm (Hamburg) sowie den Leiter des Auslandsamts der Universität Mannheim (Kurt Friedrich Bohrer) und etwas später auch Dietrich Krusche, seit 1982 Professor für »Literaturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache und Landeskunde« (1993 abgewandelt in »Interkulturelle Hermeneutik«) an der Universität München (vgl. Wierlacher 2003a: 2f.).3 Das Jahrbuch war speziell für die Theoriebildung der interkulturellen Germanistik und ihre Praxis gedacht, die ein neues, über die Germanistik hinausführendes Paradigma auf den Grundkonzepten von Interkulturalität, kulturwissenschaftlicher Perspektive, Fremdheit, vergleichender Kulturwissenschaft und Xenologie entwickeln sollte, mit Anleihen bei der Kulturanthropologie, Geschichte, der Philosophie und interkulturellen Wirtschaftskommunikation usw. Die Zeitschrift verstand sich stets auch als ein interdisziplinäres Gesprächsforum zwischen den Fachvertretern im deutschsprachigen Raum und den Fremdsprachengermanisten in allen Teilen der Welt, und versuchte zwischen der dominanten Grundsprachengermanistik und den Interessen der Fremdsprachendidaktiker zu vermitteln. So war es von entscheidender Bedeutung, dass sich in dem neuen, von den Adressaten mit großer Zustimmung aufgenommenen Jahrbuch wie auch in seinem weiteren Umfeld wie in den Heidelberger und Karlsruher Internationalen Sommerkonferenzen Deutsch als Fremdsprache seit 1978 – die schnell zeigten, »wie fruchtbar ein derartiger kontinuierlicher Dialog für die Entwicklung eines noch im Entstehen begriffenen Faches sein kann« (Picht 1982: 322);4 – und an-

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Als weitere Herausgeber folgen Andreas F. Kelletat, Konrad Ehlich, Ludwig M. Eichinger, Willy Michel; ab Band 14/1988 (der nun im iudicium Verlag erscheint) wird auch ein internationaler Beirat genannt. Ab Bd. 31/2006 übernahm Andrea Bogner die editorische Leitung, 2010 kam Ewald Reuter, Tampere, als Herausgeber hinzu.

4

1978 traf sich zum ersten Mal auf Einladung von Alois Wierlacher und Heinz Schepping (TU Aachen) der offene Kreis der Internationalen Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache als von der DFG finanziertes Fachkolloquium, im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache folgten jeweils ausführliche Berichte: 1. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache 24.-25. August 1978 in Heidelberg (vgl. Hyldgaard-Jensen 1979); 2. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache in Heidelberg vom 29.-31. August 1979 (vgl. Her-

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schließend in der »Gesellschaft für interkulturelle Germanistik« (GiG) eine sehr freie und kreative Diskussion über die neuen Perspektiven entwickeln konnte: angeregt und angeleitet von dem ungewöhnlich kreativen und innovativen Erfinder und Planer der neuen Disziplin.5 Hier könnte zudem von einem gewissen regionalen Schwerpunkt an den benachbarten Hochschulen Heidelberg, Karlsruhe, Mannheim, Freiburg, Mainz und Germersheim – getragen von näheren kollegialen und persönlichen Beziehungen – gesprochen werden. Während die internationale Germanistik auf der IVG-Tagung 1980 in Basel zunehmend internationaler wurde, aber noch die Identität mit der Inlandsgermanistik betonte und eine theoretische Grundsatzdiskussion über ihre Außenperspektive und die neuen Ansätze vermied6 – was sich dann 1984 auf der Tagung in Göttingen (Kontroversen – alte und neue, etwa in der von Wierlacher gerne zitierten Einführung Albrecht Schönes) und besonders 1990 in Tokyo (Begegnung mit dem »Fremden«) deutlich änderte – wurden schon auf den Internationalen Sommerkonferenenzen DaF von 1978 und 1979 in Heidelberg in einer offenen Runde eine internationale Bestandsaufnahme der vielfältigen Varianten des Fachs begonnen und die kulturwissenschaftliche und komparatistische Begründung einer »XenoGermanistik« (vgl. Weinrich 1979) diskutiert, mit ihrer hermeneutischen Ausgangsposition, dem Fremdverstehen, der Landeskunde und ihrer Lernerorientierung. Und die Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache

manns 1980); 3. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache: Studienbücher Deutsch als Fremdsprache (vgl. Picht 1982); die Zahl der internationalen Teilnehmer überschritt schnell den Rahmen eines Kolloquiums, man richtete ein standing committee mit Krumm, Krusche, Schepping, Steger und Wierlacher ein. 5

Bei seiner Verabschiedung in Bayreuth wurde Alois Wierlacher als »einer der national und international anerkannten originellen Wissenschaftler, Anreger, lehrreichen Hochschullehrer, Erfinder, innovationsfähigen Baumeister, Manager« und als ein »Zukunftsmodell« bezeichnet. »Jede qualitative, also immer auch anregende Initiative ließ ihn aufblühen, bereitete dem Produktivitätsbedürfnis seiner eigenen Kreativität sichtbare Lust« (Bogner 2001: 28f.).

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Ein entsprechender Bericht findet sich wiederum im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache (vgl. Elm 1981); die Internationale Vereinigung für Germanistik bestand damals 25 Jahre.

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1984 in Karlsruhe thematisierte ausdrücklich die »differenciae specificae« von Inlands- und Auslandsgermanistik. Vorbereitet durch spezifische Forschungen und viele kollegiale Gespräche mit ›Inlands-‹ und ›Auslandsgermanisten‹ wurde das neue Selbstverständnis des Fachs konkretisiert (vgl. Sagmo 1985; Thum 1985), als dessen hermeneutischen Ausgangspunkt man die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Kulturen verstand.7 Im interkulturellen ›Miteinanderhandeln‹ (Max Weber) in wechselseitiger Abhängigkeit sollte ein Besserverstehen deutscher als fremdsprachlicher Literatur und Kultur möglich werden. Um seiner Besonderheit gerecht zu werden, gründete man zum Abschluss die »Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik« (GiG) mit den Gründungsmitgliedern Klaus Bohnen (Aalborg), Walter Hinderer (Princeton), Kenichi Mishima (Tokyo), Bernd Thum (Karlsruhe) und Alois Wierlacher (als Gründungspräsident) sowie weiteren Literaturwissenschaftler, Linguisten, Kulturwissenschaftler, Fremdsprachendidaktiker, Mediävisten, Politologen und Philosophen aus den verschiedensten Ländern der Erde. Ihr gemeinsames Konzept von »interkultureller Germanistik« fasste ein Informationsblatt folgendermaßen zusammen: Soweit sich die Geschichte der Kulturen überblicken lässt, lernt eine Kultur von der anderen und grenzt sich zugleich von ihr ab. Das Fremde wird so zum Ferment der Kulturentwicklung. Dieses produktive Wechselverhältnis von Fremdem und Eigenem vermag auch die Germanistik zu nutzen, wenn sie sich mehr als bisher auf die kulturelle Vielfalt ihrer Bedingungen, Fragestellungen und Erkenntnismöglichkeiten besinnt. Außerdem kann interkulturelle Germanistik ethnozentrische Isolierung überwinden helfen, indem sie das Bewusstsein von der hermeneutischen Funktion dieser Vielfalt fördert. Sie lehrt kulturelle Unterschiede zu respektieren und ihre Erkenntnis zum besseren Verstehen der eigenen und der fremden Kultur zu nutzen. Auf dieser Grundlage konstituiert sich interkulturelle Germanistik als Teil einer angewandten Kulturwissenschaft.8

7

Alois Wierlacher hatte 1984 eine Honorarprofessur in Karlsruhe erhalten, die Beiträge der Sommerkonferenz 1984 erschienen 1985 als erster Band der Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (Wierlacher 1985b).

8

Hier zitiert nach Wierlacher (1985c: X); man vgl. die Beschreibung der interkulturellen Germanistik vom 1. GIG-Kongress in Wierlacher (1987b).

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Die GiG verstand sich von Anfang an nicht als Verband, sondern als eine multikulturelle Vereinigung von Forschern, Lehrern und Kulturarbeitern, die über das transkulturelle Wissenschaftsgespräch, über Kongresse, Symposien, Publikationen, die Praxis des Kulturaustauschs und zugleich durch persönliche Verbindungen in ständiger Kommunikation standen. Angesichts der Vielfalt kultureller Identitäten – wozu noch die Vielfalt kultureller Räume deutscher Sprache in den unterschiedlichen deutschsprachigen Ländern kam –, der differenten Ausgangspositionen und Interessen und vor allem des anhaltenden Widerstands der traditionellen Germanistik war der Weg zur interkulturellen Germanistik, wie Thum feststellte, keine breite Chaussee (vgl. Thum 1985: 336), vielmehr waren mühsam Pfade zu Gemeinsamkeiten und einem differenzierten Selbstverständnis und zur erforderlichen Theoriearbeit und Praxis zu finden. In den folgenden GiGKongressen, 1987 in Bayreuth, wohin Wierlacher 1986 zum Professor für Deutsch als Fremdsprache (Interkulturelle Germanistik) berufen worden war, 1991 in Straßburg und 1994 in Düsseldorf wurden im erweiterten Kreis der engagierten Auslandsgermanisten und Vertreter von Deutsch als Fremdsprache die Konturen des Faches weiter verdeutlicht und die »Entwicklungsphase« der interkulturellen Germanistik abgeschlossen.9 Dies geschah in konsequenter Einbeziehung von profilierten Vertretern auch anderer wissenschaftlicher Disziplinen wie Philosophie, Pädagogik, Wirtschaftskommunikation und ihrer aktuellen Diskurse, was den Tagungsbänden ein ungewöhnlich breites und interessantes Spektrum an internationalen und interdisziplinären innovativen Ideen verlieh. Der unermüdliche Vordenker und Planer Alois Wierlacher, der neben der Entwicklung der interkulturellen Germanistik bei regelmäßigen Aufenthalten an ausländischen Universitäten auch die Diskussion neuer Fachkonzepte in anderen Ländern wie Indonesien, China, Polen u.a. förderte, setzte seine kreativen Aktivitäten in Bayreuth noch verstärkt fort, wo er 1990 das »Institut für internationale Kommunikation und auswärtige Kulturarbeit« (IIK) oder 1996 die »Akademie für interkulturelle Studien (AiS). Netzwerk wissenschaftlicher Weiterbildung« gründete bzw. Projekte zur Fremdheits- und Toleranzforschung oder zur Kulturforschung Essen und

9

Vgl. dazu (Wierlacher 1987a); (Thum/Fink 1993); (Wierlacher/Stötzel 1996) und die entsprechenden Ausführungen von Wierlacher zur GiG im Handbuch interkulturelle Germanistik (2003a: 6f.).

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Tagungen zu weiteren Themen initiierte (vgl. Wierlacher 2000). Die Gruppe der Mitarbeiter in Bayreuth war dabei ständig in die Entwürfe und Planungen mit einbezogen (und stand entsprechend unter Innovations- und Arbeitsdruck) und die Institutskolloquien waren weithin von einer kreativen Atmosphäre bestimmt.

K REATIVES M ILIEU Die Öffnung der Germanistik für die kulturelle Vielfalt und den kulturellen Austausch mit anderen Ländern – trotz aller Abwehr der um ihre Überlegenheit besorgten traditionellen deutschen Germanistik, auch im Ausland –, der Versuch der kreativen Außenseiter, gegen die Mehrheitsmeinung, gegen alte Positionen und die traditionelle Praxis neue Konzepte und gemeinsame Überzeugungen zu vertreten, setzte ein ganz besonderes Umfeld und ein entsprechendes Verhalten der Beteiligten voraus. Ob es gelingt, im Teilnehmen und Teilgeben etwas zur gemeinsamen Sache zu machen, hängt sowohl von individuellen Partizipationsvoraussetzungen als auch von sozial gelernten Mustern und Bewertungen des Gemeinschaftshandelns ab, die ins Vorhaben eingebracht werden (können). Benötigt wird in jedem Fall ein kreatives Milieu, in dem die verschiedenen Stimmen zum Ausdruck kommen, das Zuhören zur Kommunikationsregel wird und der Wille zur Ko-Produktion neuer Wissenschaftskonzepte die Mitspieler verbindet (Wierlacher 2003a: 6).

Den Begriff des »kreativen Milieus« hatte Wierlacher – mit der ihm eigenen Hellhörigkeit für die jeweils neuesten wissenschaftlichen Konzepte und Trends nicht nur in den benachbarten Disziplinen – schon früh für den Bereich der »interkulturellen Germanistik« aus der französischen Regionalökonomie der 1980er Jahre übernommen, der die besonders innovative Qualität bestimmter Wirtschaftsregionen bezeichnet, aber auch auf andere Bereiche menschlichen Handelns und sozialen Interagierens übertragen werden kann (vgl. Fromhold-Eisebith 2003; Holm-Hadulla 2011). Kreativität wird hierbei allerdings eher im traditionellen Sinne (wenn auch nicht als künstlerische Kreativität oder spirituelle Selbstverwirklichung) verstanden und nicht als ökonomische Produktivität durch berufliches Training, Coaching, Casting oder Marketing im Kontext von corpora-

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te entrepreneurship, als Kommunikations-Management oder als Bestandteil von Markenidentität.10 Es geht vor allem um ein freies Schaffen von Sinnbezügen durch neue (spielerische) Assoziationen, um Problemlösungen durch Eingebung, Inspiration (in der black box des Denkens). Im Sinne der modernen Informationstheorie, der Kommunikations- und Medientheorie und der neuen Gehirnforschung wäre Kreativität zu definieren als zeitnahe Lösung (Flexibilität) für ein Problem mit ungewöhnlichen, vorher nicht gedachten Mitteln (Originalität) und mehreren Möglichkeiten der Problemlösung (Ideenflüssigkeit), die für das Individuum vor der Problemlösung in irgendeiner Weise nicht denkbar ist (Problemsensitivität). Dabei spielen persönliche Fähigkeiten wie Intelligenz, Phantasie und Offenheit und sozialer Kontext zusammen. Ein »kreatives Milieu« als besondere Produktivität zwischenmenschlicher Interaktion entsteht nach der Theorie der Originalökonomie (vgl. Fromhold-Eisebith 2003) in speziellen Kontexten und setzt (1) Gruppen verschiedenartiger, in ihrem Denken und Handeln jeweils autonomer Akteure aus unterschiedlichen Institutionen, Ländern, Kenntnishorizonten voraus, die (2) in intensivem Informationsaustausch eine effektive Nutzung und Verknüpfung der vorhandenen Know-how-Ressourcen und gemeinschaftlichen Erkenntnisgewinn ermöglichen, wobei (3) eine physische wie kognitive Abgegrenztheit nach außen als Raum gemeinsamer Selbstwahrnehmung, homogenen Verhaltens, gemeinschaftlichen Know-hows sowie kultureller Gemeinsamkeiten der Beteiligten sowie (4) eine hohe Lernfähigkeit und -bereitschaft wichtig sind. Im Bereich der interkulturellen Germanistik findet der Austausch vor einem vielfältigen kulturellen Hintergrund statt, führt aber trotz diverser Herkunft und spezifischen Kenntnissen und Sichtweisen aufgrund von persönlicher Sympathie und Vertrauen und der Bereitschaft, einander zuzuhören, in einem intensiven Diskurs zu dialektischem, synergetischem Erkenntnisgewinn. Entscheidend für die mentale und kognitive Kohärenz nach außen wie innen sind vor allem kollektive Problemwahrnehmung, eine Kultur gemeinsamer Sichtweisen und Wertesysteme inklusive einer ästhetischen Komponente oder homogene Erwartungen und Verhaltensweisen und ein Gemeinschaftsgefühl und einigende Leitbilder (wie ein GruppenImage). Damit eine kreative Atmosphäre entsteht, sollten die Akteure im Rahmen der interkulturellen Kommunikation zum ganz persönlichen, offe-

10 Man vgl. etwa Bernd Weidenmann (2004).

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nen Austausch zusammenkommen, weil vor allem hieraus neue Ideen, Inspiration und kollektive Lernprozesse geboren werden. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Denk- und Sichtweisen katalysiert etwas eigenständig Neues, das einerseits den Konsens der beteiligten Parteien repräsentiert, andererseits aber für jede Seite eine Erweiterung und Bereicherung darstellt – entsprechend dem Charakter der ›Auslandsgermanistik‹ als integrativer Kulturwissenschaft, die in kultureller Offenheit und dynamischem Wandel über ihre Interkulturalität neue Erkenntnisziele eröffnet. Wierlacher selbst hat die besondere Kreativität des interkulturellen Dialogs herausgestellt und »die ›dritte Ordnung‹ der Interkulturalität als kreatives Milieu aktiver Toleranz« beschrieben (Wierlacher 2003b: 261f.). Die Zwischenposition beim Austausch von Kulturen wird hier als »gemeinsame Mitte« verstanden, nicht als neutraler Standpunkt zwischen den Extremen oder als Durchschnitt und Symmetrie, sondern als ›höherer Standpunkt‹, als ›dritte Ordnung‹, ein Dazwischen, das auch als Blickwinkel verstanden und akzeptiert wird. Die zwischenkulturelle Mitte ermöglicht eine kooperative Erkenntnisarbeit im Mitdenken des Anderen und Fremden und ein gegenseitiges Ernstnehmen in partnerschaftlichem Vertrauen. Ihre identitätserweiternde Kraft lässt sich mit einem Begriff qualifizieren, der aus der Geographie stammt und im vorliegenden Band thematisiert wird: Interkulturalität ist auch ein kreatives Milieu. In ihm können jene Innovationen gedeihen, in denen erst Forschung und Lehre im Rahmen eines kulturellen Gemeinschaftshandeln zum Modus eines wechselseitigen Gesicht-Geben in dem Sinne werden, in dem im Miteinander dem Anderen als einem Anderen dazu verholfen wird, zur Geltung zu kommen und sein Gesicht zu zeigen im Vertrauen darauf, dass der andere ebenso verfährt (Matthes) (Wierlacher 2003b: 262).

D AS J AHRBUCH D EUTSCH ALS F REMDSPRACHE / I NTERCULTURAL G ERMAN S TUDIES 11 Gerade das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache kann – etwa neben den zahlreichen internationalen GIG-Kongressen – als bestes Beispiel für das

11 Der Zusatz, der die häufige missverständliche Verengung auf den Bereich der Fremdsprachenvermittlung ausschließen sollte, wurde 1995 eingeführt.

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›kreative Milieu‹ der interkulturellen Germanistik gelten. Es »wendet sich an alle Personen und Institutionen, die im In- und Ausland in Lehre, Forschung, Verwaltung oder Organisation mit der Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur befasst sind« (Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1/1975: IV) und versucht deren aktuelle Probleme aufzunehmen und innovative Lösungen dafür zu finden. Besonders die Entwürfe im ersten Jahrzehnt der Theoriebildung für die neuen Bereiche und Konzepte des Fachs – wie für die interkulturelle Hermeneutik, vergleichende Kulturwissenschaft, Xenologie oder interkulturelle Kommunikation – setzten eine sehr freie und kreative Diskussion mit den Fachvertretern ganz unterschiedlicher Herkunft, auch im weiteren Umfeld frei. Dass die pragmatisch begründete kulturwissenschaftliche, interdisziplinäre und interkulturelle Öffnung der Germanistik den Widerstand der traditionellen Nationalphilologie hervorrief, verlangte konsequente neue Ideen und ein starkes gemeinsames Engagement. Schon für den Eröffnungsband des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache 1/1975 hatten die Herausgeber Beiträger aus den verschiedensten Bereichen gewonnen, die grundsätzliche Positionen in den unterschiedlichen Fachbereichen entwarfen. Der bekannte französische Germanist Pierre Bertaux betonte im einleitenden Aufsatz nachdrücklich die Notwendigkeit, eine französische Germanistik durch eine stets aktualisierte Deutschlandkunde zu ergänzen, statt sich (wie in der Kriegs- und Nachkriegszeit) auf die geruhsame Werkinterpretation einiger Klassiker zu beschränken. Die Situation der Auslandsgermanistik in den verschiedensten Ländern und die entsprechenden Diskussionen und Neuansätze zu einer länderspezifischen »interkulturellen Germanistik«, Schwerpunkt von Band 2/1976, werden ein durchgängiges Thema fast aller folgenden Bände. Ergänzt wurde die erste Bilanz durch Hermann Bausingers Überlegungen zur Problematik des traditionellen deutschen, nationalen, elitären und statischen Kulturbegriffs, den eine kulturwissenschaftliche Germanistik entschieden erweitern muss. Heinz Göhring führte in die Problematik der kontrastiven Kulturanalyse und der ›interkulturellen Kommunikation‹ ein, Dietrich Krusche stellte die Rezeptionsästhetik als wichtige Voraussetzung einer interkulturellen Literaturvermittlung vor. Der thematische Teil galt dem Ausbildungsfach Deutsch als Fremdsprache in der Bundesrepublik (auch im Blick auf Arbeitsmigranten und ihre Kinder), seiner theoretischen Begründung (Alois Wierlacher), verschiedenen konkreten Struktur- und Organisationsmodellen, Studien- und Prüfungsordnungen usw., ergänzt durch eine Dokumenta-

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tion offizieller Informationen aus der Bildungspolitik, durch Adressen der Fachbereiche und Mittlerorganisationen, Berichte über Tagungen und Projekte (und Termine) bzw. über fachliche Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Im Sinne der allgemeinen Zielsetzung der Herausgeber des Jahrbuchs: »Germanistik wird in ihrer Eigenschaft als Angewandte Philologie zu einer regionalen Kulturwissenschaft« (S. II) wurden von Beginn an auch immer schon Vertreter von Nachbardisziplinen wie Kulturanthropologie, Geschichte, Philosophie, Soziologie usw. mit einbezogen, um das neue germanistische Paradigma in seinen besonderen Problemstellungen zu entwickeln. Vor allem der thematische Teil im Jahrbuch, der vom jeweiligen Herausgeber in Eigenverantwortung zusammengestellt wurde, bot Gelegenheit, neue Konzepte auch aus Nachbardisziplinen vorzustellen – die als nicht unbedingt fachkonform hier einen offenbar gerne genutzten Freiraum fanden, auch trotz der germanistischen Abneigung gegen eine praxisbezogene wissenschaftliche Zeitschrift. Neben den zentralen Fachbereichen wie der interkulturellen Sprach- und Literaturvermittlung und der transnationalen Landeskunde wurden hier Sonderthemen vorgestellt und diskutiert wie Vergleichen und Verstehen (6/1980), Medientheorie und Mediendidaktik (7/1981), Kulturverstehen und Spiel (8/1982 ), Deutsch in der Dritten Welt (10/1984) mit verschiedenen Länderberichten aus Afrika, Südamerika usw. und alternativen Modellen einer interkulturellen Germanistik; oder die zentrale Frage nach einer interkulturellen Hermeneutik (in grundsätzlichen Aufsätzen von Alois Wierlacher und Dietrich Krusche (in 9/1983 und 10/1984) und zur Literaturforschung als Fremdheitsforschung (11/1985), auch von den Rändern her (13/1987) mit einem Vorschlag des Afrikanisten János Riesz zu einem komparatistischen Weltliteratur-Kanon (13/1987); des Weiteren das Gedächtnis (17/1991), Grenzen und Grenzerfahrungen (19/1993), Übersetzen (24/1998) oder das für das Fach so wichtige neue Konzept der Toleranz und Toleranzkultur (20/1994). Ergänzt wurde dies im Forum durch Beiträge zur Praxis, aber vor allem auch durch die regelmäßigen Berichte aus anderen Ländern über die aktuelle Situation und neue Ansätze zu einer fremdsprachlichen Germanistik – wie sie durchgehend einen wichtigen Bestandteil des Jahrbuchs bildeten (und auch im Handbuch interkulturelle Germanistik, 2003, dokumentiert sind). Schon im Jahrbuch 6/1982 und den folgenden tauchte auch eines der zentralen Themen der interkulturellen Literaturwissenschaft auf, die Erfah-

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rung und Gestaltung der Fremde in der Reiseliteratur, die in der Germanistik erst seit Ende der 1970er Jahre wieder entdeckt wurde.12 Beispielhaft wäre ferner das Plädoyer des Tübinger Volkskundlers und Ethnologen Hermann Bausinger für eine Germanistik als Kulturwissenschaft von 1980 herauszuheben, das er 1999 im 25. Jubiläumsband – im Rahmen der inzwischen auch durch die interkulturelle und transnationale Germanistik stark veränderten literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion – fast unverändert wieder aufnehmen konnte.13 Es wurde durch zwei wichtige innovative Aufsätze von Doris Bachmann-Medick zur kulturanthropologischen Erweiterung der interkulturellen Germanistik im Jahrbuch 13/1987 und 22/1996 weiter verstärkt, noch bevor etwa die Zeitschrift KulturPoetik seit 2001 das neue Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft offiziell etablierte. Als eine kreative Gemeinschaftsleistung kann die Diskussionsrunde zum Pluralismus kulturdifferenter Lektüren in Bd. 18/1992 (auf einer vom IIK Bayreuth und dem Goethe-Institut München initiierten Tagung) gesehen werden, die Erfahrungen von Germanisten in verschiedensten Ländern im Umgang mit Gottfried Kellers Novelle Pankraz, der Schmoller zusammentrug, und damit eine erste Diskussionsgrundlage für weitere Problematisierungen lieferte. Überwiegend aus Beiträgen zum Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache hat Wierlacher dann in dem Sammelband Fremdsprache Deutsch von 1980 eine erste systematische Übersicht über die Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie zusammengestellt, die in kulturübergreifender Forschung und im interkulturellen Dialog, im Miteinander kulturspezifischer Perspektiven und kulturspezifischer wissenschaftlicher Argumentation (Galtung, Clyne) zu entwickeln waren, was nach 1985

12 In 8/1982: Bernd Thum/Elizabeth Lawn-Thum zur Südsee; Willy Michel zur exotischen und regionalen Fremde; Götz Großklaus zu Reisen in der fremden Natur; Dietrich Krusche zur Fremde als Metapher in deutscher Lyrik; zur Reiseliteraturforschung vgl. man u.a. Peter J. Brenner (1989). Was weitere wichtige Themen betrifft, vgl. man auch Wierlachers frühen Hinweis auf die Kulturtechnik Lesen: Warum lehren wir das Lesen nicht? Im Jahrbuch 5/1979 und Günther L. Karchers Einführung in die Fremdsprachenlegetik in 11/1985. 13 Bausinger: Germanistik als Kulturwissenschaft in 6/1980, wieder aufgenommen in 25/1999 als: Da capo: Germanistik als Kulturwissenschaft (beides Vorträge bei nordischen Germanistentreffen).

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durch die Veröffentlichungsreihe der GIG, besonders zu den an Themen wie Das Fremde und das Eigene (1985), Blickwinkel (1996) orientierten GIG-Kongressen fortgesetzt wurde. Anlässlich des 25. Jubiläums des Jahrbuchs von 1999 wurde dessen wissenschaftliche und wissenschaftskommunikative Position rückblickend noch einmal verdeutlicht. Betont wurde vor allem die »Weltoffenheit des Jahrbuchs«, nicht zuletzt aufgrund seiner Auslandsorientierung sowie der »konzeptionellen Vielfalt des Fachs« und der allgemeinen Zielsetzung, den lange fragmentierten Arbeitsbereich Deutsch als Fremdsprache in Deutschland zu überbrücken und zugleich durch die zahlreichen Beiträge von Wissenschaftlern aus vielen Ländern der Erde den Problemhorizont für das internationale Lehr- und Forschungsgebiet stets offen zu halten. Das Jahrbuch hat die Vielfalt der Fachkonzeptionen in der globalen germanistischen Wissenschaft immer als Chance begrüßt und sich dementsprechend als ein Periodikum verstanden, das auch den weltweit unterschiedlichen Fachkontexten gebührende Aufmerksamkeit schenkt und sich im Interesse der Freiheit der Wissenschaft zugleich gegen Monopolisierungen singulärer Fachtheorien wendet, die andere Auffassungen zu behindern suchen. Es hat diesen Prinzipien folgend sowohl die germanistische Fremdsprachenphilologie der nichtdeutschsprachigen Länder als auch das Fach Deutsch als Fremdsprache in Deutschland als mehrdimensionale und interdisziplinäre Fächer zu fördern gesucht, deren Konturen sich in der wissenschaftlichen Konkurrenz und Herausbildung der besseren Lösungen schärfen und wandeln (Wierlacher u.a. 1999: 22f.).

Denn für die Entstehungsgeschichte wissenschaftlicher Fächer waren schon immer unterschiedliche Ziele, Personen und Ausgangsannahmen bestimmend – und unterschiedliche Blickwinkel, theoretische Begründungen und Praxisfelder haben ihre Entwicklung eher bereichert.14 Als Gesprächsforum zwischen den Fachvertretern im deutschsprachigen Raum und den Fremdsprachengermanisten sollte das Jahrbuch dazu beitragen, dass nicht allein die Grundsprachengermanistik zum Maßstab gemacht und keine verkür-

14 S. Albrecht Schöne beim Göttinger IVG-Kongress 1985 zur Vielfalt der weltweiten Germanistik und den produktiven Kräften des Perspektivenreichtums, und zum Lernen im »Wechseltausch«, zitiert u.a. im Jahrbuch 25 (Wierlacher u.a. 1999: 24).

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zende Vereinheitlichungen vorgenommen oder der Fachhorizont auf die beiden philologischen Komponenten Sprach- und Literaturwissenschaft beschränkt wurde. Vielmehr sollten alle Fachkomponenten und die sie verbindenden Fragestellungen und besonders Neuentwicklungen wie die kulturwissenschaftliche Xenologie oder Probleme aus dem Bereich wichtiger Nachbarfächer wie der Kulturanthropologie, der Geschichte, der Philosophie und interkulturellen Wirtschaftskommunikation berücksichtigt werden – im Sinne einer kulturwissenschaftlichen, interdisziplinären und interkulturell orientierten Öffnung der unterschiedlichen Fachkonzeptionen. Zur Sicherung der Vielfalt der Forschungs- und Lehrinteressen war nicht zuletzt die Aufmerksamkeit auf die kulturpolitische Dimension aller Sprach- und Kulturvermittlung (nicht nur auf europäischer Ebene) von Bedeutung. Die Zukunftsfähigkeit des Faches war neben der Klärung der zentralen Fachbereiche durch eine Öffnung für die großen Zeitfragen wie Grenzerfahrungen, Gedächtnis, Fremdheit, Übersetzung, Toleranz, Medien usw. zu stärken, wie sie jeweils im thematischen Teil behandelt wurden. Über die enge Begrenzung auf die eigene Disziplin hinaus beteiligte man sich an der Diskussion fächerübergreifender Fragen und transdisziplinärer Probleme wie solche der Anthropologie, der Neuorientierung der Bildungsziele, der Wissens- und Wissenschaftstheorie, der Funktion der natürlichen Sprachen in einer sich globalisierenden Wirtschaft, der Schnittstellenforschung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, der Interdependenz von Identität, Alteriät und Fremdheit, der Theorie der Interkulturalität, der Medienkulturwissenschaft und der interkulturellen Wirtschaftskommunikation usw. Dabei war es für eine produktive Wissenschaftskommunikation über disziplinäre und kulturelle Grenzen hinweg entscheidend und im ureigensten Interesse einer kulturwissenschaftlichen Disziplin, »eine interkulturell tragfähige Streitkultur zu entwickeln […], die ›von Toleranz ebenso wie von Prinzipienfestigkeit in Grundfragen geprägt ist‹ (Sarcinelli)« und sensibel für andere Konzeptualisierungen von Mensch und Welt (J. Matthes). Dass ein identisches Herausgeberteam über zwanzig Jahre lang das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache erfolgreich leiten konnte, war nur durch die konzeptionelle Gemeinsamkeit bei gemeinsamer Wahrung der Komplexität des Faches und dadurch möglich, dass von Anfang an gleichberechtigte Vertreter sehr verschiedener Komponenten und Fachrichtungen im Herausgebergremium vertreten waren: Didaktiker, Linguisten, Landeskundler und Literaturwissenschaftler, und dass alle Richtungen zu Wort kamen und in

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der Wahrung der vorgegebenen Komplexität des Faches auch zusammenhielten. Als ein weiteres Erfolgselement erschien Wierlacher das Prinzip des Jahrbuchs, im Thematischen Teil das individuelle Gestaltungsinteresse, die Fachrichtung und Handschrift des jeweiligen Herausgebers alleinverantwortlich, ohne Eingriffe zur Geltung kommen zu lassen. Und schließlich noch eine besondere Verhaltenspraxis: Die Zusammenarbeit der Herausgeber untereinander und mit dem Verlag war immer von jener aktiven und zugleich liberalen Anerkennung ihrer unterschiedlichen Sehweisen und Akzentsetzungen geprägt, die zu den Bedingungen der Möglichkeit fruchtbarer Wissenschaftskommunikation gehören (Wierlacher 1999a: 12f.).15

Gerade der Jubiläumsband 25/1999 zum Thema »Cultural Studies, disziplinäre und interdisziplinäre Kulturwissenschaft« (Wierlacher 1999b) enthält wichtige Beiträge zur Fremdsprachengermanistik in Reaktion auf die Herausforderung durch die neuen Cultural Studies, besonders in den USA und England. Mit dem Konzeptwandel in den Geisteswissenschaften wurde auch der frühere Entwurf Hermann Bausingers zu einer Germanistik als Kulturwissenschaft aus dem Jahrbuch 6/1980 wieder aktuell, der nun mit wenigen Ergänzungen da capo wiederholt werden konnte. Bausinger erinnert erneut an kulturwissenschaftliche Traditionen der Aufklärung, die von der Germanistik im 19. Jahrhundert in Anspruch genommen, jedoch durch die Beschränkung auf eine nationale historische Wissenschaft, ohne Bezug auf die gesellschaftliche Gegenwart, nicht umgesetzt wurden und zur »Deutschkunde« verkamen. Nun machen neue praktische Zwänge und Trends, die Dominanz der neuen Medien, ein erweiterter Text- und Diskursbegriff die Auflösung des national überhöhten deutschen Kulturbegriffs (und des klassischen literarischen Kanons) durch vielfältige kulturelle Milieus und die Inflation »kultureller Events« in der »Erlebnisgesellschaft«, wie insgesamt die kulturelle Komplexität in globalisierten, ethnisch inhomogenen Gesellschaften einen erweiterten Kulturbegriff und neue Konzepte interkultureller Kommunikation in einer Auslandsgermanistik erforderlich, welche »die Germanistik kulturwissenschaftlich zu verankern« (Bausinger 1980: 26) und dabei etwa die Traditionen einer vergleichenden »themati-

15 Die Herausgeberkonferenzen fanden auch häufig im privaten Rahmen in Wierlachers Haus in Walldorf statt.

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schen Literaturwissenschaft« zu übernehmen und die Landeskunde zu integrieren versucht. Ergänzt wird diese offene interdisziplinäre Diskussion durch den Blick auf eine ›Kulturraumbezogene Landeskunde‹ und ›Kulturwissenschaft‹ in der Romanistik (Hans-Jürgen Lüsebrink), bzw. auf eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft im Studiengang »Diplom-Kulturwirt« oder in der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation und des Weiteren durch Darstellungen im Forum zur Situation der amerikanischen (Jost Hermand, Theodore Ziolkowski) und der südafrikanischen Germanistik (Rainer Kussler), bzw. zu ihrem Verhältnis zur Postkolonialität in Afrika (David Simo). Die Grundsatzdiskussion wurde im folgenden Bd 26/2000 (Hg. des II. Thematischen Teils Andreas Cesana und Dietrich Eggers) mit einer imposanten Zusammenstellung von philosophischen, theologischen und kulturwissenschaftlichen Konzepten und Theorien zur Interkulturalität aus ganz verschiedenen Disziplinen weitergeführt, die dabei wie die interkulturelle Germanistik (deren Interkulturalitätskonzept Alois Wierlacher expliziert) teilweise vom Thema selbst im Ansatz verwandelt wurden: in eine interkulturelle Philosophie (Ram Adhar Mall, Franz Martin Wimmer, Gregor Paul), eine interkulturelle Theologie (Hermann Pius Siller) oder Psychologie usw. Der Bereich Zwischen den Kulturen ist ein zentrales Thema des Philosophen Bernhard Waldenfels und der Philosophie der Interkulturalität (Andreas Cesana). Eine Gewinn- und Verlustrechnung aus kulturwissenschaftlicher Sicht (Klaus P. Hansen) kritisiert die idealistische Erkenntnistheorie und die dichotomische Dialektik des Eigenen und Anderen / Fremden und betont die empirischen Formen der Fremdartigkeit und des Umgangs mit ihnen. Wolfgang Welschs Konzept der »Transkulturalität«, das »die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken« versucht, verweist auf die vielfältigen Verflechtungen, Überschneidungen und Übergänge zwischen den diversen Lebensformen im Zeitalter der Migration und der Globalisierung und wird für die weitere Diskussion ähnlich folgenreich wie die Begriffe des Postkolonialen und der Hybridität. Weitere interessante Themen der folgenden Jahrbücher sind in Band 27/2001 die Wissenschaftssprache und die interkulturelle Wissenschaftskommunikation (Hg. Konrad Ehlich) oder Aufsätze zu Kanon und Fremde (Karl S. Guthke) bzw. zu dessen Relativierung durch den Hinweis auf ganz andere außereuropäische Traditionen der Literatur und Ästhetik (Wolfgang

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Ruttkowski) oder Jörg Wormers Versuch, »Landeskunde als Wissenschaft« zu konstituieren (Jahrbuch Bd 29/2003). Mit dem Jubiläumsband 30/2004 verabschiedete sich nach dreißig langen erfolgreichen Jahren Alois Wierlacher als Gründungsinitiator und Hauptherausgeber des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies; Nachfolgerin in der Herausgabe wurde Andrea Bogner, die als frühere Assistentin Wierlachers seit Jahren schon in der Schriftleitung mitarbeitete und den Arbeitsaufwand kannte. Hier rückte auch Sabine Lambert vom iudicium Verlag nach und Barbara Dengel übernahm die Dokumentation vom ehemaligen Gründungsmitglied Kurt Friedrich Bohrer. Das politisch aktuelle Thema war 2004 Mehrsprachigkeit und die Sprachenpolitik in der Europäischen Union (Hg. K. Ehlich und H.-J. Krumm), das in Bd. 33/2007 erneut aufgenommen wurde. In Bd 31/2005 fielen die innovativen Überlegungen zur fremden Stimme (Hg. Andrea Bogner) und zu den »Deutschen Landschaften« in interkulturellen Deutschstudien (Wolf Dieter Otto) auf; im folgenden Jahr 32/2006 die Beiträge zu den Landesstudien (Hg: J. Vaillant, A. Wierlacher) oder das Leipziger Forschungsprogramm »Landeskunde als Kulturwissenschaft« (C. Altmayer). Gesine Leonore Schiewer setzte ihr Konzept von »Transdisziplinarität als Programm in der interkulturellen Germanistik« als Herausgeberin des Thementeils von 35/2009 um, im Blick auf die disziplinäre Kooperation in internationalen Feldern: Kulturwissen – Informationstechnologie – Wirtschaftspraxis, mit Beiträgen zu Internationalisierung (F.C. Seyfarth/S. Spoun), kulturelle Prägung (P. Hanenberg), spatial turn (E.W.B. Hess-Lüttich), bilaterales Kultur- und Literaturverständnis (N. Badwe), Wissens- und Handlungsfelder in China und im Westen (T. Borgard/H.J. Roth), Ethik der Informationsgesellschaft (R. Capurro), Hypertext (M. Warnke), Emotion, Empathie in und zwischen den Disziplinen (C. Breger/F. Breithaupt). Gerade diese Vielfalt der Themen – und die zahlreichen überraschenden und innovativen Einzelbeiträge wie die oben genannten – zeigen, dass trotz des zurückgetretenen großen Anregers und Initiators auch weiterhin das kreative Milieu der Zeitschrift fortbesteht; ähnlich wie im Bereich der interkulturellen Germanistik allgemein, wie nicht zuletzt das Thema der GIG-Tagung von 2010 in Göttingen beweist: »Re-Visionen. Kulturwissenschaftliche Herausforderungen interkultureller Germanistik« – gestern, heute und künftig.

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L ITERATUR Altmayer, Claus (2006): Landeskunde als Kulturwissenschaft. Ein Forschungsprogramm. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 32, S. 181-199. Bachmann-Medick, Doris (1987): Verstehen und Mißverstehen zwischen den Kulturen. Interpretation im Schnittpunkt von Literaturwissenschaft und Kulturanthropologie. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 13, S. 65-77. Bachmann-Medick, Doris (1996): Wie interkulturell ist die Interkulturelle Germanistik? Plädoyer für eine kulturanthropologische Erweiterung germanistischer Studien im Rahmen wissenschaftlicher Weiterbildung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 22, S. 207-220. Bausinger, Hermann (1980): Germanistik als Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 6, S. 17-31. Bausinger, Hermann (1999): Da capo: Germanistik als Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 25, S. 213-231. Bogner, Andrea (2001): Zur Verabschiedung von Professor Alois Wierlacher am 13. Juli 2001. In: Spektrum 3, S. 28f. Brenner, Peter J. (1989): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M. u.a. Eggers, Dietrich / Palzer, Alois (1975): Von »Deutsch für Ausländer« zu »Deutsch als Fremdsprache«. Daten zur Geschichte eines Faches. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1, S. 103-118. Elm, Theo (1981): Neue Tendenzen in der internationalen Germanistik? Zum 6. Kongreß der Internationalen Vereinigung für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft. Basel, 24.-30. August 1980. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 7, S. 310-313. Fromhold-Eisebith, Martina (2003): Wissenschaft als kreatives Milieu. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.) (2003): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 115-121. Großklaus, Götz (1982): Reisen in die fremde Natur. Zur Fremdwahrnehmung im Kontext der bürgerlichen Aufstiegsgeschichte. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 72-85.

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Guthke, Karl S. (2001): Der Kanon und die weite Welt. Das außereuropäische Fremde in der deutschsprachigen erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 27, S. 15-70. Hermanns, Fritz (1980): 2. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache. 29.-31. August 1979 in Heidelberg. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 6, S. 275-276. Holm-Hadulla, Rainer M. (2011): Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung: Konzepte aus Kulturwissenschaften, Psychologie, Neurobiologie und ihre praktischen Anwendungen. Göttingen. Hyldgaard-Jensen, Karl (1979): Bericht über die 1. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache, 24.-25. August 1978 in Heidelberg. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 5, S. 300-302. Karcher, Günther L. (1985): Aspekte einer Fremdsprachenlegetik. Zur Differenzierung von erst- und fremdsprachlichem Lesen. In Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 11, S. 14-35. Krumm, Hans-Jürgen (1978): Institutionalisierte Fremdsprachendidaktik in der Bundesrepublik und in West-Berlin. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 4, S. 256-258. Krusche, Dietrich (1982): Fremde als Metapher. Beispiele aus der deutschen Lyrik seit der Jahrhundertwende. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 86-101. Krusche, Dietrich (1985): Literatur und Fremde. Zur Hermeneutik kulturräumlicher Distanz. München. Krusche, Dietrich / Wierlacher, Alois (Hg.) (1990): Hermeneutik der Fremde. München. Lämmert, Eberhard (1969): Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft. In: Kolbe, Jürgen (Hg.): Ansichten einer künftigen Germanistik. München, S. 79-104. Michel, Willy (1982a): Exotische Fremde und regionale Fremde. Teil I: Georg Forsters Reise um die Welt und die Ansichten von Niederrhein. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 39-58. Michel, Willy (1982b): Exotische Fremde und regionale Fremde. Teil II: Entwicklungsgefälle und industrielle Fremde. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 59-71.

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Otto, Wolf Dieter (2005): Deutsche Landschaften – Ein Thema interkultureller Deutschstudien. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 31, S. 15-38. Picht, Robert (1982): 3. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache: Studienbücher Deutsch als Fremdsprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 322f. Riesz, János (1987): Komparatistische Kanonbildung. Möglichkeiten der Konstitution eines Weltliteratur-Kanons aus heutiger Sicht. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 13, S. 200-213. Ruttkowski, Wolfgang (2001): Kanon und Wert. Zur Kritik leitender Annahmen. Neun Thesen mit Kommentaren. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 21, S. 71-103. Sagmo, Ivar (1985): 4. Internationale Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 11, S. 327-328. Schiewer, Gesine Lenore (2008): Keine Krisis der europäischen Wissenschaft: Transdisziplinarität als Programm in der interkulturellen Germanistik. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache/ Intercultural German Studies 34, S. 35-50. Thum, Bernd / Elizabeth Lawn-Thum (1982): ›Kultur-Programme‹ und ›Kulturthemen‹ im Umgang mit Fremdkulturen: Die Südsee in der deutschen Literatur. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8, S. 1-38. Thum, Bernd (1985): Auf dem Wege zu einer interkulturellen Germanistik. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 11, S. 329-341. Thum, Bernd / Fink, Gonthier-Louis (Hg.) (1993): Praxis interkultureller Germanistik. Forschung – Bildung – Politik. Beiträge zum II. Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik Straßburg 1991 (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 4). München. Weidenmann, Bernd (2004): Handbuch Kreativität. Weinheim / Basel: Beltz Verlag. Weinrich, Harald: Deutsch als Fremdsprache – Konturen eines neuen Faches. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 5, S. 1-13. Wierlacher, Alois (1972): Angewandte Deutsche Philologie. In: Ruperta Carola 50, S. 88-92. Wierlacher, Alois (1975): Überlegungen zur Begründung eines Ausbildungsfaches ›Deutsch als Fremdsprache‹. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1, S. 119-136.

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Wierlacher, Alois (1979): Warum lehren wir das Lesen nicht? Ein Plädoyer zu Wahrnehmung einer Grundaufgabe fremdsprachlichen Deutschunterrichts. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 5, S. 211-215. Wierlacher, Alois (Hg.) (1980): Fremdsprache Deutsch. Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie. 2 Bände. München. Wierlacher, Alois (Hg.) (1985a): Literaturforschung als Fremdheitsforschung. Thematischer Teil. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 11, S. 83-202. Wierlacher, Alois (Hg.) (1985b): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 1). München. Wierlacher, Alois (1985c): Einleitung. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München, S. VII-XV. Wierlacher, Alois (Hg.) (1987a): Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Akten des 1. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 3). München. Wierlacher, Alois (1987b): Einführung. In: Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Akten des 1. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 3). München, S. 13-17. Wierlacher, Alois / Stötzel, Georg (Hg.) (1996): Blickwinkel. Kulturelle Optik und interkulturelle Gegenstandskonstitution. Akten des III. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik Düsseldorf 1994 (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 5). München. Wierlacher, Alois u.a. (1999): Editorial aus Anlaß des 25. Geburtstags des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 25, S. 22-27. Wierlacher, Alois (1999a): 25 Jahre Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache – Vorwort zum vorliegenden Band und Gratulatio für Ulrich Engel. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 25, S. 11-15. Wierlacher, Alois (Hg.) (1999b): Cultural Studies, disziplinäre und interdisziplinäre Kulturwissenschaft. Thematischer Teil. In: Jahrbuch

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Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 25, S. 131314. Wierlacher, Alois (Hg.) (2000): Kulturthema Kommunikation. Konzepte, Inhalte, Funktionen. Möhnesee: Residence-Verlag. Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.) (2003): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar. Wierlacher, Alois (2003a): Interkulturelle Germanistik. Zu ihrer Geschichte und Theorie. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 1-45. Wierlacher, Alois (2003b): Interkulturalität. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 257-264. Wierlacher, Alois (2003c): Kritik. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 264-271. Wormer, Jörg (2003): Landeskunde als Wissenschaft. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache / Intercultural German Studies 29, S. 435-470.

Autorinnen und Autoren

Corinna Albrecht M.A. Abteilung Interkulturelle Germanistik Seminar für Deutsche Philologie Universität Göttingen Käte-Hamburger-Weg 6 D-37073 Göttingen e-mail: [email protected] Prof. Dr. Regina Bendix Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie Universität Göttingen Heinrich-Düker-Weg 14 D-37073 Göttingen e-mail: [email protected] Prof. Dr. Andrea Bogner Abteilung Interkulturelle Germanistik Seminar für Deutsche Philologie Universität Göttingen Käte-Hamburger-Weg 6 D-37073 Göttingen e-mail: [email protected] Barbara Dengel M.A. Abteilung Interkulturelle Germanistik Seminar für Deutsche Philologie Universität Göttingen Käte-Hamburger-Weg 6 D-37073 Göttingen e-mail: [email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Engel Professor em. Institut für Deutsche Sprache, Mannheim Burgweg 20 D-64646 Heppenheim e-mail: [email protected]

Dr. Karl Esselborn Englschalkingerstr. 282 D-81927 München e-mail: [email protected] Prof. Dr. Götz Großklaus Professor em. Institut für Literaturwissenschaft Universität Karlsruhe Roggenbachstr. 22 D-76133 Karlsruhe e-mail: [email protected] Prof. Dr. Norbert Honsza Professor em. Instytut Filologii Germánskiej Universität Wrocław ul. Wiosenna 13 a PL-53-017 Wrocław e-mail: [email protected] Prof. Dr. WANG Jianbin German Department Beijing Foreign Studies University Xisanhuan Beilu 19 100089 Beijing, VR China e-mail: [email protected] Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas F. Kelletat Institut für Interkulturelle Kommunikation Lehrstuhl für interkulturelle Germanistik Johannes Gutenberg-Universität Mainz An der Hochschule 2 D-76711 Germersheim e-mail: [email protected] Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm Professor em. für Deutsch als Fremdsprache Institut für Germanistik Universität Wien Dr.-Karl-Lueger-Ring 1 A-1010 Wien e-mail: [email protected]

Prof. Dr. Dietrich Krusche Professor em. Institut für Deutsch als Fremdsprache Universität München Marre Vieille F-26110 Condorcet e-mail: [email protected] Prof. Dr. Yong LIANG Fachbereich II – Sinologie Universität Trier D-54286 Trier e-mail: [email protected] Prof. Dr. LIU Dezhang Abteilung für Interkulturelle Germanistik Universität Qingdao 308 Ningxia Road 266071 Qingdao, VR China e-mail: [email protected] Prof. Dr. Norbert Mecklenburg Professor em. Institut für Deutsche Sprache und Literatur I Universität zu Köln Albertus Magnus Platz D-50923 Köln e-mail: [email protected] Dr. Edith Michel 2 Rue Rettig F-68250 Rouffach e-mail: [email protected] Prof. Dr. Willy Michel Professor em. Deutsch als Fremdsprachenphilologie Universität Freiburg 2 Rue Rettig F-68250 Rouffach Apl. Prof. Dr. Wolf Dieter Otto Interkulturelle Germanistik Universität Bayreuth D-95440 Bayreuth e-mail: [email protected]

Prof. Dr. Hinrich C. Seeba Professor em. Department of German University of California at Berkley 620 Euclid Ave Berkeley, CA 94708, USA e-mail: [email protected] Prof. Dr. Horst Steinmetz Professor em. Vakgroep Duitse taal- en letterkunde Universität Leiden Rektor-Bremer-Str. 20 D-48599 Gronau e-mail: [email protected]

Tabula gratulatoria

CORINNA ALBRECHT M.A. PROF. DR. EVA BARLÖSIUS, UNIVERSITÄT HANNOVER DR. GERD ULRICH BAUER PROF. DR. REGINA F. BENDIX PROF. DR. ANDREA BOGNER PROF. DR. JÜRGEN BOLTEN PROF. DR. HILTRAUD CASPER-HEHNE PROF. DR. KONG DEMING, DEUTSCH-ABTEILUNG NANJING UNIVERSITÄT BARBARA DENGEL M.A. PROF. DR. LIU DEZHANG PROF. DR. MANFRED DURZAK PROF. DR. KONRAD EHLICH PROF. DR. ULRICH ENGEL DR. KARL ESSELBORN PROF. DR. DR. ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH RAINER HOFMANN PROF. DR. NORBERT HONSZA

PROF. DR. GÖTZ GROSSKLAUS IUDICIUM VERLAG GMBH MÜNCHEN ABTEILUNG INTERKULTURELLE GERMANISTIK, UNIVERSITÄT GÖTTINGEN PROF. DR. LUDWIG JÄGER PROF. DR. WANG JIANBIN PROF. DR. ANDREAS F. KELLETAT PROF. DR. IRMELA HIJIYA KIRSCHNEREIT PROF. DR. PETER KLOTZ PROF. DR. HANNES KNIFFKA DR. HEINZ LEO KRETZENBACHER PROF. DR. HANS-JÜRGEN KRUMM PROF. DR. DIETRICH KRUSCHE PROF. DR. YONG LIANG PROF. DR. PAUL MICHAEL LUETZELER, WASHINGTON UNIVERSITY IN ST. LOUIS PROF. DR. HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, UNIVERSITÄT SAARBRÜCKEN PROF. DR. NORBERT MECKLENBURG PROF. DR. WILLY MICHEL DR. EDITH MICHEL APL. PROF. DR. WOLF DIETER OTTO PROF. DR. EWALD REUTER PROF. DR. JÖRG SCHÖNERT, UNIVERSITÄT HAMBURG PROF. DR. GESINE LENORE SCHWIEWER, INTERKULTURELLE GERMANISTIK, UNIVERSITÄT BAYREUTH PROF. DR. HINRICH C. SEEBA

PROF. DR. HORST STEINMETZ DR. TAZUKO TAKEBAYASHI PROF. DR. PRAMOD TALGERI DR. WALTER FRIEDRICH VEIT PROF.DR. ZHIQIANG WANG, SHANGHAI INTERNATIONAL STUDIES UNIVERSITY JÜRGEN WILKE PROF. DR. STEPHAN WOLTING

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Lavinia Heller (Hg.) Kultur und Übersetzung Studien zu einem begrifflichen Verhältnis Februar 2017, 308 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2963-7

Julian Osthues Literatur als Palimpsest Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart Februar 2017, ca. 308 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3718-2

Elena Enda Kreutzer Migration in den Medien Eine vergleichende Studie zur europäischen Grenzregion SaarLorLux Oktober 2016, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3394-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Laura Beck, Julian Osthues (Hg.) Postkolonialismus und (Inter-)Medialität Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film Oktober 2016, 392 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2899-9

Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg.) Die interkulturelle Familie Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven (in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes) 2012, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1880-8

Thomas Ernst, Dieter Heimböckel (Hg.) Verortungen der Interkulturalität Die ›Europäischen Kulturhauptstädte‹ Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010) 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1826-6

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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