Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen: Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft [1. Aufl.] 9783839415009

Dieser Band versammelt kulturpsychologische Betrachtungen zu ausgewählten und aktuellen Themen aus Politik, Gesellschaft

207 101 1MB

German Pages 286 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung. Zu Eigenart und Zweck kulturpsychologischer Gesellschaftsdiagnosen
Die zweifache Wurzel sozial- und kulturpsychologischer Zeitdiagnosen
Zeitlose Pheromone? Zur Verwobenheit von Geschlecht, Sexualität, Natur und Kultur
Religion als Projektion. Gibt es Fortschritt in der Psychologie?
George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus als neokonservative Antwort auf den überfälligen Kampf gegen die Klimakatastrophe. Psychoanalytische Rekonstruktion der Wirkungsweise politischer Inszenierungen
Bildung im Blick auf Wissenschaft und Ökokultur?
Das Selbst als interkulturelles Kompetenzzentrum. Ein zeitdiagnostischer Blick auf die wuchernde Diskursivierung einer ›Schlüsselqualifikation‹
»Psicología del mexicano«. Zu einer prominenten indigen-psychologischen Form der Gegenwartsdiagnostik und einer möglichen Alternative zu ihr
Chinesische Befindlichkeiten. Narrative psychologische Gestaltung bei Wang Anyi
Schwierige Internationalisierung: Globalisierung und transnationale Kooperation in den Sozialwissenschaften
Autorinnen und Autoren
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Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen: Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft [1. Aufl.]
 9783839415009

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Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen

Sozialtheorie

für Jürgen Straub

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.)

Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft

Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen von Integration«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-1500-5 PDF-ISBN 978-3-8394-1500-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung. Zu Eigenart und Zweck kulturpsychologischer Gesellschaftsdiagnosen

Pradeep Chakkarath | 9 Die zweifache Wurzel sozial- und kulturpsychologischer Zeitdiagnosen

Alexandre Métraux | 21 Zeitlose Pheromone? Zur Verwobenheit von Geschlecht, Sexualität, Natur und Kultur

Anna Sieben | 39 Religion als Projektion. Gibt es Fortschritt in der Psychologie?

Jacob van Belzen | 63 George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus als neokonservative Antwort auf den überfälligen Kampf gegen die Klimakatastrophe. Psychoanalytische Rekonstruktion der Wirkungsweise politischer Inszenierungen

Hans-Dieter König | 101 Bildung im Blick auf Wissenschaft und Ökokultur?

Rainer Kokemohr | 131 Das Selbst als interkulturelles Kompetenzzentrum. Ein zeitdiagnostischer Blick auf die wuchernde Diskursivierung einer ›Schlüsselqualifikation‹

Jürgen Straub | 149

»Psicología del mexicano«. Zu einer prominenten indigen-psychologischen Form der Gegenwartsdiagnostik und einer möglichen Alternative zu ihr

Carlos Kölbl | 203 Chinesische Befindlichkeiten. Narrative psychologische Gestaltung bei Wang Anyi

Gerlinde Gild | 233 Schwierige Internationalisierung: Globalisierung und transnationale Kooperation in den Sozialwissenschaften

Doris Weidemann | 259 Autorinnen und Autoren | 283

Vorwort

Bücher brauchen ihre Zeit. Dieses Buch brauchte besonders viel Zeit, viel mehr Zeit als der Herausgeber und die Herausgeberin selbst ahnen konnten. Es brauchte auch weit mehr Zeit als wir den Autorinnen und Autoren hätten zumuten dürfen, die uns ihre Beiträge zu diesem Band vor ungefähr neun Jahren überlassen haben und deren zumeist großmütige Geduld wir ohne Frage überstrapaziert haben. Zwar gibt es Gründe für die ungewöhnlich lange Zeit, die vergehen musste, bis dieser Band nun endlich erscheinen konnte, doch ist hier nicht der Platz, diese Gründe auszubreiten. Angesichts des nun vorliegenden Buches können der Herausgeber und die Herausgeberin nun immerhin mit einer gewissen Erleichterung sagen, dass sie heute eine größere Expertise im Überstehen von unterschiedlichsten Krisen haben als noch vor Jahren. Und unter anderem von der Diagnose von Zeit als auch von der Beschreibung und Untersuchung von Krisen handelt dieses Buch. Es stimmt ja vielleicht doch, dass es keine Zufälle gibt. Inhaltlich fügt sich der Band in eine sozialwissenschaftliche, kulturpsychologische und interkulturelle Perspektive ein, die der Erstherausgeber dank eines Fellowships am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz 2010/2011 während eines äußerst anregenden Forschungsaufenthalts am Bodensee ausarbeiten durfte. Die meisten Beiträge verdanken sich Autoren und Autorinnen, die 2008 an einem Symposium aus Anlass des 50. Geburtstags unseres Freundes und Kollegen Jürgen Straub an der Ruhr-Universität Bochum teilgenommen hatten. Wenn der damalige Jubilar dieses ihm gewidmete Buch endlich in Händen hält, ist er 10 Jahre älter als damals. Dies dürfte damit einer der seltenen Fälle sein, in denen ein- und dieselbe Festschrift gleich zu zwei Anlässen überreicht wird. Wir haben das nicht so geplant, hoffen aber sehr, dass alle, die an der schwierigen und

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langwierigen Geburt dieses Bandes beteiligt waren, ihn nun gerne in Händen halten und noch lieber mit Gefallen darin lesen. Vor allem den Autoren und Autorinnen gebührt unser herzlichster Dank für ihre so gelungenen und durchweg lesenswerten Beiträge. Unser Dank gilt auch drei engagierten Helferinnen, ohne die vermutlich bis zum Erscheinen des Buches noch weitere Jahre ins Land gezogen wären. Zu allererst bedanken wir uns bei Bernadette Möhlen, die schon als Tagungsassistentin zum wunderbaren Gelingen des damaligen Symposiums beigetragen hat und an der schrittweisen Fertigstellung der druckfertigen Manuskripte tatkräftig beteiligt war. In Zwickau war es vor allem Ann-Kathrin Hörl, bei der wir uns für die redaktionelle Unterstützung herzlich bedanken. Und schließlich gilt unser Dank auch Sandra Plontke, die auf Bochumer Seite in großem Maße zu unserer Entlastung beigetragen hat. Zuletzt danken wir nicht minder herzlich dem transcript Verlag, der die Hoffnung auf dieses Buch nie aufgegeben und die Publikation auf stets freundliche und überaus unterstützende Weise begleitet hat.

Bochum und Zwickau im April 2018 Pradeep Chakkarath und Doris Weidemann

Einleitung Zu Eigenart und Zweck kulturpsychologischer Gesellschaftsdiagnosen P RADEEP C HAKKARATH

Wer einstmals Bettler war, der häuft jetzt Schätze auf; die Beamten hungern und leiden Not; die Diener lassen sich bedienen und ihre Frauen ziert der Schmuck ihrer Herrinnen; wer einstmals feine Kleider trug, geht jetzt in Lumpen und wer kein Saatgut hatte, besitzt jetzt volle Scheunen. Fremde Barbaren sind aus Asien ins Land gekommen und die Einheimischen schwinden. Der Umgang zwischen den Menschen folgt keinen Regeln mehr. Die Natur und die Umwelt sind aus dem Gleichgewicht, die Flüsse sind von treibenden Leichen vergiftet, die Wüste breitet sich aus, die Bäume sterben, Nahrung und Rohstoffe gehen zur Neige, überall ist nur Lärm und nirgendwo ist mehr Lachen. Verzweiflung, Trauer und Lebensmüdigkeit, wohin man auch blickt. In etwa so bejammert der Autor der so genannten »Mahnworte des Ipuwer« 1 vor über 3600 Jahren eine kopfstehende Welt, den Untergang aller gesellschaftlichen Ordnung und eine gefährdete Natur im alten Ägypten. Seiner wort- und bildreichen Schilderung stellt er Erinnerungen an eine noch wohlgeordnete Vergangenheit an die Seite. Er ruft dazu auf, sich an die Zeit zu erinnern, als Heiligtümer errichtet und gepflegt, als Götter, Rituale und Bräuche noch in Ehren gehalten und die Äcker gewissenhaft bestellt wurden. Und schließlich stellt er fest, woran es liege, dass die einst blühende Vergangenheit in diese welke Gegenwart umgeschlagen ist: es liege vor allem an einem Schwund

1 Siehe Hornung (1990: 83-100).

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der Autorität, nicht nur der Autorität des Herrschenden, sondern auch der sozialen Institutionen und der alten Traditionen. Mit diesen impliziten Hinweisen darauf, was zu tun ist, um die Auflösung aller Ordnung aufzuhalten, verbindet der Autor der Mahnworte den Aufruf, gegen die Feinde der Residenz zu kämpfen. In diesen inhaltlichen Aspekten, insbesondere in der anklagenden Beschreibung gegenwärtiger Zerstörung, in Ipuwers Sehnsucht nach einer noch gesunden Vergangenheit und in seiner Hoffnung auf ihre zukünftige Regeneration gleicht der Ipuwer-Papyrus einer kanonisierten altägyptischen Literaturgattung, die üblicherweise als Klageliteratur bezeichnet wird. 2 In der ungefähr zeitgleich niedergeschriebenen Klage des Chacheperreseneb wie auch in einem Jahrhunderte später formulierten Restaurationsedikt von Tutanchamun heißt es expliziter noch als bei Ipuwer, dass das Land eine Krankheit durchmache und unter schweren seelischen Gebrechen leide. Gegen die ausländischen Eindringlinge, die vor allem in vielen der älteren Chaos- und Krisenbeschreibungen immer wieder mit der Erkrankung des Landes in Verbindung gebracht werden, wird in der so genannten »Prohezeiung des Neferti« zur Prävention unter anderem ein simples Mittel empfohlen, das bis in unsere Gegenwart hinein für viele Menschen an intuitiver Attraktivität nichts eingebüßt hat: der Bau einer Mauer. Das Hauptaugenmerk der altägyptischen Heilssuche liegt allerdings auf der Rückkehr zu bewährten moralischen Grundsätzen, anständigen Manieren, gefestigten sozialen Einstellungen und klarem Rechtsbewusstsein, was in seiner Gesamtheit durch das Aussperren feindlicher Asiaten allein nicht zu bewerkstelligen ist. Das zeigt sich von frühesten Zeiten bis in die Moderne beispielsweise in der gängigen Kritik der älteren Generation am eigenen Nachwuchs, im respektlosen Verhalten der Jugend, in dem sich der Verfall einstiger moralischer Grundfesten ebenso zeige wie sich der Absturz ins zukünftige Chaos unheilvoll ankündige. Diese wenigen Hinweise erinnern an exemplarische und frühe schriftliche Belege für die historische, soziokulturelle, politische, psychologische und auch demagogische Bedeutung, die der Feststellung von gesellschaftlichen Zuständen, vor allem als krisenhaft empfundenen Phasen, vermutlich in den meisten Gesellschaften zu den meisten

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Zu den entsprechenden hier genannten Texten siehe Hornung (1990); für eine breitere historische, kontextuelle, weltanschauliche und philologische Einbettung siehe Assmann (2006).

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Zeiten gegeben wurde. 3 Seit früher Zeit, wenn auch vermutlich nicht überall, treten solche Zustandsbeschreibungen zudem als ein bestimmtes Genre literarischer Mitteilung auf und tragen somit genrespezifische Merkmale. Zu diesen Merkmalen gehört eine medizinisch am menschlichen Körper, psychologisch am menschlichen Geist und den entsprechenden Erkrankungs- und Genesungsmöglichkeiten orientierte Diagnose des Staats-, »Volks-« und Gesellschaftskörpers sowie des gesellschaftlichen Bewusstseins und damit einhergehender sozialer Entwicklungen. 4 Einer der ersten europäischen Gelehrten, der in grundlegender und vor allem für die Geschichtswissenschaften wegweisender Weise versuchte, einschneidende historisch-politische Ereignisse wie den von ihm analysierten Peloponnesischen Krieg mit Annahmen über die Natur des Menschen und darin angelegten psychologischen Faktoren in

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Gerade unter kulturpsychologisch-kulturvergleichender Perspektive wäre es übrigens interessant und aufschlussreich, das Auftreten bestimmter Typen von Gesellschaftsdiagnosen auf die eventuelle Abhängigkeit von interkulturell variierenden Zeitvorstellungen hin zu befragen. Es scheint zumindest intuitiv plausibel, dass man eher dort (vermeintliche) Krisen, Umschwünge, Veränderungen verschiedenster Art wahrzunehmen meint, wo man mit eher linearen Zeit- und Entwicklungsvorstellungen operiert und vielfach nach wie vor einem Fortschrittsmythos anhängt. In zum Beispiel indischen Denktraditionen war Jahrtausende lang ein zyklisches und sich exakter Messbarkeit wie auch psychologischer Wahrnehmbarkeit eher entziehendes Zeitkonzept prägend für historische und psychologische Analysen. Umbruchsszenarien für die indische Geschichte kamen erkennbar erst auf, als die westlich geprägte Geschichtswissenschaft und mit ihr zunächst vor allem westliche Historiker daran gingen, die indische Geschichte zu erzählen. Mit anderen Worten: Viele der kursierenden Zeitdiagnosen täten gut daran, sich nicht nur als Zeitdiagnosen zu bezeichnen (tatsächlich aber eher Gesellschaftsdiagnosen zu sein), sondern die von ihnen angelegten Verständnisse von Zeit selbst zu diagnostizieren. In der deutschsprachigen Sozialtheorie scheint mir diese Thematik ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein, obwohl Norbert Elias (1988) ihr theoretisches Potential bereits vor einigen Jahrzehnten deutlich vor Augen geführt hat.

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Zu diesem Zusammenhang und für vielfältige Beispiele seines Niederschlags in der Ideengeschichte í nicht nur, aber vor allem der europäischen Antike und des christlich geprägten Abendlands í siehe Guldin (1999).

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Verbindung zu bringen, war Thukydides. Wie unter anderem Jürgen Straub in Erinnerung ruft, ist das von Thukydides prominent gemachte Konzept der Krise (griech.: krísis), das in der antiken griechischen Medizin auch zur Bezeichnung eben »kritischer« Phasen im Krankheitsverlauf Verwendung fand, etymologisch eng mit dem Begriff der Kritik verbunden, worunter ursprünglich vornehmlich ein Urteil bzw. eine Beurteilung verstanden wurde. Diese begriffliche Verwandtschaft verweise darauf, so Straub, dass in kritischen Situationen bzw. in individuellen oder gesellschaftlichen Krisen eine besondere Art des Urteilens (griech.: krínesthai) gefordert sei, sowie »ein darin begründetes und daraus erwachsendes Handeln, das den misslichen Zustand möglichst ändert, Bedrohungen abwendet und neue Aussichten eröffnet, bereits eingetretene Schäden behebt oder lindert. Krisen verlangen, wie wir heute sagen, Krisenmanagement oder Krisenbewältigung, jedenfalls eine auf die Behebung von äußeren und/oder inneren Missständen zielende Bearbeitung der diagnostizierten (oder noch zu diagnostizierenden) Krise« (Straub 2012: 27). Verständlich wird hier, warum der insbesondere in den medizinischen und psychologischen Anwendungswissenschaften etablierte Begriff der Diagnose auch den Sozial- und Kulturwissenschaften tauglich scheint, um ihn für die Kennzeichnung einiger ihrer bevorzugten analytischen Zwecke zu gebrauchen. Metaphorischen Niederschlag findet die Herstellung solcher Ähnlichkeitsbezüge nahezu unverändert auch noch in der Moderne, bekanntermaßen etwa bei dem Altphilologen Nietzsche, beispielsweise in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit dem Titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben: »Unzeitgemäss ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich sogar glaube, dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden.« 5

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Wie die Autoren der altägyptischen Klagetexte so verschreibt auch Nietzsche als Medizin gegen jenes »Fieber« die Besinnung auf eine ganz bestimmte Moral; wie ebenfalls in den antiken Klagetexten sieht er in manchen moralischen Orientierungen dagegen nicht die Medizin, sondern den

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Nietzsche versucht sich hier an einer zeit- und gesellschaftsdiagnostischen Perspektive, die zumindest der Geste nach einem Dilemma zu entrinnen versucht, das vor ihm schon Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821 formuliert hatte, als er die Philosophie darauf verpflichtete, »das was ist zu begreifen« und zugleich festhielt, dass die Philosophie, d.h. die Sachwalterin der Vernunft, ihrerseits die »in Gedanken erfasste Zeit« sei. So ist für Hegel zwar einerseits gewährleistet, dass die Vernunft der Zeit unterworfene Gegenstände überhaupt zu erfassen vermag, doch andererseits kann sie zu ihnen nicht in eine Distanz treten, die vom Zeitgeist und seiner Kurzlebigkeit unberührt wäre. Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, so mahnte Kierkegaard (1851), ist schnell verwitwet. Wer diesem Dilemma entkommen will, dem bleibt dann nur noch die von Nietzsche artikulierte Bemühung, sich am unzeitgemäßen, d.h. vom Virus des Zeitgeistes noch nicht infizierten Blick wenigstens zu versuchen. In gewisser Hinsicht mag diese Distanzierungsbemühung durchaus derjenigen eines Arztes ähnlich sein, der sich im Falle eines Patienten um eine Krankheitsdiagnose bemüht, ohne sich selbst infizieren zu dürfen, da der Erfolg seiner Arbeit sonst ebenso gefährdet wäre wie sein Patient. Ist die Patientin aber nicht der isolierbare Einzelne, sondern die Gesellschaft als ganze und sind die Diagnostiker medizinisch ambitionierte Intellektuelle, so tragen auch sie als Teile der Gesellschaft die Krankheit bereits in sich und vielleicht muss dies so sein, um sie bemerken, die Symptome erfassen, auf ihrer Grundlage eine Diagnose und eine Prognose erstellen und schließlich – wenn für notwendig und sinnvoll erachtet – eine Therapie in Angriff nehmen zu können. Es scheinen demnach vor allem zwei Qualitäten zu sein, die den Intellektuellen die Zuversicht geben, trotz aller damit verbundenen intellektuellen Probleme in der Lage zu sein, Diagnosen ihrer Zeit und ihrer Gesellschaften vorzunehmen: zum einen ihr eigenes Leiden an der Zeit und ihrer Gesellschaft; zum anderen ihre zur Distanzierung befähigte, zumeist akademisch geschulte Vernunft, die vor allzu großen und das ganze Unterfangen infrage stellenden Nebenwirkungen schützt. Es gibt hier eine gewisse Ähnlichkeit der Selbstverständnisse von Wissenschaft und Kunst, auch wenn beispielsweise Dichter und

Krankheitsherd, die Quelle etwa einer umfassenderen »europäischen Krankheit« (z.B. KSA 3: 579).

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Schriftsteller seltener als Diagnostiker, häufiger dagegen als Seismographen ihrer Zeit bezeichnet werden und sich gelegentlich auch selbst ganz gerne so sehen (siehe etwa Hugo von Hofmannsthal 1906). Natürlich wecken die unterschiedlichen Bilder auch unterschiedliche Assoziationen: Während die medizinisch ambitionierte Gesellschaftsdiagnose einen Finger auf die physiologischen oder psychologischen Wunden legen will und dabei Gefahr läuft, sich selbst zu infizieren, registriert der seismographisch tätige Künstler tektonische Verwerfungen und Umbrüche – zumindest der Idee des Bildes nach – sachlicher, nämlich aus einer Distanz, die der Kunst ihrem Selbstverständnis nach aufgrund ihrer Freiheit der Mittel eigentümlich ist, die dem Gesellschaftsdiagnostiker aufgrund des von Hegel und Nietzsche angedeuteten Dilemmas allerdings vergleichsweise schwerer fällt. 6 Dass die gesellschaftswissenschaftliche Perspektive sich der medizinischen enger verbunden weiß als der seismographischen und dass gerade diese Ähnlichkeit in Perspektive und Vorgehensweise durchaus auch gewollt ist, macht ausdrücklich Karl Mannheim klar, der die Zeitund Gesellschaftsdiagnose als soziologische Aufgabe gewissermaßen etablierte: »Nehmen wir die Haltung eines Arztes an«, so Mannheims programmatischer Ansatz, »der versucht, eine wissenschaftliche Diagnose der Krankheit zu geben, an der wir alle leiden. Dass die menschliche Gesellschaft krank ist, steht außer Zweifel« (Mannheim 1951: 9). Das Bild von der kranken Gesellschaft, die der Heilung bedarf, zieht sich offensichtlich von frühesten Krisenbeschreibungen bis zu modernen Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen. Zweifellos erlebte dieses Bild eine Renaissance im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und zunächst vor allem in Europa, 7 im Zuge als ganz besonders und beson-

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Die Annahme, dass der Kunst ein ganz spezifischer Zugang zum Verständnis der Gesellschaft und der Welt möglich ist, findet sich in zahlreichen literarischen Stellungnahmen der Moderne. Zu den auch sozial- und kulturpsychologisch interessantesten gehört sicherlich diejenige von John Keats, in der über die Dichter gesagt wird, dass sie ohne Identität und in diesem Sinne charakterlos seien, was es ihnen ermögliche, sich auch in Ungewissheiten aufzuhalten, ohne í anders als die wissenschaftlich Tätigen í in der Vernunft und an Fakten Halt suchen zu müssen (Keats 1817).

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Für eine mögliche Teilantwort auf die Frage, warum Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen gerade auch in Europa so emsig betrieben werden, sei hier nochmal auf Anm. 3 verwiesen.

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ders tiefgreifend empfundener politischer und moralischer Krisen, aber auch damit einhergehender intellektueller Strömungen wie etwa der Psychoanalyse. Aus ihrer von ihren unterschiedlichen Strömungen unterschiedlich stark akzentuierten, aber stets medizinisch geprägtem wissenschaftlichem Perspektive auf die Pathologie des Individuums, der Gesellschaft und der Kultur wie auch auf die pathologische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und Kultur ist die Individualdiagnose ebenso schwierig wegzudenken wie die Gesellschaftsdiagnose. 8 Solche Verflechtungen und Bedingtheiten der menschlichen Existenz auf verschiedensten Ebenen und in verschiedensten Bereichen des Lebens sind auch von kulturpsychologischem Interesse, allerdings ohne auf den pathologischen Blick fixiert zu sein. In ihrer disziplinären Selbstbezeichnung kommt zum Ausdruck, dass es der Kulturpsychologie um den ganz generellen und vielfältigen Zusammenhang von Kultur und Psyche geht und dabei auch um die Frage, wie das, was jeweils als Kultur und als Psyche verstanden wird, aus dem Zusammenspiel von historischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren mit psychologischen Prozessen hervorgeht (hierzu und zum Nachfolgenden siehe auch Straub/Chakkarath 2010). Mit Jerome Bruner, einem der Begründer der modernen Kulturpsychologie, lässt sich Kulturpsychologie als eine interpretierende Psychologie verstehen, die nach den Regeln und Verfahren sucht, die Menschen bei der Konstruktion von Bedeutungen und Sinngebungen in unterschiedlichsten historischen und soziokulturellen Kontexten zu unterschiedlichsten Zwecken anwenden. Diese Kontexte, so Bruner, sind immer Kontexte der Praxis. Die Kulturpsychologie fragt, was Menschen in diesen oder jenen Zusammenhängen tun oder zu tun versuchen und welche Rolle dabei der symbolischen Welt zukommt, in die sie verwoben und verstrickt sind (Bruner, 1990). Mit Ernst E. Boesch, dem deutschsprachigen Pionier der modernen Kulturpsychologie, können wir Kultur ergänzend als ein Handlungs-

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Auf Sigmund Freud, den Begründer der klassischen Psychoanalyse, und seine diesbezüglich einschlägigen Arbeiten hinzuweisen, erübrigt sich hier; für eine Rekapitulation ihrer Nachwirkung auf spätere psychoanalytisch geprägte Diagnostiken siehe Erich Fromms Wege aus einer kranken Gesellschaft, das im englischen Original von 1955 bemerkenswerterweise The sane society heißt.

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feld verstehen, das Handlungen nicht nur induziert und kontrolliert, sondern durch sie auch ständig verändert wird. Kultur, so Boesch, ist Prozess und Struktur zugleich (Boesch 1991). Sie ist zu verstehen als ein praktisches Wissens-, Symbol- und Orientierungssystem, das dem menschlichen Handeln innewohnt und es uns ermöglicht, unserem Leben und unseren Lebenswelten Sinn und Bedeutung zu verleihen. Ein solches von simplizistischen politischen und geographischen Konzeptionen abweichendes Verständnis von Kultur verbietet es, den Menschen und die Komplexität seiner Lebenswelten auf bloße Elemente der Natur zu reduzieren und dadurch die Rolle der Kultur zu ignorieren, d.h. die Frage zu ignorieren, wie der Mensch mit seinem Denken und sonstigem Handeln seine natürliche und kulturelle Umwelt gestaltet, während er darin zugleich von der Kultur selbst geformt wird. Erst in diesem Zusammenspiel ist es ihm und seinen Mitmenschen möglich, sich selbst und andere zu positionieren, zu fördern, zu ermutigen oder zu entmutigen, zu motivieren, zu behindern, zu bedrängen, zu achten oder zu verachten, zu verletzen, zu gefährden, zu verängstigen, usw. Kulturpsychologie versteht sich folglich als eine psychologisch interessierte und in diesem Interesse sozial- und kulturwissenschaftlich vorgehende Bemühung, die darauf gerichtet ist, die inhärente Abhängigkeit aller psychologischen Phänomene von kulturellen Lebensformen, Sprachspielen, Praktiken und Diskursen – wie auch die umgekehrten Abhängigkeiten – erklärend und verstehend zu erforschen. In alledem hält die Kulturpsychologie sowohl in theoretischer wie auch in forschungspraktischer Hinsicht einiges an gesellschaftsdiagnostischem Rüstzeug parat, wenn auch Diagnosen, die eine Zeit oder eine Gesellschaft sozusagen auf den zentralen Begriff bringen wollen, angesichts der unzähligen Handlungsfelder und der vielfältigen sie konstituierenden Faktoren nicht unbedingt ihr Alltagsgeschäft sind. Die in diesem Band gesammelten Beiträge sind demgemäß nicht als pauschale und häufig sehr viele unterschiedliche Phänomene und Felder vereinnahmende Diagnoseversuche zu verstehen, wie es sie in Fülle bereits gibt, 9 sondern als kulturpsychologische Analysen von verschie-

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Was sich auf dem sozialwissenschaftlichen Markt seit einigen Jahrzehnten an Zeitdiagnosen ablöst, in neuem begrifflichen Gewande zurückkehrt, miteinander konkurriert, sich bisweilen immerhin konstruktiv ergänzt, ist kaum noch überschaubar. Von der fast schon altägyptisch inspirierten Klage im diagnostischen Genre der Posthistoire, etwa über den Untergang des

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denartigen, aber doch miteinander zusammenhängenden Aspekten unserer Zeit, unserer Gesellschaften, unserer Handlungsfelder und darin äußerst wirksamer, zum Beispiel zeit- und gesellschaftsdiagnostischer Begrifflichkeiten. Im ersten Beitrag geht Alexandre Métraux entlang von unterschiedlichen Beispielen aus der älteren und jüngeren Psychologie- und Wissenschaftsgeschichte dem Begriff der kulturpsychologischen Zeitdiagnose selbst, ihren Funktionen, Auswirkungen und gelegentlichen Merkwürdigkeiten nach. Im zweiten Beitrag illustriert Anna Sieben am Beispiel eines zeitweisen Booms in der Pheromonforschung, wie (auch) in der Wissenschaft Geschlecht, Sexualität, Natur und Kultur in häufig unreflektierter und schließlich kaum noch auflösbarer Weise miteinander verflochten sind. Jacob van Belzen widmet sich der langen und engen und nicht immer leichten Beziehungsgeschichte der Religionspsychologie und der Psychoanalyse, um etwas über die Sichtweisen dieser beiden Dis-

Abendlandes (O. Spengler), über die Ausrufung des Endes der Geschichte (F. Fukuyama), des Endes der großen Erzählungen (J.-F. Lyotard), des Endes der Welt wie wir sie kannten (C. Leggewie & H. Welzer), bis hin zur Diagnostizierung eines Unbehagens in der Postmoderne (Z. Bauman), in der Postdemokratie (C. Crouch), im Gefühlsleben (E. Illouz) oder in sozialen Beschleunigungsprozessen (H. Rosa), ist den erfolgreichsten gesellschaftswissenschaftlichen Diagnosen eigen, den Krisenherd auf den Begriff oder den Punkt zu bringen – in der Regel auf nur einen Begriff oder einen Punkt: Risikogesellschaft (U. Beck), Angstgesellschaft (H. Bude), Erlebnisgesellschaft (G. Schulze), Überflussgesellschaft (J. K. Galbraith), Multioptionsgesellschaft (P. Gross), Netzwerkgesellschaft (M. Castells), die radikalisierte Gesellschaft (E.-D. Lantermann) und der für bestimmte Gesellschaften und Zeiten typische Menschentyp, etwa der flexible Mensch (R. Sennett), das erschöpfte Selbst (A. Ehrenberg) oder der homo sacer (G. Agamben) sind dafür nur einige wenige Beispiele. – Nebenbei bemerkt: Aufzählungen wie diese, so unvollständig sie auch sein mögen, lassen einen immer wieder stutzen, dass sich in der wissenschaftlichen Community offenbar vor allem Männer zu großangelegten gesellschaftsdiagnostischen Entwürfen berufen fühlen; Frauen scheinen da zurückhaltender. Auch das wäre eine Diagnose wert.

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ziplinen auf anhaltend zentrale gesellschaftliche Phänomene, aber auch die gesellschaftliche Sicht auf diese beiden Disziplinen zu beleuchten. Unter psychoanalytischer Perspektive untersucht Hans-Dieter König tiefenhermeneutisch und kulturdiagnostisch exemplarisch die Frage, wie die Verflechtung unterschiedlicher Krisendiskurse, vor allem der Debatten zur Klimakatastrophe und zum Kampf der Kulturen bzw. zum Kampf gegen den Terrorismus in der politischen Inszenierung und Selbstinszenierung des früheren amerikanischen Präsidenten George W. Bush ihren Ausdruck fand. In seinem Beitrag zu Bildungsprozessen und Bildungsexport in Zeiten der Globalisierung und damit häufig verbundenen Universalisierungsphantasien zeigt Rainer Kokemohr auf, was alles durch solche Phantasien und den von ihnen getragenen international ausgerichteten Bildungsprogrammen unberücksichtigt bleibt, verschwiegen oder gar nicht erst gewusst wird und was die schwierigen Folgen dieser Lage für diejenigen sind, um deren Existenz und Bildung es eigentlich gehen sollte. Im Anschluss zeigt Jürgen Straub, wie eine ebenfalls im Zusammenhang mit Globalisierungsfragen vielbeschworene Debatte, nämlich die um interkulturelle Kompetenz als einer Schlüsselkompetenz der Zukunft, mit großen zeitdiagnostischen Ambitionen geführt werden kann, während sich aber bei näherem Besehen zeigt, dass zeitdiagnostische Schlagwörter häufig mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. In seinem Beitrag zur mexikanischen Psychologie als einem Fallbeispiel für eine so genannte »indigene Psychologie« befasst sich Carlos Kölbl kritisch mit dem Universalitätsanspruch der europäischnordamerikanischen Psychologie wie auch mit einigen Ansprüchen indigener Psychologien und zeigt dabei auf, wie die vordergründig wissenschaftstheoretischen Debatten zugleich immer stärker um postkolonialistisch geprägte Identitätspolitiken kreisen. Gerlinde Gilds Beitrag zeigt am Beispiel der prominenten Schriftstellerin Wang Anyi, wie literarische Erzählungen interpretativ unter philologischer und kulturpsychologischer Perspektive auf Befindlichkeiten zum Beispiel der chinesischen Gesellschaft hin analysiert werden können und was sich dabei an Gemeinsamkeiten und Unterschieden in europäischen und chinesischen Denkweisen und Selbstverständnissen zeigt.

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Im abschließenden Kapitel verweist Doris Weidemann darauf, wie eurozentrisch die vorgebliche Bemühung um Internationalisierung der Sozialwissenschaften ausgerichtet ist und welche hegemonialen Strukturen daraus resultieren; zugleich wirft sie die Frage auf, inwieweit das begriffliche und zumeist an westlichen Gesellschaften erprobte wissenschaftliche Instrumentarium überhaupt das diagnostische Potential hat, andere Gesellschaften als die eigenen wissenschaftlich kompetent und angemessen zu untersuchen. In ihrer Gesamtheit zeigen die Beiträge in jeweils variierenden Fokussierungen auf, wie unterschiedliche wissenschaftliche mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Aspekten in Verbindung stehen. Sie verdeutlichen dadurch, dass solche vielfältigen und komplexen Verbindungen, wie sie hier in exemplarischen, gewissermaßen lokalen Diagnosen herausgearbeitet werden, in groß angelegten, mitunter auch groß inszenierten und fast immer zu pauschalen Gesellschaftsdiagnosen verborgen bleiben. Für einen Arzt oder eine Ärztin, auch für einen Therapeuten oder eine Therapeutin, die um die richtige Diagnose bemüht sind, ist es jedenfalls der Blick für die Details, der die Hoffnung nährt, das Gesamtgeschehen verstehbar machen.

L ITERATUR Assmann, Jan (2006): Ma’at – Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (2. um ein Nachwort erw. Aufl.), München: Beck. Elias, Norbert (1988): Über die Zeit (Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hrsg. v. Michael Schröter), Frankfurt/M.: Suhrkamp. Fromm, Erich (1955/2006): Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung (5. Aufl.), München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Guldin, Rainer (1999): Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin. +RUQXQJ(ULN  *HVlQJHYRP1LOí'LFKWXQJDP+RIHGHU3Karaonen (ausgew., übers. u. erläut. v. Erik Hornung), Zürich: Artemis. Keats, John (1817/1968): »Letter to George and Thomas Keats, 21 December 1817«, in: J. D. Enright u. Ernst de Chickera (Hg.),

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English critical texts, 16th to 20th century. London: Oxford University Press, S. 257. Kierkegaard, Søren (1851/1922): Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen (Gesammelte Werke, Bd. 5). Jena: Eugen Diederichs. Mannheim, Karl (1951): Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich: Europa-Verlag. Nietzsche, Friedrich (1893/2004): Unzeitgemäße Betrachtungen (Berliner Ausgabe, 3. Aufl., hrsg. v. Michael Holzinger), Straub, Jürgen (2012): »Der Begriff der Krise in der Psychologie«, in Carla Meyer/Katja Patzel-Mattern/Gerrit J. Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n), Stuttgart: Steiner, S. 27-66. Straub, Jürgen/Chakkarath, Pradeep (2010): »Kulturpsychologie«, in: Günter Mey/Katja Mruck (Hg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 195-209. von Hofmannsthal, Hugo (1906/1979): »Der Dichter und diese Zeit«, in: Hugo v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden (Bd. 8, Reden und Aufsätze I). Frankfurt/M.: Fischer, S. 5666.

Die zweifache Wurzel sozial- und kulturpsychologischer Zeitdiagnosen A LEXANDRE M ÉTRAUX

1. E INLEITUNG Dies ist der Versuch, den Ausdruck ›sozial- und kulturpsychologische Zeitdiagnose‹ zweifach zu interpretieren und entsprechend zweifach zu bestimmen. Ich gehe dabei so vor: Zunächst fasse ich den bewussten Ausdruck wörtlich auf, in der Annahme, dass das, was er denotiert, in wenigstens einem Falle existiert. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, die Bedingungen namhaft zu machen, die dieser eine Fall erfüllt (und geschichtlich erfüllt haben musste, um konkret als dieser eine Fall Geltung zu finden). Diese erste Betrachtung kann jedoch eine sonderbare Erkenntnis zeitigen. Die Bedingungen der Möglichkeit ›sozial- und kulturpsychologischer Zeitdiagnosen‹, die an dem einen Fall herausgearbeitet werden, sind eventuell so beschaffen, dass sie sich nur unter außergewöhnlichen Umständen erfüllen lassen. Daraus ließe sich dann folgern, dass das, was man ansonsten als ›sozial- und kulturpsychologische Zeitdiagnose‹ bezeichnet, einer anderen Gattung, einer anderen Sparte oder einer anderen Gruppe – jedenfalls einem anderen Taxon – angehört. Und das hieße schließlich, dass sozial- und kulturpsychologische Zeitdiagnosen mal dies, mal etwas ganz anderes sind. Zur Verdeutlichung der auf diese Weise sich ergebenden anderen Bedeutung der sozial- und kulturpsychologischen Zeitdiagnose werden zwei Beispiele kurz betrachtet.

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Das Thema meines Beitrags könnte man in anderem Zungenschlag so umschreiben: Wenn der Ausdruck ›sozial- und kulturpsychologische Zeitdiagnosen‹ in den meisten Fällen nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinne zu verstehen ist, möchte man doch erfahren, in welchem Verhältnis der metaphorische Abkömmling zur Zeitdiagnose im engeren Sinne steht.

2. D IE KULTUR - UND SOZIALPSYCHOLOGISCHE Z EITDIAGNOSE AM B EISPIEL Als Aleksandr Lurija im Sommer 1931 nach eingehender Vorbereitung von Moskau gen Osten aufbrach, um in Mittelasien kulturpsychologische Nachforschungen anzustellen, wusste er nicht, was ihn dort wirklich erwartete. Die Leitidee dieser Expedition war ihm und seinen Begleitern jedoch klar. Auch in den Randrepubliken der UdSSR hatten seit der Oktoberrevolution sozio-ökonomische Veränderungen erheblichen Ausmaßes stattgefunden. Die Ende der zwanziger Jahre politisch gewollte Modernisierung der Agrarproduktion hatte in kürzester Zeit zu einer gesellschaftlichen Binnendifferenzierung oder sogar Aufspaltung geführt – derart, dass verschiedene Mentalitäten wie auch verschiedene Einstellungen zur materiellen Umwelt, zur Gesellschaft und zum eigenen Ich im raumzeitlichen Beieinander zu beobachten waren. Noch unbeantwortet dagegen waren Fragen wie: Ließ sich die allgemeine Hypothese vom Wandel des Psychischen aufgrund veränderter sozio-ökonomischer Lebensbedingungen durch Beobachtung und Experiment untermauern? Manifestierte sich der Wandel differentiell? Worin bestand der Wandel im Einzelnen? 1 Ausgangspunkt der Expedition waren also bemerkbare und bei Anwendung richtiger Objektivierungsverfahren zureichend beschreibbare Differenzen, die weder in ihrer Ausprägung und Verteilung zufäl1

Da es hier weder um die dokumentarisch begründbare Nachzeichnung der Mittelasienexpeditionen Lurijas noch, weiter unten, um die Rekonstruktion der neuropsychologischen Diagnostik geht, sondern um die Bestimmung der Struktur der sozial- und kulturpsychologischen Zeitdiagnostik, mögen allgemeine Verweise auf verwendete Literatur genügen  vgl. also Lurija (1960, 1986 und 1993), Sacks (1976 und 1986) sowie Kölbl (2006) und Métraux (2002 und 2004).

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lig streuten noch in ihrem Auftreten vereinzelte Ausnahmen bildeten. Für die Festlegung dieses Ausgangspunktes mochten lose Berichte aus dem Beobachtungsgebiet, irgendwelche offiziellen oder inoffiziellen Informationen oder Daten aus sonstigen Quellen maßgeblich gewesen sein – entscheidend war allemal, dass die Formulierung des Ausgangspunkts auf einer materiell gestützten Annahme aufruhte. Bezeichnenderweise ist gerade darüber, auf welchen Kanälen Lurija Hinweise über die sozio-ökonomischen Veränderungen in Mittelasien erhalten und zu einer sogar experimentalpsychologisch angehbaren Fragestellung umgeschrieben hatte, in der Primär- wie auch in der Sekundärliteratur so gut wie nichts zu finden. Es bleibt das, was man als Hörensagen von Mentalitäts- oder Bewusstseinsdifferenzen bezeichnen könnte, im vorliegenden Fall im Unbestimmten. Es muss im Rückblick aber als unumgehbare Anfangsbedingung gesetzt werden – man sucht ja nicht nach etwas, von dem man überhaupt nichts weiß. Die Ausmessung der Differenzen, und das heißt: die Stillstellung der Unterschiede als solcher sowie die Bestimmung der Ausprägung dieser Unterschiede, machte eine Expedition notwendig (dass daraus zwei Expeditionen in zwei einander folgenden Jahren wurden, tut nichts zur Sache). Und die gleiche Anforderung nach Ausmessung machte das Experimentieren an Ort und Stelle notwendig. Denn Denkund Wahrnehmungsprozesse lassen sich nicht einfach mit irgendwelchen Äußerungen gleichsetzen, noch ausschließlich durch anhaltendes Beobachten erforschen. Das Resultat einer Kopfrechnung mag wahr oder falsch sein, gleichgültig, ob man hier einen Trivialbegriff des Rechnens anlegt oder einen raffinierten, mengentheoretisch begründeten Begriff. Das Ergebnis der Operationen allein sagt nichts über das mentale Operieren mit Berechenbarkeiten aus. Und da bekanntlich eine kinderleichte Aufgabe wie das Addieren von 2 und 2 entweder direkt oder über das Zerlegen der 2 Zweien in jeweils 2 Einheiten und dem Abzählen von 4 Einheiten erfolgen kann (oder sogar in radikal verkürzter Form in Gestalt eines längst zur Routine gewordenen und im Gedächtnis gespeicherten Wiederholungsakts einer zuvor stets erfolgreich zu Ende geführten Operation), setzt das Begreifen des Kopfrechnens als einer intellektuellen Tätigkeit die Analyse der Geschehensverlaufsform voraus. Tätigkeiten sowie Differenzen in der Ausführung von Tätigkeiten bildeten somit das eigentliche Untersuchungsobjekt, das nicht aus der Ferne und schon gar nicht über die An-

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leitung von Gehilfen hunderte Kilometer weit von Moskau in den Blick zu nehmen war. Die zu prüfende allgemeine Hypothese richtete das Augenmerk Lurijas und seiner Mitarbeiter auf gesellschaftlich bedingte und gesellschaftlich anerkannte Formen psychischer Tätigkeiten (Operationen, Prozesse) in unmittelbarer oder mittelbarer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Faktoren (Ausbildungsgrad der Probanden, Verwurzelung in traditionellen oder nicht-traditionellen Lebensgewohnheiten, landwirtschaftliche, handwerkliche, industrielle und/oder häusliche Produktions- und Arbeitsbedingungen und so weiter). Um nun im Bild zu sprechen, die Währung, in der die Expedition geplant und durchgeführt wurde, war eine kultur- und sozialpsychologische, und zudem war sie nicht in die Währung der Individual- oder Differenzialpsychologie konvertierbar. Es ging somit nicht um Normen und Normalitäten, sondern um Formen psychischer Tätigkeiten, die einerseits dem Einzelsubjekt in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt vermittelt werden und die andererseits geschichtlich determiniert sind. In einem (antiquiert anmutenden, deshalb aber nicht unbedingt falschen) Wort: Es ging um das Bewusstsein in dessen Bestimmung durch gesellschaftliches Sein. Zur Veranschaulichung sei ein Vergleich angestellt. In der Kognitionspsychologie der Gegenwart wird beispielsweise behauptet, dass Menschen und Tiere induktive Schlüsse ziehen. 2 Ferner findet sich in diesem Zweig psychologischer Forschung die Behauptung, dass die Regeln, nach denen Organismen 3 induktive Schlüsse ziehen, die der Bayes’schen Wahrscheinlichkeitstheorie seien. Gegen diese Behauptung wird binnenfachlich auch geltend gemacht, dass induktive Schlüsse zwar gezogen würden, die Schlussverfahren aber nicht die Bayes’schen seien. Sobald eine gewisse Komplexität der Hinweisreize, auf die sich induktive Operationen richten, erreicht sei, würden Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten undurchführbar werden. Des-

2

In der Lesart von Chase/Hertwig/Gigerenzer (1998: 206): »Humans and animals alike make inductive inferences. Firefighters predict how fires will progress from cues such as smoke and roof ›sponginess‹, while peahens use the elaborateness of peacocks’ tails to infer their fitness before deciding whether to mate with them. The cues on which organisms base their inductive inferences are typically uncertain [...].«

3

So wörtlich in der in Anm. 2 zitierten Passage.

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halb kämen andere Verfahren zur Anwendung, in denen sich sozusagen die ökologische Verhaltensrationalität widerspiegele. Natürlich rekurriert man in einem Fall wie dem vorliegenden, wenn es um die Gewinnung brauchbarer Experimentaldaten geht, fast ausschließlich auf menschliche Organismen und deren kognitive Verrichtungen. Diese forschungspragmatisch begründete Vorgehensweise ändert jedoch an der Naturalisierung der Induktion nichts, die ja in der Verwendung des Wortes organism im unbestimmten Plural zum Ausdruck kommt. So lange Organismen (wirklich auch die Gefleckte Wurmseegurke, Synapta maculata, und der Feldmaikäfer, Melolontha melolontha?) überhaupt Schlüsse aus ungewissen Informationen ziehen, lässt sich ihrem Verhalten Rationalität (Zweckmäßigkeit, Erfolgsaussicht, Zielgerichtetheit) zuschreiben, gleichgültig, ob die Induktionen nach dem naturgegebenen Algorithmus in Bayes’scher Ausformulierung oder nach einem anderen naturgegebenen Algorithmus produziert werden – denn in der Charakterisierung des Verhaltens als rational unterscheiden sich die Verfechter des Bayes’schen Wahrscheinlichkeitskalküls und die Gegner desselben nicht, sofern Organismen überhaupt induktive Schlüsse ziehen. 4 Mäuse verhalten sich folglich dann rational, wenn sie aufgrund von Schlüsselreizen beispielsweise die Gefährlichkeit von Katzen erkennen, und das tun sie, wenn sie regelkonform Eindrücke aus ihrer Umwelt verarbeiten, das heißt, wenn sie bestimmte Schlussregeln anwenden. Und Elefanten verhalten sich dann rational, wenn sie die Gefährlichkeit der Menschen erkennen – und das tun sie, wenn sie die Regeln anwenden, die den Mäusen erlauben, die Gefährlichkeit von Katzen zu erkennen. Und so weiter. Als rational gilt also jedes Verhalten, das aufgrund der Anwendung von Schlussregeln angesichts ungewisser Informationen (Schlüsselreize) diesen oder jenen verhaltensrelevanten Schluss zieht. Dieser kursorisch geschilderte Ansatz geht von einer universalistischen Prämisse 5 aus, die je nach Fragestellung durch Benennung von Randbedingungen und von modulierenden Faktoren ergänzt wird. Von geschichtlichen oder kulturellen Determinanten, die sich formgebend auf die Handhabung induktiver Operationsregeln auswirken, darf unter

4

Zum Thema der gegensätzlichen Auslegung induktiver Operationen vgl.

5

Das heißt, dieser Ansatz geht von dem organismisch bedingten Operieren

Gigerenzer (2001: 117-120). mit Induktionsregeln aus.

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den Vorgaben eines organismisch verfassten Ansatzes nicht die Rede sein. Denn das würde ansonsten den Gesetzmäßigkeiten der Evolution als dem Urgrund der universalistischen Prämisse widersprechen. Was nun, wenn sich jemand der Anwendung von Schlussregeln strikt widersetzt, das Induktionsspiel nicht mitmacht und nicht umlernen will, wie jener usbekische Analphabet namens Abdurachman, den Lurija im Verlauf seiner Expedition untersuchte? Diesem Probanden wurde folgende syllogistische Aufgabe gestellt: Im hohen Norden, wo Schnee liegt, sind die Bären weiß. Novaja Semlja liegt im hohen Norden, und dort ist immer Schnee. Welche Farbe haben dort die Bären? Der Proband antwortete: »Es gibt verschiedene Tiere.« Woraufhin die Aufgabe wiederholt wurde. Antwort: »Ich weiß nicht, ich habe mal einen schwarzen Bären gesehen, andere noch nicht [...] Jede Gegend hat ihre Tiere; wenn die Gegend weiß ist, sind sie weiß, wenn sie gelb ist, dann sind sie gelb.« Der etwas ungeduldig gewordene Versuchsleiter ergriff wiederum das Wort: »Nun, und auf Novaja Semlja haben die Bären welche Farbe?« Antwort des Probanden – beinahe die usbekische Weisheit eines bekannten Wittgenstein’schen Wahrspruchs –: »Wir sprechen nur über das, was wir gesehen haben, von dem, was wir nicht gesehen haben, reden wir nicht« (Lurija 1986: 129f.). Dieser Proband war nicht der einzige, der sich bei der Aufforderung, Schlüsse aus gegebenen Prämissen 6 zu ziehen, nach eben diesem Muster verhielt. Einem gewissen Irgaš, dreißig Jahre alt, zuvor Landarbeiter, zum Zeitpunkt der Untersuchung Bauer im Dorf Jardan lebend, wurde der Syllogismus »Baumwolle wächst nicht, wo es kalt ist, und in England ist es kalt. Wächst dort Baumwolle oder nicht?« vorgelegt. Der Proband antwortete mit den Worten »Ich weiß nicht, ob es dort Baumwolle gibt oder nicht.« Der Versuchsleiter: »Und was, meinen Sie, ergibt sich aus meinen Worten?« Der Proband: »Wenn es dort feucht ist und Schnee liegt, gibt es natürlich keine.« Das zeigt, dass die Aufgabe nicht direkt gelöst wurde, sondern aufgrund einer Umformulierung der Ausgangsbedingung, sodass nicht erkennbar ist, aufgrund welcher Operationen die Antwort tatsächlich zustande kam. Die Weigerung, an dem Denk- und Sprachspiel des Schlussfolgerns teilzunehmen, machte sich übrigens beim gleichen Probanden am Fall des Eis-

6

Prämissen können in diesem Fall als ungewisse Informationen (entsprechend dem von Gigerenzer vertretenen Ansatz) angesehen werden, denn es geht um etwas, das durch keinen Augenschein bestätigt ist.

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bären-Syllogismus wiederum bemerkbar. »Was für Bären gibt es im Norden?« fragte der Versuchsleiter. Irgaš zum Versuchsleiter: »Sie haben sie gesehen, Sie wissen es. Aber ich habe sie doch nicht gesehen, wie kann ich das dann wissen?« Der Versuchsleiter: »Und nach dem, was ich sagte, was denken Sie da?« Irgaš: »Ich habe noch keine gesehen, wie kann ich es da sagen?« Sowohl beim Schlussfolgern wie auch bei Aufgaben der Begriffsbestimmung, des Klassifizierens von Alltagsgegenständen, des Gruppierens geometrischer Figuren nach Ähnlichkeitsmerkmalen sowie bei der Selbstwahrnehmung und der Selbstanalyse zeigte es sich, dass die von Lurija und seinen Mitarbeitern untersuchten Probanden ohne Schulbildung anders dachten, anders wahrnahmen, anders kategorisierten, logisch anders operierten als ihre Altersgenossen mit Schul- und Berufsausbildung. 7 Alles in allem ließ sich feststellen, dass Abdurachman, Irgaš und die anderen, sehr ähnlich sich verhaltenden Probanden, eigentlich nur nach Augenschein handelten, an Konkretem Orientierung suchten, sodass ihnen Sachverhalte, die sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, fremd, inoperabel, nicht fungibel blieben. Verhielten sich diese Probanden nun wie irrationale, dumme, einfältige, zurückgebliebene, verschrobene, uneinsichtige Leute, nur weil sie sich handelnd von hochgebildeten Experimentalpsychologen unterschieden? Oder ist es nicht einfach anders um sie bestellt, und zwar auf unerwartete Weise anders als es unsere Erfahrung nahelegt? Anders gewendet, was ist denn irrational an der Maxime, nur über das zu sprechen, was man gesehen hat, und warum sollen Operationen irrational sein, die nicht unbedingt nach unseren Spielregeln vollzogen werden?

3. Z EITDIAGNOSEN STRUKTURELL

BETRACHTET

Ohne Zweifel hatte Lurija ungewöhnliches Forscherglück. Denn die an psychischen Prozessen in Erscheinung tretenden Andersheiten konnten innerhalb nur einer Gesellschaft an wenigen Orten in einem geringen geografischen Umkreis ohne allzu großen Aufwand erfasst werden. Dieser Umstand war einem geschichtlichen Prozess geschuldet. Unter-

7

Auf die Beschreibung der Zwischenstufen zwischen der Mentalität von Probanden gänzlich ohne Schuldbildung und derjenigen von Probanden mit Schul- und Berufsausbildung wird hier mit Absicht verzichtet.

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schiedliche Reaktionen auf ungewisse Information  mal durch Ablehnung, induktive Schlüsse überhaupt zu ziehen, ein andermal durch die als selbstverständlich angesehene Anwendung eines erlernten Schlussverfahrens  traten an Menschen zutage, die in häufigem gesellschaftlichen Austausch standen, sich ohne Übersetzer zu verständigen vermochten und in ein und demselben politischen System lebten. Nur hatten die einen eine traditionelle, gleichsam vor-industrielle Sozialisation erfahren, andere dagegen eine für Industriegesellschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristische Sozialisation. Lurija führte die Untersuchungen also mitten in einem Kulturwandel durch, mitten in der Transformation mentaler Fertigkeiten und Prozesse, die durch den Wandel der Lebensbedingungen verursacht worden war. Manifest wurde diese Transformation in der Gleichzeitigkeit verschiedener Formen psychischer Prozesse oder Funktionen. Damit waren sowohl die notwendigen wie auch die zureichenden Bedingungen einer sozial- und/oder kulturpsychologischen Zeitdiagnose im eigentlichen Wortsinne erfüllt. Bleibt außerdem die Frage, inwiefern dieser eine Fall sozialund/oder kulturpsychologischer Zeitdiagnosen strukturell beispielsweise mit neuropsychologischen Diagnosen übereinstimmt. Die von Oliver Sacks und zuvor von Lurija erarbeiteten Fallgeschichten von Störungen – Aphasien, Apraxien, Achromatopsien, Ataxien und was es sonst noch an Ausfällen geben mag, deren Namen mit einem Alpha privativum beginnen – sind deshalb so informativ, weil sie nebst einer Beschreibung der Beeinträchtigungen oder des Wegfalls von Funktionen eine möglichst genaue Ätiologie enthalten. So kann man sich vom Zustand eines Menschen, dessen Fertigkeiten aus den Fugen geraten sind, ein anschauliches Bild machen. Und darüber hinaus lassen die Fallgeschichten erkennen, wie sich Ausfälle in ihrer Auswirkung auf Handeln, Fühlen, Denken und/oder Wahrnehmen eines Menschen im Verlauf der Zeit verändern. Man erfährt also, wie Hirntraumata kompensiert werden, wie Patienten gelebte Unmöglichkeiten überwinden, wie sie das Potential noch vorhandener, latenter Möglichkeiten nutzen und wie sie für sich neue, andere Handlungsspielräume auftun. Die Fallgeschichten sind übrigens nicht deshalb so informativ, weil sie einem die Hoffnung lassen, dass es einem in einer vergleichbaren Situation ähnlich ergehen könnte  man vergisst zu oft, dass die meisten von Lurija, Sacks und anderen Autoren diagnostizierten Ausfälle

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tödlich endeten. Erhellend sind die Fallgeschichten eigentlich deshalb, weil sie die Veränderungen des Syndroms in Abhängigkeit von Umweltanforderungen wie auch in Abhängigkeit von therapeutisch nahegelegten Handlungsanweisungen aufzeigen. So ergeben sich auch diagnostisch relevante Veränderungen dann, wenn beispielsweise ein von motorischen Ausfällen Geplagter plötzlich weniger mühsam geht, weil man ihm Hilfsreize auf den Boden legt, an denen er seinen Gang zu orientieren weiß. Oder etwas genauer, der Gang des Kranken sieht zunächst so unmelodisch, so verkrampft, so stockend aus, als würde die Steuerung der Lokomotionsorgane durch den Willen des Subjekts versagen, oder als wolle das Subjekt in melodisch aussehendem Gang vorankommen, während in Wirklichkeit das Gehirn gerade dies nicht mehr zu leisten vermag. Sobald der Gang jedoch den Hilfsreizen folgt, sieht es so aus, als werde er von außen gesteuert. Das Subjekt der Lokomotion nimmt die Papierschnipsel als Wegmarken in Augenschein, verlagert die Aufmerksamkeit von den Fortbewegungswerkzeugen auf die vorausgesehene Wegstrecke und lässt sich beim Gehen sozusagen mitnehmen. Doch dabei ist, von den organ-neurologischen Befunden zu urteilen, alles so beschaffen wie zuvor. Das Beispiel des von Hilfsreizen geleiteten Gehens macht deutlich, worauf es bei neuropsychologischen Diagnosen in der von Lurija und Sacks bevorzugten Lesart ankommt. Eine einzelne oder ein Ensemble psychischer Funktionen weist zu einem Zeitpunkt t0 ein bestimmtes oder verschiedene bestimmte Merkmale auf. Zu einem späteren Zeitpunkt t1 weist dieselbe psychische Funktion oder dasselbe Ensemble psychischer Funktionen Änderungen an einem oder an mehreren Merkmalen auf. Entscheidend ist also am Beispiel der Lokomotion nicht die Läsion des Nervensystems allein, sondern vielmehr der Umstand, dass sich die Läsion mental mal in dieser, mal in jener Ausprägung bemerkbar macht. Es geht somit um Veränderungen des lokomotorischen Handelns, die zwischen t0 und t1 eingetreten sind. Veränderungen im Handeln eines Menschen sind allerdings, wie die Erfahrung lehrt, zumeist nicht durch Läsionen bedingt, sondern durch Lernprozesse, gleichviel, welche Theorie man heranzieht, um die Lernprozesse auf den Begriff zu bringen. Die Veränderungen erweisen sich folglich als geschichtlich. Dieses Verhalten, dieses Handeln, dieses Ensemble von Funktionen, diese eine Funktion, in einem Wort: Eine bestimmte, in den Blick genommene Entität verändert sich zwischen t0 und t1 und verändert sich möglicherweise wiederum zwischen t1 und tn, und zwar

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so, dass die in t0, t1 ... tn beobachteten Merkmale eine übersichtliche Menge bilden. 8 Neuropsychologische Diagnosen in der soeben kurz geschilderten Lesart wie auch sozial- und/oder kulturpsychologische Zeitdiagnosen nach dem von Lurija vorgestellten Modell unterscheiden sich von Diagnosen im Sinne von ›Momentaufnahmen‹ dadurch, dass sie die Entität, deren Zustände sie feststellen, auffassen als etwas, das sich in eine ungebrochene Zeitreihe einschreibt. Meistens werden im Labor untersuchte Verhaltensformen, psychische Funktionen, Handlungsweisen usw. planmäßig aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang herausgelöst. Dadurch ergeben sich zwei oder mehr diagnostisch verwertbare ›Momentaufnahmen‹, zwischen denen jedoch kein zwingender geschichtlicher Zusammenhang zu bestehen braucht. Es wird im Labor lediglich untersucht, ob sich zwischen dem Zeitpunkt vor dem experimentellen Eingriff und dem Zeitpunkt nach dem Eingriff eine Veränderung von der erwarteten Art ergeben hat oder nicht. Hierbei geschieht aber etwas anderes als bei zeitdiagnostischen Verfahren. Charakteristisch ist für das Experiment die diagnostisch erfasste, zwischen t0 und t1 eingetretene, von dem im Versuchsplan vorgesehenen Eingriff bedingte Veränderung. Das Gesamtgeschehen besitzt selbstredend seine Geschichte. Nur ist es die Geschichte des Versuchs, nicht die der Entität, die dem Versuchsplan unterworfen wird. Werden dagegen Veränderungen an einer Entität (im vorhin definierten Sinne) zwischen einem Zeitpunkt t0 und einem oder mehreren späteren Zeitpunkten t1 ... tn in der historischen Kontinuität erfasst, liegt eine Zeitdiagnose im engeren Wortsinn vor.

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Das Verschwinden eines Merkmals macht aus einer übersichtlichen Menge noch lange keine unordentliche. So gerät etwa die Geschichte einer Gruppe (Entität mit den und den Merkmalen zum Zeitpunkt t0) nicht schon dadurch zu einem unübersichtlichen Etwas mit diffuser Geschichte, weil ein Gruppenmitglied gestorben ist, will sagen: Weil ein Merkmal der Entität zum Zeitpunkt t1 nicht mehr vorhanden ist.

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4. Z EITDIAGNOSEN IM

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ÜBERTRAGENEN

S INN

In psychoanalytischen und psychoanalytisch interessierten Kreisen heißt es seit einigen Jahren, in westeuropäischen Gesellschaften werde das Überich durch das Ich abgelöst. Symptomatisch für diesen Wandel seien die lustbetonte Selbstbezogenheit der Individuen, schwächelnde Bindungsfähigkeit, gesteigerte Aggressivität im gesellschaftlichen Verkehr, um nur einige Merkmale zu nennen. Für diese Diagnose mag einiges sprechen. Ob sie aber auch stimmig ist, sei dahingestellt. Denn es kommt hier nicht darauf an, ob sich die Psychoanalyse irrt, 9 sondern darauf, auf welchem Wege die Diagnose sich ergeben hat. Klinische Beobachtungen, Film- und Belletristikauslegungen, andere, mehr oder weniger heterogene Daten lassen erkennen, heißt es, dass  um es schlagwortartig auszudrücken  allenthalben Erregung statt Bedeutung gesucht werde, dass die Gier nach Erregungen vorherrsche, dass Lust auf vornehmlich körperlich manifest werdende Abwechslungen von einer ansonsten eher drögen Lebenswelt bestehe. Systematik ist in der psychoanalytischen Daten- und Erkenntnisgewinnung indes nicht erkennbar. Mal richtet sich die Beobachtung auf diese, mal auf jene bemerkenswerten Aspekte; mal werden die Beobachtungen unter den Vorzeichen eines psychodynamischen, mal unter denen eines soziologischen Ansatzes decodiert; mal wird auf einen bloßen Trend, mal auf eine die Wurzeln des gesellschaftlichen Lebens berührende Transformation geschlossen. 10 Vor allem aber bleibt die geschichtliche Vergangenheit reichlich unbestimmt. Ein Charakteristikum der Diagnosen Lurijas, und zwar sowohl der kultur- wie auch der neuropsychologischen  die möglichst genaue Bestimmung eines Zustands durch Erfassung von dessen Merkmalen zum Zeitpunkt t0 und die möglichst genaue Bestimmung des oder der nachfolgenden Zustände durch Erfassung der entsprechenden Merkmale in t1 ... tn , geht der psychoanalytischen Zeitdiagnose von der Ablösung der Bedeutung durch Erregung ab. Man kann diesen Fall somit als ›ungefähre‹ Zeitdiagnose ansehen, als Zeitdiagnose im metaphorischen Wortsinn. Dies trifft nicht weniger auf etliche andere Zeitdiagnosen zu, etwa auf die Diagnose der sozialen Beschleunigung

9

Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich irrt; man muss ihr allerdings auch zugutehalten, dass sie sich gelegentlich nicht irrt.

10 Siehe beispielsweise Schneider (2005) und Türcke (2005).

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(vgl. Rosa 2005). Was ihnen methodisch als Defizit angekreidet werden mag, machen derartige Zeitdiagnosen allerdings durch soziale Wirksamkeit wett. Denn sie lassen gesellschaftliche Widersprüche aufscheinen, legen den Finger auf subkutan stattfindende Veränderungen des Sozialkörpers, bestärken Ahnungen und Mutmaßungen der einen oder besänftigen Ängste der anderen, ziehen politisch gerade korrekte Auffassungen in Zweifel, entlarven manches Gerede über Gruppen als Phrasendrescherei, und so weiter, und so fort. Und vermutlich sind just die ungefähren Zeitdiagnosen, die ihr Irritations- oder, im Gegenteil, ihr Besänftigungsvermögen aus der Unschärfe ihres Verfahrens beziehen, die sozial- und kulturpsychologisch interessanten  nicht zuletzt auch deshalb, weil solche Zeitdiagnosen in die Zustände, die sie beschreiben, mittelbar durch die Verlautbarung ihrer Beschreiber eingreifen können. Zur Veranschaulichung des zeitdiagnostisch Ungefähren diene eine am 28. April 1925 in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Die »Girls« erschienene Skizze Joseph Roths (Roth 1976). »Die ›Girls‹ sind jüngere und ältere Mädchen in Schwimmkostümen, die augenblicklich die Varieté- und Revuebühnen Europas, die etwas auf sich halten, in trockene Strandbäder verwandeln. Die ohne Zweifel anmutig gebauten Geschöpfe können Beinchen schleudern, auf Seilen klettern, auf Händen gehn. Sie sind wie eine Übersetzung des männlich ernsten Militärexerzierens ins Weibliche. Ihre Spiele sind Kompositionen aus Militarismus und Erotik. Die ›Girls‹ wurden jenseits des Ozeans, in Amerika, erfunden, wo jeder zweite Mann und Bürger das Urbild des ›sittlichen Normalmenschen‹ repräsentiert: wo also die Schlüpfrigkeit sich durch eine Verwandtschaft mit ertüchtigenden Tendenzen der Gemeinschaft legitimieren muß; wo die Musik der Sünde auf heiligen Instrumenten, wie Orgel und Militärtrompeten, gemacht wird; und die Triebe übergeleitet werden in tugendhaften Patriotismus. Die wachsende Popularität der ›Girls‹ in Europa beweist unsere stark fortgeschrittene Amerikanisierung. Die ›Girls‹ vollführen, obwohl sie ebenso wenig anhaben wie ›Nackttänzerinnen‹, keine Nackttänze, sondern solide körperliche Ertüchtigung. Ihre Nacktheit dient nicht der Lust, sondern der Anatomie: Experimente des Anschauungsunterrichts von der Entwicklung der weiblichen Muskulatur. Sie arbeiten im Dienste der Hygiene, nicht der Erotik. Ihre Nudität ist prüde. Ihre Schwimmkostüme sind weniger lockend als Nonnengewänder. Von ihren Tänzen geht ein frischer, morgenkühler Hauch von Schichts Kernseife, von

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Schwüle tötender Sauberkeit und kalten Abreibungen aus. Sie sind wie die süßen Fabelwesen der Liebe beim großen Reinemachen der Hörselberges. Es sind alle ›gutbürgerliche‹ Mädchen aus ›besseren Familien‹  und sie legen Wert darauf, daß es in der Zeitung gedruckt werde. Ich brauche es nicht erst zu lesen. Ich sehe es den Tänzen an. Sie enthalten nichts, was dem Anstand und dem Gedeih der Familie schaden könnte. Jeder fromme Stadtrat könnte seine Tochter in den Turnverein der ›Girls‹ schicken. Unsittlich sind nur die Besucher, die mit lüsternen Vorstellungen zu den GirlAttraktionen wandern; jene Normalmenschen aber, deren ewiger Pubertät auch ein anatomischer Bilderbogen noch Nahrung gibt. Es gehört ein riesiges Quantum Normalmenschlichkeit dazu, sich durch einen tanzenden Kordon angeregt zu fühlen, der einem menschlich-weiblichen Tausendfüßler gleicht. (Ein Kenner der Gegenwart hat seine jüngste gespielte Operette ›Tausend süße Beinchen‹ genannt. Welch eine Lockung! Für eine Sinnlichkeit berechnet, die ›aufs Ganze‹ geht: eine Quantitätssinnlichkeit, die das Individuum gar nicht berührt.) Es kann also den ›Girls‹ gar nicht schwerfallen, ›sittlich‹ zu bleiben. Ein amerikanischer Pastor begleitet sie. Sie gehen in Doppelreihen spazieren. Am Abend, gleich nach der Vorstellung, schlüpfen sie in ihre engelreinen Bettchen und falten die Händchen. Es soll vorkommen, daß hier und dort ein Freier sich meldet und bei der älteren Tugendhüterin, der Pensionsmutter der Girls, um zwei Hände anhält. Er kann sogar mit einer Mitgift rechnen. Er bekommt eine brave, sittliche Hausfrau, die den Morgenkaffee mit gymnastischen Übungen zubereitet, Kinder hygienisch gebiert und zu Soldaten erzieht und noch vor zehn Uhr schlafen geht und eine so strenge Hausordnung führt, daß es dem Mann nicht mehr möglich ist, sich an Girl-Vorstellungen zu ergötzen...«

Verschiedene zeitdiagnostisch wichtige Motive klingen in dem kurzen Text an. Zunächst ist das Motiv der fortschreitenden Amerikanisierung zu nennen  ein im öffentlichen Diskurs seit den 1880er Jahren präsentes, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vehement verhandeltes Thema. Nur erscheint in der Skizze Roths dieses Motiv sozusagen in einer dem Variété entlehnten Verkleidung. Die im Gleichschritt tanzenden, im Gleichtakt Beine und Arme bewegenden, das turnerisch noch erträgliche Ausmaß an Nacktheit zeigenden Bühnennixen verkörpern den Amerikanisierungstrend. Roth verzichtet auf analytische Gediegenheit zugunsten einer mühelos verstehbaren Metonymie: Die Girls selbst veranschaulichen und die Rede von den Girls benennt ei-

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nen Mentalitätswandel, den Roth in feuilletonistischer Knappheit auch für beweisfähig hält. Wiederum nur durch Anspielung, die für die meisten Leser der Frankfurter Zeitung indes leicht zu decodieren ist, verdichtet Roth seine Zeitdiagnose durch Berufung auf einen »Kenner der Gegenwart«, um so das wahre Ausmaß seiner eigenen Sachkenntnis zu dokumentieren. Hinter dem Kenner verbirgt sich Walter Bromme, der Tonsetzer der Operette Tausend süße Beinchen (Libretto von Georg Okonkowski und Willi Steinberg). Etwa zwei Jahre vor der Publikation von Roths Text stand zudem Casino-Girls als op. 17 von Eduard Künneke (Libretto von Fritz Friedmann-Frederich und Georg Okonkowski) auf dem Spielplan des Berliner Metropol-Theaters. Der Umstand, dass die Amerikanisierung nicht an Verfahren der Effizienzgewinnung (Fordismus usw.) ins Bewusstsein gerufen wird, sondern an Phänomenen der Unterhaltungsindustrie, verdeutlicht ein weiteres Mal das Roth’sche Talent für zeitdiagnostische Schlagfertigkeit. Man kann dies auch so wenden: Sollte noch nicht bemerkt worden sein, dass es in Europa bald auch schon zugeht wie in den USA, möge man doch einfach ein Variététheater besuchen und sich eine Show der Ziegfeld Girls auf Tournée oder eine Girl-Operette ansehen. Ein weiteres Motiv der ungefähren Zeitdiagnose bildet die Verbindung von militaristischer Präzision der Muskelarbeit und verschämter, schicht-seifig gereinigter Scheinerotik  in der Werbung der damaligen Zeit hieß es zur Schicht-Seife (»Nur echt mit Namen ›Schicht‹«): »Schont die Wäsche! Erspart Geld, Zeit, Mühe und Arbeit und schont somit die Gesundheit!« Auf Sauberkeit ist die Girl-Kultur angelegt; sie wirkt damit nicht abstoßend auf Leute, die sich und vor allem andere gerne züchtigen. Wenn Girl-Formationen auf der Bühne in getakteter Tüchtigkeit ihren männlichen Vorbildern nacheifern, werden in der Nachkriegszeit Erinnerungen an das zuvor leidlich bekannte Exerzieren im Kasernenhof und an die Militärparaden, die Totentänze des frühen 20. Jahrhunderts, wachgerufen. Bezeichnenderweise hebt Roth in seiner Skizze eher den in synchronen Gebärden zum Ausdruck kommenden Wiederholungszwang hervor als die Entschärfung eines an sich aggressiven Verhaltens in der Ausführung durch sauberes und hochanständiges weibliches Personal. Der kulturdiagnostische Fingerzeig richtet seine Spitze auf Makabres. Die Auslegung des kurzen Texts Joseph Roths kann hier schadlos zum Abbruch kommen. Wirft man eilig einen Blick auf den geschicht-

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lichen Zusammenhang, in dem die zeitdiagnostische Girl-Skizze steht, ist die Annahme keineswegs abwegig, dass ihr Autor seinerseits durch eine ungefähre Zeitdiagnose auf den Stoff diagnostischer Tätigkeit gebracht wurde. Fritz Gieses Buch über die Girlkultur (vgl. Giese 1925) war mit Bestimmtheit vor dem Abdruck von Roths Text in der Frankfurter Zeitung erschienen; immerhin hatte Kurt Tucholsky eine ausschließlich sprachkritisch gemeinte Besprechung von Gieses Monografie in der Weltbühne am 6. April jenes Jahres veröffentlicht (vgl. Tucholsky 1925). Nicht auszuschließen also, dass Roth entweder durch diese Rezension oder durch die Schrift Gieses zu zeitdiagnostischen Gedanken angeregt wurde. Und im Rückblick ist sogar erkennbar, dass Roth  übrigens nebst Siegried Kracauer und anderen, hier namentlich übergangenen Autoren  ein sozial- und kulturpsychologisches Objekt angefasst hatte, das einige Jahrzehnte später als historisch signifikant, vor allem jedoch als symptomatisch für das frühe 20. Jahrhundert angesehen wird (vgl. Berghaus 1988 und Schlich 2008). Es ist für die Belange dieses Beitrags gleichgültig, ob Roth einem sozial- und kulturpsychologischen Trend aufsaß oder an der, wie man sagen könnte, Akutmachung eines Mentalitätswandels beteiligt war. Seine ungefähre Zeitdiagnose, die er in den unruhigen Jahren der Weimarer Republik stellte, zeigt allemal, dass Hinblicken und Hinhören, wenn sie sich denn sprachlich geschickt umsetzen, gesellschaftlich wirksame Katalysatoren werden können. Solche sozial- und/oder kulturpsychologischen Zeitdiagnosen nehmen sich dann zum Teil wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen aus: Sie gestalten die Symptome mit, an deren Dechiffrierung sie beteiligt sind. Zum Abschluss dieser Überlegungen stellt sich nicht zuletzt die Frage, wie sich eine Zweiheit sozial- und/oder kulturpsychologischer Zeitdiagnosen wohl hat ergeben können. Diese Frage drängt sich sowohl aus metawissenschaftlichen Gründen wie auch in Anbetracht der Figur Fritz Gieses wie von selbst auf. Auf eine auch nur im Ansatz schon ausreichende Antwort wird hier verzichtet. Denn nicht das geschichtliche und methodologisch plausible Darum steht im Kern der Betrachtung, sondern das schlichte Dass. Als Psychotechniker beherrschte Fritz Giese die seinerzeit für gut befundenen Verfahren psychologischer Experimentalforschung. Seine Monografie über die Girlkultur war allerdings nicht dem Genre experimentalpsychologischer Texte verpflichtet; vielmehr verdankte sie sich ihrer Form nach, wohl nicht ganz zufällig, dem Genre des Essays.

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Der Gegenstand, mit dem sich dieser Autor beschäftigte, ließ sich experimentalpsychologisch nämlich nicht verhandeln. Oder genauer: Wäre der Gegenstand experimentalpsychologisch in die Zange genommen worden, wäre daraus kein Text über die Girlkultur und über Differenzen in der Mentalität dies- und jenseits des Atlantiks geworden. So manifestierte sich ein Gattungs-, Methoden- und Formbruch der Psychologie gleichsam exemplarisch in oder an der einen Person des nachdenkenden, abwägenden, Daten sammelnden und verarbeitenden sowie schreibenden Fritz Giese. Und so sage ich mir nun, dass der Ausdruck ›sozial- und kulturpsychologische Zeitdiagnosen‹ nicht nur Zeitdiagnosen zu meinen braucht, die von Vertretern der Sozial- und/oder der Kulturpsychologie gestellt, sondern auch Mengen geordneter Sätze, die von jedem beliebigen Beobachter der Sozial- und/oder Kulturpsychologie aufgestellt werden können. Zur Verdeutlichung dieses vermutlich etwas gewagten Interpretationsvorschlags mag folgendes Beispiel dienen: In Japan, erklärte mir ein bewanderter Kollege unlängst, wird die Primatologie von Kulturanthropologen, nicht von Zoologen mit ethologischem Interesse oder von Ethologen mit zoologischem Interesse, vertreten. Japanische Kulturanthropologen hätten, ergänzte der Kollege, im Allgemeinen ein feines Gespür für die kulturbedingten Besonderheiten der an Pazifikstränden spazierengehenden oder in der kalten Jahreszeit in der Nähe warmer Quellen lebenden Makaken. Dieser sonderbare Umstand, sage ich mir hier, ist ein genuiner Gegenstand einer Zeitdiagnose  einer, wie es oben geheißen hat, ungefähren Zeitdiagnose. Benannt wird ja eine Differenz zwischen dem Besitz kulturanthropologischer Kompetenzen japanischer Makakenforscher und dem (durchschnittlichen) Nichtbesitz kulturanthropologischer Kompetenzen nichtjapanischer Primatologen. Man hätte es folglich mit einer Differenz, mit einer geschichtlichen Transformation und mit einer Entität (der Kulturanthropologie) zu tun. Kann doch sein, sage ich mir, dass die akademische, aufs Experimentieren versessene Psychologie weltweit alles in allem kein Gespür für kulturpsychologische Anliegen aufzubringen vermag, wie die japanische Kulturanthropologie es für kulturell bedingte Verhaltensformen japanischer Makaken tut, weil sie allein das experimentalmethodisch Veranstaltete mit der Sache selbst gleichsetzt  nein: sie verwechselt das experimentalmethodisch Veranstaltete mit der Sache selbst. So kann man sich denn fragen, was unter den Vorzeichen der strengen Experimentalmethodik wahrgenommen

D IE ZWEIFACHE W URZEL

KULTURPSYCHOLOGISCHER

ZEITDIAGNOSEN | 37

und was ausgeblendet, was als unproblematisch zugelassen und was als unerträglich ausgesperrt wird, welche Evidenzen binnenfachlich verbreitet und welche Evidenzen gesellschaftlich irrelevant gemacht werden. Wenn bestimmte Fragen im Labor nicht zu bearbeiten sind, sind sie damit auch für Sozial- und/oder Kulturpsychologen noch lange nicht bedeutungslos. Wenn jedoch das methodisch Veranstaltete nach wie vor stur mit der Sache selbst verwechselt wird, verspielt man die Möglichkeiten eines Ansatzes, der es mit der Geschichtlichkeit des Wahrnehmens, Erinnerns, Fühlens, Begehrens, Denkens usw. und dann auch mit der womöglich ›genauen‹ (statt der angenehm ›ungefähren‹) Zeitdiagnostik ernst meint.

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Zeitlose Pheromone? Zur Verwobenheit von Geschlecht, Sexualität, Natur und Kultur A NNA S IEBEN

1. E INLEITUNG Pheromone sind »Substanzen, die von einem Individuum in die Außenwelt sekretiert und von einem zweiten Individuum derselben Art aufgenommen werden, bei dem sie dann eine spezifische Reaktion auslösen – zum Beispiel ein eindeutig bestimmbares Verhalten oder einen Entwicklungsprozess« (Karlson/Lüscher 1959: 55, Übersetzung AS 1). Bei vielen Tierarten dienen Pheromone der Kommunikation und sind beteiligt an sozialen Verhaltensweisen wie zum Beispiel Territorialverhalten, räumliches Orientierungsverhalten, Paarungsverhalten oder Alarmverhalten. Ob auch Menschen Pheromone zur Kommunikation nutzen, steht zur Debatte. Es wird allerdings vermutet, dass menschliche Pheromone existieren und geschlechtsspezifisches Sexualverhalten beeinflussen. Als kultur- und sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose bemüht sich dieser Text um eine möglichst treffende Analyse von Pheromonen im Kontext von Geschlechtlichkeit und Sexualität. Die kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektive mag verwundern, handelt es sich doch 1

Pheromone sind »substances which are secreted to the outside by an individual and received by a second individual of the same species, in which they release a specific reaction – for example, a definite behavior or a developmental process« (Karlson/Lüscher 1959: 55).

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bei Pheromonen auf den ersten Blick um natürliche Substanzen, deren Eigenschaften sich höchstens im Laufe der evolutionären Zeit, nicht aber der kulturellen, sozialen Zeit entwickeln. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber am Beispiel von Pheromonen, dass Kultur und Natur, kulturelle Diskurse und natürliche Materialität so miteinander verwoben sind, dass auch Pheromone als eingebettet in einen kulturellen Kontext beschreibbar sind. In dieser Zeitdiagnose wird der Zusammenhang von Kultur und Natur im Bereich Sexualität und Geschlechtlichkeit näher beleuchtet. Es geht also nicht primär um Pheromone, sie dienen vielmehr als Ausgangspunkt für meine Reflektionen. Pheromone sind gewissermaßen das Webschiffchen, mit dem ich Diskurse, Praktiken und Materialitäten erkunden möchte, die von Geschlecht und Sexualität, genauer, von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität handeln. Trotz der Unbekanntheit von Pheromonen bei vielen Menschen wird mit dieser Zeitdiagnose versucht, die Lebenserfahrungen möglichst vieler Mitglieder dieser Gesellschaft in Bezug auf Geschlechtlichkeit und Sexualität einzufangen. Als Zeitdiagnose ist diese Beschreibung und Analyse aber auch, vor allem in ihrem Geltungsanspruch, anmaßend und fordert zur Reflektion über die eigenen Lebenserfahrungen und zur Kritik auf. Nach einer kurzen Verortung von Pheromonen (Abschnitt 2) beginne ich meine Erkundung mit der Analyse von Websites, auf denen Pheromon-Parfums angeboten werden, die eine attraktivitätssteigernde Wirkung versprechen (Abschnitt 3). Pheromon-Parfums sind auf diesen Websites in vier Kategorien eingeteilt: Sie sind entweder männlich oder weiblich und entweder homo- oder heterosexuell wirksam. Sie sind beschreibbar als Teil des heteronormativen Diskurses (Butler 1990). Verkauft werden sie aber als natürlich und zur biologischen Ausstattung des Menschen gehörend. Ich folge diesem Verweis und wende mich Pheromonen zu, die in naturwissenschaftlichen Forschungsartikeln auftauchen (Abschnitt 4). Ich analysiere die experimentellen Praktiken, die zur Erforschung von Pheromonen eingesetzt werden. Auch hier stoße ich nicht auf kulturunabhängige, pheromonale Wahrheiten, sondern auf das gleiche heteronormative Schema. Doch dann verliert sich das Webschiffchen in der Verwobenheit von Diskurs und Materialität (Abschnitt 5): Plötzlich gibt es keine Pheromone mehr! Denn experimentell lassen sich keine konsistenten Effekte von Pheromonen auf Menschen zeigen. Ich nutze diese Abwesenheit, um mein Argument für die untrennbare Verwobenheit von Natur und Kul-

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tur, Diskurs und Materialität zu entfalten (Abschnitt 6). Die Metapher des Webschiffchens, das zwischen Natur und Kultur trennend hindurch schießt wie zwischen zwei Fäden und sie als distinkte Entitäten zum Vorschein bringt, erweist sich letztendlich als unbrauchbar.

2. Z WEI K ONTEXTE

FÜR

P HEROMONE

Menschliche Pheromone tauchen in verschiedenen Kontexten auf. Sie werden unter anderem als die sexuelle Attraktion steigernde Parfums oder stimmungsaufhellende Nasensprays verkauft, über sie wird in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Artikeln geschrieben, ihre Wirkung wird in Laboratorien untersucht, als Substanzen werden sie von Chemiker_innen 2 isoliert und verkauft und sie können in menschlichem Schweiß, Urin oder Sperma gemessen werden. Auch in fiktionalen Texten werden sie – meist als zu Zwecken der Manipulation und Kontrolle eingesetzte Substanzen – beschrieben. In diesem Kapital konzentriere ich mich auf zwei dieser Kontexte. Erstens. Pheromone werden als Zusatzstoffe in Parfums verkauft, die versprechen, die Attraktivität zu erhöhen. So beschreibt die Website »lockduft.at« Pheromone als »Lockstoffe der Natur, die unbewusst anziehend auf das andere Geschlecht wirken«, und lockt mit dem Slogan »Nie mehr allein...«. Die Website »pheromone.de« fordert auf: »Finden Sie einen Partner mit unseren Produkten« und »pheroshop.com« verspricht, dass mit Pheromon-Parfums »jeder Flirt [...] ein Erfolg« wird. Auf allen von mir gesichteten Websites werden für Männer und Frauen unterschiedliche Pheromon-Parfums verkauft. Des Weiteren wird immer spezifiziert, auf welches Geschlecht die Parfums

2

Ich wähle in diesem Text das so genannte gap- oder Unterstrich-Konzept, um eindeutige Geschlechterendungen zu vermeiden. Mit dem Unterstrich und der angefügten Endung »innen« wird nicht nur markiert, dass Frauen und Männer gemeint sind, sondern auch, dass alle die Geschlechter bezeichnet werden, die jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zu verorten sind. Der Unterstrich verweist auf die Leerstelle im Diskurs um Geschlechtlichkeit, der nur die sprachliche Bezeichnung von Männern oder Frauen zur Verfügung stellt. Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion des gap-Konzeptes siehe den Text »Performing the gap«, erschienen in Aranca, Ausgabe 28.

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wirken, in der Mehrzahl der Fälle auf das andere Geschlecht. Teilweise werden ergänzend Parfums verkauft, mit denen Männer ihre Attraktivität auf Männer und Frauen ihre Attraktivität auf Frauen steigern können. Zweitens. Die Wirkung von menschlichen Pheromonen wird in psychologischen, biologischen oder endokrinologischen Laboratorien untersucht. In experimentellen Untersuchungen werden Versuchspersonen isolierten Pheromonen (im Vergleich zu neutralen Kontrolllösungen) ausgesetzt, um die Wirkung dieser Pheromone auf verschiedene Variablen zu untersuchen. Warren Hays (2003) listet drei thematische Bereiche der Pheromon-Forschung auf. Erstens wird die Wirkung von Pheromonen auf den Menstruationszyklus untersucht, zweitens die Wirkung auf zwischenmenschliche, sexuelle Attraktion und drittens die Wirkung auf die emotionale Stimmung. In keinem dieser Bereiche konnten bisher konsistente Ergebnisse gezeigt werden. Das bedeutet, dass die in der Forschung bisher verwendeten potentiellen Pheromone keine Pheromone gemäß der Definition von Karlsson und Lüscher sind. Trotzdem konnten in einzelnen Experimenten Effekte gezeigt werden, die dafür sprechen, dass menschliche Pheromone existieren. Als besonders vielversprechend beschreibt Hays die Forschung zu Androstadienone, das in Experimenten positive Wirkungen auf die Stimmungen der Rezipient_innen gezeigt hat.

3. P HEROMONE

ALS P ARFUM – E RWEITERUNG DES HETERONORMATIVEN H ANDLUNGSPOTENTIALS

3.1 Sexualität und Selbst-Management Welche Zeitdiagnose lässt sich nach der Untersuchung von PheromonParfums stellen? Spezifischer: Was kann an der Darstellung und Vermarktung von Pheromonen über Geschlechtlichkeit und Sexualität zu Beginn des 21. Jahrhunderts abgelesen werden? Zygmunt Bauman beschreibt mit Bezug auf Michel Foucault Sexualität »als das Kriterium individueller Adäquatheit und körperlicher Fitness – den zwei wichtigsten Selbstbeobachtungs-Apparaten im Leben des Sammlers von

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Empfindungen« (1997: 147, Übersetzung AS 3). In diesem Zitat sind bereits mehrere zeitdiagnostische Aussagen enthalten. Sexualität ist nach dieser Diagnose ein Erfolgskriterium. Wer Sex hat, weiß – laut Bauman –, dass sie oder er sozial angemessen und körperlich gesund und fit ist. Sex verspricht mehr als sinnlichen Genuss, zwischenmenschliche Nähe, Zeugung von Kindern et cetera, er verspricht Selbstvergewisserung. Ich habe Sex, also bin ich in Ordnung. Baumans These unterscheidet sich dabei entscheidend von dem Gedanken, dass diese Vergewisserung durch Anerkennung, Begehren oder Liebe des Partners entsteht (wie dies etwa Sartre in »Das Sein und das Nichts« (1943/1991) schreibt). Es ist das bloße Stattfinden von Sexualität, das erfolgreiches Selbst-Management zertifiziert. Das Individuum managt sich selbst und es bestätigt sich selbst. Körperliche Fitness, Gesundheit und Sexualität können als Produkte dieser Selbstkontrolle, -gestaltung und -bestätigung verstanden werden. Foucault (1976, 1984) argumentiert, dass Macht als im Individuum verankert zu denken sei und sich in Selbstpraktiken äußere. Herrschaft ist nach seinem diskurstheoretischen Ansatz kein, beziehungsweise nicht immer, ein zwischenmenschliches Verhältnis. Vielmehr übt das Individuum Herrschaft über sich selbst aus, indem es gemäß des internalisierten Diskurses lebt, handelt, liebt etc. Eine so konzeptualisierte Macht ist primär produktiv und nicht beschränkend oder repressiv. In Bezug auf Sexualität schreibt Foucault, dass auch diese durch Herrschaft erst hervorgebracht und nicht etwa unterdrückt wird. Die Produktivität des Diskurses über Sexualität schreibt Foucault vor allem dem Dispositiv der sexuellen Revolution oder sexuellen Befreiung zu. Sexuelle Unterdrückung ist überwindbar und zu überwinden, denn anhaltende Repression gilt als schädlich, sowohl für das Individuum als auch in weiterer Konsequenz für die Gesellschaft (ein Gedanke, der zum Beispiel von Reich (1933/1986) entwickelt wurde). Sexuell unbefriedigte Menschen sind ungesund, unglücklich und potentiell gefährlich. Durch die Aufhebung sexueller Normen und sozialer Beschränkungen sexuellen Verhaltens für bestimmte Gruppen erscheint Sexualität dabei als nicht von außen beschränkt, sondern ›sozial‹ greifbar und erreichbar für alle. Gleichzeitig wird Sexualität, vor allem aber zu-

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Bauman beschreibt Sexualität »as the criterion of individual adequacy and bodily fitness – the two major self-monitoring devices in the life of the gatherer and collector of sensations« (Bauman 1979: 147).

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friedenstellendes sexuelles Erleben, geknüpft an individuelle Voraussetzungen: Gesundheit, Fitness, Attraktivität, Beherrschung sexueller Handlungen, Wissen darüber, was ›Partner wollen‹. Nutzer_innen kommerzieller Email-Anbieter wie »gmx« oder »web« werden fast täglich darüber informiert, wie man sich für einen Flirt rüstet, diesen durchführt, die Partnerin verführt und befriedigt. Auch Zeitschriften wie »Men’s health« oder »fit for fun« tragen die Kopplung von Sexualität und körperlicher Gesundheit und Fitness zumindest angedeutet im Titel. Foucault (1976: 140) schreibt, dass Sexualität zu den »Disziplinen des Körpers: Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte, Abstimmung und Ökonomie der Energien« gehört. Sexuelle Frustration wird dadurch zu mehr als einem unerfüllten Bedürfnis, sie wird zu einem sozialen Stigma. Um dieses Stigma zu vermeiden, ›managen‹ Menschen sich selbst und treiben Sport, hören auf zu rauchen, lesen Ratgeber – und kaufen Pheromon-Parfums. Pheromon-Parfum Hersteller preisen diese als Garanten erfolgreichen Flirtens. Durch eine individuell anwendbare Maßnahme – dem Auftragen eines Parfums – kann sichergestellt werden, dass eine andere Person sich auf Sexualität einlässt und sich somit das Kriterium für soziale Adäquatheit – Sexualität – erfüllen lässt. Pheromon-Parfums setzen damit an der Schwachstelle des Selbst-Managements an, der anderen Person. Angenommen, Sexualität gilt als Ergebnis erfolgreichen Selbst-Managements, so macht sie gleichzeitig von der Zustimmung anderer Menschen abhängig. Das Selbstmanagement muss auch zu einem Management der anderen Person werden. Pheromone sind reizvoll, weil sie den Wirkungsraum des Selbst-Managements auf die andere Person zu erweitern versprechen. Die bisherige Lesart interpretiert Pheromon-Parfums im Zusammenhang von Sexualität, Macht und Selbst-Management. Der Wunsch nach Sexualität, einem Partner und der Einsatz von Pheromon-Parfums erscheinen danach aus machtkritischer und feministischer Perspektive – zumindest partiell – als problematisch. Aber ignoriert diese machtkritische und zeitdiagnostische Interpretation nicht, dass für Menschen Sexualität und erfolgreiche Partnerfindung einfach lustvoll sind? Und wenn Pheromon-Parfums dabei helfen – wer möchte ihre Anwendung dann jemandem madig machen? Es würde sicherlich niemand auf die Idee kommen, duschen, den Besuch eines Sportvereins oder die Teilnahme an einer Gruppenreise zu kritisieren, weil diese Dinge möglicherweise die Suche nach einer Partnerin vereinfachen. Und tatsächlich,

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wenn alle Menschen sich Intimität wünschen und Pheromone ihnen dabei helfen, ihre Hemmungen zu überwinden, dann sollten vielleicht Pheromon-Parfums kostenfrei verteilt werden. Es ist auch zu diskutieren, ob Pheromon-Parfums nicht das Potential haben, den Selbst-Management-Diskurs auszuhebeln. Angenommen, Pheromone steigern tatsächlich die Attraktivität, dann könnten von diesem Effekt auch ›sozial inadäquate‹ Menschen Gebrauch machen. Pheromone könnten genutzt werden, um zu ›pfuschen‹. Sexualität wäre dann Erfolgskriterium eines guten Parfums und nicht eines adäquaten Selbst. Interessanterweise wird dieser Anwendungsmöglichkeit zumindest auf einer Website die Aussage »dein Gegenüber wird dadurch nicht zum willenlosen Wesen« (lockduft.at) entgegengesetzt. Pheromone helfen ›sozial adäquaten‹, aber möglicherweise schüchternen oder gehemmten Menschen: »Aber durch die Anwendung von Pheromonen ist der erste Kontakt sehr oft viel leichter und du startest die Unterhaltung mit einem Sympathiebonus...« (lockduft.at). 3.2 Heteronormative Struktur von Geschlechtlichkeit und Sexualität Eine solche Lesart von Pheromonen als den Handlungsspielraum vergrößernde und möglicherweise sogar subversive Substanzen stößt allerdings schnell an ihre Grenzen. Denn Pheromon-Parfums erweitern nicht nur den Handlungsspielraum ihrer Konsument_innen, sie strukturieren diesen auch. Ich zeige in diesem Abschnitt, dass PheromonParfums Attraktivität in bestimmte Bahnen lenken und damit gleichzeitig produzieren und limitieren. Die so vorgegebene Struktur wird durch Rückgriff auf die Biologie menschlicher Sexualität naturalisiert und legitimiert. Alle Anbieter von Pheromon-Produkten verkaufen spezielle Parfums für Männer und Frauen, die jeweils auf das andere Geschlecht wirken. Teilweise wird dieses Angebot um Parfums für homosexuelle Männer und Frauen ergänzt. Sexualität und Geschlechtlichkeit gehen in einer 2x1 (Männer/Frauen x heterosexuell) oder 2x2 Matrix (Männer/Frauen x homosexuell/heterosexuell) auf. Für alle Menschen, die sich auf einem der zwei oder der erweiterten vier Felder der Geschlecht x Sexualitäts-Matrix befinden, versprechen Pheromon-Parfums eine Erweiterung des Handlungsspielraums. Menschen ohne ein-

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deutige Geschlechterzuordnung oder sexuelle Orientierung werden vermutlich kein Parfum kaufen – denn wer von diesen Menschen möchte sich schon ›vor der Party‹ für oder gegen ein Geschlecht und für oder gegen ein Geschlecht einer potentiellen Partnerin entscheiden. In den Fällen, in denen nur ›heterosexuelle‹ Parfums angeboten werden, ist auch homosexuelle Attraktion nicht pheromonal unterstützbar. Auf diese Weise versprechen Pheromon-Parfums nicht nur die Steigerung der Attraktivität, sondern sie erfordern auch die Festlegung auf eine Identität als Mann oder Frau und die Festlegung des eigenen Begehrens auf Männer oder Frauen. Anzumerken ist, dass der sexuellen Orientierung im Vergleich zum Geschlecht eine höhere strukturierende Bedeutung zugemessen wird. So werden heterosexuelle und homosexuelle Männer (oder Frauen) nicht etwa von dem gleichen Pheromon angezogen (das folglich einmal von Männern und einmal von Frauen aufgetragen werden sollte). Stattdessen scheint eine je eigene Substanz Männer (oder Frauen) in hetero- und homosexuellen Zusammenhängen anzuziehen. Auch wenn die 2x2-Matrix auf den ersten Blick eine Gleichstellung von Homound Heterosexualität suggeriert, wird auf den zweiten Blick die Dominanz von Heterosexualität deutlich. So bietet die Website »pheromone.de« zwar die vier Rubriken »Frau sucht Frau«, »für Frauen«, »für Männer« und »Mann sucht Mann« an, bei der Auswahl von »Frau sucht Frau« oder »Mann sucht Mann« wird aber angezeigt »es gibt keine Produkte in dieser Kategorie«. Auch durch die ungleiche Benennung – anstelle von »für Frauen« könnte sie auch »Frau sucht Mann« heißen – erscheint die Suche von Frauen nach Männern als allgemeines, nicht auszuweisendes Modell, während »Frau sucht Frau« den Sonderfall darstellt (Tabelle 1). Tabelle 1: Dominanz der heterosexuellen Kategorie

heterosexuell homosexuell

Frauen Für Frauen Frau sucht Frau --Keine Produkte

Männer Für Männer Mann sucht Mann --Keine Produkte

Nun könnte man argumentieren, dass sich diese 2x1 oder 2x2 Matrix ganz einfach an der Nachfrage der Konsument_innen orientiert und auf ihre Bedürfnisse reagiert. Ob diese These stimmt, kann ich an die-

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ser Stelle nicht beurteilen. Ich möchte aber zeigen, dass Pheromone zumindest mit einem anderen Anspruch verkauft werden. Die 2x1 oder 2x2 Struktur des Begehrens wird nämlich nicht als Eigenschaft eines künstlichen, subgruppenspezifisch hergestellten Produkts verkauft. Im Gegenteil, die Eigenschaften von Pheromonen gelten als natürlich und aus der Biologie des Menschen stammend. So werden Pheromone beschrieben als »Sexual-Lockstoffe, die alle Insekten und Tiere, auch der Mensch, absondern, um das andere Geschlecht anzuziehen« (pheromone.de) oder als »Lockstoffe, die der Mensch absondert, um das andere Geschlecht auf sich aufmerksam zu machen und anzulocken«. Angeblich wird »ein Großteil des sexuellen Verhaltens von Säugetieren (und der Mensch ist ein Säugetier) [...] durch Pheromone gesteuert« (phero-shop.com). Der Verweis auf die Natürlichkeit von Pheromonen erzeugt meines Erachtens (mindestens) zwei Wirkungen. Erstens erhöht er die Glaubwürdigkeit von Pheromon-Produkten. Dies mag auf den ersten Blick offensichtlich erscheinen, eröffnet aber bei genauerem Hinsehen eine wichtige Perspektive auf den Status des Natürlichen in Diskursen über Sexualität. Das Natürliche oder das Biologische nimmt den Status einer unhintergehbaren, unveränderbaren und soliden Basis von Sexualität ein. Zweitens legitimiert der Verweis auf diese Natürlichkeit die Kategorisierung von Pheromon-Produkten in männlich/weiblich und homo-/heterosexuell. Er bestätigt damit die Dichotomien der sozialen Kategorien ›Geschlecht‹ und ›sexuelle Orientierung‹. Judith Butler (1990, 1993) bezeichnet die Verknüpfung von Geschlechtlichkeit, Sexualität und Natürlichkeit als heteronormative Matrix. Sie beschreibt, dass der heteronormative Diskurs biologische Zweigeschlechtlichkeit (sex) als die natürliche Basis einer Geschlechtsidentität als Mann oder Frau (gender) ausgibt. Aus dieser Identität entwickelt sich dann – wenn alles gut läuft – das sexuelle Begehren nach einem Partner des anderen Geschlechts (oder in einer liberalen Gesellschaft auch in Ausnahmefällen das Begehren nach einem gleichgeschlechtlichen Menschen). Butler stellt diesen Diskurs analytisch auf den Kopf und argumentiert, dass nicht die biologische Zweigeschlechtlichkeit der Ursprung von Geschlecht und Begehren ist, sondern die Norm der Heterosexualität. Diese Norm wird allerdings als Norm verdeckt und taucht getarnt als Biologie/Natur wieder auf. Dementsprechend ist auch die natürliche Zweigeschlechtlichkeit als ein Effekt des Diskurses und nicht als eine vordiskursive Wahrheit zu

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interpretieren. Websites zu Pheromon-Produkten können als Beispiel für Butlers Theorie gelesen werden. Männer und Frauen sowie Homound Heterosexuelle werden als vier distinkte ›pheromonale‹ Kategorien beschrieben. Die Kategorisierungen und Strukturierungen von Geschlechtlichkeit und Sexualität sind ›richtig‹, weil sie natürlich sind. Da dieser Nachweis selber auf den Websites nicht erbracht werden kann, wird in allen Fällen auf erfolgreiche naturwissenschaftliche Forschung verwiesen (ich werde auf diesen Punkt ausführlich in Abschnitt 4 zu sprechen kommen). Butler kritisiert diesen heteronormativen Diskurs, weil er Menschen dazu bringt, entweder Frau oder Mann und hetero- oder homosexuell zu werden. Obwohl es mittlerweile möglich ist, homosexuell zu leben, so gilt diese Orientierung doch als abweichend. PheromonParfums sind ein – zugegebenermaßen harmloses – Beispiel für die Ausgrenzungen durch Heteronormativität: Menschen ohne feste Geschlechtsidentität und ohne heterosexuelle Orientierung finden ganz einfach kein Parfum. Homosexuelle Menschen können manchmal ein eigenes Parfum erwerben, teilweise werden sie aber auch mit dem Kommentar »es gibt keine Produkte in dieser Kategorie« (pheromone.de) abgewiesen. Drastischere Beispiele lassen sich zu Genüge finden: Von offenen Diskriminierungen, operativen Veränderungen intersexueller Säuglinge, Verweigerung der Adoptionsrechte für homosexuelle Paare bis zu Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust der Familie oder Gewalt. Ich möchte nun zu Baumans These zurückkehren, dass Sexualität das Kriterium für gelungenes Selbst-Management sei und hinzufügen, dass nicht jeder Sex, ausgeführt von jedem mit jedem den Status dieses Kriteriums erfüllt. Dies gilt nur für die Menschen, die Sex auf einem der zwei Felder der 2x1 Matrix oder, mit Einschränkungen, auf einem der vier Felder der 2x2 Matrix haben. Nur für sie gilt Sexualität als Indikator für psychische und physische Gesundheit und soziale Adäquatheit. Die bisherige Analyse hat den Diskurs der Heteronormativität in den Blick genommen und den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sexualität an Textdokumenten, vor allem an den Texten, die zum Verkauf von Pheromon-Parfums im Internet veröffentlicht werden, untersucht. Die Natur oder Materialität von Pheromonen hat dabei nur als Teil des Diskurses, und zwar als Legitimationsbasis für die Kategorisierungen, Erwähnung gefunden. Um nun in dieser Zeitdiagnose wie

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angekündigt Pheromone auch als Materialität in den Fokus zu rücken, wird noch einmal auf Butlers Theorie Bezug genommen. Butler (1990, 1993) geht darüber hinaus, Diskurse als rein sprachlich zu verstehen. Diskurse bezeichnen nicht nur die Art, wie wir über etwas sprechen, sie bringen auch Realität und Materialität – im Falle von Geschlecht und Sexualität menschliche Körper – hervor. Mit Bezug auf die Sprachphilosophien von Austin und Derrida spricht Butler von der Performativität des Diskurses und meint damit die (auch Materialität) produzierende Macht von Diskursen. Diese Theorie regt dazu an, Websites über Pheromone nicht nur als kulturelles Dokument zu interpretieren, sondern auch zu fragen, welche materielle Realität durch Pheromon-Parfums performativ erzeugt wird. Mindestens drei Ebenen können hierfür betrachtet werden. Erstens werden Pheromon-Parfums gemäß der heteronormativen Matrix produziert. Hierfür müssen einzelne chemische Substanzen – Pheromone – hergestellt und mit anderen Substanzen zu einem Parfum vermischt werden. Dabei erfolgt die Auswahl, Herstellung und Kombination mit dem Ziel, genau zwei oder vier verschiedene Parfums zu produzieren. Die so erstellten und auf den Markt gebrachten Substanzen können somit als Materialisierungen der heteronormativen Matrix beschrieben werden. Zweitens werden Pheromon-Parfums von Menschen gekauft und verwendet. Unabhängig von der Frage, ob diese Parfums wirksam sind, weil ihre Inhaltsstoffe chemische Kommunikation ermöglichen, kann vermutet werden, dass ihre Anwendung die Konsument_innen beeinflusst. Allein die Auswahl entlang der 2x2 oder 2x1 Matrix kann die eigene Identität als geschlechtlich und sexuell orientiert im Sinne eines Selbst-Labelings (Becker 1963/1997) verstärken oder bestätigen. Vermutlich verhalten sich Menschen zudem anders und nehmen anders wahr, wenn sie wissen, dass sie ein Pheromon-Parfum aufgetragen haben und mit entsprechender Wirkung rechnen. Das so veränderte Wahrnehmen und Verhalten sind durch die heteronormativen Strukturen hervorgebracht, zumindest aber verstärkt. Drittens können die direkten Wirkungen der Pheromone – angenommen, sie haben tatsächlich die Potenz, auf die Attraktivität zu wirken – als stärkster Fall der Materialisierung der heteronormativen Matrix verstanden werden. Verstärkten sie gezielt die Anziehung zwischen Männern und Frauen (oder Frauen und Frauen, Männern und Männern), so käme ihnen eine die Norm der Heterosexualität und Zweige-

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schlechtlichkeit unterstützende Funktion zu. Würde der Staat – fiktiv gedacht – Menschen Pheromon-Parfums verschreiben, damit sie leichter Partner_innen finden, so würde er ihnen damit auch automatisch Heteronormativität verschreiben. Ich möchte zusammenfassen. Nach Foucault äußert sich die Macht und Herrschaft der Diskurse in Bezug auf Sexualität nicht durch Repression, sondern durch die Hervorbringung einer bestimmten Sexualität: »Und wo wir heute die Geschichte einer mühsam beseitigten Zensur sehen, wird man vielleicht den jahrhundertelangen Aufstieg eines komplexen Dispositivs erkennen, das uns dazu disponiert hat, vom Sex zu reden, ihm unsere Aufmerksamkeit und unsere Sorge zu widmen, an die Souveränität seines Gesetzes zu glauben, wo wir doch in Wirklichkeit durch die Machtmechanismen der Sexualität geschleust wurden.« (Foucault 1976/2008: 152) Pheromon-Parfums werden von Menschen gekauft, die sich um ihre Sexualität sorgen, diese selbst beobachten (Bauman 1997) und hervorbringen möchten. Die »Machtmechanismen der Sexualität« (Foucault 1976/2008: 152) zeigen sich darin, dass von Pheromonen produzierte Geschlechtlichkeit und Sexualität die Struktur des heteronormativen Diskurses (Butler 1990) aufweisen. In diesem Sinne können Pheromon-Parfums den Handlungsspielraum ihrer Konsument_innen durchaus erweitern, vielleicht ermöglichen sie ihnen tatsächlich mehr sexuelle Kontakte. Dieser erweiterte Handlungsspielraum ist aber von Anfang an nicht als der Macht entgegengesetzt zu denken, sondern als ihr Wirkungsfeld. Damit geht die Formung der Handelnden in Männer oder Frauen und der Handlungen in homo- oder heterosexuelle Praktiken einher.

4. P HEROMONE

IM

L ABOR

Die biologischen Grundlagen von Geschlecht und Sexualität sind essentiell für den heteronormativen Diskurs, da sie die normativen Aussagen in einer scheinbar außerdiskursiven materiellen Realität und Wahrheit verankern. Dass durch diese Biologisierung der Geschlechterverhältnisse soziale Ungleichheiten und Diskriminierungen legitimiert werden, ist von Feminist_innen, Queer Theoretiker_innen und Aktivist_innen immer wieder herausgestellt worden. Thomas Laqueur (1992) vertritt sogar die These, dass sich die europäische Frauenbewe-

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gung zeitlich parallel zu der Biologisierung der Geschlechterverhältnisse entwickelt hat. So entstand nach der französischen Revolution sowohl die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frauen, als auch die argumentative Rechtfertigung von sozialen Geschlechterverhältnissen durch die Natur von Männern und Frauen, die an die Stelle eines Bezugs auf religiöse Legitimationssysteme trat. Zeitdiagnostisch sage ich also nichts Neues, wenn ich auf die Rolle der Biologie hinweise. Bereits Simone de Beauvoir (1949/2005), die mit dem Satz »man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es« (de Beauvoir 1949/2005: 334) häufig als Gründungsfigur einer feministischen Kritik an der Naturalisierung der Geschlechterverhältnisse gesehen wird, hat geschrieben, »in der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen« (ebd. 9). Ich zeige trotzdem noch einmal die Verwobenheit von normativen Aussagen über Geschlecht und Sexualität mit naturwissenschaftlicher Forschung am Beispiel von Pheromonen auf. Dabei arbeite ich insbesondere die wechselseitigen Bezugnahmen heraus, denn nicht nur normative Aussagen verweisen auf biologische Forschung, sondern auch die Forschung nutzt andersherum den heteronormativen Diskurs, um Hypothesen zu bilden, Experimente zu gestalten und Ergebnisse zu plausibilisieren. Forschung ist keine an Heteronormativität unbeteiligte Instanz, sie ist auf vielseitige Weise mit dieser verbunden. Zur Verdeutlichung dieser These ziehe ich sechs 4 Forschungsartikel zu Pheromonen heran, die von zwei Forschungsteams (Bensafi et al. 2003, 2004a, 2004b und Lundström et al. 2003, 2005, 2006) veröffentlicht wurden. Beide Teams untersuchen die Wirkungen zweier potentieller

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Die Auswahl dieser sechs Forschungsartikel erfolgte in folgenden drei Schritten: Zuerst habe ich einen thematischen Bereich, die Wirkung von Pheromonen auf die Stimmung, ausgewählt. Diese Auswahl erfolgte auf der Basis von Hays (2003) Review-Artikel, der beschreibt, dass nur in diesem Bereich bislang replizierbare Ergebnisse gezeigt werden konnten. In einem zweiten Schritt habe ich mithilfe der Datenbank PsycInfo nach Artikeln über EST, AND und ihre Effekte auf die Stimmung gesucht. Diese Suche ergab insgesamt 12 Treffer. Diese zwölf Artikel konnten sechs verschiedenen Forschungsteams zugeordnet werden. Per Zufallsauswahl habe ich mich in einem dritten Schritt für die Artikel entschieden, die von den beiden Forschungsteams Lundström et al. und Bensafi et al. veröffentlicht wurden.

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menschlicher Pheromone, Androstadienone (AND) und Estratetraenol (EST). AND wird als potentielles, männliches Pheromon beschrieben, da es in einer höheren Konzentration in männlichem als in weiblichem Schweiß gefunden werden kann. Es wird vermutet, dass AND die Stimmung der Rezipient_innen hebt. EST wird als weibliches, potentielles Pheromon beschrieben, das bisher aber nur im Urin von Frauen im letzten Drittel der Schwangerschaft gefunden werden kann. Analog zu AND wird angenommen, dass EST stimmungshebend wirkt. Warren Hays (2003) fasst zusammen, dass bislang die Effekte von AND auf die Stimmung die einzigen vielversprechenden und konsistenten Ergebnisse im Bereich der menschlichen Pheromonforschung sind. Keine Ergebnisse konnten in den anderen beiden großen Forschungsbereichen gefunden werden, namentlich der Wirkungen von Pheromonen auf die Attraktivität und auf die Länge des Menstruationszyklus (Hays 2003; Winmen 2004; Schank 2006). Obwohl diese Effekte auf die Stimmung nicht unbedingt etwas mit Geschlecht und Sexualität zu tun haben müssen – wie dies etwa bei Effekten auf die Attraktivität oder den Menstruationszyklus zu vermuten wäre – verbinden Lundström et al. und Bensafi et al. ihre Forschung aufs engste mit dem bereits beschriebenen heteronormativen Diskurs. Auf fünf Aspekte gehe ich hier ein (siehe für eine ausführliche Darstellung: Sieben 2011). AND und EST werden als männlicher und weiblicher Teil der Zweigeschlechtlichkeit von Pheromonen beschrieben. AND gilt als männliches Pheromon, obwohl es auch bei Frauen (in geringerer Konzentration) vorkommt und EST gilt als weiblich, obwohl es bislang nur bei schwangeren Frauen gefunden werden kann. Die Dualität EST/ AND ist auch in der Namensgebung enthalten, die auf der Benennung menschlicher Hormone aufbaut. Androstadienone verweist auf Androgene, Estratetraenol auf Östrogene. Fausto-Sterling (2000) hat die Benennung von Hormonen historisch untersucht. Sie weist darauf hin, dass Androgen »den Mann produzierend« und Östrogen »den Estrus (fruchtbare Phase des Zyklus) produzierend« bedeutet. Obwohl sowohl bei Männern als auch bei Frauen Androgene und Östrogene vorkommen, werden sie als zweigeschlechtliche Gegenstücke konzeptualisiert. Des Weiteren enthält die Benennung eine Hierarchisierung, denn Androgen produziert angeblich den ›ganzen Mann‹, während Östrogen nicht die Frau, sondern nur ihre fruchtbaren Tage herzustellen vermag.

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In Bezug auf Pheromone wird dieser Geschlechtsdimorphismus der Namensgebung verknüpft mit einem heterosexuellen Wirkungsschema. So schreiben Lundström und Olsson (2006: 280, Übersetzung AS 5) über AND, »da [...] es konsistente Effekte auf Frauen gezeigt hat, gilt es als potentielles männliches Pheromon«. Der Effekt auf das andere Geschlecht macht AND erst männlich, es reicht nicht aus, dass eine Substanz in männlichen Körpern, die andere in weiblichen Körpern produziert wird. Diese Beschreibungen erscheinen, als wisse man bereits, welche Pheromone welche Effekte auf wen haben. Tatsächlich bilden sie aber den Ausgangs- und nicht den Endpunkt der Forschung. Denn wie bereits erwähnt, konnte bisher die Existenz eines menschlichen Pheromons nicht ausreichend bewiesen werden. Die Annahmen über die Geschlechtlichkeit der Pheromone bestimmen, wie Experimente durchgeführt werden. Besonders deutlich wird dies am experimentellen Design. Lundström et al. testen die Effekte von AND nur an weiblichen Versuchspersonen und die Effekte von EST nur an männlichen Versuchspersonen. Bensafi et al. testen zwar beide Substanzen an Männern und Frauen, wählen dann aber eine statistische Auswertungsvariante, die geschlechtsneutrale Effekte nicht sichtbar machen kann. Neben dem Design sind die Auswahlkriterien für Versuchspersonen bemerkenswert. Als Ausschlusskriterien für alle Versuchspersonen werden allgemeine Gesundheitskriterien aufgelistet, zum Beispiel Tabakkonsum, Infektion der Atemwege oder neurologische Erkrankungen. Während für männliche Teilnehmer keine speziellen Kriterien angegeben werden, sollten weibliche Teilnehmer_innen regelmäßige und spontane Ovulationen haben, keine hormonellen Verhütungsmethoden verwenden und zum Zeitpunkt der Ovulation getestet werden. Diesen Kriterien liegt die Annahme zugrunde, dass die Stimmungseffekte (wohlgemerkt keine Effekte auf sexuelle Reaktion, Attraktivität oder Ähnliches) in Zusammenhang mit Reproduktion und dem Zyklus stehen. Es wird vermutet, dass Frauen am empfänglichsten für Pheromone sind, wenn sie tatsächlich ›fruchtbar‹ sind. Auch in diesem Fall gilt, dass die angenommene Notwendigkeit der Kriterien unüberprüft ist. In keiner vorherigen Untersuchung wurde die Wirkung von Phe-

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So schreiben Lundström und Olsson (2006: 280) über AND, »since [...] its effects are consistent in women it has been considered to be a putative male pheromone«.

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romonen auf Frauen in verschiedenen Phasen des Menstruationszyklus verglichen. Zuletzt möchte ich den Umgang beider Forschungsteams mit dem Geschlecht der Versuchsleiter_innen beschreiben. Die Versuchsleiter_innen haben die Aufgabe, dass Experiment mit den Versuchspersonen durchzuführen und die Pheromone (oder die neutrale Kontrollsubstanz) im Doppelblindversuch mit einem Wattestäbchen unter die Nasenlöcher der Versuchspersonen zu applizieren. Lundström et al. variieren in zwei ihrer drei Studien (2005, 2006) systematisch das Geschlecht der Versuchsleiter_innen. Sie vermuten, dass in einem »ökologisch relevanten Kontext« (2005: 198, Übersetzung AS 6) – bei Einsatz eines Versuchsleiters des anderen Geschlechts – Pheromone stärker wirken. Bensafi et al. setzen von vorneherein für die Applikation der Pheromone (oder der Kontrolllösung) nur jeweils Versuchsleiter_innen des anderen Geschlechts ein. Die Instruktionen werden hingegen immer von einer Versuchsleiterin des gleichen Geschlechts vorgelesen. Diese Forschungsstrategien verstehe ich als performative Hervorbringung von Heteronormativität. Wenn AND und EST eine Wirkung zeigen, so ist diese aufgrund der vorgegebenen Struktur der Experimente automatisch geschlechtsspezifisch und heterosexuell. Eine Ausnahme stellt der Einsatz auch gleichgeschlechtlicher Versuchsleiter von Lundström et al. dar, wodurch auch ›homosexuelle‹ Effekte auftreten können. Für geschlechts- und sexualitätsunabhängige Stimmungseffekte aber gibt es keinen Platz in dem experimentellen Setting, sie können gar nicht erst materialisiert und sichtbar werden. Diese Lesart erzeugt den Eindruck, den Forschenden ginge es in Wirklichkeit nicht um Pheromone, sondern um die Normen der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität. Erklärtes Ziel der Forschung ist aber die Etablierung von AND und EST als menschliche Pheromone. Um der Definition von Karlsson und Lüscher zu genügen, müssen beide Substanzen »eine spezifische Reaktion auslösen – zum Beispiel ein eindeutig bestimmbares Verhalten oder einen Entwicklungsprozess« (Karlson/Lüscher 1959: 55). Ich denke, dass beide For-

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Sie vermuten, dass in einem »ecologically relevant context« (Lundström et al. 2005: 198) – bei Einsatz eines Versuchsleiters des anderen Geschlechts – Pheromone stärker wirken.

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schungsteams für die Erforschung von AND und EST den heteronormativen Diskurs heuristisch nutzen. Da es schwierig ist, pheromonale Effekte experimentell zu zeigen, bemühen sich die Forschenden um die Herstellung eines für Pheromone besonders günstigen Kontextes. Ein heteronormativer Kontext erscheint dabei als die natürlichste und damit wahrscheinlich erfolgreichste Umgebung für Pheromone. Chemische Kommunikation ›muss‹ einfach etwas mit Sexualität zwischen Männern und Frauen zu tun haben. Auf diese Weise stabilisieren beide Forschungsteams Pheromone und Heteronormativität wechselseitig. Indem sie Experimente durchführen, die nur heteronormative Ergebnisse hervorbringen können, verstärken sie den Eindruck der Unhintergehbarkeit und Allgegenwärtigkeit heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit. Gleichzeitig nutzen sie die Plausibilität und Wirkmächtigkeit des Diskurses, um AND und EST als Pheromone hervorzubringen. Diese wechselseitige Unterstützung von Pheromonen und Heteronormativität erzeugt eine Geschlossenheit, die keine Widersprüchlichkeiten zuzulassen scheint – oder doch?

5. W IDERSTÄNDIGE P HEROMONE Beide Forschungsteams konnten keine konsistenten Effekte von AND und EST auf die Stimmung der Rezipient_innen zeigen. In der ersten Studie von Lundström et al. fühlten sich die Versuchspersonen nach der Applikation von AND nur konzentrierter, nicht aber positiver gestimmt. In der zweiten Studie konnte AND hypothesenkonform die Stimmung der Rezipient_innen bei gleichzeitiger Anwesenheit eines männlichen Versuchsleiters heben. In der dritten Studie konnte EST erwartungsgemäß die Stimmung der männlichen Versuchspersonen heben, aber überraschenderweise wurde diese Wirkung durch die Anwesenheit eines männlichen Versuchsleiters verstärkt. In der ersten Studie von Bensafi et al. (2003) traten keine Effekte von AND oder EST auf die Stimmung auf. In der zweiten Studie (2004a) wirkte sich – im Einklang mit den vorher formulierten Hypothesen – AND stärker stimmungshebend auf Frauen als auf Männer aus. In der dritten Studie (2004b) trat der positive Effekt auf die Stimmung von Frauen allerdings nur in einem experimentell induzierten traurigen Kontext auf

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(und nicht in glücklichen, sexuell erregenden oder neutralen Kontexten). Die Inkonsistenz der Effekte von AND und EST stellt eine Herausforderung auf verschiedenen Ebenen und für verschiedene Personen dar. Naturwissenschaftlich sind sie unbefriedigend, da sie die Entdeckung und Etablierung eines menschlichen Pheromons verhindern. Aus feministischer, kritischer Perspektive kann dieses Scheitern mit einer gewissen Genugtuung betrachtet werden. Die Biologie als ultimative Legitimationsquelle von Heteronormativität gerät im Falle menschlicher Pheromone ins Wanken. Das macht Pheromone sympathisch. Sind sie letztendlich Alliierte queer-feministischer Kritiker_innen? Können wir die Biologie nutzen »als Anstoß zum Umdenken, zum Andersdenken über die Biologie« (Keane/Rosengarten 2002: 273, Übersetzung AS 7)? Feministische Theoretiker_innen geraten über die fehlenden pheromonalen Effekte allerdings auch ins Nachdenken. Denn wie kann es überhaupt passieren, dass der heteronormative Diskurs sich nicht performativ materialisiert, obwohl er laut Butler unhintergehbar ist und obwohl er so umfassend in den experimentellen Anordnungen implementiert wurde? Und kann man daraus den Schluss ziehen, dass Pheromone einfach nicht als zweigeschlechtlich und heterosexuell beschrieben werden können? Fehlende Effekte und gescheiterte Experimente zu interpretieren, ist im Allgemeinen problematisch. Man weiß in der Regel nur, dass irgendetwas nicht funktioniert hat – aber nicht genau was. Im Falle der Pheromon-Forschung liegt es nahe, zu vermuten, dass AND und EST vielleicht einfach keine, zumindest keine stark stimmungshebenden Eigenschaften haben. Vielleicht gibt es auch gar keine pheromonale Kommunikation zwischen Menschen (obwohl dann die gezeigten, wenn auch inkonsistenten, Effekte erklärungsbedürftig wären). In diesem Fall wären Pheromone inkompatibel mit dem heteronormativen Diskurs. Sie wären eine Materialität, die an der Materialisierung des heteronormativen Diskurses nicht mitspielt. Diese Interpretation geht über Butlers Theorie hinaus. Materialität hat für Butler keine Eigengesetzmäßigkeit, eigene Struktur, Eigenschaften oder Aktivität. Zwar nimmt Butler an, dass Materialität auch außerhalb des Diskurses existiert, diese ist aber auf keinen Fall sichtbar oder beschreibbar. Materialität ist eine nicht inhaltlich festgelegte

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Können wir die Biologie nutzen »to draw from it a source to its rethinking« (Keane/Rosengarten 2002: 273)?

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Variable, die als Platzhalter eine wichtige Rolle in Butlers Theorie spielt, ohne in ihren speziellen Ausformungen benennbar zu sein. Abweichende Materialitäten entstehen aus dem Diskurs selbst heraus, der sich mit der Zeit verschieben kann. Butler entwickelt ihr Konzept der Veränderlichkeit von Diskursen auf der Basis von Derridas Begriff der Iterabilität. Nach Derrida haben sprachliche Äußerungen einen zitathaften Charakter. Verwendete Wörter und Ausdrücke verweisen auf eine frühere Verwendung in einem anderen Kontext. Durch diese Verweisungen werden ihre Bedeutungen stabilisiert. Allerdings bleibt die Stabilität immer unvollständig, denn durch das Einfügen des Zitats in einen neuen Kontext findet auch eine Verschiebung der Bedeutung statt. Derrida beschreibt das Original als uneinholbar. Zwar soll seine Bedeutung einerseits möglichst stabilisiert werden – und das erfordert ständiges Wiederholen – andererseits findet bei jeder Wiederholung eine Veränderung statt. Die Idee des notwendigen Scheiterns des Zitierens überträgt Butler auf den heteronormativen Diskurs. Die ständig wiederholten performativen Herstellungen von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität sind notwendig, um diesen Diskurs zu stabilisieren, gleichzeitig entstehen dabei unausweichliche Veränderungen des Diskurses. In der Form von Parodie oder Ironie kann diese Verschiebung zusätzlich verstärkt werden. Aber niemand kann sich dafür entscheiden, den Diskurs komplett abzulehnen, abzuschaffen oder außerhalb von ihm zu leben. Widerständige Materialitäten wie Pheromone haben in diesem diskursanalytischen Ansatz keinen Raum. Der Diskurs alleine ist produktiv, limitierend und die Quelle für Veränderung. Karen Barad (2003: 801, Übersetzung AS 8) kritisiert diese Fokussierung auf den Diskurs: »Sprache wurde zu viel Macht zugesprochen.« Sie schlägt als feministische Wissenschaftstheoretikerin und Physikerin eine Erweiterung von Butlers Theorie vor, die berücksichtigt, dass nicht nur »discourse comes to matter«, sondern auch »matter comes to matter« 9 (Barad

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Karen Barad (2003: 801) kritisiert diese Fokussierung auf den Diskurs: »Language has been granted too much power.«

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Ich habe auf eine Übersetzung ins Deutsche an dieser Stelle verzichtet, da sie das Wortspiel mit »to matter« unkenntlich gemacht hätte. »to matter« weist einerseits auf den Prozess des Materialisierens hin und enthält den Wortstamm »matter« (Materialität), andererseits trägt es die Bedeutung »etwas ist bedeutsam«.

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1998: 2). In der performativen Herstellung von Materialität spielt Materialität selbst eine aktive Rolle, neben dem Diskurs. Trotz der Berücksichtigung von Materialität in ihrer Theorie vermeidet Barad die Dichotomien zwischen Materialität/Diskurs oder Natur/Kultur. Sie entwickelt einen Ansatz, in dessen Zentrum die untrennbare Verwobenheit, »the entanglement of matter and meaning« (Barad 2007: Titel), steht. Dieser Ansatz basiert sowohl auf der Theorie von Butler als auch auf der Theorie des Physikers Niels Bohr. Von Bohr übernimmt sie den Begriff des Phänomens. Als Phänomen bezeichnet Bohr die Verbindung zwischen Beobachtungsobjekten, Beobachtungsmethoden und Beobachter_innen. Seiner Meinung nach lassen sich in wissenschaftlichen Untersuchungen diese Teile des Experiments nicht in einzelne und distinkte Entitäten unterteilen. Sie bilden stattdessen ein Gesamtes, das Phänomen, das beobachtbar, beschreibbar und messbar ist. Barad greift diesen epistemologischen Gedanken auf und führt ihn weiter zu einer Ontologie der Intra-Aktion (Barad 1998, 2003, 2007). Sie ersetzt die Vorstellung von der Welt als bestehend aus voneinander abgegrenzten Einheiten durch das Modell einer primären Unbegrenztheit und Intra-Aktion. Phänomene als intra-aktive Einheiten sind »die primären ontologischen Einheiten« (Barad 2003: 818, Übersetzung AS 10). Phänomene entstehen durch das Zusammenkommen ihrer Teile und werden in ihrer Gestalt von allen geformt. Keinem Teil kommen Eigenschaften an sich zu.

6. P HEROMONE

ALS

P HÄNOMENE

Pheromone als Phänomene zu beschreiben, bedeutet, ihnen keine eigenständigen Attribute zuzuschreiben. Pheromone haben damit weder stimmungshebende oder attraktivitäts-fördernde Effekte, noch sind sie widerständig. Alle diese Charakteristika kommen Intra-Aktionen zwischen Versuchspersonen, chemischen Substanzen, Fragebögen, Versuchsleiter_innen, Wattestäbchen etc. zu. Oder auch nicht. Denn wie beschrieben, treten nicht immer experimentelle Effekte auf. »Es gibt kein Produkt in dieser Kategorie.« (pheromone.de) In keinem Experi-

10 Phänomene als intra-aktive Einheiten sind »the primary ontological units« (Barad 2003: 818).

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ment wird die Wirkung von AND oder EST auf Intersexuelle, Transsexuelle oder einfach auf ›Menschen‹ materialisiert. Wie ich bereits mit Bezug auf Foucault und Butler argumentiert habe, bringt der heteronormative Diskurs Sexualitäten und Geschlechter hervor und limitiert sie. Auch Materialitäten produzieren und limitieren. An den produktiven Schnittstellen von Diskursen und Materialitäten entstehen Phänomene, menschliche Pheromone. An den unproduktiven Schnittstellen entsteht nichts, keine Stimmungseffekte, Parfums oder verstärkte Attraktivitäten. Die existentielle Notwendigkeit einer produktiven Schnittstelle für Pheromone macht die Verwobenheit von Natur und Kultur in ihrer stärksten Form deutlich. Ich möchte hierfür den Begriff Naturkultur (Haraway 2003: 12) einführen. Er soll verdeutlichen, dass Natur und Kultur so miteinander intra-agieren, dass sie ein Phänomen bilden. Pheromone, konzeptualisiert als Phänomene oder Naturkulturen, sind folglich keine zeitlosen Substanzen, deren Eigenschaften feststehen und nur entdeckt werden müssen, um dann in Form von Parfums ihre Wirkung zu entfalten. Auch Phänomene, wie sie von Bohr und Barad beschrieben werden, sind nicht zeitüberdauernd. Sie entstehen und vergehen in zeitlich spezifischen Naturkulturen. Sie sind sowohl gebunden an einen bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung einer Kultur als auch einer Natur. In der englischen Sprache kann das Wort »matter« oder »to matter« diese untrennbare Verbundenheit von Natur und Kultur ausdrücken. »Matter« bedeutet unter anderem »Materialität«, »Stoff«, »Substanz«, »to matter« unter anderem »von Bedeutung sein«, »wichtig sein«, »eine Rolle spielen«. Butler nutzt dieses Sprachspiel in ihrem Buchtitel »Bodies that matter« (1993) und Barad greift es auf, wenn sie schreibt »discourse comes to matter« und »matter comes to matter« (Barad 1998: 2). In der deutschen Übersetzung lautet Butlers Buch »Körper von Gewicht«. »Von Gewicht sein« drückt auch im Deutschen die Verbindung von Materialität und kultureller Bedeutung oder Wichtigkeit aus. Pheromones come to matter – Pheromone materialisieren sich und haben Bedeutung. Ich habe in diesem Kapitel einige Aspekte dieser pheromonalen Naturkulturen beschrieben und zeitdiagnostisch interpretiert. Drehund Angelpunkt meiner Interpretation ist die von Butler beschriebene heteronormative Matrix. Sie strukturiert die von Pheromon-Parfums ermöglichten und hervorgebrachten Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten. Sie verweist auf die Natur und Biologie von Pheromonen und

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hat auch meine Aufmerksamkeit auf naturwissenschaftliche Forschung zu Pheromonen gelenkt. Experimente werden so durchgeführt, dass sie fast ausschließlich heteronormative Effekte ermöglichen. Doch die erwarteten Wirkungen von Pheromonen auf die Stimmung in Experimenten treten nicht auf. Und wie Warren Hays (2003) schreibt, konnten bislang auch keine attraktivitäts-steigernden Effekte naturwissenschaftlich gezeigt werden. Die fehlende Materialisierung des heteronormativen Diskurses habe ich mit Bezug auf Barad als gescheiterte Intra-Aktionen zwischen Diskursen und Materialitäten interpretiert. Mit der Einführung der Begriffe Intra-Aktion und Naturkultur und der Konzeptualisierung von Pheromonen als Phänomenen endet diese kultur- und sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose. Sie hat ihre eigenen Grenzen erreicht. Es schließen sich allerdings dringliche Fragen an. Können Naturkulturen überhaupt adäquat kultur- und sozialwissenschaftlich erfasst werden? Wie sind sie erforschbar, mit welchen Methoden, in welchen Disziplinen? Wie kann die zeitspezifische Verwobenheit von Geschlecht, Sexualität, Natur und Kultur erfasst werden? Meine eigene Analyse konnte einen Weg aufzeigen, um zur Diagnose dieser Verwobenheit zu gelangen. Doch zur Beschreibung von Barads Phänomenen taugt die Metapher des Webschiffchens, das zwischen Natur und Kultur trennend hindurch schießt und alle Kulturfäden (oder Diskursfäden) an die Oberfläche bringt, damit sie beschrieben und analysiert werden können, nicht. Diese Phänomene sind möglicherweise Webteppiche, die als Ganzes beschreibbar sind, aber ihre Gestalt unwiederbringlich verändern, sobald man einen einzelnen Faden herauszieht. Phänomene, Naturkulturen, Webteppiche in den Blick zu bekommen ist dann vielleicht eine Zukunftsaufgabe für interdisziplinäre, natur- und kulturwissenschaftliche Zeitdiagnostiker_innen.

L ITERATUR Barad, Karen (1998): »Getting real: technoscientific practices and the materialization of reality«, in: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 10/2, S. 87-128. Barad, Karen (2003): »Posthumanist performativity: toward an understanding of how matter comes to matter«, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 28/3, S. 801-831.

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Religion als Projektion Gibt es Fortschritt in der Psychologie? 1 J ACOB VAN B ELZEN

1. E INLEITUNG Wie immer man Goethes berühmte Gretchenfrage beantworten möchte, unbestritten ist, dass »Religion« – wie auch immer verstanden – ein ganz wesentliches Element wahrscheinlich aller Kulturen ist. Es wundert daher auch nicht, dass alle Sozial-, Human- und Kulturwissenschaften sich ausführlich und stets aufs Neue mit ihr befasst haben. Auch für das breit gefächerte Feld der sogenannten modernen »Psychologie« – wie auch immer verstanden – gilt, dass die Gründerväter ohne Ausnahme ihre Beiträge zur Religionspsychologie geleistet haben (für eine instruktive Übersicht, siehe Wulff 1997a, b). Sogar als weite Teile der »Psychologie« Kultur und Geschichte aus den Augen verloren und sich hauptsächlich auf das Individuum, bestenfalls auf Gruppenprozesse und manchmal nur noch auf Variablen von beim Individuum postulierten psychischen Entitäten zu konzentrieren anfingen, verschwand die Religionspsychologie nie ganz von der Bildfläche: »Religion« ist zwar zunächst und vor allem ein kulturelles Phänomen, aber daneben und darüber hinaus natürlich auch ein bei zahllosen Individuen vorgefundenes Phänomen (um es vom Kulturphänomen zu unterscheiden dann meist Religiosität genannt). Angesichts letzterer Tatsache ist es eher erstaunlich, dass »Religion« und/oder Re-

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Die Übertragung des englischen Originaltextes ins Deutsche besorgten Sandra Plontke und Doris Weidemann.

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ligiosität zwischenzeitlich sogar zu den Tabu-Gebieten der »Psychologie« gehört haben (Belzen 2009a; Farberow 1963). In jüngerer Zeit erstarkt das Interesse an psychologischer Erforschung wieder deutlich: Die wahrscheinlich beste Darstellung der »empirischen« Religionspsychologie ist in ihrer mittlerweile vierten überarbeiteten und ständig erweiterten Auflage zu einem Werk von an die siebenhundert Seiten angewachsen, das Hunderte von Einzeluntersuchungen bespricht (Hood et al. 2009). Auch die Zahl der für die Religionspsychologie zur Verfügung stehenden Fachzeitschriften steigt ständig an, im Jahre 2009 hat sogar die American Psychological Association mit der Veröffentlichung eines eigenen Journals auf diesem Gebiet begonnen (Psychology of Religion and Spirituality). Wenn wir in diesem Buch also Zeitdiagnosen vorzunehmen versuchen, sollte ein so eminentes Kulturphänomen wie »Religion« nicht fehlen, genauso wenig wie die die westlichen Gesellschaften so kennzeichnende »Psychologie« als solche. Die Religionspsychologie, die beide Themen integriert, dürfte also ein auf der Hand liegendes Objekt der Betrachtung sein. So begründet das Vorhaben sein mag, so schwierig ist seine Durchführung. Sowohl »Religion« als auch »Psychologie« sind kulturelle Größen an denen sich zahllose Theoretiker die Zähne ausgebissen haben: Endlos wäre eine Besprechung aller Versuche sowohl »Religion« als auch »Psychologie« zu definieren – was im vorliegenden Fall dann eben alles nur Vorarbeit wäre, um zu einer Bestimmung der Religionspsychologie zu gelangen, die einer Diagnose dieser wissenschaftlichen Sparte, Subdisziplin sowohl der Psychologie als auch der Religionswissenschaften, zugrunde gelegt werden könnte. Um weder auszuufern noch mich in Plattitüden – wie: die Religionspsychologie ist im Großen und Ganzen eine meistens etwas verspätete Abspiegelung von Entwicklungen in der »Psychologie« im Allgemeinen – zu verlieren, gedenke ich, mich eines in der Wissenschaft bewährten Vorgehens zu bedienen: Ich werde mich beschränken. Ohne größere weitere Legitimierung werde ich mich einer der spannendsten, aber auch kontroversesten der Religionspsychologie zugeschriebenen oder zumindest in ihr behandelten Thesen zuwenden: der These, dass Religion Projektion sei. Zweifelsohne ist dies eine These, die vom breiten Publikum, sowohl vom gebildeten Laien wie auch manchmal am Stammtisch, als eine der wichtigsten Einsichten der Religionskritik angesehen wird und meistens wird sie der Psychoanalyse zugeschrieben. Es ist noch nicht allzu lange her, dass der Herausgeber eines vor-

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züglichen Bandes über Religion und Psychoanalyse Freuds Religionspsychologie wie folgt zusammenfasste: »religion is made up of nothing but fantasy and a projection of our wishes and fears into the heavens« (Black 2006: 63). Es bleibt zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß diese Aussage zutrifft. Hierbei beabsichtige ich jedoch weder eine narrative Historiographie der Vorstellung von »Religion als Projektion«, noch werde ich einen historischen Überblick über das gesamte Forschungsfeld in Angriff nehmen, das sich zwischen den Polen »Psychoanalyse« und »Religion« auftut. Ich werde lediglich zu beurteilen versuchen, ob Fortschritte in GHU5HOLJLRQVSV\FKRORJLHíLQVEeVRQGHUH LQ LKUHP SV\FKRDQDO\WLVFKHQ =ZHLJ í ]X YHU]HLFKQHQ VLQG Welches sind die gegenwärtigen Ansichten zum Standpunkt, dass Religion als Projektion zu verstehen sei? Handelt es sich um eine valide Vorstellung und wenn ja, in welchem Sinne und wenn nein, wie sollte sie dann verstanden werden – wenn sie denn überhaupt ernst genommen werden sollte? Mit der Wahl dieses Themas habe ich mich für denjenigen Zweig der Religionspsychologie entschieden, der zweifelsohne die meiste Literatur hervorgebracht hat und der von vielen als der theoretisch ertragreichste angesehen wird. Dennoch werde ich, wie sich zeigen wird, andere psychologische Ansätze in der Erforschung von »Religion« nicht ganz beiseitelassen sowie ich auch den Stand der Dinge in der »Psychologie« im Allgemeinen nicht völlig aus den Augen verlieren werde. (Und ab jetzt werde ich weder »Religion« noch »Psychologie« mit den ermüdenden Anführungszeichen versehen, meine Absicht damit dürfte mittlerweile klar genug geworden sein.)

2. F REUD

ÜBER

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2.1 Defizite in der Freud-Rezeption Freud, dem Vater der Psychoanalyse wie auch der psychoanalytischen Religionspsychologie werden eine Reihe kritischer Interpretationen von Religion zugeschrieben: So sei nach Freud Religion nichts weiter als Wunschdenken, Projektion, Illusion, Neurose und dergleichen mehr (Banks 1973: 402). Während dieser Beitrag nicht darauf abzielt, Freuds exakten Ansichten zu diesen Punkten eine weitere Erklärung hinzuzufügen, ist es doch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Dinge í wie in solchen Fällen üblich í auch unter (Religions-)Psychologen,

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weitaus komplizierter gesehen werden als die genannten Einzeiler nahelegen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In seinem allerersten Artikel zur Religionspsychologie behauptet Freud an keiner Stelle, dass Religion »an sich« eine Neurose, ein pathologisches Leiden oder das morbide Produkt geistiger Funktionen von jemanden sei (Freud 1907/1959). Was er hingegen unternimmt, ist, kurz zusammengefasst, Folgendes: er macht einen methodischen Vergleich von neurotischem Verhalten und religiösem Ritual, auf Grundlage der Rigidität, die für beide gleichermaßen charakteristisch ist. Mitnichten setzt er jedoch beide gleich. Noch schreibt Freud in irgendeiner seiner zahlreichen anderen Veröffentlichungen, dass Religiosität mit einer Neurose gleichgesetzt werden könnte oder sollte oder gar als Indikator einer mentalen Störung gelte. Auch wenn wir einen Blick in seine Fallstudien zu individuellen Pathologien werfen, sehen wir, dass Freud die Religiosität von Patienten nicht als ein pathologisches Phänomen versteht. In seiner Studie eines Falles von »Besessenheit« aus dem siebzehnten Jahrhundert zum Beispiel, erklärt Freud die betroffene Person nicht für krank, weil sie religiös ist und nicht einmal, weil sie sich selbst für besessen hält (Freud 1923/1961). Freud zeigt, dass der Maler Haitzman ein schwerer Neurotiker war und dass sich seine Neurose – neben anderen Dingen – auch in der Art und Weise religiös zu sein manifestierte. Ein Vergleich von Freuds Texten zu Religion und Neurose legt folgende Schlussfolgerung nahe: Religiös zu sein, kann das individuelle psychische Funktionieren einer Person fördern und kann sogar helfen eine Neurose zu verhindern, wenngleich auch immer untersucht werden muss, wie die Religiosität im individuellen Einzelfall psychologisch strukturiert ist. 2 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und fair zu sein, sei direkt hinzugefügt, dass, obgleich Freud diese letzte Aussage nicht geleugnet hätte, er sie tatsächlich niemals wortwörtlich so nie-

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Man findet diese Ansicht auch in der jüngeren psychologischen Literatur vertreten. Pargament, einer der gegenwärtig wohl bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet, kommt zu der Schlussfolgerung: »Questions about the general efficacy of religion should give way to the more difficult but more appropriate question: How helpful or harmful are particular forms of religious expression for particular people dealing with particular situations in particular social contexts according to particular criteria of helpfulness or harmfulness?« (2002: 168)

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dergeschrieben hat. 3 Das Bild, das Freuds Arbeiten und seine vereinzelten Anmerkungen über Religion zeichnen, ist mit Sicherheit weder das einer Person, die beabsichtigt mit großen Sympathien über Religion zu schreiben, noch einer Person, die sich die Mühe macht, dem Ganzen so vorsichtig wie möglich zu begegnen. Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall: Freud macht kein Geheimnis daraus, dass er von Religion nicht begeistert ist und hält die von ihr verkündeten Inhalte schlichtweg für falsch und unwahr. Religion treffe Aussagen über die Wirklichkeit, die von der Wissenschaft widerlegt seien; nach Freud ist es die Wissenschaft, nicht die Religion, die zuverlässiges Wissen bereithält. (Und sein Vertrauen in die Wissenschaft, in die menschliche Rationalität, geht so weit, dass er sie als »unseren Gott« bezeichnet, Freud 1927/1961). Wir müssen daher scharf zwischen Freuds Ansichten über Religion auf der Makro- und Mikroebene unterscheiden, zwischen seiner Auffassung von Religion als System von Praktiken und (vor allem) Überzeugungen und seiner Betrachtung von Religion auf der Ebene des Individuums. Erstere können wir als ontologische (oder wenn man so will als religiöse) Ansichten bezeichnen und letztere als wissenschaftlich-psychologische Ansichten. Was die erste Sichtweise betrifft, so betrachtete Freud Religion als falsch; er »glaubte« nicht an die Inhalte von Religion. Im letzteren Falle beschränkte sich Freud darauf, Äußerungen über die Rolle individueller Religiosität als Teil der ganzen Psychodynamik einer Person zu tätigen. Man sollte diese Fein-

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Diejenige Formulierung, die dem am nächsten kommt, findet sich in Group psychology and the analysis of the ego, wo Freud in der Tat eingesteht, dass religiöse Illusionen dem Einzelnen »the most powerful protection against the danger of neurosis« bieten können (1921/1964: 142). Aber er fügt direkt hinzu, dass dies doch eher eine Art von »crooked cure« sei (ibidem S. 142), die lediglich zu einer symptomatischen Erleichterung und nicht etwa zu einem strukturellen Wandel des psychodynamischen Konflikts und der Spannungen führe, die möglicherweise erst der Grund dafür gewesen sind, sich für diese Art von Schutz gegen eine Neurose überhaupt zu öffnen. Und man könnte hinzufügen: eine wahre Transformation oder Sublimierung der Konflikte und Spannungen würde besser, vielleicht ausschließlich, durch eine psychoanalytische Behandlung herbeigeführt werden (nicht nur dadurch, dass man offen ist für psychoanalytische Ideen, was eine genauso vertrackte Art des Schutzes sein kann wie die Empfänglichkeit für religiöse Ideen).

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heiten nicht aus den Augen verlieren: Dass jemand religiös ist, bedeutet für Freud nicht, dass diese Person psychisch krank oder in irgendeiner Weise gestört ist. Selbst wenn eine Person bizarre religiöse Ansichten hegt oder skurrile Glaubenspraktiken ausübt, bedeute dies nicht, dass religiös zu sein an sich »verrückt« oder dass Religion als solche Wahnsinn (oder gar Unsinn) ist. Aber, wie Freud sagen würde, noch sollte man den entgegengesetzten Schluss folgern: denn dass Glaube einem Menschen dabei hilft, mit dem Leben besser zurechtzukommen, kann eine positive Sache sein, aber das sagt noch nichts über den Wert oder die Wahrheit von Religion aus. In Freuds Augen hatte sich die (Natur-)Wissenschaft als einzig verlässlicher Weg zur Wahrheit erwiesen; Dinge, die im Widerspruch zur Wissenschaft stehen, sind seiner Ansicht nach falsch oder zum Untergang verurteilt. Deshalb hielt Freud – wie Comte, der Begründer des Positivismus, vor ihm – Religion für eine überholte Stufe der Menschheitsentwicklung, eine Stufe, deren Ursprung und Rolle zwar erklärbar sei, die jedoch nun, Dank der Wissenschaft, »verdrängt« und bereit sei, überwunden zu werden. So wie Kinder viele neurotische Eigenschaften haben können, aus denen sie im Laufe der Zeit ganz von allein herauswachsen, ist Religion eine Phase, die die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung hinter sich lassen wird; diese nicht zu überwinden würde indes eine Neurose auf der Ebene der Menschheit als Ganze hervorrufen. Oder anders formuliert: nach Freud ist Religion falsch, auch wenn es auf der individuellen Ebene sein kann, dass das religiöse Leben in psychologischer Hinsicht als positiv bewertet wird, da eine Person in der Religion zum Beispiel Stärkung, Trost, soziale Zugehörigkeit, Inspiration und viele andere Dinge findet. (Und umgekehrt, das sei hier wiederholt, sollte man hieraus keine falschen Schlüsse ziehen: dass Glaube Stärkung gibt usw., das mag wunderbar sein, aber noch besser wäre es, diese Stärke aus der Wissenschaft zu ziehen, die jeglicher Form von Religion weit überlegen ist. Trotz aller dieser Nuancen, die in Freuds Arbeiten zur Religion zu finden sind, ist seine grundlegende Haltung eine ablehnende: Er »glaubte« nicht an Religion, doch er glaubte an die Wissenschaft.) 4

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Seine Anhänger sollten diese Nuancen relativ schnell aus den Augen verlieren: Während Jung und seine Schule ein großes Interesse an Religion entwickelten, ein Interesse, das zwar positiv, aber auch zur Kontamination von Religion und Psychologie führte (Vandermeersch 1974/1991), war die

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Die kritische Leserin mag sich, gerade wenn man Freuds eigene Kriterien anlegt, fragen, ob nicht der »Glaube an Wissenschaft« psychodynamisch ähnlich strukturiert ist wie der »Glaube an Gott« (oder welche Form von Religion auch immer im Spiel sein mag). Anders gesagt: Ist nicht mutatis mutandis alles, was man über Religion sagen kann, auch auf die Wissenschaft übertragbar? Grundsätzlich betrachtet ist dies tatsächlich der Fall. Wenn Freud anmerkt, dass Religion eine »Illusion« sei (Freud 1927/1961), dann meint er damit nicht in erster Linie, dass sie unsinnig sei, in dem Sinne, dass sie etwa in klarem Widerspruch zu intersubjektiv verifizierbaren »Fakten« stünde. Freud bezeichnet Glaube als Illusion, weil er typischerweise den Charakter jener Wünsche aufweist, aus denen er teilweise resultiert. Glaube erweist sich als Illusion, da er auf Wünschen basiert, nicht weil er Täuschung oder Unwahrheit ist. Der Kritiker mag direkt entgegnen: mag dies nicht auch für wissenschaftliche Angelegenheiten gelten? Freud hätte wohl folgendes zugegeben: im Prinzip können auch wissenschaftliche Ansichten auf einem Wunsch basieren, der dann für den ebenso illusionären Charakter wissenschaftlichen Wissens verantwortlich wäre. Doch dies wäre eben nur »im Prinzip« der Fall. Gemäß Freuds positivistischer und recht überholter Wissenschaftsauffassung spielen Wünsche hier keine Rolle; Wissenschaft ist ein rein rationaler Prozess (und erstaunlicher Weise hängen viele Wissenschaftsphilosophen immer noch einem ähnlichen Standpunkt an und lehnen Disziplinen wie die Wissenschaftsgeschichte und mehr noch die Wissenschaftssoziologie und -psychologie als unsinnig ab). Doch selbst in dem Werk, in dem Freud Religion als Illusion bezeichnet (Freud 1927/1961), ist seine Argumentation noch einmal nuancierter, als es jene wohl bekannten Schlagworte nahelegen, die seine Position vermeintlich zusammenfassen. Auch hier gerät man immer wieder zu derselben Schlussfolgerung: nicht als Psychologe beanstandet Freud Religion so stark (in seiner Sicht ist sie nicht eine Täuschung), sondern vielmehr als »nachdenkende Person«, als jemand mit einer bestimmten (irreligiösen, gar antireligiösen) Lebenseinstellung und Weltsicht. Dass

erste Generationen von »Freudianern« weitgehend antireligiös, manchmal so heftig (oder unnuanciert), dass Patienten, die an irgendeiner Form von Religiosität festhielten, als unzureichend (psycho)analysiert eingestuft wurden. Aber die Dinge haben sich in jüngerer Zeit geändert, vgl. die folgenden Ausführungen.

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Religion »Illusion« beinhaltet, ist kein abschließendes Argument gegen Religion; »Illusion« finde sich überall, nur nicht in der Wissenschaft, weshalb Wissenschaft gegenüber allen anderen Denkweisen überlegen ist; Wissenschaft wird sich über sie alle hinweg weiterentwickeln, Religion mit inbegriffen. Freud war ein unbeirrter Anhänger des Szientismus. 2.2 Religion als Projektion? Wenn wir uns die Mühe einer präzisen Exegese machen wollten, würden sich unsere Ergebnisse im Hinblick auf die Vorstellung von »Religion als Projektion« bestätigen: Freud selbst ist wesentlich behutsamer als ihm generell zugestanden wird. Einige kurze Bemerkungen darüber sollten genügen. Anders als das, was Autoren wie der bereits erwähnte Black (2004), aber auch Banks (1993) behaupten, schreibt Freud nirgends, dass Religion tout court (eine Frage von) Projektion sei. Diese These geht vielmehr auf Feuerbach zurück: wie er in seiner Schrift Das Wesen des Christentums schreibt, ist Gott die objektivierte Externalisierung des Wesens der menschlichen Natur (Feuerbach 1841/1960). Nichts davon oder auch nur entfernt Ähnliches findet sich bei Freud. Lediglich an einer einzigen Stelle spricht Freud in einem religionsbezogenen Zusammenhang von Projektion. Doch sei hinzugefügt, dass das entsprechende Kapitel aus Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Freud 1901/1962: 287-288) Aberglauben behandelt und dass Freud hier wortwörtlich über »Mythen« spricht, nicht über Religion im eigentlichen Sinne (Freud behandelt Religion an zahlreichen anderen Stellen, jedoch ohne jemals dabei auf den Begriff der Projektion zurückzugreifen, um Religion zu analysieren oder sich überhaupt auf sie zu beziehen). Die Verbindungslinie Feuerbach-Freud, wenn eine solche überhaupt identifiziert werden kann, wurde häufig so dargestellt, als habe Freud eine empirisch-psychologische Begründung von Feuerbachs These zum Wesen der Religion geliefert. Es ist jedoch fraglich, ob diese Sichtweise zutrifft und ob sie von Freud selbst geteilt worden wäre. Zunächst sei festgehalten, dass Projektion eines jener psychoanalytischen Konzepte ist, die unklar geblieben sind (Laplanche/Pontalis 1972). Freud hatte dies bereits zugegeben und angekündigt, diesem Thema eine eigene Untersuchung zu widmen (Freud 1911/1964: 66), die jedoch nie erschien (es wird vermutet, dass er eine entsprechende

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Abhandlung schrieb, sie jedoch selbst vernichtete, da er mit ihr unzufrieden war). Trotz der Vagheit des Konzepts kann aber festgehalten werden, dass Projektion eine mentale Operation darstellt, mittels derer ein Subjekt »etwas« (Eigenschaften, Empfindungen, Wünsche) an sich selbst leugnet und jemandem oder etwas anderem zuschreibt. (Das bekannteste Beispiel ist Hass: Man verleugnet eigene Hassgefühle und unterstellt sie anderen, was sich im Extremfall zum Beispiel als Paranoia äußern kann, aber ebenso in nicht-klinischen Situationen als Vorurteil, Konflikt, Diskriminierung, etc.). Wenn zum Beispiel gesagt wird, dass in der individuellen Gottesvorstellung unterschiedlichste Eigenschaften des eigenen Vaters von einer Person auf Gott projiziert werden, dann ist dies falsch ausgedrückt: folgt man dem begrifflichen Rahmen der Psychoanalyse, geht es hier nicht um Projektion, sondern um Übertragung: die Person erlebt Gefühle der persönlichen Vergangenheit, z.B. im Bezug auf die Eltern, in Verbindung zu dem Gotteskonzept, das ihr zur Verfügung steht. Bei religiösen Erfahrungen spielt das Nacherleben früherer Konstellationen eine wichtige Rolle, zum Beispiel wiederholt sich in dem Gefühl, von (einem) Gott abhängig zu sein, die Erfahrung der kindlichen Abhängigkeit von den Eltern. Doch ist Religion an sich nicht die Projektion von etwas »in« der Person; vielmehr ist sie ein kompliziertes System sozialer Ideen, Praktiken und Strukturen, das kulturell vermittelt ist. Religion als ein außerordentlich komplexes und vielgestaltiges Element von Kultur kann nicht als das Resultat irgendeines psychischen Mechanismus bezeichnet werden; (ein) Gott mag wohl als Projektion verstanden werden, aber wurde niemals von Freud als solche bezeichnet. Wie bereits erwähnt, verbindet Freud lediglich (überkommene) Mythen mit Projektion, doch tut er dies eher beiläufig in einer frühen Publikation und in einer Weise, die zu jenem Zeitpunkt noch kaum technisch-psychoanalytisch ist. Auch im Folgenden sollte man die Feinheiten in Freuds Texten selbst im Blick behalten. Mit seiner Psychoanalyse begründete Freud eine fundierte Form der Individualpsychologie (einer Psychologie, die sich mit Individuen beschäftigt), die in vielen unterschiedlichen Typen klinischer Praxis und Therapie weite Anerkennung gefunden hat. (Obwohl die Psychoanalyse selbst als Behandlung nicht mehr häufig zu finden ist, ist es wahr, dass die moderne Psychotherapie und klinische Psychologie in all ihren diversen Formen ohne die der Psychoanalyse entstammenden vielen unterschiedlichen Einsichten und Techniken undenkbar wären.) Freud war jedoch mindestens ebenso sehr an

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Fragen interessiert, die weit über die Ebene des Individuums hinausgehen, an Fragen, die Kunst, Literatur, Gesellschaft und Kultur betreffen. Auch wenn viele Einführungen in die Psychoanalyse dies unerwähnt lassen und viele Psychoanalytiker darüber hinweggehen, so war Freud ein wichtiger Kulturtheoretiker. (Bemerkenswerterweise werden seine Theorien heute eher an philologischen und geisteswissenschaftlichen Fakultäten und dergleichen gelehrt als in der Psychologie und Psychiatrie.) Seine Ansichten über Kultur (einschließlich Religion auf der Ebene von Kultur) sind jedoch immer kontrovers geblieben. Viele halten es für einen Kategorienfehler, wenn sich ein Psychoanalytiker (dessen Kompetenzen allein auf dem Gebiet individueller, klinischer Probleme verortet werden) seine Meinungen zu Phänomenen auf der Makroebene, der Ebene von Gesellschaft, Geschichte und Kultur äußert. Es besteht kein Grund für uns, dieses methodologische Thema hier zu diskutieren. Wir möchten lediglich festhalten, dass Freud auf beiden Ebenen operierte und dass er dabei keineswegs naiv war (so zeigt er zum Beispiel deutlich, dass eine psychoanalytische Erklärung immer nur eine Teilperspektive auf Religion als kulturelles Phänomen eröffnen kann; siehe hierzu auch weiter unten) und dass er einen schier endlosen Strom von Kommentaren und Reflexionen in diesem Feld ausgelöst hat. Festzuhalten ist außerdem, dass seine kulturtheoretischen Ansichten selbst bei seinen Sympathisanten oft auf Widerspruch stießen. Wir dürfen die Tatsache nicht vergessen, dass Freud, der brillante Kliniker und unerschrockene Theoretiker, auf Grundlage seiner Autorität immer wieder versucht hat, auf dem Gebiet der Individualpsychologie über die Individualebene hinausgehende Phänomene, mehr oder weniger erfolgreich, zu diskutieren. Setzt man sich mit dem Thema »Freud und (oder: über) Religion« auseinander – vorausgesetzt, man bewältigt die mittlerweile gigantische Menge an Sekundärliteratur; vor einigen Jahren wurde bei der American Academy of Religion sogar ein Antrag auf Einrichtung eines eigenen Forschungsbereichs »Freud und Religion« als mehr oder weQLJHU DXWRQRPHV DNDGHPLVFKHV )RUVFKXQJVJHELHW JHVWHOOW í NRPPW man immer wieder zu derselben Schlussfolgerung: mit all den Widersprüchen, Neubestimmungen des Gegenstandes und wechselnden Ausblicken, die sein Werk kennzeichnen, ist Freud in seinen psychologischen Aussagen über Religion weitaus differenzierter als die meis-

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ten seiner engsten Anhänger. 5 Infolgedessen büßte die Debatte über »Religion und Psychoanalyse« in den ersten Jahrzehnten nach Freuds Tod an Tiefe ein: Keine der Aussagen, die wir suggestiv an den Anfang dieses Beitrags gestellt haben (Religion als Neurose, als Fantasie oder Projektion), lässt sich wortgetreu bei Freud finden 6; doch sind sie Begriffe, die in einer verbreiteten Form die westliche psychologische Religionskritik außerordentlich stimuliert haben. Was Religion betrifft, so war Freud Reduktionist; er stand ihr höchst kritisch gegenüber, er sah ihr Ende vorher, doch nirgendwo reduzierte er Religion auf einen psychischen Mechanismus. Zwar glaubte er, dass alle psychischen Mechanismen (einschließlich pathologischer Störungen) eine Rolle in religiösem Handeln und Erleben (wie auch in ihren Produkten, wie z.B. Gottesbildern, Dogmen, usw.) spielen können, aber das wird von aufgeklärten Westlern heutzutage kaum bestritten werden: Dass psychische Mechanismen für religiöses Verhalten und Erleben, wie für jegliches menschliches Verhalten und Erleben eine Rolle spielen, ist fast schon ein Pleonasmus.

3. D AS S PEKTRUM P ERSPEKTIVE

DER PSYCHOLOGISCHEN

Wie gesagt, möchte dieser Beitrag Freuds Aussagen über Religion keine weiteren Erklärungen hinzufügen; die bisherigen Ausführungen besitzen lediglich einführenden Charakter. Unser eigentliches Thema ist die Frage, ob es eine Entwicklung gibt, z.B. im Hinblick auf die Vorstellung von »Religion als Projektion« – wie ist die gegenwärtige Situation? Die Antwort fällt erfreulich kurz aus: Nach Freud stagnierte 5

Freud forderte zum Beispiel niemals, dass Psychoanalytiker vorzugsweise nicht-religiös sein sollten, was aber nach seinem Tod unter vielen Psychoanalytikern zu einem ungeschriebenen Gesetz wurde; seinem Freund, dem Pastor und Psychoanalytiker Pfister, hat Freud nie vorgeschlagen, entweder seinen Glauben aufzugeben oder sich besser nach einem anderen Beruf umzusehen. Er glaubte jedoch, dass nach einer Psychoanalyse der Glauben der meisten Gläubigen verschwinden würde (Freud-Pfister 1963).

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Es ist daher verblüffend zu lesen, wie sich Banks (1973) in seiner »Neubewertung« weiterhin auf Freuds Projektionstheorie der Religion bezieht, ohne diese jedoch textlich belegen zu können.

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die Entwicklung für Jahrzehnte. Es dauerte lange Zeit bis Weiterentwicklungen, Präzisierungen oder ausführlichere Erläuterungen seiner Ansichten bemerkbar wurden. Wenn wir dem Amerikaner Bailey (1988), der die Sache scheinbar gründlich studiert hat, glauben dürfen, dann kamen derartige nennenswerte Beiträge allein aus den Niederlanden und zwar zur Zeit der sogenannten »Projektions-Debatte«. Wir können nicht erwarten, die Geschichte dieser Debatte hier in Gänze wiederzugeben (einige Aspekte wurden bereits von Breevaart 2005 und Belzen 2007 behandelt), aber wir wollen sie kurz hinsichtlich ihrer psychologischen Erträge betrachten. Der Kontext der Debatte kann hier nur gestreift werden. Nach Erscheinen von Simon Vestdijks The Future of Religion (1947/1992) brach in den Niederlanden ein Sturm des Protests aus und eine heftige Diskussion entbrannte. Das immer wieder neu aufgelegte Buch, in dem der gefeierte Schriftsteller Vestdijk seine These entfaltet, dass Religion Projektion sei, und in dem er das Ende des Christentums vorhersah, war indes, wie der Untertitel unmissverständlich anklingen ließ, ein »Essay« und kein wissenschaftliches Werk. Einige der zentralen Behauptungen dieses Essays wurden später durch Fokke Sierksma auf eine stärker wissenschaftliche Grundlage gestellt. Das von ihm veröffentlichte Buch war von so außergewöhnlicher wissenschaftlicher Qualität, dass fast niemand in der Lage war, inhaltlich darauf zu antworten. Nach Fortmann, dem ersten Professor für Religionspsychologie in den Niederlanden, war die Theorie über »Religion als Projektion« so wichtig und beinhaltete vor allem so viel explosives Material, das in popularisierter Form nur zu religiösem Zweifel und sogar zu Apostasie führen konnte, dass Vestdijkt und Sierksma eine »gute Antwort« verdienten (Fortmann 1957: 7). (Und folglich widmete er der Formulierung dieser Antwort vier volle Bände, Fortmann 1964-1968). Betrachten wir daher, welche bedeutsamen Dinge sich in diesem wissenschaftlichen pièce de résistance der Projektions-Debatte, in Sierksmas The Religious Projection (1956/1980) finden. Wenn es tatsächlich so bedeutsam ist, wie Bailey behauptet, mag eine kurze Zusammenfassung seines Inhalts angebracht sein – zumal es außerhalb der Niederlande kaum bekannt ist.

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3.1 Die (niederländische) Projektionsdebatte In seiner breitgefächerten Monographie greift Sierksma Vestdijks These auf, dass Personen das Ideal des »ewigen« Menschen auf ein Wesen außerhalb ihrer selbst legen. Der Begriff, der hier wie auch schon von Vestdijk verwendet wird, ist »Projektion«, ein Begriff, der offenbar von Freud stammt. Doch stimmt das? Und was genau ist damit gemeint, was ist Projektion und wie funktioniert sie? Diese Fragen haben sich bis heute als schwierig erwiesen (vgl. Neuser/Kriebel 1992). Sierksma hat sich der Beantwortung dieser Frage angenommen und dabei eine Reihe verschiedener Bedeutungen des Begriffs »Projektion« dargelegt. In seinem Bemühen um Klarstellung beruft er sich nicht nur auf die Psychologie und philosophische Anthropologie, sondern auch auf unterschiedlichste Befunde der Kulturanthropologie und Biologie (oder, wenn man will, der Tierpsychologie). Die folgende Darstellung seiner Gedanken ist unverzeihlich kurz, gibt jedoch ihre Grundzüge wider. Sierksma geht davon aus, dass der Menschen bestrebt ist, »die Wahrheit zu entdecken«, dass der Mensch als das wahrscheinlich einzige Wesen auf unserem Planeten weiß, oder zumindest zu wissen glaubt, zwischen Wahrem und Unwahrem, zwischen Objektivem und Subjektivem zu unterscheiden. Menschen erkennen, dass das, was sie wahrnehmen, nicht notwendigerweise der Realität entspricht. Jedes Tier, der Mensch inbegriffen, lebt in einer bruchstückhaften »Merkwelt«, um Von Uexkülls Terminologie zu verwenden: manche Dinge werden wahrgenommen, andere nicht; von der Welt-an-sich, einer im Prinzip unendlichen Zahl von Stimuli, wird nur ein »Ausschnitt« gemacht, der die eigene Welt des jeweiligen Tiers ausmacht. Auf diese Weise passt sich das Tier an die Welt an, aber ebenso passt es auch die Welt an sich selbst an. Das Ziel insbesondere der letztgenannten, subjektivierenden Funktion der Wahrnehmung (der »Projektion«) ist es, einer Welt Ordnung und Stabilität zu verleihen, die ansonsten reines Chaos bliebe; sie erfüllt mithin eine Funktion, die im Kampf um das Dasein von entscheidender Bedeutung ist. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren: Die Tiere leben zentrisch, der Mensch »ex-zentrisch« (um einen Begriff des Philosophen Plessner zu verwenden), das Tier hat kein Selbst-Bewusstsein, der Mensch aber schon; der Mensch kann sich ne-

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ben und gegenüber seiner selbst positionieren, er kann wissen, dass er durch seine Wahrnehmung die Welt auf bestimmte Weise organisiert. 7 Der Mensch muss in der Welt zurechtkommen, muss versuchen, sie mit den von ihm selbst geschaffenen Werkzeugen zu meistern. In analoger Weise versucht er, jenen Teil der Welt, der nicht beherrscht werden kann, durch das Mittel der Projektion auf indirekte Weise zu bewältigen. Wenn sich zum Beispiel ein »Eskimo« 8 durch eine Hungersnot bedroht weiß, projiziert er eine Göttin, die die Seerobben am Meeresboden gefangen hält. Die Einheit von Wort und Bild spielt hierbei eine wichtige Rolle: Das Wort ist ebenfalls ein indirektes Werkzeug des Geistes, das den Zugriff auf die Welt ermöglicht. Sobald dieses Werkzeug an seine Grenzen gerät, setzt der Mensch auf die Macht des »Wort-Bildes«. Mittels Wort und Werkzeug versucht der Mensch sich selbst zu vervollkommnen und Kontrolle über die Welt zu erlangen.

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Dieser Punkt ist zentral für Sierksmas Argument, ein Punkt, den er bei vielen Wissenschaftlern und Denkern bestätigt sieht: »[Man] objectifies and he subjectifies. He transcends himself, but he cannot cut himself loose from himself. That is the paradoxical situation of the homo proiiciens. The paradox of the being that simultaneously lives centrically and excentrically is reflected in the paradox [...] that [man] lives by appearance and reality. In appearance he finds reality, in reality he again and again discovers appearance. In what way ever one approaches man, one always encounters a paradox. The anatomist Bolk finds a grown-up fetus. The biologist Portmann finds a bird that is nidicolous and nidifugous at the same time. Sartre finds the paradox of the en-soi and pour-soi. One can continue: Nietzsche, Gehlen, Jaspers, all who do not limit themselves in a short-sighted specialty to one aspect or one fragment of man end up with man as paradox incarnate. It may therefore be considered an advantage and a confirmation of the thesis proposed here about human projection, that it too, issuing from a comparative approach to projecting man, encounters an irreducible paradox: man with projection and theory of knowledge, between appearance and reality, subjectifying-and-objectifying« (Sierksma 1956/1980: 26-27).

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In dieser kurzen Darlegung der Argumente von Sierksma habe ich natürlich dessen eigene Terminologie beibehalten, einschließlich seiner Verwendung männlicher Personalpronomen, um auf Menschen im Allgemeinen zu verweisen.

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Sierksma beschäftigt sich auch mit der Unterscheidung von Bewusstem und Unbewussten. Er stellt heraus, dass die externe und die interne Welt in gleicher Weise stabilisiert werden. Man könnte denken, dass die Projektion der eigenen Gefühle und Wünsche auf andere die externe Welt destabilisiert, doch was tatsächlich geschieht, ist die Wiederherstellung der gestörten Balance der inneren Welt. Projektion dient hier also als Schutzmechanismus (von denen es übrigens mehr gibt als die Psychoanalyse beschrieben hat), der den Menschen davor bewahren soll, von den Kräften seiner inneren Welt überwältigt zu werden. Für die Religionspsychologie besteht die Hauptaufgabe darin, zwischen der äußeren und inneren Welt zu unterscheiden, da es viele religiöse Projektionsphänomene gibt, die im wesentlichen als Abwehr gegen Gefahren von außen dienen, wie es in vielen »primitiven Religionen« der Fall ist, während in vielen Formen von Spiritualität Projektionen als eine Abwehr gegen die Unzulänglichkeit des Menschen im Angesicht seiner inneren Welt entstehen. Doch in beiden Fällen ist es die Subjektivität der inneren Welt, die den Mangel an objektivierender Distanz kompensiert. In beiden Fällen ist Projektion das Ergebnis menschlicher Begrenztheit und Unzulänglichkeit. Obwohl Sierksma zu Beginn des Buches gelegentlich etwas verdeutlicht, indem er Beispiele aus dem Bereich der Religion heranzieht, wird Religion selbst jedoch nicht vor dem vierten und letzten Kapitel thematisiert. Sierksma entpuppt sich als Vertreter einer sogenannten funktionalen Definition von Religion. 9 Angesichts der zahllosen Ver-

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Funktionale Definitionen von Religion stehen oft im Gegensatz zu substantiellen Definitionen, die auf eine Beziehung zu etwas Göttlichem oder zu einer heiligen Sphäre als Wesen der Religion verweisen würden. Im Lichte der Säkularisierung und der zunehmend diversen Verhaltensweisen, die allesamt immer noch als religiös bezeichnet werden, haben vor allem Religionssoziologen vorgeschlagen, die Religion durch die Funktionen für Individuen und/oder Gesellschaften zu definieren, die von »Religion« erfüllt werden, Funktionen, die durchaus von anderen Überzeugungen, Ritualen, Gemeinschaften usw. als den traditionell religiösen wahrgenommen werden könnten. Ein Problem mit substantiellen Definitionen ist, dass sie im Allgemeinen reduktionistisch sind und bereits als Essenz voraussetzen, was sie zu definieren und zu untersuchen vorgeben; ein Problem, auf das bei substantiellen Definitionen häufig hingewiesen wird, ist, dass sie nie allgemein gültig sind und oft eine bestimmte Religion favorisieren.

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suche, Religion in Bezug auf einen bestimmten Inhalt zu definieren, erscheint es am besten den Begriff als prinzipiell undefinierbar zu betrachten. Nach Sierksma besteht die einzige wissenschaftlich haltbare Minimaldefinition daher darin, Religion als diejenige Bewusstheit zu betrachten »that there is something« (Sierksma 1956/1980: 31). Diese Bewusstheit, dass es dort etwas gibt, was sich uns gleichwohl entzieht, das wir nicht in den Griff bekommen können, ist die notwendige Konsequenz aus der Korrelation von menschlicher Lebenswelt und Lebensform: In seiner ex-zentrischen Struktur wurde der Mensch zu seinem eigenen mysteriösen Hintergrund und parallel dazu hielt ihm seine Welt einen Hintergrund bereit. Der Mensch nimmt nicht Signale wahr, sondern sieht Dinge, die eine verborgene Rückseite haben. Für den Menschen ist es offensichtlich, dass ein Objekt (z.B. eine Tasse) mehr ist als das, was wir von ihm wahrnehmen, dass es eine Rückseite hat, Tiefe besitzt. Wir halten dies für offensichtlich, weil unsere exzentrische Lebensform ihre Entsprechung in einer ex-zentrischen Welt findet: Der Mensch selbst besitzt Tiefe, und entsprechend verfügt auch die Welt über Tiefe. Wie immer, wenn Sierksma sich auf die menschliche exzentrische Struktur bezieht, beruft er sich auf Plessner, der herausstellte, dass das transzendentale Ego, das unser anderes, erlebendes und handelndes Ego objektivieren kann und das uns unserer selbst bewusst macht, sich nicht selbst objektivieren kann (Plessner 1928: 292). In der Religion wird es zu einem Absoluten gemacht, es wird eine transzendentale Größe, metaphysisch hypostasiert (Sierksma 1956/ 1980: 167), eo ipso wird es zum Du, mit dem das Mystische eins werden will. Sierksma achtet den Mystiker und den Buddhisten: Wenigstens sie bleiben angesichts der unvermeidbaren Projektion nicht vollständig naiv. Obwohl ein Mystiker ebenfalls projiziert, betrachtet er die innere Welt gegenüber der äußeren Welt als prinzipiell und absolut überlegen, kann er seine Projektion doch leichter erkennen und auflösen. Der Nicht-Mystiker hingegen gründet sich gerade auf jene äußere Welt: wenn er diese durch Subjektivierung konstituiert, ergänzt er sie durch ein Stück innere Welt, wenngleich in Ermangelung von etwas Besserem. Sierksma hat ein eindrucksvolles Werk veröffentlich. Es kann als tragisch bezeichnet werden, dass es so wenige substantielle Reaktionen hervorgerufen hat. Zum Zeitpunkt der »Projektionsdebatte« wurden die Argumente des Buches kaum diskutiert, die Leute sprachen über Sierksmas Persönlichkeit, seinen Stil, seinen vermeintlichen

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Atheismus, doch gab es keinen Versuch, ihn zu widerlegen. Ein solcher Versuch wurde erst einige Jahre später von Han Fortmann, einem Priester und phänomenologisch orientierten Psychologen unternommen, doch kann dieser nicht als erfolgreich gelten (vgl. Belzen 2007). Lassen Sie mich, ohne auf die Geschichte der Projektionsdebatte oder die (Nicht-)Rezeption von Sierksmas magnum opus einzugehen, zu Fortmanns vierbändigem Werk As if seeing the Unseeable One lediglich anmerken, dass weite Teile dieses Werks nicht (mehr) das Thema Projektion behandeln und das Fortmanns Ansichten im Laufe der Jahre, die er an dem Buch schrieb, einem starken Wandel unterlagen. Beginnt er seine Ausführungen mit einem Frontalangriff auf jedweden Begriff der Projektion (als Phänomenologe wollte er zeigen, dass es so etwas wie Projektion nicht gibt), so gibt er zum Ende seiner Arbeit an, von seinen zuvor vertretenen Meinungen nicht mehr vollständig überzeugt zu sein; auf jeden Fall erkennt er, dass es falsch ist, die Existenz empirischer Formen von Projektion zu leugnen. Nach Fortmanns Buch zeigten niederländische (und andere europäische) Religionspsychologen bemerkenswert wenig Interesse am Projektionsproblem. In seinem ersten Hauptwerk zur Religionspsychologie gibt Vergote an, dass er das Thema nicht behandeln würde und Faber thematisierte es zwar 1985, erwähnte jedoch Sierksmas Beitrag mit keinem Wort (Vergote 1966/1967, Faber 1985). Da nie eine Übersetzung des Werkes erschien, wurde es im Ausland überhaupt nicht wahrgenommen. Der bereits erwähnte Amerikaner Bailey »entdeckte« die Arbeit während seiner Forschung zum Projektionsproblem und war sehr beeindruckt; er veranlasste sogar eine Übersetzung, die jedoch nur geringen Einfluss hatte. Lediglich Harvey (1995) behandelt Sierksma und stellt ihn auf eine Stufe mit Nietzsche, Feuerbach, Freud und später Guthrie und Becker. 3.2 Gestiegene Bescheidenheit Es gibt jedoch, teilweise aus der Projektionsdebatte resultierend, etwas anderes, das auf den ersten Blick als Fortschritt gewertet werden kann: es hat sich ein genauerer Blick auf die Bandbreite und die Beschränkungen der psychologischen (einschließlich der psychoanalytischen) Perspektive herausgebildet. Als die Psychologie in ihrer modernen, selbstbewusst-empirischen Form (um 1880) entstand, herrschte Euphorie in vielen Bereichen: Es wurde angenommen, dass die Aufde-

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ckung psychologischer »Gesetze« die Involviertheit des Menschen in alles Menschliche (also auch in Formen der Kultur, einschließlich der religiösen Kultur) aufspüren und offenlegen würde. Man erwartete Großes von der Psychologie, unter anderen von Seiten der Religionswissenschaften, die nach ihrer »Initiierung« durch den Deutschen Müller und den Holländer Tiele damit begonnen hatten, verschiedene, hauptsächlich historische Daten über unterschiedliche Religionsformen zu sammeln, denen jedoch noch eine systematische, analytische Perspektive fehlte (Molendijk 2005; Sharpe 1986). Die Psychologie schien die Lösung zu bieten: eine Wissenschaft schien im Entstehen begriffen, die mit ihrem Wissen über den menschlichen Geist erklären könnte, wie und warum Religionen so sind, wie sie sind, warum sie entstehen, existieren, untergehen. Die ersten praktizierenden Religionspsychologen waren gleichermaßen enthusiastisch und überschätzten fast ausnahmslos die Reichweite ihrer Perspektive. Die erste Monographie, die »Religionspsychologie« in ihrem Titel führte, obgleich sie nur auf einem sehr unzulänglichen Fragebogen 10 beruhte, gab vor, Schlussfolgerungen über »Religion« als solche ziehen zu können, statt (richtiger) Schlussfolgerungen über die Religiosität der Befragten (Starbuck 1899). James, Wundt und Girgensohn glaubten alle, mit der Hilfe vollkommen verschiedener Typen von Psychologie »Religion« wie sie ist untersuchen zu können. Nach und nach stellte sich jedoch das Bewusstsein ein, dass der psychologische Blickwinkel nur einen unter vielen darstellt, der, berechtigt wie er ist, immer durch andere Perspektiven ergänzt werden muss. (In mancher Hinsicht ist Freud hier bereits mit gutem Beispiel vorangegangen: Er betonte wiederholt den lediglich partiellen Charakter des psychoanalytischen Standpunktes, jedoch waren seine Worte für gewöhnlich so gewählt, dass sie, nachdem man seine Einleitungen gelesen hatte, den Eindruck vermittelten, dass dies offenbar das letzte Wort zu diesem Thema war…) Die Studie des Niederländers Sierksma zur religiösen Projektion war folglich kein Beispiel empirischer psychologischer Forschung, dafür aber echte Grundlagenforschung. Daher bewegt sie sich in Richtung Philosophie und Sierksma beansprucht in der Tat seine Ansichten

10 Der Fragebogen als solcher stellte allerdings eine Neuheit in der Erforschung von Religion dar; damit möchte ich keineswegs Starbucks Originalität in Abrede stellen.

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über Religion als Projektion nicht länger als Psychologe, sondern vielmehr als philosophischer Anthropologe zu vertreten. Er interessiert sich nicht mehr für Projektion als empirischen mentalen Prozess (wie auch immer dies zu verstehen ist), sondern für eine für den Menschen als solchen typische ontologische Struktur. Er spricht über Projektion nicht mehr in dem Sinne, den Freud diesem Konzept gab: der Platzierung von etwas Subjektivem (Wünsche, Instinkte, Gefühle) außerhalb des Menschen und seiner irgendwie gearteten Vergegenständlichung (und sei es nur, indem man es anderen zuschreibt). 11 Sierksma spricht tatsächlich von der Theorie des Wissens: Er beschreibt, wie notwendig es ist, dass Menschen die Welt auf bestimmte, unumgängliche Weise wahrnehmen, während sie (zumindest jene wenigen intelligenten Menschen, die darüber nachdenken) sich zugleich darüber bewusst sind, dass sie sie in einer bestimmten Weise wahrnehmen. Projektion ist ein normaler Bestandteil der menschlichen Wahrnehmung und spielt, neben anderen Dingen, auch eine Rolle in der Religion: Religion ist eine bestimmte Form der Interpretation von Wirklichkeit, Religion existiert weil der Mensch notwendigerweise projiziert. (Und es gibt sogar Religionsformen, die den projektiven Charakter religiöser Wahrnehmung als solchen anerkennen; ein Beispiel hierfür sieht Sierksma im Buddhismus.) Auch in einem zweiten Sinne lässt Sierksma die Grenzen der Psychologie weit hinter sich: er erklärt nicht, wie Wahrnehmung (ein zentrales Thema der Psychologie) und wie Projektion als Teil dieser Wahrnehmung religiös oder nicht religiös funktionieren; er greift die Frage auf, warum Religion an sich existiert – eine Frage, die von den

11 Mit seinen theoretischen Reflexionen bewegte sich Sierksma in dieselbe Richtung, die, so Harvey (1995), der späte Feuerbach eingeschlagen hatte. Im Jahr 1851 vertrat Feuerbach angeblich die These, dass der Mensch, angetrieben von Gefühlen, Befürchtungen und Verlangen, bestimmte Qualitäten seiner Umgebung abstrahiert und personifiziert (oder, im Falle des Monotheismus, diese Abstraktionen zusammenführt und personifiziert). Auch geht es dem späteren Feuerbach nicht mehr darum, etwas außerhalb des Menschen zu platzieren, von dem man annimmt, dass es nur im Menschen selbst vorhanden ist; es geht ihm vielmehr darum, eine unvermeidliche Modalität der menschlichen Wahrnehmung zu finden, ein »Gitter«, wie Harvey es nennt, das uns in unserer Wahrnehmung aufgezwungen wird und uns die Welt so sehen lässt, wie wir sie sehen.

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meisten Religionspsychologen der fünfziger Jahren als außerhalb ihrer Kompetenzen liegend erklärt wurde. Wie auch Wulff in seiner Untersuchung über führende Theorien in der Religionspsychologie bemerkt (1997a: 15), thematisieren die meisten Religionspsychologen Religion nicht mehr als ein Makrophänomen auf der Ebene von Kultur, sondern nur noch über das religiöse Funktionieren von Individuen. Ein heutiger Religionspsychologe, so wie Vergote, der den Grundlagen seiner Disziplin große Aufmerksamkeit schenkt, bestreitet nicht mit vielen Worten, dass human-psychologische Prozesse die verschiedenen historisch gewachsenen religiösen Lebensformen (im Wittgensteinschen Sinne) beeinflusst haben, doch schließt er die Frage nach dem humanpsychologischen Anteil an der Entwicklung von Kultur und Religion aus. Mit dem Kulturanthropologen Evans-Pritchard (1965) behauptet Vergote, dass der Ursprung von Kultur wissenschaftlich nicht untersucht werden könne: Einerseits fehle es an dem hierfür nötigen historischen Wissen, andererseits seien Kultur und Religion nirgends in statu nascendi vorfindbar. Jene, die Behauptungen über den Ursprung und die Genese aufstellen, beziehen sich selbst auf ein Wissen darüber, was sie bisher selbst untersuchen konnten (was aber gerade nicht dieser Ursprung oder die Genese ist), und sie machen unzureichend validierte theoretische Annahmen (Vergote 1983/1997: 19). Wir werden hierauf am Ende unserer Ausführungen zurückkommen. Lassen Sie uns zunächst einige »Innovationen« der Psychoanalyse im Allgemeinen betrachten.

4. E INE P RÄZISIERUNG PSYCHOANALYTISCHER

ANSÄTZE

In der Psychoanalyse selbst haben nach Freud zahlreiche Entwicklungen stattgefunden, die nicht in jeder Hinsicht unzweifelhaft als Beispiele von »Fortschritt«, wie auch immer dieser verstanden werden mag, bezeichnet werden können. (Die Anhänger verschiedener psychoanalytischer Schulen kommen hier zu divergierenden Einschätzungen; so stehen beispielsweise Lacanianer in der Regel der Entwicklung der »Ego-Psychologie« [deren Ableger die sogenannten ObjektRelations-Theorien sind] sehr kritisch gegenüber, und die meisten Psychoanalytiker neigen dazu, Kohuts sogenannte Selbstpsychologie nicht als Innovation innerhalb der Psychoanalyse, sondern als Abwei-

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chung von ihr zu betrachten.) Doch abgesehen von der Frage, ob sie effektivere Formen der Psychoanalyse verwendeten als Freud, gelang es späteren Autoren zumindest, die Methodologie ihrer Anwendungen innerhalb der Religionspsychologie zu präzisieren. Zwei Beispiele sollen genügen. Die Entwicklung, die von Jacques Lacan angestoßen wurde (von der Lacan sagt, dass sie eine retour à Freud war, der Wunsch von neuem zu verstehen, was Freud sagen wollte, anstelle das, was insbesondere die amerikanische Psychokultur daraus gemacht hatte) stimulierte einige wichtige theoretische Arbeiten über die Grundlagen der Psychoanalyse (vgl. u.a. Laplanche 1987; Vergote 1997/2002). Ein Religionspsychologe dieser Traditionslinie wie Vergote betont – darin Lacans Augenmerk auf die symbolische Ordnung folgend í, dass ein Kind mit einer spezifischen historisch und kulturell determinierten Form einer bestimmten Religion in Berührung kommt und eine bestimmte Beziehung zu ihr entwickelt. Wenn sie diese Beziehung (egal welcher Natur) eingehen, bringen Menschen ihre Subjektivität mit in sie ein und daher trägt das Bild, das ein Individuum von (einem) Gott hat (einem Gott, dem das Individuum in welcher Tradition auch immer vertraut), immer auch, neben den Eigenschaften einer bestimmten religiösen Tradition, Spuren des eigenen Vaters und der Mutter. Dies bildet eine deutliche Korrektur zu einigen von Freuds Aussagen, wenn auch nur im Hinblick auf ein Detail: während Freud glaubte, dass das persönliche Gottesbild einer Person von dessen Vater-Bild herrührt, kam Vergote nach extensiver Forschung, die er in unterschiedlichen Kulturen durchgeführt hatte, zu dem Ergebnis, dass auch mütterliche Qualitäten das individuelle Gottesbild charakterisieren (Vergote/Tamayo 1980). Der Objektbeziehungsansatz, den Winnicott in die Psychoanalyse eingeführt hatte, brachte eine ganze Reihe an Publikationen hervor, die oftmals eine viel positivere Einstellung gegenüber Religion haben als die Beiträge der psychoanalytischen Religionspsychologie durch die Anhänger Freuds aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts (Jones 1991; für einen kurzen Überblick vgl. Meissner 2000). Eine Untersuchung aus dieser Tradition, die heute als Klassiker gilt, ist die von Rizzuto (1979). Wie Vergotes Ergebnisse korrigieren auch ihre Schlussfolgerungen die oben genannte Aussage Freuds: »Gott« ist immer mehr als ein erhabener Vater. Rizzuto hält sich streng zurück, ein Urteil über den ontologischen Wahrheitsgehalt einer wie auch immer gestalteten Ansicht über Gott zu fällen und unterscheidet stets zwischen Gott wie

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er in bestimmten religiösen Traditionen dargestellt wird und dem individuellen Bild von Gott. Die Psychoanalyse befasst sich lediglich mit letzterem und deckt die Spuren darin auf; nicht nur die des biographischen Vaters, sondern vieler anderer, die für das Individuum wichtig sind und auch Spuren des Individuums selbst. (Und wenn Rizzuto von »birth of the living god« spricht, ist mit diesem lebendigen Gott nicht Gott-an-sich (god-in-himself) gemeint oder Gott wie er in einer bestimmten Tradition dargestellt wird, sondern der vom Einzelnen erfahrene Gott; daher spricht auch sie von der Formation und Funktion einer persönlichen Beziehung zu einem kulturell gegebenen Gotteskonzept.) Nebenbei: diese psychoanalytischen Religionspsychologen (und außer psychoanalytischen Religionspsychologen spricht natürlich kaum jemand über Gottesbilder, Projektion und dergleichen) wenden sich diesen Problemen nicht länger in Begriffen von Projektion zu í was verständlich ist, da hier nicht in erster Linie Projektion sondern Übertragung beteiligt ist, wie oben bereits angemerkt wurde. Wir sahen auch bereits, dass von ihnen die Frage nach der Existenz von »Religion«, einer religiösen Traditionen als solcher, nicht gestellt wird. Vielmehr lehnen sie Freuds Versuche ab, Aussagen über Religion auf einer kulturellen Ebene zu treffen, Religion als ein kulturelles System symbolischer Handlungen und Interpretationen zu begreifen. Dennoch kann man fragen, ob sie damit nicht eine Frage verwerfen, zu deren Beantwortung die Psychologie beitragen kann. Wir werden kurz darauf eingehen. Anlass dafür bilden einige gegenwärtige Entwicklungen, die zumindest in methodologischer Hinsicht eine bemerkenswerte Bestätigung psychoanalytischer Sichtweisen zu liefern scheinen.

Z WISCHENFAZIT : F ORTSCHRITT ? Zunächst sei bemerkt, dass es auf der Ebene der psychologischen Theoretisierung von Projektion seit Sierksma keinen Fortschritt geben hat, der vergleichbar mit dem wäre, was Freud bereits vorgelegt hatte. Wie Freud selbst will Sierksma weitergehen als es die Instrumente der Psychologie erlauben: Freud gelangt zu diesen Werturteilen über Religion als solche auf der Grundlage seiner positivistischen und szientistischen Weltanschauung. Sierksma betätigt sich als Epistemologe, der die Existenz von Religion mit dem Wesen menschlicher Wahrnehmung

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verbindet. Insofern Religionspsychologen wie Vergote und Rizzuto fähig sind, Freud zu übertreffen, so ist das nicht auf dem Gebiet der Projektion; sie machen allerdings deutlicher, welche subjektiven Faktoren eine Rolle in der Formation des individuellen Gottesbildes spielen. Daher könnte man annehmen, dass, wenn es einen Fortschritt seit Freud geben hat, dieser in einem besseren Verständnis und Einsatz der von ihm entwickelten Perspektive besteht. Psychoanalytische Erkenntnisse sollten auf beschränkterer Weise angewendet werden als Freud selbst glaubte (sie dürfen nicht auf der kulturellen Ebene angewendet werden) und sie sollten mit größerer Präzision verwendet werden (das individuelle Bild von Gott trägt keineswegs nur die Zeichen des autobiographischen Vaters, wie Freud es formulierte). In diesem Lichte betrachtet und angesichts der Tatsache, dass Sierksma nicht in der Lage war, die These von der Projektion als psychologischem Mechanismus voranzutreiben, sollte man, was Letzteres angeht, besser von einem Rückschlag und nicht von einem Fortschritt sprechen: weil nämlich Sierksma begann, Religion abermals als ein kulturelles anstelle eines begrenzteren individuellen Phänomens zu betrachten. Bailey würde sich dann irren, wenn er nahelegen wollte, dass wir Sierksma da ernst zu nehmen haben, wo es um Projektion und psychoanalytische Religionskritik geht. Das Merkwürdige ist allerdings, dass Feuerbachs, Freuds und Sierksmas Versuche, Religion auch auf einer kulturellen Ebene zu diskutieren, was mit Blick auf einen »Fortschritt« zurückzuweisen wäre, gegenwärtig von unerwarteter Seite Unterstützung erfahren. Ich möchte drei Ansätze erwähnen und das Paradox aufzeigen, dass einige der Dinge, die wir bei Freud als falsch erachtet haben, nun wieder von modernen Wissenschaftlern bemüht werden, obgleich sie Freuds Arbeiten nicht kennen und manchmal sogar annehmen, etwas Originelles zu tun.

5. U NERWARTETE B ESTÄTIGUNG In den vergangenen Jahren gab es einige Publikationen, die eine bemerkenswerte Bestätigung einer Reihe von methodologischen Einsichten der psychoanalytischen Religionspsychologie bieten. Erstaunlich ist, dass sie Ansätzen aus der Psychologie oder den Sozialwissenschaf-

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ten entstammen oder ähneln, die für gewöhnlich keine Verbindung zur Psychoanalyse haben und sich auch selbst als Ansätze ganz anderer Art verstehen (nämlich »echt wissenschaftlich«) und daher generell kaum etwas über psychoanalytische Religionspsychologie wissen. Wir sprechen über Disziplinen wie Neurobiologie, Kognitionswissenschaften und Evolutionspsychologie. Bisher haben es nur wenige Autoren geschafft, eine Brücke zwischen ihren Disziplinen und der psychoanalytischen Tradition zu schlagen. Psychoanalyse und Neurobiologie. Ein seltenes Beispiel eines Autors, der sich darauf versteht, unterschiedliche Perspektiven zu integrieren ist Mel Faber, dessen eigener Hintergrund noch dazu in einem ganz anderen wissenschaftlichen Feld liegt. Als Professor für Literaturwissenschaften versucht Faber in einer faszinierenden Reihe von Argumenten, Psychoanalyse und Neurobiologie miteinander zu verbinden. Seine Monographie ist zu reich an Ansichten, um diese in nur wenigen Sätzen zusammenzufassen zu können. Eines seiner Hauptziele ist es zu zeigen, dass die Aufmerksamkeit, die viele Psychoanalytiker der frühen Kindheit haben zukommen lassen, von der gegenwärtigen neurobiologischen Forschung gerechtfertigt werden kann: das kindliche Ur-Erlebnis führe auf psychologischer Ebene zu bestimmten Strukturen (Synapsen), welche die Wahrnehmung strukturieren und eine Inspiration für Religion bereitstellen. »During the course of the early period the basic biological situation of asking and receiving between caregiver and offspring is internalised synaptically into the mind-brain of the developing child to become a rooted perceptualneurological response to subsequent events (an attractor state). Over and over again, thousands of times, for years, the needful child asks and receives through the ministering interventions of the all-powerful parental provider. Mnemonic development among humans is such that virtually all of this previous, foundational interaction is fated to go ›underground‹, to pass into the unconscious realm through the advent of what neurobiology terms infantile amnesia. Accordingly, and in reference to religious experience, one remembers the early period implicitly when one is primed to do so by a wide variety of inward or external cues, including most notably (1) supplication, the theological instructions for which draw directly upon the asking and receiving of the basic biological situation, and (2) crisis, in many forms such as physical danger and personal setback (loss), which awaken implicit mnemonic longings for inter-

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vention by the succoring caregiver who is now projectively present as the benign Parent-God of religious narrative.« (Faber 2004: 181-182)

Nach Faber spielt Projektion nicht als etwas vermeintlich Pathologisches eine Hauptrolle in der Wahrnehmung, sondern als etwas, das in unserer frühesten Kindheit verwurzelt ist: die Beziehungen und Erfahrungen jener Tage legen im Menschen eine Wahrnehmungsverzerrung an. So ist es ganz logisch, dass menschliche Wesen auf das Gotteskonzept, mit dem religiöse Traditionen sie ausgestattet haben, Bilder, Erfahrungen und Gefühle übertragen, die sie mit denjenigen »Göttern« verbinden, die ihre Eltern und/oder ihre primären Fürsorgepersonen für sie darstellten. Daher ist Religiosität keine Neurose, noch ist Religion Unsinn. Faber mag in einiger Hinsicht nuancierter sein als Freud (er ist zum Beispiel nicht anfällig für Szientismus) aber au fond ist er ihm sehr nahe: genau wie Freud gibt er an, dass er weder fähig sei, noch dass es ihm zustünde, über die Wahrheitsansprüche von Religion(en) zu urteilen (ob da draußen ein »Gott« existiert, unabhängig von dem Gotteskonzept, wie es sich durch menschliche Übertragung konstituiert und es durch eine religiöse Tradition ausgestattet ist, ist eine Frage, zu der Psychologie nichts zu sagen hat). Er macht aber auch deutlich, dass er persönlich ebenso sehr wie Freud ein Atheist ist. Kognitionswissenschaft. Gegenwärtig hat eine Reihe von Anthropologen begonnen, Teile der Psychologie ernst zu nehmen, insbesondere Teile der Kognitions- und Evolutionspsychologie. Aus anthropologischer oder generell sozialwissenschaftlicher Perspektive können natürlich viele Fragen zu Religion als einem kulturellen Phänomen gestellt werden: warum ist Religion für viele Menschen so wichtig, warum gibt es so viele Formen von Religion, warum sind Menschen bereit, alles für ihre Religion zu geben, warum besteht Religion weiter fort, obgleich sich herausstellt, dass es effizientere Arten des Nachdenkens über die Welt gibt, etc.? Der Anthropologe Boyer (2001) gibt eine Antwort darauf, indem er sich auf den menschlichen Verstand bezieht: die Weise, wie der menschliche Verstand arbeitet, ist verantwortlich für Religion. Durch natürliche Auslese ist der menschliche Geist so ausgerüstet, dass er bestimmte Arten von Information in sich aufnehmen und auf bestimmte Weise behandeln kann; so wie die Evolution verlief, hat sie den Verstand mit Veranlagungen ausgestattet. Boyer sagt nicht, dass jeder religiös ist oder wird, er behauptet lediglich, dass eine Person nur auf eine bestimmte, fast vorhersehbare Art,

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religiös werden kann und dass, wenn eine Person als religiöse Person auftritt, dies auf bestimmte Art und Weise geschehen wird (eine Art und Weise die anderen ähnlich ist – Variationen sind viel geringer als die phänomenale Ebene gelebter Religionen vermuten ließe). 12

12 Angeregt durch Autoren wie Boyer hat sich eine kleine Gruppe von Religionswissenschaftlern gebildet, die wie er Teile der Kognitionspsychologie liest und anscheinend von ihren Ergebnissen mitsamt ihren Experimenten und Statistiken begeistert ist. Religionswissenschaftler erfahren während ihrer Ausbildung lediglich von den älteren Theorien Freuds und Jungs, aber nicht von der Menge an Forschung und Untersuchungen, die seitdem innerhalb wie außerhalb der Psychoanalyse erschienen sind. Religionshistoriker wie Whitehouse (2004; White-house/McCauley 2005) sind augenscheinlich glücklich, »endlich« eine Form der Psychologie gefunden zu haben, die »wahrhaft wissenschaftlich« (»truly scientific«) ist und ihnen in ihrer eigenen Forschung dienen kann. Aber das Niveau/der Stand des Ganzen ist oftmals noch enttäuschend trivial. Nimmt man beispielsweise die in Andersen (2001) vorgebrachte Hypothese, dass Hirnprozesse von entscheidender Bedeutung für Religion sind. Mit allem Respekt: klingt das nicht simpel? Sind nicht auch die Blutzirkulation und Hormone wichtig? Wenn jemand dann extensiv zeigt, dass bei Kindern mit autistischer Störung oder mit Dysfunktionen des präfrontalen Gehirnlappens keine »normalen« Repräsentationen von Gott gefunden werden können, was ist dann damit bewiesen? Was wissen wir dann mehr über »Religion«? Etwas größere Kenntnis religionspsychologischer Konzepte und sozialwissenschaftlicher Methodologie im Allgemeinen wäre diesen »cognitive scientists of religion« nützlich gewesen (man beachte: obwohl bisweilen kluge Gelehrte der Theologie oder Religionswissenschaften, sind die meisten von ihnen nicht als »Wissenschaftler« ausgebildet); die »central assumption of the cognitive science of religion« muss in den Ohren von Psychologen (seien es Religionspsychologen oder nicht) hoch trivial klingen: »all religious thought is constrained by cognition« (in Whitehouse/McCauley 2005: 188). Das ist definitiv keine neue Einsicht oder methodologische Verbesserung der Psychologie aus den Zeiten Freuds, James‘, Wundts und anderer Begründer. (Es kann sogar in der scholastischen Philosophie nachgelesen werden: »omne quod recipitur, recipitur secundum modum recipientis«.) Siehe auch die mit viel Nachdruck aufgestellte These, dass Religion das ist, wie sie ist, seit der menschliche Geist ist, wie er ist (Slone 2004).

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Als Nicht-Psychologe ist Boyer nicht so sehr an der Art und Weise interessiert wie religiöse Bedeutung entsteht und in Individuen oder Gruppen strukturiert ist; er ist mit der viel fundamentaleren Frage von Religion als solcher befasst (aber anders als Faber gibt er kein finales Werturteil darüber ab). Evolutionspsychologie. Interessanter noch, sicherlich innovativer, sind die Versuche einiger Anthropologen, die Evolutionspsychologie in ihre Auseinandersetzungen einzubringen. Guthrie (1993), zum Beispiel, erklärt Religion aus evolutionärer Perspektive: Menschen seien genetisch mit einem bestimmten kognitiven Bias ausgestattet, um nämlich uneindeutige Dinge und Ereignisse so deuten zu können als wären sie von großer Bedeutung. Von großer Bedeutung ist das, was lebt und im Besonderen das, was menschlich ist. Damit tendieren wir dazu, das, was uns umgibt, analog zu uns selbst, als »lebendig« zu verstehen, als belebt. Wenn wir uns dabei irren (beispielsweise einen Ast für eine Schlange halten) verlieren wir nicht viel, aber wenn wir richtig liegen, gewinnen wir manchmal (fast) alles, wie zum Beispiel unser eigenes Leben. Götter, Dämonen und ähnliche »übernatürliche« Entitäten befinden sich in Guthries Sicht am Ende eines Spektrums menschenähnlicher Wesen, von denen wir meinen, sie in der Welt wahrzunehmen. Genau wie Boyer bekämpft Guthrie zahlreiche mehr oder weniger popularisierten Ansichten über »Religion«, zum Beispiel funktionale Erklärungen der Existenz von Religion. Man kann ihren Ursprung nicht von einem Effekt her erklären (wie zum Beispiel den Trost, die Weltanschauung, die Legitimation von Moral, etc., die Religion bieten kann). Es wird angenommen, dass der Ursprung auf einer primitiveren Tendenz beruht, mehrdeutige Phänomene auf eine bestimmte Art und Weise überzubewerten. Diese Tendenz war sehr nützlich, ja im Laufe der Evolution sogar notwendig und wurde daher durch natürliche Auslese verstärkt. Religion ist daher Animismus und Anthropomorphismus intuitiver Art, also spontan und unabhängig von äußerer Vormundschaft. Die evolutionäre Perspektive an und für sich scheint nicht psychologisch zu sein, vielmehr bietet die Evolutionstheorie einen Rahmen, in den psychologische Beschreibungen und Erklärungen integriert werden können. Verschiedene Mechanismen, die auch in der Psychoanalyse anerkannt sind, offenbaren sich selbst als Resultat einer langen Menschheitsgeschichte. (Ein Beispiel stellt das so genannte Bindungssystem dar, vgl. Kirkpatrick 2005, doch ließe sich das auch für Repres-

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sion, Projektion, Übertragung und andere Mechanismen zeigen, die von der Psychoanalyse angeführt werden). Die unterschiedlichen religiösen Aktivitäten und Erfahrungen, die sich im kulturellen und im zeitlichen Vergleich finden lassen, stellen sich als Nebenprodukte dieser psychologischen Mechanismen und Systeme heraus, die sich entwickelt haben, um ganz anderen evolutionären Funktionen zu dienen. Zu beachten ist, dass die Autoren, die dieser Argumentationslinie folgen, religiöse Phänomene nicht mit Hilfe der Psychologie erklären, sondern mittels einer evolutionären Perspektive, und vielleicht liegt hierin auch schon das Problem: Sie leiten zu viel aus zu wenigen Prämissen ab und lassen allerlei kulturtheoretische Einzelheiten außer Acht, da sie der Annahme sind, dass diese unter Adaptation und Selektion gefasst werden können. Folglich bieten sie keine Erklärungen mehr auf den Ebenen, auf denen die Psychologie und die Sozialwissenschaften operieren. Mit anderen Worten: Obwohl sie bestimmte psychologische Ansätze, einschließlich der Psychoanalyse bekräftigen und interpretieren, tragen sie doch nichts zu ihnen bei und damit auch nicht zum Fortschritt psychologischer Theoriebildung. Sie sprechen allerdings, sogar bevorzugt, über Religion auf der Ebene von Kultur (und sogar der Menschheitsgeschichte), doch enthalten sie sich, wenn es darum geht, Aussagen über die ontologischen Wahrheitsansprüche von ganz bestimmten Religionen zu machen. Diese modernen Religionswissenschaftler stellen eine Tendenz unter Beweis, die wir an Freud zuvor kritisiert fanden und von der spätere Religionspsychologen meinten, sie richtig gestellt zu haben: sie wollen »Religion« wieder als solche diskutieren, nicht bloß individuell religiöse Erfahrungen und Handlungen, sondern auch Religion als kulturelles Phänomen auf der Makroebene; und dies nicht etwa, weil sie als Religionsanthropologen oder Religionswissenschaftler auf der Makroebene tatsächlich andere als nur psychologische Ansätze ins Spiel bringen könnten, sondern auf Grundlage genau jener Psychologie. Genau das, was an Freud kritisiert wurde, ist also das, was die Religionsforscher praktizieren. Barrett (2004) zum Beispiel schrieb ein dünnes Buch mit dem provokativen Titel »Why would anyone believe in God?«. Knapp dargelegt, gelangt er zu folgender Aussage: Aufgrund ihrer biologischen Ausstattung benutzen Menschen kulturübergreifend strukturell die gleichen kognitiven Werkzeuge: ohne sich dessen bewusst zu sein, nutzen sie alle bestimmte »mental tools«, die ihr Denken über die Welt in spezifischer Weise bestimmen. Mit diesem

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mentalen Rüstzeug sinnieren die Menschen auch über Gott und Gottheiten. Das Postulat eines allwissenden, allmächtigen und unsterblichen etc. Gottes ist an das menschliche Denken angepasst und kann daher sehr leicht verbreitet und kaum beseitigt werden.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Ob die Psychologie (oder irgendein psychologischer Ansatz) jemals eine wesentliche Entwicklung dadurch erfahren hat, dass sie auf die Erforschung und Analyse religiöser Phänomene angewendet wurde, ist zu bezweifeln, kann aber an dieser Stelle nicht ausgiebig diskutiert werden. Noch brauchen wir die Frage zu beantworten, ob die Integration psychologischer Sichtweisen in die Erforschung religiöser Phänomene in erster Linie eine Art Begleiterscheinung oder ein Beispiel für die enorme Verbreitung der Psychologie in einigen westlichen Ländern im Allgemeinen darstellt (und somit, etwas böswillig formuliert, das Befolgen einer bestimmten Mode). (Die Antwort darauf würde zudem davon abhängen, wie die Verbreitung der Psychologie im Allgemeinen evaluiert wird, sowie von einer psychologischen Analyse religiöser Phänomene als solchen). Wir wollen jedoch festhalten, dass die Proliferation der Psychologie (und die damit einhergehende Protopsychologisierung einer Reihe von Alltagsphänomenen 13) eine wichtige Voraussetzung und Begleitung für die Wende zur Erfahrung darstellt, welche in Bereichen der (christlichen) Theologie und den Religionswissenschaften der westlichen Welt während des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat. Am Ende dieses Artikels sollten wir nun aber auf die zu Anfang gestellten Fragen zurückkommen und diese beantworten: was ist das Ergebnis von einem Jahrhundert psychoanalytischer Religionspsychologie? Hat es eine Entwicklung in der psycho-

13 Man denke an die »psychologisierende« Art und Weise, wie Menschen im Westen sich heute ausdrücken, wenn sie über sich selbst sprechen, über ihr Leben und ihre Beziehungen; ein psychologischer Jargon, manchmal in einer höchst missverstandenen Weise, hat Einzug in die Alltagssprache gehalten (Menschen sprechen von »Komplexen«, an denen sie leiden, von »unbewussten« Gründen, sie sagen »was ist dir durch den Kopf gegangen, als...«, sie erzählen, wie sie sich fühlen, etc.).

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analytischen Religionspsychologie gegeben? Was wurde zum Beispiel aus der Vorstellung, dass Religion Projektion sei? Wie unsere Diskussion bisher deutlich gemacht hat, kann darauf keine eindeutige Antwort gegeben werden. Jede kurze Antwort könnte, ja müsste sogar, mit kritischen Kommentaren versehen werden. Die Antworten werden sich je nach Meinung, die jemand zu einer Reihe anderer Gegenstände hat, unterscheiden. Wenn einer zum Beispiel denkt, dass Psychoanalyse keine richtige wissenschaftliche Psychologie ist (weil Psychoanalytiker zum Beispiel keine experimentelle Forschung betreiben), dann wird er nicht viel von der Anwendung psychoanalytischer Perspektiven auf die Erforschung von Religion halten. Wenn jemand denkt, dass humanwissenschaftliche Ansätze irrelevant für Theologie und Religionswissenschaften als solche sind, wird er psychoanalytische Beiträge nicht lesen. Aber auch diejenigen, die der Religionspsychologie positiver gegenüberstehen, könnten etwas enttäuscht sein, wenn sie bestimmte Konzepte der Psychoanalyse näher betrachten. Über Projektion zum Beispiel hat die gegenwärtige Psychoanalyse kaum mehr zu sagen als zu Freuds Zeiten. Und was die oft gehörte Vorstellung angeht, dass Religion Projektion sei, so stellt sich das ganz anders dar als es auf den ersten Blick scheint: Auch wenn Freud der Religion negativ gegenüberstand, so sah er sie nicht als Projektion an; er hätte zugestimmt, wenn jemand gesagt hätte, das Projektion eine große Rolle in der Religion spielt. Aber nachdem man sich von dem möglichen Schock erholt hat, der durch die Eröffnung einer psychologischen Perspektive auf religiöse Phänomene überhaupt entstanden ist, kann man feststellen, dass die Vorstellung, Projektion könne eine Rolle in der Religion spielen, eher trivial ist: sicherlich, Projektion kann eine Rolle spielen, so gut, wie es auch andere psychischen Mechanismen können. Religion ist menschliche Realität, sie hat großen Anteil an den Wechselfällen menschlichen Lebens, sie beeinflusst diese und ist von ihnen beeinflusst, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass man im religiösen Leben all das finden kann, was die Psychologie im Allgemeinen untersucht. Gewiss, Religiosität ist auch eine Sache der Projektion, Verdrängung, Fantasie, Zugehörigkeit, Bewältigung (um nur einige derjenigen psychologischen Konstrukte zu nennen, die einige Religionspsychologen betonen, wie z.B. Van der Lans 1988; Kirkpatrick 1992; Pargament 1997): alle menschlichen Angelegenheiten spielen letztendlich eine Rolle. Um ein bekanntes Résumé klinisch-psychologischer Forschung über Religion zu zitieren:

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Religion kann in Verbindung mit seelischer Gesundheit und Psychopathologie alles sein: eine Ursache seelischer Krankheit, aber auch eine Prophylaxe, eine Therapie, ein Medium, durch das sich eine Störung manifestiert, etc. (Hood et al. 2009). Eine andere Frage ist, ob Religion nichts weiter ist als eine Sache der Projektion, Fantasie, Zugehörigkeit, Bewältigung etc. Eine derart reduktionistische Sichtweise wäre ziemlich naiv und wurde jedenfalls nicht von Freud vertreten. Gewiss, er hat sich kritisch über Religion geäußert, er dachte sie sei überholt, glaubte nicht an sie und gab mitunter ein Pauschalurteil über sie ab, aber generell sah er ganz deutlich, dass Religion als ein komplexes kulturelles Phänomen nicht auf Grundlage irgendeiner psychologischen Perspektive erklärt werden kann (und sicherlich nicht, indem man sich auf einen einzigen psychischen Mechanismus beruft); über individuelle Religiosität hat er nie gesagt, dass diese als solche pathologisch sei. Freud erweist sich als nuancierter als viele, die sich auf ihn beziehen, zu bemerken scheinen; sie hätten besser Freud selbst gelesen anstatt seine vielen Anhänger. Gab es also keinen Fortschritt seit Freud? Man kann nur wiederholen, dass die Antwort von den Sichtweisen abhängt, die jemand auf viele andere Bereiche anlegt. Wenn jemand denkt, dass die Entwicklungen, die im Bereich der Psychoanalyse seit Freud stattgefunden haben, Beispiele für einen Fortschritt darstellen, dann werden natürlich darauf basierende Analysen religiöser Phänomene adäquater erscheinen als diejenigen Freuds selbst. Jemand, der diese Meinung vertritt, muss sich auf jeden Fall klar darüber sein, dass 1. diese unterschiedlichen Schulen miteinander im Konflikt stehen, und 2. Publikationen eines Autors einer bestimmten religionspsychologischen Schule von anderen Autoren derselben Schule abgelehnt werden können, man muss sich z.B. nur ansehen, wie kritisch Meissner (2000) und Faber (2002) Publikationen derjenigen von Jones (1991) gegenüberstehen. Es mag seit Freud einen Fortschritt hinsichtlich derjenigen Themen gegeben haben, zu denen er sich tatsächlich zu pauschal geäußert hat. Dass Gott sich auch psychologisch, nämlich als individuelle Repräsentation, als ein anderer und mehr als nur ein verherrlichter Vater erweist, wurde zu Zeiten der Publikationen Vergotes, Rizzutos und anderer, als eine wichtige Korrektur und Ergänzung gesehen. Es ist aber fraglich, ob dies eine theoretische Verbesserung der von Freud begründeten Perspektive als solche bedeutet. Für die meisten anderen »Korrekturen« Freudscher Aussagen zur Religionspsychologie trifft

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zu, dass Freud selbst diese nicht abgelehnt hätte: er stellte klar, dass seine Reflexionen über Religion keinen integralen Teil der Psychoanalyse darstellen und er erlaubte anderen großzügig, sich derselben psychoanalytischen Theorien und Konzepte zu bedienen, um zu völlig anderen religionspsychologischen Schlussfolgerungen zu gelangen als er selbst (Freud-Pfister 1963). In dieser Hinsicht erweist sich die private Überzeugung eines psychoanalytischen Autors über Religion í wenn er eine solche Überzeugung hat í als wichtiger für seine Schlussfolgerungen als jede Form von Psychoanalyse, die er verwenden mag. Psychoanalyse war in ihren Anfängen eindeutig religionskritisch; später gab es eine ganze Reihe religiöser Personen, die sich mit ihr befassten und darin zu Experten wurden und psychoanalytische Arbeiten publizierten, die Religion gegenüber viel positiver waren als diejenigen Freuds und seiner ersten Anhänger. (Bekannte Autoren wie Vergote, Meissner, Jones und Scharfenberg wurden alle Priester in ihren jeweiligen Kirchen.) In dem Maße, in dem ihre Vertrautheit mit und mögliche Sympathie für den Gegenstand ihrer Studien es solchen Autoren erlaubte, ihren Forschungsgegenständen gerechter zu werden, ist dies sicherlich eine Art des Fortschritts in der psychoanalytischen Religionspsychologie (sofern das Ganze nichts Besseres als Entschuldigungen hervorgebracht hat, gilt das vermutlich weniger). Es ist bemerkenswert, dass nun eine gewisse Purifikation der psychoanalytischen Perspektive scheinbar eher als ein Nachteil denn als Vorteil erachtet wird. Es wird wahrscheinlich notwendig sein, den Wunsch, die Autorität der Psychologie in der Analyse individueller Religiosität zu begrenzen, neu zu evaluieren, denn sonst würde die Psychologie als untauglich gelten, sich mit Religion als einem kulturellen Phänomen zu beschäftigen. Letztendlich gibt es eine psychologische Dimension von Produkten religiösen Handelns auf der kulturellen Ebene, so wie Dogmata, Rituale und Symbole im Allgemeinen. Wie die Kognitionswissenschaften zur Religion recht mutig verkünden, wird Religion niemals in der Lage sein, anders zu funktionieren oder anders zu sein als das menschliche Bewusstsein sie produzieren kann. Diese Einsicht kann aber auch in eine historische Richtung ausgeweitet werden: damals wie heute wird die Existenz und das Wachstum unterschiedlicher Religionsformen davon abhängen, was das menschliche Bewusstsein verarbeiten und ermöglichen kann (Whitehouse/Martin 2004). Somit scheint es noch mehr Anlass als bisher angenommen zu geben, eine Verbindung zwischen Geschichte und

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Psychologie als Ansatz in den Religionswissenschaften zu etablieren (vgl. Belzen 2010, 2015). Sicherlich, die Befunde einer solchen Kombination von Geschichte und Psychologie werden immer nur partielle Einblicke in die Realität als einem Forschungsobjekt bieten, so wie es bei jeder Erforschung jeglicher empirischer Gegenstände der Fall ist. In einigen Fällen scheint es wieder möglich zu sein – über Umwege und sicherlich mit größerer Zurückhaltung als es manchmal in der Geschichte der psychoanalytischen Religionswissenschaft gezeigt wurde – Psychoanalyse zu nutzen, um auf der kulturellen Ebene Aussagen über Religion zu treffen. Dieser ziemlich bescheidene Optimismus über die Formen des Fortschritts, die seit Freud erreicht wurden, sollte nicht zu negativ beurteilt werden. Schaut man auf den Status der Dinge in anderen Bereichen der Psychologie wird man zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen: als die moderne, wissenschaftliche Psychologie begründet wurde, haben Pioniere wie Wundt, Janet, James und Freud eine große Anzahl von Psychologien entwickelt. Ihre »großen Theorien« haben zu einem endlosen Strom von Forschung und Publikationen geführt, aber es ist immer noch eine offene Frage, ob wir weit über anfängliche Einsichten und Intuitionen hinausgekommen sind. Für gewöhnlich stellen sich Psychologen und Psychologinnen diese Fragen nicht, aber angetrieben von der Pflicht zu wachsen und zu expandieren, welche die akademische Welt heutzutage so prägt, kommen sie vielleicht um diese Frage nicht mehr herum. Wenn sie die Frage jedoch manchmal stellen, sind ihre Schlussfolgerungen meistens im Einklang mit dem, was hier über Psychoanalyse und psychoanalytische Religionspsychologie gesagt wurde (siehe z.B. Gibson 1985; Gleitman 1985; Wulff 1997b). Es spricht Bände, dass die Gründer der Psychologie nahezu ausnahmslos auch heute noch in der Lage sind, zu inspirieren und Diskussionsstoff zu liefern (was vermutlich auf Freud mehr zutrifft als auf irgendeinen anderen). Psychoanalyse ist mittlerweile auf vielfache Weisen in die Erforschung religiöser Phänomene, Überlegungen zur Religion und sogar in theologische Veröffentlichungen eingegangen. Noch einmal: diejenigen, die es wichtig finden, die menschliche, empirisch-psychologische Dimension von Religion zu studieren und zu reflektieren, werden dies sehr wahrscheinlich für eine Art von Fortschritt halten. Wie die Psychologie im Allgemeinen, hat auch die Psychoanalyse zumindest dazu beigetragen, die menschliche Realität zu einem Gegenstand größerer

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wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu machen, sogar in Theologie und den Religionswissenschaften.

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George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus als neokonservative Antwort auf den überfälligen Kampf gegen die Klimakatastrophe Psychoanalytische Rekonstruktion der Wirkungsweise politischer Inszenierungen 1 H ANS -D IETER K ÖNIG

1. E INLEITUNG Der Einzug von George W. Bush ins Weiße Haus bedeutete auch für den Umweltschutz in den Vereinigten Staaten eine Niederlage. Denn der demokratische Gegenkandidat Al Gore war im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2000 für entschiedene ökonomische, soziale und politische Veränderungen eingetreten, weil man auf unserem Planeten eine Klimakatastrophe verhindern müsse. Infolge der zunehmenden Verbrennung fossiler Elemente (Kohle, Öl, Gas) steige nämlich der Kohlendioxydgehalt der Erdatmosphäre in einem solchen Umfang an, dass die industrielle Entwicklung zu einer seit Jahrzehnten beobachtbaren Klimaerwärmung geführt habe, welche unter anderem die Eiskappen der Pole und die Gletscher der Gebirge schmelzen, den

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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 25.9.2009 auf dem Kongress »Politik im Klimawandel« der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehalten wurde.

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Meeresspiegel steigen, Stürme und Flutkatastrophen zunehmen lasse. Bush vertrat dagegen in der Öffentlichkeit die Überzeugung, dass es keine Beweise für einen durch den Menschen bewirkten Klimawandel gebe. Deshalb brach er schon »in der ersten Woche nach seinem Amtsantritt […] sein Wahlversprechen, den CO2-Ausstoß zu begrenzen« (Gore 2006: 9). Und Bush ratifizierte auch nicht den Vertrag von Kyoto, in dem sich die Nationen der Welt darauf geeinigt hatten, den Ausstoß klimaschädigender Gase zu reduzieren (Singer 2004: 150). Aus der Perspektive der politischen Psychologie stellt sich die Frage, wie Bush die Mehrheit seiner Landsleute für die irrationale Vorstellung einnehmen konnte, dass es kein Umweltproblem gebe, obwohl die verheerenden Folgen des Klimawandels seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit erörtert werden. 2

2. M ETHODOLOGISCHE V ORAUSSETZUNGEN DES F ORSCHUNGSPROJEKTES Wenn man diese Frage mithilfe der Psychoanalyse empirisch untersuchen will, dann muss man sich die methodologischen Voraussetzungen eines solchen Forschungsprojektes vergegenwärtigen, die sich folgendermaßen umreißen lassen: Auf die Frage, wie es möglich ist, dass Menschen sich für irrationale Vorstellungen einnehmen lassen, hat Sigmund Freud (1921) in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« eine sozialpsychologische Antwort gegeben. Freud analysierte in dieser Schrift die Frage, weshalb die Menschen in einer Masse nicht der Stimme ihrer Vernunft folgen, sondern sich »unbewussten Triebregungen« überlassen (Freud 1921: 69). Freuds Einschätzung, dass Menschen in einer Masse zu einer »primitiven Seelentätigkeit« regredieren (ebd.: 114), läuft darauf hinaus, dass sie von einer kindlichen Erlebnisweise eingeholt werden, der entsprechend sie sich einem Führer blind anvertrauen. Da der Führer an die Stelle ihres Ich-Ideals trete, gewinne er über die Massenindividuen eine Macht, die in der Kindheit dem idealisierten Vater zugefallen sei. 2 Wie die Wahl Donald Trumps und seiner Klimapolitik gezeigt hat, ist diese Frage – auch in ihrer Verbindung mit generellen außen-, wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen – nach wie vor aktuell.

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Mit Günther Anders (1956) lässt sich die sozialpsychologische Frage, wie politische Führer in der Gegenwart mit einer Masse interagieren, noch genauer bestimmen: Während Freud annahm, dass sich eine Masse nur in Massenversammlungen bilden kann, macht Anders darauf aufmerksam, dass das Radio und das Fernsehen Medien sind, die eine neue Form der Massenbildung bewirken: Die sich etwa unter dem Einfluss des Fernsehens vollziehende Massenbildung finde »in der Einsamkeit« der eigenen vier Wände statt (Anders 1956: 104) und wende sich an Familien oder Singles, die in der Freizeit vor dem Bildschirm Unterhaltung suchen. Obwohl die Welt aufgrund zunehmender Komplexität und Unübersichtlichkeit immer schwerer zu durchschauen sei, überbrücke das Fernsehen alle räumlichen Distanzen und alle sozialen Unterschiede. Denn »schalte ich den Präsidenten ein, so sitzt er, obwohl tausend Meilen von mir entfernt, plötzlich neben mir am Kamin, um mit mir zu plaudern« (ebd.: 118). Max Horkheimer (1932), der das Frankfurter Institut für Sozialforschung jahrzehntelang geleitet hat, stellte Freuds Einsichten in die Sozialpsychologie der Massenbildung in den Dienst der politpsychologischen Frage, warum viele Deutsche in den Krisenzeiten der Weimarer Republik nicht die Linke, sondern mit der NSDAP die extreme Rechte wählten. Während Theodor W. Adorno und seine Mitarbeiter (1950) die für antidemokratische Propaganda anfällige autoritäre Persönlichkeit untersuchten, analysierte Leo Löwenthal (1949) die Propagandatricks faschistischer Agitatoren, die rationale Überlegungen durch den Appell an irrationale und unbewusste Wünsche unterlaufen.

3. D ER G EGENSTAND DES F ORSCHUNGSPROJEK TES , DIE M ETHODE DER T IEFENHERMENEUTIK UND DAS B EISPIEL DER W ITZE VON G EORGE W. B USH Wenn man die Einsichten von Freud, Anders und der frühen Frankfurter Schule als methodologischen Ausgangspunkt für ein politpsychologisches Forschungsprojekt betrachtet, dann stellt sich die Aufgabe, empirisch zu untersuchen, wie Bush vor der Fernsehkamera geredet hat und aufgetreten ist, um seine Landsleute und die Weltöffentlichkeit für eine neoliberale Wirtschaftspolitik und eine neokonservative Weltanschauung einzunehmen, in der dem Klimawandel keinerlei Bedeu-

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tung beigemessen wurde. Daher habe ich diese Fragestellung im Rahmen eines Forschungsprojektes (vgl. König 2008) empirisch untersucht, das mit der Lehre am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann W. Goethe-Universität Frankfurt am Main eng verknüpft wurde. So wurden der Inhalt, die Struktur und die Wirkung einer Reihe exemplarisch ausgewählter Präsidentenreden gemeinsam mit Studierenden der Soziologie und der Politologie rekonstruiert, die in meinen Seminarveranstaltungen Scheine in Sozialpsychologie erwarben. 3 Die Frage, wie sich dieses Forschungsprojekt mithilfe der Psychoanalyse methodisch angemessen durchführen lässt, wurde mithilfe der von Alfred Lorenzer (1986) entwickelten Verfahrensweise der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse (vgl. auch König 2000, 2001) bearbeitet, die das in der therapeutischen Praxis des psychoanalytischen Interpretierens entwickelte Verfahren des »szenischen Verstehens« (vgl. Lorenzer 1970) auf soziale und kulturelle Prozesse anwendet und es dem neuen Forschungsgegenstand entsprechend modifiziert 4: Wie in der therapeutischen Praxis der Analytiker die Worte des Analysanden auf der Grundlage ihrer Wirkung auf das eigene Erleben deutet, so bedient sich die tiefenhermeneutische Kulturanalyse eines Verfahrens der Gruppendiskussion, bei der die Interpreten sich der Wirkung des Textes auf das eigene Erleben aussetzen und sich unter dem Eindruck ihrer emotionalen Reaktionen der freien Assoziation überlassen. Die

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Zu der Frage, wie in den universitären Seminaren konkret verfahren wurde; wie groß die Veranstaltungen waren; wie sich die Szenen des Textes als in der Gruppe Gestalt annehmende Szenen reproduzieren, die wiederum Rückschlüsse auf den verborgenen Sinn der szenischen Textfiguren erlauben; und wie die Studierenden eigene Leseerfahrungen durch Tagebuchprotokolle und die Gruppendiskussionen durch Seminarprotokolle festhalten, vergleiche König (2008: 35-43, 59, 188-193).

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Nur wenn man methodologisch reflektiert, wie man die Psychoanalyse auf das jenseits der Couch gelegene Forschungsfeld der sozialen Welt und der Politik anwenden kann, kann man die Sackgasse der Psychologisierung und der Pathologisierung vermeiden, in die Justin Franks Untersuchung (2004) gerät, der Bush »auf die Couch« legt und den amerikanischen Präsidenten derart in einen Patienten verwandelt, über dessen Krankengeschichte er glaubt als Analytiker berichten zu können (vgl. König 2008: 131ff.).

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sich so entwickelnden Lesarten werden in der Gruppe erörtert und im Rückgriff auf den Text so lange überprüft und korrigiert, bis sich aus den verschiedenen Verstehenszugängen eine Deutung konstruieren lässt. Und wie Freud (1900) in der Traumdeutung den latenten Traumgedanken mithilfe der Assoziationen erschließt, die der Analysand zum manifesten Trauminhalt entwickelt, so tauschen sich die Teilnehmer der tiefenhermeneutischen Gruppeninterpretation über ihre Assoziationen zum Text aus und lassen sich von ihren Irritationen leiten. Mit dem Begriff der »Irritation« hebt Lorenzer (1990) auf die emotionalen Reaktionen der Rezipienten auf die Ungereimtheiten, Widersprüche und Inkonsistenzen des Textes ab, die einen Zugang zu einem hinter dem manifesten Sinn verborgenen latenten Sinn erschließen. Während der manifeste Sinn des Textes durch die bewussten Lebensentwürfe 5 bestimmt wird, die sich im Einklang mit der öffentlichen Meinung moralisch begründen lassen, verschaffen sich auf der latenten Bedeutungsebene jene Lebensentwürfe einen Ausdruck, die noch nicht bewusst geworden sind oder aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der herrschenden Moral unterdrückt werden, sich freilich in Konfliktsituationen hinter dem Rücken des bewussten Selbstverständnisses verhaltenswirksam durchsetzen können. Was damit konkret gemeint ist, lässt sich am Beispiel zweier Witze illustrieren, die Bush als Gouverneur von Texas zum Besten gab, als er eine »Pressekonferenz zu einer fatalen Hitzewelle und den damit verbundenen Waldbränden« abhielt (Frank 2004: 46). Dabei bat er einen Forstbeamten ans Mikrofon. Lachend rief Bush ihm zu: »Baummensch, rauf hier!« (zitiert nach Frank 2004: 46). Dieser Witz irritiert, weil er etwas Abgründiges offenbart: Zwar lud dieser Scherz den Forstbeamten zu einem gemeinsamen Lachen ein. Denn Bush begrüßte den sich mit Waldbränden auskennenden Fachmann nicht förmlich, sondern sprach ihn persönlich an, indem er die Kontaktaufnahme durch einen Witz auflockerte. Freilich befremdet, dass Bush einen Witz auf Kosten des Forstbeamten zum Besten gab. Denn der Witz stilisierte

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Der Begriff des Lebensentwurfs macht darauf aufmerksam, dass der Gegenstand einer psychoanalytischen Textinterpretation die Intentionen und Interessen, die Wünsche, Ängste und Fantasien sind, welche die Akteure im Interagieren miteinander durch Worte ausdrücken und durch den Gebrauch von Metaphern sowie durch Mimik, Gestik und Tonfall inszenieren.

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den Fachmann zu einem seltsamen Exemplar, einem Baummenschen, der anscheinend unter Bäumen oder auf Bäumen so lebt wie irgendwelche Waldaffen. Der manifeste Sinn, sich in der Öffentlichkeit als locker mit dem Beamten scherzender Gouverneur zu präsentieren, verdeckt so den latenten Sinn, dass Bush sich auf Kosten des Forstbeamten lustig machte und ihn derart zu einem Hinterwäldler stilisierte. Die szenische Interpretation dieses Witzes bleibt vorläufig, bestätigt sich jedoch, sobald man den weiteren Verlauf dieser Interaktionssequenz einbezieht. Nachdem Bush den Forstbeamten begrüßt hatte, wandte er sich mit einem zweiten Scherz direkt an die Journalisten. Während der Beamte über die Waldbrände sprach, streckte Bush die Zunge heraus und schnitt witzige Grimassen, »indem er seine Backen aufblies wie ein Kugelfisch« (zitiert nach Frank 2004: 46). Auch dieser ohne Worte auskommende Witz ist so doppeldeutig, wie Freud (1905/1999) das in seiner Analyse des Witzes untersucht hat: Zwar präsentierte sich Bush derart erneut als ein witziger Gouverneur, der sich im Umgang mit den Journalisten gern locker und gut gelaunt gibt. Aber zugleich irritiert dieser Scherz, weil sich der Präsident erneut auf Kosten des Forstbeamten produzierte. Zudem signalisierte Bush seinen Landsleuten durch seine Albernheit, dass man die Hitzewelle und die Waldbrände nicht allzu ernst zu nehmen brauche, weil es doch eigentlich wichtiger sei, sich durch das Schneiden von Grimassen zu amüsieren. Der manifeste Sinn, dass Bush die Journalisten und seine Zuhörer durch seine clownesken Einlagen gut unterhalten wollte, verdeckt so den latenten Sinn, dass der Gouverneur das Anliegen des um die Wälder besorgten Forstbeamten lächerlich machte. Die szenische Interpretation offenbart, wie sich die Bedeutung der beiden Witze in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn entfaltet. Denn die Doppelbödigkeit der beiden Witze verrät, dass Bush im Einklang mit der öffentlichen Meinung bestimmte Interessen thematisierte, aber zugleich auch mit der herrschenden Moral unvereinbare Lebensentwürfe zum Ausdruck brachte. Manifest ist, dass Bush aufgrund der Hitzewelle und der Waldbrände eine Pressekonferenz einberief, ein verantwortungsbewusster Gouverneur, der durch ein freundliches und lockeres Auftreten um die Gunst seiner Wähler warb. Auf eine latente Bedeutungsebene wird dagegen der Konflikt verbannt, der sich dahinter verbirgt, dass Bush Witze auf Kosten des Forstbeamten macht: Zwar sah Bush sich offensichtlich genötigt, wegen der Waldbrände eine Pressekonferenz einzuberufen.

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Dabei stellte er sich durch seine Scherze als ein den Erwartungen der Wähler entgegenkommender, freundlicher und lockerer Gouverneur dar. Freilich verriet er dadurch, dass er auf Kosten des Forstbeamten Witze machte, dass ihm das Thema lästig, ihm der Umweltschutz völlig gleichgültig war und er sich lieber mit seinen Zuhörern amüsieren wollte. Die szenische Rekonstruktion der beiden Witze zeigt einerseits, dass die Tiefenhermeneutik sich als eine Methode der psychoanalytischen Kulturforschung beschreiben lässt, die auf eine methodologisch reflektierte und methodisch kontrollierte Weise die Doppelbödigkeit sozialer Interaktionen aufgrund irritierender Inkonsistenzen, Widersprüche und Brüche rekonstruiert, indem ein hinter dem manifesten Sinn verborgener latenter Sinn aufgedeckt wird. Andererseits offenbart dieses Beispiel eine erste Strategie, die Bush im Kampf gegen den Umweltschutz praktiziert: Er versucht das Thema des Klimawandels durch Witze lächerlich zu machen.

4. D IE S ELBSTINSZENIERUNG ALS C OWBOY K AMPF GEGEN DEN U MWELTSCHUTZ

IM

Eine zweite Strategie im Kampf gegen die Umwelt hat Bush durch seine Selbstinszenierungen als Cowboy entwickelt. So stellte er sich schon während des Präsidentschaftswahlkampfs in einem Werbespot als einfacher Mann aus Texas dar, der im Geländewagen mit Cowboyhut, begleitet von seinem Hund, durch die weiten Ebenen des Westens braust, lässig den Ellenbogen aus dem Fenster haltend (vgl. König 2008: 75f.). Das Bild, dass Bush im Geländewagen durch die Weiten einer einsamen Wildnis fährt, warb für dessen Einstellung zur Bedeutung des Autos für Amerika. Denn »auf die Frage, ob der Präsident die Autofahrer zu scharfen Einschränkungen des Kraftstoffverbrauchs aufrufen würde, antwortete der Pressesprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer: ›Mitnichten. Der Präsident ist der Meinung, dass dies der amerikanischen Lebensart entspricht, und dass es das Ziel von Politikern sein sollte, diese zu schützen. Die amerikanische Lebensart ist etwas Wunderbares‹« (zitiert nach Singer 2004: 150). Was Bush mit dem »American Way of Life« meint, unterstreichen seine Selbstinszenierungen als Westerner – gleichgültig, ob er vor der Kamera mit Texashut im Geländewagen die Wildnis durchquert (vgl.

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König 2008: 76) oder ob er als Cowboy mit der Kettensäge Bäume auf seiner Ranch fällt (vgl. ebd.: 78). Was diese Selbstinszenierungen von Bush für seine Landsleute bedeuten, lässt sich erst verstehen, wenn man sich die Bedeutung der um den Westen entstandenen Mythenbildung vergegenwärtigt: Die jenseits der Siedlungsgrenze gelegene Wildnis bildete für den WASP (White Anglo-Saxon Protestant) eine Herausforderung, noch einmal neu anzufangen und einen Jahrhunderte alten Traum zu verwirklichen, indem man eine auf den Prinzipien der Freiheit und des Individualismus basierende Gesellschaft zu errichten begann. Der Frontier, der »frei von den sozialen, politischen und geografischen Grenzen der Alten Welt, aus eigenem Antrieb ein Vermögen verdienen oder ein Empire schaffen konnte« (Spatz 1969: 12), bewährte sich als ein »Self-made-man«, der aus dem Umgang mit der Wildnis und den sich ihm dort erschließenden Möglichkeiten »die Formel für die soziale Wiedergeburt« schuf: Die »Freiheit des Einzelnen, seinen eigenen Weg zu gehen« (ebd.: 13). Wenn Bush als Cowboy vor die Kamera trat, dann versuchte er, dem Mythos des Westens zu neuem Leben zu verhelfen. Zwar ist der Wilde Westen längst untergegangen und der Industrialisierung Amerikas und der Etablierung einer neuen Klassengesellschaft gewichen. Aber im amerikanischen Südwesten, »an der westlichen Grenze der Frontier«, hat der mythische Glaube an den Westerner »in der Schönheit und Üppigkeit seiner natürlichen Umgebung und in den Tagträumen seiner Filme überlebt« (ebd.: 14). So bediente Bush durch seine Cowboyinszenierungen die in Hollywoodfilmen fortlebende Illusion, dass ein jeder Amerikaner auch heute noch seine Freiheit finden kann, wenn er nur durch den Kampf gegen eine überwältigende äußere Natur seine Männlichkeit und Stärke unter Beweis stellt. Derart erzeugten Bushs Cowboyinszenierungen eine wildromantische Vorstellung, welche die Wahrheit unbewusst machte, dass die amerikanische Industrie seit vielen Jahren durch Emissionen die Umwelt erheblich belastet und für den die äußere Natur schädigenden Klimawandel mitverantwortlich ist.

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5. D IE VON B USH EINGESETZTE O RWELL’SCHE S PRACHE IM K AMPF GEGEN DIE U MWELT Eine dritte Strategie, über die Notwendigkeit des Umweltschutzes hinwegzutäuschen, bestand darin, dass Bush politische Interventionen falsch deklarierte. Wenn er nämlich den Umweltschutz den wirtschaftlichen Interessen der Großkonzerne unterordnete, dann täuschte er darüber in der Öffentlichkeit hinweg, indem er den entsprechenden Gesetzesvorlagen falsche Namen gab. So verbarg er seine Pläne, »die erlaubten Schwefeldioxid-Werte um das Doppelte« zu übersteigen, »also der Substanz, die für den sauren Regen verantwortlich ist« (Frank 2004: 169), hinter der irreführenden Bezeichnung »Initiative für saubere Luft« (ebd.). Und seinem Vorhaben, die Abholzquoten zu lockern, gab er den Namen einer »Initiative für einen gesunden Wald« (ebd.). Indem er politische Interventionen, welche die Umwelt den wirtschaftlichen Interessen der Großkonzerne unterwarfen, zu Umweltmaßnahmen erklärte, bediente Bush sich einer Orwell‘schen Sprache, welche eine Lüge zur Wahrheit und damit die Wahrheit zu einer Lüge erklärt. 5.1 Bushs Krieg gegen den Terrorismus als Kampf der Mächte des Guten gegen das Böse Eine noch wirksamere Strategie im Kampf gegen den Umweltschutz entwickelte Bush im Rückgriff auf die Terroranschläge des 11. September 2001. Denn der von ihm verfochtene »Krieg gegen den Terrorismus«, ein irrationales weltanschauliches Angebot, mit dem er seine Landsleute zu seiner Wiederwahl bewegen konnte, ließ während seiner gesamten Amtsperiode andere Themen wie die Gefahr einer Klimakatastrophe sekundär erscheinen. Wie Bush (2006) seine Landsleute für diesen Krieg gegen den Terrorismus einnahm, soll anhand von Textausschnitten aus einer am 11. September 2006 in Washington gehaltenen Ansprache gezeigt werden, in der er fünf Jahre nach den Terroranschlägen »das Wesen« der damaligen »Bedrohung« zu erklären suchte (Bush 2006: 179). Mit diesen Worten klärte Bush seine Zuhörer darüber auf, dass er das Wesen hinter der Erscheinung der Dinge zu erläutern versuche. Und wenn er fortfuhr, dass »am 11. September […] unser Land das Gesicht des Bösen« sah (ebd.), dann wollte der Präsident darauf hinaus, was er im

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weiteren Verlauf seiner Rede ausführte: Im Terrorismus trete Amerika genauso wie im Faschismus und im Kommunismus »das Böse« entgegen (ebd.: 184). Ganz in diesem Sinne sprach Bush davon, dass die »Feinde«, die schon »mit Teppichmessern und Flugtickets« Schreckliches angerichtet haben, damit drohen würden, »noch schrecklichere Anschläge auf uns zu verüben« (ebd.: 180). Die Irritation, dass Bush den Attentätern anlastete, nun auch noch »Massenvernichtungswaffen gegen uns« einsetzen zu wollen, offenbart, dass der Präsident sie nicht als Menschen betrachtete, die bei den Terroranschlägen ihr Leben geopfert hatten (ebd.). Vielmehr sah Bush hinter der bloßen Erscheinung der Attentäter unsterbliche Wesen einer unheimlichen Macht des Bösen, die Selbstmordattentate verübt hatten, um nun noch schrecklichere Anschläge zu planen. Dieser Macht des Bösen setzte Bush die Kräfte des Guten entgegen: »Wir« haben »jedoch auch etwas typisch Amerikanisches gesehen; ganz normale Bürger«, die »mit außergewöhnlichem Mut handelten« (ebd.: 179). »Wir sahen diesen Mut bei Büroangestellten«, die in den Zwillingstürmen eingeschlossen waren (ebd.). »Wir sahen diesen Mut bei den Passagieren« des entführten Flugzeugs, die »das Cockpit stürmten. Und wir sahen diesen Mut bei den Mitarbeitern des Pentagon«, die »Hilferufenden« zur Seite standen (ebd.: 179 f.). Ob der Präsident das »Gesicht des Bösen« betrachtete oder »das Gute«, das im »Mut« amerikanischer Bürger nach den Attentaten zu Tage getreten sei, durch die mehrfache Wiederholung der Redefigur des »Sehens« gewann diese Wahrnehmungsweise eine magische Qualität. Das Sehen wurde durch die pathetische Wiederholung zu einer ritualisierten Handlung und damit zu einem höheren Akt des Sehens stilisiert, einem Hellsehen, das Zeugnis von dem »Wesentlichen« ablegte, das sich hinter den Attentaten des 11. September ereignet hatte. Mit Max Weber (1922a) kann man davon sprechen, dass sich Bush durch das Reden über die Mächte des Guten und des Bösen sowie durch eine ritualisierte Sprechweise, welche die Aufmerksamkeit auf eine höhere Form des Sehens lenkt, als ein Prediger inszenierte, der Anspruch auf eine »charismatische Herrschaft« erhob (ebd.: 159). Mit dem Charisma ist »eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit« gemeint, »um derentwillen sie mit übernatürlichen oder übermenschlichen […] Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird« (Weber 1922b: 140). So präsentierte sich Bush als ein charisma-

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tischer Prediger, der das Wesen hinter der Erscheinung auszulegen vermochte, weil er aufgrund seiner magischen Fähigkeit eines höheren Sehens die Himmelszeichen des 11. September deuten konnte. Die Worte, dass die Amerikaner am 11. September das »Gesicht des Bösen« erblickt hätten, verrieten, dass die Terroristen die Handlanger einer dämonischen Macht gewesen seien, deren entfesselte Gewalt sich in den Terroranschlägen gezeigt habe. Das von Bush beschworene »Grauen des 11. September« (Bush 2006: 180) lässt sich daher in die Vorstellung übersetzen, der Teufel habe den Amerikanern an diesem Tag seine Fratze gezeigt. Den Kampf gegen Satan können Menschen aber nur bestehen, wenn Gott ihnen zur Seite steht. Dass am 11. September auch Gott erschien, vermittelte Bush seinen Landsleuten dadurch, dass er in seine Predigt auch folgende Erzählung einbaute: Die Passagiere von Flug 093 hätten den »Mut« aufgebracht, das Cockpit der von Terroristen entführten Linienmaschine zu stürmen, nachdem sie zuvor »den 23. Psalm beteten« (ebd.: 179). Die sinnlich-bildhaften Vorstellungen, die Bush durch den Rekurs auf einen bekannten biblischen Text im Erleben der Zuhörer weckte, lassen sich folgendermaßen in Worte übersetzen: Zwar sahen sich die von Terroristen entführten Passagiere in einer »finsteren Schlucht«, aber ganz im Sinne des 23. Psalms fürchteten sie »doch kein Unheil«, weil Gott ihr »Hirte« war, der sie »auf rechter Bahn« leitete (Hamp/Stenzel 1997: 588). Da sie sich darauf zurück besannen, »im Hause des Herrn« zu weilen, »solange die Tage währen« (ebd.), fanden sie den Mut, um sich zur Wehr zu setzen und das Cockpit zu stürmen. So konnten sie den teuflischen Plan der Terroristen vereiteln, das Flugzeug ins Weiße Haus oder ins Kongressgebäude stürzen zu lassen. Und aus demselben Grund werden die Büroangestellten, die in den oberen Stockwerken der brennenden Zwillingstürme eingesperrt waren, den »Mut« aufgebracht haben, zu Hause anzurufen und sich von ihren Familien ihrem christlichen Gewissen entsprechend mit »Worten voller Trost und Liebe« zu verabschieden (Bush 2006: 179). Denn auch sie müssen sich in den Hochhäusern wie »in finsterer Schlucht« gefühlt haben, werden aber wiederum ganz im Sinne des 23. Psalms »kein Unheil« gefürchtet haben, weil sie doch auch im World Trade Center »im Hause des Herrn« weilten (Hamp/Stenzel 1997: 588). Mit Susanne Langer (1942) kann man davon sprechen, dass Bush die Ereignisse des 11. September nicht auf der diskursiven Symbolebene der Sprache benannte, sondern sich der präsentativen Symbol-

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ebene der Bilder bediente, indem er diese Geschehnisse im Rückgriff auf einen biblischen Text deutete, um sich unmittelbarer an die Affekte seiner im hohen Maße durch den Glauben an Gott bestimmten Zuhörer und Zuhörerinnen zu wenden. Durch die wiederholt ausgesprochenen und dadurch eine magische Wirkung entfaltenden Worte, was »wir sehen«, forderte Bush ganz im Sinne des von ihm vertretenen christlichen Fundamentalismus 6 dazu auf, das, was sich ereignete, mit dem Herzen anzuschauen: »Wir« haben ein Feuerwerk »gesehen«, in dem sich die entfesselte Gewalt des Bösen so gezeigt habe wie die dagegen aufbegehrende Macht des Guten, die in all den Amerikanern in Erscheinung getreten sei, welche in den Zwillingstürmen und in den entführten Linienflugzeugen den Märtyrertod auf sich nahmen, um für ihren Glauben Zeugnis abzulegen. Das ist die frohe Botschaft, die Bush seinen Landsleuten als ein die Wahrheit »sehender« charismatischer Prediger am 11. September 2006 verkündete: »Worte voller Trost und Liebe« (Bush 2006: 179), die er für die Opfer fand und die er zugleich den Überlebenden spendete: In den Anschlägen habe sich zwar das »Gesicht des Bösen« gezeigt (ebd.), jedoch auch die dagegen aufbegehrende Kraft des Guten, die nach den Attentaten des 11. September als Märtyrer geachteten Amerikaner, deren Opfertod Bushs Landsleuten Trost und Hoffnung spenden sollte. Indem Bush seine Rede mit den Worten »möge Gott Sie segnen« beendete, unterstrich er noch einmal sein Auftreten als charismatischer Prediger, der seinen Landsleuten das göttliche Wesen hinter der Erscheinung alles Irdischen auslegte: Dass sie den Kampf gegen das Böse erfolgreich führen könnten, weil Amerika mit mutigen »Frauen und Männern« »gesegnet« sei (ebd.: 186), die sich nach den Anschlägen »im Gebet vereint« hätten, um Kraft zu sammeln (ebd.). Sie könnten den Krieg gegen den Terrorismus »mit Vertrauen« in den »Willen unserer Bürger« führen, weil sie »mit dem Glauben an einen liebenden

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Im Unterschied zur Theologie der evangelischen und katholischen Kirchen, die sich in ihrem wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel um eine historisch-kritische Auslegung bemühen und die Texte der Heiligen Schrift symbolisch interpretieren, fassen die Evangelikalen die Worte der Bibel weitgehend wörtlich auf. So wie es in der Bibel zu lesen ist, so habe es sich auch in Wirklichkeit zugetragen.

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Gott« ausgestattet seien, »der uns geschaffen habe, um frei zu sein« (ebd.). Das Irritierende an der Botschaft, dass Bush als charismatischer Prediger über die magische Qualität eines außeralltäglichen Sehens verfügt, besteht darin, dass sich seine Anteilnahme an den Ereignissen des 11. September auf das Sehen reduziert. Denn was er an diesem Tag als mediale Ereignisse gemeinsam mit seinen Landsleuten anschaute, führte bei ihm nicht zu einer emotionalen Betroffenheit. So ist der Präsident nicht auf Gefühle der Angst und des Entsetzens, des Schmerzes und der Trauer um die Opfer der Anschläge zu sprechen gekommen. Vielmehr redete er vom »Mut« der Opfer, die in einer Linienmaschine das Cockpit gestürmt, im Pentagon Hilferufende gerettet und noch angesichts des Todes den überlebenden Verwandten »Trost und Liebe« gespendet hätten. Daher lässt sich bei dieser Fernsehansprache das Verhältnis vom manifesten zum latenten Sinn folgendermaßen bestimmen: Manifest ist, dass Bush als charismatischer Prediger vor seinem inneren Auge sah, was er als frohe Botschaft in Worte fasste: Das am 11. September 2001 zu Tage getretene »Gesicht des Bösen«, das durch das Wiederauftauchen Satans auf den Anbruch einer apokalyptischen Zeitenwende verweise. Auf die latente Bedeutungsebene wurden dagegen alle Gefühle der Anteilnahme und der Trauer um die Opfer verbannt. Während der manifeste Sinn der Rede in Bushs grandioser Vorstellung gipfelte, die Opfer des 11. September zu Streitern Gottes zu erklären, die durch ihren Märtyrertod den Weg bereitet hätten, auf dem Amerika in den apokalyptischen Endkampf des Guten mit der Macht des Bösen eingetreten sei, wurden die Zuhörerinnen und Zuhörer auf der latenten Bedeutungsebene dazu gedrängt, sich emotional von den Opfern der Terroranschläge zu distanzieren und Gefühle der Betroffenheit abzuspalten, damit keine Trauer aufkommen konnte. Derart tröstete Bush seine durch die Anschläge entsetzten und mit Gefühlen der Angst und Verzweiflung, der Scham, Schuld und ohnmächtigen Wut reagierenden Landsleute, indem er die Attentate des 11. September zu einer ersten Schlacht der Macht des Guten gegen böse Mächte des Teufels stilisierte. Diese szenische Rekonstruktion der Doppelbödigkeit ausgewählter Redeausschnitte illustriert exemplarisch, wie Bush seine Landsleute in den Jahren nach dem 11. September durch Präsidentenreden sozialisierte, die sich als Ausdruck eines immer wieder das Gleiche beschwö-

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renden Fernsehrituals begreifen lassen. Auf der manifesten Bedeutungsebene seiner Reden gab Bush seinen Landsleuten ihr Selbstbewusstsein und ihren Stolz auf Amerika zurück, indem er die Opfer der Attentate zu Märtyrern stilisierte, an denen sich jeder Bürger ein Beispiel nehmen könnte. Indem Bush es vermied, über die schmerzlichen Affekte zu sprechen, mit denen seine Landsleute auf die Attentate reagierten, verbannte er zugleich die durch die Terroranschläge ausgelösten Selbstzweifel, Gefühle von Angst, Schuld und der Trauer um die Opfer auf die latente Bedeutungsebene. Und indem er auf der manifesten Bedeutungsebene die frohe Botschaft verkündete, dass »Freiheit und Demokratie« zu verteidigen seien und durch den Krieg gegen den Terrorismus die Welt von der Macht des Bösen zu erlösen sei, machte er die Vorstellung unbewusst, dass die Attentate auch Ausdruck einer Auflehnung gegen eine ungeliebte Supermacht waren, die aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen eine weltweite Hegemonialpolitik betreibt. 5.2 Der Krieg gegen den Terrorismus, der für Bush an die Stelle des Kampfes gegen die Klimakatastrophe trat Weitere Ausführungen aus Bushs (2006) Washingtoner Rede zeigen, wie der Krieg gegen den Terrorismus die Lücke schließt, die durch die Preisgabe des Umweltschutzes entstanden ist. Bush meinte nämlich, dass die Attentäter »uns mit einer in unserer Geschichte beispiellosen Grausamkeit« angegriffen haben (Bush 2006: 179). Und dieser Krieg, in dem dann Amerika in die Offensive gegangen sei, sei »anders […] als alle anderen, in denen wir bisher gekämpft haben« (ebd.). Dass Bush von unvergleichbaren Ereignissen sprach, befremdet, weil Amerika im Verlaufe der Geschichte doch viele Kriege geführt und auch den Überfall von Pearl Harbor erlebt hat. Diese Irritation offenbart, wie doppelbödig Bushs Worte sind: Auf der manifesten Bedeutungsebene des Textes setzte sich Bush als ein Präsident in Szene, der kurz und knapp umreißt, worum es ihm geht, und sich mit plausiblen Argumenten an die Vernunft seines Publikums wendet. Auf der latenten Bedeutungsebene weckte er dagegen diffuse Ängste: Wenn die Feinde mit einer »in unserer Geschichte beispiellose[n] Grausamkeit« angegriffen haben und der gegen die Terroristen zu führende Krieg »anders […] als alle anderen« sei, »in denen wir bisher gekämpft haben«

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(ebd.), dann stellen die Terroranschläge ein einzigartiges Ereignis dar und der gegen sie zu führende Krieg verwandelt sich in eine grandiose Anstrengung, die Amerika in diesem Maße nicht einmal in den Weltkriegen zu leisten hatte. So griff Bush die durch die Attentate entstandenen Ängste nicht nur auf, sondern verstärkte sie auch noch. Der schöne Schein, dass Bush als aufgeklärter Präsident auftrat, der sich durch die Vernunft leiten lässt (manifester Sinn), täuschte so darüber hinweg, dass er seine Landsleute über einen irrationalen Appell an archaische Ängste für den Krieg gegen den Terrorismus einnehmen wollte (latenter Sinn). Es gehe nicht nur um »einen militärischen Konflikt«, sondern um »den entscheidenden ideologischen Konflikt des 21. Jahrhunderts und die Bestimmung unserer Generation« (ebd.: 180). Bush wollte darauf hinaus, dass es sich bei den Anschlägen des 11. September um ein epochales Ereignis von einzigartiger Bedeutung handele, das »die Art und Weise« verändert habe, »wie wir die Welt sehen« (ebd.: 181). Der Krieg gegen den Terrorismus sei daher als eine moralische Aufgabe von universaler Bedeutung zu betrachten, bei dem es auch darum gehe, für künftige Generationen Verantwortung zu übernehmen: »Wenn wir diese Feinde heute nicht besiegen, werden wir unseren Kindern einen Nahen Osten zurücklassen, der von Terrorstaaten und radikalen, mit Nuklearwaffen ausgestatteten Diktatoren beherrscht wird. Wir befinden uns in einem Krieg, der den Kurs für dieses neue Jahrhundert vorgeben und das Schicksal von Millionen Menschen auf der ganzen Welt bestimmen wird.« (Ebd.)

Mit Max Weber (1922a) kann man davon sprechen, dass Bush sich auf diese Weise als ein »charismatischer Politiker« inszenierte (ebd.: 161), der aufgrund »magischer Fähigkeiten« schon im sechsten Jahr des neuen Jahrhunderts wusste, was die Schlüsselaufgabe des kommenden Jahrhunderts sein würde. »Das ewig Neue« und »Nie dagewesene« erschloss sich dem mit Charisma begnadeten politischen Führer der westlichen Welt (ebd.: 159), weil er aufgrund seiner »Macht des Geistes« den Krieg gegen den Terrorismus als Jahrhundertaufgabe zu erkennen und damit zu einer moralischen Verpflichtung zu erklären vermochte, die »wir unseren Kindern« schuldig seien. Brisant sind diese Erklärungen, weil Bush derart eine Alternative dazu entwarf, was Al Gore (2006) zur gleichen Zeit zur Jahrhundert-

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aufgabe erklärte. Denn Gore klärte die Öffentlichkeit in seinem ebenfalls 2006 publizierten Buch »Die unbequeme Wahrheit« darüber auf, dass erhebliche ökonomische, soziale und politische Veränderungen erforderlich seien, um auf der Erde eine Klimakatastrophe zu verhindern. Wir haben, so schrieb Gore, eine Verantwortung, »unseren Kindern und den Generationen nach ihnen einen gesunden und schönen Planeten zu vererben […], der in der Lage ist, eine blühende menschliche Zivilisation zu tragen« (Gore 2006: 287). Derart wird fassbar, wie doppelbödig Bushs Stilisierung der Attentate des 11. September zu einem epochalen Ereignis war: Indem er seinen Landsleuten erklärte, dass zum Krieg gegen den Terrorismus gerade auch die Verantwortung für künftige Generationen zwinge (manifester Sinn), verbannte er auf die latente Bedeutungsebene seiner Worte den von Al Gore initiierten kritischen Diskurs, dass man aus Sorge um Kinder und Kindeskinder ökologisch umdenken und in alternative Energien investieren müsse. In diesem Kontext irritiert, wie Bush (2006) darüber redete, was Amerika durch die Attentate des 11. September »gelernt« habe. Seinen Worten hat Bush nämlich erneut eine magische Bedeutung gegeben, indem er mehrmals dieselbe Redefigur benutzte: »Seit dem Grauen des 11. September haben wir viel über unsere Feinde gelernt. Wir haben gelernt, dass sie böse sind und ohne Gnade töten […]. Wir haben gelernt, dass sie ein globales Netzwerk von Extremisten bilden, die von einer pervertierten Form des Islam angetrieben werden […]. Und wir haben gelernt, dass es ihr Ziel ist, ein radikalislamisches Reich aufzubauen, in dem Frauen Gefangene in ihrem Heim sind, Männer verprügelt werden, wenn sie Gebete verpassen […].« (Ebd.: 180)

So unübersehbar es ist, dass der 11. September für Amerika und die westliche Welt eine neue Erfahrung bedeutete, die verstanden werden musste und aus der Schlussfolgerungen gezogen werden mussten, es irritiert doch Bushs Auftritt als ein charismatischer Politiker, der immer wieder beschwor, was »wir« alles durch die Terroranschläge »gelernt« hätten. Durch die Magie seiner ritualisierten Worte wollte Bush seine Landsleute zum »Glauben« daran verpflichten (Weber 1922a: 161), dass die sorgfältige Untersuchung der Terroranschläge zum Krieg gegen den Terrorismus gezwungen habe und er nun fortzusetzen sei. Doch der manifeste Sinn dieser charismatischen Selbstin-

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szenierung täuschte darüber hinweg, dass Bush sich nicht ernsthaft damit auseinandersetzte, dass die Attentate auch als Ausdruck eines Aufbegehrens gegen die Hegemonialpolitik der amerikanischen Supermacht zu betrachten waren, die um der Öl- und Gasvorkommen willen die arabische Welt kolonialisiert hat. Stattdessen subsumierte Bush die Attentate des 11. September unter persönliche Vorurteile und die stereotypen Erklärungsmuster seiner republikanischen Weltanschauung und seines christlichen Fundamentalismus. Obgleich er die Auffassung vertrat, dass die Anschläge vom 11. September symptomatisch dafür gewesen seien, dass das 21. Jahrhundert angebrochen sei, reagierte er mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts darauf: »[…] die Vereinigten Staaten haben sich bereits in der Vergangenheit dem Bösen gestellt, und wir haben es besiegt – manchmal auf Kosten von tausenden guten Männern in einer einzigen Schlacht. Als Franklin Roosevelt gelobte, zwei Feinde über zwei Ozeane hinweg zu besiegen, konnte er D-Day und Iwo Jima nicht voraussehen – aber er wäre angesichts des Ergebnisses nicht überrascht gewesen. Als Harry Truman amerikanische Unterstützung für die freien Menschen versprach, die sich der sowjetischen Aggression widersetzten, konnte er den Bau der Berliner Mauer nicht vorhersehen – aber er wäre von ihrem Fall nicht überrascht gewesen. Immer wieder im Verlauf ihrer Geschichte haben die Vereinigten Staaten Bedrohungen der Freiheit erlebt, und jedes Mal haben sie gesehen, wie die Freiheit aufgrund von Opferbereitschaft und Entschlossenheit triumphierte.« (Bush 2006: 184f.)

Wenn Bush auf der manifesten Bedeutungsebene seiner Rede auf die Feinde des 20. Jahrhunderts (Faschismus, Kommunismus) zurückgriff, um den Krieg gegen den Terrorismus zur Aufgabe des 21. Jahrhunderts zu erklären, dann verbannte er damit auch auf die latente Bedeutungsebene seiner Ansprache, dass die eigentliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts darin besteht, den naiven Fortschrittsglauben der westlichen Industriegesellschaften aufzugeben, auf Kosten der Dritten Welt den eigenen Wohlstand zu sichern und durch die Ausbeutung der Natur eine Klimakatastrophe zu riskieren, die unseren Planeten für künftige Generationen unbewohnbar machen könnte. Diese das Überleben der Menschheit bedrohenden Gefahren versuchte Bush unbewusst zu machen, indem er den Krieg gegen den Terrorismus zur Jahrhundertaufgabe stilisierte.

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6. T HEORETISCHES B EGREIFEN F ALLREKONSTRUKTION

DER SZENISCHEN

6.1 Die Präsidentenrede als Beispiel für eine autoritäre Interaktions- und Sozialisationspraxis Die Analyse wirft die Frage auf, welche theoretischen Schlüsse sich aus den szenischen Rekonstruktionen der exemplarisch untersuchten Präsidentenreden ziehen lassen: Dass sich Bush nicht an die Vernunft seiner Zuhörer wandte, sondern an irrationale Affekte appellierte, lässt sich daran ablesen, dass er in seinen Reden nicht auf die Überzeugungskraft von Argumenten setzte, sondern auf die magische Wirkung einer sinnlich-bildhaften Sprache, die sich ständig der Abwehrmechanismen der Verleugnung, der Projektion und der Spaltung bedient: Indem er die Welt in Gut und Böse spaltet, indem er die Aggressivität der amerikanischen Machtpolitik verleugnet und die uneingestandene Aggressivität der Eigengruppe auf skrupellose Terroristen projiziert, erzeugte er ein paranoid-schizoides politisches Klima, in dem sich die gegen Afghanistan und den Irak geführten Kriege als unerlässliche Verteidigungsmaßnahmen zum Schutze Amerikas darstellten. Zudem lassen sich die Präsidentenreden als Fernsehrituale begreifen, vermittels derer Bush einen politischen Diskurs initiierte, der die für seine Botschaft empfänglichen Zuhörerinnen und Zuhörer auf eine autoritäre Weise sozialisierte. So kann man mit Theodor W. Adorno (1950) davon sprechen, dass das Publikum auf eine autoritäre Weise vereinnahmt wurde. Wie das geschah, soll stichwortartig umrissen werden: 1. Zwar setzte Bush auf »die Macht der Freiheit« und wollte im Nahen und Mittleren Osten »beim Aufbau einer Demokratie« helfen (Bush 2006: 182 f.). Aber wenn er bei den militärischen Interventionen in Afghanistan und im Irak den Tod von Zehntausenden von Menschen billigend in Kauf nahm und sich über die Genfer Konvention hinwegsetzte, um Hunderte von Terrorverdächtigen ohne Anklage in Guantánamo Bay und Abu Ghureib jahrelang inhaftieren und sie dort foltern zu lassen, dann hat er in mehrfacher Hinsicht gegen die Menschenrechte verstoßen. Diese Neigung, für sich moralische Werte in Anspruch zu nehmen, sie jedoch im Umgang mit Anderen ohne Gewissenskonflikt zu verletzen, wird im Rah-

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men des autoritären Syndroms als »Konventionalismus« bezeichnet, mit dem eine »starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstandes« gemeint ist, die aufgegeben wird, wenn die Umstände es zu erfordern scheinen (Adorno 1950: 45). 2. Wenn Bush (2001) von seinen Soldaten forderte, im Krieg gegen den Terrorismus »das höchste Opfer, ihr Leben« zu geben (Bush 2001: 2) und er sich für den Brief einer Zehnjährigen begeisterte, die ihm geschrieben habe, sie würde dem Präsidenten ihren Vater »geben«, der im Dienste der Armee stehe (ebd.: 3), dann wird deutlich, dass der Präsident nicht nur von seinen Soldaten, sondern auch von Eltern und Kindern die Bereitschaft zur »autoritären Unterwerfung« unter seinen Willen verlangte. Mit autoritärer Unterwürfigkeit ist die »unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe« gemeint (Adorno 1950: 45), zu der das Volk aufgrund ambivalenter Gefühle gegenüber dem politischen Führer tendiert. Denn ein Präsident, der von seinen Landsleuten um des Krieges willen Gehorsam und Opfer verlangt, löst im Publikum auch »feindselige und rebellische Impulse« aus (ebd.: 50). Aber weil er seine Landsleute als ein charismatischer Führer in der Krisensituation rettet, in die sie durch die Angst, Ohnmacht und Wut auslösenden Attentate des 11. September geraten sind, erweist sich die libidinöse Bindung an den Präsidenten als stärker als die aggressiven Impulse gegen ihn. 3. Wenn Bush (2006) davon sprach, dass die Attentäter des 11. September »unsere Lebensweise […] zerstören« wollen (ebd.: 186), weil sie von »einer totalitären Ideologie« angetrieben werden, »die Freiheit hasst, Toleranz ablehnt und Andersdenkende verachtet« (ebd.: 180), dann konstruierte er ein unheimliches Bild von der Fremdgruppe, das in der Eigengruppe Angst und Schrecken auslöste. Durch dieses Feindbild wurde das Publikum dazu aufgefordert, die aggressiven Impulse, mit denen es auf den bedingungslosen Gehorsam verlangenden Präsidenten reagierte, auf die Terroristen zu verschieben, welche die von ihm in Anspruch genommenen konventionellen Werte missachtet hätten. »Man könnte sagen, dass in der autoritären Aggression die ursprünglich durch die Autoritäten der Eigengruppe erweckte und gegen sie gerichtete Feindseligkeit auf die Fremdgruppen [verschoben] wird.« (Adorno 1950: 51)

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Wenn Bush ausführt, dass die Feinde die Freiheit hassen und intolerant sind, dass sie Frauen unterdrücken und sich mit Nuklearwaffen bewaffnen wollen, um den »American way of life« zu vernichten, dann bedient er sich auch der von Adorno so bezeichneten »autoritären Aggression«, mit der die »Tendenz« gemeint ist, »nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können« (ebd.: 45). Der australische Philosoph Peter Singer (2004) ist in seinem Buch über Bushs Ethik zu dem Ergebnis gelangt, dass der amerikanische Präsident ständig über »Gut« und »Böse« spricht, aber über keine allgemeinen ethischen Grundsätze verfügt. So reflektiert Singer moralphilosophisch, was sich sozialpsychologisch in Anschluss an Adornos Autoritarismusstudie folgendermaßen erklären lässt: Bush redet ständig von »Gut« und »Böse«, weil das von ihm abgerufene Syndrom aus Konventionalismus, autoritärer Unterwerfung und autoritärer Aggression insgesamt das Moralproblem berührt: Es geht um Bushs konventionelle Bindung an die Moral des christlichen Fundamentalismus, über die er sich hinwegsetzt, wenn er Kriege führt; es geht um die autoritäre Unterwerfung des Volkes unter Bushs rigide Moral eines fundamentalistischen »Kampfes der Kulturen« und es geht um die autoritäre Aggression gegen die Feinde, welche gegen die von Bush beschworene Moral verstoßen und daher zu bestrafen seien. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett (2004) hat angesichts zunehmender Überwachungsmaßnahmen die Frage aufgeworfen, ob nicht die Demokratie in Bushs Amerika entgleist sei, weil die nach dem 11. September eingeführten Überwachungsmaßnahmen zusehends um sich gegriffen haben. Wenn doch die Regierung Bush unter Terrorverdacht geratenen US-BürgerInnen ohne Einschalten der Gerichte die Bürgerrechte aberkennen lassen wollte und »drei der größeren islamischen Wohlfahrtseinrichtungen verboten habe, nicht, weil diese irgendetwas verbrochen hätten, sondern weil irgendwann irgendwo etwas passieren könnte« (Sennett 2004: 2), habe sich dann nicht in Amerika ein »sanfter Faschismus« durchgesetzt (ebd.)? Zweifellos ist dieser Vergleich problematisch, weil der Faschismus die demokratischen Institutionen radikal abschafft und sie durch das diktatorische Regime eines Führers und einer Einheitspartei ersetzt, unter deren Herrschaft politische GegnerInnen inhaftiert, gefoltert und getötet werden. Davon kann in den Vereinigten Staaten keine Rede sein, in denen sich die Institutionen der formalen Demokratie nach wie vor als

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stabil genug erwiesen haben, um den Missbrauch der Macht durch die Republikaner zu überleben. Aber wenn man die sozialpsychologische Frage betrachtet, auf welche Weise Bush seine Landsleute für den Krieg gegen den Terrorismus eingenommen hat, dann ist es unübersehbar, dass er das auf eine so autoritäre Weise tat, wie das für faschistische Führer selbstverständlich ist. Wenn Bushs Wirtschaftspolitik zur Folge gehabt hat, dass »das Einkommen der Mittelschicht in demselben Moment, in dem die oberen zehn Prozent ihren Wohlstand extrem steiger[te]n« (ebd.) stagnierte und sie sich in »Konsumschulden« stürzte, die sie nicht begleichen kann (ebd.), dann konnte er die Mehrheit nur dadurch an sich binden, dass er die soziale Lage immer wieder zu einem durch den 11. September erzeugten Katastrophenfall erklärte, aufgrund dessen eine bedingungslose Unterordnung unter seinen Willen so unausweichlich erschien wie die autoritäre Verschiebung der angesichts seiner Innenpolitik aufkommenden feindseligen Impulse gegen die Feinde, die durch den Krieg gegen den Terrorismus vernichtet werden sollten. Nicht ein »sanfter Faschismus« ist in Amerika das Problem gewesen, sondern ein neokonservativer Autoritarismus, der den Prozess des gesellschaftlichen Wandels blockierte. Es drohte kein »sanfter Faschismus«, weil die Regierung Bush kein Interesse daran hatte, die demokratischen Institutionen abzuschaffen, die sie im Interesse der eigenen Machtausübung so ausgezeichnet zu funktionalisieren verstand. Das Problem war vielmehr, dass der in Bushs Amerika herrschende Autoritarismus die Möglichkeiten einer formalen Demokratie blockierte, die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme der Gegenwart in der Absicht zu lösen, auf diese Weise auch die in der Zukunft wartenden Herausforderungen angehen zu können. Diesen Weg hat der Autoritarismus der Regierung Bush versperrt, die Milliarden, ja, Billionen von Dollars ausgegeben hat, um zum Scheitern verurteilte Kriege zu führen, welche den Hass der Islamisten auf Amerika und die Zahl der Terroristen ständig vermehrt haben. Doch das hat die Regierung Bush nicht interessiert, die durch den Krieg gegen den Terrorismus die Interessen der wirtschaftlich und politisch Mächtigen bediente und durch die Bilder, die von Flugzeugträgern und Kampfflugzeugen, von Kriegsschiffen und Raketen, von der Bombardierung und dem Beschuss von Städten und Landschaften im Nahen und Mittleren Osten erzählen, der Weltöffentlichkeit signalisiert hat, dass Amerika entschlossen ist, seinen durch die Terroranschläge vom 11. Sep-

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tember 2001 erschütterten Glauben an die eigene Größe und Macht wiederherzustellen. 6.2 Bushs postmoderner Autoritarismus Am Ende stellt sich die Frage, was das Besondere von Bushs Autoritarismus im Unterschied zu dem autoritären Syndrom ist, das Adorno u. a. (1950) in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit dem Faschismus erforscht haben. Eine Antwort ergibt sich, sobald man das zeitdiagnostische Problem einbezieht, wie das kulturelle Klima beschaffen ist, in dem sich Bush mit seinen charismatischen Selbstinszenierungen an seine Landsleute gewandt hat. Wenn er es genossen hat zu scherzen, mit den Reportern herumzualbern und über sich selbst Witze zu machen, dann geschah das auch deshalb, weil seine Selbstdarstellung ein postmodernes Lebensgefühl imitierte, das sich seit Anfang der achtziger Jahre unter dem Einfluss der »fortschreitende[n] ›Informatisierung und Telematisierung‹ der Lebenswelt durch elektronische Kommunikationsmedien und Datenverarbeitungsprozesse« entfaltet hat (Kemper 1988: 8). Mit Jean-Francois Lyotard (1979) kann man das postmoderne Bewusstsein der Gegenwart als einen Reflex darauf begreifen, dass angesichts des ungebremsten technologisch-industriellen Fortschritts und der Hochrüstung der modernen Industrienationen, durch welche die Gefahr einer globalen atomaren und ökologischen Katastrophe verewigt wird, die großen, sinnstiftenden Erzählungen der Moderne ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. So versteht Lyotard die Postmoderne als ein aufgeklärtes Bewusstsein über die Moderne, das dem Weltgeschehen keinen universellen Sinn mehr unterlegt, sondern sich von »der Einsicht in die Pluralität letztlich sinnloser Sprachspiele« leiten lässt, die durch das Erschließen einer Vielfalt neuer, noch unbekannter Lebensformen »Potentiale von ›Freiheit‹ und ›Gerechtigkeit‹« eröffnen könnten (Georg-Lauer 1988: 198). Wenn aber die von der Postmoderne propagierte »bunte Vielfalt« von Lebensformen und Deutungsmustern, von Techniken und Theorien (Kemper 1988: 7f.) zu einer beliebigen Kombination heterogener Versatzstücke führt, dann ist ein »Eklektizismus« die Folge (Welsch 1988: 21), der »Indifferenz« (ebd.: 30) erzeugt. Hierbei handelt es sich dann um eine Verfallsform der Postmoderne. Betrachtet man aus dieser Perspektive Bushs Reden und Auftritte, dann fällt auf, dass er auf

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eine spielerische Weise mit unterschiedlichsten Inszenierungen experimentierte, die im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter analysiert werden können. Denn Bush hat sein Publikum sowohl als witziger Komödiant als auch als Cowboy, sowohl als charismatischer Prediger als auch als charismatischer Politiker und schließlich auch als charismatischer Feldherr beeindruckt (vgl. König 2008: 202 ff.). Bushs öffentliche Auftritte haben so den Glanz eines postmodernen Lebensgefühls durch die Dekonstruktion »des Ganzen« ausgestrahlt, das in eine »Vielfalt begrenzter und heterogener Sprachspiele« aufgelöst wurde, »die nicht mehr durch generalistische Einheitsstrategien vereinnehmbar« waren (ebd.: 27). So agierte Bush auf eine postmoderne Weise, indem er mit einer Pluralität divergierender Inszenierungen spielte, die sich in unterschiedlichen politischen Lagen an verschiedene Gruppen von AdressatInnen wandten. Aber wie die szenischen Rekonstruktionen des manifesten und latenten Sinns gezeigt haben, die im Zuge des diesem Aufsatz zugrundeliegenden Forschungsprojektes durchgeführt wurden, entfalteten Bushs Inszenierungen eine vereinnahmende Wirkung, weil gegenläufige Lebensentwürfe unterdrückt und in Anspruch genommene Lebensentwürfe nicht ernst genommen, sondern auf eine beliebige Weise zitiert wurden, um dem Publikum zu gefallen. Wie diese Selbstinszenierungen des Präsidenten beschaffen waren, lässt sich zusammenfassend folgendermaßen umreißen: 1. Wenn Bush sich auf seiner Ranch immer wieder als Cowboy präsentierte, der sich in Auseinandersetzung mit der äußeren Natur selbst schafft (vgl. König 2008: 75 ff.), dann hat er zwar auf die um den wilden Westen entstandene Mythenbildung zurückgegriffen, aber diese Inszenierung beruhte zugleich auf einer Zerstörung der um den amerikanischen Traum entstandenen Bilderwelt. Denn wie Leslie Fiedler (1968) ausgeführt hat, war der die amerikanische Literatur prägende Mythos des Westens dadurch bestimmt, dass der White Anglo-Saxon Protestant (WASP) sich danach sehnte, die jenseits der Zivilisation gelegene Wildnis aufzusuchen, um sich durch die Verbindung mit dem Indianer in einen »neuen Menschen« zu verwandeln, der weder Weißer noch Rothaut wäre. Wenn dagegen Bush den Westerner imitierte, dann inszenierte er das sinnentleerte Sprachspiel eines Cowboys, der die menschenleeren Weiten des Westens nach der Vernichtung der indigenen Be-

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völkerung allein kontrolliert und seinen Landbesitz als Angehöriger der herrschenden Klasse genießt. 2. Wenn Bush sich als charismatischer Prediger inszenierte, der am 11. September 2001 das »Gesicht des Bösen« gesehen habe und das von Gott erwählte Volk zum Kampf gegen teuflische Mächte aufforderte, dann setzte er auf das unsinnige Sprachspiel eines apokalyptischen Kampfes der christlichen Heerscharen gegen die Mächte Satans, eine Inszenierung, welche 60 Millionen fundamentalistischer Christen in Amerika beeindruckte. Doch der dramatische Schein dieser religiösen Selbstinszenierung täuschte über die Realität hinweg, dass Bush sich über das christliche Gebot der Nächstenliebe hinwegsetzte, indem er Kriege führte, um die hegemonialen Interessen der Vereinigten Staaten im Nahen und Mittleren Osten zu verteidigen. 3. Wenn Bush erklärte, dass die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan und im Irak den von ihm beschworenen »Kampf der Kulturen« austragen, dann präsentierte er sich als Feldherr, der von seinen Soldatinnen und Soldaten bedingungslosen Einsatz verlangte und zugleich von seinem »Stolz« auf ihre Kampfbereitschaft redete (vgl. König 2008: 202 ff.). Doch wenn ihm die zynische Bemerkung unterlief, er würde amerikanische Soldaten »lieber für unser Volk opfern, wissen Sie, statt dem Kongress stundenlang Rechenschaft ablegen zu müssen« (zitiert nach Frank 2004: 131), dann wird deutlich, dass auch die Selbstinszenierung als Feldherr für ihn nur ein unverbindliches Sprachspiel war, aufgrund dessen er sich als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte doch nicht ernsthaft seinen Soldatinnen und Soldaten verpflichtet fühlte. Diese Einschätzung wird auch durch folgende Beobachtung des amerikanischen Journalisten Bob Woodward (2006) bestätigt. So blieb im 2004 geführten Wahlkampf zur Wiederwahl des Präsidenten »eigentlich nie wirklich Zeit dafür […], über Politik zu diskutieren« (ebd.: 446). Daher wurde auch das Thema Irak »nur durch die Wahlkampfbrille gesehen« (ebd.). »Kein einziges Mal fragte Bush« Robert D. Blackwill, seinen Koordinator für die Irakpolitik, »wie die Lage im Irak denn wirklich aussehe« (ebd.: 447). Obwohl die Gewalt im Irak vor dem Wahltag sprunghaft anstieg und es nach Kriegsende »keine militärische Strategie« für das Zweistromland gab (ebd.), wirkte sich die sich permanent verschlechternde Lage im Irak nie auf den Wahlkampf aus«, weil alle Daten »unter

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Verschluss gehalten und vor den Wählern verheimlicht wurden« (ebd.: 448). So illustriert auch die Gleichgültigkeit gegenüber den im besetzten Irak herrschenden Missständen, dass das öffentliche Auftreten als Oberbefehlshaber nicht bedeutete, dass Bush für die im Irak operierenden amerikanischen Truppen Verantwortung übernahm. Vielmehr handelte es sich auch in diesem Fall um ein schöne Bilder produzierendes Sprachspiel, das nur dazu diente, seine Landsleute für den Präsidenten einzunehmen. 4. Wenn Bush sich als charismatischer Politiker inszenierte, der sich Kindern und Kindeskindern verpflichtet fühlte, weil er durch den Krieg gegen den Terrorismus eine friedlichere Welt schaffen wollte (vgl. König 2008: 212 ff.), dann arrangierte er ebenfalls ein widersinniges Sprachspiel. Denn in einer Demokratie setzt ein Staatsmann auf politische Verhandlungen, um die Interessen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen oder auch verschiedenen Staaten durch das Finden eines Kompromisses auszugleichen. Ein demokratisch gewählter Präsident, der sich seinem Volk gegenüber als Politiker verantwortlich fühlt, hätte sich gegen Kriege ausgesprochen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, vor allem aus machtstrategischen Gründen geführt werden und wie im Irak verheerende destruktive Kräfte entfesselt haben, die vor der militärischen Invasion absehbar waren. Ein solcher verantwortungsbewusster Präsident hätte stattdessen die ökonomischen, sozialen und politischen Fragen in Angriff genommen, die in Amerika gelöst werden müssen. Dazu gehören unter anderem sozialstaatliche Maßnahmen, welche den sich verschärfenden Klassengegensätzen entgegenwirken und staatliche Interventionen, welche die Umwelt schützen und zur Verhinderung einer Klimakatastrophe beitragen. 5. Wenn Bush sich über die Lektüre von Büchern lustig machte (vgl. ebd.: 27f.) oder Grimassen schnitt, während ein Fachmann einen Vortrag über die fatalen Folgen von Waldbränden hielt (vgl. Abschnitt 3), oder er sich über Feinde mit den Worten amüsierte, man werde im Krieg gegen Afghanistan schon nicht einem Kamel eine 10 Millionen Dollar Rakete »in den Hintern jagen« (ebd.: 291), dann setzte er auf ein clowneskes Sprachspiel, das alle anderen Inszenierungen relativierte. Zusammenfassend heißt das, dass sich in Bushs öffentlichen Auftritten gerade dadurch ein postmodernes Lebensgefühl reproduziert hat, dass

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er eine Vielzahl von Sprachspielen miteinander kombinierte, die miteinander konkurrierten und sich gegenseitig destruierten: Die Bilder von einem die Wildnis allein durchstreifenden Cowboy, der nicht redet, sondern handelt, widersprachen den Selbstinszenierungen als Prediger, der den Glauben an Gott bemühte, um das Unheil des 11. September abzuwenden. Die christlichen Inszenierungen kollidierten mit der Selbstpräsentation als Feldherr, dem fadenscheinige Gründe reichten, um gegen Afghanistan und den Irak die gigantische Kriegsmaschinerie der einzigen Supermacht einzusetzen. Die militärischen Selbstinszenierungen widersetzten sich der Selbstpräsentation als charismatischer Staatsmann, der auf politische Verhandlungen setzt, um für künftige Generationen eine freiere und friedlichere Welt zu schaffen. Und alle diese sich gegenseitig desymbolisierenden Inszenierungen wurden noch durch die clownesken Einlagen überboten, die darauf hinauslaufen, dass der Präsident seine Landsleute gut unterhalten wollte, damit sie seinen Krieg gegen den Terrorismus unterstützen, mit dem allein es ihm ernst war. So bediente Bush das postmoderne Lebensgefühl, das »anything goes«, wenn er in seinen Reden und öffentlichen Auftritten auf eine Pluralität heterogener Sprachspiele setzte, die unterschiedlichste Gruppen von Landsleuten ansprachen. Damit wird die Eigenart des von Bush praktizierten Autoritarismus fassbar: Während sich Hitler mit seinen herrischen und besessenen Auftritten bei Massenkundgebungen eines völkischen Autoritarismus bediente und gegen die Juden als Wurzel allen Übels wütete, hat Bush durch eine bunte Vielfalt heterogener Inszenierungen auf einen postmodernen Autoritarismus gesetzt. So hat Bush über zwei Amtsperioden hinweg viele Amerikaner begeistert, weil er durch seine Fernsehansprachen und Selbstinszenierungen das postmoderne Klima medialer Unterhaltungsshows aufgegriffen und es zugleich mit der autoritären Aufforderung verknüpft hat, sich seinem präsidialen Willen bedingungslos zu unterwerfen und sich von den durch den 11. September ausgelösten Gefühlen der Angst und Trauer, der Scham und Schuld, der Wut und Rache durch den Krieg gegen den Terrorismus zu befreien. Denn die Selbstinszenierungen als charismatischer Führer warben für den Weltanschauungskrieg gegen den internationalen Terrorismus, der eine falsche Antwort auf die ökonomischen und sozialen Fragen gab, die sich in den sich verschärfenden Klassengegensätzen und in der zunehmenden Erwärmung des Klimas durch die Emissionen der Industrie spiegeln.

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Bildung im Blick auf Wissenschaft und Ökokultur? R AINER K OKEMOHR

Im Kontext ökonomischer Globalisierung konkurrieren entwickelte und weniger entwickelte Gesellschaften auf dem Weltmarkt. Menschen sollen interkulturell interaktions- und handlungsfähig werden, um sich als Arbeitnehmer zu qualifizieren. Doch die Entwicklung von Arbeitsmärkten folgt anderen Interessen als das Streben der Menschen nach Autonomie vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Traditionen. In dieser Spannung treten die klassischen Funktionen von Bildungssystemen, die Vermittlung von Qualifikationen, soziale Selektion und gesellschaftliche Legitimation geschärft hervor.1 1

Ein typisches Beispiel für die globale Ausrichtung von Bildungssystemen ist die Übernahme der Professionalisierungsvorstellungen im Sekundarund im universitären Ausbildungssystem, wie sie in Europa durch den Bologna-Beschluss in Gang gesetzt worden sind, durch die Staaten der zentralafrikanischen CEMAC-Staaten (Communauté économique et monétaire de l’Afrique centrale). Am 11.2.2005 haben deren Präsidenten in Libreville eine Deklaration unterzeichnet, die als »système Licence, Master, Doctorat« zur Leitlinie der Reformen universitären und, von ihnen abgeleitet, der schulischen Bildungssysteme geworden ist: Die Chefs d’Etat »ont signé une Déclaration en vue de la construction de l’Espace CEMAC de l’Enseignement supérieur, de la Recherche et de la Formation professionnelle. Cet espace vise à favoriser la standardisation des mesures d’enseignement supérieur, de la Recherche et de la Formation professionnelle en vue de l’adoption du nouveau système Licence, Master, Doctorat (LMD)«; vgl. Yves Bertrand Djouda Feudjio (2009).

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Wo der Globalisierungsprozess als Herausforderung an schulisches Lernen oder universitäres Studieren angesprochen wird, liegt nahe, die Ansprüche globalisierter Arbeitsmärkte und kultureller Autonomie in einer Rhetorik der Kompetenzen zu vermitteln, die Lernen als Aneignung von Wissen und Handeln als seine Anwendung auffasst. Kompetent durch erworbenes Wissen sollen Menschen im Dickicht verschiedenartiger Kulturen Probleme wahrnehmen, Strategien ihrer Bearbeitung entwickeln und Lösungen erarbeiten. Der Ansatz scheint plausibel, da wir trotz der Verschiedenheit der Kulturen letztlich in einer Welt leben. Denn um in dieser einen Welt langfristig zu überleben, müssen wir die Probleme lösen, die unser Überleben bedrohen. Deshalb stärken Zukunftsgefährdungen durch mangelnde Entwicklung, Klimawandel, Fundamentalismus oder Krisen des Finanzsystems auch die Rhetorik einer Bildung, die auf Kompetenzen ausgerichtet ist.2 Doch zum zentralen Begriff wird Wissen nicht nur, weil Wissensgesellschaften Probleme durch Wissen zu lösen suchen. Der Wissensbegriff wird auch deshalb genutzt, weil er sich in vager Verbindung mit der Idee der Bildung auf die Universalität der einen Welt und die Verschiedenheit der Kulturen zugleich auszurichten verspricht. Die Doppelausrichtung operiert mit der Unterscheidung zwischen einem Wissen allgemeiner Grundstrukturen, Grundbegriffe sowie Grundfiguren einerseits und einem Wissen ihrer kulturell besonderen Prägung andererseits. Sie zehrt vom universal ausgelegten Aufklärungsmuster der Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen. Gedeutet als Aufhebung des Falles in der Regel legt sie eine letztlich unproblematische Vereinbarkeit von Universalität und Kulturalität nahe.3 Was bedeutet diese Rhetorik in bildungstheoretischer Hinsicht?

2

Vgl. z.B. Jürgen Klausenitzer, Schule der Globalisierung. Zur Restrukturierung des deutschen Bildungswesens, Teil I, http://www.labournet.de/dis kussion/arbeitsalltag/bildung/klausen1.html. In diesen Zusammenhang gehört natürlich auch das PISA-Projekt interkulturell vergleichender Leistungsbeurteilung, vgl. OECD Programme for International Student Assessment (PISA).

3

Zur psychischen Verankerung kultureller Prägungen vgl. Jaan Valsiner: »The specific form of human psychological phenomena vary across time, persons, and contexts–but the ways they are organized are universal« (Valsiner 2007: 15). Auf empirisch-phänomenaler Ebene stärken etwa

B ILDUNG

IM

B LICK AUF W ISSENSCHAFT

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Bildung, so lässt sich vorläufig formulieren, betrifft das Verhältnis von Mensch und Welt. Welt nimmt Menschen, Menschen nehmen Welt in den Blick. Doch Blicke sind nicht unschuldig. Was immer auf die Sinne trifft, wird, und wäre es auch nur imaginär figuriert, in symbolischer Fassung ausdrücklich, begreiflich und bildungswirksam.4 Auch Begriffe sind immer schon symbolisch-kulturell präformiert. Deshalb können wir nicht hinter die symbolische Verfasstheit unseres Welt- und Selbstbezugs zurückgehen und im Verhältnis zu anderen Kulturen die Macht unserer Begriffe und Diskurse gleichsam hinter uns lassen, um uns in der einen Welt jenseits kultureller Verschiedenheit wiederzufinden. Als Bildungsproblem verstanden ruft dieser Sachverhalt Didaktik auf den Plan. Unter dem Eindruck von kultureller Heterogenität werden Bildungssysteme als kulturspezifische Orte der didaktischen Ausrichtung bildender Welt- und Selbstverhältnisse aufgefasst. Wie aber sind im Blick auf Bildung didaktische Versuche zu deuten, kulturelle Heterogenität und universale Einheit zu versöhnen? Die Frage ist komplex. Sie verweist neben der Psycho- auf die Soziogenese menschlichen Bewusstseins, ist als Frage selbst kulturell gebunden und fordert eine Antwort, die über kulturelle Bindungen hinausgeht. Ob sie möglich ist, kann erst im umfangreichen Durchgang durch kulturpsychologische, soziokulturelle und -ökonomische Untersuchungen sowie in der Analyse und Reflexion des Verhältnisses von Wissen und Bildungsprozessen klarer werden. Im hier gegebenen Rahmen kann ich die Frage nur vorbereiten. Das Ziel meiner jetzigen

schwierige Verhandlungen wie die auf dem Klimagipfel vom Dezember 2009 in Kopenhagen die Vermutung, dass eine (für alle gleiche) Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen nicht überall als kulturübergreifendes Muster anerkannt wird. Natürlich spielen hier je spezifische Interessen der Kontrahenten eine dominante Rolle. Fraglich ist aber, ob die Gegensätze nicht auch in Konstruktionen von Welt- und Selbstverhältnissen begründet sind, die tiefer liegen als vordergründig politische oder ökonomische Interessen. 4

Natürlich sind auch in Bildungsprozessen vorprädikative Momente wirksam, die die Verfasstheit des Daseins im Sinne der Sorge prägen, wie Heidegger sie denkt. Doch wie immer wir Bildung im Einzelnen interpretieren, denken wir sie als ausdrückliche Anstrengung unseres Welt- und Selbstbezugs.

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Überlegungen ist also bescheiden. Im Ausgang von einem Beispiel versuche ich zu zeigen, wie Didaktik Wissen in der Spannung von Kulturalität und Universalität sag- und lernbar zu machen sucht. Beispiele sind kulturell gebunden. Sofern sie didaktisch jedoch auf die Universalität der einen Welt ausgerichtet sind, lässt sich an ihnen studieren, in welches Verhältnis Kulturalität und Universalität gesetzt werden. Für diese Frage interessant ist das Beispiel eines interkulturell angelegten Forschungsprojektes, das Einstellungen und Haltungen japanischer und deutscher Schülerinnen und Schüler zu Naturwissenschaften und naturwissenschaftlichem Wissen untersucht, Einstellungen und Haltungen, die relevanten Kompetenzen zugrunde liegen (Berg 2007; Langlet 2007; Schaefer 2007c). Das Beispiel bietet sich für die Diskussion einer Didaktik in der Spannung von Universalität und Kulturalität an, weil es sich ernsthaft auf den Weg macht, kulturelle Verschiedenheit anzuerkennen5, auf diesem Weg aber erkennen lässt, in welche Sackgasse didaktische Deutungen der Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen, des Kulturellen im Universalen führen können. Im Rahmen des Forschungsprojektes haben Forscher aus Japan und Deutschland in Fragebögen, Gesprächen und Unterrichtsbeobachtungen das naturwissenschaftliche Verständnis und die naturwissenschaftlich ausgerichteten, kognitiv relevanten Einstellungen von japanischen und deutschen Schülerinnen und Schülern erhoben und miteinander verglichen. Sie sind auf signifikante Unterschiede gestoßen. Während sie japanische Schülerinnen und Schüler stärker an konventionellen Vorgaben orientiert und zu hohen Leistungspunkten kommen sehen, seien deutsche Schülerinnen und Schüler zwar weniger leistungsstark im Sinne konventionell erwartbarer Antworten, aber kreativer und zielstrebiger im Umgang mit Problemen (vgl. Schaefer 2007c: 282, 287). Ich will hier weder die Methoden der Kulturen vergleichenden Untersuchung noch die Aussagen über unterschiedliche Leistungsprofile

5

»Heutige ›Wissenschaft‹ allerding (sic!) – das sollten wir Europäer wohl immer mit bedenken – ist von ihrem Ursprung her ›europäische Wissenschaft‹, und bei der Begegnung uralter gewachsener Kulturen sollten wir uns immer fragen, welchen Beitrag jede einzelne im Konzert der Völker leisten kann.« (Schaefer 2007c: 287).

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japanischer und deutscher Schülerinnen und Schüler diskutieren.6 Nur nebenbei sei angemerkt, dass das dem »Volk der Dichter und Denker« schmeichelnde Ergebnis ausführlicherer Prüfung bedürfte, um vor dem Verdacht bestehen zu können, nicht von Stereotypen und kultureller Sympathie gefärbt zu sein. Dem bildungstheoretischen Interesse folgend möchte ich das epistemologische Schema ansprechen, das der Untersuchung zugrunde liegt. Um Kulturen vergleichen zu können, bedarf es eines allgemeinen Vergleichsmaßstabs. Diesen Maßstab sehen die Forscher in wissenschaftlichem Wissen, das von der Verschiedenheit der Kulturen nicht infrage gestellt werde. Doch mit dem Vertrauen in die Gewissheit wissenschaftlichen Wissens stehen sie vor dem nicht mehr neuen Problem, dass der okzidentale Wissenschaftskosmos trotz seiner globalen Ausbreitung selbst schon lange durch konkurrierende und nicht selten durch unvereinbare Wissens-, Denk- und Interpretationskulturen geprägt ist und angesichts der Verschiedenheit der Weltkulturen nicht als selbstverständlicher Geltungsanker kulturell verschiedenen Wissens dienen kann. Wie also versuchen die Autoren des Projekts einen Maßstab zu finden, der die Interpretation der erhobenen Daten und über sie hinaus unterrichtliches Lehren und Lernen einerseits auf ein für alle geltendes Wissen, Denken und Handeln auszurichten und andererseits dessen kulturelle Interpretationen aufzunehmen erlaubt? Sie stützen sich auf naturwissenschaftliches Wissen, dem sie im Zeitalter technisch-wissenschaftlicher Zivilisationen kulturelle Dignität und die Aufgabe notwendiger Allgemeinbildung zusprechen (vgl. Schaefer 2007a: 9ff.)7 Sie vertrauen den Naturwissenschaften, da diese angetreten seien, sich auf eine für alle gleiche Natur zu beziehen und etwa in experimenteller Prüfung Wissen bereitzustellen, das der Falsifikation widerstehe und ein interkulturell gültiges, für alle gleiches Wissen in der Form von »Wissenschaftssprechen (als Weltsprachen)« (ebd.: 9) hervorzubringen scheine. Man mag an die Rede vom Klimawandel denken, auch wenn er nach geografischem Bedingungsnetz, in verschiedenen Kulturen und im Sog verschiedener Interessen unter-

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Vgl. Kokemohr (2007), dort habe ich einige Methodenfragen des Kulturvergleichs angesprochen.

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Die Projektautoren verstehen ihre Arbeit als Befolgung der Leitlinien der zitierten Denkschrift der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ).

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schiedlich analysiert und gedeutet werden mag, dessen Ursachen letztlich aber überall als dieselben gelten (was nicht ausschließt, dass tatsächlich unterschiedliche Ursachen angenommen werden).8 Doch wie anderes Wissen ist auch naturwissenschaftliches Wissen voraussetzungsreich, wie andere Begriffe sind auch naturwissenschaftliche Begriffe in ihren vorprädikativ-epistemologischen Voraussetzungen nicht immer leicht zugänglich. In ihnen formulierte Wirkungszusammenhänge zu verstehen und anzuerkennen, erfordert besondere Anstrengungen. Die Autoren des Projekts wissen das. Sie folgen der Einsicht, dass wissenschaftliches Wissen, um lehrend und lernend zur Anerkennung zu kommen, einer Übersetzung in ein didaktisches Konzept bedarf, das Lernenden Wissen jenseits des Dickichts kultureller Auslegungen zugänglich macht. Zu diesem Zweck entwickelt der Hauptautor im Vorfeld des Projekts eine Metapher, die das epistemologische Problem der Begriffsbildung modelliert. Begriffe, so heißt es, seien nach dem »Klettenmodell« (Schaefer 2007b: 28ff.) gebaut. Sie hätten wie die Klette einen Kern, der mit den ihn umgebenden Widerhaken »persönliche Bedeutung« als »assoziatives Umfeld« festhalte. Der Kern sei eine »logische«, also kulturneutral universale Begriffsbedeutung im Sinne der »objektiv kennzeichnenden Merkmale des Sachverhaltes« (ebd.: 29), während sich in den Widerhaken weiche, kulturell verschiedene Vorstellungen verfangen. Fragen nach der Genese

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Pragmatische Lebensbedingungen können das Klimaproblem in anderem Licht erscheinen lassen, wie Shyam Saran, ein Berater des indischen Premierministers argumentiert: »›Man kann das Klimaproblem in Indien nicht genau so sehen wie in Europa oder USA‹, sagt er. Immerhin müsse seine Regierung noch viele Millionen Menschen aus der Armut holen. Saran ist kein Ideologe. Wenn er den Regierungspalast in Neu-Delhi verlässt, kann er es täglich riechen. Denn draußen ist die Luft so schmutzig, dass die Sonne im Winter oft ganze Tage nicht zu sehen ist. Sein Land will nachholen. Wer Hunger hat, denkt wenig über die Luftqualität nach.« (Fischermann/Pinzler 2009: 22). Ein anderes, für manche tropischen Gebiete typisches Beispiel ist das Ausbleiben des Regens im westlichen Kenia, nachdem Wälder für Viehwirtschaft und Brennholz gerodet worden sind und die für Wolkenbildung notwendige Initialfeuchtigkeit nicht mehr speichern. Hier kann der Topos industrieller CO2-Verdichtung das lokale Alltagsbewusstsein von lokalen Ursachen des Umschlags vormals fruchtbarer in aride Gebiete ablenken.

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von Begriffen, ihren kulturellen Voraussetzungen und dem Verhältnis von universalem Kern und kulturellen Assoziationen, wie sie etwa Wittgenstein in der Kritik nomologischer Begriffssysteme in anderer Metapher als »Familienähnlichkeiten« fasst, werden allerdings nicht gestellt.9 Vereinfachend lässt sich diese Art der Begriffszurichtung am paradigmatisch verwendeten Lebensbegriff darstellen. Leben sei etwas, für das man schon immer einen universalen Begriffskern angenommen habe, mit dessen Einsatz es beginne und mit dessen Aufhören es an sein Ende komme. Während in frühen Konzeptionen disziplinär wenig spezifizierte Merkmale wie »Wachstum, Fortpflanzung und Bewegung« oder im 19. Jahrhundert biologisch definierte Merkmale wie »Stoffwechsel« den Kern des Lebensbegriffs gebildet hätten (ebd.: 58), sei der Kern heute durch »Kriterien (sc. wie) Ordnung/Chaos-Polarität, Selbststeuerung« und andere Begriffspaare komplexer zu formulieren (ebd.: 60). Mit diesem universalen Kern würden sich kulturell verschiedene Lebensvorstellungen verhaken, wie sie sich in Mythen, Alltagstheorien, philosophischen Reflexionen oder ästhetischen Fantasien finden. Die Metapher sucht Universalität und Kulturalität also im anschaulichen Bild didaktisch zu versöhnen. Indem sie die Begriffsstruktur als Klette modelliert, ordnet sie einem statischen Begriffskern kulturell frei schwebende Deutungen scheinbar spannungsfrei zu. Tatsächlich wird die Spannung aber nur verdeckt. Denn einerseits kann der statische, gleichsam voraussetzungsfreie Begriffskern nicht leisten, was er leisten soll. Wenn ich es richtig sehe, erlaubt er z.B. nicht, die ethi-

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Nicht angesprochen wird auch die Funktion der ins Zentrum gestellten »Einstellungen« und »Haltungen« für die Bildung und den Gebrauch von Begriffen. Zwar wird darauf verwiesen, dass der »Anteil an Assoziationen«, die »individuellen Erfahrungen« entstammen, »allen Begriffen (auch den wissenschaftlichen!) eine ganz persönliche Note, eine persönliche Erfahrung gibt« (ebd.: 29). Wie aber ein »logischer« Begriffskern und die »ganz persönliche Note« zu unterscheiden seien, wird nicht gesagt. Dabei könnten gerade die inkompatiblen »Assoziationen« verschiedener Kulturen ein Licht auf kulturrelevante Momente werfen, von denen auch der »Kern« betroffen ist. Die Klettenmetapher vereint also begriffliche, kulturelle und psychologische Aspekte. Sie entzieht dem Blick die Differenz der Begriffssysteme verschiedener Disziplinen und Kulturen.

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schen, immer auch kulturell geprägten Probleme zu lösen, in die der Eingriff in embryonales Leben führen kann, oder die epistemologischen Probleme zu klären, die aus der Wahl kultureller Begriffssysteme etwa für die forschungs-, handlungs- und heilungsrelevante Frage medizinisch-biologischer Grundlagenforschung folgen, ob Viren Lebewesen seien. Andererseits ist nicht zu sehen, wie dem statischen Begriffskern etwa Deutungen außereuropäischer Kulturen zuzuordnen sind, die einem statischen Begriffsdenken widersprechen.10 Doch schon vor solchen Einzelfragen lässt die Metapher selbst erkennen, dass der mit ihr verbundene Bildungsanspruch okzidentaler Wissenschaftskultur verpflichtet ist und dem Vergleich der Kulturen ein kulturell bestimmtes Vergleichskriterium vorgibt. Indem Bildung kraft der didaktischen Zurichtung des Wissens auf einen statischen Wissenskern bezogen wird, wird Wissen vom Gewussten her gedacht. Bildung gilt hier einem Wissen, das als Gewusstes definiert, abgegrenzt, ein gegen Kulturen neutrales Objekt ist. Gebunden ist der objektivierende Wissenszugang an Kulturen des Auges. So orientiert etwa die Rede vom Anfang und Ende des Lebens in den am Blick orientierten Kategorien von Raum und Zeit, die, wie Kant uns lehrt, sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkenntnis zugrunde liegen. Sie geben Dingen hinsichtlich der Erscheinung ihren Ort im Raum und hinsichtlich des inneren Zustandes ihren Platz in der Zeit. In sinnlicher Anschauung werden sie als Objekte ansprechbar, die, dem Satz der Identität gehorchend, hier und jetzt sind, nicht aber hier und dort oder gestern und morgen zugleich. Was sich nicht als Objekt in Raum und Zeit identifizieren lässt, wird aus dem solcher Art verfassten Sinnuniversum ausgeschlossen. Als identifizierbares Objekt in Zeit und Raum können wir das Leben der Pflanzen, Tiere oder Menschen jedoch nur definieren, indem wir, statt des nicht beobachtbaren Lebens als solchem, sie als lebende Organismen in den Blick nehmen. Als Objekt bestimmter Dauer und Ausdehnung zeigt sich Leben nur dem objektivierenden Blick auf andere Lebewesen. Mein eigenes Leben ist für mich kein Objekt. Da sich meine Erinnerung erst im Leben bildet und in meinem Sterben vergeht, hat es für mich weder einen bestimmbaren Anfang noch kann ich Be-

10 In sensiblen Interpretationen der Geschichte konfuzianischer Orientierungen und Konzepte lässt z.B. Ch.-Ch. Huang die Ferne gegenüber statischem Begriffsdenken erkennen, vgl. Huang (2009).

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stimmtes über das Ende meines Lebens sagen. Zwar weiß ich, dass ich geboren wurde und dass ich sterben werde. Aber dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren wurde, »weiß« ich nur, weil ich der Aussage derer vertraue, die es mir gesagt haben. Weder meine Geburt noch meinen Tod kann ich beobachten. Auch einem bestimmten Raum kann ich mein Leben nur dann zuordnen, wenn ich es gleichsam von außen in den Blick nehmend objektiviere, mein Leben also zu dem in meinem Körper sich vollziehenden Leben mache. Nur weil die Differenz von objektiviertem Körper und meinem nicht objektivierbaren Leib in der äquivoken Rede von »Leben« selbst verschattet wird, kann eine objektivierende Definition des Lebens, sei sie in einfacher Form als Stoffwechselprozess oder in komplexer Form als Ordnung/ChaosPolarität, Selbststeuerung o. ä. gegeben, als »Kern«, als selbstverständliche Wahrheit und können die Naturwissenschaften als Wahrheitsinstanz erscheinen, der auch mein Leben zuzuordnen sei.11 Der Siegeszug von Naturwissenschaften, Technik und manipulativen Eingriffen trübt die Aufmerksamkeit auf das spezifische naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Er schränkt mögliche Vorstellungen von Leben auf den einen objektivierten Begriff ein.12 Er unterwirft mich den Wissenschaften, die das Leben immer mehr in seiner physischen und psychischen Komplexität zu durchschauen erlauben, kann aber trotz der manipulativen Gewinne etwa in Medizin oder Psychotherapie nicht sagen, wer ich bin und was ich, um mein Leben zu leben, tun oder lassen soll. Die Attribuierung »persönlicher Bedeutungen« eines »assoziativen Umfeldes« zum Begriffskern eines objektivierten Lebensbegriffs verführt mich, zu vergessen, dass ich mein Leben leben, dass ich im Wissen meines Todes leben, dass ich mich entwerfen und, um zu

11 Schon Stoffwechsel ist eine Metapher und kein einfacher Begriff. Auf physiologischer Ebene schließt er Prozesse chemischer Umwandlung ein, die anderes als ein Wechsel im Sinne eines Austauschs von Stoffen sind. Dass wir darüber hinaus auch Symbole aufnehmen, sie umwandeln und gebrauchen müssen, um in einer andernfalls sinnlosen Welt unsere Weltund Selbstverhältnisse intersubjektiv zu wahren, zu modifizieren und zu sichern, hebt z.B. Psychoanalyse hervor (vgl. Pazzini 2003: 126 f.). 12 Trotz der Dynamisierung des Lebensbegriffs und trotz seiner Weite im Dienst einer Allgemeinbildung bleibt verschattet, dass unser Fragen nach Leben letztlich geleitet wird von unserem Sein zum Tode.

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leben, die Gabe meines Lebens riskieren muss.13 An mein Leben und an meinen Tod zu erinnern, gilt nicht esoterischer Überformung unserer technisierten und vom Kalkül bestimmten Welt durch voraufklärerische Philosophien, Religionen, Mythen oder Bilder. Es gilt allein der kritischen Vergegenwärtigung des zwar erfolgreichen, dennoch aber begrenzten Erkenntnisinteresses und dessen unbedachten Verschattungen kultureller Relevanzen, die sich im objektiviert Gewussten ausspielen. Wir dürfen uns im Rahmen der Globalisierung nicht durch den Umstand verführen lassen, dass die abendländisch selbstverständlich gewordene Subjekt-Objekt-Differenz, der Bezug auf das beobachtende Auge und auf die Vermeidung oder Überwindung von Widerspruch im Zuge der Universalisierung naturwissenschaftlichen Denkens zur weltweit dominanten Matrix wissenschaftlichen Denkens erhoben worden sind. In anderen Kulturen und Lebenswelten etwa asiatischer oder afrikanischer Gesellschaften bleiben trotz okzidental kolonialer Begriffszurichtungen epistemologische Tiefenstrukturen wirksam, die anderes sind als ein »assoziatives Umfeld persönlicher Bedeutung«.14 Was in epistemologischer Reflexion zu vergegenwärtigen ist, ist auch in didaktischem Interesse wahrzunehmen. An unseren Begriffszurichtungen lässt sich studieren, dass es wichtige, weniger vom Auge dominierte Welt- und Selbstverhältnisse gibt, in denen das für uns Ver- und Geschiedene im Gleichgewicht von Kräften gebunden und in uns oft fremden Formen sozialen Austausches manifest wird, ohne sich als didaktisches Problem auszudrücken. Doch was wir, gebunden durch den Satz der Identität, als Widerspruch wahrnehmen, kann dort im Zugleich des für uns Verschiedenen zu Bewegungen führen, die

13 Es mag überzogen erscheinen, das japanisch-deutsche Vergleichsprojekt auf diese Konsequenz hin auszulegen. Doch die Begriffskonstruktion ist letztlich blind gegen die Gefahren biopolitischer Entwicklungen, die im Dienste einer Optimierung des Lebens den Menschen immer stärker in technisch dominierte Prozesse einbinden und ihm, wie es sich etwa in Bereichen der digitalisierten Welt schon andeutet, Modus und Richtung seines Handelns vorgeben. Zum Gegensatz des Menschen als eines Subjekts und als eines Objekts von Biowissenschaften vgl. Lemke (2008: 111 ff). 14 Vgl. Anmerkung 10. – Hier ist auch daran zu erinnern, dass Nietzsche seinen Kampf gegen die Selbstverschattung des abendländischen Geistes mit dem »Hammer« führen wollte, mit dem er die Begriffe abklopfen und im »Klang« ihrer Geschichte ihre Genealogie schreiben wollte.

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sich unseren Begriffen von Widerspruch und Identität entziehen. Auf diese Weise bewahren solche Kulturen eine skeptische Empfindlichkeit nicht nur für die Genese und Grenzen objektivierten Wissens, sondern auch für die Fremdheit eines individuierten Subjekts, das sich im Blick auf Welt als selbstreferentielle Bewusstseinsinstanz gern zu modellieren beansprucht. Das didaktische Interesse an kulturellen Fremdheiten gilt natürlich nicht deren nachahmender Übernahme in das eigene Sinnuniversum. Sie zu imitieren ist nicht möglich, es sei denn in modischem Klischee. In didaktischem Interesse kommt es vielmehr darauf an, sich in der Vergegenwärtigung von Fremdkulturellem zu kritischer Reflexion des objektiviert Gewussten herausfordern zu lassen, um Erfahrungspotentiale aufzurufen und Denkmöglichkeiten zu eröffnen, die in der eigenen Geschichte verschattet sind. Statt also Fremdes zum Dekor des Eigenen zu machen, ist sein Anspruch an unser Eigenes aufzunehmen. Sich Fremdem auszusetzen zeugt nach aller Erfahrung produktive Krisen und Konflikte, die auch den Wissensbegriff aus objektivistischer Engführung zu lösen erlauben. Der von Anderem inspirierte Blick auf kulturelle Traditionen, in die eingelebt wir zwar oft wissen, wie etwas zu tun ist, unser Wissen aber nicht entfalten oder gar begründen können, kann uns zu der Einsicht führen, dass ein jedes wissenschaftlich explizite Wissen, sei es noch so formalisiert, letztlich metaphorische und metonymische Unbestimmtheiten voraussetzt, die es systematisch an die Vielfalt lebenspraktischer Wissensvollzüge binden.15 Der Anspruch des Fremden wird in einem Wissen, dem das Gewusste definiertes Objekt ist, verschattet. Vorangetrieben wird diese Verschattung, von wenigen Ausnahmen abgesehen16, durch die in der Gegenwart verbreitete lehrplan- und unterrichtsbezogene Rede von Kompetenz. Als kompetent im Sinne schuladministrativer Leistungsprüfung gilt, wer Gewusstes adäquat präsentieren und es lehrzielgemäß anwenden kann. Indem Kompetenz als Fähigkeit zur Präsentation des Gewussten und zu seiner Anwendung im Fraglichkeiten beendenden Handeln verstanden wird, wird Wissen als Gewusstes im Zeichen von »Kompetenz« zum zentralen Signifikanten, an dem sich didaktische Planung, unterrichtliche Realisation sowie und vor allem die seit

15 Zur Bedeutung praktischen Wissens vgl. Straub (1999: 95–98). 16 Vgl. etwa die hervorragende Studie von Olaf Steenbuck (2005).

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den PISA-Untersuchungen vom Assessment-Furor getriebenen, andere Diskurse verdrängenden Leistungskontrollen orientieren. Das Phantasma von Kompetenz durch Wissen als Präsentation und Anwendung des Gewussten wirkt pädagogisch durch das Versprechen, das Problem der Bestimmung von Bildung als Verhältnis des Menschen zur Welt zu lösen, die kulturell diskursoffene Prozessualität von Bildung in der Symbolik eines allseits legitimierten Wissenskosmos zu stabilisieren und sie handhab- sowie messbar zu machen. Zwar sprechen die Autoren des genannten Projekts nicht von einem solchen Konzept. Doch ihr Wissenskonzept trägt zu seiner Selbstverständlichkeit bei. Im Schein der Unschuld unterwirft das Klettenmodell Widersprüche verschiedener Lebenszugänge und Ereignisse tatsächlich gelebter Kulturen einer als universal geltenden Wahrheit, die in der Aufmerksamkeit anderer Kulturen nur eine »Wahrheit« ist. Dies ist der kaum vermeidbare Preis einer didaktischen Begriffsuniversalisierung, die mit dem Bild des Begriffskerns eine Wissensvorstellung zur Sprache bringt, der Wissen Gewusstes ist. Vereinfache ich? Gerhard Schaefer, der führende Autor des zitierten Projekts, wird vermutlich auf Veröffentlichungen und Vorträge in aller Welt verweisen, in denen er in didaktischem Interesse die kognitiven Strategien und affektiven Momente der dynamischen Vernetzung des Verschiedenen als den tatsächlichen Rahmen menschlichen Denkens verteidigt und jeder Reduktion auf Einfachheit und Eindeutigkeit widerspricht. Zu prüfen ist also neben dem epistemologischen das didaktische Wissensproblem. Schaefer betont im Anschluss an Kognitionsforschung die Komplexität menschlichen Denkens überhaupt. Es bewege sich in semantischen Feldern, die durch polare Gegensätze strukturiert und gleichsam denkend abgeschritten würden (Schaefer 2007b: 30ff., bes. 62–71). Entsprechend lasse sich der Lebensbegriff, wie schon angedeutet, in Gegensatzpaaren wie »Einheit/Gegensätzlichkeit«, »Veränderung/Konstanz«, »Ordnung/Chaos« und neun weiteren formulieren, die als »12 Lebensprinzipien« zu verstehen und in einem »Polaritätsprofil« zusammenzufassen seien (ebd.: 67). Die Leistung des Profils sieht er darin, das Verschiedene in kognitiven Strukturen zu fassen, die sich auch im Blick auf den Lebensbegriff empirisch bewähren. In didaktischer Hinsicht sei hervorzuheben, dass es semantische Felder begreifen lasse, die Lernende in Assoziationstests mit dem Wort »Leben« verbinden (ebd.: 35 ff.). Indem es die Fülle empirisch vorkom-

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mender Lebensinterpretationen abdecke, erlaube es, Lernende in ihren vorgängigen Orientierungen anzusprechen, ihr semantisches Wissen auf universale Wissensstrukturen zu beziehen, den didaktischen Blick im Ausgang von jenen Feldern empirisch kultureller Begriffsprägungen auf universal vorgängige Denkstrukturen zu lenken und kraft ihrer das Lernen der Lernenden ernst zu nehmen. Solches Ernstnehmen ist freilich dem nahe, was manche Didaktiker im Bahnhofsjargon formulieren, nämlich Lernende, um sie ans lehrplanmäßige Ziel zu bringen, »dort abzuholen, wo sie sind«. Das Polaritätsprofil bildet in der Darstellung von Denkstrukturen der bei Lernenden empirisch vorkommenden »Lebens«-Vorstellungen, -bilder und -empfindungen kulturelle Verschiedenheit nur als semantischkognitive Wandelhalle ab, der ein Wahrheitswert im Sinn des Begriffskerns aber nur dann zukommen könnte, wenn das Verschiedene nicht auf formale Strukturen des Denkens reduziert würde. Was sich etwa in griechisch-okzidentaler Kultur als dynamische Dualität von Lebens- und Todes-Begriff einfacher Polarität entzieht, im »Qi« asiatischer Kulturen als unabschließbare, von Yin und Yang durchwirkte Prozessualität des Lebens ausspielt (vgl. Huang 2009: 133ff.) oder in afrikanischen Kulturen mit Kräften verbunden wird, die in vorprädikativer Sorge gelebt werden, verliert hier als Polaritätselement neben anderen den Stachel des Zweifels. Was also zur Sprache zu bringen wäre, ist in Gefahr, zum ethnografisch und ästhetisch zwar interessanten, letztlich aber unverbindlichen Schattenspiel zu werden. Indem das Polaritätsprofil das Differente auf eine formale Universalität kognitiver Prozesse reduziert, nimmt es kulturellen Widersprüchen durch vereinheitlichende Formalisierung das Potential produktiven Widerstreits. Indem das Profil auf Strukturen des Denkens ausrichtet und den Anspruch des zu Denkenden nicht aufnimmt, kann ein Schein von Klarheit entstehen. Ungesagt lässt es jenen Sinn, von dem die Zuordnung der Vorstellungsassoziationen zu einem Begriffskern abstrahiert. Andere Welt- und Selbstverhältnisse, die die Attribuierung kritisch transzendieren17, verlieren ihre herausfordernde Fremdheit.

17 In drei Jahrzehnten, während derer ich in der Gesellschaft der Bamileke in Kamerun im Kontext von Feldforschung sowie als Wissenschaftlicher Berater im Aufbau einer Reformschule, eines Instituts für wissenschaftliche Lehrerausbildung und in deren Erweiterung zu einer kleinen Universität regelmäßig nicht nur beobachtend, sondern handelnd fremden Welt- und

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Statt also die eigene Existenz im Blick eines radikal Verschiedenen dem Bildungsrisiko eines Aufbrechens eigener Welt- und Selbstverhältnisse auszusetzen, tendiert auch das Polaritätsprofil dazu, unser Denken zum heiteren, tendenziell unproblematischen Spaziergang in ein Begriffsmuseum kultureller Varietäten zu machen. Es blendet aus der Erfahrung des Lernens aus, dass Wissen, im universalisierten Wissensvorrat scheinbar so leicht verfügbar, in riskanter, oft schmerzlicher Transformation eines schon Gewussten und Gewohnten einem Nichtwissen abgerungen ist. Es blendet die Genese von Wissen und mit ihm die Genese von Subjektivität aus. Es lässt vergessen, dass Wissen in neuen Orientierungen, Einsichten und Möglichkeiten unseres Handelns erst dadurch wirksam wird, dass wir uns am Widerstand seiner Fremdheit abarbeiten, uns in unserer mentalen Organisation selbst ändern und in der Erfahrung des Wissens zu Anderen werden. Trotz des Bemühens um dynamische Bedeutungsvielfalt und Überschreitung disziplinärer Wissensgrenzen fügen sich also auch die Klettenmetapher und das Polaritätsprofil mit der in ihnen vorausgesetzten Didaktik einer gesellschaftlichen Entwicklung ein, der Bildung Ausbildung von Kompetenzen und Wissen Verfügung über Gewusstes ist. Wie schon angedeutet, eröffnet solche Bildung im Zusammenspiel von Freiheits- und Herrschaftspraktiken nicht nur Wege einer Subjektivierung der Individuen. In dem Maße, in dem sie die Komplexität des Lebens auf einen biowissenschaftlichen Kern zurückführt, begünstigt sie eine Technologie des Selbst, in der wir unser Selbstverhältnis kraft begrifflich-diskursiver Selbstformierung und -disziplinierung dem verschattenden Sog eines objektivierten »Wahrheits«-Regimes unterwerfen. So geben wir uns Weltverhältnissen anheim, die unser Leben verändern, ohne zu begreifen, wer wir sind und dass wir Andere werden. Wenn diese Kritik zutrifft, genügt es nicht, Didaktik im Zuge der Globalisierung auf die Komplexität des Lebens und der Welt auszurichten. Didaktik ist auch durch die genealogisch-bildungstheoretische Frage herauszufordern, ob und gegebenenfalls wie Fremdes, Ungesag-

Selbstverhältnissen ausgesetzt war, habe ich erfahren, wie schwer oft zu verstehen oder gar in einem Konsens aufzuheben ist, was man Grundfiguren kultureller Orientierungen, Begriffe, Entscheidungen und Aktivitäten nennen könnte. Ein markantes Beispiel habe ich jüngst veröffentlicht (vgl. Kokemohr 2015).

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tes, bis dato Unsagbares für uns zu Sagbarem werden kann, das Welt und mich sagbar, auch anders sagbar machen kann. Zwar ist diese Formulierung des Problems, so lange sie nicht entfaltet wird, abstrakt. Doch es lässt sich andeuten, woraufhin das Verhältnis von Wissen, Kompetenz und Selbst zu entwickeln ist. Auf dem Niveau individuellen Lehrens und Lernens hat Didaktik auch im naturwissenschaftlichen Wissen den Anspruch aufzunehmen, den ihrem Gründungsanspruch nach Philosophie, Wissenschaftstheorie, Kulturpsychologie und -soziologie, Ethnologie, Künste oder Religion auf dem Niveau von Gesellschaften, Kulturen und ihren Geschichten aufzunehmen suchen. Denn will Didaktik den Herausforderungen der globalisierten Märkte entsprechen und zur notwendigen Freisetzung von Kreativität beitragen, darf sie ihren Anspruch nicht aufgeben, in der Spannung von Ungesagtem und Gesagtem Wissen in seiner kulturellen und individuellen Genese sowie in der Verschiedenheit seiner Modi und Funktionen für Welt- und Selbstverhältnisse erfahrbar werden zu lassen und so Lernenden zu helfen, ihr Leben als eigenes, als von ihnen selbst zu verantwortendes zu begreifen und zu leben.

L ITERATUR Berg, Gunnar (2007): »Einführung«, in: Konrad Sandhoff/Wolfgang

Donner (Hg.), Vom Urknall zum Bewusstsein – Selbstorganisation der Materie. Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, 124. Versammlung, 16.-19. September 2006 in Bremen/Stuttgart: G. Thieme, S. 271-274. Djouda Feudjio, Yves Bertrand (2009): L’adoption du « système LMD » par les universités du Cameroun : enjeux, contraintes et perspectives. http://ifgu.auf.org/media/document/37-_Adoption_du_syst% C3% A8me_LMD_au_Cameroun.pdf, vom 8.1.2010. Fischermann, Thomas/Pinzler, Petra (2009): »Die Illusion von der einen Welt«, in: DIE ZEIT vom 30.12.2009, S. 22. Huang, Chun-Chieh (2009): Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung. Studien zur chinesischen Geistesgeschichte, Bielefeld: transcript. Klausenitzer, Jürgen: Schule der Globalisierung. Zur Restrukturierung des deutschen Bildungswesens, Teil I. http://www.labournet.de/dis kussion/arbeitsalltag/bildung/klausen1.html, vom 26.2.2016.

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sen unter Grundschulkindern und seine Rekonstruktion des Kompetenzproblems im Anschluss an Piaget, Diss., Hamburg. Straub, Jürgen (1999): Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie, Berlin/New York: de Gruyter. Valsiner, Jaan (2007): Culture in Minds and Societies, Los Angeles/London/New Delhi/Singapore: Sage Publications.

Das Selbst als interkulturelles Kompetenzzentrum Ein zeitdiagnostischer Blick auf die wuchernde Diskursivierung einer ›Schlüsselqualifikation‹ J ÜRGEN S TRAUB »Ach, die anderen! Sie reden über nichts sonst. Die Differenz, die Alterität, das Multikulturelle. Das ist ihr Dada. […] Diese ganze kulturelle Geschäftemacherei, die Kolloquien, die Interviews, die Seminare, warum? Nur um sich gegenseitig zu versichern, daß man über dieselbe Sache spricht. Worüber nämlich? Über das Anderssein. Einstimmigkeit über den Grundsatz, daß Einstimmigkeit suspekt ist. […] Was der kulturelle Kapitalismus entdeckt hat, ist der Markt der Singularitäten.« (JEAN-FRANÇOIS LYOTARD 1998: 15F.)

1. Z EITDIAGNOSTISCHE AMBITIONEN Zeitdiagnosen haben häufig einen etwas merkwürdigen Tenor. In aller Regel pflegen sie, unabhängig von ihren weltanschaulichen Bindungen, normativen Positionen und politischen Perspektiven, einen kritischen Ton, und manchmal strotzen sie regelrecht vor Selbstgewissheit. Sie vindizieren die Überlegenheit ihrer Autorin oder ihres Autors und laden die Leserschaft zur Identifikation mit dem Adlerblick aus hoher Warte ein. In Zeitdiagnosen meldet sich stets eine Stimme zu Wort,

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die es besser zu wissen meint und den Anspruch erhebt, zutreffender zu sagen, wie es um die gegenwärtige Lage bestimmter Leute, um eine Gesellschaft und Kultur oder sogar die Welt im Allgemeinen bestellt ist. Die analogische Verwendung des aus der Medizin stammenden Begriffs der Diagnose legt es nahe, dass überwiegend Missstände festgestellt werden, etwa in der Gestalt von (psychologisch, soziologisch oder philosophisch artikulierten) Sozialpathologien oder der notorischen Verletzung von kulturellen Werten wie Freiheit, Würde und Ehre, Gleichheit, Gerechtigkeit oder Verantwortung, wodurch geschätzte Lebensformen ebenso zerbrechen können wie durch die Gefährdung habitualisierter ästhetischer Prinzipien der Lebensführung. Wenn es nicht grundlegende und totale Miseren sind, für die pars pro toto die in der Anamnese und Diagnose fokussierten Phänomene stehen, so werden zumindest einige veritable Herausforderungen oder eminente Probleme identifiziert, die die betroffenen Menschen in neuer Weise in Anspruch nehmen. Mitunter versammelt der Zeitdiagnostiker zu diesem Zweck nicht nur verfügbares (wissenschaftliches und anderes) Wissen, sondern demonstriert auch eine ›seismographische‹ Sensibilität, spekulative Fantasie und individuelle Urteilskraft, die ihn oder sie (angeblich) weit über den Tellerrand normaler Leute hinausschauen lassen. 1 Mindestens ebenso wichtig wie die Interesse weckende, detaillierte Beschreibung und die plausible theoretische Erklärung der diagnostizierten Lage ist der Blick in die Zukunft und eine therapeutische Rezeptur: Aus der (nur manchmal methodisch seriösen) empirischen Bestandsaufnahme wird in aller Regel ›extrapoliert‹ und sodann prognostiziert, wo das alles noch hinführen wird und wo es fortan lang gehen sollte, wenn man tatsächlich aus der festgestellten Misere herausfinden möchte. Zeitdiagnosen sind komplexe performative Akte mit Appellstruktur: Sie ermahnen die Adressaten zur Besinnung und Umkehr und weisen sogleich den Weg zur Besserung, vielleicht mehrere begehbare Routen. Selbst dort, wo Unübersichtlichkeit ausgemacht wird, gibt es

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Zum Genre der wissenschaftlichen Zeitdiagnose vgl. die Einführung in ein einschlägiges Themenheft, wo – vor allem unter Bezugnahme auf Uwe Schimank und Ute Volkmann (Schimank/Volkmann 2000; Volkmann/ Schimank 2002) sowie Walter Reese-Schäfer (1996) – einige strukturelle und funktionale Merkmale dieser eigentümlichen Textgattung resümiert werden (Straub 2004a).

D AS S ELBST

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also wenigstens die eine oder den anderen, die noch durchblicken und Auswege zu erspähen vermögen, sich vielleicht sogar als Vorbild andienen und beherzt voranschreiten. Zeitdiagnostiker gleichen ein wenig auktorialen Erzählern. 2 Wie diese kennen sie die Geschichte, die sie ausbreiten, vermeintlich wie niemand sonst. Ihre Sicht der Dinge verknüpft Innen- und Außenperspektiven mehr oder weniger virtuos und ist, jedenfalls dem erhobenen Anspruch nach, umfassender und zugleich schärfer als andere. Dabei sind Zeitdiagnosen in ihren methodischen Wegen und sprachlichen Formen kaum festgelegt: Quantitative Forschungen, statistische Daten, nüchterne Berichte oder mikroskopische ›qualitative‹ Analysen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften stehen neben literarisch ansprechenden Erzählungen und Essays, die von Tropen aller Art, nicht zuletzt von dramatisierenden poetisch-rhetorischen Strategien, Gebrauch machen. Gegenwartsdiagnosen sollen ein provozierendes Wissen und neues Bewusstsein vermitteln. Meistens identifizieren sie zu diesem Zweck ein grundlegendes, zentrales Prinzip, das es erlaubt, ihre Zeit in Gedanken zu fassen und dem ›objektiven Geist‹ auf die Sprünge zu helfen. Fast immer wissen sie Rat. Nur schon vollends resignierte Geister passen an dieser Stelle und laben sich an der Vision des unausweichlichen Untergangs dieser oder jener Gruppe, einer Nation, ganz Europas oder der okzidentalen Welt, vielleicht der sich abschaffenden Menschheit. Zeitdiagnosen sind, alles in allem, ein eigenartiges Genre. Sie taugen bestens als Steckenpferd (vielleicht bloß selbsternannter) kritischer Geister, die es manchmal zwar im Einzelnen nicht ganz so genau nehmen, dafür aber das Allgemeine – wesentliche Phänomene und dominierende Tendenzen zumindest – besonders tief zu erkennen, scharfsinnig zu sezieren und überzeugend zu beurteilen glauben und gerade durch diese (vermeintliche) außergewöhnliche Begabung ihre kognitive, emotionale und moralische Überlegenheit unter Beweis zu stellen meinen. Manchmal gelingt diese Beweisführung, die Zeitdiagnose findet Gehör in aller Öffentlichkeit, ihre Autorin oder ihr Autor versammelt Gefolgschaft um sich. Bisweilen versandet sie flugs als Gerede geschwätziger Propheten, denen es eher um sich selbst als um ihre Zeit,

2

Zum allwissenden Erzähler vgl. einschlägige Darstellungen im Rahmen zeitgenössischer Erzähltheorien (etwa von Gérard Genette oder Franz K. Stanzel), z.B. von Mieke Bal (1997).

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eher ums Geld als um allgemeine Lebensfragen oder die Zukunft der Menschheit geht. In vielen Fällen stellen sie darauf ab, ihre Verfasserin oder ihren Verfasser ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu rücken. Sie mobilisieren nicht selten eher Gefühle, als dass sie sich an den Verstand richten, affizieren eher die Herzen der Menschen, als dass sie deren Vernunft in Anspruch nehmen. Das Genre der Zeitdiagnose hat wie kaum ein anderes wissenschaftliches oder wissenschaftsaffines Genre das Zeug dazu, narzisstische Begehren, Identifikationen und Aversionen, eigennützige Motive und Machtstreben auf Seiten aller in den Diskurs Involvierten zu bedienen. Im ewigen Zeitalter der Massenmedien zieht es zwangsläufig Aufmerksamkeiten auf sich. Wer in spektakulären Thesen diffuse Ängste oder konkrete Befürchtungen zu wecken vermag, findet Zugang zu Menschen – erst Recht, wenn angeblich patente Lösungen im Tornister sind. Auch deswegen stimmen so viele so gerne in zeitdiagnostische Diskurse ein. Das gilt seit einigen Jahren für kaum einen Diskurs so sehr wie für jenen, welcher von der Notwendigkeit interkultureller Kompetenz spricht. Bevor ich darauf eingehe und einen ›bösen Blick‹ auf die allgegenwärtigen Lobgesänge werfe, deren Schöpfer häufig kaum mehr zu bieten haben als warenförmige Offerten für den florierenden Kompetenzmarkt, sei festgehalten: Der Forderung nach sowie der Förderung von interkultureller Kompetenz liegt eine weithin anerkannte Gegenwartsdiagnose zugrunde. Diese sieht, vage genug, ein wesentliches Prinzip der Strukturierung und Dynamisierung moderner Gesellschaften in kultureller Pluralisierung und kulturellem Austausch, kurz: in konflikt- und krisenanfälliger interkultureller Kommunikation, Kooperation, Koexistenz. Es sind, so heißt es allenthalben, die vielfältigen kulturellen Unterschiede, die das Leben in immer mehr Weltengegenden zutiefst prägen und alle Zeitgenossen des 20. und 21. Jahrhunderts auf Gedeih und Verderb dazu nötigen, Experten im Umgang mit kultureller Differenz und Heterogenität zu werden. Interkulturelle Kompetenz steht just für diese Expertise, für ein praktisches Wissen, das eher einem Können gleicht als bloßen Kenntnissen. Sie gewährleistet, so sagt man, dass Unterschiede in zwischenmenschlichen Begegnungen ›produktiv‹ werden und ›Synergieeffekte‹ freisetzen können, nicht Blockaden und destruktive Tendenzen dieser oder jener Art heraufbeschwören. Sie gilt mithin als Auflösung eines Problemknäuels, das sich globaler kultureller Diversität und dynamischen Vorgängen kulturellen Austauschs verdankt. Wer auf multi- und interkulturelle Arbeits-

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und Lebensformen angewiesen ist, muss, so heißt es unisono, in der Lage sein bzw. dazu befähigt werden, interkulturell kompetent zu handeln. Nicht allein kulturelle Differenz ist, wie Jean-François Lyotard (nicht zuletzt sein eigenes öffentliches Wirken) resümiert, das Dada und auch das Manna unserer Tage (Lyotard 1998). Das vom Himmel der modernen Welt fallende Wunderbrot mundete nämlich ohne interkulturelle Kompetenz nur halb so gut. Erst letztere setzt die Gespeisten instand, den Weg aus der Wüste zu gehen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Interkulturelle Kompetenz ist die (pädagogische, therapeutische, politische) Losung unserer Zeit. Sie ist, so schallt es heute aus jeder Ecke, die allgemeine Schlüsselqualifikation des 21. Jahrhunderts, 3 eine durch und durch notwendige sowie angemessene Antwort auf eine Anamnese, Diagnose und Prognose, in denen potentielle Probleme menschlichen Zusammenlebens als zentrales Signum interkultureller Konstellationen gelten – vom Spiel im Kindergarten und Privatleben eines Ehepaars, dem Mit- und Nebeneinander in Mietshäusern oder Wohnvierteln über Geschäftsverhandlungen zwischen global players bis hin zu internationalen politischen Prozessen. Intercultural competence matters: Zumindest das scheint evident! Allein, es stellt sich die Frage: Stimmt das denn wirklich, ist dieser Befund, derartig pauschal formuliert, triftig, und vor allem: Ist das pädagogisch-therapeutischpolitische Programm – wenigstens in seinen begrifflichen, konzeptuellen Grundlagen – so klar und vielversprechend, wie es zu sein vorgibt? Wissen wir denn überhaupt, was wir fordern und fördern, wenn wir nach interkultureller Kompetenz rufen und sie zu stärken meinen? Und wissen wir, was wir tun, wenn wir in diesem diskursiven und praktischen Feld mitmischen? Wer wissenschaftliche Ansprüche und Kriterien anlegt, wird diese Fragen nicht rundherum positiv beantworten können. Er oder sie stößt vielmehr auf ein wucherndes Gerede, das skeptisch macht und neue Fragen aufwirft, vor allem Fragen nach möglichen Funktionen, nach

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Ich verweise hier pars pro toto auf ein »Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturelle-Kompetenz-Modelle von Dr. Darla K. Deardorff« (Bertelsmann Stiftung 2007; Deardorff 2007), wo sich einschlägige Überzeugungen, Appelle und Aktivitäten dargestellt finden.

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Herkunft, Sinn und Zweck des Diskurses über interkulturelle Kompetenz. Dieses Gerede wird im Folgenden in eine erweiterte Gegenwartsdiagnose einbezogen, die nicht einfach feststellt, dass interkulturelle Kompetenz ein zunehmendes Desiderat in allen möglichen Lebens- und Handlungsbereichen darstellt, 4 sondern ebenso zu einer oftmals gedankenlos gebrauchten Worthülse geworden ist, in die man fast alles, was uns Heutigen gut und teuer scheint, hineinpacken kann. Wer die vermeintliche Wundertüte ausleert und ihren Inhalt inspiziert, hält demnach keineswegs einfach nur einen funkelnden Schatz in den Händen, sondern hat unversehens auch einige konsternierende Ungereimtheiten vor Augen. Diesen Anblick nicht zu scheuen, sondern das Wahrgenommene zu analysieren, gehört zu den unabdingbaren Aufgaben einer zeitdiagnostisch ambitionierten Wissenschaft – egal, welcher Disziplin sie sich zurechnen mag (oder ob sie von solchen Zuordnungen absieht). Solche Analysen stellen eine genuin wissenschaftliche Verpflichtung dar, die zu ignorieren einer Kapitulation des Denkens vor dem geschäftigen Betrieb einer Praxis gleichkäme, in der der Absatz von Waren (auch in Form von Dienstleistungen) sowie die Selbstdarstellung machthungriger Händler oft vordringlicher erscheinen als die Lösung von allgemeinen Lebensproblemen.

2. D ER R UF

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Interkulturelle Kompetenz wird, wie gesagt, seit etwa zwei Jahrzehnten als eine Art Wundermittel gegen die Malaise einer Welt angepriesen, die durch das Faktum zunehmender kultureller Differenzierung und wachsenden kulturellen Austauschs in neuer Weise herausgefordert wird (Straub 2007a). Gewiss, diesen Austausch gibt es seit Menschengedenken (Burke 2000). Neu ist allerdings das quantitative Aus4

Es geht hier nicht darum, dies kurzerhand in Abrede zu stellen. Das wäre, wie zahllose Untersuchungen zeigen, einfach lächerlich (vgl. dazu den Überblick, den das Handbuch für interkulturelle Kommunikation und Kompetenz gibt: Straub/Weidemann/Weidemann 2007; weiter z.B. Asante/Gudykunst 1989, Gudykunst/Mody 2002, Lüsebrink 2005, Nicklas/Müller/Kordes 2006, Thomas/Kinast/Schroll-Machl 2003, Thomas/Kammhuber/Schroll-Machl 2003).

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maß, die Intensität, Ubiquität und Normalität einschlägiger Phänomene. Neu ist auch jenes begleitende Bewusstsein, welches solche Phänomene für eine wachsende Mehrheit von Menschen zum Objekt einer beständigen Reflexion macht. Solche allgemeinen Redeweisen verdecken natürlich erhebliche regionale Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung von Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen. Richtig ist gleichwohl: Fast überall, wo erhebliche kulturelle Unterschiede virulent werden – wo sie praktisch und diskursiv als relevant markiert werden von Menschen, die Gründe für diese Markierungen haben –, überall dort werden sie auch problematisiert. Sie werden, ungeachtet ihres womöglich faszinierenden, anziehenden Appeals, fast immer auch als Quelle möglicher Schwierigkeiten zwischen Menschen betrachtet. In der folgenden Passage eines Textes, in dem Jürgen Streeck (hier nicht interessierende) theoretische Erklärungen »kommunikativer Fehlschläge« speziell in der interkulturellen Verständigung erörtert, wird just diese heikle, unangenehme Erfahrung als allgemein anerkannte Tatsache präsentiert: »Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Kommunikationsprozesse zwischen Angehörigen fremder ethnischer oder kultureller Gruppen leichter scheitern als solche zwischen Mitgliedern derselben Kultur. Selbst dort, wo den Parteien eine gemeinsame Sprache oder verschiedene, aber wechselseitig verständliche Dialekte einer Standardsprache als Verständigungsmittel zur Verfügung stehen – wie schwarzen und weißen Bürgern der USA, Indern und Engländern im Vereinigten Königreich oder Eingeborenen und Franzosen in Polynesien – nehmen interethnische [bzw. interkulturelle, J.S.] Kommunikationskontakte immer wieder einen Verlauf, der beiden Seiten Unbehagen verursacht. Dort, wo institutionelle Funktionsträger, die der (dominanten) Mehrheit angehören, mit Klienten einer Minorität interagieren, ziehen sie für letztere zudem oft schwerwiegende Einbußen an einer (zumeist konstitutionell garantierten) Chancengleichheit nach sich. Es hat den Anschein, als gäbe es unsichtbare kulturelle Quellen der Fehlkommunikation, die das Zusammenleben der Gruppen beeinträchtigen (und staatliche Integrationsprogramme schon im Ansatz zunichtemachen).« (Streeck 1985: 103)

Wie das Zitat andeutet, sind die besagten Quellen durchaus vielfältig (vgl. z.B. Rehbein 1985). Wie insbesondere die Soziolingusitik gezeigt hat, entzünden sich Missverständnisse und andere Kommunikations-

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barrieren beispielsweise an der vielen Sprechern normalerweise gar nicht oder allenfalls teilweise bewussten Kulturspezifik • • • • • •

• • •

des Vokabulars einer Sprache, der Lexik und ganzer Sprachspiele (z.B. zum Zweck der Artikulation von Gefühlen), der Grammatik und Syntax einer Sprache, der sog. kommunikativen Apparate, der Existenz von besonderen und der individuellen Verwendung verbreiteter kommunikativer Gattungen, der Modi nonverbaler Kommunikation (Gestik, Mimik, Proxemik), der Art und Weise paraverbaler Kommunikation (also aller Begleiterscheinungen des Sprechens wie Intonation, Melodik, Rhythmik oder Lautstärke), der Verwendung von Kontextualisierungshinweisen, von Diskurs und Text (inkl. ihrer Interferenz), der gebräuchlichen Formen institutioneller Kommunikation (die sprachliche Besonderheiten einschließen – man denke an Verwaltungssprachen oder juristische Terminologien –, aber weit darüber hinaus gehen und sich auf komplexe Regeln nicht-sprachlicher Interaktion erstrecken).

Die »interkulturelle Pragmatik mit ihren heute hochsophistizierten Verfahren der Gesprächsanalyse« fokussiert, wie Ernest Hess-Lüttich (2003: 78) bilanziert, »auf Diskrepanzen in der Handhabung kulturspezifischer Mechanismen der Verständigungssicherung, auf Differenzen zwischen Intention und Interpretation bestimmter Gesten und Gebärden, kinemischer und proxemischer Konventionen, die den Beteiligten in aller Regel nicht bewusst sind. Die kulturspezifischen Unterschiede zeigen sich aber auch in der alltagsrhetorischen Präsentation von Diskursformen des Erzählens, Berichtens, Beschreibens, Gratulierens, Kondolierens, Argumentierens. Hier werden die Grenzen zwischen einzelnen Diskursarten je nach Situation in anderen Sprachgemeinschaften unterschiedlich gezogen, was zu Irritationen bezüglich der wechselseitigen Situationseinschätzung oder Beziehungsdefinition führen kann.«

Als Quellen für Kommunikationsstörungen, Kooperationsbarrieren und existenzielle Konflikte im Zusammenleben mindestens ebenso wichtig, aber außerhalb der Reichweite rein linguistischer Untersu-

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chungen, sind andere kulturelle Spezifika der sprachlichen und nichtsprachlichen Praxis von Kollektiven beliebiger Größenordnung. Streeck hebt in dem oben angeführten Zitat gerade auch auf diesen Sachverhalt ab, wenn er kulturelle Differenzen zwischen Personen und Gruppen thematisiert, die eine gemeinsame (Mutter- bzw. Standard-) Sprache teilen, also im linguistischen Sinne gleichermaßen kompetente Sprecher sind (jedenfalls annähernd). Kulturelle Unterschiede können demnach auch innerhalb von Sprachgemeinschaften virulent werden. Das ist umso mehr der Fall, als Sprachgemeinschaften zumal in modernen Gesellschaften keinerlei Gewähr dafür bieten, dass die Angehörigen tatsächlich sehr viel mehr gemeinsam haben als ihre Sprache (bzw. weit sich überlappende Bereiche ihrer in Soziolekte, Dialekte, Idiolekte differenzierten Sprache). Man denke insbesondere an • •









womöglich unvereinbare ethisch-moralische Werte (z.B. individuelle Freiheit, soziale Verantwortung und Solidarität, Ehre), konfligierende soziale Normen (z.B. bezüglich des Umgangs mit Zeit, mit der Natur, mit Familienangehörigen, Freunden und Fremden; Normen reichen dabei von bloß konventionellen Benimmregeln bis hin zu negativ sanktionierten, juristisch kodifizierten Gesetzen), andere Quellen von Handlungs- und Lebensorientierungen, z.B. ästhetische Prinzipien und Regeln (die nicht einfach auf ethischmoralische Werte und soziale Normen zurückführbar sind), oder aber beliebig komplexe Geschichten, die in Kulturen kursieren und aus denen ihre Mitglieder Orientierungen schöpfen (z.B. weil viele Geschichten eine ›Moral‹ haben, die die phronetische Vernunft oder narrative Intelligenz ihrer Rezipienten bereichern kann; Straub 1998), weitere zentrale Aspekte der qualitativen kulturellen Identität und des Habitus, die durch die unweigerlich agonale Struktur interkultureller Kommunikation berührt und wechselseitig in Frage gestellt bzw. abgelehnt werden, z.B.: eingeschliffene Gewohnheiten, die die alltägliche Praxis in die Gestalt von Routinen und immer gleichen Abläufen bringen, somit Erwartungssicherheit und Vertrautheit mit der (materiellen und psychosozialen) Welt schaffen, eine Art ontologische Sicherheit der Zugehörigen,

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übergeordnete, zeitlich ausgreifende (individuelle und kollektive) Lebens- und Entwicklungsziele, (individuelle und kollektive) Identifikationen, Bindungen, Leidenschaften, Wünsche und Projekte, Ängste und Aversionen sowie damit verwobene unbewusste Sehnsüchte und Motive.

Es ist leicht zu sehen, dass es in interkulturellen Begegnungen häufig weniger um mangelndes Wissen, defizitäre Sprachkompetenz oder um kognitive Probleme des Verstehens und der Verständigung geht, sondern um zutiefst affektiv-emotionale Seiten unseres Handelns und Lebens, um oftmals kaum bewusste Orientierungen und Gewohnheiten, die Menschen lieb und teuer geworden sind, an denen sie hängen und von denen sie abhängen, häufig ohne es zu wissen. Kommunikation wird auf solchen Ebenen flugs zu einer Herausforderung, die ethischmoralische, ästhetische, politische und psychische Dimensionen unserer Lebensführung berührt. Interkulturelle Kommunikation konfrontiert die Beteiligten nicht bloß mit den Grenzen ihrer sprachlichen Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten, sondern mit identitätsrelevanten Grenzen erfahrener Beachtung, Achtung und Anerkennung. Soziale Beziehungen sind stets auch Anerkennungsverhältnisse. In interkulturellen Begegnungen drängt sich dieser Aspekt häufig in den Vordergrund, weil kulturelle Zugehörigkeiten in einer (potentiell) für alle Beteiligten leicht wahrnehmbaren Weise an Macht- und Herrschaftsverhältnisse, mithin an hierarchische Konstellationen, gebunden sind, in denen sich keineswegs Gleiche auf derselben Augenhöhe begegnen. Kulturelle Differenzen implizieren meistens auch Positions- und Statusunterschiede, soziale Ungleichheiten der einen oder anderen Art. Sobald solche Aspekte tangiert sind, sind Menschen in psychosoziale Herausforderungen verstrickt, in denen Empfindlichkeiten, Sympathien und Antipathien den Ton angeben, das »Gesicht« und der Stolz der Beteiligten auf dem Spiel stehen und Verletzungen aller Art wahrscheinlich sind. Kulturelle Differenz, Alterität und Alienität sind emblematische Bezeichnungen für Verletzungsrisiken, die Menschen, insofern sie sich selbst davon bedroht fühlen, fürchten und ungern eingehen, gegen die sie sich wappnen (oder zu wappnen meinen, soweit dies möglich erscheint). Jeder interkulturelle Dialog und jede interkulturelle Praxis hat auch eine agonale Struktur und Dynamik. Dieses Faktum macht interkulturelle Beziehungen und Begegnungen anfällig für

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Skepsis und Streit, für den Aufbau von Aversionen und Aggressionspotentialen in (oft schleichenden) Prozessen der paradoxerweise bereits in Annäherungen sich anbahnenden oder sich vollziehenden Abschottung und Abwendung. Selbst Vorgänge der Verfeindung gelten hier als durchaus üblich (auch wenn sie meistens erst geschürt werden müssen, was häufig genug geschieht in xenophoben Diskursen). Interkulturalität birgt – wie übrigens jede Art von Differenz, die in der sozialen Praxis relevant gesetzt werden kann – ein polemogenes, Aversionen und Aggressionen evozierendes Potential. 5 Zusammengefasst: Zahllose Menschen aus verschiedenen Kulturen treffen innerhalb und außerhalb ihrer Gesellschaften und Gemeinschaften immer öfter aufeinander, spontan oder geplant. Sie müssen sich irgendwie miteinander verständigen, informell oder institutionalisiert und reglementiert, vielleicht längerfristig zusammenarbeiten oder sogar auf unabsehbare Zeit zusammenleben. Das gelingt oft erstaunlich gut und bereitet den Betroffenen gar nicht so selten kaum mehr Probleme als das in jedem Fall mühsame, auf gegenseitige Anerkennung angewiesene Abenteuer des menschlichen Zusammenlebens sonst auch (Todorov 1996; dazu Straub 1999). In anderen, ebenfalls zahlreichen Fällen werden interkulturelle Begegnungen jedoch, wie ausgeführt, als schwierig erlebt, die Kommunikation als besonders störungsanfällig, die Kooperation als äußerst aufwendig und die Koexistenz (vor allem in auswegloser räumlicher Nähe) als schiere Zumutung. Es sind vor allem diese – oft spektakulären – Fälle, die interkul-

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Dafür gibt es in der Geschichte der Menschen unzählige Beispiele, auch solche, die bezeugen, dass kulturelle Unterschiede aus ideologischstrategischen Gründen biologisiert und in pseudowissenschaftlichen Pamphlets als Bestandteil eines vermeintlichen Plans der auf Konkurrenzund Überlebenskämpfe eingestellten Natur ausgegeben werden können. Bis heute finden sich solche prekären Versuche, deren soziale Folgen in Stigmatisierungen und Diskriminierungen sowie anderen Formen der (symbolischen, psychischen, physischen) Gewalt bestehen. In solchen Fällen werden wahrgenommene (also aktiv konstruierte) Differenzen hierarchisierend und abwertend angelegt, indem sie einige als negativ geltende Merkmale ungleich auf ›Kulturen‹ und deren Angehörige verteilen, um diese Ungleichheit sodann naturalistisch aufzufassen, dadurch festzuschreiben und kollektive Identitäten zu stabilisieren.

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turelle Kompetenz auf den Plan rufen und den Eindruck vermitteln, sie sei, vielleicht ganz im Stillen und kaum bemerkt, überall dort am Werke, wo die Dinge einigermaßen gut laufen, sich kulturell Fremde also mit Wohlwollen und Interesse, Achtung und Anerkennung begegnen, Aufgaben gemeinsam meistern und sich als Bereicherung des eigenen Daseins genießen. 6

6

Bekanntlich gibt es auch Versuche der Meidung oder Nihilierung kultureller Differenz-, Alteritäts- oder Alienitätserfahrungen. Wenn Menschen voneinander abgesondert werden in Lagern und Ghettos, wenn sie sich, nebeneinander lebend, selbst voneinander abschotten oder sich aus freien Stücken in Parallelgesellschaften einrichten, dann sind das alles Beispiele für das Umgehen kultureller Unterschiede, für ihren Ausschluss aus der Erfahrung. Ebenso bekannt ist, dass aus erwartbaren und verständlichen Schwierigkeiten des Zusammenlebens in kulturell pluralisierten Gemeinschaften und Gesellschaften angeblich unüberwindliche Hürden gemacht, Schreckensgespenste kultureller ›Kämpfe bis aufs Messer‹ an die Wand gemalt und die jeweils Anderen und Fremden (oder mehr oder minder mutwillig selektierte Gruppen aus dieser sozialen Kategorie) stigmatisiert, diskriminiert und verletzt werden. Dies geschieht oft auf der Basis hartnäckiger Stereotype, vielleicht unbewusster Vorurteile, manchmal bewusst verfolgter ideologisch-politischer Absichten und kalkulierter Inszenierungen, unter Aufbietung aller erdenklichen Mittel symbolischer, psychischer und physischer Gewalt. Trotz aller Aufklärungsarbeit, die die moderne Psychologie und andere Wissenschaften anhand eines unendlichen Anschauungsmaterials aus der Gewaltgeschichte der Menschheit, gerade aus jüngerer Zeit, geleistet haben, hat sich an feindseligen, gegen Andere und Fremde gerichteten Dispositiven sowie den entsprechenden Dispositionen zahlloser Einzelner weniger geändert als erhofft. Die am Anfang subtile, kaum merkliche Abwertung des und der Anderen und Fremden, die sich in der Regel ebenso unmerklich in Aversität und Aggressivität wandelt und festsetzt im Seelenleben der abwertenden Menschen, ist wohl niemals aus der Welt zu schaffen. Das ist der erste und vielleicht wichtigste Grundsatz einer durch psychologischen Realismus geschärften politischen Vernunft, die den Menschen nicht idealisierend-überhöhend als bloßes Vernunftwesen anspricht, sondern ihn mitsamt seinen keineswegs immer schmeichelhaften Instinkten und Trieben, Begehren und Wünschen, Affekten und Gefühlen ernst nimmt und schätzt. Dass Ängste ebenso wie Sehnsüchte, tief sitzende Befürchtungen ebenso wie hoch fliegende Hoffnungen, Geltungs-

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Ungeachtet der Bedeutung von Kontextbedingungen und situativen Faktoren wirkt interkulturelle Kompetenz, so heißt es allenthalben (in der technischen Terminologie der nomologischen Psychologie), als eine Art personale Moderatorvariable, der sich allseits willkommene, günstige Effekte verdanken. Sie kann zwar keine Wunder wirken und insbesondere dort wenig bis nichts ausrichten, wo kulturelle Unterschiede als Quellen psychosozialer Probleme nur vorgeschoben werden, in Wirklichkeit jedoch Kämpfe um Ressourcen (bzw. um Kapital dieser oder jener Sorte) ausgetragen werden. Wo es aber tatsächlich um kulturelle Differenz, Alterität und Alienität geht, vermag eine interkulturell kompetente Person Stimmungen positiv zu modulieren, affektiv-emotionale Haltungen ›konstruktiv‹ zu beeinflussen, kognitive Aufmerksamkeiten und eine dem Gegenüber zugewandte Handlungsbereitschaft zu wecken. Nur, was ist das denn nun genau: interkulturelle Kompetenz? Was für ein Bild dieser in erfahrungsgesättigten Lernprozessen erworbenen und zeitlebens differenzierbaren Persönlichkeitsdisposition vermitteln uns die zuständigen Wissenschaften? 7 Ich gebe im Folgenden ein typisches ›theoretisches Modell‹ interkultureller Kompetenz wieder, um anschließend einige Kritikpunkte anzuführen, auf die jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem theoretischen Konstrukt schnell stößt.

bedürfnisse vor allem, schlicht menschlich sind und ständige Begleiter eines jeden Lebens, sollten nicht nur diejenigen wissen, die die Affektivität und Emotionalität von Menschen für ihre soziopolitischen Macht- und Herrschaftsinteressen strategisch mobilisieren und raffiniert instrumentalisieren. 7

Bislang ist, was offeriert wird, tatsächlich eher ein Bild als ein scharfer Begriff oder gar ein theoretisches Modell im engeren Sinn. Wie interkulturelle Kompetenz erworben wird, was mithin interkulturelles Lernen ist, auf welche Weise es sich mit welchen Resultaten vollzieht, ist übrigens eine ganz eigene Frage – die freilich einen einigermaßen klaren Begriff interkultureller Kompetenz voraussetzt und auch deswegen ziemlich vertrackt und allenfalls in ersten Ansätzen beantwortet ist; vgl. hierzu zum Überblick Weidemann (2007); ausführlicher und spezifischer Straub (2010).

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3. E IN TYPISCHES M ODELL INTERKULTURELLER K OMPETENZ – UND SEINE S CHWÄCHEN Alle heute geläufigen Begriffe und Modelle »interkultureller Kompetenz« gehen davon aus, dass dieses theoretische Konstrukt verschiedene, teilweise sogar schwer miteinander vereinbare Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten ›integriert‹. 8 Der Erwerb interkultureller Kompetenz kann demgemäß stets nur sukzessiv erfolgen und auf bestimmte Aspekte gerichtet sein, also auf einzelne Komponenten oder Konstituenten. Analoges gilt für deren Aktualisierung in konkreten Handlungen: Immer werden nur situativ erforderliche Bestandteile bedeutsam. Das alle Gesichtspunkte interkultureller Kompetenz verbindende Moment ist allerdings, dass sie ausnahmslos einem »angemessenen« und »effektiven«, produktiven Umgang mit (erlebten, wahrgenommenen) kulturellen Unterschieden in direkten oder indirekten sozialen Interaktionen zugutekommen (sollen). Interkulturell kompetente Personen sind offenkundig idealisierte Virtuosen in einer kulturell pluralisierten Welt. Sie verfügen über eher technisches Wissen und bereichsspezifische Kenntnisse, sprechen Fremdsprachen, besitzen ein ausgeprägtes ethisch-moralisches Sensorium und Empathievermögen, das Anderen und Fremden gerecht zu werden gestattet, haben Selbstvertrauen, einen guten Willen und gehen einigermaßen selbstbewusst und gelassen durchs Leben. Ich komme auf ausgewählte Einzelheiten zurück. Zunächst gebe ich zur Veranschaulichung das angekündigte typische Modell wieder, das die bisher angedeuteten Merkmale vervollständigt und in dreierlei Rubriken oder Dimensionen sortiert:

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Detaillierte Ausführungen zum Kompetenzbegriff und speziell zu ›interkultureller Kompetenz‹ finden sich bei Straub (2007b), wo auch Aspekte der Begriffsgeschichte berücksichtigt und zahlreiche Literaturhinweise gegeben werden; weiterführende Literaturangaben finden sich außerdem bei Bolten (2001), Rathje (2006), Thomas (2003) sowie Straub (2009, woraus ein paar der folgenden Formulierungen entnommen werden). Neben den Komponenten- und Konstituentenmodellen sei hier auf Stufenmodelle interkulturellen Lernens (im Sinne der Entwicklung interkultureller Kompetenz oder Sensibilität) wenigstens hingewiesen (z.B. Bennett 1993; kritisch dazu Weidemann 2007; auch Straub 2010).

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Tabelle 1: Komponentenmodell interkultureller Kompetenz (nach Bolten 2006: 63) Affektive/ emotionale Dimension

Kognitive Dimension

Ambiguitätstoleranz Frustrationstoleranz Fähigkeit zur Stressbewältigung und Komplexitätsreduktion Selbstvertrauen Flexibilität Empathie, Rollendistanz Vorurteilsfreiheit, Offenheit, Toleranz Geringer Ethnozentrismus Akzeptanz von/ Respekt gegenüber anderen Kulturen Interkulturelle Lernbereitschaft

Verständnis des Kulturphänomens in Bezug auf Wahrnehmung, Denken, Einstellungen sowie Verhaltens- und Handlungsweisen Verständnis fremdkultureller Handlungszusammenhänge Verständnis eigenkultureller Handlungszusammenhänge Verständnis der Kulturunterschiede der Interaktionspartner Verständnis der Besonderheiten interkultureller Kommunikationsprozesse Metakommunikationsfähigkeit

Verhaltensbezogene/ konative/ praxische Dimension Kommunikationswille und bereitschaft i.S. der initiierenden Praxis der Teilmerkmale der affektiven Dimension Kommunikationsfähigkeit Soziale Kompetenz (Beziehungen und Vertrauen zu fremdkulturellen Interaktionspartnern aufbauen können)

Obwohl die verschiedenen Aspekte übersichtlich angeordnet sind und sich einigermaßen klar auf eine ›klassische‹ psychologische Trias (Affekt/Emotion, Kognition, Volition/Verhalten/Handeln) verteilen, wirkt das ›Modell‹ in semantischer und pragmatischer Hinsicht ziemlich komplex, kurz: einigermaßen unhandlich. Irgendwie scheint alles

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Mögliche zu »interkultureller Kompetenz« zu gehören, insgesamt so Vieles und so viel Verschiedenes, dass man nach Kenntnisnahme des exemplarischen Modells eigentlich immer noch nicht genau anzugeben vermag, was denn diese wissensbasierte Fähigkeit und Fertigkeit genau ausmacht und von anderen (verwandten) Kompetenzen unterscheidet (von praktikablen Operationalisierungen einmal ganz abgesehen). Auch wenn man andere Modelle zur Kenntnis nimmt, bleibt es beim Eindruck, dass man es ausnahmslos eher mit einem etwas vagen Sammelsurium als mit einem wissenschaftlichen Begriff zu tun hat, mit einer bunten Menge schöner und guter Attribute, die sich in einer Person ein willkommenes, rundum erfreuliches Stelldichein geben. Diese typisierte Person wird ganz offensichtlich als neuer Mensch mit den guten Eigenschaften idealisiert. Dabei wirkt nicht alles brandneu, denkt man an seit langem geläufige theoretische Konstrukte wie allgemeine Interaktionskompetenz oder soziale Kompetenz. Modelle wie das oben dargestellte geben auch Auskunft darüber, wozu die vorgenommene Kompilation und erwünschte Konglomeration positiver Eigenschaften im Wesentlichen gut ist. Das wird in Kommentaren und auch in vielen Definitionen zusammengefasst. Sie stellen ebenso häufig funktionale Bestimmungen dar, die spezifizieren, wozu interkulturelle Kompetenz dient, wie sie qualitative Explikationen des theoretischen Konstrukts liefern, die klar zu machen versuchen, worin diese Kompetenz genau besteht. Ein gutes Beispiel bietet die folgende Definition: »Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung.« (Thomas, 2003, § 39) 9

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Alle diese Bestimmungsstücke tauchen in Thomas‘ (2003) interessanter Skizze eines handlungs- und lerntheoretischen Modells interkultureller Kompetenz, auf das ich hier nicht näher eingehe, wieder auf.

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Komponenten- oder Konstituentenmodelle wie das oben wiedergegebene spezifizieren solche kompakten Definitionen. Sie ergänzen sie offensichtlich auch um einige Aspekte, die in knappen Begriffsbestimmungen keinen Platz finden. Aber sagen sie uns tatsächlich, was genau »interkulturelle Kompetenz« ist (und wodurch sie sich von anderen, wissensbasierten Kompetenzen unterscheidet, abgesehen von dem Umstand, dass sie auf Handlungs- bzw. Interaktionsanforderungen speziell in interkulturellen Konstellationen zugeschnitten ist)? Eher nicht. Im Übrigen haben wir es noch nicht einmal mit theoretischen Modellen im engeren Sinne zu tun. Solche Modelle sind nämlich, nüchtern betrachtet, lediglich geordnete Listen, in denen einige als wichtig erachtete Eigenschaften interkulturell kompetenter Personen zusammengestellt sind (in Form von Dispositionsprädikaten; vgl. auch die gleich als Listen präsentierten Aufzählungen bei Hatzer/Layes 2003: 141). Gewiss gibt es in manchen Fällen gute Gründe dafür, die betreffenden Wissensbestände, Fähigkeiten oder Fertigkeiten als Teilmerkmale interkultureller Kompetenz aufzunehmen. Von einer auch nur einigermaßen ausgearbeiteten Theorie interkultureller Kompetenz sollte man dennoch nicht sprechen, zumal viele dieser Listen eher nach intuitiven Plausibilitätsgesichtspunkten und nach Maßgabe des (vermeintlich) allgemein Erwünschten zusammengestellt werden, als dass sie theoretisch hinreichend durchdacht oder empirisch sorgfältig genug begründet wären. 10 Das zeigt etwa auch Darla Deardorffs (2007) Modell, das einige As-

10 Es ist ohnehin auffällig, dass die Erforschung interkultureller Kompetenz (Kommunikation, Kooperation, Koexistenz) unter einem beträchtlichen Theoriedefizit leidet (und in vielen Bereichen auch methodisch sorgfältige empirische Studien Mangelware sind). Dieses Defizit mag in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich groß sein – am kleinsten ist es wohl in der Linguistik, wo z.B. ausgefeilte sprachpragmatische Ansätze verfügbar sind, deutlich größer bereits in der Psychologie oder Ethnologie, überaus auffällig in den Erziehungswissenschaften und vielen ›interdisziplinären‹ Ansätzen, die in theoretischer und methodischer Hinsicht oft sehr unbedarft daherkommen. Theoriedefizite sind nicht allein bei der Bestimmung von Begriffen und der Konstruktion von Modellen interkultureller Kompetenz vorhanden, sondern auch in anderen Feldern wie etwa der Lern- und Entwicklungsforschung oder der Didaktik (vgl. dazu Weidemann/Straub/ Nothnagel 2010).

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pekte berücksichtigt, die Expert/-innen – angesehene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ausschließlich aus Nordamerika – für wichtig oder unverzichtbar halten. Die jeweilige Grundlage dafür bleibt teilweise im Dunkeln, so dass interkulturelle Kompetenz in diesem Modell letztlich bestimmt wird auf Basis der Mehrheitsmeinung ausgewählter Leute. In diese Meinungen mögen zwar wissenschaftliche Wissensbestände (theoretischer oder empirischer Art) einfließen. Da dies jedoch eher unsystematisch und unkontrolliert geschieht (und normative Kriterien wiederum eine wichtige Rolle für die Auswahl der Teilmerkmale spielen), sollte von einer durch und durch wissenschaftlichen, rationalen Konstruktion interkultureller Kompetenz auch in diesem Fall nicht die Rede sein. Das gilt, mutatis mutandis, bis heute generell. Der insbesondere praktische Wert und Nutzen solcher Modelle wird damit keineswegs verkannt. Die mit ihnen verfolgte Strategie ist evident: man möchte den interessierenden Begriff zumindest grob plausibilisieren, indem man angibt, was er nach eigenem Dafürhalten bzw. bislang vorliegenden Erkenntnissen alles enthält und voraussetzt. Das ist gut und recht – vor allem dann, wenn man sich der Genese und des davon abhängigen Status solcher ›Listen-Modelle‹ (und ihrer performativen, suggestiven Kraft) bewusst bleibt. Das grobe Bild, das hier von interkultureller Kompetenz gezeichnet wird, taugt durchaus als Grundlage für alle möglichen ›Anschlusshandlungen‹ (z.B. in der Pädagogik). Nach wissenschaftlichen Maßstäben sind sie jedoch noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Das belegen auch die im Folgenden zusammengestellten, die bisherigen Darlegungen ergänzenden Bedenken und Einwände. Sie markieren allesamt erhebliche Wissens- und Argumentationslücken und fordern uns dazu auf, die womöglich auch prinzipiellen Grenzen von ›Modellen‹ wie den erwähnten zu bedenken (s.a. Straub 2007b): 1. Unabhängig von der Anzahl und Art der – von Einzelnen oder

Gruppen (wie etwa einer scientific community) anhand von mehr oder weniger transparenten und rationalen Kriterien – ausgewählten Teilmerkmale (Komponenten, Konstituenten) bleibt es bei dem oben angeführten Befund, dass es sich bei dem ›wissenschaftlichen‹ Konstrukt bislang um eine diffuse Sammelkategorie handelt, in die theoretische Vorstellungen, empirische Forschungsergebnisse und das Alltagswissen des oder der verantwortlichen Wissen-

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schaftler ebenso einfließen wie normative Ideen und Werte. Mitunter werden alles in allem eher Wünsche zum Ausdruck gebracht, als realistische Vorstellungen von Personen vermittelt, die in interkulturellen Konstellationen aller Art (s.u.) kompetent zu handeln vermögen. 2. Die Kriterien für die Auswahl und die resultierende Anzahl der kombinierten Elemente der Menge sind offenkundig ziemlich variabel. Vergleicht man verschiedene Definitionen und Modelle, erweist sich die interkulturell kompetente Person demgemäß als durchaus ›wandlungsfähig‹. Man beachte beispielsweise folgende Auffälligkeit: Fremdsprachenkompetenz wird im oben wiedergegebenen Modell gar nicht eigens angeführt. Das entspricht einer durchaus verbreiteten Missachtung oder Geringschätzung. Psychologinnen oder Pädagogen finden sich hier ›naturgemäß‹ eher als Linguisten (oder andere Sprachwissenschaftlerinnen), sodass die Begriffsbestimmung offenbar auch von disziplinären Perspektiven und Interessen abhängig ist. Wer Fremdsprachenkenntnisse beiseitelässt, zeigt eben, woran er (oder sie) aus partikularen Gründen bei der Begriffs- und Modellbildung denkt und woran nicht (so sehr). Häufiger geht es z.B. gar nicht (vorrangig) um die wissensbasierte Fähigkeit und Fertigkeit von Personen, möglichst differenziert verstehen, beschreiben und erklären zu können, wie kulturell Fremde ticken und warum das der Fall ist. Die Bewältigung dieser (höchst komplexen Übersetzungs-)Aufgabe – die in manchen interkulturellen Begegnungen zweifellos überaus wichtig ist – setzt ja ganz offensichtlich auch Fremdsprachenkompetenz voraus (wie überhaupt ein ausgeprägtes sprachliches Artikulationsvermögen sowie die auch sprachbasierte Fähigkeit, zumindest virtuell an einer Lebensform teilhaben zu können). Wie sprachpragmatische Ansätze (von Johann Gottfried Herder über Wilhelm von Humboldt und Ludwig Wittgenstein bis hin zu aktuellen Konzeptionen) vielfach gezeigt haben, ist die Möglichkeit der Partizipation an einer (fremd-) kulturellen Lebensform oft ganz direkt von der Fähigkeit abhängig, Sprachspiele ›mitspielen‹ zu können. Lebensformen, Weltbilder oder Weltansichten bleiben ohne Fremdsprachenkompetenz häufig fremd (unverständlich, unsinnig, unheimlich, verschroben, etc.). (Trans-)Migrantinnen und andere Leute, für die Mehrsprachigkeit und Übersetzungskompetenz ein existenziell notwendiges Merkmal ihrer kulturell komplexen, ›hybriden‹

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oder ›transitorischen‹ personalen Identität ist, wissen ein Lied davon zu singen. 3. Entscheidend für das resultierende Begriffsverständnis sind, wie oben ausgeführt, letztlich die (dimensional geordneten) Teilmerkmale, Konstituenten oder Komponenten. Es hängt in allen ›ListenModellen‹ also zunächst einmal alles davon ab, wie genau die im Einzelnen angeführten Komponenten (und ihr Status, ihre Beziehungen zueinander; s.u.) geklärt sind. Wo sie sich nicht ohnehin von selbst verstehen, helfen da häufig, aber nicht immer, (psychologische) Fachwörterbücher weiter. Manchmal reichen auch Fachlexika nicht aus, da gar keine allgemein akzeptierten und gebräuchlichen Begriffsbestimmungen existieren (man denke etwa an Begriffe wie die neuerdings wieder viel beachtete Empathie; vgl. Breithaupt 2009). 4. Die üblichen ›Listen-Modelle‹ machen keineswegs klar, welche exakte theoretische und praktische Bedeutung, speziell auch welches Gewicht (im Rahmen einer Hierarchie) bzw. welcher Status den angeführten Teilmerkmalen interkultureller Kompetenz zukommt. Sind diese jeweils notwendig, und zwar prinzipiell und generell (also in allen denkbaren interkulturellen Situationen; s.u.)? Sind sie in ihrer Gesamtheit oder in bestimmten Kombinationen – in welchen? – notwendig und hinreichend, um in interkulturellen Situationen angemessen und erfolgreich handeln zu können? Und wie spielen die aufgelisteten Teilmerkmale eigentlich zusammen, welche (Art von) Beziehungen unterhalten sie zueinander (s.u.), wie ›interagieren‹ sie, wie beeinflussen, verstärken oder hemmen sie sich womöglich wechselseitig? All diese Fragen sind offen, manche noch kaum gestellt. 5. Zu den besonders drängenden wissenschaftlichen Fragen gehört diejenige nach der theoretisch unterstellten Art der Beziehung zwischen den Komponenten interkultureller Kompetenz. Diesbezüglich gibt es insbesondere zwei Möglichkeiten, nämlich: a) empirische, mithin kontingente Beziehungen zwischen Komponenten, die allesamt als logisch bzw. semantisch voneinander unabhängige Variablen gelten. Als solche können sie bezüglich der personalen Disposition »interkulturelle Kompetenz« zur Aufklärung von inter- und intraindividueller Varianz beitragen, wobei dann auch sog. Interaktionseffekte zwischen diesen (in ihrem Einfluss unterschiedlich zu gewichtenden) Vari-

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ablen berücksichtigt werden müssten. Diese Modellvariante überfordert angesichts der Vielzahl von ›integrierten‹ (eigentlich bloß: gelisteten) Variablen und denkbaren Interaktionseffekten alle heute verfügbaren statistischen Möglichkeiten erheblich. Entsprechend viele Lücken weist die empirische Forschung auf, in der hypothetisch unterstellte Beziehungen dieses Typs behauptet werden und geprüft werden müssten, nicht zuletzt um einzelne Prädiktoren identifizieren, also neben dem Erklärungswert auch den Vorhersagewert einzelner Variablen bestimmen zu können. Im Übrigen steht die in diesem Ansatz unabdingbare Annahme der logischen bzw. semantischen Unabhängigkeit der Teilmerkmale sehr in Frage; in den ›ListenModellen‹ finden sich häufig Merkmale, für die das offenbar nicht zutrifft (z.B. »geringer Ethnozentrismus« und »Respekt vor anderen Kulturen«: Es wäre schlicht unverständlich, von einer Person zu sagen, sie sei sehr ethnozentrisch und bezeuge anderen Kulturen stets großen Respekt); b) logische oder pragma-semantische Beziehungen, die mit Mitteln der Sprachanalyse und Hermeneutik aufzuklären sind, die also auf (Verweisungs-) Zusammenhänge abheben, die in der ›Logik‹ unseres sprachlichen Handelns verwurzelt sind und – ob wir uns darüber im Klaren sind oder nicht – begründen, warum bestimmte Aspekte interkultureller Kompetenz ganz selbstverständlich als wichtige oder sogar konstitutive Teilmerkmale gelten und in Komponenten- oder Konstituentenmodellen auftauchen; einige der Teilmerkmale sind offenkundig logische bzw. pragma-semantische Implikate »interkultureller Kompetenz«. Es wäre einfach unsinnig, interkulturelle Kompetenz Personen zuzuschreiben, denen es völlig an der Fähigkeit zu Perspektivenübernahme oder Empathie gebricht oder die kognitiv, affektiv und praktisch einen extremen Ethnozentrismus pflegen. Mit der unter den Punkten a. und b. getroffenen Unterscheidung ist die Differenzierung verschiedener (meta-) theoretischer Perspektiven und Forschungsansätze verbunden, die Wiseman (2002) zumindest ansatzweise diskutiert. Er grenzt die empiristische »covering laws perspective« sowohl von systemtheoretischen als auch von handlungstheoretischen Ansätzen ab (vgl. auch Collier 1989). Diese Alternativen sind im hier inte-

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ressierenden Forschungsgebiet bis heute weder ›ausgereizt‹ noch hinreichend erörtert. In keinem der möglichen Theorierahmen wurde der fragliche Begriff hinreichend genau bestimmt und systematisch begründet, wie man zur vorgenommenen Bestimmung gekommen ist und was man damit genau bezweckt. All das wäre aber nötig, stellte man wissenschaftliche Ansprüche an die Begriffsbildung und -verwendung (die bekanntlich von übergeordneten wissenschaftlichen und praktischen Zielen abhängig ist. Begriffsbildungen sind niemals an sich wahr oder falsch, sondern stets nur relativ zu bestimmten Zwecken funktional oder dysfunktional, nützlich oder unbrauchbar). 6. Auch die oben gestellte Frage, ob die fraglichen Begriffe und Modelle eigentlich generell, also völlig kontextunabhängig, verwendbar sind, ist nicht nur für sich genommen interessant. Aus den denkbaren unterschiedlichen Antworten auf die Frage, ob Begriffe und Modelle interkultureller Kompetenz mit begründeten allgemeinen Geltungsansprüchen verbunden sind und demgemäß tatsächlich auf alle denkbaren kulturellen Überschneidungssituationen gleichermaßen zugeschnitten sind, folgt ganz Verschiedenes. Wenn sich allgemeine Geltungsansprüche empirisch als unbegründet erwiesen, weil nämlich in verschiedenen Lebens- und Handlungsbereichen bestimmte Teilmerkmale eher gefordert sind als andere (und manche vielleicht überhaupt nicht gebraucht werden können, weil sie sogar kontraproduktiv sind), dann würde sich ändern, was wir hier oder dort mit »interkultureller Kompetenz« vernünftigerweise meinen. Für die Annahme einer solchen domänenspezifischen Struktur und inhaltlichen Kontur interkultureller Kompetenz gibt es gute Gründe. Das sagt uns bereits die alltägliche Erfahrung bzw. das Alltagsbewusstsein zahlloser Menschen. Man frage sich doch nur einmal, ob denn interkulturelle Kompetenz in strategisch geführten Verhandlungen zwischen Managern in internationalen Wirtschaftskooperationen exakt dasselbe ist und sein kann wie jenes Bündel an Wissensbeständen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die aus einer bikulturellen Ehe ein gelingendes, einigermaßen befriedigendes, vielleicht sogar glückliches Abenteuer menschlichen Zusammenlebens machen? Offenbar nicht, es sei denn, man verstünde den Ehevertrag als rechtlichen Rahmen für die Austragung einer lebenslangen Konkurrenz, in der sich die

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›Partner‹ vielleicht vordergründig ganz nett und einigermaßen höflich behandeln (und dabei vielleicht sogar explizite ethische Prinzipien und moralische Regeln einhalten, streckenweise zumindest), sich im Grunde genommen aber dennoch mit strategischem Kalkül ins Visier nehmen und auf Gedeih und Verderb übervorteilen wollen (vielfach müssen, um ihre Interessen verfolgen und Ziele erreichen zu können), etc.. Analoges gilt, mutatis mutandis, für Polizeieinsätze und Freundschaften, für die Entwicklungszusammenarbeit, die religiöse Mission und für touristische Unternehmungen oder für die interkulturelle psychosoziale Beratung oder Psychotherapie – ad infinitum, wobei zu bedenken ist, dass keiner dieser Tätigkeitsbereiche in sich homogen ist (Missionen oder Tourismus gibt es in vielerlei Varianten). Interkulturelle Kompetenz ist demnach eher ein domänenspezifisches, obendrein situationsspezifisch zu konkretisierendes und performativ zu aktualisierendes Vermögen als eine allgemeine wissensbasierte Fähigkeit und Fertigkeit, die in interkulturellen Konstellationen stets in genau der gleichen Weise in Anspruch genommen wird. Das müsste man in vergleichenden Untersuchungen viel genauer klären, als es bislang geschehen ist. Erst danach könnte man über womöglich tatsächlich allgemeine Aspekte interkultureller Kompetenz stichhaltige Auskünfte geben; oder man müsste die Idee bzw. den Anspruch einer allgemeinen Schlüsselqualifikation aufgeben bzw. revidieren. Auf diesem Weg vollzöge man sukzessive eine empirisch fundierte Begriffs- und Modellbildung, die an einem differentiellen und zugleich in seinen verallgemeinerbaren Aspekten geprüften theoretischen Konstrukt arbeitete. 7. Auch der oft proklamierte universale Status interkultureller Kompetenz ist zu hinterfragen. Wie angedeutet ist es zweifelhaft, ob die geläufigen Begriffe und Modelle tatsächlich allgemein gültig sind (und allen Interessierten dasselbe sagen und nützen), wo sie doch ganz offenkundig vornehmlich von einem kleinen Häufchen westlicher, vor allem US-amerikanischer und europäischer Wissenschaftler/-innen entworfen, entwickelt und unter die Leute gebracht wurden? Fachleute aus nicht-westlichen Kulturen waren zwar hie und da beteiligt, aber fast immer als in westlichen wissenschaftlichen Institutionen sozialisierte Kolleginnen und Kollegen, sodass dadurch meistens keine ›abweichenden‹ Erfahrungen und Erkenntnisse ins Spiel kamen – insbesondere etwa keine indigene folk psy-

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chology (Bruner 1990), wie sie in kulturellen Lebensformen und Sprachspielen verwurzelt ist. Das ist schon eine etwas paradoxe Lage, beinahe sogar eine Art Ironie der Geschichte: ›Wir‹ sprechen bislang in hohem Maße über Definitionen, Modelle und Theorien interkultureller Kompetenz, ohne mit den viel beschworenen Anderen oder Fremden allzu ausgiebig gesprochen zu haben. Das ist nur ein ganz klein wenig übertrieben: Ein wirkliches Gespräch im Sinne eines interkulturellen Dialoges über das, was wir in verschiedenen Wissenschaften tun und weiterhin zu tun vorhaben, um das fragliche Konzept zu analysieren und zu reflektieren (auch in seinen politischen Dimensionen), ist allenfalls in ersten Ansätzen zustande gekommen. Indigenes Wissen sogenannter nichtwestlicher Kulturen liegt auch in diesem Feld weitgehend brach (vgl. Chakkarath 2007). Das merkt man den Begriffen und Modellen stark an. Man denke etwa an die stillschweigenden Bezugnahmen auf psychologische Unterscheidungen, die offenkundig der westlich-europäischen Tradition entstammen. Ein westlicher Einschlag lässt sich im Übrigen bereits an der Selbstverständlichkeit ablesen, in der ›wir‹ die Frage nach interkultureller Kompetenz als ein heute weltweit angeblich gleichermaßen interessierendes, wichtiges und vermeintlich ziemlich ›neues‹ Thema auffassen und verbreiten. Ob das alles wirklich so ist, fragen nur wenige. Womöglich haben andere gar kein vordringliches Interesse daran, uns zu verstehen und freundlich zu behandeln (in postkolonialen Zeiten, die den Kolonialismus keineswegs vergessen machen können). Oder: Vielleicht verstehen sie ›uns‹ längst viel besser als ›wir‹ sie, sind vertraut mit westlicher Philosophie, Literatur und Dichtung, mit europäischer und nordamerikanischer Musik, mit ›unseren‹ Bildern und Skulpturen und Gebäuden, mit Institutionen des Rechts und der Bildung und Ausbildung, usw. usf. – nur haben wir das nicht alle schon in gebührendem Umfang bemerkt, während wir neue Formen interkultureller Verständigung und Anerkennung predigen und dennoch unsere redliche Mühe damit haben, es den Anderen und Fremden in ihrem Bemühen um Fremdverstehen auch nur einigermaßen gleich zu tun. Noch immer zitieren sie uns, kaum einmal wir sie. Mitunter bemänteln wir diese Ignoranz sogar durch eine vorpreschende Überheblichkeit, die das eigene Selbst prophylaktisch schützen soll: »Hätten sie, die kulturell Anderen und Fremden, doch nur einen Tolstoi hervorgebracht, so würden

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wir ihn schon lesen!« Das gilt selbstredend auch für einen Kant oder eine de Beauvoir. ›Wir‹ ignorieren dabei hochnäsig all jene Leistungen, die in anderen, fremden Kulturen hervorgebracht wurden. Oder: Vielleicht bevorzugen sie (aus nachvollziehbaren Gründen) auch untereinander einen anderen Umgang, als es unser Ideal »interkultureller Kompetenz« nahelegt. 8. Wie dargelegt, wird interkulturelle Kompetenz als komplexe Disposition begriffen, als Persönlichkeitsmerkmal, das neben andere Eigenschaften wie etwa die in der Psychologie viel beachteten Persönlichkeitsfaktoren gestellt werden kann (mit denen es sich oft auch ›überschneidet‹; das ist etwa bei den sog. big five der Fall, von denen lediglich der erste Faktor, nämlich Neurotizismus, interkultureller Kompetenz klar entgegengesetzt und abträglich ist. Dagegen tauchen zumindest Bedeutungsaspekte von Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit [i.S. von Altruismus, Kooperationsbereitschaft, Nachgiebigkeit] oder Gewissenhaftigkeit [i.S. von Zuverlässigkeit u.a.] in allen Modellen interkultureller Kompetenz auf). Es geht bei »interkultureller Kompetenz« also vor allem um persönliche Voraussetzungen, um Aspekte des Erlebnisund Handlungspotentials von Individuen, die in interkulturellen Konstellationen eben wichtig sind (vermeintlich oder tatsächlich). Unbestritten – aber selten genauer bedacht und theoretisch berücksichtigt – ist dabei, dass das Gelingen interkultureller Kommunikation, Kooperation und Koexistenz nicht allein von personalen Faktoren abhängt, sondern auch von den jeweils gegebenen Kontextund Situationsbedingungen. Damit sind politische und institutionelle Rahmenbedingungen sowie spezielle Merkmale der Interaktionssituation gemeint, einschließlich der jeweiligen Interaktionspartner. Auch im Hinblick auf interkulturelle Kompetenz gilt, dass das Tun des einen das Tun des anderen bestimmt (Stierlin 1971). Wie das vor sich geht und was das für ein genaues Verständnis des theoretischen Konstrukts bedeutet, ist durchaus unklar. 9. Allgemein anerkannt, aber erneut genaueren Nachdenkens wert ist die Tatsache, dass das viel beschworene theoretische Konstrukt kein lediglich deskriptiver, analytischer und explanativer Begriff ist. Er fungiert stets auch als normative Kategorie und symbolisiert mitunter einen hohen Wert, ein – keineswegs ganz klares – Ideal. »Interkulturelle Kompetenz« ist einer der bereits gewohnheitsmäßig verwendeten Leitbegriffe unserer Zeit. Er gehört zur Signatur

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unserer Gegenwart und artikuliert in symbolisch verdichteter und zugleich diffuser Weise valorative bzw. normative Grundlagen ›unseres‹ Lebens sowie Ziele ›unserer‹ Lebensführung. Er repräsentiert, so scheint es jedenfalls vielen von ›uns‹, eine Art Grundkonsens und ist Bestandteil zahlreicher politischer Konzepte und psychologisch-pädagogischer Direktiven in der globalisierten bzw. glokalisierten Welt. Er ist mit einem manchmal energischen Optimierungswillen verbunden (s.u.), mitunter auch mit überzogenen Heilsideen – als ließen sich das kompliziert gewordene Leben in extrem dynamischen, kulturell pluralisierten Gesellschaften sowie die kontingenten Konflikte in und zwischen ihnen durch eine allseits verbreitete interkulturelle Kompetenz bändigen und befrieden. Das ist vielleicht doch eine etwas allzu naive Hoffnung, die obendrein diffus bleibt, insofern die implizierten Werte und Normen, Fähigkeiten und Fertigkeiten teilweise selbst nebulös sind. 10. Zu einem besonders irritierenden Punkt führt eine genauere Analyse des valorativ-normativen Gehalts »interkultureller Kompetenz«. Es ist kein Zufall, dass gängige Bestimmungen des Konstrukts fast immer Dinge in einen Topf werfen, die nicht recht zueinander passen. Das fällt allerdings kaum mehr auf, sodass das theoretische Konstrukt zu einer höchst eigentümlichen Affirmation von effizienzorientierten Kalkülen und Strategien einerseits, einer kulturelle Differenzen sensibel wahrnehmenden und ihnen gerecht werdenden Ethik und Moral andererseits führt. Diese in alle mir bekannten Begriffe (Konzepte, Modelle) interkultureller Kompetenz regelrecht eingeschweißte Liaison von instrumenteller Vernunft und kommunikativer Ethik und Moral (im Sinne einer um Anerkennungs- und Gerechtigkeitsfragen sich drehenden Diapraxis, die dem Prinzip des unvoreingenommenen Dialogs folgt), ist, genauer besehen, verblüffend. Die wissenschaftlichen Bemühungen um die theoretische Bestimmung »interkultureller Kompetenz« hebt, wie man in Anlehnung an eine allgemeiner gehaltene Analyse des Kompetenz-Diskurses sagen kann, »die Dichotomie zwischen Strategie und Moral vielleicht nicht gerade auf, aber schwächt sie doch sehr ab« (Reichenbach 2009: 50). 11 Man mag das »als moralisch

11 Dagegen hängt der (heute neoaristotelisch dominierte) Tugenddiskurs, den Reichenbach mit dem Kompetenzdiskurs vergleicht, geradezu von dieser Dichotomie ab und reproduziert sie unentwegt.

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und politisch naiv bezeichnen, man kann aber auch argumentieren, dass hier die Verzahnung von Strategie und Moral affirmiert wird. Erfolgsversprechende interpersonale Interaktionsstrategien verhelfen nicht nur den partiellen und partikulären Interessen sich zu verwirklichen, sondern können auch den gemeinsamen Interessen dienen. Im soft skills-talk [und dazu gehört auch der wissenschaftliche Diskurs über interkulturelle Kompetenz; J.S.] gibt es so auch […] keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen individuellem und kollektivem Nutzen« (ebd.). Seine Devise entstammt der Trickkiste einer durch und durch »positiven Psychologie«, sie vermeidet Tiefgang und schafft so (vermeintlich) die Quadratur des Kreises: »Tu Gutes, jammere nicht und denk an Dich!« (ebd.: 50). Auf keine Kompetenz trifft dies wohl mehr zu als auf die interkulturelle. Wie hier radikal-adaptives Erfolgsdenken, strategisches Kalkül und die individuelle Vorteilnahme von kompetitiven Kompetenten mit einer Ethik und Moral der Offenheit und Toleranz, der Achtung und Anerkennung von Anderen und Fremden verschmelzen, ist einzigartig. Das Glück des Selbst und das Glück der Welt fallen angeblich geradezu in eins, wo interkulturelle Kompetenz das Regime übernommen hat. Wer sich jedoch bei der wissenschaftlichen und philosophischen Betrachtung der valorativ-normativen Pragma-Semantik »interkultureller Kompetenz« auf analytische Vernunft stützt, wird gerade im skizzierten Sachverhalt eine irritierende Ungereimtheit sehen. Die besagte Irritation erstreckt sich im Übrigen auch auf einzelne Komponenten, die häufig als an sich wertvoll gelten (das wird zumindest suggeriert). Man denke z.B. an Perspektivenübernahme oder Empathie – gleichermaßen Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten, die in ethisch-moralischer Hinsicht keineswegs einen von vorneherein ›positiven‹ Glanz ausstrahlen. Sie sind diesbezüglich vielmehr absolut neutral. Nur wer zu Perspektivenübernahme und Empathie in der Lage ist, kann anderen unvergleichlich Gutes widerfahren lassen – oder aber sie ins Visier nehmen, ihre Gedanken und Gefühle ins Kalkül stellen, um sie sodann mit berechnender Kaltschnäuzigkeit zu übervorteilen, zu beleidigen, zu demütigen, kurz: als individuelle, verletzliche Menschen in ihrer Besonderheit und Befindlichkeit zu verstehen und zu treffen (vgl. die Ausführungen zur keineswegs so unüblichen »Perversion« der narrativen Empathie von Breithaupt 2009: 175ff.).

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Nimmt man alle formulierten Fragen, Bedenken und Einwände zusammen, erscheint es mehr als zweifelhaft, dass wir heute bereits eine hinreichend klare Vorstellung davon haben, was »interkulturelle Kompetenz« eigentlich ist und ausmacht, auf welchen Voraussetzungen sie aufbaut, welche nachgewiesenen Wirkungen wir ihr zuschreiben und welche begründeten Hoffnungen wir mit ihr verbinden dürfen. Man braucht die wissenschaftlichen Bemühungen und Errungenschaften weder verkennen noch gering schätzen, um den Eindruck zu bekommen, dass der Diskurs über interkulturelle Kompetenz keine uneingeschränkt seriöse Angelegenheit ist, in der Vernunft und Augenmaß den Ton angeben. Vielmehr haben wir es dabei über beträchtliche Strecken mit einem modischen Marktgeschrei zu tun, das die Leute eher einlullt als aufklärt und das dem Verkauf einer Ware dient wie andere Lobgesänge auf materielle, soziale oder ideelle ›Güter‹ auch – ohne dass klar wäre, ob das Angepriesene den damit beglückten Menschen wirklich immer gut tut. Interkulturalität ist, mit anderen Worten, eine der begehrtesten Münzen im wuchernden Kompetenzdiskurs unserer Gegenwart. Sie signalisiert dabei ein Gut, das die allgemeine Attraktivität, die der Kompetenzbegriff seit ungefähr einem halben Jahrhundert besitzt, 12 noch überstrahlt und überbietet. Keine Fähigkeit und Fertigkeit scheint heute wertvoller und nützlicher als interkulturelle Kompetenz. Nicht alle jedoch stimmen dieser Einschätzung uneingeschränkt zu. Manche wittern darin vielmehr eine Art Propaganda des ›Gutmenschen‹. Sie sehen im vielstimmigen Diskurs über interkulturelle Kompetenz, Michel Foucaults ›bösen Blick‹ variierend, lediglich eine weitere Welle der humanwissenschaftlichen Zurichtung des Menschen, an des-

12 Vgl. hierzu Reichenbachs (2009: 43f.) Kommentar zu dem bereits von Basil Bernstein (1996) attestierten »Kompetenzidealismus«, der dem Begriff längst höhere Weihen verliehen und ihn fast unlösbar mit einigen angesehenen und anziehenden Gütern verwoben hat, darunter die »universelle Demokratie« (kompetent werden können alle!) sowie die Vorstellung eines aktiven und konstruktiven, zukunftsorientierten, bedeutungsvolle Wirklichkeiten schaffenden und dabei sich selbst regulierenden Subjekts, welches individuelle und kollektive Emanzipationsprozesse befördert. Auch die »interkulturelle Kompetenz« zehrt – wie schon der von Claude LéviStrauss eingeführte Vorläufer »kulturelle Kompetenz« – von dieser Aura des Kompetenzbegriffs.

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sen Ende neue Disziplinar- und Kontrolldispositive winken, durch die Menschen in gewaltsamen Machtprozessen auf die neuen Verhältnisse eingeschworen und eingestellt werden. 13 Die Tatsache, dass es zum Cultural Quotient (CQ), der an die Seite der betagteren Intelligenzquotienten IQ und EQ gerückt ist, nicht mehr weit ist und entsprechende Tests zur flächendeckenden Vermessung der Schlüsselqualifikation bereits vorliegen (vgl. etwa Deller/Albrecht 2007, Kühlmann 2005), ist unübersehbar. Andreas Urs Sommer (2002: 54) hat das in einem zugleich ernsten und amüsanten Eintrag in seinem philosophischen Dictionnaire festgehalten: »CQ – Cultural Quotient. Als dritte Gewalt im Machtgefüge von IQ und EQ (letzterer beziffert emotionale Intelligenz) ein Quotient, der nicht nur Kompetenz in den Bereichen der traditionellen Kultur ermittelt, sondern gleichzeitig den latenten Avantgardismus [dabei darf man wohl auch an interkulturelle Kompetenz denken; J. S.]. Zu viel und zu dick aufgetragener Avantgardismus läßt indessen den CQ-Wert wieder sinken. Die noch junge CQ-Forschung ist vornehmlich damit beschäftigt, praktikable Meßverfahren zu entwickeln. Sie steht im Dienst des Fortschritts und der Erziehung des Menschengeschlechts. ĺ$OWHXURSD%LOGXQJ ©

13 Ich beanspruche hier nicht, auf Foucault in hinreichend geklärter Weise Bezug zu nehmen (zur Genealogie findet sich vieles in gesammelten Schriften wie etwa bei Foucault 2001-2005; vgl. dazu die Hinweise von Vogl 2008). Es ist offenkundig, dass auch die Kulturpsychologie, die ich vertrete, erheblich von seinen Arbeiten profitieren und sich von ihnen anregen lassen kann. Das zeigen schon die heute verfügbaren Einführungen und Übersichtsdarstellungen (z.B. Keller 2008, Kögler 2004), die nicht zuletzt auf die produktive Anverwandlung der Diskursanalyse und Machtkritik in verschiedenen Disziplinen zu sprechen kommen. Wer dieses Anregungspotential nutzt, also einen instrumentellen Gebrauch von Foucaults Schriften macht und diese sogar ziemlich selektiv und räuberisch liest, müsste sich freilich die Frage gefallen lassen, in welchem Sinne die Resultate dieses Raubzugs denn überhaupt noch den Geist des Originals atmen? Es ist mehrfach bezweifelt worden, dass sich Foucaults philosophisches Konzept einer in spezifischer Weise machtkritischen Diskursanalyse bruchlos in ein theoretisches und vor allem methodisches Forschungsprogramm der (interdisziplinären) Sozial- und Kulturwissenschaften ummünzen lässt (Gehring 2007).

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Dieser Tatbestand kann natürlich auch anders interpretiert werden, als es Foucaults Genealogie und Machtanalytik des modernen Subjekts nahe legen. Diese Sicht der Dinge und verwandte Betrachtungsweisen sind aber dennoch aufschlussreich. Sie finden in einigen Untersuchungen zurecht ihren Ort.

4. I NTERKULTURELLE K OMPETENZ ALS BARE M ÜNZE IM S OFT S KILLS -T ALK Es ist mit Händen zu greifen, dass die allgemeine Aufwertung und hymnische Beschwörung interkultureller Kompetenz Bestandteil eines soft skills-talk ist, der vor Gedankenlosigkeit und anderen Zugeständnissen an die Werbebranche und Konsumsphäre ebenso wenig zurückschreckt wie vor den oftmals in vorauseilendem Gehorsam übernommenen ökonomischen Imperativen. Das ist schon häufiger beanstandet worden, mit besonderer Verve etwa von Roland Reichenbach (dessen kritische Invektiven dann auch gleich mehrfach gleichlautend publiziert wurden, z.B. 2006, 2009). Reichenbachs Urteil klingt hart, ein wenig ungerecht und ist dennoch zutreffend und bitter notwendig. Der polemische Analytiker weiß, dass es leicht ist, sich über die »internationale Geschmeidigkeit« eines immer hohler werdenden Geredes lustig zu machen, das zwar meistens ziemlich unbestimmte (oder allenfalls vage umrissene), aber stets fesch verpackte, rhetorisch aufgerüstete und dabei keineswegs unnütz erscheinende »Kompetenzen« fordert und zu fördern vorgibt, einklagt und anpreist, feilbietet und vermarktet. Er trifft ins Schwarze mit seinem unbarmherzigen Urteil: Der Kompetenzdiskurs ist unschwer als »Amalgam von politischer Korrektheit, froher Botschaft und Markttauglichkeit zu verstehen« (ebd.: 36). Nicht selten verblüffen »groteske empirische Behauptungen, in denen die ›weichen Fähigkeiten‹ und der Erfolg in Berufs- und Privatleben maximal positiv korrelieren. Der soft skills-talk ist dem Bildungsdenken vielleicht deshalb ein Ärgernis, weil er ganz ohne tiefschürfende Analysen auskommt, ohne jede intellektuelle Lust auf Ambivalenz, Widerspruch und Paradoxie, er ist, mit anderen Worten, radikal optimistisch, und das ist natürlich schwer zu ertragen« (ebd.).

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Im Vergleich mit dem, was man beim Blick in den soft skills-talk so alles zu sehen bekommt, 14 gehört das Loblied auf interkulturelle Kompetenz übrigens noch zu den seriöseren Kandidaten (wie etwa auch die einfacher gestrickte Führungs- oder Teamfähigkeit). Dafür gibt es zahllose Beispiele wie die folgenden. Deutlich seichtere Antworten auf weniger drängendere Probleme und obendrein noch sehr viel zweifelhaftere ›theoretische Konstrukte‹ (wenn man davon überhaupt noch sprechen mag) stellen soft skills wie etwa »Socratic Selling Skills« (auch Konfuzius ist als Marketingstratege stark im Kommen), »dating skills« oder jene Fähigkeiten und Fertigkeiten dar, welche Personen in die Lage versetzen, im Restaurant gewandt aufzutreten oder zu Hause stilvolle Feste zu feiern (ebd.: 36), sich effektiv selbst zu inszenieren und zum Aufmerksamkeit erheischenden Attraktor hochzustilisieren, also sich einigermaßen elegant (oder auf andere Weise markant) zu kleiden, vornehm aufzutreten und auch beim Reden oder in den Registern non- und paraverbaler Kommunikation Duftnoten des Exquisiten, Exzellenten und Anziehenden zu setzen (nach dem marktförmigen Vorbild ›prominenter VIPs‹ und anderer ›Superstars‹ aus der sog. Welt der Reichen und Schönen, denen es an einer Zurückhaltung gebietenden ›Intelligenz‹ oft ebenso gebricht wie an anderen Aspekten dieser klassischen Persönlichkeitseigenschaft). Auch die folgenden Hinweise sind keineswegs Abschweifungen vom Thema des interkulturelle Kompetenz einschließenden soft skillstalk: Zur Ausstattung kompetenter Manager und Managerinnen des eigenen Daseins und globaler (zwischenmenschlicher) Probleme gehört, folgt man den kursierenden Appellen, zunehmend auch die Fähigkeit zur sentimentalen, oft gnadenlos kitschigen Inszenierung und Evokation von (Mit-) Gefühlen (die bekanntlich ohnehin längst kommerzialisiert sind: Hochschild 1990; Illouz 2006). Letzteres ist etwa

14 Wie weit dieser Rahmen mittlerweile ist, zeigen beliebige Zusammenstellungen von angeblich außerordentlich wichtigen soft skills. Reichenbach (2009: 38) präsentiert auf einer vollgestopften Druckseite über einhundert davon, darunter (gemischt wie Kraut und Rüben): Selbstakzeptanz, Problemlösefähigkeit, respektvoller Umgang mit der Vergangenheit, Gesundheit, Balancefähigkeit, Verantwortung, Wertschätzung, Dialogfähigkeit, Gemütsfähigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Fleiß, Selbstdarstellung, Informationskompetenz, Kontaktstärke, Kreativität, Flexibilität, Optimismus, Humor, usw. usf.

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dann der Fall, wenn Schläge und Wendungen des eigenen Schicksals oder Freud und Leid anderer Leute vermarktet werden wollen. Der Kälte im stahlharten Gehäuse funktional differenzierter und auf Funktionstüchtigkeit geeichter Gesellschaften korrespondiert heute eine zügellose Emotionalität, die Wärme vorgaukelt, spontane Berührbarkeit durch kalkulierte Rührung ersetzt und die Sensibilität urteilsfähiger Personen durch die Bereitwilligkeit kompensiert, sich als Figur in einem abgekarteten ›Spiel‹ Gefühle abtrotzen oder sie sich aufzwingen, sich von ihnen bewegen, überwältigen und leiten zu lassen. All das und unzähliges mehr gilt vielen Apologeten weicher Schlüsselqualifikationen als Garant eines erfolgreichen Selbst und seiner unausweichlichen Kommunikations- und Interaktionspflichten in einer globalisierten, nicht zuletzt kulturell differenzierten Welt. Man tut gut daran, in Erinnerung zu behalten, dass der Diskurs über interkulturelle Kompetenz auch in diesem Rahmen blüht und gedeiht, ihn zugleich reproduziert, stabilisiert und ausdehnt. In diesem Diskurs ›denken‹ und ›fühlen‹ die Akteure mit den Anderen und Fremden und für sie, sie nehmen sie sorgsam wahr, beachten und achten sie – heute diese, morgen jene, ganz nach den medial gesteuerten, zügig wechselnden Aufmerksamkeiten auf diese oder jene Region im In- und Ausland. Es ist nicht zu übersehen: Gerade auch in diesem Feld sind gefühlige Bekenntnisse zu den Anderen und Fremden im Zeichen politischer Korrektheit wichtig (und manchmal schon alles). Sie sind zu Markenzeichen nicht zuletzt des interkulturell kompetenten Gutmenschen und seiner alle beruhigenden Ausdauer und Zuversicht geworden. Wie gesagt schließt der dem heutigen Kompetenzdiskurs innewohnende Optimismus, der von den frohen Botschaften einer allzu fröhlichen ›Wissenschaft‹ kündet, die von wissenschaftlicher Forschung bisweilen gar nicht viel wissen will, negative Prognosen bis hin zur Apokalypse der modernen Welt nicht aus, sondern stützt sich oftmals darauf und zehrt davon. Nur wer heute hören will, muss morgen nicht fühlen. Denen, die sich nicht umpolen und trainieren, optimieren und normieren, perfektionieren lassen im Sinne der neuesten soft skillsIdeologie, denen wird das Leben eben mehr oder minder übel mitspielen, heißt es. Sie werden über kurz oder lang aus selbst verschuldetem Mangel an Flexibilität, Mobilität und trainability zu den vergleichsweise inkompetenten Exemplaren der Gattung und deswegen zu den bedauernswerten losern gehören; abgehängt, und zwar zurecht, denn sie beschädigen ja, indem sie sich selbst hängen lassen, auch die Ande-

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ren und behindern die Bewältigung gemeinsamer Aufgaben und öffentlicher Angelegenheiten. Es liegt auf der Hand, dass es gute Gründe nicht nur dafür gibt, über die Notwendigkeit interkultureller Kompetenz (und anderer sog. Schlüsselqualifikationen) zu sprechen und alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass dieser Notwendigkeit Abhilfe geschaffen wird, sondern auch über dieses Sprechen und Tun selbst. Der Diskurs über interkulturelle Kompetenz ist an sich eine bemerkenswerte Praxis und mit allen möglichen Aktivitäten verknüpft, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. All das hat eine, zumal kulturpsychologische, Zeitdiagnose zu interessieren. Worum geht es in diesem Diskurs und dieser Praxis? Was findet dort eigentlich statt? Was soll gemacht werden mit jenen Menschen, für welche man sich interessiert? Was wird aus ihnen, wenn sie ihre immer weiter ausdifferenzierten Kompetenzen vermessen und trainieren (lassen), in Gruppenveranstaltungen oder individuellen Coachings, wenn sie also die Idee einer sukzessiven Perfektionierung oder Optimierung des eigenen Selbst als eines intern differenzierten Kompetenzzentrums übernehmen und sich öffnen für lebenslange Kompetenzförderungsmaßnahmen? Was, und das ist eine durchaus wichtige Frage, wird aus ihnen und ist schon aus ihnen geworden, lange bevor sie sich im Vollzug der für geeignet gehaltenen Maßnahmen herrichten (lassen) und faktisch verändern im Sinne der vorgesehenen Kompetenzsteigerung? Es ist alles andere als selbstverständlich und auch nicht einfach nur recht und billig, dass sich Personen aus freien Stücken bzw. in vorauseilendem Gehorsam als »hochtourige Lerner« (Meyer-Drawe 2008) verstehen und (re-)produzieren. Wer sich bereit dafür macht, interkulturelle Kompetenz zu erwerben oder zu erweitern – in Prozessen des sog. »aktiven, offenen und ganzheitlichen Lernens« (Reichenbach 2004) –, wurde bereits modelliert in einem Diskurs, dessen Sprache oft weniger sagt und aussagt als vage andeutet und suggeriert. 15 Alles beginnt vielleicht damit, dass

15 Das gilt auch für die zitierten »Überredungsbegriffe«, die Reichenbach (2004) als »treue Partner des pädagogischen Besserwissens« geißelt. Auch diesbezüglich sind seine Argumente kaum zu widerlegen. Das »aktive, offene, ganzheitliche und gemeinschaftliche Lernen« ist, der allgemeinen Ideologie einer politisch korrekten Pädagogik (und manchmal sogar der Erziehungswissenschaft) zufolge, das unhinterfragte Nonplusultra. Das gilt selbst dann, wenn niemand genau anzugeben wüsste, was dies denn eigent-

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schon die Idee der sukzessiven Vervollkommnung des eigenen Selbst und der Welt tief in unser aller Kopf und Herz eingedrungen ist, und dass diese enervierende Idee in unserem Leben an die Vorstellung gekoppelt ist, dass es (für jede/n Einzelne/n) nötig und bekömmlich ist, etwas und kontinuierlich immer mehr aus sich zu machen, durch Kompetenzsteigerung in möglichst allen Feldern nach allgemein verbindlichen Normen. Dazu bedarf es selbstredend eines aktiven Subjekts: »sich interessieren, sich engagieren, involviert sein, intervenieren, transformieren« (Reichenbach 2004: 1), das sind die Vorgaben der (religiös fundierten) modernen Moral, für die Passivität, Desengagement, Verschlossenheit und Konservativismus, Einsamkeit, Beharrlichkeit und Stagnation, erst recht Zwang und Druck durch andere, Hemmschuhe eines (angeblich) auf Entwicklung und Entfaltung drängenden Lebens sind, kurz: rote Tücher. Der Ruf nach interkultureller Kompetenz, nach ihrer permanenten Steigerung unter Anleitung von »Facilitatoren«, die aus freien Stücken zeitlebens lernenden Subjekten beim Lernen helfen (ohne sie zu bevormunden, zu drängen und zu zwingen, heißt es), ist einer der zahllosen Ausdrücke der überall grassierenden Verfertigung und Vervollkommnung des rundum kompetenten Subjekts. Wie in anderen Bereichen fällt auch hier auf, dass der praktisch höchst einflussreiche Diskurs über interkulturelle Kompetenz jene drei Merkmale auf sich vereint, die Reichenbach (2004: 2) generell für Charakteristika eines ideologischen, wabernden und oft regelrecht kitschigen Überredungsgeschehens im Zeichen der normierenden Kompetenzsteigerung beflissener Lerner hält: •



neben dem einseitigen Metapherngebrauch, der die Steigerung interkultureller Kompetenz z.B. als Wachstum oder Entwicklung (von kognitivem Wissen, sozialer und emotionaler Intelligenz, Vorurteilsfreiheit und Toleranz, etc.) konzeptualisiert, nicht aber zugleich als Verlust oder Verfall von etwas (z.B. von Spontaneität), ist das die Emotionalisierung des Vokabulars, durch die interkulturelle Inkompetenz perhorresziert und als Wurzel zahlloser Übel in der

lich sein soll (und ebenso sein logisch ja notwendiges Gegenstück des »passiven, geschlossenen, fragmentierten und sozial isolierten Lernens«).

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glokalisierten Welt unserer Tage hingestellt wird (etwa als Ursache von Gewalt), sowie die hypertrophe Distinktion zwischen ›guten‹ (interkulturell kompetenten) und ›bösen‹ (inkompetenten) Leuten.

Wichtig ist, dass der Appell an Menschen, interkulturelle Kompetenz zu entwickeln, nur teilweise auf Argumente setzt, die überzeugend klar machen, warum und wozu dies für die angesprochenen Personen (oder Gruppen und die Menschheit im Allgemeinen) tatsächlich attraktiv und hilfreich ist. Häufig operiert man in diesem Feld vielmehr mit den bereits bemühten Überredungsdefinitionen und anderen Mitteln persuasiver Rede, die die Adressaten herumkriegen sollen. Dazu taugen emotionalisierte und Gefühle manipulierende Wörter und Bilder bestens. Zu den von Reichenbach (2009: 39ff.) herausgestellten Merkmalen des fragwürdigen soft skills-talk, die offenbar auch bestens zum Diskurs über interkulturelle Kompetenz passen, gehören außerdem die folgenden: •





die Transformation einer Sprache der Moral in eine psychologische Sprache: Das psychologische Vokabular, durch das das interkulturell kompetente Subjekt vornehmlich charakterisiert wird, enthält allerdings auch offene und vor allem verdeckte moralische Unterscheidungen, so dass diesbezüglich von einer, die kommunikativen Absichten und diskursiven Effekte des Kompetenzdiskurses verschleiernden, Kryptonormativität gesprochen werden kann; die besagte Transformation beseitigt die Moral also häufig nicht, sondern verwandelt und verschleiert die moralische Kommunikation durch Psychologisierung (Pathologisierung, etc.); die Betonung der Bedeutung der Persönlichkeit ist auch im hier interessierenden Fall evident: Dadurch sorgt man stets für einen regelrechten Schub in der Erziehungs- und Bildungsbranche (vom Kindergarten über die Erwachsenenbildung jeder Spielart bis hin zur Gerontopädagogik im Seniorenheim); derzeit gibt es wohl nur wenige, ähnlich lukrative Kompetenzvermarktungsmöglichkeiten wie im bunten Feld der Interkulturalität; die Instrumentalisierung von Komplexität als Pseudo-Argument: Dadurch lässt sich nicht nur erklären, warum man mit der Bestimmung des theoretischen Konstrukts (und bei der Bearbeitung aller sonstigen wissenschaftlichen und praktischen Aufgaben) eben

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noch nicht so weit ist, wie es wünschenswert wäre. Der Hinweis auf die außerordentliche Komplexität des Gegenstandes dient darüber hinaus der Erzeugung synästhetischer Saturiertheit und einem Freibrief zum Eklektizismus, der alle mitreden, mitmachen, etwas beisteuern und ein wenig Recht haben lässt; die Zerlegung des jeweils interessierenden Konstrukts in Teilkompetenzen, Dimensionen und dergleichen, wobei sich diesbezüglich, wie oben ausgeführt, häufig keine klaren Metrisierungen und Hierarchisierungen vornehmen lassen, noch nicht einmal grobe Einteilungen verschiedener Niveaus; die bloße Suggestion der Messbarkeit von soft skills ist typisch und charakterisiert den Diskurs über interkulturelle Kompetenz schon wegen der extremen pragmatischen und semantischen Vieldeutigkeit des Konstrukts, aber auch wegen der Disparatheit vorliegender Definitionen und Konzeptualisierungen; all das ist natürlich für die Lehre, für Trainings und sonstige Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen ein erhebliches, oft verschleiertes Problem (und bereits für den lerntheoretischen Zugang eine Hürde; Straub 2010); die Exklusion des Nicht-Messbaren: Vieles, was interkulturelle Kompetenz oder sonstige soft skills ausmacht (und erst recht die nicht allein auf personale Dispositionen zurückführbare, geglückte interkulturelle Kommunikation, Kooperation und Koexistenz), ist aus prinzipiellen Gründen gar nicht messbar; diese keineswegs unwesentlichen Aspekte fallen dann einfach heraus aus der (Effizienzdiagnosen sowie -prognosen verpflichteten) Kompetenzforschung und ihren anwendungsorientierten Ausläufern; im Rahmen des Diskurses über interkulturelle Kompetenz wird über solche, sich der Optimierungs- und Vermarktungsfähigkeit entziehende, Aspekte kaum mehr nachgedacht.

5. D IE M ACHT SELBST - OPTIMIERENDER K OMPETENZSTEIGERUNGSKOMPETENZ Es ist bereits überdeutlich: Diskurse und Praxen, die sich um das Konzept interkulturelle Kompetenz herum ›anlagern‹, sind selbst bemerkenswerte kulturelle Phänomene. Sie bilden ein wucherndes Netz aus aufeinander verweisenden, auseinander hervorgehenden, einander ergänzenden praxischen Handlungen und Sprechakten (mit illokutionä-

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ren Sinngehalten und performativen Effekten, vielfach nicht intendierter Art). Es ist nicht allein so, dass wir über etwas reden, wenn wir interkulturelle Kompetenz thematisieren (analysieren, lehren, fördern, etc.). Vielmehr machen wir durch unser Sprechen und das darauf bezogene Handeln etwas mit Menschen und aus Menschen, revidieren und gestalten deren Welt. Dieses Machen beginnt, bevor wir Menschen gezielten praktischen (psychologischen, pädagogischen) Maßnahmen unterziehen, sie durch bedachte Instruktionen und geplante Interventionen in eine bestimmte Richtung lenken, kurz: zu ändern versuchen. Die Diskursivierung interkultureller Kompetenz ist – wie eben jede competence speech, jeder soft skills-talk – ein Zugriff auf den Menschen und ein Eingriff in dessen kognitives Selbstverständnis, in seine emotionale Selbstbeziehung und sein praktisches Selbstverhältnis. Wer »Kompetenz« sagt, führt etwas im Schilde, will etwas anderes, er oder sie will auf der Grundlage ›wissenschaftlicher‹ Erkenntnisse und psychologisch-pädagogischen Knowhows mehr und Besseres aus Menschen machen. Zu diesem Zweck müssen sich die Adressaten erst einmal als verbesserungsbedürftig fühlen und begreifen. Insofern hier (pseudo-) wissenschaftliche ›Autorität‹ im Spiel ist, handelt es sich zweifellos um eine Art Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas 1981). Auch die Debatte über interkulturelle Kompetenz zielt in ihrem innersten Kern auf Kompetenzsteigerungskompetenz (Disponibilität, Lernbereitschaft, trainability und dergleichen sind Voraussetzungen, Bestandteile und Ziele des Programms). Darauf kommt es heute an, wenn man nicht zu den übrig bleibenden und unversehens ausrangierten »peinlichen Dilettanten« (Reichenbach 2009: 46) gehören will. Das heutzutage schon kaum mehr hinterfragte Kompetenz- und Steigerungsethos braucht Leute, die Lust darauf haben und Gefallen daran finden, von wohlgesonnenen Facilitatoren unentwegt an sich herum modeln zu lassen und sich selbst nach dem neuesten Kompetenzmodell zu modellieren. Bemühungen um interkulturelle Kompetenz bezeugen das heute geradezu prototypisch. Interkulturell kompetente Personen sind mit wissenschaftlicher Akribie gestaltete und sich permanent selbst (um-)gestaltende Subjekte, die bald schon nicht mehr genau unterscheiden können, was von ihnen gewollt wird und was sie selbst wollen, die also auch nicht mehr zu beurteilen vermögen, ob das

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eigene Streben dem eigenen oder einem fremden, anonymen Willen entsprungen ist. Wichtig ist, dass sie als kompetenzsteigerungswillige Akteure Anpassungsleistungen vollbringen, die dem Leben seine drohende Tragik rauben und schon bloße Pannen, leidvolle Stockungen und mühsame Umwege des geschmeidigen Lebensflusses vermeiden helfen. Die hyperaktive Kompetenzsteigerungskompetenz erscheint als Garant von Erfolg und ›Glück‹ (das in diesem Fall dem Selbstwirksamkeitserleben kompetenter Akteure entspringt und als »emotionales Kapital« recht treffend erfasst ist) – und sie ist paradoxerweise zugleich die Gewähr dafür, dass Kultur und Gesellschaft in ihren (Macht- und Herrschafts-) Strukturen unberührt bleiben. Kompetenztheorien sind, ungeachtet der (vielleicht ›kritischen‹, ›emanzipatorischen‹, etc.) Intentionen ihrer Schöpfer, »politisch zahnlos« (ebd.: 47). Sie befördern die Individualisierung und Psychologisierung sozialer Probleme. Sie richten den Blick auf Subjekte, die vor allem, mitunter ausschließlich, nach Funktionalitäts- und Effizienzkriterien vermessen, kontrolliert und trainiert werden – und die dazu angehalten sind, diese Vermessungen, Kontrollen und Trainings selbst durchzuführen bzw. aus freien Stücken und im eigenen Interesse zuzulassen, aktiv einzuleiten und endlos fortzusetzen. Die Optimierung und Normierung macht aus Menschen Models – auch dort, wo es nicht mehr um den Körper und die Figur, um Haltung und Gang und andere Aspekte der äußeren Erscheinung geht, sondern um die Seele, mithin um alles, was Menschen so denken, fühlen, wollen und tun. Das auf Kompetenzsteigerung gerichtete Menschen-Machen strebt im Zeichen der Optimierung und Normierung auf einen partiell neuen Menschen mit erweitertem Wissen und gesteigerten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das sagen jedenfalls die ›Modelle‹. Der kompetentere Mensch besitzt neue Erlebnis- und Handlungspotenziale – im Sinne instrumentell-strategischer Verfügungsmacht sowie einer ethischmoralisch hoch stehenden hermeneutischen Kunst, die unvoreingenommene Dialoge fördert und das Zusammenleben bereichert, indem sie Menschen füreinander aufschließt, ihre Offenheit und Veränderungsbereitschaft unterstützt. Speziell die interkulturell kompetente Person vermag so zu einer Welt beizutragen, in der, wie der idealisierende Tenor lautet, Menschen effektiver kommunizieren und kooperieren, zugleich verständnis- und respektvoller, empathischer, rücksichtsvoller miteinander umgehen und voneinander lernen. Sie begegnen ei-

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nander zumal als fremde Andere mit großherziger Toleranz und aufrichtiger Achtung – wenn sie die besagte Kompetenz erst einmal hinreichend ausgebildet haben. Selbst wenn diesen »guten Menschen« nicht alles gelingen mag und sie nicht immer angemessen und effektiv handeln mögen, so wissen und vermögen sie doch mehr (und anderes) als ihre um kulturelle Differenzen wenig besorgten Mitmenschen. Im Unterschied zu diesen sind sie um wirkliche Anerkennung bemüht und täuschen Interesse nicht bloß vor. Und sie üben sich darin, den übernommenen Ansprüchen gerecht zu werden und arbeiten zu diesem Zweck permanent an sich. Quod erat demonstrandum: Wo sich das im Zeichen der Optimierung und Normierung stehende Menschen-Machen vollzieht, geschieht noch anderes als das Vorgesehene und Vorgezeigte (Sabisch/Sieben/Straub 2011). Wo Menschen sich verändern sollen und vielleicht verändern wollen, sind sie so gut wie immer in einem doppelten Sinne als Subjekte im Spiel. Zum einen sind sie als aktive und autonome Personen tätig, die ihr Erlebnis- und Handlungspotential, die jeweils gegebenen Anregungen aufgreifend und mäeutische Anleitungen (von Trainern, Coaches und anderen »Facilitatoren«) kreativ umsetzend, vielleicht vertiefen und ausweiten. Zum anderen erscheinen sie als just diesen machtvollen Anregungen und Anleitungen unterworfene bzw. sich unterwerfende Subjekte, die diskursive Vorgaben und praktische Vorhaben übernehmen und sich ihnen gemäß herrichten (lassen). Competence speeches – Diskurse über Kompetenz – dürfen als Paradebeispiele für das diffuse Wuchern von Kontroll- und Disziplinardispositiven aufgefasst werden, die Menschen internalisieren können, um ihnen in ihrem Handeln fortan ›freiwillig‹ zu folgen. Auf diese Weise werden und machen sich Menschen zu jenen Sub-jekten, welche Illusionen von Autonomie aufbauen und sich zugleich einer anonymen und heteronomen, undurchschauten Macht unter-stellen. Sie handeln durchaus auch als interkulturell kompetente Akteure in anonymem Auftrag. Kompetenzerwerb erscheint in dieser machtkritischen Perspektive auch als Anpassungs- und Unterwerfungsprozess, in der vermeintlich autonome Personen das Heft aus der Hand geben und sich einem allgemeinen Machtgeschehen eingliedern (nolens volens, eher unbewusst als bewusst). Im Extremfall richten sich Menschen bekanntlich regelrecht zu, um der Norm sukzessiver Optimierung dieser oder jener Fähigkeit und Fertigkeit oder einer sonstigen personalen Eigenschaft

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Folge zu leisten. Man sollte diesen Aspekt auch dann nicht aus dem Auge verlieren, wenn es sich bei den Lehr- und Lernzielen um so nobel und allgemein konsensfähig erscheinende Attribute wie interkulturelle Kompetenz handelt. Auch diese wissensbasierte Fähigkeit und Fertigkeit entwickeln Menschen gemeinhin nicht ganz aus freien Stücken und eigenem Antrieb. Interkulturelle Kompetenz: Das ist erst einmal nicht die originäre und originelle Idee und das Ideal eines einzelnen Menschen, sondern ein in unserer Gegenwart immer lauter an die gesamte Menschheit gerichteter Imperativ. Einen exakt identifizierbaren Absender braucht dieser Befehl nicht. Die neue Ordnung, auf die diese Anordnung zielt, scheint so gut wie allen unumgänglich und auch gut und schön. Von allen Seiten verkündet man Fragmente einer neuen Ethik und Ästhetik der Interkulturalität. Darauf sollen sich Menschen einlassen. Sie sollen interkulturell kompetent werden wollen. Dazu werden sie angewiesen und angehalten. Sie machen sodann mehr oder weniger mit, wozu sie ohnehin abgerichtet würden und tatsächlich werden. Was bedeutet das nun alles, was folgt daraus? Dass man sich den anonymen Imperativen kompromisslos verweigern und dem oktroyierten Optimierungs- und Normierungsgeschehen gänzlich entziehen sollte? Nicht unbedingt. Die Alternative trotziger »interkultureller Inkompetenz« ist gewiss keine attraktive und vernünftige Lösung, sie entspränge einem seltsam ›pubertären‹ Widerstand und zeitigte wohl ihrerseits nicht nur erfreuliche Folgen. Was dann? Wenn es um heute derartig weit verbreitete, weithin akzeptierte Werte und Normen geht wie diejenigen, welche in das Konstrukt »interkulturelle Kompetenz« eingehen und seine Pragma-Semantik mitbestimmen, scheint trotzige Gegenwehr unvernünftig und ohnehin zwecklos. Das ändert jedoch nichts daran, dass interkulturelle Kompetenz der Effekt eines Kontrollund Disziplinardispositivs ist, das Menschen vorgibt, was sie wollen und sein, tun und lassen sollen. Der breite Konsens, der interkulturelle Kompetenz als ein hohes Gut und sogar als eine Art notwendige Tugend in der glokalisierten Welt ausweist, ändert nicht das Mindeste an der Tatsache, dass keineswegs in jedem Paket mit der Aufschrift »interkulturelle Kompetenz« wirklich etwas Tolles drin ist. Etikettenschwindel ist heute gerade auch in diesem Feld gang und gäbe. Dessen sollte man sich bewusst bleiben. Dieses Bewusstsein umfasst idealiter die oben ausführlich entwickelte Einsicht, dass heute eigentlich niemand genau weiß, was sich unter der Bezeichnung »inter-

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kulturelle Kompetenz« verbirgt oder was man nach bestem wissenschaftlichen Wissen und Gewissen darunter verstehen sollte. Diese Einsicht und die damit verwobene Skepsis gegenüber dem soft skillstalk und speziell dem marktförmigen und verkaufsfördernden Gerede über interkulturelle Kompetenz sind nicht wenig. Sie sind ein Resultat aufklärerischer Begriffskritik und Machtanalyse, das zu ernsthaften Bildungsbemühungen und dem althergebrachten, keineswegs ausgedienten Ideal der partiellen Autonomie einer Person gar nicht so schlecht passt. Neben den Zurichtungen und Enttäuschungen, vor denen niemand gefeit ist, wenn er (oder sie) sich den verführerischen Offerten »interkultureller Kompetenz« nähert und sich auf sie einlässt, ist ein weiterer Gesichtspunkt bemerkenswert. Die Funktion des Diskurses über interkulturelle Kompetenz kann nämlich gerade darin bestehen, jenen Mangel zu verschleiern und zu verdecken, den zu beseitigen man überall und immerfort vorgibt. Vielleicht redet man auch deswegen unentwegt von Toleranz und Anerkennung sowie den anderen Sonnenseiten interkultureller Kompetenz, weil sie faktisch Mangelware und obendrein oft gar nicht wirklich angesagt sind. Es drängt sich nicht nur in Politik und Wirtschaft mitunter der Eindruck auf, als seien Toleranz und Anerkennung einfordernde »Diskurse interkultureller Kompetenz« rhetorische Manöver, die davon ablenken, dass es Kommunikations- und Interaktionspartnern oft nach wie vor darum geht, den anderen zu überreden und zu übervorteilen, um eigene Macht zu gewinnen, zu stabilisieren oder auszubauen und sogar Herrschaft zu erlangen. Persuasive Kommunikations- und strategische Interaktionsmodi, Gewalt androhende, subtilen Druck ausübende sowie andere, indirekt oder unmittelbar gewaltsame Umgangsformen sind womöglich dann besonders aussichtsreich und effektiv, wenn sie von Lobliedern auf interkulturelle Kompetenz und ihre implizierten Komponenten (wie Perspektivenübernahme und Empathie, Ethnorelativismus und Toleranz, Achtung und Anerkennung) begleitet werden. Die allgegenwärtigen Hymnen auf interkulturelle Kompetenz bemänteln manchmal nicht nur die veritablen Schwierigkeiten, dem gepriesenen Ideal tatsächlich gerecht zu werden, sondern auch den (eigenen und vielleicht verbreiteten) Unwillen, dies überhaupt anzustreben und wirklich zu versuchen (praktisch, politisch). Spätestens dann, wenn eigene Nachteile in Kauf genommen und Ziele aufgegeben werden müssen, schwinden der gute Wille und das Interesse an Differenz,

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Alterität und Alienität in der Regel ganz schnell. Das in hellen Farben flimmernde Gerede über interkulturelle Kompetenz passt durchaus zur apokalyptisch-ideologischen Rede vom »Kampf der Kulturen«, insofern es diesen Kampf in Verborgenheit zu führen gestattet – als wolle niemand Streit um der eigenen Überlegenheit und des individuellen oder kollektiven Vorteils willen. Die valorative und normative Pragma-Semantik, die interkulturelle Kompetenz als ein hohes Gut und eine geschätzte Tugend nobilitiert, breitet sich mitunter wie ein Deckmantel über die harte Realität konkurrierender Individuen und Gruppen aus und verwischt die Spuren eines Kampfes, die den kompetenten Menschen klammheimlich dem Kombatanten angleichen (ganz im Sinne einer Begriffsgeschichte, die an den kompetitiven Sinn von »Kompetenz« erinnert; Straub 2007b). Der oder die Kompetente ist nicht selten ein Konkurrent, der auch vor persuasiver Kommunikation, strategischer Interaktion und rüden Formen der Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit nicht zurückscheut – auch wenn die subtileren Modi bevorzugt werden und lieber im Nebulösen oder Unsichtbaren operiert wird. Diesen Raum des schwer Durchschaubaren, zumindest etwas Schleierhaften, schafft der Diskurs über interkulturelle Kompetenz mit. Will jemand den Verdacht zerstreuen, eigennützig die Überlegenheit und Privilegiertheit des Selbst und der eigenen Bezugsgruppe über kulturell Andere und Fremde zu sichern, ist er oder sie gut beraten, das Bemühen um interkulturelle Kompetenz herauszustreichen. Das gilt im Privatleben ebenso wie in der Politik. 16 Der Diskurs über interkulturelle Kompetenz erscheint in der skizzierten Perspektive wie ein gigantisches Ablenkungsmanöver. Er dient mitunter durchaus etwas zwiespältigen, zwielichtigen Zielen. Es mag ja sein, dass die theoretischen Debatten und praktischen Bemühungen um interkulturelle Kompetenz insgesamt eine ziemlich schöne, gute Sache sind, die den Frieden befördert und der Liebe dient und alle Betroffenen über kurz oder lang bereichern wird. Von Foucault und anderen haben wir jedoch gelernt, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen (Diskursen, Praktiken) zu fragen und zugleich jede Wissensakkumulation sowie -distribution nicht kurzerhand (und naiv) als Fortschritt oder Zeichen der Emanzipation und rundum erfreulichen

16 Es ist leicht zu sehen, dass es auf politischer und geostrategischer Ebene auch heute wieder – wie schon zu Herodots oder Herders Zeiten – um einen Wettstreit geht, in dem »Europa« sich formiert und wappnet.

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Menschheitsentwicklung aufzufassen. Eine zurückhaltende, skeptischere Sicht der Dinge ist insbesondere dann angebracht, wenn Wissen relativ plötzlich en masse produziert und unter die Leute gebracht wird, mit performativen Effekten und praktischen Folgen vielfacher Art. Nimmt man diese Empfehlung ernst, animiert der allzu unablässige und aufgeregte Kompetenzdiskurs zum Einhalten, zu Nachdenklichkeit im Zeichen der Vorsicht – gegenüber zwielichtigen Machenschaften, in die keineswegs bloß gutmütige und gutgläubige Leute verwickelt sind.

6. Z UM S CHLUSS : E INE WOHLWOLLENDE L ESART IN DER VERSÖHNLICHEN P ERSPEKTIVE EINER VERHALTEN - OPTIMISTISCHEN F ORTSCHRITTSGESCHICHTE Natürlich hätte eine sorgfältige diskursanalytische Untersuchung die Pflicht, die Spreu vom Weizen zu trennen. Es gibt im Diskurs über interkulturelle Kompetenz ebenso seriöse Bemühungen von engagierten Zeitgenossen wie fahrlässigen Bullshit von Blendern (ganz im Sinne von Harry Frankfurt 2006). Letztere schwafeln daher und wollen schleunigst irgendetwas gewinnträchtig unter die Leute bringen (oder auf andere Weise in eigener Sache handeln). In der ersten Kategorie finden sich etwa wissenschaftliche und philosophische Arbeiten, die u.a. darauf aus sind, dem theoretischen Konstrukt einen einigermaßen klaren Sinn abzugewinnen, aus dem auch die praktische Bedeutung interkultureller Kompetenz hervorgeht. Ich will den Faden hier nicht noch einmal von vorne aufrollen, sondern mit einem kurzen Hinweis schließen, der für das Verständnis unserer Gegenwart bedeutsam zu sein scheint. Was immer »interkulturelle Kompetenz« im Einzelnen besagen mag, so gehört die ganze darauf bezogene Debatte nach der hier vorgeschlagenen ›Lesart‹ in einen theoretischen und praktischen Zusammenhang, in dem die Sozial- und Kulturwissenschaften seit gut einem Jahrhundert intensiv daran arbeiten, die Konturen einer Transformation (spät-/post-) moderner Subjektivität nachzuzeichnen und auf den Begriff zu bringen. Dieser Strukturwandel zielt auf eine radikale Dezentrierung des Subjekts und jener Bezugsgruppe, die die jeweils

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zentrale Quelle seiner sozialen Identität ist (vielleicht auch mehrerer solcher Bezugsgruppen). 17 All das wurde und wird in der Psychologie, Psychoanalyse sowie anderen Sozial- und Kulturwissenschaften eben unter dem Titel »Identität« erörtert. Die Identität einer Person bezeichnet eine spezifische Struktur (oder Form) des kommunikativen Selbstverhältnisses von Subjekten. Solche Subjekte sind zugänglich für die Stimmen der Anderen und Fremden, sie lassen sich von ihnen affizieren und ihr Denken und Handeln von ihnen anregen. Differenzsensibilität, Alteritätsund Alienitätsbewusstsein im Zeichen wechselseitiger Beachtung, Achtung und Anerkennung sind pragma-semantische Implikate personaler Identität. Nicht zufällig sind diese Merkmale auch wichtige Konstituenten oder Komponenten interkultureller Kompetenz. Diese Kompetenz ist im Kern eine Fähigkeit und Fertigkeit, sich selbst angesichts vielfältiger Anderer und Fremder zurückzuhalten und zurückzunehmen, eben offen zu sein für das Erleben eigener (Identitäts-) Grenzen sowie für Erfahrungen der Selbsttranszendenz, die an-

17 Die soziale Identität kann dabei als Aspekt der personalen Identität begriffen werden (ganz im Sinne der Theorie von Taijfel 1978). Zum Identitätsbegriff und dem hier nur angedeuteten Strukturwandel vgl. ausführlicher Rosa (2007), Straub (1991, 2004b, 2018), Straub/Chakkarath (2010b) und Straub/Renn (2002), wo sich zahlreiche Literaturhinweise finden. Das in den genannten Arbeiten entfaltete Konzept knüpft insbesondere an theoretisch anspruchsvolle Ansätze in den Traditionen des Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus, der Psychoanalyse und neuerer Handlungstheorien an. Zentral ist dabei die sehr häufig übersehene triadische semantische Struktur des Identitätsbegriffs. Demnach ist »Identität« in der Mitte eines Kontinuums angesiedelt, dessen Extreme durch die »Totalität« einerseits, den Persönlichkeitszerfall andererseits repräsentiert wird. Letzerer vollzieht sich über meist sukzessive, das Erlebnis- und Handlungspotential der Betroffenen zersetzende Identitätsdiffusionen und -fragmentierungen. Ein mögliches Resultat ist z.B. die sog. »multiple Persönlichkeit«, die eigentlich keine Persönlichkeit mehr ›hat‹ oder ›ist‹). Zweifellos finden sich seit vielen Jahrzehnten fahrlässige ideologische Besetzungen des Identitätsbegriffs (sowohl hinsichtlich der Bestimmung »personaler« als auch »kollektiver« Identität), die theoretisch in aller Regel überaus dürftig ausfallen. Davon ist der hier in Anspruch genommene Begriff dezidiert abgegrenzt.

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dere, fremde Kulturen und deren Angehörige ermöglichen (anstoßen können, vielleicht sogar evozieren und erwarten mögen). Interkulturelle Kompetenz ist ein begrifflicher Verwandter personaler Identität: In beiden theoretischen Konstrukten geht es um die eminent aktuelle Einsicht, dass eine zeitgemäße, ›überlebensfähige‹ und ›schätzenswerte‹ Struktur des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person ›durchlässig‹ zu sein hat. In der Perspektive einer historisch reflektierten Kulturpsychologie (Boesch/Straub 2007; Straub 2007c; Straub/ Chakkarath 2010a) ist dieser Zusammenhang evident. Diese Perspektive gestattet es, die unter bestimmten geschichtlichen und soziokulturellen Bedingungen entstehende doppelte Bedeutung der besagten Begriffe zu erkennen. Sie erfassen nämlich beide empirisch-kontingente, in (spät-/post-) modernen Verhältnissen sowohl funktionale als auch normativ ausgezeichnete Attribute einer »Person«. Ihre Pragmatik und Semantik geben Auskunft darüber, was es faktisch heißt und im Lichte reflektierter Werte und Normen bedeuten sollte, in vielfältig differenzierten, komplexen Gesellschaften eine erlebnis- und handlungsfähige Person zu sein. Obwohl die Entwicklung von Identität keine Gabe, sondern eine Aufgabe darstellt, die von Personen übernommen und mit mannigfacher sozialer Unterstützung angegangen werden muss, entspringt die Identität einer Person weder deren völlig freiem Entschluss und Willen noch ihrem rundum autonomen Handeln. Identität ist eine unter bestimmten Lebensbedingungen funktionale und viable Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person, in gewisser Weise also eine Notwendigkeit. Menschen müssen sie ausbilden, wenn sie unter Verhältnissen der späten Moderne einigermaßen zurechtkommen wollen. Freilich gilt das nicht für alle in gleichem Maße. Einige können es sich durchaus leisten, sich den Zumutungen der Identitätsbildung und -bewahrung zu entziehen. Sie halten sich dann etwa an die überkommene »Totalität«. Wieder andere zerbrechen an den besagten Zumutungen. Die große Mehrheit muss die Herausforderungen jedoch annehmen und das unendliche, nicht immer aufregende Abenteuer einer transitorischen Identität einigermaßen bestehen. Der offenen Gesellschaft entspricht das offene Individuum, es ist ihr Komplement. Beide sind aufeinander angewiesen und erhalten sich wechselseitig. Wie der Feind der offenen Gesellschaft totalitäre Systeme sind, so ist die Person, der wir Identität zuschreiben, nicht nur von jener unterschieden, die an einer Diffusion, Fragmentierung und

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schließlich am Zerfall des Selbst leidet, sondern auch gegen jene abgegrenzt, deren strukturell geschlossenes Selbstverhältnis auf den von Erik Erikson geprägten Namen »Totalität« hört (vgl. Straub 1991, 2004b, 2018). Das theoretische Konstrukt »interkulturelle Kompetenz« passt nun bestens zum Begriff personaler Identität. Was im Namen dieses Konstrukts gedacht und getan wird, ließe sich, was immer man im Einzelnen darunter versteht, im Kern als Ausformung der Identität von Personen unter Bedingungen erheblicher kultureller Pluralität verstehen, mithin als radikale Dezentrierung des Selbst von spät- oder postmodernen Subjekten, die dadurch – paradoxerweise – eine Stabilisierung und Ausweitung ihres Erlebnis- und Handlungspotentials erlangen. Interkulturelle Kompetenz steht in diesem Sinn für die sich verbreitende, zukunftsweisende Einsicht, dass Schwächungen Stärkungen sein und mit sich bringen können. Offenbar wandelt sich mit dem seit längerem sich vollziehenden, sehr allmählichen und keineswegs ganz geradlinigen kulturellen Übergang von der Totalität zur Identität nicht nur die Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses von Personen, sondern auch unsere Vorstellung von »menschlicher Stärke«. Diese scheint heute weniger vom Willen, der Fähigkeit und Fertigkeit zur Selbstbehauptung abzuhängen, sondern eher (oder ebenso sehr) von der Bereitschaft und dem Vermögen zur temporären Selbstaufgabe, wodurch neue Chancen und Potentiale der Selbstbestimmung entdeckt und freigesetzt werden können (vgl. zu diesen Begriffen Tugendhat 1979). Dabei braucht sich niemand völlig zu verlieren und in alle Winde zu zerstreuen. Diese Angst, die gegenwärtig noch immer viele umtreibt, ist nicht notwendig, ja: Sie ist ein schlechter Ratgeber. Interkulturelle Kompetenz ist, wohlwollend betrachtet, im Kern eine theoretische Bezeichnung für eine Art Entspannungsübung, durch die sich moderne Subjekte neu entdecken können, weil sie Andere und Fremde wahrzunehmen und anzunehmen in der Lage sind, weil sie sie ›an sich heranlassen‹ und sich mit ihnen unvoreingenommen auseinandersetzen können. Den Weg, auf dem solche Übungen obligatorisch sind, haben moderne Theorien personaler Identität sorgfältig erkundet. Die Sorte von Leuten, die diesen Weg eingeschlagen haben und weiterhin gehen werden, genießt heute nicht zu Unrecht vielerorts eine gewisse ›Sympathie‹. Diese Zuneigung schlägt ihnen überall dort entgegen, wo Unvoreingenommenheit und eine gewisse Selbstlosigkeit, kurz: Wo Offenheit und Veränderungsbereitschaft als willkom-

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mene Errungenschaft, ja als Fortschritt im Bereich des gesellschaftlichen und sozialen Lebens betrachtet wird – ebenso wie im Seelenleben der Einzelnen. Die Thematisierung interkultureller Kompetenz ist, so gesehen, eine Begleitmelodie zum Aufstieg des soggetto debole im späten 20. und angebrochenen 21. Jahrhundert. Sie verleiht diesem Aufstieg Schwung und lenkt ihn in die Richtung einer Dezentrierung kultureller Zugehörigkeiten und Bindungen. Jede derartige Dezentrierungsbewegung führt das Subjekt weg vom absoluten Bezugspunkt des Eigenen und steigert das Kontingenzbewusstsein. Wie die Eltern rein zufällig die eigenen, nicht vom Kind gewählten Eltern sind, so ist auch die Kultur, in der jemand aufwächst und von der er oder sie geprägt wird, zuvorderst ein kontingentes Widerfahrnis. Niemand sucht sie sich aus, auch wenn sich halbwegs eigenständig gewordene Personen später zu ihrer kulturellen Herkunft verhalten, sie (zumindest in den bewusst werdenden Aspekten) annehmen oder ablehnen können. Das reflexive Bewusstsein einer durch und durch kontingenten Mitgift der Kultur steigert das Wirklichkeitsund insbesondere das Möglichkeitsbewusstsein von Subjekten, die just dadurch unweigerlich eine Dezentrierung ihres Selbst erfahren (und aktiv betreiben). »Interkulturelle Kompetenz« spielt in diesem Vorgang eine wichtige Rolle. Als Bestandteil einer Dezentrierungsbewegung löst sie die eigenen (überkommenen) Wertbindungen zwar nicht gleich auf, lockert aber ihre bislang vielleicht ganz unhinterfragte Gültigkeit. Dasselbe gilt für alle sonstigen kulturellen Bindungen, denen interkulturelle Kompetenz den Status des schlicht Gegebenen und Hinzunehmenden raubt. Aus all dem kann man den (bislang noch kaum bedachten) Schluss ziehen: Interkulturelle Kompetenz betrifft auch den Umgang mit internalisierten kulturellen Differenzen. Sie ist, wie dargelegt, im Hinblick auf das kommunikative Selbstverhältnis bzw. die Identität einer Person von Bedeutung. Sie ist mithin ein Aspekt des selbstbezogenen Erlebnis- und Handlungspotentials einer Person, ihres Umgangs mit sich selbst. Eine Person ist die dynamische, transitorische Einheit ihrer kontingenten kulturellen (und sonstigen) Differenzen. Diese Einheit ist nicht ein für allemal gegeben, sondern muss geschaffen werden in permanenten – symbolisch, kulturell und sozial vermittelten – Akten der Bildung und Umbildung des Selbst. Identität als Verhältnis integrierter Differenzen ist eine unendliche Aufgabe. Die psychische ›Verarbeitung‹ dieser Differenzen kann gelingen oder scheitern. Eine

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Person kann an interner kultureller Heterogenität leiden, ja: Sie kann an den damit möglicherweise verwobenen Konflikten zerbrechen. Gewiss, in vielen Fällen mögen Spannungen auch dieser Art das Leben spannend machen. Sie mögen als Quelle eigener Vitalität und Lebenslust erlebt werden, gut und gerne ausgehalten, immer wieder neu ausbalanciert, integriert und für die Selbstentwicklung fruchtbar gemacht werden können. Sie sind jedoch stets auch eine Herausforderung und Zumutung für das Subjekt, sie fordern dem kulturell komplexen Selbst psychisch und sozial vieles ab. Personale Identität und interkulturelle Kompetenz sind stets vorläufige Resultate einer massenhaften Anpassungsleistung an höchst dynamische Strukturen der modernen Welt. Sie sind ein wichtiger Ausdruck davon, dass Differenzierung nicht nur ein zu wachsender Komplexität führendes Prinzip der Gesellschaftsentwicklung, sondern uno actu auch ein Prinzip des Strukturwandels des Selbst zahlloser Menschen ist. Kulturell komplexe Personen leben in ihrer inneren und äußeren Welt zwischen den Kulturen sowie im unaufhörlichen Übergang von einer (wandlungsanfälligen) Kultur zur anderen. Der ›externen‹ Differenzierung der Gesellschaft (in relativ autonome Funktionsbereiche, etc.) entspricht eine ›interne‹ Differenzierung der menschlichen Seele und des Selbst. Kontingenz- und Komplexitätssteigerungen sind wesentliche Kennzeichen beider eng miteinander verflochtenen Vorgänge. Sie sind als mühsamer, sukzessiver und keineswegs irreversibler Wandel von der Totalität hin zur Identität gut auf den Begriff gebracht. Abgeschlossen ist dieser Wandel nicht. Er ist vielmehr noch immer in vollem Gang, bezieht seit ein paar Jahrzehnten beide Geschlechter gleichermaßen ein und umfasst eine immer breiter werdende Schicht der Bevölkerungen moderner Gesellschaften. Er gehört zu den Phänomenen, denen wir eine longue durée attestieren müssen.

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»Psicología del mexicano« Zu einer prominenten indigen-psychologischen Form der Gegenwartsdiagnostik und einer möglichen Alternative zu ihr C ARLOS K ÖLBL »Armes Mexiko, so weit von Gott und so nah bei den USA!« EIN DEM MEXIKANISCHEN DIKTATOR PORFIRIO DÍAZ ZUGESCHRIEBENER AUSSPRUCH ZU BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS »Es ist eher so, dass ich versuche, das zu tun, was Octavio Paz beansprucht, nur eben wissenschaftlich.« ROGELIO DÍAZ-GUERRERO 2003 IN EINEM

INTERVIEW MIT CÉSAR A.

CARRASCOZA VENEGAS

1. E INLEITUNG Die Kategorie der Kultur hat in der Geschichte der Psychologie seit ihrer Institutionalisierung als Wissenschaft eine Rolle gespielt – mal mehr, mal weniger, zumeist eher weniger. Erinnert sei lediglich daran, dass Klassiker der Disziplin zumindest einen Teil ihrer Bemühungen dem durchaus heterogenen Projekt einer – wie heute gesagt würde –

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Kultur inkludierenden oder Kultur integrierenden Psychologie gewidmet haben. Zu ihnen zählen etwa Moritz Lazarus, Heymann Steinthal und Wilhelm Wundt, George H. Mead, Sigmund Freud, Frederic C. Bartlett, Eduard Spranger, Lev S. Vygotskij, Aleksei N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija, (Cole 1998; Straub 2007; zur Geschichte einer Kultur inkludierenden Psychologie vor ihrer Institutionalisierung als universitär betriebener Wissenschaft s. Chakkarath 2003). In jüngerer Zeit haben sich unterschiedliche Spielarten einer Kultur inkludierenden Psychologie verstärkt zu Wort gemeldet. Es ist üblich geworden, drei dieser Spielarten besonders hervorzuheben: Kulturvergleichende Psychologie, Kulturpsychologie und indigene Psychologie(n) (Boesch/ Straub 2007; Greenfield 2000; Kim 2000; Ratner 2008). Am ehesten lassen sich noch die kulturvergleichende und die Kulturpsychologie idealtypisch voneinander unterscheiden. Als eine Trennlinie gelten etwa die unterschiedlichen methodologisch-methodischen Herangehensweisen. Während – sehr schematisch gesprochen – die kulturvergleichende Psychologie stärker dem Ideal der Psychologie als Naturwissenschaft, damit in ihrer Empirie der Logik des Experiments verpflichtet ist, ist das Selbstverständnis der Kulturpsychologie eines der Psychologie als interpretativer Kulturwissenschaft, in deren Zentrum rekonstruktive Sinn- und Bedeutungsanalysen stehen. Solche und andere Trennlinien werden immer wieder kritisiert und relativiert und in neueren Auseinandersetzungen um die Kategorie der Kultur in der Psychologie wird zu Recht auf die Komplexität der einschlägigen epistemologischen Verhältnisse hingewiesen (Greenfield 1997). Dennoch mag eine Differenz wie die angedeutete zumindest als eine akzentuierende zur Orientierung in einem heterogenen wissenschaftlichen Feld hilfreich sein. Das Projekt der indigenen Psychologie(n) (Allwood/ Berry 2006; Kim/Yang/Hwang 2006) schließlich ist in einem an Heterogenität ohnehin nicht armen Bereich die Königin des Heterogenen, und es ist bisweilen durchaus nicht klar, was sie genau von der kulturvergleichenden oder der Kulturpsychologie unterscheidet, was ihr Proprium ist, was sie zusammenhält. Eine verbindende Klammer scheint noch am ehesten darin zu bestehen, der »westlichen« Psychologie kritisch gegenüberzustehen, ihre Theorien, Methoden und Befunde nicht ungeprüft (falls überhaupt) zu übernehmen und an eigenen, eben indigenen, Psychologien zu arbeiten, die zur Beschreibung und Erklärung psychischer Tatbestände nebst korrespondierenden Interventionsmöglichkeiten bei Angehörigen »nicht-westlicher« Gesell-

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schaften geeigneter seien. (»Erklärung«, »Beschreibung«, »Interventionsmöglichkeiten« sind selbst natürlich wiederum keine »unschuldigen« Konzepte, die im Rahmen – mancher – indigener Psychologien ohne weiteres verwendet würden.) Dabei werden nicht zuletzt einschlägige Bestände aus der eigenen Geistesgeschichte rekonstruiert und ins Spiel gebracht. Das wohl bekannteste indigen-psychologische Beispiel dürfte »Amae« (Doi 1982) sein. »Amae« wird häufig als »Freiheit in Geborgenheit« übersetzt und soll für die Mutter-KindBindung in Japan wesentlich sein. Soziale Bindung und individuelle Autonomie sollen hier keine unvereinbaren Gegensätze darstellen, wie dies in prominenten Konzepten der »westlichen« Psychologie der Fall ist. Nicht zuletzt die Prämissen der Bindungsforschung und die von ihr postulierten Bindungstypen werden auf der Grundlage des AmaeKonzepts einer differenzierten Kritik unterzogen (s. z.B. Yamaguchi/Ariizumi 2006). Soll auch die Psychologie als Wissenschaft vor dem Hintergrund von Prozessen, die mit solchen Stichworten wie »Globalisierung« und »Migration« nur unzulänglich bezeichnet sind, nicht bloß ein ethnozentrisches und damit provinzielles Unterfangen sein, muss gerade auch indigenen Psychologien besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dies soll im Folgenden im Hinblick auf ein Fallbeispiel geschehen, nämlich Rogelio Díaz-Guerrero’s »Psychologie des Mexikaners« (1994), auch deshalb, weil die »Psychologie des Mexikaners« zu einer Standardzitation im Kontext einer Kultur inkludierenden, speziell der indigenen Psychologie geworden ist (pars pro toto s. Sinha 1997: 145). 1 Die Diskussion grundlegender konzeptueller, methodischer und empirischer Konstituenten der »Psychologie des Mexikaners« sensu Díaz-Guerrero sowie ihres Kontextes wird allerdings zeigen – so viel kann bereits an dieser Stelle vorweggenommen werden –, dass dieses Projekt nicht in jeder Hinsicht als gelungen betrachtet werden kann und seine Prominenz selbst erklärungsbedürftig ist. In einem zweiten Schritt wird sodann die Frage aufgeworfen, inwiefern »Das Labyrinth der Einsamkeit« (Paz 1998), der berühmte Essay des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz, als fruchtbare Alternative zu

1

Die Prominenz des Ansatzes wird auch durch Beiträge von Díaz-Guerrero selbst und seinem Sohn, der ebenfalls Psychologe ist, in einschlägigen Sammelbänden zur indigenen Psychologie dokumentiert (Díaz-Guerrero 1993; Díaz-Loving 2006).

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Díaz-Guerrero gelesen werden kann. Beiden Arbeiten geht es um die Analyse der »mexikanischen Identität« im Zeichen einer globalisierten Moderne. Dies macht sie unweigerlich zu Gegenwartsdiagnosen, ist doch die anhaltende Gegenwart einer wie auch immer näher bestimmten »globalisierten Moderne« (oder auch: Post- bzw. Spätmoderne) kaum zu bestreiten und dürften Analysen von Identität im soziohistorischen Kontext allemal etwas über den Zustand dieser Gegenwart verraten, mithin diagnostisch aufschlussreich sein. Die Frage oder gar die »Suche« nach Identität dürfte für kultursensitive Psychologien im Übrigen geradezu ein konstitutives Element darstellen.

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Das Bemühen um eine – in einem weiten Sinne verstandene – »Psychologie des Mexikaners« ist keines, das erst Rogelio Díaz-Guerrero angestoßen hätte. Vielmehr findet man eine ganze Reihe von Arbeiten mexikanischer Autoren, die sich vor dem Hintergrund recht unterschiedlicher politischer und normativer Prämissen und Zielsetzungen sowie wissenschaftlicher oder literarischer Ambitionen solch einem Bemühen verpflichtet fühlen. Dabei ist unverkennbar, dass das Projekt einer »Psychologie des Mexikaners« eines ist, das im Zeichen nationaler Selbstverständigung bzw. Selbstvergewisserung steht. Díaz-Guerreros Arbeiten werden – wie beispielsweise auch John Berrys (1974) »kanadische Psychologie« – im Übrigen auch den »nationalen Psychologien« zugerechnet. In den Umkreis einer »Psychologie des Mexikaners« gehören etwa Ezequiel Chávez’ (1901) Abhandlung über spezifische Persönlichkeitsmerkmale des »mexikanischen Charakters«, José Vasconcelos’ 2 (1925) Entwurf zu einer »kosmischen Rasse«, Samuel Ramos’ (1934) Studie zu einer kollektiven mexikanischen Identität sowie der weiter unten noch ausführlicher zu besprechende, 1950 erstmals erschienene Essay »Das Labyrinth der Einsamkeit« von Octavio Paz (1998). In der im engeren Sinne akademisch betriebenen

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José Vasconcelos hatte gerade auch in seiner Funktion als erster Erziehungsminister nach der Revolution (1910-1920) großen Einfluss auf das kulturelle und politische Leben Mexikos. So förderte er die Muralisten Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco, initiierte Alphabetisierungskampagnen und gründete einige größere Bibliotheken.

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Psychologie haben einzig die Arbeiten von Díaz-Guerrero größere Aufmerksamkeit gefunden, die anderen erwähnten Bemühungen werden – nicht zuletzt aufgrund der von Díaz-Guerrero selbst favorisierten Lesart – nicht wahrgenommen, als spekulativ zurückgewiesen oder als – gewissermaßen vorwissenschaftliche – erste Schritte auf dem Weg zu einer tatsächlich wissenschaftlich-psychologischen Beschäftigung mit dem Themenkomplex eingestuft bzw. disqualifiziert. Am ehesten gilt noch die Arbeit von Ramos als diskussionswürdig, beruhen doch seine streckenweise an Alfred Adler orientierten Ausführungen zum »mexikanischen Minderwertigkeitskomplex« zumindest teilweise auf den Resultaten von Feldforschung in ländlichen Gebieten Mexikos. Gründe für die Prominenz von Díaz-Guerrero werden schon bei einem raschen und selektiven Blick auf seine wissenschaftliche Biografie leicht ersichtlich. 2.1 Rogelio Díaz-Guerrero: Biografische Notizen 3 Rogelio Díaz-Guerrero (1918-2004) studiert zunächst ab 1937 Medizin an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) in Mexiko-Stadt, wenig später nimmt er dort auch – als ein entsprechendes Angebot an der UNAM etabliert wird – das Studium der Psychologie auf. Dort lehren Ezequiel Chávez sowie Enrique O. Aragón. Einflussreich sind auch die Philosophen Samuel Ramos und Antonio Caso sowie spanische Emigranten, die das Denken José Ortega y Gassets und die deutsche Psychologie, speziell die Gestaltpsychologie, in Mexiko bekannt machen. Von 1943 bis 1947 studiert Díaz-Guerrero dank eines Stipendiums Psychologie an der State University of Iowa. Zu seinen Lehrern dort gehören Robert Sears und Kurt Lewin. Auf den letztgenannten wird sich Díaz-Guerrero – in dieser Hinsicht Ernst E. Boesch ähnlich (z.B. Boesch 1997) – später beziehen, um zu erklären, weshalb die Kategorie der Kultur für seine psychologische Arbeit bedeutsam geworden sei. Nach seiner Rückkehr arbeitet er an der UNAM, wo ihm an der Etablierung der Experimentalpsychologie, der Lernpsychologie und der statistischen Methodenlehre gelegen ist. Von Beginn an bietet er auch Veranstaltungen zu dem Thema einer »Psy-

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Informationen zur Biografie können etwa den folgenden Texten entnommen werden: Carrascoza Venegas (2003), Díaz-Guerrero (2002) sowie Díaz-Loving/Adair (2005).

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chologie des Mexikaners« an. 1951 wird er zu einem der Mitbegründer der Sociedad Interamericana de Psicología (SIP). Im Jahr 1952 erscheinen erste Veröffentlichungen von ihm zu zentralen soziokulturellen Überzeugungen der Mexikaner. 1953 findet der zweite Kongress der SIP in Mexiko statt. Aus demselben Jahr datiert auch der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit Wayne Holtzmann, der insbesondere durch eine Adaptation des Rorschach-Tests bekannt geworden ist. Die Zusammenarbeit besteht insbesondere aus einer kulturvergleichenden Längsschnittstudie zur Entwicklung US-amerikanischer und mexikanischer Kinder und Jugendlicher (Holtzmann/DíazGuerrero/Swartz 1975) 4 sowie der Organisation eines Austauschprogramms mit der University of Texas in Austin. Díaz-Guerrero legt zumeist in Kooperation mit US-amerikanischen Kollegen auch später noch immer wieder kulturvergleichende Untersuchungen vor, die sich auf vergleichende Analysen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten beziehen (z.B. Díaz-Guerrero/Szalay 1991). Ende der 1960er Jahre erscheint seine »Psicología del mexicano« (Díaz-Guerrero 1994; englisch: Díaz-Guerrero 1975; s.a. Díaz-Guerrero 1977), in der das Konzept der »Historisch-soziokulturellen Prämissen« expliziert wird und eine der wesentlichen Grundlagen für eine »Ethnopsychologie des Mexikaners« darstellt. Diese Ethnopsychologie oder indigene Psychologie wird Díaz-Guerrero im weiteren Verlauf seiner wissenschaftlichen Arbeit, insbesondere in empirischer Hinsicht, immer weiter ausbauen, das Buch »Psychologie des Mexikaners« wird immer wieder neu aufgelegt, ergänzt und modifiziert; meinen Ausführungen liegt die sechste Auflage von 1994 zugrunde, die auch die bislang letzte ist. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere werden Díaz-Guerrero einige Ehrungen zuteil, darunter die Ehrendoktorwürde der »Universidad Nacional Mayor de San Marcos« (Peru) und die Ehrenmitgliedschaft der »International Association for Cross-Cultural Psychology«. Rogelio Díaz-Guerrero ist 2004 verstorben. Sein Ansatz wird von seinem Sohn Rolando Díaz-Loving weitergeführt.

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Eine Sammelrezension, in der auch diese Arbeit besprochen wird, hat Thomae (1979) vorgelegt.

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2.2 Eine kurze Geschichte der indigenen Psychologie in Mexiko Im Folgenden wird zur weiteren Kontextualisierung lediglich eine (sehr) kurze Geschichte der indigenen Psychologie in Mexiko nachgezeichnet (Díaz-Guerrero 1994: 327-367). Eine ausführliche Geschichtsschreibung in diesem Feld, die möglicherweise auch noch auf von Díaz-Guerrero bzw. Díaz-Loving nicht bedachte oder ausgeklammerte Entwicklungslinien einginge, scheint mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ein Desiderat zu sein. Díaz-Guerrero benennt eine Reihe systematischer »Vorläufer« bzw. »Inspirationsquellen« und unterscheidet zwischen drei Etappen in der Geschichte der indigenen Psychologie in Mexiko. Zu den Vorläufern bzw. Inspirationsquellen zählt er die folgenden: •





Prominente kulturanthropologische Arbeiten wie die von Edward Tyler, Edward Sapir oder Bronislaw Malinowski – solche Autoren werden in der mexikanischen Psychologie der 1950er Jahre breit rezipiert und sind wohl für jede Form einer Kultur inkludierenden Psychologie von Bedeutung. Die Betonung der historischen, biologischen, sozialen und kulturellen Verfasstheit des Psychischen; bereits zu Beginn der 1970er Jahre wird die Bedeutung der Kultur für die Konstitution des Psychischen mindestens in programmatischer Absicht betont: »Der Rahmen und der fundamentale Motor des menschlichen Verhaltens ist die Kultur« (Díaz-Guerrero 1972: 65). Die Perspektive des »mestizischen Amerikas«; 1983 veröffentlicht der mexikanisch-amerikanische Psychologe Manuel Ramírez III das Buch »Psychology of the Americas. Mestizo Perspectives on Personality and Mental Health« (Ramírez III 1983), in dem er Unterschiede zwischen einem europäisch-nordamerikanischen und einem »mestizisch-amerikanischen«-Stil, Psychologie als Wissenschaft zu betreiben, postuliert. Zu solchen Unterschieden gehört laut Ramírez etwa ein distanziertes, objektives Vorgehen versus ein engagiertes, parteiliches Vorgehen. Ramírez interessiert sich gerade auch für eine amerikanisch-mestizische Identität im Allgemeinen und eine mexikanische Identität im Besonderen. Dieses Interesse wird insbesondere von Octavio Paz’ Essay »Das Labyrinth der Einsamkeit« (Paz 1998) angestoßen.

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Operationalismus, multivariate Verfahren; zu einem echten Durchbruch gelangt eine wissenschaftliche indigene mexikanische Psychologie aber erst – so ihr Hauptprotagonist Díaz-Guerrero – durch die Anwendung des Operationalismus und die Nutzung multivariater statistischer Verfahren, die jenseits philosophischer und literarischer »Spekulationen« gesicherte empirische Erkenntnisse versprechen. Kulturvergleichende Psychologie; in eben diesem Zusammenhang kommt der immer stärker werdenden kulturvergleichenden Psychologie große Bedeutung zu, die nicht zuletzt auch eine Bewegung ist, die durch Wissenschaftler aus den sog. »DrittWeltstaaten« gebildet wird. Die kulturvergleichende Psychologie bringt – in wie auch immer zu kritisierender Art und Weise – die Kategorie des Kulturellen wieder auf die Tagesordnung der Psychologie als Wissenschaft und damit werden auch indigenpsychologische Bemühungen legitim oder zumindest interessant.

Neben oder quer zu diesen Vorläufern oder Inspirationsquellen lässt sich auch eine drei Etappen umfassende Entwicklung der indigenen mexikanischen Psychologie ausmachen. 1. Die Versuchspersonen sind Mexikaner 2. Bemühungen um die Konstruktion kulturadäquater Instrumente 3. Erfassung »Historisch-soziokultureller Prämissen« Zur ersten Etappe »Die Versuchspersonen sind Mexikaner«: In den 1950er Jahren wird in Mexiko eine Reihe von Untersuchungen experimenteller bzw. quasiexperimenteller Art durchgeführt, die Resultate der nordamerikanischen Psychologie replizieren sollen. Das gelingt oftmals nicht, ohne dass allerdings reflektiert würde, dass die Replikation möglicherweise deshalb nicht gelungen ist, weil die Versuchspersonen eben Mexikaner und nicht US-Amerikaner waren. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang betrifft eine Untersuchung, in der der »persönliche Raum« untersucht wurde. In solchen Untersuchungen zeigte sich immer wieder, dass Versuchspersonen, deren persönlicher Raum (etwa 30 cm außerhalb der eigenen Körpergrenzen) von einer fremden Person verletzt wurde, indem sie sich »zu nah« zur Versuchsperson setzte oder dergleichen, die Situation als unangenehm empfanden und schnell verließen. In einer Replikationsstudie in Mexiko-Stadt zeigte

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sich dies nun keineswegs. So bemühten sich einige Versuchspersonen beispielsweise, ein Gespräch mit dem Konföderierten des Versuchsleiters zu beginnen. Die Konföderierten selbst sahen sich dann auch aus Gründen der Höflichkeit gezwungen, auf das Gesprächsangebot einzugehen, und das, obwohl sie vom Versuchsleiter explizit angewiesen worden waren, keinesfalls in ein Gespräch mit den Versuchspersonen zu treten. Edward T. Hall bemerkt in seinem Buch »The silent language« (Hall 1959: 164), dass sich Menschen in Lateinamerika nicht miteinander unterhalten könnten, wenn sie nicht dicht beieinander seien. Als Konsequenz dächten sie von »uns« (den Nordamerikanern), dass wir kalt oder distanziert seien, »wir« dagegen hätten ständig den Eindruck, dass sie uns mit ihrem Atem oder ihrer Spucke belästigen würden. Erst nach und nach begannen mexikanische Psychologen solche Replikationsstudien unter Verweis auf kulturspezifische Erlebens- und Verhaltensweisen zu interpretieren. Zur zweiten Etappe »Bemühungen um die Konstruktion kulturadäquater Instrumente«: Eine ganz ähnliche Entwicklung zeigte sich, als psychometrische Instrumente US-amerikanischer Provenienz übersetzt werden sollten. Dauernd traten »Anomalien« dergestalt auf, dass eine bestimmte, vom US-amerikanischen Instrument vorgesehene, faktorielle Struktur nicht gefunden werden konnte. Das führte dazu, dass mexikanische Autoren eine Modifikation der US-amerikanischen Instrumente vornehmen mussten, indem sie etwa einen zusätzlichen Faktor postulierten. In der Folge führte dies auch dazu, von vornherein eigene psychometrische Instrumente zu entwickeln und nicht mehr nur zu »importieren«. Zur dritten Etappe »Erfassung ›Historisch-soziokultureller Prämissen‹«: Ein solches Instrument stellt ein Fragebogen von Díaz-Guerrero zur Erfassung »Historisch-soziokultureller Prämissen« dar. Dieses Instrument – auf das ich im nächsten Abschnitt näher eingehen werde – wurde in Dutzenden von Fragebogenuntersuchungen in Mexiko und in kulturvergleichenden Untersuchungen (Mexiko-USA) eingesetzt, um zu einer »Psychologie des Mexikaners«, einer indigenen mexikanischen Psychologie, beizutragen. Was sind die wesentlichen Anliegen solch einer indigenen mexikanischen Psychologie sensu DíazGuerrero? Dazu lassen sich vier nicht trennscharfe Punkte auflisten (Díaz-Guerrero 1994: 346 f.): Die indigene mexikanische Psychologie soll 1. zur Analyse indigener Überzeugungssysteme, 2. zur Indigeni-

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sierung aller psychischen Funktionsbereiche und Teildisziplinen der Psychologie, 3. zur Prüfung der Anwendbarkeit der »westlichen« Psychologie auf mexikanische Verhältnisse und 4. zur Prüfung universeller psychischer Gesetzmäßigkeiten beitragen. 2.3 Konzept, Methodik und Empirie der »Historischsoziokulturellen Prämissen« Mit im Zentrum der »Psychologie des Mexikaners« steht das schon erwähnte Konzept der »Historisch-soziokulturellen Prämissen« (HSP). 5 Was wird darunter verstanden? Es sollen zwei Grundvoraussetzungen gelten: Von HSP soll dann gesprochen werden, wenn man eine hohe Zustimmung zu kulturell bedeutsamen Werten, Normen und Überzeugungen registrieren kann und wenn diese Zustimmung im Kulturvergleich deutlich variiert (ebd.: 336 f.). Ferner werden von Díaz-Guerrero Postulate bzw. weitere Voraussetzungen formuliert, um mit den HSP wissenschaftlich operieren zu können. Zu ihnen gehören (ebd.: 337 ff.): Kulturelle Aspekte müssen messbar sein; Kultur umfasst verbale Zustimmungen zu bestimmten Werten, Normen, Überzeugungen und dergleichen, aber auch strukturelle Entitäten (z.B. Institutionen); die HSP zeichnen sich dadurch aus, dass sie a) von der Mehrheit der Mitglieder einer Kultur unterstützt werden, b) eine gewisse Stabilität aufweisen, c) signifikante und interpretierbare Korrelationen mit Alter, Bildungsgrad, Geschlecht und sozioökonomischem Hintergrund der Mitglieder einer Kultur aufweisen; die HSP müssen mit zentralen psychosozialen Variablen korrelieren; die Korrelate müssen interpretierbar sein; die HSP müssen intra- und interkulturelle Varianz aufweisen, diese Varianz muss ebenfalls interpretierbar sein.

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Die »Psychologie des Mexikaners« von Díaz-Guerrero wird im Folgenden allein unter dieser für das gesamte Unterfangen zentralen Perspektive diskutiert. Das heißt nicht, dass diese Perspektive die einzige wäre, die in der erörterten Publikation eine Rolle spielen würde. Solche Konzepte wie das der »Kultur-Gegenkultur« oder das der »Selbstverleugnung«, die dort ebenfalls verhandelt werden (und anderes mehr), bleiben aber unberücksichtigt, da in der vorliegenden Arbeit keine umfassende Besprechung anvisiert wird, sondern die Herausarbeitung und Kritik einer der tragenden Säulen (vielleicht der tragenden Säule überhaupt) der indigenen mexikanischen Psychologie sensu Díaz-Guerrero.

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HSP werden mit einem Fragebogen erfasst, dessen dreizehn Skalen faktorenanalytisch gewonnen wurden (ebd.: 261-269 sowie 338 ff.). Die Skalen enthalten Items zu solchen Themenkomplexen wie etwa Machismo, Jungfräulichkeit, Ehre der Familie, Gehorsam und kulturelle Rigidität. Hier drei exemplarische Items: »Eine Frau muss bis zur Eheschließung Jungfrau sein.«; »Ein Kind muss immer seinen Eltern gehorchen.«; »Eine Frau, die Ehebruch begangen hat, verletzt die Ehre der Familie.«. Mit diesem Fragebogen wurden – ich sagte es bereits – zahlreiche Untersuchungen durchgeführt. Ich gehe nur kurz auf drei von ihnen ein, die nicht zuletzt der Validierung des Fragebogens dienen sollten. So oder so ähnlich sind auch andere Untersuchungen mit den HSP aufgebaut. Beispiel eins (ebd.: 341): HSP, Alter und Intelligenz: Als Instrumente werden der HSP-Fragebogen eingesetzt sowie der Raven- und der Wechsler-Test. Die Stichprobe besteht aus Schülerinnen und Schülern im Alter von 12 bis 18 Jahren des Bundesstaates Yucatán (N = 224) sowie aus Mexiko-Stadt (N = 144). Es zeigt sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen HSP und Intelligenz, wohl aber mit dem Alter: Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, umso geringer ist ihre Zustimmung zu den HSP, umso weniger »traditionalistisch« ist ihre Einstellung. Beispiel zwei (ebd.: 343): HSP, Geburtsort, Bildungsgrad und sozioökonomischer Status: Neben dem Einsatz des HSP-Fragebogens werden eine Reihe demografischer Daten erhoben. Die Stichprobe besteht aus 60 mexikanischen und 60 US-amerikanisch-mexikanischen Müttern. Es zeigt sich, dass bei den US-amerikanisch-mexikanischen Müttern die Zustimmung zu den HSP geringer ist als bei den mexikanischen Müttern. Darüber hinaus zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen HSP und Bildungsgrad sowie sozioökonomischem Status und zwar dergestalt: Je höher der Bildungsgrad umso geringer die Zustimmung zu den HSP und je höher der sozioökonomische Status umso geringer die Zustimmung zu den HSP. Beispiel drei (ebd.: 345): HSP und politische Einstellung: Auch hier wird selbstverständlich wieder der HSP-Fragebogen eingesetzt, außerdem die Parteizugehörigkeit erhoben. Bei der Stichprobe handelt es sich um eine große Zufallsstichprobe in Mexiko-Stadt. Es zeigt sich, dass Mitglieder linksgerichteter Parteien die geringste Zustimmung zu den HSP, Mitglieder rechtsgerichteter Parteien die größte Zustimmung

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zu den HSP und Mitglieder des PRI 6 eine mittlere Zustimmung zu den HSP aufweisen. Wie werden diese – und andere ähnlich lautende – Befunde von Díaz-Guerrero interpretiert? Die generelle Stoßrichtung seiner Interpretation lässt sich in einem schlichten Satz zusammenfassen: Im Prozess der Modernisierung schwindet die Bindekraft der HSP. 2.4 Kritik Eine solche Interpretation der empirischen Befunde, wie ich sie in der obigen Zuspitzung versucht habe zusammenzufassen, zeigt eines der Hauptprobleme der »Psychologie des Mexikaners« schon an: Über kurz oder lang dürfte eine indigene mexikanische Psychologie wie sie Díaz-Guerrero vertritt vollkommen überflüssig werden – einfach weil sich ihr Forschungsgegenstand auflöst. Oder etwas anders gewendet: Wenn der Prozess der Modernisierung Mexiko komplett verwandelt hat – wovon Díaz-Guerrero auszugehen scheint –, gibt es keine Zustimmung mehr zu den HSP, folglich braucht man auch keine Untersuchungen mehr mit diesem Instrument zu machen. Und wenn das Konzept der HSP den Kern der indigenen mexikanischen Psychologie ausmacht, braucht man über kurz oder lang auch diese nicht mehr. Dieses Problem ist mit einer Reihe zusammenhängender Schwierigkeiten assoziiert. Zu diesen Schwierigkeiten gehört, dass Díaz-Guerrero den Kulturbegriff auf Ethnie oder Nation verengt – Kultur wird bei diesem Autor nahezu umstandslos mit Nationalkultur identifiziert. Eine ungünstige Verengung des Kulturbegriffs kann man außerdem darin sehen, dass der Autor der »Psychologie des Mexikaners« Kultur auf »Traditionalismen« reduziert; in den Items des Fragebogens zur Erfassung der HSP wird dies ganz offenkundig. Auch drängt sich immer wieder der Eindruck einer überaus starken Vereinfachung und Homogenisierung kultureller Phänomene auf – so, als gäbe es tatsächlich so

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Der PRI (Partido Revolucionario Institucional) war in Mexiko bis zum Jahr 2000 diejenige politische Partei, die über Jahrzehnte hinweg (länger als dies selbst die KPdSU vermocht hat) die Regierung und den Präsidenten stellte und dies nach einer Unterbrechung von zwei Amtszeiten seit 2012 wieder tut. Im PRI war stets ein breites Spektrum an politischen Richtungen vertreten, weshalb der oben referierte empirische Befund nicht verwunderlich ist.

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etwas wie eine relativ eindimensionale »Psychologie des Mexikaners« und so, als sei Mexiko nicht ein reichlich komplexes und heterogenes Gebilde. Schließlich kann man noch darauf hinweisen, dass der bloße Fokus auf Einstellungen und Überzeugungen, wie sie durch den Fragebogen zur Erfassung der HSP zu messen versucht werden, allenfalls eine »halbierte« indigene Psychologie hervorbringt, die durch die Analyse kultureller Praktiken ergänzt werden müsste. Wenn die eben skizzierte Kritik zutrifft, ist das ein einigermaßen enttäuschendes Ergebnis der Diskussion eines der prominenten indigen-psychologischen Ansätze unserer Tage, und das inhaltliche Interesse hieran verschiebt sich hin zu der Frage danach, wie es eigentlich zu der großen Berühmtheit des Ansatzes kommen konnte. Sehr schwierig dürfte diese Frage allerdings nicht zu beantworten sein und man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man die Antwort an den berühmten Ausspruch, der diesem Text vorangestellt ist (»Armes Mexiko, so weit von Gott und so nah bei den USA!«), koppelt. Rogelio Díaz-Guerrero gehört wie auch andere bekannte Protagonisten der »indigenen Bewegung« in der Psychologie zu denjenigen Wissenschaftlern, die zumindest zum Teil in US-amerikanischen Universitäten oder Forschungseinrichtungen wissenschaftlich sozialisiert wurden und danach in ihren »Heimatländern« das, was sie in den USA gelernt hatten, in der Forschung anwandten und in der Lehre weitergaben. Damit konnten diese Wissenschaftler für US-amerikanische Kollegen leichter zu Gesprächspartnern werden als andere Kollegen, die diese Sozialisationserfahrungen nicht gemacht hatten. Im Falle von DíazGuerrero ist auch leicht ersichtlich, dass der Zuschnitt seiner Arbeit ohne große Probleme von der Mainstream-Psychologie assimiliert werden kann. Außerdem ist für US-amerikanische Psychologen, die kulturvergleichende Untersuchungen durchführen wollen, Mexiko als unmittelbarer, aber kulturell »exotischerer« Nachbar als Kanada, wohl auch aus ganz pragmatischen Gründen attraktiv und mexikanische Wissenschaftler, die – im engeren und im weiteren Sinne – die gleiche Sprache sprechen und mit denen man in solchen Projekten kooperieren kann, allemal. Ist das alles, was sich zu einer indigenen mexikanischen Psychologie sagen lässt? Sicher nicht. Um mehr und Gehaltvolleres zutage zu fördern, müsste man – ich deutete es weiter oben an – eine Geschichtsschreibung forcieren, die eine systematische Rekonstruktion indigenpsychologischer Einsichten auch jenseits der »Díaz-Guerrero-Linie« in

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Angriff nimmt. Dabei wäre es von besonderem Interesse, auch solche Arbeiten einzubeziehen, die der Sache nach (auch) psychologische Analysen enthalten, aber nicht im engen disziplinären Sinne der Psychologie als universitär verankerter Wissenschaft zugehören. Zumindest skizzenhaft sei dies für eine der Arbeiten, die Díaz-Guerrero in den Vorhof »echter« Wissenschaft bannt – »Das Labyrinth der Einsamkeit« – im Folgenden versucht. 7

3. O CTAVIO P AZ

ALS

ALTERNATIVE ?

»Das Labyrinth der Einsamkeit« ist ein vielschichtiger Essay des Schriftstellers Octavio Paz, der ansonsten – auch in Deutschland – gerade auch durch seine lyrischen Texte bekannt geworden ist. Dieser mittlerweile klassische Essay rekurriert und präsentiert selbst philosophische, ästhetische, anthropologische, soziologische, politische, historische und psychologische Analysen. Von Habermas (1990: 37) als »Parteigänger der Moderne« »geadelt« hat Paz dennoch in der sozialund kulturwissenschaftlichen Diskussion im deutschsprachigen und im angloamerikanischen Raum keine allzu große Beachtung gefunden. Das liegt wohl daran, dass er in der »scientific community« nicht als »peer« gilt, der mit disziplinspezifischen Methoden arbeitet und zu (leicht) »anschlussfähigen« Ergebnissen gelangt (Kozlarek 2009a). Neuerdings gibt es allerdings verstärkt Bemühungen, das Werk von Paz für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungszusammenhänge auch außerhalb der hispanoamerikanischen Diskussion aufzuschließen. Von besonderem Interesse ist hier ein vor wenigen Jahren erschienener Sammelband (Kozlarek 2009b), in dem das Œuvre von Paz im Verhältnis zu Sozialwissenschaften und Philosophie im Allgemeinen und zu Kritischer Theorie und Ästhetik im Besonderen diskutiert wird (für Grundzüge einer Sozialtheorie, die von Paz inspiriert ist, s. ders. 2011). Dabei wird – um nur den Fokus auf »Das Labyrinth der

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Meinen Ausführungen liegt die 7. Auflage von 1969 zugrunde, die von Paz durchgesehen und erweitert wurde. Das zehnte Kapitel »Gesellschafts- und Opferpyramiden«, das der Autor eigens für die deutschsprachige Ausgabe geschrieben hat, bleibt im Folgenden unberücksichtigt. Die von Enrico Mario Santí besorgte spanischsprachige Ausgabe (Paz 1993) dürfte im Hinblick auf philologisch-kritische Sorgfalt wohl die wertvollste sein.

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Einsamkeit« zu legen – etwa der Einfluss Georg Simmels (CapetilloPonce 2009) und der Freud’schen Psychoanalyse (Gallo 2009), insbesondere über die Schrift »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (Freud 1939) vermittelt, oder die Bedeutung des »Collège de Sociologie« (Kozlarek 2009c) auf diesen Essay herausgearbeitet. Eine Lektüre von Paz (auch) als Psychologen (jenseits der Psychoanalyse) findet man aber nicht. 3.1 Octavio Paz: Biografische Notizen 8 Octavio Paz (1914-1998) beginnt früh zu schreiben und gründet bereits mit 17 Jahren eine Literaturzeitschrift. Er studiert Jura und Philosophie in Mexiko-Stadt, verlässt die Universität aber ohne Examen im Alter von 22 Jahren und arbeitet zunächst als Lehrer an einer Sekundarschule für Arbeiter- und Bauernkinder in Yucatán. 1937 reist er zu einem Schriftstellerkongress nach Spanien und kehrt 1938 über Paris nach Mexiko zurück. In dieser Zeit gründet er die Literaturzeitschrift »Taller« (Werkstatt). Die »spanische Erfahrung« ist in politischer wie literarischer Hinsicht für Paz bedeutsam: Er lernt dort eine Reihe anderer Autoren kennen, wie etwa Antonio Machado 9 und Pablo Neruda, und erlebt den spanischen Bürgerkrieg aus nächster Nähe. Letzteres erschüttert insofern seine politischen Überzeugungen, die bis dahin

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Informationen zur Biografie können etwa den folgenden Texten entnommen werden: Paz (1996), Grenier (2009), Heupel (1998) und Ruy-Sánchez (1990).

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Von Antonio Machado (2005 [Orig. 1936]) stammt auch das Zitat, das Paz dem »Labyrinth der Einsamkeit« voranstellt. Diesem Zitat ist die Nähe des Autors, der auch Philosophie studiert hat, zur Phänomenologie deutlich anzusehen: »Das ›Andere‹ gibt es nicht: so lehrt der ›vernunftgemäße Glaube‹, die unheilbare Überzeugung menschlicher Vernunft. Identität = Realität, als ob am Ende mit absoluter Notwendigkeit alles ›ein und dasselbe‹ sein müsste. Aber das ›Andere‹ läßt sich nicht aus der Welt schaffen: es besteht beharrlich fort, es ist der harte Knochen, an dem die Vernunft sich die Zähne ausbeißt. – Abel Martín glaubte, kraft seines ›dichterischen Glaubens‹, der nicht weniger menschlich als der ›vernunftgemäße‹ ist, an das ›Andere‹, an die wesentliche Heterogenität des Seins, mit anderen Worten, an die unheilbare ›Andersheit‹, der das ›Eine‹ unterworfen ist«.

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stark sozialistisch waren und der Idee der Weltrevolution anhingen, als er das Vorgehen innerhalb der Linken, speziell die Exekution von »Dissidenten«, wahrnimmt und ablehnt. In der Folgezeit, vor allem ab 1959, kritisiert er den Sozialismus sowjetischer Provenienz immer wieder, was auch die Kritik am kubanischen Kommunismus einschließt – beides nicht gerade dazu angetan, mit einem Großteil der lateinamerikanischen Intellektuellen in den 1960er und 1970er Jahren Freundschaften zu schließen. 10 1943 erhält er ein »Guggenheim«Stipendium, das ihm einen Aufenthalt in den USA ermöglicht, wo er u.a. in Los Angeles und San Francisco lebt. Ab 1945 arbeitet er im Auswärtigen Dienst Mexikos und geht zunächst nach Paris. Dort hat er etwa Kontakt mit André Breton und Albert Camus. 1950 erscheint sein Essay »Das Labyrinth der Einsamkeit«. 1952 arbeitet Paz in Indien, dann in Japan. Von 1953 bis 1959 lebt Paz wieder in Mexiko. In dieser Zeit erscheinen solche lyrischen und essayistischen Arbeiten wie »Adler oder Sonne« (1951) und »Der Bogen und die Leier« (1956) (Paz 1981a; 1990). 1962 ist er wiederum in Indien im Auswärtigen Dienst tätig, wo er 1968 als mexikanischer Botschafter in Neu-Delhi aus Protest gegen die blutige Niederschlagung des studentischen Protestes auf dem »Platz der drei Kulturen« in Mexiko-Stadt den diplomatischen Dienst quittiert. In den folgenden Jahren hat er Gastprofessuren an USamerikanischen Universitäten und im englischen Cambridge inne. 1984 wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt – die Laudatio hält Richard von Weizsäcker –, 1990 erhält er den Literaturnobelpreis. Für Irritationen sorgt seine Unterstützung von Carlos Salinas de Gortari, der von 1988-1994 umstrittener Präsident Mexikos ist. Ab 1994 werden die gesammelten Werke von Octavio Paz in Mexiko und Spanien in fünfzehn Bänden herausgegeben, sie enthalten Gedichte, Monografien (z.B. über Marcel Duchamp und Sor Juana Inés de la Cruz), eine Fülle von Essays zur Politik, zur Kunst und zur Literatur sowie Interviews. Auf Deutsch gibt es diese gesammelten Werke nicht, im Suhrkamp-Verlag sind aber viele wichtige Arbeiten von Paz erschienen, so etwa – neben den bereits zitierten – die

10 Ein ähnliches Muster zeigt sich 1994 als der EZLN (»Éjercito Zapatista de Liberación Nacional«) in Chiapas seinen Aufstand beginnt: Während dieses Ereignis von einer Vielzahl mexikanischer (aber auch einiger ausländischer) Intellektueller begrüßt wird, hält Paz kritische Distanz.

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Biografie über Sor Juana (Paz 1991) oder der Band »Der menschenfreundliche Menschenfresser« (Paz 1981b). 1998 stirbt Paz. 3.2 Im Labyrinth der Einsamkeit In »Das Labyrinth der Einsamkeit« (Paz 1998) unternimmt Octavio Paz den voraussetzungsvollen und ambitionierten Versuch der Klärung »einige[r] Züge des Mexikaners unserer Tage« (ebd.: 23) und hält fest, »wir« [die Mexikaner] könnten »uns nicht der Notwendigkeit entziehen, fragend uns selbst zu betrachten« (ebd.: 21). Dabei nimmt er eine Analogisierung zwischen der Individual- und Kollektiventwicklung vor, indem er nahe legt, ein Kollektiv stelle sich die Frage nach seiner Identität vor einem ganz ähnlichen Hintergrund – nämlich dem einer »Wachstumskrise« (ebd.: 20) – wie der Adoleszente, der seine Besonderheit entdecke, wobei die »Entdeckung unserer selbst« sich »als eine Erfahrung unserer Einsamkeit« bekundet (ebd.). Der Versuch der Klärung von Zügen des Mexikaners unserer Tage geht mit gehörigen Zweifeln an der Möglichkeit eines solchen Unternehmens einher und nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Grundvoraussetzung kultureller Heterogenität und der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«: »In unserem Land leben ja nicht nur verschiedene Rassen und Sprachen, sondern auch verschiedene Schichten nebeneinander. Einige leben noch vor der Geschichte, andere, wie die Otomís, die durch eine Reihe von Invasionen verdrängt wurden, erst an ihrem Rande. Ohne auf Extreme einzugehen, kann man feststellen, daß Menschen verschiedener Epochen sich gegenüberstehen, nichts voneinander wissen, sich gegenseitig ausrotten, obwohl sie Landsleute sind und oft nur einige Kilometer voneinander entfernt wohnen. Unter demselben Himmel leben also – mit verschiedenen Helden, Sitten, Normen, Zeitbegriffen – ›Katholiken von Peter dem Einsiedler‹ und ›Jakobiner der Tertiärzeit‹. Vergangene Epochen sind gegenwärtig, und älteste Wunden triefen noch von Blut. Ja manchmal mischen oder überlagern sich – wie die präkortesianischen Pyramiden oft noch andere in sich verbergen – in einer einzigen Stadt, ja sogar in einer einzigen Menschenseele, Vorstellungen und Empfindungen, die einander fremd oder gar feind sind.« (Ebd.: 22)

Paz geht seinem Anliegen in neun Kapiteln nach. Diese kreisen um die Figur des »Pachucos« (s.u.), um »mexikanische Masken« – insbesondere um Machismo und die Rolle der mexikanischen Frau –, um den

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mexikanischen Totenkult (Kapitel I bis III), die mexikanische Intelligenz, den »Anbruch der Weltgegenwart« und die »Dialektik der Einsamkeit« (Kapitel VII bis IX). Den mittleren Teil des Essays bilden Kapitel zur Geschichte Mexikos von der Conquista über die spanische Herrschaft bis zur Unabhängigkeit von Spanien und der mexikanischen Revolution (Kapitel IV bis VI). Dass es ihm ernst ist mit der Ausgangsvoraussetzung kultureller Heterogenität, macht Paz bereits im ersten Kapitel deutlich. Dort widmet er sich nämlich mexikanischen Migranten in den USA, speziell den »Pachucos« in Los Angeles. Die Pachucos waren (zumeist junge) Männer mexikanischer Herkunft, die in den Vereinigten Staaten lebten, sich auffällig kleideten, einen besonderen Jargon entwickelten, sich teilweise in Banden zusammenschlossen und mehr als einmal Opfer rassistischer Gewalttaten wurden. Ihre Hochzeit hatten sie in den 1940er und 1950er Jahren. Das Interessante am Pachuco ist, dass er »gar nicht zu seinem mexikanischen Ursprung zurückkehren« will, »aber ebenso wenig […] mit dem nordamerikanischen Leben verschmelzen« (ebd.: 24) möchte. Paz analysiert die Kleidung des Pachucos, die wie sein Zugang zur nordamerikanischen Gesellschaft generell und seine Haltung zu seinem mexikanischen »Ursprung«, schillernd und widersprüchlich ist: »Das Neuartige seiner Tracht liegt in ihrer Übertreibung. Der Pachuco treibt die Mode bis zur letzten Konsequenz und macht sie dadurch ästhetisch. Eines der die nordamerikanische Mode beherrschenden Prinzipien ist nämlich die Bequemlichkeit. Durch reine Ästhetisierung der gewöhnlichen Kleidung macht der Pachuco sie unpraktisch […] Im Falle des Pachuco entdeckt man einen Zwiespalt: einerseits isoliert und exponiert ihn seine Tracht, andererseits stellt sie eine Huldigung an die Gesellschaft dar, die er abzulehnen vorgibt.« (Ebd.: 25 f.)

Der Pachuco und seine eigenen Erfahrungen und Empfindungen als Mexikaner in den USA sind für Paz Anlass, über Unterschiede zwischen Mexikanern und US-Amerikanern nachzudenken. Ein zentraler Unterschied (wenn nicht gar der zentrale Unterschied) besteht – so Paz – in der unterschiedlichen Bedeutung der Einsamkeit: Der Mexikaner fühle sich einsam, weil er – im Zuge der spanischen Eroberung oder der Unabhängigkeitsbewegung? – aus der Schöpfung gerissen worden sei, der Nordamerikaner, weil er sich nicht in den Gegenständen wi-

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derspiegeln könne, die er geschaffen habe, auch nicht in seinen Mitmenschen. Als weitere Unterschiede hält Paz mit breitem Pinsel typisierend fest: »Die Nordamerikaner sind leichtgläubig, wir aber gläubig; sie lieben Märchen und Kriminalgeschichten, wir Mythen und Legenden. Wir lügen aus Phantasie, Verzweiflung oder um unser schäbiges Dasein zu vergessen. Sie dagegen lügen nicht, sie ersetzen die ›wahrhaftige Wahrheit‹, die immer unangenehm ist, durch eine ›soziale Wahrheit‹. Wir betrinken uns, um zu beichten, sie, um zu vergessen. Sie sind Optimisten, wir Nihilisten; nur daß unser Nihilismus nicht intellektueller, sondern instinktiver Natur – also unwiderlegbar – ist […]. Sie glauben an Hygiene, Gesundheit, Arbeit, Glück und kennen vielleicht die wahre Freude doch nicht, die Rausch und Wirbel ist, wenn im Jubel der nächtlichen Fiesta unsere Stimme in Funken ausbricht und Leben und Tod eins werden, während ihre Vitalität, die Alter und Tod ignoriert und so das eigentliche Leben versiegen läßt, in ein Lächeln versteinert.« (Ebd.: 32)

Die mexikanische Wendung »¡no te rajes!« heißt, man solle nicht kneifen. Das Verb »rajar« wird aber auch im Sinne von »aufreißen« und »etwas gewaltsam öffnen« verwendet. Im Kapitel »Mexikanische Masken« widmet Paz diesem Verb und der – insbesondere an Männer gerichteten – Aufforderung einigen Raum. »¡No te rajes!« ist ihm Ausdruck einer mexikanischen Favorisierung der geschlossenen (männlichen) gegenüber der offenen (weiblichen) Form. So unterschiedliche Phänomene wie der Vorrang der geschlossenen Form in der mexikanischen Dichtung (Sonette), den dekorativen Künsten oder die Vorliebe für das Zeremonielle und Förmliche sowie eine komplizierte Art der Höflichkeit sind ihm Belege für diese These. Die Gegenüberstellung männlicher Ge- bzw. Verschlossenheit und weiblicher Offenheit fungiert bei Paz nicht als bloße Feststellung, sondern dient ihm als Anlass zur Kritik des Geschlechterverhältnisses, insbesondere des Machismos und der mit ihm einhergehenden Repression der Frau. Das dritte Kapitel – »Allerheiligen, Allerseelen« – dreht sich um den mexikanischen Totenkult und die darin steckende Haltung zum Leben, zunächst aber um mexikanische Feierlichkeiten und Feiertage allgemein. Einsamkeit, Verschwiegenheit, Ge-/Verschlossenheit, die Form selbst werden – so Paz – in der »Fiesta« aufgesprengt; sinnfällig wird das etwa am 15. September, dem Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien, der nicht umsonst »Día del grito« (Tag des Schreis)

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heißt. Die »Fiesta« ist einer der Wege zur Kommunion (dies der bevorzugte Begriff von Paz für das »Andere« der Einsamkeit) Mexikos mit sich selbst, ein Zurückgehen in die Formlosigkeit. »Ob auf nationaler, lokaler, Vereins- oder Familienebene, bei diesen Zeremonien öffnet sich der Mexikaner der Außenwelt. Sie allein geben ihm eine echte Gelegenheit, aus sich herauszugehen und mit der Gottheit, dem Vaterland, den Freunden oder Verwandten ein Zwiegespräch zu führen« (ebd.: 55). Und: »Die Fiesta, von Blitzen des Wahnsinns durchzuckt, ist die glänzende Kehrseite unseres Schweigens, unserer Apathie, Zurückhaltung, Schroffheit« (ebd.). Der Tod ist der Hintergrund, vor dem sich all das abspielt. Die foppende, ironisierende, spöttische Haltung zum Tod, die etwa ihren Ausdruck zu Allerheiligen und Allerseelen findet, wenn in Mexiko bunter Zuckerguss in Form von Skeletten und Totenschädeln verkauft und gegessen wird, ist Paz ein weiterer Indikator für die Verschlossenheit des Mexikaners dem Tod und dem Leben gegenüber. Letztlich ist auch die »Fiesta« keine Möglichkeit, der Einsamkeit zu entrinnen. »Wir schwanken zwischen Hingabe und Zurückhaltung, Schreien und Schweigen, Fiesta und Totenwache, ohne gänzliche Hingabe. Unser Gleichmut verbirgt das Leben hinter der Maske des Todes; unser Schrei zerreißt diese Maske, steigt zum Himmel, verzerrt sich, zerbricht und fällt wie eine stumme Niederlage herab. Der Mexikaner verschließt sich vor der Welt, verschließt sich gleicherweise dem Leben wie dem Tod.« (Ebd.: 69)

In seinem gesamten Essay nimmt Paz immer wieder Bezug auf die Geschichte Mexikos. Insbesondere in den drei mittleren Kapiteln des »Labyrinths« nimmt diese Geschichte von der spanischen Conquista bis zur mexikanischen Revolution und ihren Folgen zentralen Raum ein. Es seien nur wenige Aspekte dieser drei Kapitel gestreift, die im Hinblick auf eine indigene mexikanische Psychologie von Bedeutung erscheinen. Zu den erwähnenswerten Aspekten gehört eine Prämisse, die den historischen Annotationen Paz’ zugrunde liegt: »Jede auch noch so flüchtige Berührung mit dem mexikanischen Volk zeigt, daß unter den abendländischen Formen indianische Sitten und Glaubensvorstellungen weiterleben. Als lebendige Überbleibsel legen sie Zeugnis für die Lebenskraft der präkortesianischen Kulturen ab« (ebd.: 92). Besonderes Interesse darf sodann die Analyse eines »Zauberwort[s]« bzw. Wortfeldes, das in »Mexiko […] unzählige Bedeutungen« hat

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(ebd.: 80) und vermutlich aztekischen Ursprungs ist, beanspruchen: »chingar«, »chingarse«, »chingadera«, »chingón«, »gran Chingón«, »chingaquedito«, »chingada«. »Chingar« dürfte im Deutschen am ehesten das Wort »ficken« entsprechen – damit ist aber die schillernde Vieldeutigkeit des semantischen Feldes kaum einmal angedeutet, die Paz mit unterschiedlichen Mitteln auszuloten versucht. Zu diesen Mitteln gehören etymologische Analysen, Verwendungsweisen in unterschiedlichen lateinamerikanischen Ländern und Rekonstruktionen des Gebrauchs in unterschiedlichen Situationen und zu unterschiedlichen Anlässen. Ein Dreh- und Angelpunkt für die Analyse ist der in Mexiko verbreitete Ausruf »¡Viva México, hijos de la Chingada!«. Wörtlich lässt sich das mit »Es lebe Mexiko, Söhne der Geschändeten« übersetzen. Die historische Folie, auf der dieser Ausruf verständlich wird, ist für Paz die Conquista: die buchstäbliche und metaphorische Schändung der »India« durch die spanischen Eroberer, deren Söhne die Mexikaner sind. Der Prototyp der »Chingada« ist die »Malinche«. Diese Indianerin war die Geliebte Cortés’ und diente ihm auch als Übersetzerin. »Die unbegreifliche Zähigkeit, mit der Cortés und die Malinche sich in der Vorstellung des modernen Mexikaners halten, zeigt, daß sie mehr als nur geschichtliche Figuren sind. Sie sind Symbole eines geheimen Konfliktes, den wir nicht zu lösen vermochten. Indem der Mexikaner die Malinche verstößt […] zerreißt er das Band zur Vergangenheit, verleugnet er seinen Ursprung und spinnt sich – einsam – in das Leben ein, das als Geschehen immer Geschichte ist.« (Ebd.: 90)

Und in einer kühnen Volte, die einmal mehr mit der Analogie zwischen Individual- und Kollektiventwicklung operiert, interpretiert Paz die »Reforma« – das Ende der kolonialen Tradition – als »den großen Bruch mit der Mutter« (ebd.: 91): »Die Trennung war ein schicksalhafter, notwendiger Akt, denn jedes wirklich autonome Leben beginnt als Bruch mit Familie und Vergangenheit. Aber die Schmerzen der Trennung spüren wir noch. Wir stöhnen unter der Wunde, weshalb das Gefühl der Verwaisung der ständige Hintergrund unserer politischen Experimente und unserer innersten Konflikte ist. Mexiko ist so einsam wie jeder seiner Söhne.« (Ebd.)

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Im Zentrum des siebten Kapitels – »Mexikanische Intelligentsia« – steht die Frage nach den unterschiedlichen Haltungen, die die mexikanische Intelligenz gegenüber der mexikanischen Realität (politisch, kulturell) und der »Mexikanität« einnimmt. Eine der zentralen Thesen, die Paz hier entwickelt, besteht in der Annahme, dass es in Mexiko immer gerade auch um die Aktualisierung unterschiedlicher europäischer Themen gegangen sei – Gegenreformation, Rationalismus, Positivismus und Sozialismus. Insofern sei die Mexikanität eine »›Weise, uns nicht selbst zu sein‹, die oft wiederholte ›Art, anders zu sein und anders zu leben‹. Kurz gesagt, sie ist einmal Maskierung, ein andermal der plötzliche Entschluß, nach uns selbst zu suchen« (ebd.: 165). Die Gegenwart Mexikos ist wie die Gegenwart anderer Länder auch durch den »Anbruch der Weltgegenwart« (Kapitel acht) gekennzeichnet, in der Kulturen und »alle historischen Epochen brodeln, sich vermengen und verschmelzen« (ebd.: 184). Diese Weltgegenwart betrifft alle Kulturen und die mexikanischen Probleme sind nun nicht mehr die der Mexikaner allein, sondern – wenn man so will – ein Spezialfall der Probleme aller Menschen. Das beinhaltet aber auch die Möglichkeit, die Einsamkeit zu überwinden: »Aber dort – in der offenen Einsamkeit – wartet die Transzendenz: die Hände anderer Einsamer: zum erstenmal in unserer Geschichte sind wir Zeitgenossen aller Menschen« (ebd.: 188). Das letzte Kapitel ist der »Dialektik der Einsamkeit« gewidmet. Hier werden das Gefühl der Einsamkeit und die mit ihm verbundenen Gedanken stärker noch als in anderen Abschnitten des Essays in ontogenetischer und anthropologischer Perspektive in den Blick genommen. Die Einsamkeit erscheint als anthropologische Grundkonstante, die allen Menschen zu bestimmten Zeiten ihres Lebens widerfährt. Zwei Zeitpunkte sind von besonderer Bedeutung: die Geburt und die Adoleszenz. 11 Dabei hat die Einsamkeit eine zweifache Bedeutung: Zum einen ist sie Bewusstsein unserer Selbst, zum anderen ist sie Sehnsucht nach Befreiung von uns selbst, nach Kommunion mit den anderen.

11 Erwähnt wird hier Eduard Spranger, der die Einsamkeit ein Kennzeichen des Jünglingsalters nenne (ebd.: 197). Paz bezieht sich vermutlich auf Sprangers wissenschaftlichen Bestseller »Psychologie des Jugendalters« (Spranger 1924). Auch Santí (in Paz 1993: 143 f., Fn. b) hält es für gut möglich, dass Paz dieses Buch gekannt hat.

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3.3 Methodische Zugänge Octavio Paz legt – diese Feststellung dürfte in Anbetracht des bis hierhin Ausgeführten und der Tatsache, dass es sich beim »Labyrinth« um einen Essay handelt, kaum überraschend sein – keine im engeren Sinne sozial- oder kulturwissenschaftliche Arbeit vor, die mit den Kriterien einer (qualitativ oder quantitativ) streng methodisch kontrolliert verfahrenden empirischen Sozialforschung arbeiten würde. Dennoch ist sein Essay ja nicht einfach eine Frucht des reinen Geistes oder bloße »Lehnstuhlpsychologie« und auch keine reine (wie sollte das auch möglich sein?) Auseinandersetzung mit anderen Autoren. Wie kommt Paz also zu seinen Aussagen, welche – im weiten Sinne des Wortes – methodischen Zugänge beschreitet er? In aller Kürze: Gerade in den Ausführungen zum Pachuco wird deutlich, dass Paz mit dem Mittel der Beobachtung arbeitet; wenn er, was er ebenfalls im ersten Kapitel tut, über Gespräche mit anderen mexikanischen Migranten berichtet, kann man auch von einer Form der teilnehmenden Beobachtung sprechen. Hierzu gehört auch die Analyse eigener Erfahrungen und Empfindungen als Mexikaner in den USA. Die Analyse des Pachuco beinhaltet darüber hinaus die Untersuchung kultureller Artefakte, in diesem Falle eine Untersuchung der Kleidung unter ästhetischer Perspektive und im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion als – wenn man so möchte – »Identitätszeichen«. Bedeutsam sind ferner komparative Analysen. Dabei spielen Vergleiche in synchroner wie in diachroner Perspektive eine Rolle. In synchroner Perspektive dienen immer wieder die Vereinigten Staaten als Vergleichshorizont – in geringerem Maße auch Spanien –, in diachroner Perspektive dienen unterschiedliche Aspekte der Geschichte Mexikos als Vergleichshorizont zum besseren Verständnis der Gegenwart. Schließlich müssen noch diejenigen Analysen hervorgehoben werden, die man pragma-semantische Analysen nennen könnte; als solche kann man die Untersuchungen zum Gebrauch unterschiedlicher verbreiteter Redewendungen und semantischer Felder, wie die oben erwähnten zu »rajarse« und »chingar«, bezeichnen.

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3.4 Probleme Der Essay von Paz ist sicher nicht ohne Probleme. So finden sich immer wieder Ausführungen, die nicht in jeder Hinsicht der Klarheit der Argumentation dienen, bisweilen auch eine eigentümliche Nähe zu religiös gefärbten Erlösungsfantasien aufweisen. Ein Beispiel: »Die Geschichte des Mexikaners ist die eines Menschen, der nach seiner Herkunft, seinem Ursprung sucht. Von spanischer und französischer Kultur, von Indigenismo und Pochismo beeinflusst, durchzieht er die Geschichte wie ein dann und wann aufblitzender Komet aus Jade […] Er strebt seiner Katastrophe zu: er möchte wieder Sonne werden und zum Zentrum des Lebens zurückkehren, von dem er eines Tages – durch Conquista oder Independencia? – getrennt wurde.« (Ebd.: 29)

Rückkehr zum Zentrum des Lebens? Was soll das eigentlich heißen? Und: In diesem Zentrum war einfach alles heil, ganz, unversehrt? Eine andere Schwierigkeit betrifft die unterschiedliche, mitunter zumindest widersprüchlich erscheinende Verwendung des Begriffs der Einsamkeit. Mal wird die Einsamkeit als anthropologische Grundkonstante in der Entwicklung aller Menschen gedacht, mal als ein spezielles Signum unserer Tage. Irritierend ist schließlich die – oben wiederholt aufgezeigte – Analogisierung von Individual- und Kollektiventwicklung, ja gar der Entwicklung einer ganzen Nation. Es mag ja sein, dass diese Analogisierung – ähnlich wie die Rede vom »kollektiven Gedächtnis« – für bestimmte Zwecke fruchtbar sein kann, nähere Auskünfte zu Reichweite, Grenzen, Potenzialen und Schwierigkeiten solch einer Analogisierung, die für ihren kontrollierten Gebrauch nötig wären, unterbleiben bei Paz aber. 3.5 Anknüpfungspunkte Trotz der eben angesprochenen Probleme, denen wohl weitere hinzugefügt werden könnten, und trotz des Umstands, dass das »Labyrinth« keine psychologische Abhandlung im engeren Sinne darstellt, sollte die oben vorgestellte selektive Lektüre deutlich gemacht haben, dass Paz’ Essay eine Reihe von Anknüpfungspunkten für eine indigene mexikanische Psychologie aufweist. Diese scheinen mir nicht so sehr in den Resultaten des Essays zu liegen – zu deren Gültigkeit Stellung

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zu nehmen eine überaus vertrackte Aufgabe darstellen würde, die hier nicht in Angriff genommen werden soll – als vielmehr in der grundsätzlichen Anlage des Textes. Die folgenden Aspekte halte ich für besonders erwähnenswert: Fruchtbar ist gewiss die Prämisse kultureller Heterogenität, die für eine indigene mexikanische Psychologie, aber sicher auch für andere indigene Psychologien, eine Voraussetzung darstellen müsste, hinter die nicht zurückgefallen werden darf. In diesem Zusammenhang scheint mir das Eingangsszenario des Essays, die Wahl des ersten Untersuchungsobjekts von Paz, besonders fruchtbar zu sein; gemeint ist natürlich die Figur des Pachuco, in der kulturelle Heterogenität für den indigen-mexikanischen Fall plastisch wird. In diesem Zusammenhang (also dem der »Pachuco-Analyse«) ist ferner erwähnenswert, dass mit der Analyse kultureller Artefakte (hier: der Kleidung) keine Reduktion auf sprachliche Äußerungen in einem engeren Sinne stattfindet. Überhaupt scheinen mir die methodischen Zugänge von Interesse zu sein. Neben der Analyse kultureller Artefakte denke ich hier besonders an die oben angesprochenen pragmasemantischen Analysen. Einen sinnvollen Zugang sehe ich auch in der Annahme und den konkreten Realisationsversuchen von auf Geschichte bezogener Identitätsbildung oder anders gewendet von »Geschichte in uns« (Müller-Hohagen 1994; Kölbl/Straub 2003). Schließlich, aber nicht unabhängig vom Voranstehenden, ist von Bedeutung, dass Paz – eher implizit – einen anspruchsvollen Begriff der Moderne in Anschlag bringt, der diese nicht in einen schlichten Gegensatz zur »Tradition« bringt, sondern der Sache nach den »mexikanischen Fall« als einen Sonderfall des übergreifenden Phänomens der »multiple modernities« präsentiert (s.a. Kozlarek 2009a).

4. W AS

BLEIBT ?

Am Ende angelangt seien lediglich in aller Kürze und Einfachheit drei zentrale Ergebnisse der vorangehenden Ausführungen festgehalten: 1. Wenn man an einer indigenen mexikanischen Psychologie und ei-

ner mit den Mitteln einer solchen Psychologie operierenden Gegenwartsdiagnostik interessiert ist, führt die Rezeption der Arbeiten des Hauptexponenten der »offiziellen« indigenen mexikanischen Psychologie nur bedingt weiter.

228 | K ÖLBL 2. Der disziplinären Zuordnung, dem Anliegen, Vokabular und Vor-

gehen nach zwar keine psychologische Arbeit im engeren Sinne enthält der gegenwartsdiagnostische Essay »Das Labyrinth der Einsamkeit« dennoch eine Reihe wichtiger psychologischer Einsichten und Anknüpfungspunkte für eine indigene mexikanische Psychologie bzw. für eine Kultur inkludierende Psychologie überhaupt. 3. Eine umfassendere Rekonstruktion von Analysen, die der Sache nach einer indigenen mexikanischen Psychologie zugeordnet werden könnten und sich dabei um Systematisierung in synchroner wie diachroner Perspektive bemühen würden, dürfte ein lohnendes Unterfangen darstellen.

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Chinesische Befindlichkeiten Narrative psychologische Gestaltung bei Wang Anyi G ERLINDE G ILD

1. E INLEITUNG : L ITERARISCHE N ARRATION T HEMA DER K ULTURPSYCHOLOGIE

ALS

Der Begründer des Sozialen Konstruktionismus Kenneth Gergen ordnet Erzählungen – mündliche wie schriftliche – »dem diskursiven Bereich« zu und sieht sie als hervorragend geeignet, um gesellschaftliche Befindlichkeiten sowie den Gedankenaustausch innerhalb einer Diskursgemeinschaft nachzuvollziehen. Eine Geschichte könne einerseits selbst als themengebundene Erörterung verstanden werden, andererseits wird sie von ihren Rezipienten erörtert und »weitergeschrieben«. Sie bleibt demnach nicht allein Fiktion, sondern schafft auch Wirklichkeit (Gergen 1998: 171). Gegenstand meines Beitrages sind chinesische Geisteshaltungen, wie sie in der chinesischen Gegenwartsliteratur widergespiegelt werden. Anders als Gergen, der primär mündliche Narration zum Gegenstand seiner kulturpsychologischen Analyse macht, habe ich das literarische Werk der Shanghaier Schriftstellerin Wang Anyi ⦻ᆹᗶausgewählt, 1954 geboren und international als eine der wichtigsten Autorinnen Chinas anerkannt. Sie schildert auf außerordentlich dichte und psychologisch subtile Weise chinesische Lebenswelt sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen Prozesse und analysiert das Seelenleben ihrer Charaktere, besonders in solchen Szenarien und Episoden, die weibliche Identität zeichnen. In Interviews hat Wang Anyi mehrfach hervorgehoben, wie sie persönliche Erinnerungen verarbeitet und

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mit ihren Geschichten verwebt, die sie im Gegenzug dann als Repräsentativ ihres Selbst versteht (Kubin 2005: 357). 1 Ihrem sowie Gergens Ansatz gemeinsam ist also, Narration psychologisch zu begreifen. An der Schnittstelle von Sinologie und chinesischer Psychologie operierend, sollen nachfolgend interdisziplinär deren Methoden verbunden werden, um die kulturellen Schlüsselbegriffe im Kontext gegenwärtiger Diskurse zu Aufklärung sowie Tradition und Moderne in China zu analysieren, welche im Fokus beider Fächer stehen.

2. K ULTURPSYCHOLOGIE IN C HINA: »U NIVERSALISMUS OHNE U NIFORMITÄT « Chinesische Kulturpsychologie entstand als neue Forschungsrichtung in der postsozialistischen Ära der 1990er-Jahre. Die mit der Liberalisierung des Marktes und dem dadurch hervorgerufenen rapiden Wirtschaftswachstum einhergehende »stille Revolution« (Zhang Xudong, 2008) stellte die chinesische Psychologie vor die Aufgabe, sich dem schnellen sozioökonomischen Wandel anzupassen: Einer geplanten ökonomischen stand eine ungeplante, nicht intentionierte gesellschaftliche Transformation gegenüber. Dennoch blieb das Fach lange Zeit politisch definierten nationalen Zielen der Modernisierung verhaftet: »In China, psychology is expected to play a distinctive role in the attainment of its new national goal of four modernizations 2. Thus, despite its very late start, the application of psychological knowledge to the problems of social change and national development should be a priority on our agenda.« (Jing/Fu 2001: 417-418)

Die Entwicklung der chinesischen Kulturpsychologie ist eine konkrete Reaktion auf die Wahrnehmung wachsender psycho-sozialer Disparitäten. Den Menschen in seinem spezifischen kulturellen Umfeld wieder in den Mittelpunkt stellend, untersucht Kulturpsychologie die kul1

Gesprächsprotokoll Gild, 4.5.2010.

2

Die 1978 von Deng Xiaoping offiziell verkündeten »Vier Modernisierungen« in Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung, Wissenschaft und Technik leiteten nach dem Ende der Kulturrevolution die Reformära in der VR China ein.

C HINESISCHE B EFINDLICHKEITEN | 235

turellen und ethnischen Quellen der Diversität emotionaler und somatischer Vorgänge: Sie basiert auf der zentralen Annahme, dass es eher multiple, unterschiedliche Psychologien gibt als eine einheitliche, universell gültige, wie es die akademische Psychologie für sich beansprucht, allerdings ohne fremdkulturelle Ansätze als gleichberechtigt gelten zu lassen. In der Volksrepublik folgt man indes eher der Ansicht von Billmann-Mahecha (2011), welche konstatiert, Kulturpsychologie habe den Anspruch universaler Gültigkeit, denn mithilfe eines akkumulativ-holistischen Ansatzes wird hier auf psychologischen Pluralismus gezielt. Die Kulturpsychologie in China ist sich ihrer eurozentrischen Wurzeln aus dem frühen 20. Jahrhundert bewusst, will sich darüber hinaus aber nun ein eigenes Fundament geben. Durch die Erforschung idiosynkratischer Eigenschaften und Bedeutungsmerkmale von different wahrgenommenen Verhaltens- und Denkformen verfolgt sie den Anspruch einer ebenso differenten »Chinesischen Psychologie« (vgl. Gild 2010: 67). In historischer Reihenfolge gehören zu ihren wichtigsten Vertretern Liang Shuming ằ╡Ⓩ (1893–1988; »Philosophie des Lebens«, rensheng zhixue Ӫ⭏ଢᆖ), Pan Shu █㨭 (1897– 1988; »Psychologie mit chinesischem Charakter«, zhongguo tese xinlixue ѝഭ⢩㢢ᗳ⨶ᆖ) sowie die beiden Historiker des Faches Yan Guocai ⠅ഭᶀ (geb. 1931) und Yang Xinhui ᢜ䪛䖹 (geb. 1935). Letzterer begründete die Nanjinger Schule der Kulturpsychologie, welche anhand semantischer Analysen protopsychologischer Textkörper eigene Theorien entwickelte, die in zwei Werken Eingang gefunden haben: Chinesische Kulturpsychologie und Geschichte der Psychologie in China (beide 2008) von den Nanjinger Psychologen Wang Fengyan ⊚仾⚾ und Zheng Hong 䜁㓒 (Wang 2008; Wang/Zheng 2008). Sie gelten als wichtigste und führende Vertreter des o.g. akkumulativ-holistischen Ansatzes. Viele Aspekte der chinesischen kulturellen Befindlichkeit, die sich bislang nur vermittelt erschließen, können durch diese Forschungen direkt verhandelt werden. Neben Forschungsrichtungen wie Indigene Psychologie oder sinisierte Psychologie, die trotz ähnlicher Anliegen in China peripher geblieben sind, stellt die chinesische Kulturpsychologie Formen gesellschaftlicher kultureller Praxis, Lebensweisen, Gewohnheiten, Bräuche, aber auch sprachliche Aktivitäten und Diskurse im historischen und

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kulturellen Umfeld in den Vordergrund. 3 Spezifische Leitbilder und Weltanschauungen wie Holismus (tianren heyi ཙӪਸа), daoistische Dialektik (yinyang 䱤䱣-Dialektik) und Balancezentriertheit (zhong yongѝᓨ) werden zugleich als kulturspezifische Merkmale verstanden, die in chinesischen Handlungsweisen verkörpert sind. Zu den zahlreichen Themen, die von Wang/Zheng exploriert werden, gehören auch die psychologischen Sichtweisen in Literatur und Kunst (Wang/ Zheng 2008: 367). Sie haben die Notwendigkeit einer Integration der chinesischen Kulturtradition und ihrer emischen psychologischen Gehalte hervorgehoben, in der sowohl die historische als auch die Erzählliteratur eine herausragende Bedeutung besitzen. Wang/Zheng zufolge muss Kulturpsychologie in die internationale akademische Psychologie integriert werden, wenn diese ihren Universalitätsanspruch aufrechterhalten will (Wang/Zheng 2008). Damit wird zugleich das Bestreben chinesischer Wissenschaftler explizit, ihre professionelle Identität im internationalen Dialog zu festigen. Die Erörterung einer spezifischen Koexistenz von Tradition und Moderne in China ist vom schwierigen Universalismusprinzip gleichwohl globaler Erscheinung, wie es Kulturpsychologen diskutieren, nicht zu trennen und findet in zahlreichen Regionen der Welt statt. Afrika, die arabische Welt oder Indien – überall zeigt sich als Antwort auf mehr oder weniger vom Westen diktierte Modernediskussionen die Rückeroberung eines Selbst, das die Parameter postkolonialer Diskurse neu verortet.

3

Zur Entwicklung der chinesischen Kulturpsychologie siehe auch Gild (2010, 2011).

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3. »C HINESISCHE AUFKLÄRUNG « ALS M ETA-D ISKURS IN K ULTURPSYCHOLOGIE UND L ITERATUR Die kulturpsychologische Relevanz der Schriftstellerin Wang Anyi 4 zeigt sich vorderhand in ihrer Einbettung in den umfassenden gesellschaftlichen Diskurs der Selbstwahrnehmung und Identität in China. Ihr Werk steht für den »dichten realistischen Stil«, der sich auf die Zeichnung des Wesentlichen (zhuzhi) konzentriert und in China selbst als Bestandteil einer »Chinesischen Aufklärung« verstanden wird (Wang Anyi 2007, Wang Fengyan 2008: 400). Dem seit der europäischen Renaissance auf Rationalität gründenden westlichen Denken wird das in der chinesischen Kulturtradition vorherrschende Prinzip relationalen Denkens gegenübergestellt, in dem das menschliche Selbst vornehmlich in seiner Beziehung zu seiner Umwelt definiert ist. Diese Vorstellung einer differenten »chinesischen Aufklärung«, wie sie kulturpsychologischen Ansätzen zugrunde liegt, findet sich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, im Werk Wang Anyis wieder. Ihre Erzählung »Zeitalter der Aufklärung« entstand in der Ära der chinesischen Postmoderne, einer Ära der Reflexion über die kommunistisch geprägte Vergangenheit, in der intellektuelles Leben und Schaffen von allgegenwärtiger staatlicher Kontrolle und politischen Bewegungen beeinträchtigt war. Mit der staatlich herbeigeführten Öffnung Chinas und der Liberalisierung des Marktes änderten sich Machtstrukturen und gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Schriftsteller und Intellektuelle nicht nur die Freiheit kreativen Wirkens zurückerlangten, sondern auch zum ökonomischen Umdenken gezwungen waren (Gild 1996: 366).

4

Wang Anyi ist die Tochter der Schriftstellerin Ru Zhijuan und eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen Chinas. 2004 wurde sie Professorin für chinesische Sprache und Literatur an der Fudan Universität Shanghai. Zurzeit ist sie dort Direktorin des Forschungszentrums für Gegenwartsliteratur sowie Vorsitzende des Shanghaier Schriftstellerverbandes. Ihre seit 1977 bis heute erschienenen Werke sind in einer eigenen Anthologie »Wang Anyi Zixuanji« ⦻ᆹᗶ㠚䘹䳶 erschienen.

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3.1 Differente Aufklärung und alternative Moderne in China? Der Entschluss, sich mit dem Thema narrativer Identität zu befassen und kulturpsychologische Sichtweisen für die Interpretation chinesischer Literatur zu nutzen, wurde im Mai 2010 während einer Lesereise mit Wang Anyi gefasst, als die Autorin ihr Werk vorstellte: eine Erzählung aus der Ära der Kulturrevolution (1966-1976) mit dem Titel »Zeitalter der Aufklärung«. Das deutsche Publikum reagierte wie das chinesische angesichts des Sujets mit Verstörung. Diese kulminierte in der grundsätzlichen Frage: Ist es legitim, die chinesische Kulturrevolution mit dem Begriff der Aufklärung parallel zu setzen? Kulturrevolution steht schließlich i.d.R. für das Gegenteil: Unaufgeklärtheit, vom Regime Mao Zedongs beabsichtigte Unmündigkeit der Bürger sowie Auflösung sämtlicher intellektueller Orientierung mit Ausnahme der Ideologie der Kulturrevolution. Bei den Lesungen in mehreren deutschen Städten stand dieser Widerspruch, verbunden mit der Frage nach einer »differenten« oder »alternativen« Aufklärung, im Raum, was unterschiedlichste Reaktionen im Publikum hervorrief: Erstaunen, Ratlosigkeit, Verunsicherung, Ablehnung, verhaltene Empörung. »Zeitalter der Aufklärung« (Qimeng Shidai ੟㫉ᰦԓ) beinhaltet Erzählungen aus der Kulturrevolution, in sechs einzelnen Kapiteln lose miteinander verknüpft, die das Schicksal mindestens zweier Generationen darstellen, der »Roten Garden« und ihrer Eltern. Die Kulturrevolution ist als Thema in mehreren Werken der Autorin präsent, insbesondere im Frühwerk »Junior High Students of 1969« (liujiujie chuzhongsheng ‫ޝ‬ҍቺࡍѝ⭏), das im Anschluss an die Kulturrevolution entstand und, ebenso wie »Zeitalter der Aufklärung«, eine Reflexion dieser Ära darstellt, im ersten Werk aus der Sicht einer jungen Protagonistin, sehr ähnlich Wang Anyis eigener Biografie. Wang Anyi hat als Vorsitzende des Shanghaier Schriftstellerverbandes eine offizielle Position inne. Wer ihr Werk kennt (vgl. Gild 2000), wird schwerlich auf die Idee kommen, sie vertrete die Linie der Partei, wie einige Rezipienten nach der Lesung in Deutschland mutmaßten. Für das deutsche Publikum ist die Frage nach der Aufklärung in China von besonderem Interesse in Anbetracht der rezenten deutschen Aufklärungsausstellung in Peking. Die Frage steht unverändert im Raum, ob es unterschiedliche Auffassungen von Inhalten und Zie-

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len der Aufklärung in China und Europa gibt und worin denn die Differenz besteht. Der in New York ansässige Literaturkritiker Zhang Xudong beschreibt die globale Aufklärungsdebatte in zwei diskursiven Lagern. Da ist zunächst eine, häufig aus nicht-westlichen Kontexten hervorgehende Linie, welche die selbst ernannte Universalität bzw. Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Prinzipien, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika entwickelt wurde, infrage stellt. Diese Position zielt auf die Verstärkung pluralistischer Werte und arbeitet damit dem Gedanken eines inklusiven Universalismus zu. Das zweite Lager stellt sich als anhaltende europäisch-liberale Linie dar, die sich zu einem erneuten Bekenntnis von »Aufklärung als unvollendetem Projekt« bekennt (Zhang Xudong 2011: 11). Wang Anyis Werk kann als Teil der Reflexion chinesischer Gegenwartsdiskurse über die Moderne in Asien und die Vorstellung einer alternativen Moderne betrachtet werden, in denen Aufklärungsbewegungen das Fundament bilden. Die Kulturrevolution bezieht die Autorin – in Gegensatz zu dem postsozialistischen Konsens in China – in die als Prozess verstandene Aufklärung in China mit ein. 3.2 Kulturrevolution als Aufklärungsprozess? Die chinesische Bezeichnung »chaotische Jahre« bezeichnet das Trauma sehr konkret, da jegliche Orientierung angesichts ständig neu verkündeter revolutionärer Richtlinien unmöglich wurde. Das Unterste wurde zuoberst gekehrt, und zwar allumfassend und die Gesellschaft durchdringend. Kritik und Tribunal machten nicht Halt vor engsten Parteimitgliedern um Mao Zedong, hierarchische Strukturen, ein wesentliches Element des chinesischen Denkens 5, wurden aus den Angeln gehoben. Rote Garden, Schüler und Studenten, waren angehalten, »konterrevolutionäre Elemente« in Gesellschaft und Partei, insbesondere unter Intellektuellen, aufzuspüren und zu sanktionieren. Die Suche nach Selbstsicherheit bildet den zentralen Angelpunkt von Wang Anyis jüngstem Werk. Während sich die Protagonistin in Junior High Students of 1969 (Mittelschüler des Jahres 1969) nicht mit der Kulturrevolution identifizieren kann, zeichnet Wang in »Zeitalter der Aufklärung« auch andere Seiten der Ära. Gemeinsam ist beiden

5

Zum Thema Hierarchien und hierarchisches Denken vgl. Gild (2010).

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Erzählungen die Fokussierung auf den Generationenkonflikt und die Identitätssuche der Protagonisten. Man könnte diese Passagen als Rechtfertigung des Aufklärungsbegriffes im Titel begreifen: die individuelle Erkenntnis, die jeder erlangen kann, selbst in einer Zeit, in der jede Vernunft, basierend auf Wissen und Bildung, ausgeschaltet erscheint. Die Autorin bearbeitet das Thema durch die Verschränkung verschiedener Zeitachsen und Perspektiven. Sie zeichnet Individuen in ihrem familiären und gesellschaftlichen Umfeld, das die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit plausibel erscheinen lässt. Die zweite Revolution figuriert deshalb in dieser gewählten Erzählperspektive als die logische Fortsetzung der ersten. a) Aufklärung als kollektiver und permanenter Prozess In »Zeitalter der Aufklärung« treten drei Generationen in einem Gespräch zwischen Vater und Sohn plastisch vor Augen, deren Einzelepisoden ein ganzes Jahrhundert überspannen. Als Nanchang, Mitglied der Roten Garden, den Vater fragt, wie er, vor dem Hintergrund seiner Herkunft aus der Schicht der Großgrundbesitzer, überhaupt an der ersten Revolution Chinas habe teilnehmen können, in der es nicht nur darum gegangen sei, den Konfuzianismus, die Herrschaftsideologie des alten Systems und die darauf aufbauende Gesellschaftsstruktur abzuschaffen, sondern auch das Volk vor seinen eigenen Eliten im Finanzund Militärwesen, die mit den imperialistischen Mächten um die Macht kämpften, zu schützen, antwortet der Vater: »Ich glaube, es lag an der Zeit. Weißt du, das Volk – diese Idee, sie ist für euch eine unabänderliche Wahrheit, und zwar von Kindheit an. Aber zu Beginn des Jahrhunderts war es einfach nur ein Aufruf zum geistigen Erwachen. Diese blinden alten Frauen mit den verfaulten Augenhöhlen, die alten Rinderhirten mit ihren vom Büffeltreten zerschundenen Knöcheln, die Bettler, die in den Hungerjahren mit nacktem Rücken, auf dem große Wunden klafften, für etwas Essbares zum Betteln gingen, oder die Skeletten gleichen Süchtigen in den Opiumhöhlen – es waren diejenigen, die lebten wie die Fliegenmaden und die nicht mehr als Menschen bezeichnet werden konnten, sich aber plötzlich änderten und Würde erhielten, weil sie einen Namen bekamen: ›das Volk‹, auch ›die Massen‹ genannt. Und unsere Depression, das ist die allgemeine Krankheit zu Beginn dieses Jahrhunderts, eine Krankheit der Jugendzeit eben – und unsere Depression verwandelte sich in Trauer um und Mitleid mit dem Volk, wodurch

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die Depression aufgehoben wurde.« (Wang Anyi 2007: 307, Übersetzung G. Gild)

Der Sohn kann diese Erklärung schwerlich akzeptieren, denn für ihn gibt es kein anderes als ein revolutionäres Bewusstsein. Er hält die Depression des Vaters für Selbstbezogenheit und Überheblichkeit. Der Vater widerspricht nicht, sondern räumt ein: »Was du sagst, klingt logisch. Als das Volk erstarkte, besaßen unser Mitleid und die Trauer kein Objekt mehr, und die Depression kehrte zu uns zurück.« (Ebd.)

Zugleich aber wirft er dem Sohn vor, die Heimat – und damit sind die Wurzeln der Familie gemeint – zugunsten der Revolutionsidee, die »heimatlos« ist – verraten zu haben, ja sie zu hassen. Als der Sohn erwidert, er hasse nicht die Heimat, sondern den Vater, zeigt sich dieser wiederum verständig und gibt zu, er selbst habe seinen Vater, wenn auch bedingt, abgelehnt. Sodann erklärt er auf seine Weise den Generationenkonflikt: Er sieht im Verhalten des Sohnes nicht rationales Bekenntnis zur Rebellion, sondern einen psychisch begründeten Zwang zum Hass. Der Sohn lässt die Erklärung nicht zu, fordert den Vater aber erneut heraus, indem er dessen Argumentation mit der Frage nach seinem Vornamen, Nanchang, auszuhebeln versucht, denn der spielt nicht nur auf den revolutionären Aufstand, Nanchang Qiyi, von 1937 an (Chen 2007: 4-5), sondern steht hier auch für die Heimat der Familie, Nanchang, die Hauptstadt der Provinz Jiangxi, die der Vater verlassen hatte, um nach Shanghai zu gehen, dem Ort des Geschehens in »Zeitalter der Aufklärung« . Der Shanghaier Literaturkritiker Chen Sihe, einer der besten Kenner Wang Anyis, und, wie sie selbst, der Generation der Roten Garden angehörend, interpretiert deren nach außen Stärke vorgebende, im Inneren aber durch Schwäche gekennzeichneten Charaktere: »With the hubbub of their revolutionary paroles, they pretend fortitude, but simultaneously in their interior they are filled with shakiness, lacking confidence. Outside fearsome, though inside fearful and doubtful.« (Chen 2007: 4-5, Übersetzung G. Gild)

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Mit der präzisen Schilderung emotionaler Zustände während der Kulturrevolution liefert Wang Anyi ein verhandelbares Fundament für die Behauptung einer differenten Psychologie in China. Eine ebenso different verstandene Aufklärung weicht vom globalen Konsens, wie er von Achill Mbembe formuliert wird ab: Nicht aufgepeitschte Emotionen, sondern schlicht ratio ist die Basis für Aufklärung: »[…] reason is the truth of the subject and politics is the exercise of reason in the public sphere. The exercise of reason is tantamount to the exercise of freedom, a key element for individual autonomy.« (Mbembe 2003: 3)

Als die Generation der Eltern die vollständige Auflösung individueller Autonomie im Zuge der Kulturrevolution erlebte, nahm sie diese Entwicklung als Verrat an der ersten Revolution wahr und verlor ihre Vision einer chinesischen Aufklärung. Aus dieser Erfahrung resultierte eine Haltung, die einem Modus chinesischer Konfliktbewältigung entspricht und ein zentrales Thema der kulturpsychologischen Theorie bildet: eine auf dialektischem Denken basierende Haltung in sowohl positiven als auch negativen Lebenssituationen. b) Dialektisches Denken Der Kulturpsychologe Wang Fengyan stellt dialektisches Denken in den Zusammenhang des chinesischen Universalismus und die daraus resultierende Tendenz zu holistischem Denken: »Die Neigung der Chinesen, holistisch zu denken, steht in engem Zusammenhang mit ihrem dialektischen Denken. Sie sind ein Charakteristikum des chinesischen Intellekts. Widerspruch wird – von dem Gedanken ausgehend, dass alles in der Welt in Beziehung zueinander steht, sich ständig in Wandel befindet und komplex ist – betrachtet.« (Wang 2008: 441, Übersetzung G. Gild)

Wang belegt diese Form des Denkens mit klassischen Zitaten, die in die Alltagspsychologie der Chinesen eingegangen sind: Im ersten Zitat, aus dem Buch der Wandlungen (Yijing ᱃㓿), das an Aktualität nichts eingebüßt habe, heißt es: »⢙ᶱᗵ৽« (wujibifan), »Wenn die Dinge bis zum Äußersten gelangen, verkehren sie sich in ihr Gegenteil« (ebd.). Das zweite Zitat, das auf Lao Zi zurückgeführt wird, besagt

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»৽㘵䚃ѻࣘ« (fanzhe dao zhi dong), »Die voranschreitende Bewegung des Dao ist eine zugleich zurückkehrende.« Ob diese kulturpsychologischen Theorien generalisiert werden können, ist zu überprüfen. Vor allem die Tatsache, dass Zitate aus den klassischen chinesischen Werken im Grundwortschatz als »Sprichworte«, chinesisch chengyu ᡀ䈝, enkodiert sind, lässt Alltagspsychologie in China zu einem äußerst ertragreichen Thema der Kulturpsychologie werden, das nicht nur in Wang Anyis Werken präsent ist. In einer Monografie, die sich mit Stil und Ästhetik, aber eben auch mit deren »Brüchen« und dem Wandel literarischer Ausdrucksformen befasst, hat der amerikanische Sinologe Edward Gunn (1991: 71f.) auf die Bedeutung der Idiome zeit- bzw. ideologieübergreifend hingewiesen. Das Interpretationsmuster dialektischen Denkens erscheint mir hilfreich, um die Ambiguität als hervorstechendes Merkmal in Wang Anyis »Zeitalter der Aufklärung« herauszustellen. Im Gegensatz zur statischen Hegel’schen Dialektik weist das chinesische Prinzip permanenten Wandels eine höhere Toleranz gegenüber bestehenden Widersprüchen auf. Die beiden Kulturpsychologen Shi Xu und Feng Bing betonen, dass das Fundament des chinesischen Kommunikationsstils auf der daoistischen Annahme der Wechselbeziehungen aller Dinge beruht. Daraus folgern sie, dass Chinesen absolute Positionen im Gespräch meiden und mehr dazu neigen, die Zusammenhänge der Dinge untereinander zu betonen (Shi/Feng 2010: 557-558). In der Fortsetzung des oben dargestellten Gespräches zwischen Vater und Sohn erklärt der Vater sein widersprüchliches Verhalten, indem er eine Beschreibung seiner Herkunft und der Lebensumstände in der Ära des geschwächten Chinas der ausgehenden Kaiserzeit vornimmt, der Not der Menschen, aber auch des Umbruchs, der durch Ambivalenz und Melancholie gezeichnet war, einem nostalgischen Empfinden der Geborgenheit in den Wurzeln von Heimat und Tradition und zugleich dem Streben nach Neuem mit Hoffnung auf eine bessere Zeit: »›Zu Hause hatte ich Privatunterricht und las die Vier Bücher und Fünf Klassiker, ging dann in die öffentliche Schule, später kam ich auch mit Zeitschriften wie Neue Jugend, Der Neue Roman oder Die neue Gesellschaft in Berührung, und ich begann Russisch zu lernen. Mein Wissen war sehr gemischt aufgebaut, es wurzelte im Alten und wurde durch das Neue genährt wie durch Regen und Tau. Anfangs neigte ich dem Konservativismus zu, dann engagierte ich mich in

244 | GILD der radikalen Politik, die schließlich die Revolution hervorbrachte. Doch was ist Revolution? Es ist ganz klar Himmel und Erde! Dieser Dunst der Depression hatte sich plötzlich wie Rauch verzogen, aber...‹ Er schwieg.« (Wang Anyi 2007: 310, Übersetzung G. Gild)

Der Sohn will wieder auf das Thema Revolution zu sprechen kommen, der Vater aber bleibt bei seiner Erklärung der Situation: »Die Intellektuellen der Kleinbourgeoisie befanden sich in einem Dilemma. Menschen ohne Bildung, ohne klaren Verstand, werden dem Leben bedingungslos gehorchen. Sie glauben allem, was ihnen begegnet. Angenommen, es gäbe einen alles wissenden Philosoph – weil er versteht, kann er auch glauben, an seine Wahrheit glauben. Aber ich, ein kleinbürgerlicher Intellektueller, bleibe mit meinem Wissen auf der Strecke, sehe etwas, sehe aber nicht das Ganze, ich sehe nur die Konturen der Welt, aber nicht ihr Licht. Du sehnst dich danach, an sie zu glauben, aber der Zweifel ergreift dich ...« (Ebd.)

Den Zweifel aber lässt der Sohn nicht gelten und nennt ihn die »Krankheit der Kleinbourgeoisie«. Der Vater weist daraufhin den Sohn auf die Unsicherheit des Wissenssystems hin, das Letzterer richtig als Dogmatismus erkennt und kommt dann zum eigentlichen Punkt: »Als wir jung waren, war alles verschwommen wie träge dahin fließendes Wasser, später bekam es allmählich Kontur – ach je, ach je, wir gaben die Konturen an euch weiter, aber wir haben euch kein Licht gegeben, weil wir keines besitzen.« (Ebd.: 311)

Die Passagen wurden von der Autorin für die Lesung ausgewählt, sie weisen die Essenz des Werkes: Das Ganze sehen als Metapher des schwierigen Universalismusprinzips und das Licht, chines. guang, als Symbol der Aufklärung, beides lässt die Autorin in den Worten des Vaters vermissen. Licht fehlt als entscheidendes Element einer Aufklärung. Anders als die europäische Aufklärung beruht die chinesische Aufklärung aus Sicht der Autorin nicht auf einem schriftlich niedergelegten und nachvollziehbaren kontinuierlichen Erkenntnisprozess, in dem der Mensch als Individuum, sich konkret vom christlichen Dogma befreiend, nach rationaler Gewissheit strebt, sondern auf einem von Generation zu Generation weitergegebenen Prozess der Befreiung,

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welcher sowohl als kollektiver als auch individueller Prozess verstanden wird. In vergleichbarer Weise zeigt Rana Mitter in seiner historischen Darstellung, wie das Vermächtnis der Vierten-Mai-Bewegung von 1919, der chinesischen Befreiungsbewegung von Tradition und individueller Unfreiheit 6 , die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts in China untermauert. In der Kulturrevolution sieht Mitter einen »erklärbaren Endpunkt der dunkelsten Seiten der Vierten-Mai-Bewegung – Obsession mit Jugend, Zerstörung der Vergangenheit, Arroganz gegenüber einem selbstgewählten Denksystem – ohne Aufklärung, welche das Original abmilderte, Kosmopolitismus, kritisches Hinterfragen und Universalismus« (Mitter 2004: 208, Übersetzung G. Gild). Wir werden kaum umhinkommen, auch die Geschichte der Psychologie in China unter dem Aspekt dieser Erneuerungsbewegung zu betrachten, die in der Gegenwart gerade wieder große Aufmerksamkeit erfährt und als erneuter Diskurs einer »zweiten Aufklärungsbewegung« alle Bereiche des geistigen Lebens in China berührt. In einer privaten Korrespondenz 7 hat der Nanjinger Kulturpsychologe Wang Fengyan auf die Inkongruenz im westlichen und chinesischen Verständnis des Aufklärungsbegriffes hingewiesen. Er regt an, als Kompromiss dem europäischen Aufklärungsbegriff (੟㫉 qimeng) einen dem chinesischen Kontext eher entsprechenden Begriff, nämlich qidi ੟䘚, »geistiger Impuls«, beizustellen, mit anderen Worten, die gesamte Ära als Kontinuum geistiger Impulse zu begreifen. Allein in dieser Aussage spiegeln sich zwei Idiosynkrasien des chinesischen Intellekts aus kulturpsychologischer Sicht wider: balancezentriertes Denken und das zhengming-Gebot, »die Aufmerksamkeit in der Wahl des richtigen Begriffes« sowie ausgeprägte subtile sprachliche Nuancen. Das schriftstellerische Werk Wang Anyis steht präzise für diese Ausprägung.

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Demonstration chinesischer Intellektueller am 4.5.1919, warum sie auch Vierte Mai Bewegung genannt wird, die eine neue Kultur nach westlichen Vorbildern forderten. Mit ikonoklastischen Angriffen auf den Konfuzianismus sollte das Fundament der alten Gesellschaft zerstört werden.

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Gild/Wang, Emailkorrespondenz 30.3.2011.

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c) Shanghai: Metapher für Ambiguität und Widerspruch Sehr konkret stellt Wang Anyi die Melancholie und zugleich Ambiguität des Vaters in den Zusammenhang mit der jüngeren Geschichte Chinas. Historischer Rekurs gehört zum charakteristischen Stil der Autorin, die in vielen Werken Shanghai, die Stadt, in der sie lebt, vor allem in ihrer kolonialen, architektonisch nachvollziehbaren Historie voller widersprüchlicher Erscheinungen darstellt. Die koloniale Besetzung Chinas war von kurzer Dauer – nicht vergleichbar mit Afrika oder Indien –, und diese Zeit wird in Wang Anyis Werk zu nostalgischen Reminiszenzen an Freiheiten und Lebensstil der »Kleinbourgeoisie« (xiao shimin). Sie lenkt den Blick des Lesers auf die Vergangenheit Shanghais als Symbol einer erst bürgerlichen und später sozialistischen Moderne – jeweils auch als Metapher dieser Gegensätze. Relikte der Vergegenständlichung kolonialer Macht sind in Shanghai schon mit der Architektur immer präsent, werden aber mit kolonialer Unterdrückung kaum in Verbindung gebracht. Man streicht eher die Stadt als wirtschaftlich prosperierende ehemalige Handelsmetropole und heutiges Weltfinanzzentrum heraus, die sich in ihrer Struktur auf das Leben der Kleinbourgeoisie ausgewirkt hat. Diese Sichtweise auf Shanghai als »Antimetapher der Unterdrückung« unterscheidet das jüngste Werk der Autorin erheblich von vorangegangenen. Wang Anyi geht in »Zeitalter der Aufklärung« auf Distanz zur Kulturrevolution, sie stellt die Ära in einen größeren Zusammenhang, nämlich des gesamten 20. Jahrhunderts. Aufklärung wird zu einem Kontinuum in sukzessiven Schritten: der Befreiung von der konfuzianischen Tradition zu Beginn des Jahrhunderts, der Befreiung vom westlichen Imperialismus – und den ihm dienenden eigenen Eliten in China – durch die Kommunistische Revolution, der erneuten Unfreiheit in der Kulturrevolution und schließlich die Loslösung des Individuums aus der Obsession ideologischer Homogenisierung. Angeordnete Liberalisierung steht eigenen, innerlich »angeordneten« Denkprozessen gegenüber, um, so die Intention der Autorin, schließlich die Befreiung von der erneuten Unmündigkeit des Menschen der Gegenwart zu erreichen. Im Spiegel der kulturrevolutionären Vergangenheit figuriert die Gegenwart als das andere Extrem. Mit den Worten Zhang Xudongs: »The relatively monotonous social space controlled by the state and its intellectual high culture has metamorphosed into a boisterous, disorienting social

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sphere underscored by a carnivalesque consumer mass culture equipped with new information technology from the cell phone to the Internet.« (Zhang Xudong 2008: 2)

Dieser über das 20. Jahrhundert anhaltende Prozess der Befreiung des Individuums von Bevormundung und »selbstverschuldeter Unmündigkeit« ist keineswegs ein abgeschlossener Vorgang, sondern konstant anhaltender Wandel, der in der vorliegenden Erzählung in seiner ganzen Komplexität vom Leser erschlossen werden muss. Es erscheint mir daher sinnvoll, diesem Phänomen nachzugehen, und zwar unter dem naheliegenden Aspekt des kulturell verankerten dialektischen Denkens in China, welches in der kulturpsychologischen Forschung exploriert wird. Es geht um die Frage, ob dialektisches Denken als kulturelle Ideologie zu verstehen ist oder als mentales, psychologisches Charakteristikum. Kulturpsychologen in China gehen davon aus, dass die daoistische Lehre mit ihren Kerngedanken steten Wandels und Immanenz der Yin-Yang-Dichotomie in der individuellen Psyche vorhanden ist und psychische Prozesse beeinflusst (Wang/Zheng 2008: 441). Wang/Zheng (2008) analysieren in diesem Zusammenhang ein »balancezentriertes Denken, welches auf das klassische Werk Zhongyong, ѝᓨ, zurückgeführt wird – das »Buch von Maß und Mitte« 8: »Das zhongyong-Denken ist ein weiteres charakteristisches Element des chinesischen Intellekts. Die Besonderheit besteht darin, dass mit einem bemessenen oder passenden Feingefühl (fencun ࠶ረ) Fragen erörtert werden, um Probleme ganzheitlich zu lösen. Folglich versteht es sich von selbst, dass Denkformen der ›Überschreitung/Übertreibung‹ (guo 䗷) oder des ‚Nicht-Angemessenseins‘ (buji н৺) konsequent mit kritischer Haltung begegnet wird, worin wiederum zum Ausdruck kommt, dass Chinesen ein Bedürfnis der Zurückhaltung eigen ist.« (Wang/Zheng, 2008: 444, Übersetzung G. Gild)

Zu dieser – weniger generell als tendenziell zu verstehenden – idiosynkratischen Neigung bzw. »Haltung der Mittelposition« finden sich Beispiele in Wang Anyi, die kulturpsychologisch weitaus tiefer analysiert werden können. Chinesische Schriftsteller befassen sich in ihren

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Kapitel in dem konfuzianischen Klassiker »Buch der Riten«, dessen Kompilation Konfuzius (551-479 v.u.Z.) zugeschrieben wird.

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Werken vordergründig mit der Vergangenheit, implizit aber auch mit der Gegenwart, und zwar mit jeweils komplexen existenziellen und damit schwierig darzustellenden, weil eben widersprüchlichen Aspekten: Da ist zum einen, wie es auch Bette Bao Lord (1990) in vielen Beispielen dokumentiert hat, die Fähigkeit der Anpassung, die bis zum Opportunismus reicht, zum anderen die chinesische Eigenschaft, widrigen Situationen dennoch etwas Positives abzuringen, um »mental« überleben zu können. Wang Anyi schildert die Kulturrevolution als eine Zeit, die im Gegensatz zur Gegenwart weniger materialistisch orientiert war und ruft damit die negativen Folgen des anderen Extrems, einer ausschließlich kapitalistisch ausgerichteten, jeglicher Ethik mangelnden Modernisierung auf.

4. D AS V ERHÄLTNIS ZUR G RUPPE

DES I NDIVIDUUMS

Damit möchte ich einen weiteren Gedanken, der Wangs Text zugrunde liegt, in einem kulturpsychologischen Rahmen erläutern. Die Differenz der chinesischen Gesellschaft im globalen Vergleich ist der umfassende Diskurs, der in der chinesischen Kulturpsychologie theoretisch ausformuliert wird, und zwar im Sinne sowohl kollektiver als auch individueller Autogenesen (Gild 2011). Ausgehend von semantischen Analysen chinesischer Selbstbezeichnungen in klassischen chinesischen Textkörpern (Wang/Zheng 2008: 67f.), versuchen Kulturpsychologen zu belegen, wie Selbstvorstellungen primär an eine Gruppe oder ein kulturelles Umfeld gebunden sind. Wenngleich historiografische sowie autobiografische und literarische Quellen die Grundlagen chinesischer kulturpsychologischer Forschung bilden, 9 wurde Gegenwartsliteratur bisher nicht in diesem Sinne exploriert.

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Wang Fengyan weist in seinem Werk literarische Beispiele der gesamten Geistesgeschichte Chinas aus, etwa aus dem Buch der Lieder (Shijing), der ältesten Sammlung von Gedichten und Volksliedern aus vorkonfuzianischer Zeit. Besonders geeignet, kulturpsychologisches Denken zu erörtern, sind die Biografien aus dem Geschichtswerk Shiji des Sima Qian im 1. Jh. v.u.Z. und auch die Lyrik der Tang- (618-907) und Song- (960-1279) Dynastien.

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Die sinoamerikanische Psychologin Yang Zhongfang hat in einem Beitrag eine gewisse Sonderstellung des Selbstbegriffs hervorgehoben: »If one examines ancient Chinese texts, one will find discussions and issues that are normally included in any modern books Chinese or Western, of the same nature, except one: the self. Nor can one find much discussion of the self in relation to another term representing a yinyang type of relationship, as one finds in so many other Chinese discussions of ideas and thought.« (Yang 2006: 340)

Diese Feststellung stützt die kulturpsychologische Absicht, literarische bzw. fiktive Selbstentwürfe in die Untersuchung und Diskussion einzubeziehen, zumal der Begriff »selbst«, ji ᐡ, nahezu ubiquitär in chinesischen Texten präsent, sogar zentral ist, aber eben im Sinne eines psychogenetischen Prozesses in Bezug zur (kulturellen) Gruppe. Das bedeutet nicht, dass das Individuum der Gruppe gleich ist, sondern dass es sich in seiner Differenz in die Gruppe einfügt, im Chinesischen he er bu tong, ઼㘼н਼, harmonisch, aber nicht gleich. Wang Anyis »Zeitalter der Aufklärung« weist, wie andere Werke der Autorin auch, auf den Widerspruch des Individuums zur Gruppe in mehreren Beispielen hin, insbesondere in der Darstellung der Ambiguität der »Kleinbourgeoisie«, sich mit dem gesamten China, dem »Volk« (renmin), zu identifizieren. Und es liegt nahe, dass es nicht nur um »Klassenbewusstsein« geht oder Hierarchien, sondern um die traditionelle Thematik des Widerspruches Ordnung/Chaos, Letzteres in den Verhältnissen der Kulturrevolution, in der Egalität in niemals zuvor dagewesenem Ausmaß propagiert wurde. 4.1 Konformitätszwang als Grundlage einer Dichotomie innen- und außengerichteten Verhaltens Mit der Protagonistin Shula zeichnet Wang Anyi eine der Norm widersprechende Persönlichkeit, deren Sozialisation als erwünschter »Junge« die Identifikation mit dem anderen Geschlecht nach sich zieht und zwangsweise eine »andere« Persönlichkeit hervorbringt: »Charakter und Aussehen standen also im Widerspruch, was aber äußerlich nicht zu sehen war und sich allenfalls in einer Art von ihr ausgehenden Spannung zeigte.« (Wang Anyi 2007: 111, Übersetzung G. Gild)

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Vermutlich würde man über die Stelle leicht hinweglesen, wüsste man nicht um die Bedeutung des in der chinesischen Kultur fundamentalen Grundsatzes zumindest äußerlich oder gesellschaftlich aufrechterhaltener Konformität, die in Zusammenhang mit der chinesischen Vorbildbetonung in Sozialisationsprozessen liegt und ein zentrales Thema auch der Kulturpsychologie in China ist (vgl. Gild 2011: »Der Prozess des Auswendiglernens, des Nachahmens (mofang) und des Lernens am Vorbild (xiaofa) bildete den Kernpunkt chinesischer Psychogenese.«). Dies führte zu einer ausgeprägten Konformität des Äußeren einerseits, zu einer Betonung des Gegensatzes »innen und außen« bzw. innerlicher und äußerlicher Prozesse: des nei-wai-Gegensatzes im chinesischen Verhalten, andererseits. 4.2 Individualität im chinesischen Kontext Wang Anyi zeichnet in Shula das Gegenteil einer konformen Persönlichkeit und nimmt gleichzeitig eine Richtigstellung der Rollenstereotypisierung, wie sie in der Kulturrevolution üblich war vor. Maskulinität in der Haltung, die sich in der Androgynität der Kleidung – blaue »Mao-Anzüge« und im Schnitt identische grüne Militärkleidung – widerspiegelt (Mitter 2004: 238), war für alle verbindlich, dennoch versieht Wang Anyi Shulas Schwester Shuya mit allen Merkmalen und Attitüden weiblichen Geschlechts: »Während ihre Schwester Shuya ihr Haar lang wachsen ließ, trug Shula es kurz mit geradem Pony; Shuya war grundsätzlich rot gekleidet, Shula grün. Shuya spielte mit einer Puppe, stellte Ketten aus Perlen her und stickte Blumen, Shula hingegen besaß Pfeil und Bogen, ein elektrisches Spielzeugauto sowie Eimer und Schaufelchen, um im Sandkasten des Parks zu spielen. Mit schmalen Augenbrauen, hellen Augen und einem zierlichen Gänseeigesichtchen entsprach Shuya ganz den Erwartungen der Erwachsenen. Shula hingegen besaß ein frisches, lebhaftes Profil, was im Kleinkindalter noch recht gefällig war. Doch sobald sie älter wurde und sich in jeder Hinsicht sehr außergewöhnlich entwickelte, rief ihr Gesicht Abwehr hervor, denn die Ausgewogenheit war zerstört. Jetzt galt Shula als weniger attraktiv.« (Wang Anyi 2007: 111, Übersetzung G. Gild)

Damit wird dem Leser zugleich die Künstlichkeit der Ideologie der Egalität demonstriert, indem dem Ideal der Androgynität, in dem sich

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die einseitige Konzentration auf die revolutionäre Bewegung ausdrückt, in seiner gesellschaftlichen Ablehnung widersprochen wird. »Eben weil sie der Natur trotzte und die Zeit des Heranwachsens nicht genießen konnte, sich also nicht unbeschwert entwickelte, war sie sehr einsam und unglücklich, was bei ihr das Gefühl der Ungerechtigkeit noch verstärkte. Doch gerade in dieser Einsamkeit konnte sich bei ihr eine Fähigkeit besonders gut entwickeln, nämlich das Denken. Wenn man in ihrem Alter vom ›Denken‹ sprach, so klang der Begriff ein wenig lächerlich, aber in der Tat konnte sich Shulas Denkvermögen, jeglicher körperlicher oder geistiger Einschränkungen entledigt, eben aufgrund des isolierten Zustandes ungehindert weit fortentwickeln. Bereits als sie noch ein Kleinkind war, das noch nicht sprechen konnte, hatten ihre Gedanken ihre Arbeit aufgenommen.« (Ebd.)

In der Literatur werden vor allem individuelle Selbstentwürfe formuliert, die den chinesischen Theorien der Sozialisation nicht konform sind. In Shulas Persönlichkeit lässt sich nachvollziehen, wie das Ich »seine Fähigkeit der Reflexion und des Ausmalens von Alternativen (benutzt), um dem zu entfliehen, was die Kultur anzubieten hat, oder aber um ihre Angebote aufzunehmen, neu zu bewerten und neu zu formulieren« (Bruner 1997: 119). Gerade die Frage nach kollektiven oder individuellen Selbstentwürfen lässt sich anhand fiktiver Gestaltung nachvollziehen, wo die chinesische Kulturpsychologie Theorien liefert, die eher eine kollektive Psychogenese – in Bezug zur chinesischen konfuzianischen Tradition – als ihr prägendstes Element beschreiben. In der Maxime »He er bu tong«, ઼㘼н਼, »sich einfügende, aber nicht gleiche Charaktere« drückt sich Individualität aus und fordert dazu auf, die KollektivismusIndividualismus-Dichotomie genauer zu untersuchen, zumindest die Kollektivismus-Behauptung der chinesischen Gesellschaft genauer zu differenzieren. Schriftsteller nehmen in der Individualismus-Debatte eine wichtige Rolle ein, gleichwohl bedienen sie sich in kritischen oder politischen Fragen impliziter Sprachmodi, wenn Aussagen zum ein oder anderen Extrem hin vermieden werden sollen. Der australische Sinologe Geremy Barmé bezeichnet die Situation in China in Anlehnung an den ungarischen Soziologen Miklos Haraszti als »cultural Velvet Prison« (Barmé 1999: 2). Sich selbst aus einem früheren Werk (1988) zitierend, bemerkt er, dass in China

252 | GILD »[…] the parameters of the cultural Velvet prison are being measured out in everyday practice. But this does not mean that there is no resistance to a new, higher level of co-option, conformity within the deep structure of the state. Individual artists struggle to maintain or achieve their independence.... they are faced with a choice of suffering complete cultural ostracism or accepting the State´s efforts to incorporate them in a new social contract, one in which consensus replaces coercion, and complicity subverts criticism.« (Barmé 1999: 2)

Barmés Feststellungen haben auch im Jahr 2011 wenig an Aktualität eingebüßt und werden sowohl von Richard Curt Kraus (2004) und Perry Link (2005) bestätigt. Jeffrey Wasserstrom (2010) tendiert zu einer Einschätzung, die dem chinesischen »Angemessenheits- oder BalanceArgument« entspricht: »One common mistake that Americans, and some other foreigners, no doubt, make is to assume that in China one is either a dissident (who boldly challenges the government and ends up in prison or in exile) or a loyalist (who follows the regime´s line, whether out of belief or fear). In fact, however, there have always been and definitely still are many people in the middle.« (Wasserstrom 2010: 82)

Wie Autoren in China lavieren und zugleich mit dieser Form des »double-think« (Hodge/Louie 1996, s.u.) – man könnte auch sagen »double-write« –, also gleichsam akzeptierter Ambiguität umgehen, um nichtsdestotrotz mit ihren Werken Einfluss zu nehmen, ist unter kulturpsychologischen Gesichtspunkten aufschlussreich. Ein wesentlicher Aspekt ist die Mehrdeutigkeit der chinesischen Schrift und ihrer polysemantischen Wörter als solcher, derer sich kein chinesischer Autor entziehen kann – und auch nicht will: Sie gehört traditionell zu den Stilmitteln der chinesischen Literatur und ist elementarer Teil der Kulturtradition und damit, wenn man so will, dokumentierte Differenz. Gleichermaßen wurden Ambiguität und Vieldeutigkeit von jeweils herrschenden Gruppen genutzt, um Einfluss zu nehmen. Hodge und Louie belegen die von ihnen als Living with double think bezeichnete chinesische Eigenart anhand literarischer Beispiele: »[…] that the ambiguities of the Chinese language, commonly constructed by juxtaposing contradictory terms, are a necessary part of the ideological for-

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mation of the Chinese consciousness. ... that the contradictions and ambiguities in the written language have been used by the elite ruling group as a means of control.« (Hodge/Louie 1996: 101)

Ambiguität, ja die Dialektik des Widerspruchs, besitzt in der chinesischen Kulturpsychologie essenzielle Bedeutung, so liegt es nahe, das Geschehen, den Auslöser im zugrundeliegenden Text unter dem Aspekt dieses Grundbegriffes auszuleuchten. Es kommt unserem Thema entgegen, dass rezent in Peking (2011) der mediale Aufruhr über die deutsche Aufklärungsausstellung ähnliche Reaktionen, zudem auf beiden Seiten, in China und in Deutschland, hervorgerufen hat. Chinesische Literaturwissenschaftler attestieren Wang Anyi eine außerordentliche psychologische Beobachtungsgabe, die sich bereits in frühen Werken zu Beginn der 1980er-Jahre bemerkbar machte, als die Disziplin Psychologie gerade einen Neuanfang in China verzeichnete. Mit der sukzessiven Liberalisierung und Öffnung wurde chinesischen Autoren die Möglichkeit des Experimentierens eröffnet, was sich bei Wang Anyi zu einem psychologischen Ansatz der Charakterbeschreibung entwickelte. Ihre Protagonisten tragen Züge aller Traditionen der chinesischen Geisteswelt. An ihnen sind Charakterbeschreibungen und Verhaltensweisen orientiert. Der Durchbruch chinesischer Kulturpsychologie bestätigt Gergens Theorie der »Literatur als Diskurs«. Postmoderne Theorien sind in Wang Anyis Werk nachzuspüren, gleichwohl bleibt sie distanziert gegenüber vordergründigen Wertkategorien. Sie vertritt vielmehr eine moderate Sichtweise oder, landestypisch, eine »ausgewogene«, am Zhongyong – dem Wert der Mittelposition – orientierte Haltung. Diese Haltung ist gleichermaßen in ihrer Sicht auf traditionelle chinesische Verhaltensweisen präsent, die sie in ihren Werken integriert. Wang Fengyan hat in seiner »Geschichte der Chinesischen Psychologie« (2008) den Begriff des Zhongyong im Kontext des chinesischen Persönlichkeitsverständnisses analysiert. Demnach hätte sich die Vorstellung eines Verhaltens, »das ohne extreme Neigung zur einen oder anderen Seite ist«, in der Persönlichkeitspsychologie der Chinesen sedimentiert und führe dazu, dass Chinesen dazu neigen, Extrempositionen zu vermeiden (Wang 2008: 555-557). Ich möchte hier die Hypothese aufstellen, dass Wang Anyi eben aufgrund ihrer ausgewogenen Positionen eine hohe, generationenübergreifende Akzeptanz in China genießt. Dies betrifft sowohl ihre Hal-

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tung gegenüber der chinesischen Gegenwart, die sie vorrangig durch das allgegenwärtige Konsumverhalten der Marktgesellschaft gekennzeichnet sieht, als auch gegenüber europäisch-westlich geprägten Wertvorstellungen, die sie kritisch auslotet (Diskussionsprotokoll Erlangen 2010). Chinesische Literaturkritiker wie Chen Sihe halten sie für sehr schwer einordbar, weil sie ein breites, stets wandelndes Themenspektrum aufweise, das bestenfalls das Merkmal urbaner, speziell Shanghaier Idiosynkrasien zeige (Chen 2007). Die Hypothese chinesischer Eigenarten, Differenz und Heterogenität des durch seine Kulturtradition geprägten Menschen bleibt in »Zeitalter der Aufklärung« aber nicht auf Shanghai beschränkt und auch nicht auf die Ära der Kulturrevolution. Wang Anyi konfrontiert den Leser mit einer hohen Ambiguität der Charaktere aus mehreren, sowohl durch ihre Zeit als auch durch eine immanente Kulturtradition geprägten Generationen. Individuelle Selbstentwürfe, wie sie in der europäisch-westlichen literarischen Tradition, aber auch im daoistischen Denken verankert sind, finden sich gleichermaßen in ihren Werken. Es erscheint mir opportun, die »akkumulative Sichtweise« der chinesischen Kulturpsychologie für die Interpretation chinesischer Gegenwartsliteratur hinzuzuziehen. Kulturpsychologische Analysen sind überaus hilfreich, denn sie formulieren explizit, konkret und im Rahmen eines historischen Referenzsystems, was in der Literatur oder der Narration latent bleibt. Die Interpretation einer »chinesischen Aufklärung« – bei Wang Anyi verstanden als Prozess mehrerer Generationen gleichwohl einer Kulturtradition – setzt Wissen über den chinesischen Kontext, aber auch Toleranz voraus, wie sie dem traditionellen chinesischen Denken eigen ist. Sehr subtil bietet sie eine Alternative zur offiziellen Bewertung der Kulturrevolution als kollektives, abgeschlossenes nationales Drama des 20. Jahrhunderts, dessen Schatten keineswegs der Gegenwart fern, sondern – in seinem gleichermaßen unerwünschten Gegenteil – sehr präsent ist. Der Historiker Rana Mitter hat die Zusammenhänge der chinesischen Revolution beschrieben und festgestellt, dass kollektive Verarbeitung keine ausschließlich chinesische Angelegenheit ist: »One way to deal with trauma is to erase it from memory, or at least separate it out from ›normal life‹. It is not always a good idea to transfer the psychology of individual human beings to the ›psyches‹ of nations as a whole, but it is no-

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ticeable that nations do tend to deal with the most horrific parts of their histories by treating them as anomalous, in the way that a person claims that he did some dreadful deed while he was ›not himself‹.« (Mitter 2004: 207)

Wang Anyi geht aber weiter: Nicht die Schilderung des Traumas, sondern die implizite Spiegelung der Gegenwart und ihrer Folgen – das andere Extrem nach der daoistischen Weisheit des »wujibifan« (s.o) – sind es, was sie uns vor Augen führt. Am Ende der Kulturrevolution wendet sich das Dasein in China, das sich in der Ära des Postsozialismus zugespitzt hat. Der Marktorientierung folgte erwartungsgemäß die Kommerzialisierung von Kunst und Kultur, aber auch ihre Vulgarisierung und Entfremdung. Die negativen Auswirkungen einer forcierten, vor allem ökonomischen Modernisierung und der Zustand einer marginalisierten Ideologie, für die – außer einer modernistischen – kein Ersatz gefunden wurde, um dem Menschen jenseits seiner kommerziellen Bedürfnisse Orientierung zu geben, sind das umfassende Thema des gegenwärtigen gebildeten und informierten Dialogs. So nimmt es nicht wunder, dass auf die ökonomische Liberalisierung eine kulturelle Retrospektion folgt, die sowohl einem entfesselten Markt der Kultur gegenübersteht als auch dem Dogma einer nach wie vor von der Kommunistischen Partei aufrechterhaltenen »sozialistischen geistigen Zivilisation«.

5. AUSBLICK Die Frage nach der Befindlichkeit in China habe ich im Zusammenhang mit dem Aufklärungsdiskurs und der Frage nach der Differenz der chinesischen Gesellschaft zu beantworten versucht. Es zeigt sich, dass Kulturpsychologie und Literatur sich in besonderer Weise ergänzen, wenn die Frage nach einem kollektiven oder individuellen Selbstverständnis und damit der Identität in China beantwortet werden soll. Intellektuelle und Schriftsteller waren stets das Sprachrohr des Volkes – und auch Leitfiguren einer »intellektuellen Hochkultur« (Zhang Xudong), die in der Koexistenz von Tradition und Wandel erscheint und in der chinesischen Gegenwartsliteratur Kristallisation erfährt, präzise und nachvollziehbar.

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Schwierige Internationalisierung: Globalisierung und transnationale Kooperation in den Sozialwissenschaften D ORIS W EIDEMANN

1. I NTERNATIONALISIERUNG DER S OZIALWISSENSCHAFTEN In einer Welt, die von der fortschreitenden Globalisierung aller Lebensbereiche geprägt ist, erscheint die Frage nach der Internationalisierung der Sozialwissenschaften leicht als nachrangig oder gar überflüssig. Ganz offensichtlich hat die Wissenschaft nicht nur einen hohen Grad internationaler Verbreitung und Standardisierung erreicht, sondern ist auch durch einen lebhaften internationalen Austausch gekennzeichnet. Dies gilt fraglos auch für die modernen Sozialwissenschaften, die sich seit ihrer Entstehung im Europa des 19. Jahrhunderts erfolgreich weltweit etabliert haben und längst ein globales Unterfangen darstellen: Die internationale Mobilität von Studierenden und Wissenschaftlern, internationale Forschungskooperationen, Fachverbände, Kongresse und Publikationsorgane stellen einen weltweiten Wissensaustausch sicher und ermöglichen einer wachsenden Zahl von Sozialwissenschaftlern die Beteiligung am internationalen Diskurs. Begreift man grenzüberschreitende wissenschaftliche Tätigkeit von Einzelpersonen, Kollektiven und Organisationen als definierendes Kriterium, so ist Wissenschaft heute zweifellos international.

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Der Prozess der Internationalisierung besteht nach diesem Verständnis insbesondere in der Ausweitung transnationaler Aktivitäten, also z.B. in der zunehmenden Mobilität von Forschern oder der steigenden Zahl internationaler Vorträge, Forschungsprojekte oder Veröffentlichungen. Tatsächlich gelten alle genannten Faktoren soziologischen und wissenschaftspolitischen Analysen als wichtige Kriterien zur Messung des Internationalisierungsgrades von Wissenschaft und Forschung: Statistische Daten dokumentieren internationale Reisebewegungen, den Förderumfang multinationaler Projekte, die Häufigkeit internationaler Veröffentlichungen und Koautorenschaft, die Anzahl internationaler Hochschulpartnerschaften oder die multinationale Zusammensetzung des wissenschaftlichen Personals an Forschungseinrichtungen. Die resultierenden Kennzahlen werden zur Beurteilung der Forschungsleistung Einzelner, von Projektgruppen oder Forschungseinrichtungen herangezogen; sie dienen überdies Forschungsministerien und Forschungsförderern zur Dokumentation der internationalen Ausrichtung und des Leistungsstandes der Scientific Communities ganzer Länder oder Regionen (siehe z.B. die Beiträge im World Social Science Report, UNESCO 2010). Eine solche, einzig auf die zahlenmäßige Steigerung internationaler Begegnungen und Tätigkeiten abzielende Auffassung ist indes nicht ohne Kritik geblieben. Was, so wenden Kritiker ein, sei »international« an einer Wissenschaft, die sich im Wesentlichen am »westlichen« Modell orientiere und Beiträge jenseits »eurozentrischer« Vorgaben nicht zur Kenntnis nehme? Der Umstand, dass sich »westliche« Wissenschaft erfolgreich über Landesgrenzen hinweg verbreitet hat, wird von dieser Warte aus mitnichten als Erfolg gewertet, denn: Solange diese Wissenschaft theoretisch, methodisch, inhaltlich und institutionell ausschließlich dem euro-amerikanischen Modell folge, sei nicht nur deren Anwendbarkeit und Nutzen für nicht-westliche Länder begrenzt, sondern auch der Universalismus-Anspruch von Wissenschaft nur schwerlich aufrechtzuerhalten (Connell 2010). Die herrschende Internationalisierungspraxis benachteilige Wissenschaftler »peripherer« Länder, die nur dann Gehör fänden, wenn sie sich in Themenstellung, Methodik, Sprache und Textformat nach den Konventionen der angelsächsisch geprägten »internationalen« Normen richteten und bevorzuge die Angehörigen ökonomisch und politisch einflussreicher Länder (z.B. Alatas 2003). Im Gegensatz zur bisherigen Praxis verlange eine »authentische Internationalisierung« der

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Forschung jedoch den Einbezug exkludierter Perspektiven und Anliegen und die Beseitigung der bestehenden, den »Westen« einseitig bevorzugenden Verzerrungen. Internationalisierung besteht nach diesem Verständnis nicht in einer quantifizierbaren Zunahme von Wissenschaftsbeziehungen des bisherigen Musters, sondern in einer qualitativen Veränderung, die sich um den Einbezug alternativer Perspektiven ernsthaft bemüht (z.B. Oommen 1991). Die knappe Gegenüberstellung der Positionen zeigt, dass die Frage nach der Internationalisierung der Sozialwissenschaften keineswegs trivial oder irrelevant ist: Erscheint sie zunächst als quasi natürliche Begleiterscheinung allgegenwärtiger Globalisierung, so entlarvt sie sich auf den zweiten Blick durchaus als schwierig. Die skizzierten Positionen rufen in Erinnerung, dass im Zuge gesellschaftlicher und politischer Veränderungen auch in der Wissenschaft beständig um Rederecht und Diskursmacht gerungen wird. Dies gilt nicht nur für die Gender-Forschung, die frauenspezifische Barrieren in der Wissenschaft entlarvt hat und eine Beendigung diskriminierender Praktiken fordert (z.B. die Beiträge in Krais 2000 oder Hornig 2003). Die Berücksichtigung marginalisierter Positionen wird auch im Rahmen der Postkolonialismus-Debatte oder von Vertretern sozialwissenschaftlicher Indigenisierungsbewegungen angemahnt. Auseinandersetzungen um Definition, Zielsetzung und Praxis der Internationalisierung von Wissenschaft vollziehen sich im Kontext dieser Diskurse und kommen an Fragen nach der »Öffnung« der Sozialwissenschaften (Wallerstein et al. 1996) sowie dem Einbezug wissenschaftlicher Perspektiven der Majority World nicht vorbei. »Internationalisierung« mag aus wissenschaftlichen, politischen oder persönlichen Gründen verfolgt werden und längst Teil akademischer Praxis sein. Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff weckt jedoch zugleich auch Fragen danach, wie sie sich inhaltlich vollzieht, durch wen sie gestaltet wird und wer mitreden darf, wenn es um die Artikulation globaler Forschungsagenden geht. Dies gilt umso mehr in Zeiten, die von einer Verschiebung der globalen Machtverhältnisse zugunsten der aufstrebenden Staaten Asiens und Lateinamerikas gekennzeichnet sind. Wachsende ökonomische Leistungskraft hat nicht nur zu einer besseren Finanzierung der Hochschulsysteme der (ehemaligen) Schwellenländer und zu einer größeren Leistungsfähigkeit ihrer Scientific Communities geführt, sondern auch zu größerer Sichtbarkeit und erstarktem Selbstbewusstsein ihrer akademischen Eliten. Inwiefern dies zur Neukonturierung internationaler

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Sozialwissenschaften führen wird, beginnt sich erst langsam abzuzeichnen. In den Debatten um die Gestaltung internationaler Forschungskooperation haben diese Veränderungen allerdings ersten Niederschlag gefunden (siehe z.B. Kuhn/Weidemann 2010). 1 Die nachfolgenden Abschnitte unternehmen den Versuch einer selektiven Momentaufnahme der aktuellen Praxis transnationaler Forschungskooperation in Zeiten sich wandelnder globaler Machtverhältnisse. Gefragt wird, wie transnationale Kooperationen unter den aktuellen Bedingungen der Globalisierung gestaltet werden (können), welchen Herausforderungen sie sich gegenüber sehen, und welche Einsichten sich hieraus für die mögliche künftige Gestaltung von Internationalisierungsprozessen ableiten lassen. Die Zusammenschau empirischer Befunde sowie ausgewählter theoretischer und programmatischer Beiträge macht prominente Konfliktfelder – z.B. die Forderung nach Überwindung von Eurozentrismus und »intellektueller Abhängigkeit« – sichtbar, von denen eine Neuverteilung von Diskursmacht bzw. Neudefinitionen sozialwissenschaftlicher Fragestellungen ausgehen könnten. Die Entscheidung, bei der Betrachtung von Internationalisierungsprozessen nicht Makrostrukturen des Wissenschaftssystems, sondern die Praxis transnationaler, inter-individueller Forschungskooperation zum Untersuchungsgegenstand zu wählen, entspricht einem kulturpsychologischen Ansatz, der hier begründend kurz dargestellt sei. Wie jede Form der Psychologie ist Kulturpsychologie grundsätzlich auf die Untersuchung menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns ausgerichtet. Als Kulturpsychologie kennzeichnet sie darüber hinaus das Interesse für die kollektiv verfassten, kulturellen Kontexte,

1

Die Standpunkte in dieser Debatte folgen gleichwohl keinesfalls geografischen, politischen oder disziplinären Zuordnungen: Befürworter wie Kritiker des existierenden Wissenschaftssystems finden sich in unterschiedlichsten Zirkeln, in Schwellenländern ebenso wie in den entwickelten Industrieländern. Allerdings ist die Bewusstheit für die (exkludierenden) Funktionsweisen der (»westlichen«) Wissenschaft unter jenen Sozialwissenschaftler/-innen größer, die von Zugangsbarrieren direkt betroffen sind bzw. die in der internationalen Kooperation die verhältnismäßig größeren Anpassungsleistungen zu erbringen haben. Sie sind jedoch keineswegs die einzigen, die eine ›echte‹ Internationalisierung anstreben und ihre Konturierung vorantreiben.

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mit denen menschliches Erleben und Verhalten stets im Austausch stehen. Kultur gilt dabei nicht als externe Variable, sondern als »integraler Bestandteil der menschlichen Psyche« (Chakkarath 2007: 240) und zugleich als Handlungsfeld, das durch menschliche Aktivität stets verändert wird (Boesch 1991). Der Mensch wird damit in doppelter Hinsicht als ›Kulturwesen‹ verstanden: Als im kulturellen Kontext geformt sowie als handelnd auf den kulturellen Kontext einwirkend. In jeder Hinsicht gilt: »psyche and culture […] make each other up« (Shweder 1991: 73). Getreu ihrer psychologischen Zielsetzung steht dabei zunächst das Interesse am menschlichen Erleben und Handeln im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Versuch, »kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen« zu wagen, lädt jedoch in besonderer Weise dazu ein, den Blick zwischen den Konturierungen des kontextuellen Feldes und den Motiven, Zielen und Handlungen einzelner Akteure hin und her wandern zu lassen. Phänomene, die sich wie »Internationalisierung der Wissenschaft« sowohl auf gesellschaftlich-politischer, wie auch auf (inter-)individueller Ebene manifestieren, können sodann unter Berücksichtigung beider Ebenen betrachtet werden. Zentraler Bezugspunkt bleibt gleichwohl die handelnde Person: Zielen Zeitdiagnosen auf das Erfassen von signifikanten Großphänomenen, so mahnt ein kulturpsychologischer Ansatz, die Interaktionen von Kontext und Handelndem, von Kultur und Individuum, nicht zu vernachlässigen. Der von diesem Ansatz ins Spiel gebrachte zentrale Begriff der »Kultur« beinhaltet für die Untersuchung internationaler Wissenschaftskooperation zunächst eine Provokation, nimmt doch Wissenschaft grundsätzlich für sich in Anspruch, kulturneutral und objektiv zu sein. Mit der kulturpsychologischen Auffassung von der wechselseitigen Durchdringung von Kultur und Handeln steht diese Prämisse offenkundig im Widerspruch. Greift man jedoch die Hinweise von Wissenschaftlern auf, die auf die Bedeutung kultureller Differenz im Wissenschaftshandeln hingewiesen haben (z.B. Thomas 1999, 2003), so bietet eine kulturpsychologischer Perspektive für die Untersuchung internationaler Wissenschaftskooperationen vielversprechendes theoretisches Rüstzeug: Wenn Denken und Handeln stets als kulturell informiert – durch den kulturellen Kontext vorstrukturiert und mit Deutungsangeboten ausgestattet – betrachtet werden, so gilt dies eben auch für wissenschaftliches Handeln. Einer kulturpsychologischen Betrachtungsweise ist daher die Bedeutung kollektiver Regeln unter-

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schiedlicher Wissenschaftsdisziplinen vertraut und der Gedanke an die kulturelle Verfasstheit wissenschaftlichen Denkens nicht fremd. Kulturpsychologische Analysen sind daher für die Untersuchung kultureller Differenz verschiedener Wissenschaftskollektive ebenso geeignet wie zur Begründung ›indigener‹ Sozialforschung. (Ob das Verhältnis der Indigenen Psychologien und der Kulturpsychologie als Nebeneinander oder als Inklusion des Einen in das Andere zu verstehen ist, sei hier dahingestellt. Die Nähe der Anliegen ist auf jeden Fall unverkennbar, s.a. Chakkarath 2012). Kulturpsychologisches Denken schärft überdies den Blick für die Kontingenz wissenschaftlicher Normen und erlaubt damit eine nähere Betrachtung der womöglich »eurozentrischen« Grundlagen »westlicher« Wissenschaft. Auch hier schließt ein kulturpsychologischer Ansatz in fruchtbarer Weise an Diskurslinien der Internationalisierung an. Die wechselseitige Konstitution von Kultur und Psyche bedeutet, dass auch Wissenschaft als Produkt menschlichen Handelns zu verstehen ist und damit als formbar, veränderlich, in einen spezifischen historischen Kontext eingebettet und in dessen Rahmen mit Sinn ausgestattet.

2. T RANSNATIONALE K OOPERATION 2.1 Kultur als Faktor transnationaler Forschungskooperation Dass Wissenschaft mit gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in engem Austausch steht, ist auch jenseits der Kulturpsychologie unbestritten. Ansätze der Wissenschaftsforschung, so z.B. die Science and Technology Studies oder die Wissenschaftsethnographie, sind auf die Erkundung dieses Zusammenhangs hin ausgerichtet und haben auf den Fabrikationscharakter wissenschaftlichen Wissens immer wieder hingewiesen (z.B. Knorr-Cetina 2002). Sie haben gezeigt, dass alle Aspekte wissenschaftlicher Forschung – angefangen von der Auswahl der Forschungsfrage über die Interpretation von Daten bis hin zur Entscheidung über die Relevanz von Forschungsergebnissen – an soziale Konstruktionsprozesse gebunden sind, dass mithin gesellschaftliche und kulturelle Vorstrukturierungen in vielfältiger Weise auf wissenschaftliche Forschung Einfluss nehmen. Für die Betrachtung transnationaler Forschungskooperation sind diese Vorstrukturierungen

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in doppelter Hinsicht relevant: Zu untersuchen sind zum einen jene Rahmenbedingungen, die í wie z.B. die Hegemonialstrukturen des internationalen Wissenschaftssystems ídas globale Feld transnationaler Kooperationen insgesamt prägen, und zum anderen solche Faktoren, die aufgrund ihrer regional begrenzten Reichweite in der transnationalen oder trans-disziplinären Zusammenarbeit zu Erfahrungen kultureller Differenz führen. Aus kulturpsychologischer Perspektive lässt sich reformulieren und ergänzen: Von Interesse sind die kulturellen Kontexte, mit denen wissenschaftliches Denken und Handeln im Austausch stehen, die spezifischen inhaltlichen Ausformungen wissenschaftlichen Denkens und Handels selbst sowie die interkulturellen Aushandlungsprozesse, die die transnationale Forschungskooperation begleiten. Internationale Forschungskooperation ist auch auf der Ebene einzelner Forschungs- oder Publikationsprojekte in kulturelle und politische Strukturen eingebettet und muss diesen auf organisatorischer und inter-individueller Ebene begegnen (Weidemann 2007). Dass dabei häufig ungewollt kollektive Strukturen sichtbar werden und wie sehr dies die Entwicklung neuer Formen der Internationalisierung behindert, soll an drei Beispielen diskutiert werden. Gezeigt werden soll, dass die Hegemonialstrukturen des Wissenschaftssystems, der Eurozentrismus sozialwissenschaftlicher Forschung und die Leugnung kultureller Differenz im Wissenschaftshandeln wichtige und problematische Elemente transnationaler Wissenschaftskooperation darstellen. Sollen sie – im Sinne einer »authentischen Internationalisierung« – überwunden werden, so stellt dies neue Anforderungen an die international kooperierenden Partner. 2.2 Globale Machtstrukturen und ungleiche Partizipation Zweifellos sind die internationalen Sozialwissenschaften durch eine Ungleichverteilung der Ressourcen sowie durch ungleiche Partizipation am wissenschaftlichen Diskurs gekennzeichnet. Der World Social Science Report (2010), eine von der UNESCO in Auftrag gegebene Bestandsaufnahme der globalen Situation der Sozialwissenschaften, demonstriert dies auf mehr als 400 Seiten äußerst eindrücklich. Ungleichgewichte bestehen nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die inhaltliche Konturierung sozialwissenschaft-

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licher Forschung: Themen, Fragestellungen und Theorien werden maßgeblich durch Wissenschaftler/-innen »westlicher« Staaten definiert und reflektieren einseitig die Interessen und Wissenstraditionen des »globalen Nordens«. Diese »nordatlantische Hegemonie« (ebd.: 353) wird im erwähnten Bericht anhand zahlreicher Beispiele verdeutlicht und etwa durch nachfolgende Daten belegt: Zwei Drittel aller sozialwissenschaftlichen Zeitschriften werden in nur vier Ländern herausgegeben: in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland (Gingras/Mosbah-Natanson 2010: 150). 85 Prozent der Zeitschriften mit einem peer review-System erscheinen in englischer Sprache; es folgen die Sprachen Französisch, Deutsch, Spanisch und Portugiesisch. Chinesisch, die für Zeitschriften am häufigsten verwendete außereuropäische Sprache, betrifft nur 1,5 Prozent der Publikationen (gleichauf mit Holländisch) (ebd.: 151). Unter den zehn am häufigsten verwendeten Sprachen finden sich nur zwei außereuropäische: Chinesisch und Japanisch, die zusammen lediglich einen Anteil von 2,5 Prozent an allen Publikationen haben. Kritiker des globalen Wissenschaftssystems weisen dabei darauf hin, dass mit der Vorherrschaft bestimmter Verlagsstandorte und Wissenschaftssprachen Selektionsprinzipien wirksam werden, die Beiträge von Wissenschaftlern des globalen Südens systematisch benachteiligen bzw. von einer Veröffentlichung ausschließen. So gehen zum Einen Beiträge, die nicht in einer der ›Standardsprachen‹ verfasst sind, dem internationalen Diskurs verloren. Zum anderen werden durch die Verlage der akademischen Zentren Publikationsformate definiert und die Relevanz wissenschaftlicher Beiträge nach Maßgabe lokaler Interessen bewertet, ohne Alternativen Raum zu gewähren. »Nordatlantische Hegemonie« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Regeln des in Europa entstandenen Wissenschaftssystems weltweit zur Anwendung gebracht werden und festlegen, was als sozialwissenschaftliche Forschung definiert und veröffentlicht werden kann. Entsprechend bezeichnet Syed F. Alatas Länder wie die USA, Frankreich oder Großbritannien, die ihren wissenschaftlichen Einfluss weltweit geltend machen können, als »social science powers« (Alatas 2003). Ihr Status ist dadurch bestimmt, dass die von ihnen formulierten Theorien, Forschungsmethoden und wissenschaftlichen Standards weltweit rezipiert und von Angehörigen der »peripheral science communities« als Leitlinien ihrer Arbeit übernommen werden. Die auf diese Weise entstehende Abhängigkeit (»academic dependency«) peripherer Science Communities von

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den akademischen »Zentren« des »Westens« setze Traditionslinien des Kolonialismus fort und verhindere die Entwicklung und Verbreitung eigener wissenschaftlicher Theorien. Transnationale Kooperationen, die Forscher des globalen Nordens und des globalen Südens miteinander in Kontakt bringen, existieren im Kontext dieses internationalen Wissenschaftsgefüges. Sehr häufig (und in der Regel ungewollt) reproduzieren sie die Makro-Strukturen aber auch auf der Ebene konkreter Projekte und Interaktionen. Trotz vordergründiger Gleichheit und Gleichberechtigung mögen dann Status und Rollenverteilung durch das unterschiedliche Prestige der Herkunftsländer, die Bedeutung ihrer Scientific Communities oder, häufig am deutlichsten spürbar, durch die ungleich verteilten Finanzmittel beeinflusst sein. Letztere entscheiden darüber, wer gemeinsame Projekte überhaupt initiieren und durchführen kann und haben damit Einfluss darauf, wer Projekte inhaltlich konturiert und z.B. über die Teilnehmer der Kooperation entscheidet. Wissenschaftler/-innen, die kein Geld zur Finanzierung von Reisekosten haben (und ohne offizielle Einladung nicht einmal ein Visum für die europäischen oder nordamerikanischen Staaten erhalten), sind häufig auf internationale Finanzmittel und damit z.B. auf Projekte »westlicher« Kolleg/-innen angewiesen. Die Reproduktion globaler Strukturen ist jedoch auch im Wissenschaftsdialog selbst erkennbar. Von Bedeutung ist hier, dass es insbesondere Wissenschaftler der »peripheren« Länder sind, die die größeren sprachlichen und kulturellen Übersetzungsleistungen erbringen. Es sind in der Regel ihre Kenntnisse europäischer Sprachen, der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften und wissenschaftlichen Traditionen, die internationale Kooperationen überhaupt erst ermöglichen. Während Wissenschaftler des globalen Südens über den Stand der Forschung in Nordamerika und Westeuropa zumeist gut informiert sind, besteht umgekehrt ein großes Wissensdefizit. Auf der Ebene interindividueller Kooperation äußert sich Wissenschaftsmacht mithin nicht zuletzt auch darin, wer welche Forschungstraditionen ungestraft ignorieren kann (s.a. Danziger 2009). Bemerkenswert ist, dass selbst Arbeiten, die explizit den internationalen Dialog fördern und außereuropäischen Forschern eine Publikationsplattform bieten wollen, die hegemonialen Strukturen keineswegs automatisch hinter sich lassen. Dies zeigt etwa das willkürlich herausgegriffene Beispiel eines jüngst erschienenen französisch-chinesischen Herausgeberbandes mit dem Titel »European and Chinese Sociolo-

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gies: A New Dialogue« (Roulleau-Berger/Li 2012). Das Buch verdeutlicht nicht nur, dass die beschriebenen Austauschmechanismen zwischen (europäischem) »Zentrum« und (chinesischer) »Peripherie« unverändert wirksam sind, sondern auch, dass sie durch Publikationen wie diese erneut gefestigt werden. Während in dem Band vordergründig die Auseinandersetzung mit nicht-westlichen Beiträgen sowie die wechselseitige Bezugnahme soziologischer Forschung angestrebt werden, so zeigt bereits ein Blick in die Literaturverzeichnisse, was auch die Artikel kennzeichnet: Zwar zeigen sich die chinesischen Autorinnen und Autoren als versiert in französischen und europäischen Debatten, doch nehmen umgekehrt die europäischen Autoren kaum je Bezug auf chinesische Forschungsbeiträge. Das Buch beruht (mit seltenen Ausnahmen, wie dem im elften Kapitel vorgestellten Begriff der »Guanxilisation«) fast vollständig auf »westlichen« Konzepten, die nicht nur von den europäischen Autoren, sondern eben auch von den chinesischen völlig selbstverständlich als zentraler Bezugspunkt verwendet werden. Dabei kommt die von Alatas (2003) und anderen beschriebene Arbeitsteilung – der »Westen« liefert Theorien, der »Osten« vor allem Daten (Kuhn/Okamoto 2008: 64) – erneut zur Anwendung: Während die chinesischen Autoren insbesondere Beiträge zu ausgewählten Phänomenen »in China« verfassen, befindet sich unter den europäischen Beiträgen nur ein geringer Anteil an »Länderartikeln«. Anders als die chinesischen Autoren sprechen die europäischen Verfasser mit dem Anspruch, allgemeingültiges Wissen zu formulieren (und die französischen Autoren im Übrigen mit dem Selbstverständnis, Europa zu repräsentieren). Die internationale Kooperation bleibt auf diese Weise weitgehend additiv, was u.a. auch daran sichtbar wird, dass es keine gemeinsam verfassten Artikel und nicht einmal eine gemeinsam verfasste Einleitung gibt. Anstelle des im Titel angekündigten »Dialogs« zwischen den Soziologien Chinas und Europas demonstriert das Buch mithin vor allem die Schwierigkeiten, die im Sinne eines gleichberechtigten Austausches zunächst überwunden werden müssen. Das Beispiel zeigt stellvertretend für viele weitere, dass Asymmetrien zwischen »Zentrum« und »Peripherie« auf der Makroebene ebenso wie auf der Mikroebene transnationaler Kooperationen erkennbar sind. Gleichwohl sei eine kritische Anmerkung zum analytischen Wert der mittlerweile weit verbreiteten Begriffe »Wissenschaftsmacht«, »nordatlantische Hegemonie« und »intellektuelle Abhängigkeit«, die

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zur Charakterisierung der internationalen Austauschbeziehungen im Bereich der Sozialwissenschaften verwendet werden, angebracht. Die Rede von »Macht« und westlicher »Hegemonie« verweist darauf, dass die Verbreitung europäischer und – nach 1945 – US-amerikanischer Theorien an die politische, wirtschaftliche und militärische Vormachtposition »westlicher« Staaten geknüpft war (z.B. Moghaddam 2009: 163f.). Sie betont zugleich die Kontrollmacht, die der »Westen« bzw. der »globale Norden« in Bezug auf die Definition von Forschungsthemen und die Festlegung wissenschaftlicher Standards hat. Sie produziert andererseits jedoch äußerst simple Kontrastierungen und insinuiert ein Täter-Opfer-Verhältnis, das einer kritischen Prüfung nicht in jeder Hinsicht standhält. Während unbestreitbar ist, dass die Sozialwissenschaften Kolonialpolitik und Imperialismus unterstützt und legitimiert haben (und sich argumentieren ließe, dass sie es immer noch tun, siehe Smith 2012), wurden westliche Sozialtheorien doch auch immer wieder aufgrund ihres emanzipatorischen Potentials enthusiastisch gefeiert (so z.B. im China des beginnenden 20. Jahrhunderts, als die Rezeption westlicher Theorien politische Reformen begleitete, die gegen die als überkommen empfundenen Strukturen des Kaiserreiches gerichtet waren, vgl. z.B. Mitter 2010). Auch in späteren Epochen und anderen Regionen stieß westliche, bzw. amerikanische Sozialforschung auf positive Akzeptanz seitens der aufnehmenden Länder. Explizit zeigen lässt sich dies am Beispiel der europäischen Länder, deren Wissenschaftssysteme nach Kriegsende von den amerikanischen Aufbauhilfen profitierten. Die wissenschaftliche Begeisterung darüber, an die führende amerikanische Forschung anschließen zu können sowie die Sympathie für die mit den Aufbaumitteln explizit propagierten amerikanischen Werte schufen eine Situation, in der amerikanische Hegemonie zumindest »co-konstruiert« wurde (Krige 2008). Ohne Akzeptanz auf der Gegenseite wäre die Verbreitung der Sozialwissenschaften amerikanischen Stils wohl nirgendwo zustande gekommen (z.B. Adair 2006) íuntersucht wurde die Co-Konstruktion amerikanischer Hegemonie jedoch bisher nur selten. Die Verkürzung der Debatte auf eine Kontrastierung zwischen »Social Science Powers« und »Periphery«, zwischen »dem Westen« und dem »Rest der Welt« wird der komplexen Situation globalen Wissensaustausches mithin nicht gerecht. Sie führt letztlich nicht nur zu fruchtlosen Schuldzuweisungen und Klagen über die eigene Bedeutungslosigkeit, sondern verschleiert auch sehr wirksam, in welch viel-

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fältiger Hinsicht Wissenschaft allerorten mit Aspekten der Machtausübung verwoben ist. Fragen der Gleichberechtigung und Partizipation stellen sich nicht nur entlang einer imaginären Trennlinie zwischen Nord und Süd, sondern ebenso zwischen den Geschlechtern, zwischen statushöheren und -niederen Gruppen aller Art sowie zwischen Forschern und Beforschten. Transnationale Kooperationen sind auf all diesen Ebenen gefordert, mit Fragen der Partizipation kompetent umzugehen. 2.3 Eurozentrismus Globale Machtstrukturen sind mehr als ein Kontextfaktor internationaler Wissenschaft: Sie sind den Prozessen akademischer Austauschbeziehungen inhärent und finden auch in den Inhalten sozialwissenschaftlicher Forschung ihren Niederschlag. Wallerstein et al. (1996) zeigen, dass die modernen Sozialwissenschaften das historische Erbe ihrer Entstehung im Europa des 19. Jahrhunderts in ihrem disziplinären Zuschnitt, ihren Inhalten und Theorien bis heute in sich tragen. Spezifisch »eurozentrische« Annahmen und Weltsichten sind damit in vielen Fällen unhinterfragter Bestandteil sozialwissenschaftlicher Forschung. Sie sind sozialwissenschaftlichen Konzepten (z.B. »Religion«, vgl. Straub/Shimada 1999) ebenso eingelassen wie ganzen Theorien (z.B. Modellen gesellschaftlicher Entwicklung, die Europa als Vorbild moderner Zivilisation inszenieren, vgl. Ang 1998: 87; Smith 2012). In der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen werden eurozentrische Sichtweisen besonders leicht sichtbar, so z.B. wenn in der kulturvergleichenden Psychologie (Ost-)Asiaten als »kollektivistisch« beschrieben werden, als Personen mit einem »interdependenten Selbst« und einem »holistischen« (statt »analytischen«) Denkstil (Hofstede 1984, Markus/Kitayama 1990, Nisbett 2005). Trotz moderner Attribute ist in dieser Charakterisierung das tradierte Bild des »Orientalen«, der zu rationalem Denken und eigenständigem Handeln nicht befähigt ist, unschwer erkennbar. Eine ethnozentrische Herangehensweise, die eigene kulturelle Standards als Maß aller Dinge betrachtet, entlarvt sich stets jenen eher, die anderer kultureller Teilhabe sind: Dies gilt für implizit patriarchale ebenso wie für eurozentrische Argumentationen. Beteuerungen, andere nicht ausschließen zu wollen, sind deshalb für sich alleine noch kein Garant für eine »offene« Wissenschaft. Ein zweites Beispiel soll zei-

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gen, wie ethnozentrische Tiefenstrukturen selbst in Beiträgen wirksam werden, die explizit der Anerkennung nicht-westlicher Wissenschaften gelten: In einem Artikel, der dem Entwicklungsprozess indigener Psychologien gewidmet ist, stellt Adair (2006) ein diesbezügliches Stufenmodell vor. Dargestellt wird, wie ausgehend vom »Import« westlicher Psychologie die Etablierung der Disziplin mehrere Stufen durchläuft, bis schließlich der Status einer »autochthonen« Psychologie erreicht ist. Während explizit der Entwicklungsprozess skizziert wird, wird implizit zugleich in ethnozentrischer Weise die Psychologie USamerikanischen Zuschnitts als normativer Bezugspunkt bestätigt. 1. Importation

a. Discipline is introduced to a country b. becomes part of the university curriculum, and c. scholars are sent abroad to be trained 2. Implantation a. Returning scholars begin functioning as psychologists b. conduct research emulating Western training model, c. research topics selected from journals, d. use textbook application of methods to guide research, and e. teach discipline as it was taught in graduate school 3. Indigenization a. Scholars criticize Western models and methods as inappropriate, b. adapt tests and methods to language and culture, c. research topics in the national interest, and d. identify culturally unique behaviors/thoughts for study. 4. Autochthonization a. Establish graduate training programs to self-perpetuate discipline. b. Locally-authored/edited textbooks published and used. c. National association promotes journals, discipline, and d. standards for research ethics and professional practice. e. National funding reliably available for research, and f. critical mass of mature, established scholars focus on research problems that are culturally appropriate and nationally important (Adair 2006: 472)

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Das sprachlich allgemein gehaltene Modell beschreibt offenkundig einen Wissenstransfer von »West« nach »Ost«. Dies machen nicht nur die Stufen zwei und drei explizit deutlich – vielmehr ist das Modell kaum andersherum, also etwa als Import »östlicher« Psychologie in den »Westen« lesbar. Ethnozentrismus kommt in der unhinterfragten Annahme zum Ausdruck, dass die Entwicklung indigener, wissenschaftlicher Psychologie nur als Kombination aus westlicher Wissenschaft und lokaler Anpassung denkbar sei, wobei die autochthone Wissenschaft »Reife« erlangt, sobald die im Westen bewährten Instrumente (wissenschaftliche Gesellschaften, Zeitschriften, Promotionsprogramme, nationale Forschungsförderung) lokal verankert sind. Kulturelle Variation wird zwar im Bereich der bearbeiteten Forschungsthemen zugestanden, nicht jedoch bezüglich der Standards und Organisation von Wissenschaft, die unausgesprochen dem amerikanischen Modell folgen. Indem nahegelegt wird, dass die Entwicklung akademischer Psychologie einer westlichen Initiierung bedürfe, wird zugleich lokalen Wissenschaftstraditionen Relevanz, wenn nicht gar die Existenz abgesprochen. Unterstrichen wird diese Deutung durch Adairs Erläuterung, dass allein Forscher/-innen in den USA von der Herausforderung, die Psychologie zu indigenisieren, ausgenommen seien (ebd.: 469). Auf diese Weise werden nicht nur die USA als Normalfall und Ursprungsort der akademischen Psychologie konstruiert, sondern zugleich unterstellt, dass erst der Export der US-amerikanischen Psychologie der Majority World ein intellektuelles Instrumentarium zur Untersuchung menschlichen Erlebens und Verhaltens an die Hand gegeben habe. Die Konstruktion dieser Sichtweise setzt in mehrfacher Hinsicht extreme Verkürzungen von Sachverhalten voraus. Dass »westliche« Wissenschaft mit US-amerikanischer Wissenschaft gleichgesetzt wird, mag zwar der angestrebten Akzentuierung der Beziehungen zwischen dem »Westen« und dem »Nicht-Westen« in dem zitierten Artikel geschuldet sein, subsumiert aber dennoch höchst unterschiedliche wissenschaftliche Anliegen unter einem homogenisierenden Begriff fragwürdiger Aussagekraft. Dabei wird nicht nur die große Ausstrahlungskraft, die beispielsweise die sowjetische Psychologie (nicht nur in den sozialistischen Ländern) hatte, leichtfüßig übergangen oder unter dem Label »westliche Wissenschaft« vereinnahmt. Das Modell übersieht auch Austauschprozesse innerhalb »des Westens«, nicht zuletzt die vielfältigen »Importe« europäischer Wissenschaften in die USA selbst, die –

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wie etwa Danziger (2009) für den Fall der Psychologie nachzeichnet – ebenfalls mit Indigenisierungsprozessen verknüpft waren. Die ethnozentrische Konstruktion des Eigenen als einzige Bezugsgröße bildet den Subtext des zitierten Modells. Es leistet überdies einem Kreativitätsmythos Vorschub, der (fälschlicherweise) impliziert, dass sich »westliche« Wissenschaft aus ›eigener Kraft‹, ohne Bezüge zu weltweiten Wissensquellen, etwa arabischer, persischer oder chinesischer Herkunft, entwickelt habe. Generell ist fraglich, ob die »Import/ Export«-Metapher für den Bereich von Wissen und Wissenschaft, für die nationale Besitzverhältnisse kaum glaubhaft gemacht werden können, anwendbar ist (Kuhn 2007). 2.4 Kulturelle Differenz im Wissenschaftshandeln Die Beispiele zeigen, dass selbst Wissenschaftler/-innen, die sich für internationale Forschung engagieren und »nicht-westlichen« Perspektiven ausdrücklich Gehör verschaffen wollen, die tradierten, von ungleicher Machtverteilung und Ethnozentrismus geprägten Strukturen nur schwer hinter sich lassen. Die Fähigkeit, aus bewährten Deutungsschemata heraustreten und die Grundlagen des eigenen wissenschaftlichen Denkens aus transnationaler oder transdisziplinärer Perspektive betrachten zu können, wird in der im allgemeinen disziplinär organisierten Wissenschaft weder gefördert, noch sonderlich wertgeschätzt. Ganz im Gegenteil zielt die akademische Sozialisation üblicherweise auf die Weitergabe eines expliziten Wissens- und Methodenkanons, der in normativer Weise die in der jeweiligen Disziplin akzeptierten Themen und Methoden festlegt und zur Ausbildung einer disziplinären Identität beiträgt. Während die disziplinären Normen von den einzelnen Wissenschaftler/-innen noch in ihrer Kontingenz erkannt werden mögen (denn nicht nur erinnert man sich an den Prozess der eigenen akademischen Enkulturation, sondern ist mit den differierenden Normen anderer Disziplinen immer wieder konfrontiert), trifft dies für andere kulturelle Normierungen des eigenen wissenschaftlichen Handelns kaum zu. Da der Universalismus-Anspruch von Wissenschaft die Bedeutung kultureller Differenz explizit zu minimieren sucht, wird nur selten wahrgenommen, dass Kommunikationsstile, Textformate oder Problemlösungswege eine kulturelle Dimension besitzen. Die weltweite Verbreitung des westlichen Wissenschaftsmodells hat überdies für eine internationale Standardisierung der akademischen Ausbildung,

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disziplinären Strukturen und Formate wissenschaftlichen Austauschs gesorgt, sodass auch aus diesem Grund die Bedeutung kultureller Differenz im Wissenschaftshandeln unterschätzt wird (Thomas 2003). An internationalen Kooperationen Beteiligte sind daher nicht selten unvorbereitet mit interkulturellen Verständigungsschwierigkeiten konfrontiert. Empirische Untersuchungen internationaler Forschungsprojekte dokumentieren, dass solche Verständigungsschwierigkeiten keineswegs selten sind und dass sie die Projektarbeit bisweilen erheblich behindern. So wurden beispielsweise für internationale, europäische Kooperationen die folgenden, typischen Problemfelder beschrieben (Cornish/Zittoun/Gillespie 2007, Kuhn/Weidemann 2005, Mack/ Loeffler 2003): •





Ein unterschiedlicher Umgang mit und Erwartungen bezüglich Zeitplanung und Zeitmanagement, z.B. hinsichtlich der Bedeutung von Pünktlichkeit und der Einhaltung von Fristen, der akzeptablen Länge von Vorträgen, Besprechungen oder Pausen sowie der zeitlichen Organisation von Projekten und Projektphasen. Unterschiede im Umgang mit Hierarchien und voneinander abweichende Interpretationen der Rollen innerhalb von Projektteams: Zu Schwierigkeiten kommt es insbesondere bei unterschiedlichem Verständnis der Rolle des Projektleiters/der Projektleiterin. Unausgesprochene, unterschiedliche Ansichten darüber, ob dieser Titel lediglich eine unbedeutende Formalie darstellt, oder ob er mit Autoritäts- und Kontrollbefugnissen einhergeht, führen in der Zusammenarbeit zu Missverständnissen. Fremdsprachige Kommunikation, unterschiedliche Kommunikationsstile und Sprechaktregeln: Die Notwenigkeit, sich über zentrale Konstrukte und Theorien in der Fremdsprache bzw. in der Lingua Franca Englisch verständigen zu müssen, stellt insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine Herausforderung dar (Weidemann/Kuhn 2005). Bewältigt werden müssen zudem unterschiedliche Kommunikationsstile und Normierungen von Sprechhandlungen (z.B. das Äußern von Nichtzustimmung und Kritik).

In der Zusammenarbeit werden sowohl Unterschiede kultureller Großsysteme sichtbar (z.B. »der deutschen« und »der chinesischen« Kultur), die sich auch in anderen interkulturellen Kommunikationszu-

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sammenhängen zeigen. Zusätzlich sind jedoch auch divergierende wissenschaftsspezifische Standardisierungen wirksam, sodass z.B. abweichende Vorstellungen davon, was eine ›gute Präsentation‹ oder einen ›gelungenen Aufsatz‹ charakterisiert (z.B. Clyne/Kreutz 2003, Duszak 1997, Ventola/Shalom/Thompson 2002) miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Bedenkt man, dass internationale Forschungsprojekte normalerweise kultur- bzw. ländervergleichend arbeiten – und deshalb mit unterschiedlichen Kontexten und Voraussetzungen der lokalen Datenerhebung konfrontiert sind – wird deutlich, dass die Beteiligten sowohl in Hinblick auf ihren Forschungsgegenstand und Methodik als auch in der Projektzusammenarbeit kulturelle Differenz erkennen und adäquat verarbeiten müssen (s.a. Kuhn/Weidemann 2005).

3. G LOBALISIERUNG W ISSENSCHAFT

UND TRANSNATIONALE

Die kulturpsychologische Herangehensweise lenkt den Blick auf handelnde Subjekte und ihr Verhältnis zu jeweils relevanten kulturellen Kontexten. Transnationale Forschungskooperation ist nach diesem Verständnis zunächst auf der Ebene individueller Orientierungen und sozialer Interaktion zu erkunden. Ausgangspunkt ist die Auffassung, dass sich Internationalisierung letztlich im und durch das Denken und Handeln der Wissenschaftler/-innen vollzieht, die internationale Forschungsbeiträge rezipieren oder aktiv in internationale Kooperationen eingebunden sind. Wie die oben angeführten Beispiele zeigen, ist dieser Ansatz durchaus fruchtbar. Deutlich wird, dass wissenschaftliches Handeln mit kulturellen sowie politischen Rahmenbedingungen im Austausch steht, und dass Globalisierung wissenschaftlichen Ethnozentrismus nicht automatisch außer Kraft setzt. Andererseits ist durch Betrachtung psychologischer Systeme allein kaum zu erklären, woraus sich die starken Beharrungskräfte speisen, die in einer auf Reflexion und Innovation ausgerichteten (!) Wissenschaft bewirken, dass die nunmehr seit mehreren Jahrzehnten vorgebrachten Forderungen nach einer Überwindung des »eurozentrischen Denkens« kaum zu erkennbaren Veränderungen geführt haben. Tatsächlich fehlt es nicht an gut begründeten Vorschlägen, wie eine »authentische Internationalisierung« erreicht werden (Oommen 1991) oder wie die »Sozialwis-

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senschaft der Metropolen« zu einer globalen Sozialwissenschaft (»world social science«) weiterentwickelt werden kann (Connell 2010). Empfehlungen sind in der Regel darauf gerichtet, Perspektiven und Anliegen der Majority World in Forschung und Theoriebildung Raum zu gewähren und in der Kooperation Gleichberechtigung zu etablieren. Angemahnt wird, den bestehenden einseitigen Transfer »nordatlantischer« Theorien in die akademische »Peripherie« zu beenden und einen multilateralen Wissensaustausch zu implementieren, der nicht nur die Vielfalt wissenschaftlichen Denkens angemessen abbildet, sondern wichtige Voraussetzung einer an tatsächlich universellen Theorien interessierten Sozialforschung darstellt (vgl. z.B. Oommen 1991, Chen 1998). Dennoch blieben Rufe nach einer »Öffnung« der Sozialwissenschaften (Wallerstein et al. 1996) weitgehend ungehört. Zu fragen ist mithin nicht nur, welche Schritte in Richtung einer »polyzentrischen Wissenschaft« unternommen werden sollten 2, sondern auch, welche Kräfte deren Verwirklichung entgegenwirken. Bei der Suche nach Antworten muss der kulturpsychologische Blick – ganz im Sinne gegenwartsdiagnostischer Absichten – auf das Wissenschaftssystem sowie die politischen und ökonomischen Bedingungen, mit denen es interagiert, erweitert werden. Erklärungen, wonach »westliche Hegemonie« die Verbreitung »nordatlantischer« Wissenschaftsnormen bewirkt, wenn nicht gar erzwungen habe, scheinen mir aus den bereits angeführten Gründen zu kurz zu greifen. Zwar sind politische und ökonomische Machtverhältnisse fraglos wichtige Stabilisatoren des aktuellen Wissenschaftsgefüges, jedoch müssten Zusammenhänge hier im Einzelfall präzise rekonstruiert werden. Womöglich würden dabei Faktoren sichtbar werden, die jenseits der existierenden Hegemoniebestrebungen der »nordatlantischen« Staaten zu einer Verfestigung des bestehenden Wissenschaftsgefüges und der Dominanz »westlicher« Theorien beitragen. Erkennbar werden würde vermutlich, wie sehr die Ausrichtung an den »nordatlantischen« aka-

2

»Polyzentrische Sozialwissenschaften« wären sich der kulturellen Komponenten wissenschaftlichen Handelns bewusst und würden dem Universalismusanspruch »westlicher« Forschung kritisch begegnen. Sie würde einen multilateralen Wissensaustausch etablieren und zu diesem Zweck die nötigen Kompetenzen (z.B. Kultur- und Fremdsprachenkenntnisse, Befähigung zu Translation und transkulturellem Verstehen) in der akademischen Ausbildung verankern (Weidemann 2010).

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demischen Zentren in den Schwellenländern politisch gewollt und aktiv gefördert wird. Bestrebungen von Staaten, sich internationale Anerkennung zu verschaffen, gehen mit der Einführung und Bekräftigung internationaler, amerikanisch geprägter Wissenschaftsstandards einher. Publikationen in internationalen Zeitschriften werden stärker wertgeschätzt als solche in heimischen Journalen, und das Ansehen einheimischer Wissenschaftler richtet sich danach, ob und wie sehr ihnen der Anschluss an amerikanische Forschung gelingt. Motive für den »Import« von Wissenschaft und technologischen Neuerungen umfassen politische, wirtschaftliche und militärische Zielsetzungen ebenso wie wissenschaftliche Neugier oder den Wunsch nach Emanzipation gegenüber den restriktiven Denkgebäuden der eigenen Heimat. Historische Beispiele, wie die Modernisierung Japans in der Meiji-Ära oder die chinesische Reformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts, zeigen dies eindrücklich. Die detaillierte Untersuchung neuerer Entwicklungen, wie z.B. die nach 1978 einsetzende Neuausrichtung der chinesischen Sozialwissenschaften an der US-amerikanischen Forschung, könnte weitere Faktoren sichtbar machen (vgl. z.B. die Beiträge in Dirlik 2012). Die ungebrochen starke Position »westlicher« Sozialtheorien und Forschungsansätze resultiert schließlich auch daraus, dass sich die Wissenschaft der akademischen Zentren dem Einbezug von »fremden« Beiträgen keineswegs völlig verschließt. Sofern Wissenschaftler/ -innen über akademische Qualifikationen und einschlägige (vorzugsweise englische) Fremdsprachenkenntnisse verfügen, steht ihnen die Beteiligung am internationalen Diskurs prinzipiell offen. »Autochthone« Beiträge werden – vor allem im Rahmen kulturvergleichender Forschung – in den akademischen Zentren durchaus rezipiert und ermöglichen »nicht-westlichen« Wissenschaftler/-innen erfolgreiche nationale und internationale Karrieren. Die Anbindung an den internationalen Forschungsstand erfolgt dabei in der Regel auf der Basis bereits global etablierter disziplinärer Forschungsprogramme, Theorien und Konzepte, die durch autochthone Beispiele lediglich erweitert bzw. im Detail modifiziert werden. Eine Revision des nach wie vor durch »westliche« Ansätze dominierten Mainstreams ist von ihnen bisher nicht ausgegangen. Die angeführten Überlegungen sind keinesfalls erschöpfend. Sie sollen an dieser Stelle lediglich darauf verweisen, dass sich wissenschaftliches Denken und Handeln im Kontext globaler Trends vollzie-

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hen, die mit dem Kulturbegriff nicht immer hinreichend erfasst werden können. In einer sich globalisierenden Welt ist Wissenschaft gleichermaßen internationales Handlungsfeld wie national vereinnahmter Faktor lokaler Wettbewerbsfähigkeit: Der Idee eines freien, globalen Austauschs wissenschaftlichen Wissens steht der internationale Wettbewerb um Einfluss auf eben jener globalen Bühne entgegen. Staaten agieren dort eben auch als Konkurrenten um internationale Talente und wissenschaftliche Anerkennung. Eine Abkehr vom Ethnozentrismus ist unter diesen Bedingungen kaum zu erwarten. Diese wird auch durch das Auftreten neuer Akteure im globalen (Wissenschafts-) Wettbewerb kaum befördert werden – allerdings wird deren Beteiligung die Vielfalt an Ethnozentrismen vermutlich steigern und auf diese Weise möglicherweise zu jener Reflexion der Prämissen wissenschaftlicher Arbeit führen, auf die »echte Internationalisierung« so dringend angewiesen ist.

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Autorinnen und Autoren

Chakkarath, Pradeep, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sektion für Sozialpsychologie und Sozialanthropologie der RuhrUniversität Bochum und (gemeinsam mit Jürgen Straub) Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrums (KKC) für sozial- und kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturpsychologie, indigene Psychologie sowie Geschichte und Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften. E-Mail Kontakt: [email protected] Gild, Gerlinde, Studium der Sinologie, Japanologie, Geschichte und Musikwissenschaften in Göttingen, ist außerplanmäßige Professorin am dortigen Ostasiatischen Seminar und zugleich Akademische Leiterin des Chinakompetenz Zentrums UNIKIMS an der Universität Kassel sowie assoziiert an der International School der Tongji-Universität Shanghai. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Kultur Chinas, indigene und Kulturpsychologie, Rezeption der Europäischen Musik in China, sowie Deutsch als Fremdsprache. E-Mail-Kontakt: [email protected] Kokemohr, Rainer, war von 1974-2005 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Seit 2010 ist er Chair Professor an der National Chengchi University in Taiwan. Zahlreiche Forschungsaufenthalte verbrachte er u.a. in Kamerun. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Fragen der Intersubjektivität in Lehr-Lern-Prozessen, auch in kulturvergleichender Perspektive, sowie auf Problemen des Exports und der Anpassung von Bildungsprogrammen und Ausbildungsmethoden. E-Mail-Kontakt: rkokemohr@ gmx.de

284 | K ULTURPSYCHOLOGISCHE G EGENWARTSDIAGNOSEN

Kölbl, Carlos, ist Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Seine Forschungsinteressen beinhalten historische Sinnbildungsprozesse im Kindes- und Jugendalter, interkulturelles Lernen, qualitative Methoden sowie Geschichte der Psychologie. E-Mail-Kontakt: carlos.koelbl@ uni-bayreuth.de König, Hans-Dieter, ist außerplanmäßiger Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M., Lehrbeauftragter der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität und Psychoanalytiker und Supervisor in eigener Praxis in Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich einer psychoanalytisch orientierten Sozial-, Kultur- und Biographieanalyse. Métraux, Alexandre, ist Mitglied der Archives Henri Poincaré der Universität Nancy 2, Frankreich, und des Otto-Selz-Instituts der Universität Mannheim. Er ist als Herausgeber für die Zeitschrift Science in Context (Cambridge University Press) und für andere Publikationsorgane tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte wissenschaftlicher Medien und der Methodologie historischer Wissenschaften. E-Mail-Kontakt: metraux @posteo.ch Sieben, Anna, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsbereiche sind Kulturpsychologie, Elternschaft, Geschichte der Psychologie, feministische Psychologie, Geschlechterforschung. E-Mail-Kontakt: [email protected] Straub, Jürgen, ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie in der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Er ist (gemeinsam mit Pradeep Chakkarath) CoDirektor des Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrums für sozial- und kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie. Seine Forschungsinteressen richten sich auf diverse sozialtheoretische und sozialpsychologische Gegenstände mit einem Fokus auf Fragen der Identitätsbildung und einer kulturpsychologischen Handlungstheorie. E-Mail-Kontakt: [email protected]

A UTORINNEN

UND

A UTOREN | 285

van Belzen, Jacob, promovierte in den Sozialwissenschaften, der Geschichte, der Philosophie und den Religionswissenschaften und ist Lehrstuhlinhaber für Psychologie an der Universität Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf wissenschaftshistorischen, wissenschaftstheoretischen und kulturpsychologischen Aspekten der Religionspsychologie, u.a. in ihrer Beziehung zur Psychoanalyse. E-MailKontakt: [email protected] Weidemann, Doris, ist Professorin für Interkulturelles Training mit dem Schwerpunkt chinesischsprachiger Kulturraum und International Business Administration an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Ihr Forschungsinteresse gilt internationaler Wissenschaftskooperation, interkultureller Kommunikation und chinesischer Kulturpsychologie. E-Mail-Kontakt: [email protected]

Psychologie Catherine-Olivia Moser

Postpartale Depression und »weibliche Identität« Psychoanalytische Perspektiven auf Mutterschaft März 2018, 386 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4068-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4068-1

Lisa Landsteiner

Platz nehmen Zur Psychologie des Sitzens am Ort der Psychiatrie 2017, 194 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3383-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3383-6

Michael Friedman, Samo Tomšié (eds.)

Psychoanalysis: Topological Perspectives New Conceptions of Geometry and Space in Freud and Lacan 2016, 256 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3440-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3440-6

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