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German Pages 200 Year 2014
Uwe Schimank Gesellschaft
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Melanie Pärschke, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-1629-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Inhalt Einleitung 5 I. 1. 2. 3. 4. 5.
Ausgangspunkte 9 Gesellschaftsbegriff 9 Gesellschaftstheoretische Aufgaben und Theorieperspektiven 17 Gesellschaftsmodelle 20 Handlungstheoretischer Bezugsrahmen 29 Theorie-Familien 33
II. Dif ferenzierungstheoretische Perspektive: Funktional dif ferenzierte kapitalistische Gesellschaft 37 1. Funktionale Differenzierung 37 2. Gesellschaftlicher Primat der kapitalistischen Wirtschaft 50 3. Effekte auf Lebenschancen und gesellschaftliche Integration 58 4. Differenzierungsdynamiken 62 5. Fazit 74 III. Ungleichheitstheoretische Perspektive: Gleichheitspostulat und marktvermittelte Ungleichheiten 76 1. Ungleichheitsstrukturen 77 2. Erwerbseinkommen als dominante Ungleichheit 84 3. Effekte auf Lebenschancen und gesellschaftliche Sozialintegration 89 4. Ungleichheitsdynamiken 94 5. Fazit 113 IV. Kulturtheoretische Perspektive: Gestalteter Fortschritt und Wirtschaftswachstum 114 1. Kulturelle Orientierungen 115 2. Fortschrittsidee und Wirtschaftswachstum 119 3. Effekte auf Lebenschancen und gesellschaftliche Integration 131
4. 5.
Kulturdynamiken 136 Fazit 149
V. 1. 2. 3.
Perspektivenintegration 151 Keine und lose Kopplung 152 Enge Kopplung 157 Zum Schluss 165
Anmerkungen 167 Literatur 177
Einleitung Als Auguste Comte 1838 den Begriff »Soziologie« prägte, meinte er damit ganz selbstverständlich die Wissenschaft von der Gesellschaft (Fuchs-Heinritz 1998). Diese Gleichsetzung ist bis heute durchaus verbreitet. Nicht nur Nicht-Soziologen, auch viele Soziologinnen1 gehen weithin davon aus, dass sich die Soziologie mit der Gesellschaft beschäftigt – womit denn sonst? Das ist keine rhetorische Frage. Man könnte ja meinen, dass sich die Soziologie als empirisch arbeitende Wirklichkeitswissenschaft längst mit begrenzteren sozialen Phänomenen wie Familie, Kriminalität, sozialen Bewegungen oder Wirtschaft beschäftigt, zu denen sie mittlerweile immer mehr fundiertes Wissen anbietet, und sich dadurch von metaphysischen Spekulationen über Gesellschaft im Allgemeinen – wie Comte sie noch angestellt hatte – verabschiedet hat. Auch die Naturwissenschaften sind ja einen solchen Weg weg von der allgemeinen Naturphilosophie und hin zu empirischen Spezialdisziplinen sehr erfolgreich gegangen. Schaut man sich allerdings das, was die verschiedenen speziellen Soziologien tun, etwas genauer an (Kerber/Schmieder 1994; Kneer/Schroer 2010), entdeckt man auf Schritt und Tritt mindestens implizite, oft aber auch ganz explizite Annahmen und Aussagen darüber, wie z.B. Familienstrukturen und ihre Veränderungen oder die Verbreitung bestimmter Arten von Kriminalität mit gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie etwa der Ungleichheitsstruktur oder übergreifenden kulturellen Werten zusammenhängen. Anders gesagt: Es ist zwar nicht so, dass sämtliche soziologischen Fragen zu ihrer Klärung einen Rekurs auf Gesellschaft benötigen; doch für viele Fragen gilt, dass gehaltvolles Wissen über die gesellschaftliche Ordnung, in die ein soziales Phänomen eingebettet ist, gebraucht wird. Deshalb benötigen so gut wie alle Soziologinnen gesellschaftstheoretisches Wissen, um ihre oft viel spezielleren Fragen gut bearbeiten zu können; und auch den anderen Sozialwissenschaften, die sich ja wie etwa die Politik-, die Erziehungs- oder die Wirtschaftswissenschaften mit gesellschaftlichen Teilbereichen befassen, können gesellschaftstheoretische Kenntnisse nicht schaden. Soweit zur Gesellschaftstheorie als nötiger Rahmung spezieller sozialwissenschaftlicher Fragestellungen! Hinzu kommt, dass 5
Gesellschaft ein Thema eigenen Rechts ist. Vor einiger Zeit fanden beispielsweise zwei Bände bei einem größeren Publikum Beachtung, die betitelt waren: »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« (Pongs 1999; 2000) Das wollen nicht nur Soziologen, sondern auch die vielbeschworenen »Menschen draußen im Lande« wissen. Es wäre freilich umso misslicher, wenn Gesellschaftstheorie somit zwar vielfältig gebraucht wird, aber über haltlose Behauptungen nicht hinausgekommen wäre. Dem ist allerdings nicht so, wie ich hoffe, zeigen zu können. Gesellschaftstheorie hatte unbestreitbar metaphysische Anfänge und muss sich bis heute davor hüten, wissenschaftlich unseriöse Erwartungen zu wecken und zu bedienen, insbesondere hinsichtlich Langzeitprognosen gesellschaftlicher Entwicklung. Doch auch wenn sie diesbezüglich tunlichst Abstinenz übt, hat sie genügend Substantielles anzubieten. In diesem Sinne soll der vorliegende schmale Band nun einen knappen einführenden Überblick der soziologischen Gesellschaftstheorie geben. Eine naheliegende Zielgruppe – jenseits der Gesellschaftstheoretiker selbst – sind die gerade schon genannten gesellschaftstheoretischen Nicht-Experten: neben Studierenden auch Soziologinnen mit anderen fachlichen Spezialisierungen sowie andere Sozialwissenschaftler und interessierte Laien. Nicht genug damit, will ich aber auch noch den gesellschaftstheoretischen Experten Denkstoff bieten. Denn trotz vieler Einzeleinsichten sind die grundlegenden Fragen der soziologischen Gesellschaftstheorie nach wie vor so ungeklärt bzw. die Antwortvorschläge so umstritten, dass auch Experten Anregungen daraus erhalten können, wie einer von ihnen das Thema aufbereitet. Es sind also zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Nicht-Experten ein- und Experten weiterzuführen. Weil die Gesellschaftstheorie zu jenen Teilbereichen der Soziologie gehört, in denen viele Sichtweisen teilweise völlig unverbunden nebeneinander stehen oder auch gegeneinander positioniert sind, stand ich vor der Entscheidung, entweder einen möglichst neutralen Überblick des gesellschaftstheoretischen Denkens seit den Klassikern des 19. Jahrhunderts zu versuchen oder meine eigene heutige Lesart soziologischer Gesellschafstheorie zu präsentieren. Aus mehreren Gründen habe ich mich für Letzteres und gegen Ersteres entschieden: 6
– Es gibt bereits viel zu viele Darstellungen, die es bei einem additiven Nach- und Nebeneinander zahlreicher gesellschaftstheoretischer Positionen belassen. Solche ausufernden Darstellungen tragen eher zur Verwirrung der Nicht-Experten bei, und den Experten sagen sie nichts Neues. – Selbst wenn ich zu einer Überblicksdarstellung geneigt hätte: Die Umfangsvorgabe der Buchreihe hätte mich spätestens eines Besseren belehrt. Aus Gerechtigkeitsgründen hätte man sich nicht nur auf eine willkürliche kleine Auswahl dargestellter Positionen beschränken dürfen; doch dann wäre für jede nur noch so wenig Platz geblieben, dass ich keiner von ihnen hätte gerecht werden können. – Meine eigene Lesart soziologischer Gesellschaftstheorie ist entgegen anderslautender Meldungen nicht eng auf eine bestimmte Position – etwa: »akteurzentrierte Differenzierungstheorie« – fixiert, sondern von der Überzeugung getragen, dass nur eine Integration vieler Positionen das bestmögliche gesellschaftstheoretische Instrumentarium ergibt. Zwangsläufig werde ich also Vieles, wenn auch nicht Alles, zur Sprache bringen. Den gesellschaftstheoretischen Experten hoffe ich damit einen Vorschlag zu unterbreiten, der sowohl integrativ angelegt ist als auch ein klares Profil aufweist. – Denjenigen, die sich als Nicht-Experten gesellschaftstheoretisch kundig machen wollen, ist mehr damit gedient, einen benutzbaren – und natürlich weiter zu bestückenden – Werkzeugkasten theoretischer Konzepte und Modelle geliefert zu bekommen, als in einem enzyklopädischen Kompendium der Geschichte gesellschaftstheoretischen Denkens zu versinken. Die Soziologie hat sich im Großen und Ganzen längst als Wirklichkeitswissenschaft etabliert – doch die soziologische Theorie im Allgemeinen und die Gesellschaftstheorie im Besonderen muss nach wie vor dagegen ankämpfen, sich in der literaturwissenschaftlichen Auslegung eines Korpus kanonisierter Schriften zu erschöpfen. Diesen Anliegen entsprechend gliedert sich die weitere Darstellung in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel werden die Ausgangspunkte des hier vertretenen gesellschaftstheoretischen Denkens dargelegt. Die folgenden drei Kapitel widmen sich jeweils einer der drei 7
vorfindlichen großen Theorie-Familien. Im zweiten Kapitel wird die differenzierungstheoretische, im dritten Kapitel die ungleichheitstheoretische und im vierten Kapitel die kulturtheoretische Perspektive auf die moderne Gesellschaft und ihre Dynamiken vorgestellt. Dabei werden jeweils dieselben Grundfragen gesellschaftstheoretischen Denkens gestellt, um die Antworten der drei Perspektiven zu systematisieren und untereinander vergleichbar zu machen. Das fünfte Kapitel geht schließlich auf Möglichkeiten der Integration der drei bis dahin je für sich behandelten Theorieperspektiven ein. Abschließend noch ein kurzer Hinweis zum Umgang mit der gesellschaftstheoretischen Literatur: Auch hier bedeutet die Umfangsbegrenzung des Bandes, dass Experten Vieles – insbesondere die je eigenen Werke – nicht zitiert finden, was man hätte anführen können oder vielleicht sogar müssen. Ein umfassender Literaturbericht kann nicht geliefert werden. Vorzugsweise wird zum einen auf klassische und zentrale Beiträge, zum anderen auf aktuelle Auseinandersetzungen verwiesen. Hingewiesen wird zudem auf ausgewählte Überblicksdarstellungen, in denen weitere Literatur verarbeitet worden ist.2 *** Für viele hilfreiche Kommentare zu verschiedenen Kapiteln einer ersten Fassung danke ich Eva Barlösius, Nicole Burzan, Rainer Greshoff, Thomas Kern und Ute Volkmann. Einige Studierende meiner Vorlesung »Gesellschaftstheorie« im Wintersemester 2012/13 haben mit ihren Hinweisen zudem für eine bessere Lesbarkeit des Textes gesorgt, und Julia Asseburg hat zum Schluss noch einige redaktionelle Arbeit in das Manuskript gesteckt – für beides bin ich ebenfalls dankbar.
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I. Ausgangspunkte Bevor ich in den weiteren Kapiteln auf die verschiedenen Theorie-Perspektiven eingehe, die sich in der soziologischen Gesellschaftstheorie seit den Klassikern des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben, müssen im vorliegenden Kapitel in vier Hinsichten Ausgangspunkte geklärt werden. Als erstes ist näher zu bestimmen, was Gesellschaft im Unterschied zu anderen sozialen Phänomenen ist. Zweitens muss sodann gefragt werden, welche Analyseaufgaben sich die Soziologie mit Blick auf Gesellschaft stellt. Drittens sind Gesellschaftsmodelle als analytischer Kern der soziologischen Gesellschaftstheorie zu bestimmen. Viertens schließlich bedarf Gesellschaftstheorie stets einer sozialtheoretischen Fundierung, die oft implizit bleibt, hier aber explizit gemacht werden soll. Das Kapitel endet dann mit einer Kurzvorstellung der drei von diesen Ausgangspunkten her zu behandelnden Theorie-Familien.
1. Gesellschaftsbegrif f Es gibt – dies muss noch im Vorfeld definitorischer Überlegungen angesprochen werden – eine häufige, ganz unspezifische Verwendung des Gesellschaftsbegriffs, wenn bei der Erörterung bestimmter sozialer Phänomene gesagt wird, man müsse diese in ihrem größeren gesellschaftlichen Kontext sehen. Dann meint »Gesellschaft« nicht mehr als den Tatbestand, dass z.B. eine individuelle Biografie oder eine bestimmte Akteurkonstellation und ihre Dynamik, wie etwa die Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Pendlerpauschale, nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern kontextualisiert werden müssen. Das kann dann zweierlei heißen: dass das jeweilige soziale Geschehen Einwirkungen »von außen«, aus seinem Umfeld, ausgesetzt ist oder umgekehrt Auswirkungen auf dieses hat. Als Gesellschaft wird hier also der relevante Kontext apostrophiert, in dem das ins Auge gefasste Geschehen stattfindet; und dieser Kontext wird jeweils auf die Einoder Auswirkungen fokussiert, die es zu bedenken gilt, also vom betrachteten Geschehen her und gerade nicht aus eigenem Recht betrachtet. Genau deshalb geht von einer solchen Verwendung 9
des Gesellschaftsbegriffs kein Bedürfnis nach genauerer Klärung dessen aus, was Gesellschaft ausmacht. Gesellschaft bleibt hierbei eine immer nur fallweise und jeweils sehr selektiv mit in den Blick genommene Umgebung des eigentlich interessierenden Geschehens. Wendet man sich nun den Bemühungen zu, Gesellschaft selbst auf den Begriff zu bringen, stellt man schnell fest, dass sich hierbei große Schwierigkeiten einstellen, die bislang ungelöst sind. Niklas Luhmanns (1973, Hervorheb. weggel.) Lexikoneintrag ist legendär: »Gesellschaft […] ist das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis.« Ich erspare es mir, diese zutreffend konstatierte Unschlüssigkeit und Uneinigkeit durch eine Ansammlung von – auch neueren – Definitionsversuchen zu dokumentieren, sondern gehe sogleich auf eine prominente Begriffsbestimmung mit einer langen Denktradition ein, an der sich zentrale Anforderungen an einen soziologischen Gesellschaftsbegriff sowie damit verbundene Definitionsprobleme zeigen lassen (zum Folgenden instruktiv Stichweh [2005]). Bei Talcott Parsons (1971: 16) heißt es: »Wir definieren Gesellschaft als den Typ eines sozialen Systems, dessen Kennzeichen ein Höchstmaß an Selbstgenügsamkeit […] im Verhältnis zu seiner Umwelt […] ist.« Diese Definition elaboriert das Merkmal, das auch Luhmann anspricht, als einen Grad an Autarkie, den andere soziale Gebilde – man könnte etwa an Organisationen, Familien oder auch Städte denken – nicht aufweisen. Eine Gesellschaft muss zwar für Parsons nicht völlig autark sein und ist es in der Regel auch nicht; aber sie ist für ihn deutlich und dauerhaft autarker als sämtliche anderen Arten von sozialen Gebilden. Hochgradige Autarkie im Sinne von »Selbstgenügsamkeit« meint dabei zweierlei: Eine Gesellschaft benötigt für ihre eigene Bestandserhaltung vergleichsweise wenig Leistungen aus ihrem sozialen Umfeld, also aus anderen Gesellschaften; und eine Gesellschaft beschäftigt sich weitaus stärker mit sich selbst als mit anderen Gesellschaften. Diese abstrakte Begriffsfassung geht bei Parsons damit einher, dass er ganz selbstverständlich – wie man es auch im Alltagsverständnis tut – an konkrete Nationalgesellschaften denkt. Die USA, Frankreich, Japan, aber auch Luxemburg oder Nordkorea sind für Parsons Fälle von Gesellschaft. 10
Es ist gerade diese Übereinstimmung mit dem Alltagswissen der Gesellschaftsmitglieder, die über die Schwierigkeiten dieser Definition hinwegtäuscht. Generell sind Definitionen, die mit Merkmalsgraden arbeiten, schwierig – und dies umso mehr, je vager die Messgrößen sind. Woran misst man »Selbstgenügsamkeit«: an der Fähigkeit zur biologischen Reproduktion der eigenen Bevölkerung, an der Ernährung der eigenen Bevölkerung, an der Nichtangewiesenheit der eigenen Wirtschaft auf im Ausland erzielte Gewinne oder etwa daran, dass man die eigene Bevölkerung durch inländische Zeitungen und Rundfunksender informiert und sie keinen ausländischen Nachrichtenquellen aussetzt, wie es Nordkorea tut? Es gibt viele weitere Arten von transnationalen Transaktionen und Kontakten, die man alle in einem »Selbstgenügsamkeits«-Index untereinander zu verrechnen hätte, um einen Gesamtwert relativer »Selbstgenügsamkeit« zu ermitteln. Und wo ist dann der Schwellenwert anzusetzen, jenseits dessen ein soziales Gebilde eine Gesellschaft darstellt? Man müsste ja denselben Index etwa für Organisationen oder Städte berechnen und prüfen, ob sie alle unter diesem Schwellenwert liegen und sämtliche Nationalgesellschaften darüber. Eine weitere Implikation gradueller Definitionen ist, dass verschiedene Nationalgesellschaften mehr oder weniger »Selbstgenügsamkeit« – also: »Gesellschaftlichkeit« – aufweisen und bei ein und derselben Nationalgesellschaft der Grad der »Gesellschaftlichkeit« im Zeitverlauf zu- oder abnehmen könnte. Diese Vorstellung mutet merkwürdig an. Man könnte meinen, zu einem klareren Bild zu gelangen, wenn man nicht die tatsächlich gegebene »Selbstgenügsamkeit« betrachtet, sondern die prinzipiell erreichbare. Dann könnte man z.B. sagen, dass eine Nationalgesellschaft alles, was das soziale Zusammenleben dieser Menschenansammlung benötigt, selbst hervorbringen könnte – wozu keine Organisation je in der Lage wäre, die z.B. auf Rekrutierung von Personal von außen ebenso angewiesen ist wie darauf, dass es draußen Abnehmer der von ihr produzierten Leistungen gibt. Aber wie groß muss dann auf dem heutigen zivilisatorischen Niveau eine Nationalgesellschaft sein, um zumindest ein denkbares Höchstmaß an »Selbstgenügsamkeit« aufzuweisen? Schieden, so gesehen, vielleicht Länder wie Luxemburg als Gesellschaft aus? Und wenn man von einer immer weiter voranschreitenden wirtschaftlichen, kulturellen und politi11
schen globalen Verflechtung ausgeht, die die prinzipielle »Selbstgenügsamkeit« immer mehr erodiert: Sind dann bald nur noch immer großräumiger skalierte transnationale Gebilde wie die Europäische Union »gesellschaftsfähig«? Aber wenn das Merkmal der »Selbstgenügsamkeit« zu all diesen Schwierigkeiten und spitzfindigen Fragen führt: Warum macht es sich die Soziologie mit der Gesellschaftsdefinition überhaupt so schwer und geht nicht einfach – wie Parsons es ja jenseits seiner Definitionsversuche auch tut – im Einklang mit dem Alltagswissen von Nationalgesellschaften aus? Faktisch und unausgesprochen wird das sehr oft so praktiziert, und auch ich werde das im Weiteren immer wieder tun. Man sollte sich dabei aber im Klaren darüber sein, dass ein solcher Gesellschaftsbegriff eine Prämisse setzt, die keineswegs evident ist und gerade in der Moderne immer mehr an Plausibilität eingebüßt hat. Der entscheidende Schwachpunkt, wenn man Gesellschaft als Nationalgesellschaft denkt, besteht für Luhmann (1971; 1997: 158-171) darin, dass man genau besehen nur die Gesellschaft der Politik in den Blick nimmt und die anderen gesellschaftlichen Bereiche in politisch gesetzte Grenzen zwängt. Die Alltagssprache sagt diesbezüglich verräterisch oft »Staat«, wo »Gesellschaft« gemeint ist. Politisches Entscheiden und politische Machtausübung bedürfen aus logistischen wie legitimatorischen Gründen territorialer Grenzen (Schimank 2005a); aber diese sind in der Regel nicht die räumlichen Eingrenzungen anderer Handlungszusammenhänge wie Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft oder Religion; diese sind vielmehr längst über den nationalstaatlichen »Container« (Beck 1997) hinausgewachsen. Wenn etwa Wissenschaftler eines bestimmten Forschungsfelds mit ähnlich spezialisierten Kolleginnen rund um die Welt mehr zu tun haben und enger zusammenarbeiten als mit den Fachkollegen im Lande, verlaufen die kommunikativen Verdichtungen dieser Scientific Community quer zu Landesgrenzen. Die »Selbstgenügsamkeit« dieser Wissenschaftlergruppen folgt gerade nicht der »Selbstgenügsamkeit« politischer Macht, die in Demokratien in der Tat an nationale Wählerschaften gebunden ist. Wenn man also – dies ist ein Vorgriff auf die differenzierungstheoretische Perspektive (Kap. II) – Politik erst einmal nur als eines der Teilsysteme der modernen Gesellschaft neben anderen ansieht, ist erst noch zu prüfen, 12
inwiefern politisch gesetzte Staatsgrenzen Bedeutung für nichtpolitische Zusammenhänge haben, und ob das so weit geht, dass man wirklich Gesellschaft als »Staatsanstalt« (Weber 1922: 815) denken kann. In einer wichtigen Hinsicht gilt allerdings, dass staatlich verfasste Nationalgesellschaften das bislang noch immer höchste Ausmaß an »Selbstgenügsamkeit« besitzen: Sie sind das größte stabil etablierte Kollektiv von Menschen, das als korporativer Akteur zur gezielten Selbstgestaltung fähig ist – nämlich als Staat mittels politischer Entscheidungen.3 Es gibt zwar längst auch eine zielgerichtete Gestaltung überstaatlicher Sozialzusammenhänge, was aber wiederum über Verhandlungen – oder auch Kriege – zwischen Staaten passiert. Die Menschheit als Ganze oder auch nur eine größere regionale Teilgruppe hat noch keinen korporativen Akteur herausgebildet. Die Vereinten Nationen etwa sind nach wie vor nur eine Arena, in der hauptsächlich Staaten miteinander interagieren. Ein interessantes natürliches Experiment bildet die Europäische Union, von der bereits vor geraumer Zeit behauptet wurde, sie sei über den Status einer Arena von Staaten hinaus zumindest auf dem Weg zu einem supra-staatlichen korporativen Akteur (Schneider/Werle 1989) – was aber im Zuge der Eurokrise derzeit wieder heftig umkämpft ist, weil viele Mitgliedsstaaten eben keine Kompetenzen abtreten wollen. Solange also solche noch größeren korporativen Akteure nicht stabil etabliert sind, macht es durchaus gesellschaftstheoretisch Sinn, unter dem Gestaltungsaspekt, der in der Kultur der Moderne zentral verankert ist (Kap. IV.2), von Nationalgesellschaften auszugehen – was ja nicht ausschließt, dass man womöglich auch zunehmende exogene Einwirkungen aus der Umwelt jenseits der nationalen Grenzen in Rechnung stellt. Luhmann zieht – nicht nur, weil er an Gestaltungsfragen denkbar desinteressiert ist – einen anderen Schluss aus der Nicht-Übereinstimmung von Staatsgrenzen und den Grenzen anderer Handlungsbereiche. Für ihn ist aufgrund dieses im Laufe der Moderne immer deutlicher gewordenen Tatbestands eine Begriffsbestimmung adäquat, die Gesellschaft allgemein als Gesamtzusammenhang kommunikativer Erreichbarkeit fasst. Alle Kommunikationen, die – über wie viele Zwischenglieder auch immer – aneinander anschließen könnten, gehören demzufolge zur selben Gesellschaft, 13
also auch etwa das intime Zwiegespräch meiner Partnerin mit mir und eine Rede des nordkoreanischen Präsidenten vor Parteigenossen. Wenn der Präsident auf die Idee käme, könnte er uns adressieren – mit geringem Aufwand sogar direkt; und umgekehrt könnten wir dies ebenfalls, mit sicher größeren Schwierigkeiten, über Vermittler versuchen.4 Sieht man so Gesellschaftsgrenzen als Grenzen kommunikativer Erreichbarkeit an, spricht man für die Moderne spätestens ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, als westliche Entdeckungsreisende auch die hintersten Winkel des Globus erkundet hatten, von einer einzigen »Weltgesellschaft« (Luhmann 1971). Denn selbst wenn es heute noch einen Stamm im Amazonasgebiet geben sollte, der noch nie zumindest in Wahrnehmungskontakt mit anderen Menschen war, stellte das ein allein schon quantitativ völlig vernachlässigbares Phänomen dar. Und im Allgemeinen ist jeder Akteur mittlerweile weltweit zumindest indirekt auch vom Handeln – einschließlich Unterlassungshandeln – anderer abhängig. Anders gesagt, leben wir in einem nirgends ganz abreißenden globalen Interdependenzgefüge – und sind uns dessen auch zunehmend bewusst (Albrow 1996). So zutreffend diese Diagnose faktischer und als solcher wahrgenommener Globalisierung ist: Der dies einfangende Gesellschaftsbegriff Luhmanns grenzt nicht erst heute Gesellschaft nur noch gegen Nicht-Sozialität – vor allem Natur – ab. Luhmann (1984: 55) spricht von »einem Begriff […] für die Einheit der Gesamtheit des Sozialen […]«. In Parsons’ Definition rückübersetzt: Erst die »Gesamtheit des Sozialen« bietet heutzutage das »Höchstmaß an Selbstgenügsamkeit«. Thomas Schwinn (2011: 39) moniert: »Dieses strukturlose bloße Summenverständnis von Gesellschaft […]« sei, wenn mehr Begriffsbestimmung nicht gegeben werde, nahezu gehaltlos. Die begrifflich nicht weiter konturierte Gesamtheit von Sozialität wäre in der Tat der Extremfall eines völlig unspezifischen »schwachen« Gesellschaftsbegriffs (Greve 2008; 2008a), mit dem keinerlei weitere Eigenschaften dessen verbunden sind, was Gesellschaft ausmacht. Schwinn übersieht in seiner Kritik allerdings, dass Luhmann wohlweislich von der »Einheit« der »Gesamtheit des Sozialen« spricht, also über das »Summenverständnis« hinaus eine weitere Formbestimmung im Auge hat – genauso wie Parsons Gesellschaft als ein bestimmtes soziales Gebilde, von ihm als »System« 14
bezeichnet, ansieht. Das Problem ist nur, und hier hat Schwinn dann doch letztlich Recht, dass Luhmann diese »Einheit« im wechselseitigen Verweisungszusammenhang der Kommunikationen erblickt, in Abgrenzung gegen alle Arten von Nicht-Kommunikationen, und dass der Verweis auf allein dieses Formprinzip bei der Betrachtung irgendwelcher spezifischer Phänomene nicht erst der modernen Gesellschaft nur selten irgendwie weiterhilft. Anders gesagt: Dieser Gesellschaftsbegriff sagt zwar nichts Falsches, erschließt aber auch fast nichts Interessantes. Luhmann selbst benutzt in seinen gesellschaftstheoretischen Analysen ja auch schnell den spezifischeren Begriff der funktional differenzierten Gesellschaft (Kap. II), kümmert sich also nicht mehr weiter um allgemeine Definitionsfragen, sondern definiert die »Einheit« der modernen Gesellschaft durch deren dominante Differenzierungsform – im Unterschied zu den in vormodernen Gesellschaften vorherrschenden Differenzierungsformen. Generell gilt, dass die soziologische Gesellschaftstheorie weniger an einem – bisher hier diskutierten – allgemeinen Gesellschaftsbegriff als an Begrifflichkeiten für die Charakterisierung spezifischer Gesellschaftsformen interessiert ist. Logisch tut man damit zwar den zweiten Schritt vor dem ersten, was aber forschungspragmatisch dennoch ein gangbarer Weg sein kann. Als Zwischenergebnis zum ersten Schritt halte ich, auch in Abwägung aller dargestellten Schwierigkeiten, als zugegeben ziemlich unscharfe Kontur dessen, was Gesellschaft als soziales Gebilde generell ausmacht, immerhin fest: Gesellschaften sind die jeweils größte Art von relativ aus sich heraus reproduktionsfähigen sozialen Gebilden. Hierbei kann Größe schlicht an der Anzahl der dazugehörigen Akteure – oder noch simpler: Menschen – abgelesen werden. In vielen, wenn auch vielleicht nicht in allen Hinsichten fallen so bestimmte Gesellschaften nach wie vor mit Nationen zusammen, was aber auf längere Sicht nicht so bleiben muss. Die Alltagsintuition, die sich aus der Erfahrung des Lebens in je spezifischen Gesellschaften speist, greift weiter als diese allgemeine Bestimmung. Jede Gesellschaft stellt demzufolge keine Zufallsansammlung spezifischer Merkmale dar, sondern ein konturiertes integrales Ordnungsmuster. Integral heißt, dass das Ordnungsmuster ein flächendeckendes und nicht bloß bereichsspezifisches ist. Ein solches Ordnungsmuster kann auf unter15
schiedlichen Abstraktionsniveaus festgemacht werden: z.B. mit Max Weber als »okzidentaler Rationalismus«, als »Industriegesellschaft«, als »westdeutsche ›fordistische‹ Gesellschaft zwischen 1945 und 1975«. Jedes dieser Ordnungsmuster gewinnt seine Kontur nicht zuletzt in Gegenüberstellung zu einem Kontrastfall. Entscheidend ist, dass ein Ordnungsmuster sich nicht nur enumerativ, sondern anhand eines »Bauprinzips« explizieren lässt. Um diesen zentralen Unterschied an einer einfachen mathematischen Analogie zu verdeutlichen: Die Zahlenreihe, die sich bei einer Ziehung der Lottozahlen ergibt (z.B. »2, 12, 14, 34, 39, 42«), weist kein »Bauprinzip« auf und lässt sich daher nur aufzählen, während sich eine Zahlenreihe wie »1, 2, 5, 14, 41« durch die Formel generieren lässt, dass, mit »1« beginnend, jede weitere Zahl sich als Verdreifachung der vorherigen Zahl minus Eins ergibt; dieses »Bauprinzip« ermöglicht sogar, erst einmal erkannt, die Fortführung der Zahlenreihe mit »122, 365 …«, während die nächste Zahl, die beim Lotto jeweils gezogen wird, sich in keiner Weise aus den vorherigen Zahlen erschließen lässt. Das Bestreben, solche Ordnungsmuster von Gesellschaften zu identifizieren, ist die zentrale Ambition soziologischer Gesellschaftstheorie, mit der sie sich von Gesellschaftsgeschichte unterscheidet. Letztere kann sich einerseits mit der enumerativen Charakterisierung einer bestimmten Gesellschaft begnügen; und andererseits besteht Geschichtswissenschaft auch darauf, dass keine konkrete Gesellschaft jemals in einem – und sei es noch so komplex angelegten – »Bauprinzip« aufgeht. Die Gesellschaftsgeschichte ist also bescheiden und unbescheiden zugleich: Sie verzichtet auf Abstraktion, beharrt aber auf Detailfülle. Gleiches gilt, nur andersherum, für Gesellschaftstheorie: Sie will gesellschaftliches Geschehen nicht bis ins Letzte erklären und pocht stattdessen darauf, »große Linien« ausmachen zu können. Es ist nicht nur müßig, sondern schädlich, Geschichte und Theorie gegeneinander auszuspielen. Mit Friedrich Schiller (1795) gesprochen: Die eine gibt dem »Stofftrieb« den Vorrang vor dem »Formtrieb«, die andere umgekehrt; und dafür sollte eine sinnvolle Arbeitsteilung gefunden werden, was auch schon manchmal halbwegs geklappt hat.5 Das zentrale gesellschaftstheoretische Problem ist, dass kaum jemand die angesprochene Intuition leugnen und der damit verbundenen Ambition abschwören dürfte, aber bislang alle Bemü16
hungen, das – naturgemäß am wichtigsten genommene – integrale Ordnungsmuster der Moderne begrifflich klarer zu fassen, noch etliche Fragen offen lassen. Die Besichtigung dieser Großbaustelle in den folgenden drei Kapiteln wird das in aller Deutlichkeit vor Augen führen. Ich beende daher an diesem Punkt die Sichtung der Begriffsarbeit in vollem Bewusstsein der Unzulänglichkeit bisheriger Bemühungen. Nicht nur, dass der allgemeine Gesellschaftsbegriff sehr unscharf geblieben ist – auch hinsichtlich des integralen Ordnungsmusters der modernen Gesellschaft liegen bislang miteinander konkurrierende theoretische Angebote vor, von denen die wichtigsten in den folgenden Kapiteln präsentiert werden, ohne dass absehbar oder gar garantiert wäre, dass es letztendlich gelingen wird, auf eine analytisch anspruchsvolle und empirisch zufriedenstellende Weise zu begreifen, in was für einer Art von Gesellschaft wir leben. Das Einzige, was diesbezüglich hoffnungsfroh stimmt, ist die Tatsache, dass die in den folgenden Kapiteln vorgestellten Lesarten der Moderne zwar einander weitgehend ignorierende oder bekämpfende Deutungen darstellen, aber je für sich genommen diskutabel oder sogar schon vielversprechend und ausbaubar sind.
2. Gesellschaftstheoretische Aufgaben und Theorieperspektiven Soweit die hier erst einmal möglichen und erforderlichen Klärungen des Gesellschaftsbegriffs! Auf dieser Grundlage lässt sich nun fragen, welche Aufgaben Gesellschaftstheorie hat. Blickt man nochmals weit zurück, ist unschwer zu erkennen, warum Comte die Soziologie – die er anfangs noch »soziale Physik« nannte – als Wissenschaft von der Gesellschaft vorantreiben wollte. Es ging ihm wie vielen seiner Zeitgenossen darum, auf wissenschaftlicher Grundlage verlässliche Einsichten in das Wesen der modernen Gesellschaft und in ihre zukünftigen Möglichkeiten – Chancen wie Risiken – zu gewinnen. Dahinter standen nicht zuletzt Ambitionen der Gesellschaftsgestaltung. Hier sind bereits drei Leitfragen erkennbar, die auch das weitere gesellschaftstheoretische Denken geprägt haben. Es geht erstens um die Frage nach dem charakteristischen Ordnungsmuster 17
der Moderne, das man sich immer wieder auch in Abgrenzung gegenüber vormodernen Gesellschaften klar zu machen versucht. Wenn dieses Muster beschrieben ist, kann man es zweitens zur abhängigen Variable machen und fragen, welche Triebkräfte seinen Strukturdynamiken zugrunde liegen: Welche Ursachen haben das Ordnungsmuster zunächst einmal hervorgebracht und im Weiteren dafür gesorgt, dass es sich über längere Zeiträume identisch dauerhaft erhalten oder aber auch mehr oder weniger stark gewandelt hat? Drittens schließlich kann man das Ordnungsmuster in seiner jeweils gegebenen Ausprägung als unabhängige Variable ansehen und daraufhin befragen, welche Effekte es auf die Lebenschancen der individuellen Gesellschaftsmitglieder und die gesellschaftliche Integration hat. Mit Blick auf die Effekte riefen nicht erst die Französische und die industrielle Revolution bei den Menschen neben Begeisterung auch tiefe Verunsicherung hervor. Die schon früher gewachsene Einsicht der Moderne, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse Menschenwerk sind, hat den Schluss auf eine umfassende Gestaltungskompetenz – im dreifachen Sinne von Vermögen, Befugnis und Verantwortung – getragen: Wer hervorbringt, kann gestalten; und wer gestalten kann, kann und muss verbessern. Dieser Gestaltungsoptimismus ist das Credo der heroischen Moderne, wie insbesondere aus der kulturtheoretischen Perspektive erkennbar ist (Kap. IV.2). Man mag es zwar als völlig absurd einstufen, von zunächst einmal nur erkannter bloßer Verursachung auf Gestaltungsfähigkeit zu schließen. Ein Gestaltungspessimismus folgte ja auch postwendend, durch die Terrorherrschaft, in die die Französische Revolution schnell mündete, ebenso forciert wie später durch katastrophal entgleitende Großprojekte beileibe nicht nur des Sozialismus. Die Gestaltungsfrage ließ die gesellschaftliche Selbstbeobachtung nicht mehr los; und wer überhaupt – wie bescheiden dann auch immer – gestalten will, hat zumeist ein starkes Interesse an wissenschaftlich fundiertem Wissen über sein Gestaltungsobjekt. Man will erstens retrospektiv erklären können, wie ein bestimmter gesellschaftlicher Zustand zustande gekommen ist, und zweitens prospektiv aufzeigen, wie es von da aus weiter gehen wird. Und man will für beides möglichst allgemeine Gesetzmäßigkeiten finden, die einen dann auch gewissermaßen die Stellschrauben 18
erkennen lassen, an denen man zukünftig zielgerichtet drehen kann, um die Wiederholung schlechter Entwicklungen zu vermeiden und gute Entwicklungen befördern zu können. Das Spektrum dessen, was die soziologische Gesellschaftstheorie diesbezüglich zu liefern verspricht, reicht von Rezeptwissen, das Gesellschaftsgestaltern detaillierte und dezidierte Handlungsempfehlungen gibt, was eher selten vorkommt, bis zum häufigeren Typus des Orientierungswissens, das Problemsensibilität schafft und Suchrichtungen vorschlägt. Quer dazu unterscheidet sich die hinter dem übermittelten Wissen stehende normative Intention – oft verknüpft mit dem Adressaten: Will man sich »aufklärerisch« und »kritisch« an gesellschaftlich Benachteiligte und soziale Bewegungen wenden oder will man »sozialtechnologisch« Politikberatung betreiben oder gar »Herrschaftswissen« liefern?6 Die Klassiker der soziologischen Gesellschaftstheorie traten hier nolens volens das Erbe der Geschichtsphilosophie an, die sich zugetraut hatte, die große Linie der gesellschaftlichen Entwicklung zu prognostizieren (Marquard 1973). Bekannte Beispiele sind etwa Karl Marx’ (1894: 221-277) »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate«, demzufolge der Kapitalismus zum Untergang bestimmt war, oder Webers (1905: 188) düstere Prophezeiung, dass sich die gesellschaftliche Rationalisierung zu einem »stahlharten Gehäuse« auswachse – eine Vorstellung, die dann von der Frankfurter Schule zum Niedergangsszenario eines »Endes des Individuums« in der »verwalteten Welt« weitergedacht wurde (Adorno 1953). Daneben gab es auch viel optimistischere Szenarien – am prominentesten nach dem Zweiten Weltkrieg die soziologische Modernisierungstheorie, die eine weltweite Transformation stationärer und ihren Mitgliedern nur beschränkte Lebenschancen bietender traditionaler Gesellschaften in dynamische, durch Wirtschaftswachstum, Demokratie, Wissenschaft und säkulare Kultur geprägte Gesellschaften skizzierte und zeitweise als Blaupause der Entwicklungspolitik westlicher Länder diente (Knöbl 2007: 21-28). Die Modernisierungstheorie ist nicht zuletzt deshalb ein besonders augenfälliges Beispiel, weil ihr Impetus nach wie vor viele gesellschaftstheoretische Fragestellungen und Analysen trägt. Parsons’ (1966; 1971) modernisierungstheoretische Rekonstruktion der Weltgeschichte von archaischen Stammesgesellschaften bis zu den USA Anfang der 1970er Jahre stellt ja ein Drei-Stadien19
Modell der Moderne auf, die nacheinander die industrielle, die demokratische und dann in den 1960er Jahren die »Bildungsrevolution« durchläuft. Die Analyse endet mit den Worten: »Auch wenn wir die unleugbar gegebene Möglichkeit einer alles vernichtenden Katastrophe in Betracht ziehen, erwarten wir dennoch, daß der Haupttrend des nächsten, vielleicht auch übernächsten Jahrhunderts auf die Vollendung jenes Gesellschaftstyps zusteuern wird, den wir ›modern‹ nennen.« (Parsons 1971: 181) Der Tenor ist unüberhörbar: Die soziologische Gesellschaftstheorie sieht sich in der Lage, für lange Zeiträume und in globalem Maßstab mit hoher Gewissheit vorzuzeichnen, wohin die Reise geht. Weitere Beispiele solcher ihrer selbst sehr sicheren Diagnosen und Prognosen gesellschaftlicher Dynamik ließen sich mühelos finden – insbesondere auch im Genre der soziologischen Gegenwartsdiagnosen, die freilich längst nicht immer ein ausgearbeitetes gesellschaftstheoretisches Fundament aufweisen (Schimank/ Volkmann 2000). Die prognostische Erfolgsbilanz ist jedoch ernüchternd: Spätestens wenn die Aussagen zu gesellschaftlichen Entwicklungstrends über relativ vage Behauptungen hinausgehen, sind sie in genauso vielen oder sogar mehr Fällen falsch wie richtig. Gleiches gilt auch für die auf den ersten Blick einfacher erscheinende Aufgabe, verallgemeinerungsfähige Erklärungen für bereits eingetretene gesellschaftliche Dynamiken zu liefern.7
3. Gesellschaftsmodelle Raymond Boudon (1983) zieht hieraus die Konsequenz einer strikten »no-theory of social change«. Es gibt keine einfachen, nur mit wenigen Variablen auskommenden und theoretisch verallgemeinerbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, mittels derer man große gesellschaftliche Entwicklungen wie Industrialisierung, Demokratisierung, Globalisierung, Individualisierung oder Bürokratisierung rückblickend erklären oder mit Blick in die Zukunft voraussagen kann. Was ist falsch an dieser Vorstellung von Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Dynamik? Um die Dinge nicht anhand tatsächlicher Erklärungsfragen und der Diskussionen darüber noch unübersichtlicher zu machen, als sie ohnehin schon sind, spiele ich die verschiedenen heiklen Punkte solcher 20
Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge hier an fiktiven stark vereinfachten Beispielthesen der Art durch, wie sie auch in der Modernisierungstheorie vertreten worden sind. Vorausgeschickt sei, dass die nun anzusprechenden Punkte keineswegs nur die Gesellschaftstheorie betreffen, sondern vielmehr immer dann auftreten, wenn Soziologie auf Wirklichkeit trifft, also jenseits abstrahierter Modellwelten konkrete soziale Geschehnisse wie etwa die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland oder den Rückgang sozialer Ungleichheit in vielen westlichen Gesellschaften zwischen 1945 und 1975 erklären will. Ersteres ist ein historischer Einzelfall, Letzteres ein Typ von Geschehen, das in mehreren konkreten Einzelfällen gleichartig vorkommt. Für beide Arten von Erklärungsgegenständen lassen sich mindestens die folgenden vier unterschiedlich gelagerten, aber jeweils gravierenden methodologischen und sozialtheoretischen Probleme benennen. Erstens ist bei jeder derartigen Erklärungsbemühung davon auszugehen, dass jegliches soziale Geschehen vielfache Ursachen hat, von denen manche zwar stärker als andere ins Gewicht fallen, aber auch schwache Ursachenfaktoren stets die konkrete Ausprägung des Geschehens mit prägen und hin und wieder sogar – wenn stärkere Faktoren einander wechselseitig neutralisieren – maßgebend dafür sind, was passiert. Was die Soziologie zunächst zu formulieren und dann anzuwenden sucht, sind verallgemeinerungsfähige theoretische Erklärungsmodelle, die nicht nur auf ein einziges konkretes Geschehen passen, sondern auf einen Typ von Geschehen – wie z.B. den Übergang von Demokratien in Diktaturen, um das erste Beispiel aufzugreifen. Solche Modellbildung muss aus der tatsächlichen Ursachenvielfalt eine zumeist kleine Teilmenge herausgreifen – mit der Konsequenz, dass der Wirkungszusammenhang zwischen diesen wenigen Ursachenfaktoren auf der einen Seite und dem Typ von Geschehen, das es zu erklären gilt, ein probabilistischer wird. Anders gesagt: Aus dem Modell lässt sich lediglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und nur teilweise das herleiten, was sich in der Wirklichkeit ereignet. Natürlich versucht man, eine möglichst gute Auswahl von Erklärungsfaktoren zu treffen, die dann in das theoretische Modell eingehen; aber die Menge der noch handhabbaren Faktoren ist begrenzt, und es ist notorisch schwierig, die richtigen zu entdecken. 21
Man gelangt so zu nicht mehr als statistischen Korrelationen der Art, dass zunehmende Inklusion der Bevölkerung in höhere Bildungseinrichtungen die Individualisierung fördert oder dass wirtschaftlicher Wohlstand Demokratie sowohl befördert als auch stabilisiert. Diese Korrelationen – vorausgesetzt, dass an der Operationalisierung der Variablen, den empirischen Daten und den statistischen Auswertungen nichts auszusetzen ist – sind oftmals nicht ganz schwach, aber meistens auch nicht sehr stark. Das heißt, dass ihnen der eine konkrete Fall entspricht, der andere nicht. Anders gesagt: Die Erklärungsleistung ist eine unübersehbar begrenzte. Denn wenn man einen konkreten Einzelfall erklären will, und dieser entspricht dem Modell, dann hat man allenfalls eine Partialerklärung; entspricht er ihm aber nicht, hat man gar keine Erklärung. Und wenn man an der Erklärung eines Typs sozialen Geschehens, also einer allgemeiner umschreibbaren Menge von Fällen, interessiert ist, dann entsprechen in der Regel einige dem Modell, andere nicht, so dass man auch hier nur eine Partialerklärung besitzt. So oder so darf man nicht bei der Korrelation stehenbleiben. Aber selbst dann, wenn die Korrelation zwischen den ausgewählten Ursachenfaktoren und dem zu erklärenden Typ sozialen Geschehens sehr hoch ist, also kaum ein Rest von theoretisch nicht abgedeckten Fällen bzw. Fallaspekten übrig bleibt, der nicht durch das theoretische Modell abgedeckt wird, fragt man sich zweitens prinzipiell, ob eigentlich Korrelationsaussagen das sind, was man unter einer zufriedenstellenden Erklärung versteht. Dies wird in der neueren Diskussion mechanismischer Erklärungen herausgearbeitet.8 Das Aufdecken von Korrelationen – so der Kritikpunkt – hat eine inhärente Erklärungslücke, weil es keine »kausale Rekonstruktion« (Mayntz 2002) des sozialen Geschehens liefert. Denn der Mechanismus, der bestimmte Ursachenfaktoren als Anfangsbedingungen in bestimmte Wirkungen als zu erklärende Faktoren überführt, bleibt im Verborgenen.9 Für Renate Mayntz (2005: 208, Hervorheb. weggel.) »[…] stellen Mechanismen fest, wie, also durch welche Zwischenschritte, ein bestimmtes Ergebnis aus einem bestimmten Satz von Anfangsbedingungen hervorgeht«. Genau das fehlt bei einer Korrelationsaussage wie der, dass höhere Bildung Individualisierung fördert. Auf welche Weise wird ein Selbstverständnis der Person als selbstbestimmt und einzig22
artig dadurch hervorgerufen, dass sie das Gymnasium und später die Universität besucht? Anders gesagt, was passiert beim Gymnasiums- und Universitätsbesuch, das diesen sozialisatorischen Effekt hervorruft? So formuliert liegen ja durchaus einige Wirkungsketten nahe, die man gleichsam zwischen die beiden Variablen der Korrelationsaussage einbauen könnte, um sie sich erklären zu können. Genau darum geht es mechanismischen Erklärungen: dass der Kausalprozess »[…] Schritt für Schritt ausbuchstabiert […]« wird (Mayntz 2005: 208). Das schrittweise Ausbuchstabieren des Wirkungszusammenhangs lässt dann auch erkennen, welcher genaue Stellenwert einzelnen Ursachenfaktoren zukommt, die in einer Korrelationsaussage oft erst einmal bloß additiv aufgelistet und bestenfalls nach der durch sie erklärten Varianz sortiert werden: – Manche Ursachenfaktoren sind notwendige Bedingungen des zu erklärenden Effekts, dürfen also nicht fehlen, bringen aber allein den Effekt noch nicht hervor. Andere Ursachenfaktoren sind hinreichende Bedingungen: Wenn sie gegeben sind, tritt der Effekt zwangsläufig ein. – Die meisten Ursachenfaktoren sind weder notwendig noch hinreichend. So können zwei oder mehr Faktoren »äquifinal« sein, stellen also alternative notwendige oder mitwirkende Ursachen desselben Effekts dar. Andere Faktoren haben nur eine verstärkende Wirkung; wieder andere können die Wirkungskette stören oder gar völlig unterbrechen. – Die Ursachenfaktoren greifen in einer bestimmten zeitlichen Sequenz ineinander, wobei es auf das Timing ankommen kann. Tritt ein Faktor z.B. zu früh auf den Plan, kann seine Wirkung verpuffen. Am wichtigsten ist freilich, dass ein Mechanismus eine geschlossene Strukturdynamik in dem Sinne bildet, dass eine zirkuläre Kausalität Regelmäßigkeit als sich wiederholendes Muster des Geschehens hervorbringt (Boudon 1984: 154-166; Schimank 2000: 196-205), wobei das Muster eines der Abweichungsdämpfung, also Strukturerhaltung über Zeit, oder der Abweichungsverstärkung im Sinne eines gerichteten Strukturwandels sein kann (Maruyama 1963). Nur derart geschlossene Dynamiken sind theore23
tisch modellierbar, nämlich als Mechanismus ausbuchstabierbar; aber sie bleiben als solche abstrakt, weil sie in konkreten sozialen Geschehnissen stets in vielfältige offene Dynamiken eingebettet sind, die sich als allgegenwärtige »Cournot-Effekte« (Boudon 1984: 173-179) zeigen. Anders gesagt: Soziale Gesetzmäßigkeiten sind letztlich allein schon deshalb stets nur mehr oder weniger wahrscheinlich, weil die ihnen unterliegende geschlossene Dynamik allen möglichen, mal mehr und mal weniger starken Störimpulsen durch koinzidentielle Einwirkungen anderer Kausalitäten unterworfen ist. Man mag z.B. eine noch so zwingende Erklärung dafür haben, warum bestimmte Personen unter bestimmten Bedingungen ein Attentat auf den Machthaber ausüben, was dann bei bestimmten Kräfteverhältnissen ebenso zwingend einen Machtwechsel auslöst: Wenn der Zündmechanismus der Bombe wegen eines Fehlers beim Zusammenbau versagt, kommt die geschlossene Dynamik nicht zum Zuge. Gerade eine mechanismische Erklärung vermag die geschlossene Dynamik als Kernmechanismus des zu betrachtenden Kausalzusammenhangs und die sie umgebenden offenen Dynamiken als Kontext analytisch auseinanderzuhalten (Faletti/Lynch 2009). Einsichtig ist schließlich auch, dass erst eine mechanismische Erklärung die bereits angesprochenen Stellschrauben für ein Gestaltungshandeln aufdeckt, das auf gesellschaftliche Dynamiken feinfühlig einwirken will. Eine Korrelationsaussage ermöglicht allenfalls grobschlächtige Eingriffe. Denn auf dieser Wissensgrundlage bleibt einem Gestaltungsakteur ja nichts anderes übrig, als zu versuchen, sämtliche Ursachenfaktoren des Modells, auf die er überhaupt Zugriff hat, in die gewünschte Richtung zu bewegen. Das bleibt in der Gesamtwirkung sowohl viel unsicherer als auch viel ineffizienter, als wenn man gezielt an strategischen Stellen in einen Mechanismus eingreift. Zugleich freilich hält die mechanismische Erklärung im Bewusstsein, dass man auch als Gestaltungsakteur nicht damit rechnen darf, dass alles immer glatt geht. Diese ersten beiden Punkte benennen inhärente Schwächen von als Korrelationsaussagen daherkommender Gesetzmäßigkeiten: nur Wahrscheinlichkeiten beziffern zu können und keine Wirkungsketten auszubuchstabieren. Ein dritter heikler Punkt vieler derartiger Gesetzmäßigkeiten besteht darin, dass sie zu funktionalistischen Fehlschlüssen verleiten können. Dies ist keine 24
den Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig innewohnende Begrenztheit, sondern geht vielmehr auf eine Neigung zum »wishful thinking« zurück. Wenn die Wirkung, die ein bestimmtes Ursachenbündel erzeugt, eine mit Blick auf ein wichtiges Bezugsproblem als positiv eingestufte Funktionalität darstellt, neigt man schnell dazu, aus der Wichtigkeit der Bewältigung des Bezugsproblems darauf zu schließen, dass diese Funktionalität und damit das ihr zugrundeliegende Ursachenbündel auch real gegeben ist.10 Besonders die tatsächlichen oder vermeintlichen sogenannten »functional prerequisites« gesellschaftlicher Ordnung geben zu funktionalistischen Fehlschlüssen Anlass.11 Weil etwa frühkindliche Sozialisation nur in Primärgruppen mit bestimmten Eigenschaften, wie sie u.a. die moderne Kleinfamilie aufweist, funktionieren kann, erklärt sich daraus schnell nicht nur die Alternativlosigkeit dieser Familienform, sondern auch, dass es stets funktionstüchtige Familien dieser Art geben wird. Beide Schlüsse sind falsch: Zum einen kann es zu jeder Art von Ursachenbündel, das einer bestimmten Funktionserfüllung tatsächlich zugrunde liegt, stets mehr oder weniger viele funktionale Äquivalente geben (Merton 1949; Luhmann 1962); und zum anderen ist das, was es zur Erfüllung einer bestimmten Funktion – wie wichtig auch immer sie sein mag – geben muss, deshalb keineswegs auch tatsächlich gegeben. Ob eine Funktion erfüllt wird, ist eine empirische Frage. Nichts kann ausschließen, dass in einer Gesellschaft die frühkindliche Sozialisation auf breiter Front versagt und dies entsprechend katastrophale Folgen für die gesellschaftliche Ordnung nach sich zieht, wenn sich aufgrund entsprechender gesellschaftlicher Dynamiken keines der funktionalen Äquivalente, die für die erforderlichen Sozialisationseffekte sorgen könnten, zu halten vermag. Ich komme zum vierten der heiklen Punkte dessen, was lange Zeit gesellschaftstheoretisch als Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung unterbreitet worden ist. Wiederum nicht zwingend in solchen sozialen Gesetzmäßigkeiten angelegt, aber doch leicht nahegelegt wird ein strukturalistischer Fehlschluss, der darin besteht, Wahlfreiheiten von Akteuren zu übersehen. Zumindest in einer – gleich noch etwas näher zu erläuternden – handlungstheoretischen Perspektive sind Akteure keine bloßen Marionetten struktureller Zwänge. Akteure können sich diese 25
Zwänge oft reflexiv vergegenwärtigen und sich ihnen auf dieser Basis dann prinzipiell auch entziehen. Das mag für sie sehr große negative Folgen bis hin zum eigenen Tod nach sich ziehen, weshalb die allermeisten sich insbesondere in »Hochkostensituationen« (Zintl 1989) den Zwängen beugen – doch selbst dann gibt es einzelne Überzeugungstäter oder Geisteskranke, die dies nicht tun. Auch das erklärt mit, warum soziale Gesetzmäßigkeiten stets nur Korrelationen, aber keine deterministischen Zusammenhänge sind. Nicht so radikal wie bei einer Koste-es-was-es-wolle-Verweigerung gegenüber strukturellen Zwängen treten Akteure auf, die sich auf die eine oder andere Weise um einen lernenden Umgang mit ihrem strukturellen Kontext bemühen (Mitchell/Streeck 2009: 8/9). Lernen – und sei es vermeintliches Lernen (March/Olsen 1975) – liegt jeder Art von Gestaltungsbemühungen zugrunde. So können Akteure versuchen, sich die funktionalen Erfordernisse der Aufrechterhaltung bestimmter gesellschaftlicher Strukturen – etwa einer stabilen Demokratie – zu vergegenwärtigen und dann daran gehen, ihr Möglichstes zu tun, um dafür zu sorgen, dass diese Erfordernisse bedient werden. Genauso können Anti-Demokraten einen solchen »Funktionalismus als Akteurswissen« (Vobruba 1992) nutzen, um die Demokratie gezielt zu untergraben. Das betreffende Wissen mag dabei völlig irrig sein; auch dann ist das aus dieser falschen Situationseinschätzung resultierende Handeln eines, das sich nicht einfach vorgegebenen Strukturdynamiken mit ihren Gesetzmäßigkeiten beugt, sondern sie auszuhebeln versucht. Ähnlich ist die Logik von Warnungen als sich selbst widerlegen wollenden Prophezeiungen angelegt (Clausen/ Dombrowsky 1984): Wenn sie Gehör finden, sorgt das dafür, dass das, wovor gewarnt wird, nicht eintritt. Vielleicht hat ja die siegessichere Prognose des Kommunistischen Manifests, dass die Bourgeoisie »[…] ihren eignen Totengräber […]« heranziehen werde (Marx/Engels 1848: 57), dafür gesorgt, dass ihre Gegner sorgsam beobachtende Politiker wie der Reichskanzler Otto von Bismarck, die die längerfristigen Interessen der Bourgeoisie im Auge hatten, sozialpolitische Maßnahmen ergriffen, um die Arbeiterschaft von der Rebellion abzuhalten. Wenn also aus den genannten Gründen die großen Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Dynamik in Gestalt von Korrelations26
aussagen unbefriedigend sind: Was kann soziologische Gesellschaftstheorie stattdessen Nützliches anbieten? Wolfgang Knöbls (2007) Plädoyer geht in Richtung einer »kontingenzsensiblen« Gesellschaftstheorie, die Generalisierungsambitionen rigoros abschwört; im Nachtrag notiert er sogar: »Meine Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit der Makrosoziologie zur Benennung robuster Mechanismen und Prozesse, die sich in unterschiedlichen historischen Kontexten immer wieder finden lassen, ist […] nicht geringer geworden.« (Knöbl 2010: 806) Was auf dieser Linie bleibt, ist dann nur noch »[…] eine Anverwandlung der Soziologie an die Geschichtswissenschaft« (Holzer 2011: 161). Zugespitzt formuliert: Jedes konkrete gesellschaftliche Geschehen wird als einzigartig genommen und ist nur noch einer narrativen Rekonstruktion zugänglich. Knöbl betreibt Gesellschaftstheorie letztlich mit der paradoxen Absicht, die Unmöglichkeit von Gesellschaftstheorie zu beweisen und diejenigen in ihre Schranken zu verweisen, die noch Gesellschaftstheorie betreiben wollen. Auch wenn man zugesteht, dass jede soziologische Analyse konkreter gesellschaftlicher Phänomene – ob Einzelfälle oder Gruppen typähnlicher Fälle – schon deshalb in gewissem Maße zur historischen Soziologie wird, weil sie die koinzidentiellen Kausalitäten, die auf die geschlossenen Dynamiken einwirken, mit berücksichtigen muss, ist historische Soziologie eben doch etwas anderes als Geschichtswissenschaft (Schützeichel 2004). Um den Unterschied genauer fassen zu können, ist es hilfreich, drei gesellschaftstheoretische Betätigungsfelder auseinander zu halten: – Gesellschaftsanalyse: Soziologische Gesellschaftstheorie dient letztlich dazu, raum-zeitlich situierte konkrete Gesellschaften in ihrem Zustand, ihrem Gewordensein, ihrem Wandel und ihren Zukunftsaussichten zu begreifen. Um die großen und drängenden Fragen, die bis ins geschichtsphilosophische Format reichen können, kann sich die Gesellschaftstheorie nicht herumdrücken; aus ihnen begründet sie schließlich die eigene Daseinsberechtigung. Sie muss Antworten auf Fragen – um nur drei ganz unterschiedliche Beispiele zu nennen – wie die nach dem Aufstieg des Westens seit dem 18. Jahrhundert, nach den Unterschieden der nationalen »Kulturen der Moderne« (Münch 27
1986) oder nach der Funktionsweise und dem Niedergang der DDR als »Organisationsgesellschaft« (Pollack 1990) geben; sie muss auch je aktuelle Zeitdiagnosen einzelner Nationalgesellschaften wie etwa Deutschland als »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1992) oder der Moderne als Ganzer – siehe z.B. Ulrich Becks (1986) Lesart der »reflexiven Moderne« – offerieren. – Gesellschaftstheoretische Instrumente: Um Gesellschaftsanalyse betreiben zu können, braucht die Gesellschaftstheorie – wie jedes andere Teilgebiet der Soziologie auch – Erklärungswerkzeuge mittlerer Reichweite. Werkzeuge sind niemals auf einen konkreten Fall zugeschnitten. Hier kommen Mechanismen unterschiedlichster Machart ins Spiel, deren Generalisierungsgrad ebenfalls sehr unterschiedlich ist. Ein Mechanismus wie die »Politikverflechtungsfalle« (Scharpf 1985) ist auf eine bestimmte Ausprägung von Mehrebenenstrukturen politischer Entscheidungsproduktion anwendbar und kann so eingesetzt werden, wenn man Reformblockaden und damit blockierten Strukturwandel bestimmter Nationalgesellschaften wie Deutschland erklären will. Andere Mechanismen wie das Prisoner’s Dilemma stammen aus der allgemeinen Sozialtheorie und können sowohl bei unterschiedlichsten gesellschaftstheoretischen Fragen als auch für soziologische Analysen jenseits der Gesellschaftstheorie eingesetzt werden. Neben der Sozialtheorie (Schimank 2000; Elster 2007; Maurer/Schmid 2010) sind auch die speziellen Soziologien sowie andere Sozialwissenschaften Fundgruben für solche Mechanismen.12 – Gesellschaftsmodelle: Müsste die soziologische Gesellschaftstheorie Gesellschaftsanalyse allein mit gesellschaftstheoretischen Instrumenten der gerade genannten Art betreiben, klaffte analytisch eine große Kluft zwischen der konkreten und ganzheitlichen Gestalt der jeweils betrachteten Gesellschaft auf der einen und den abstrakten kleinteiligen Mechanismen, die als Erklärungswerkzeuge herangezogen werden. Mehr noch: Das spezifisch Gesellschaftstheoretische fehlte. Denn Gesellschaftsanalyse kann auch rein geschichtswissenschaftlich betrieben werden, und die gesellschaftstheoretischen Instrumente sind eben nicht exklusiv auf diesen Gegenstand hin ausgerichtet. Erst die Gesellschaftsmodelle stellen als übergreifende Charakterisierungen des integralen Ordnungsmusters einer Gesellschaft das 28
Alleinstellungsmerkmal der soziologischen Gesellschaftstheorie dar. Für die Moderne stehen hier die drei im Weiteren darzulegenden Theorie-Familien bereit: die differenzierungs-, die ungleichheits- und die kulturtheoretische Perspektive. Den Kern der soziologischen Gesellschaftstheorie machen also die drei Gesellschaftsmodelle der Moderne aus: funktionale Differenzierung, marktvermittelte Ungleichheiten und gestalteter Fortschritt – um die Etiketten vorweg zu nennen. Diese abstrakten Modelle, die die moderne Gesellschaft insgesamt, wie sie spätestens mit dem 18. Jahrhundert einsetzt und seit dem 19. Jahrhundert weltweit ausstrahlt, charakterisieren wollen, stehen daher in diesem Buch im Vordergrund. Dabei werden stets diejenigen gesellschaftstheoretischen Instrumente einbezogen, die die Modelle tragen. Was hingegen hier nicht geleistet werden kann, ist die Durchführung einer Gesellschaftsanalyse, die die allgemeinen Gesellschaftsmodelle und gesellschaftstheoretischen Instrumente auf konkrete raum-zeitlich situierte Gesellschaften anwendet. Anders gesagt: Ich betätige mich hier vorerst als gesellschaftstheoretischer Werkzeugmacher, noch nicht als Anwender dieser Werkzeuge, die aber natürlich für Anwendungszwecke gedacht sind.
4. Handlungstheoretischer Bezugsrahmen Jede Art von gegenstandsbezogener soziologischer Forschung, also auch Gesellschaftstheorie, legt – explizit oder implizit – einen sozialtheoretischen Bezugsrahmen zugrunde. Bereits an mehreren Stellen ist angeklungen, dass ich hier einen handlungstheoretischen Zugang wähle.13 Handlungstheorie ist eine Familie durchaus unterschiedlicher und teilweise in Konflikte miteinander verwickelter Perspektiven – wenn man etwa nur Rational Choice und Symbolischen Interaktionismus in den Blick nimmt. Diese innerfamilialen Konflikte können hier nicht ausgetragen werden. Das im Weiteren dargelegte und benutzte Verständnis von Handlungstheorie ist vielmehr ein relativ weites, sich bei vielen darunter fallenden sozialtheoretischen Perspektiven bedienendes und dabei auch größtenteils bewusst konventionelles. Denn die offenen Fragen der
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Sozialtheorie sind hier nicht das Thema; sie wird vielmehr als ein Mittel zum Zweck benutzt, Gesellschaftstheorie zu betreiben. Der fortan benutzte handlungstheoretische Zugang sieht Gesellschaft als fortwährendes Wechselspiel von handelndem Zusammenwirken und gesellschaftlichen Strukturdynamiken. Das bedeutet, in äußerster Kürze thesenhaft umrissen: – Handelndes Zusammenwirken – die prozessuale Grundeinheit von Sozialität – setzt sich aus aufeinander bezogenen Akten sozialen Handelns zusammen; und dieses Handeln geht auf Akteure zurück. – Akteure sind zum einen und zunächst einmal Individuen. Zum anderen gibt es mehrere Arten von »composite actors« (Scharpf 1997: 52/53), also aus Individuen und deren eingebrachter Handlungsfähigkeit zusammengesetzter Akteure: kollektive und korporative Akteure. Letztere wiederum können in Gestalt von Kleingruppen, Koalitionen, Organisationen oder »meta-organizations« (Ahrne/Brunsson 2008), also aus Organisationen bestehenden Organisationen, wozu dann auch Nationalstaaten gehören, auftreten. – Soziales Handeln geht aus vier möglichen Handlungsantrieben hervor: der Konformität mit institutionalisierten Normen, der Verfolgung eigener Nutzenvorstellungen, etwa in Gestalt von Interessen, dem Ausleben von Emotionen und der Darstellung und Behauptung der eigenen Identität. Jeder dieser Handlungsantriebe wird überwiegend gemäß erlernten und eingespielten Routinen verfolgt; in dem Maße, in dem diese Routinen gestört werden oder für den Akteur viel auf dem Spiel steht, bemüht er sich um entscheidungsförmiges, also Alternativen abwägendes Handeln. – Wie ein Akteur in einer bestimmten Situation handelt, hängt außer von seinen Handlungsantrieben weiterhin davon ab, wie er die Situation kognitiv deutet und über welche Einflusspotentiale wie Macht, Geld, Wahrheit etc. er verfügt. – Handelndes Zusammenwirken findet in Akteurkonstellationen statt. Eine Konstellation existiert, sobald mindestens zwei Akteure gewahr werden, dass es zwischen ihnen eine Intentionsinterferenz gibt, sie einander also bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Handlungsantriebe in die Quere kommen oder aber einander 30
unterstützen könnten. Dabei sind drei Arten von Konstellationen zu unterscheiden: solche, in denen nur wechselseitige Beobachtung möglich ist; solche, in denen auf dieser Grundlage zusätzlich wechselseitige Beeinflussung möglich ist; und solche, in denen auf der Grundlage von wechselseitiger Beobachtung und Beeinflussung auch wechselseitiges Verhandeln, also der Abschluss bindender Vereinbarungen, möglich ist. – Handelndes Zusammenwirken in Akteurkonstellationen ist eingebettet in soziale Strukturen – hier besonders interessant: Gesellschaftsstrukturen. Es gibt drei Arten von Gesellschaftsstrukturen: erstens kulturelle Deutungsstrukturen, zweitens institutionelle Erwartungsstrukturen sowie drittens Beziehungsstrukturen der Konstellationen, also etwa Einflussverteilungen oder Netzwerke. – Gesellschaftstrukturen prägen die Zusammensetzung und die Arten von Akteuren, deren Handlungsantriebe, kognitive Deutungen und Einflusspotentiale sowie deren Interferenzen. Gesellschaftsstrukturen schränken so einerseits Handlungsmöglichkeiten ein; andererseits können Strukturen aber auch überhaupt erst Handlungsmöglichkeiten eröffnen, wenn etwa ein Gesetz bestimmten Akteuren spezifische Rechte verleiht. – Umgekehrt werden die Gesellschaftsstrukturen durch handelndes Zusammenwirken in Akteurkonstellationen beständig hervorgebracht: aufgebaut, aufrechterhalten oder verändert – bis hin zur Zerstörung. Dies geschieht größtenteils transintentional – jenseits dessen, was die Akteure mit ihrem Handeln beabsichtigen. Doch es gibt auch intentionale Strukturgestaltung, die dann wiederum gelingen oder transintentional entgleiten kann. Diese Skizze des handlungstheoretischen Zugangs lässt erkennen, dass er eine tendenziell konflikttheoretische Ausrichtung hat.14 Tatsächliche oder potentielle Konflikte mit anderen Akteuren sind zwar nicht die einzige Art von Problemen, mit denen sich ein Akteur in einer Konstellation konfrontiert sieht. Es gibt noch zwei andere Arten von Handlungsproblemen: das Problem, überhaupt eine sinnhafte Orientierung auf die Welt zu gewinnen, sowie das Problem, eigenes Handeln, das nicht in Konflikt mit den Handlungsantrieben anderer Akteure steht, mit deren Handeln zu ko31
ordinieren – wenn es etwa darum geht, sich darüber zu verständigen, wie man einander auf einem schmalen Weg ausweicht.15 Doch wenn das erste dieser beiden Handlungsprobleme bewältigt und weiterhin geklärt ist, dass die vorliegende Intentionsinterferenz kein vergleichsweise einfaches Koordinationsproblem darstellt, sehen sich die Akteure Konflikten gegenüber, die es zu bewältigen gilt: Nullsummenkonflikten, in denen jeder Gewinn der einen Seite einen Verlust der anderen darstellt, oder »mixed motive games«, in denen »Win-win«-Ergebnisse – aber auch beiderseitige Verluste – möglich sind. Wie auch immer: Die konflikttheoretische Akzentuierung soll betonen, dass gesellschaftliche Strukturdynamiken häufig umkämpft und dann Kräfteverhältnisse in Konstellationen, also die Verteilung von Einflusspotentialen, entscheidend sind. Ob eine Struktur entsteht, fortbesteht oder sich ändert, resultiert unter diesen Umständen aus mehr oder weniger heftigen Interessenkonflikten oder sogar Konflikten über Identitätsansprüche zwischen Akteuren. Auch wenn in dieser Kürze viele Aspekte des handlungstheoretischen Bezugsrahmens vage erscheinen mögen und zudem nicht gegenüber denkbaren Alternativen begründet werden können, geht es zunächst einmal nur darum, ein Minimal-Vokabular sozialtheoretischer Grundbegriffe aufzulisten und diese miteinander zu verknüpfen. Denn diese Begriffssprache wird im Weiteren bei der Darlegung und Diskussion der gesellschaftstheoretischen Perspektiven gesprochen und dabei im Gebrauch klarer werden. Als letzte Komponente des analytischen Bezugsrahmens sind nun noch kurz die beiden bereits bei den gesellschaftstheoretischen Leitfragen erwähnten analytischen Bezugspunkte aufzugreifen, auf die hin gesellschaftliche Strukturdynamiken hier letztlich betrachtet werden: gesellschaftliche Integration und individuelle Lebenschancen. Der eine Bezugspunkt gesellschaftstheoretischer Analysen ist die gesellschaftliche Integration (Schimank 2000a). Diesbezüglich wird also gefragt: Was hält die Gesellschaft als integrales Ordnungsmuster zusammen – gegen mögliche Integrationsgefährdungen, die zum einen als Des-, zum anderen als Überintegration auftreten können? Oft denkt man nur an Ersteres und setzt dann Integrationsprobleme mit Zerfallstendenzen gesellschaftlicher Ordnung gleich, wie sie sich etwa als um sich greifende Krimina32
lität oder besonders drastisch als revolutionärer Umsturz zeigen können. Als prinzipiell ebenso problematisch kann sich aber auch Überintegration erweisen. Dann fressen sich im Extremfall gesellschaftliche Strukturdynamiken in einer totalen Entwicklungsblockade fest; es ist keine Veränderung mehr möglich, obwohl tiefgreifende Veränderungen dringend erforderlich wären. Die staatssozialistischen Gesellschaften Osteuropas waren vor ihrem Kollaps diesem Zustand sehr nahe. Integration stellt also nicht einfach das Gegenteil von Desintegration, sondern vielmehr einen mittleren Ordnungszustand dar. Der andere Bezugspunkt gesellschaftstheoretischer Analysen sind die individuellen Gesellschaftsmitglieder und ihre Lebenschancen. Von Ralf Dahrendorf (1979) ursprünglich im Rahmen der ungleichheitstheoretischen Perspektive eingebracht, lässt sich das Konzept der Lebenschancen allgemeiner fassen. Es geht um die Möglichkeiten einer Person zur »Verwirklichung von Lebenszielen« (Geißler 1994: 4, Hervorheb. weggel.), worin immer diese auch im Einzelfall bestehen mögen. Dahrendorf begreift die Lebenschancen einer Person als Kombination aus Optionen – einschließlich Anrechten – auf der einen Seite und Ligaturen, also sinnstiftenden Bindungen an Werte und Gemeinschaften, auf der anderen Seite. Dieser Bezugspunkt begründet sich zum einen aus eigenem Recht: Der »pursuit of happiness« des Individuums ist ein zentrales Element der Kultur der Moderne (Kap. IV). Zum anderen gilt: Weil sich die Handlungsantriebe von Individuen aus deren Abgleich je gegebener mit erwünschten Lebenschancen ergeben, sind diese nicht nur je individuell, sondern auch mit Blick auf gesellschaftliche Integration relevant – etwa als Anlässe, sich in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen, oder eben nicht, z.B. Asylantenheime nicht in Brand zu setzen, oder eben doch.
5. Theorie-Familien Nachdem damit der Gegenstand, die Aufgaben und Leitfragen der Gesellschaftstheorie sowie der hier gewählte sozialtheoretische Zugang zu ihr expliziert sind, gehe ich abschließend noch kurz auf die drei bereits mehrfach genannten Theorie-Familien ein, mit 33
denen sich die Soziologie ein Bild von der modernen Gesellschaft zu machen versucht. Alle drei Perspektiven – Differenzierungs-, Ungleichheits- und Kulturtheorien – stellen je für sich facettenreiche und in sich auch keineswegs völlig einheitliche Bündel von Teilperspektiven und Varianten dar, die jedoch jeweils eine grundsätzliche Familienähnlichkeit besitzen. Für einen allerersten Überblick lassen sich die Perspektiven mit folgenden Stichworten umreißen: – Differenzierungstheorien porträtieren die moderne Gesellschaft als ein Ensemble von etwa einem Dutzend Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, die als »Wertsphären« (Weber 1919: 27/28) einen je eigenen Leitwert des Handelns wie Gewinnerzielung, Machtsteigerung oder Wahrheitssuche hochhalten und wo auf dieser Linie bestimmte Leistungen – wie die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, von kollektiv bindenden Entscheidungen und von technologisch umsetzbaren Erkenntnissen – für die Gesellschaftsmitglieder sowie für die gesellschaftliche Reproduktion erbracht werden. Diese Differenzierungsordnung der Gesellschaft ist umkämpft. Auf der einen Seite sind die Leistungsproduzenten der Teilsysteme vor allem an der eigenen Autonomie interessiert – bis hin zur Verselbständigung gegenüber allen von außen herangetragenen Gesichtspunkten. Auf der anderen Seite stehen die Leistungsabnehmer, die bestimmte quantitative und qualitative Leistungsansprüche anmelden. – Ungleichheitstheorien betrachten die moderne Gesellschaft als ein Gefüge besser- und schlechtergestellter sozialer Lagen, die sich etwa als Klassen, Schichten, Milieus, aber auch als Ungleichheiten der Geschlechter oder von Generationen manifestieren können. Angesichts eines für die Kultur der Moderne konstitutiven Werts der Gleichheit, der nur noch auf Leistung zurückführbare Ungleichheiten von Lebenschancen legitimierbar erscheinen lässt, legen Ungleichheitstheorien den Fokus auf Kämpfe um Lebenschancen zwischen Schlechter- und Bessergestellten – wobei auch und gerade erklärungsbedürftig ist, wenn solche Kämpfe ausbleiben. – Kulturtheorien stellen sich die moderne Gesellschaft als Komplex bestimmter hochgradig generalisierter evaluativer, nor34
mativer und kognitiver Orientierungen und dazu gehöriger Praktiken dar. Im Zentrum der »Kultur der Moderne« (Münch 1986) steht die Leitidee des gestaltbaren Fortschritts, die durch Werte wie Rationalität, Individualismus oder Gleichheit weiter spezifiziert wird. Diese Ideen wirken als »Weichensteller« (Weber 1919a: 252) der Institutionengestaltung und des interessengeleiteten Handelns der Gesellschaftsmitglieder, wobei bereits die Ausbuchstabierung jedes einzelnen Werts je für sich spannungsreich ist: Wie viel individuelle Freiheit beispielsweise ist in bestimmten Handlungssituationen geboten, erlaubt oder möglich? Erst recht treten unauflösliche Spannungsverhältnisse zwischen den Werten auf, etwa zwischen Freiheit und Gleichheit. Trägergruppen verschiedener Werte versuchen jeweils, den von ihnen verfochtenen Werten und Deutungen dieser Werte Geltung zu verschaffen, und konfligieren dabei unvermeidlich mit Verfechtern anderer Werte und Deutungen. Alle drei Ordnungen der modernen Gesellschaft sind also schon in sich dauerhaft umkämpft; überdies überlagern sich diese Kampfzonen auch noch häufig genug, wie im Weiteren noch deutlich werden wird. Ganz auf der Linie dessen, was ich zuvor als Loslösung der soziologischen Gesellschaftstheorie von geschichtsphilosophischen Versprechungen gekennzeichnet habe, versteht sich keine der drei Theorie-Perspektiven inzwischen noch als »große Erzählung« (Lyotard 1979) der Moderne. Was immer früher unvorsichtigerweise in linearer Extrapolation scheinbarer Trends ungleichheits-, differenzierungs- oder kulturtheoretisch prognostiziert worden sein mag: Heute verspricht niemand mehr z.B. eine »klassenlose Gesellschaft«, die immer weiter segensreich voranschreitende funktionale Differenzierung oder eine weltweite Verbreitung »fortschrittlicher« westlicher Werte. Anstelle solcher unhaltbarer Prognosen bieten die drei Perspektiven Gesellschaftsmodelle und gesellschaftstheoretische Instrumente an, deren kombinierter Einsatz Verständnishilfen verspricht. Möglichst viel dessen, was empirisch an gesellschaftlichem Geschehen auffällt, ohne »Mission« und »Prophetie« sinnfällig und prägnant einzuordnen: Darum geht es Ungleichheits-, Differenzierungs- und Kulturtheoretikern nunmehr. Es sind also, um dies 35
nochmals zu sagen, keine Theorien im Sinne eines geschlossenen Sets von theoretisch abgeleiteten und empirisch prüfbaren oder geprüften Aussagen über gesellschaftliche Strukturen und deren Dynamiken. Es handelt sich methodologisch vielmehr in allen drei Fällen um »orienting strategies« (Wagner/Berger 1985: 700-702), also um heuristische Theorie-Perspektiven, die scheinwerferartig je unterschiedliche Aspekte des komplexen Erkenntnisgegenstands Gesellschaft beleuchten. Solche Perspektiven verknüpfen sehr generelle theoretische Schlüsselkonzepte zu einem Gesellschaftsmodell, innerhalb dessen dann unter Zuhilfenahme spezifischer gesellschaftstheoretischer Instrumente die Formulierung empirisch operationalisierter Hypothesen und damit von Theorien mittlerer Reichweite über bestimmte Phänomene gesellschaftlicher Ungleichheit, Differenzierung oder Kultur möglich ist.
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II. Dif ferenzierungstheoretische Perspektive: Funktional dif ferenzierte kapitalistische Gesellschaft Die differenzierungstheoretische Perspektive sieht als integrales Ordnungsmuster der modernen Gesellschaft deren funktionale Differenzierung an. Die maßgeblichen Weiterentwicklungen des differenzierungstheoretischen Denkens nach den Klassikern – Herbert Spencer, Karl Marx, Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber – sind den beiden Systemtheoretikern Talcott Parsons und Niklas Luhmann zu verdanken.16 Obwohl ich hier ein differenzierungstheoretisches Verständnis vermittle, das wie angekündigt strikt handlungstheoretisch angelegt ist, werde ich auch auf viele im systemtheoretischen Kontext geprägte Vorstellungen zurückgreifen. So werde ich auch weiterhin von gesellschaftlichen »Teilsystemen« wie etwa dem »Wirtschaftssystem« sprechen, deren handlungstheoretische Konzeptualisierung ich allerdings unmissverständlich deutlich mache. Angelehnt an die drei Leitfragen gesellschaftstheoretischen Denkens werde ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels die differenzierungstheoretische Beschreibung der modernen als einer funktional differenzierten Gesellschaft vorstellen. Im zweiten Abschnitt werde ich – weiterhin bei der Beschreibung verbleibend – eine Lesart funktionaler Differenzierung zur Diskussion stellen, die eine gesamtgesellschaftliche Dominanz der kapitalistischen Wirtschaft behauptet. Der dritte Abschnitt wird dann die Effekte einer funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft auf individuelle Lebenschancen und gesellschaftliche Integration betrachten. Im vierten Abschnitt schließt sich die Analyse von Differenzierungsdynamiken an.
1. Funktionale Dif ferenzierung Dass etwas differenziert ist, heißt, dass es in sich gegliedert, kein einheitliches Ganzes ist. Man stelle drei verschieden gefüllte Teller nebeneinander: der erste mit Milchreis, der zweite mit Weintrauben und der dritte mit Boeuf Bourguignon. Der Milchreis ist nicht differenziert; er bietet sich als eine homogene Masse dar. Die Weintrauben sind zwar alle gleichartig, aber jede einzelne 37
liegt für sich unterscheidbar neben allen anderen. Dies ist segmentäre Differenzierung. Das Boeuf schließlich setzt sich aus klar erkennbaren Fleisch-, Mohrrüben- und Champignonstücken sowie weiteren wiederum andersartigen Ingredienzien zusammen. So stellt sich funktionale Differenzierung dar: als eine Ansammlung ungleichartiger Elemente. Im Unterschied zur im nächsten Kapitel betrachteten ungleichheitstheoretischen Perspektive, die mit der Besser- und Schlechterstellung sozialer Lagen die vertikale Dimension von Gesellschaft – »oben« und »unten« – hervorhebt, akzentuiert die differenzierungstheoretische Perspektive die horizontale Dimension. Sie betont als prägendstes Merkmal der modernen Gesellschaft, dass diese sich – im Unterschied zu allen Arten von vormodernen Gesellschaften – in ein Nebeneinander ungleichartiger Teilsysteme gliedert: Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Religion, Kunst, Wissenschaft, Journalismus, Bildung, Gesundheit, Sport und Intimbeziehungen. Ungleichartig sind diese Teilsysteme in dem Sinne, dass es in jedem von ihnen um gänzlich andere, in keinem der je anderen Teilsysteme im Zentrum stehende Belange geht. So dreht sich im Rechtssystem alles um die Beilegung rechtlicher Konflikte. Diese Leistung wird in den anderen Teilsystemen zwar immer wieder genutzt, und es wird vorausgesetzt, dass eventuell auftretende Konflikte – etwa zwischen Käufer und Verkäufer einer Ware im Wirtschaftssystem – dem Rechtssystem übergeben werden können. Aber eigentlich geht es in der Wirtschaft um etwas ganz anderes: dem Verkäufer um Profit und dem Käufer um Bedürfnisbefriedigung. Anders gesagt: Der differenzierungstheoretische Blick entschlüsselt die moderne Gesellschaft im Ausgang von der Sachdimension: von der Verschiedenartigkeit der Aktivitäten und der dahinter stehenden, die Akteure bewegenden Belange. Da sich diese Verschiedenartigkeit gesellschaftlicher Aktivitäten in Gestalt von Teilsystemen bündelt, muss es nun zunächst darum gehen, diese näher zu beschreiben. Aus welchen Komponenten setzt sich ein gesellschaftliches Teilsystem als soziales Gebilde zusammen – und wie stellt sich die Ansammlung der Teilsysteme als übergreifendes gesellschaftliches Ordnungsmuster dar? Die zentrale, identitätsstiftende Komponente eines gesellschaftlichen Teilsystems ist dessen Leitwert. Er flaggt die Handlungslo38
gik aus, die das handelnde Zusammenwirken prägt, in dem sich das Teilsystem operativ manifestiert. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft beruht also auf evaluativen Deutungsstrukturen, die einem Akteur sagen, was in einer Situation erstrebenswert bzw. nicht erstrebenswert ist. Max Webers Begriff der »Wertsphäre« oder »Wertordnung« bringt zum Ausdruck, dass in jedem Teilsystem ein je eigener Leitwert gilt, der das teilsystemspezifische Handeln als unangefochtene oberste evaluative Orientierung ausrichtet. Dieser Leitwert wie etwa Wahrheit in der Wissenschaft, Profit in der Wirtschaft oder Recht im Rechtssystem gibt denjenigen Akteuren, die sich im Sinnhorizont eines bestimmten Teilsystems bewegen, eine generelle Richtung ihres Wollens vor: Was ist das »summum bonum«? In der Politik beispielsweise ist es Macht. Die politische Handlungslogik dreht sich um die Gewinnung, den Erhalt und – wenn möglich – eine Steigerung von Macht. Einzig darum geht es politischen Akteuren – Parteipolitikern ebenso wie Ministerien oder Staaten – letztlich. Zwar spielt Macht beispielsweise auch in Intimbeziehungen eine Rolle; aber wenn es dort nur noch darum geht, die eigene Macht über den Partner zu maximieren, wird dieses Teilsystem gleichsam zweckentfremdet, und das geht auf Dauer schief. Teils verweist der teilsystemische Leitwert explizit auf eine Leistung, die das im Teilsystem stattfindende Handeln für ein Publikum von Leistungsempfängern erbringt – etwa Recht auf ein Angebot der Konfliktschlichtung oder Gesundheit auf ein medizinisches Behandlungsangebot. Teils ergibt sich diese Leistung indirekt aus dem am Leitwert orientierten Handeln. So bedient ein an Gewinnerzielung ausgerichtetes Handeln von Unternehmen Konsumentenbedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen oder das Machtstreben von Politikern muss sich an Wählerwünschen ausrichten. Damit ist das in einem Teilsystem stattfindende Handeln als Leistungsproduktion zu begreifen (Hondrich 1982: 25-27) und in diesem Sinne stets fremdreferentiell, weil auf ein Publikum außerhalb – Patienten, Kläger, Konsumenten – mit seinen jeweiligen Interessen ausgerichtet. Luhmann (1986; 1986a: 75-88) hebt demgegenüber hervor, dass die Leitwerte jeweils binäre Codes bilden – etwa Recht/Unrecht oder krank/gesund. Damit akzentuiert er, gegenläufig zur Fremdreferentialität der Leistung, die teilsystemische Autonomie: 39
die formal-logisch und prozessual kein Ende findende selbstreferentielle Geschlossenheit der Handlungszusammenhänge. Ein Wissenschaftler z.B. hat mit einer bestimmten Behauptung die Wahrheit auf seiner Seite oder nicht, und ein Sportler ist Sieger oder gehört zu den Verlierern. Die in den Leitwert eingebaute logische Negation sorgt dafür, dass die Wollens-Richtung nicht verlassen wird, das Handeln die teilsystemische Spur hält. Man bleibt auch dann auf Wahrheit ausgerichtet, wenn man etwas als wahr Behauptetes der Unwahrheit überführt. Man springt dann sozusagen nicht aus der Wissenschaft heraus, sondern bleibt weiterhin drin. Denn es läuft eben nicht darauf hinaus, dass man beispielsweise entweder die Wahrheit auf seiner Seite hat oder im Unrecht ist. Und in der teilsystemischen Spur geht es so oder so immer weiter: Wissenschaftler, die ihre Wahrheitsbehauptungen durch Publikationen kommunizieren, zitieren darin als Unterstützung andere wissenschaftliche Publikationen und nicht etwa päpstliche Enzykliken oder Parteiprogramme, deren Behauptungen als wissenschaftliche Argumente belanglos sind. Wird dann eine wissenschaftliche Kommunikation als wahr behauptet, provoziert das die Rückfrage, ob sie nicht vielleicht doch unwahr sein könnte; und eine erkannte Unwahrheit lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie es sich denn in Wahrheit verhält. Wird eine Wahrheitsbehauptung hingegen akzeptiert, kann man im Anschluss daran weitere Wahrheitsbehauptungen formulieren. Pierre Bourdieu (1992: 360-365) bezeichnet den aus selbstreferentieller Geschlossenheit hervorgehenden »Tunnelblick« der Akteure als die je teilsystemspezifische »illusio«. In der Politik beispielsweise zählen Wählerstimmen, um darüber Mehrheiten und parlamentarische Macht zu gewinnen; entsprechend starren Politiker und Parteien bei allem, was sie an politischen Entscheidungsfragen und -alternativen ins Gespräch bringen, auf die Wählergunst wie das Kaninchen auf die Schlange und können dabei davon ausgehen, dass diese in der Währung von Wählerstimmen zugeteilte Macht das ist, was auch alle anderen Akteure im politischen System letztlich um- und antreibt. Auch ein Ministerialbeamter, der selber nicht gewählt wird, weiß, dass er bestimmte Vorhaben seines Ministeriums mit der einen politischen Partei an der Regierung besser durchbringt als mit einer anderen, weshalb auch für ihn Wählerstimmen bedeutsam sind. 40
Die jeweils absolute – umfassende und unhinterfragte – Deutungshoheit, die einem als binärer Code etablierten teilsystemischen Leitwert in seinem »Hoheitsgebiet« zukommt, wird rigoros »intolerant« gehandhabt. Vorstellbar wäre ja, dass es zwar z.B. im Rechtssystem um Recht und Unrecht geht, dabei aber moralische oder in bestimmten Rechtsfeldern ökonomische Gesichtspunkte gleichberechtigt einbezogen werden können. Der Rechtscode dominierte, könnte aber gewissermaßen kraft dieser Dominanz auch anderen evaluativen Orientierungen gleiches Gewicht verleihen. Eben dies geschieht bei funktionaler Differenzierung nicht. Die Akteure aller Teilsysteme praktizieren wechselseitig – und wechselseitig anerkannt – eine »legitime Indifferenz« (Tyrell 1978: 183/184, Hervorheb. weggel.) für die Belange aller anderen Teilsysteme. Der jeweilige teilsystemische Leitwert besitzt für dessen Akteure als »Eigenwert« (Weber 1922: 12, Hervorheb. weggel.) unbedingte Geltung. So fiele es keinem Spitzensportler ein, dass es bei seinem Tun um irgendetwas anderes als um Sieg und Niederlage gehen könnte – wohl gar um Gesundheit! Und ein Unternehmen z.B. ist prinzipiell desinteressiert an der Rechtmäßigkeit seines Tuns, an den politischen Auswirkungen von Standortverlagerungen oder an den Folgen von sich daraus ergebender Arbeitslosigkeit für die Intimbeziehungen – es sei denn, diese Belange anderer Teilsysteme schlagen sich auf irgendeine Weise in seiner Zahlungsfähigkeit und seinen Profitchancen nieder, was in der Tat immer wieder der Fall ist. Dann kümmert sich ein Unternehmen aber etwa um die Schicksale seiner Mitarbeiter, weil es dafür Subventionen bekommt, was seine Zahlungsfähigkeit verbessert, und nicht, weil es plötzlich dem Leitstern der Intimbeziehungen folgt. Selbst Individuen, deren Lebensführung doch in vielen Teilsystemen stattfindet, werden durch ihre jeweils eingenommenen teilsystemspezifischen Rollen zur »legitimen Indifferenz« gedrängt: Jetzt ist man Künstler und, will man es gut machen, nur das; erst nachher dann ist man – ebenso ausschließlich – Familienvater und morgen früh wieder Lehrer, lässt sich also nacheinander in den Bann einer immer wieder ganz anderen »illusio« ziehen. Wichtig für die Rigorosität der »legitimen Indifferenz« ist die in der selbstreferentiellen Geschlossenheit angelegte hochgradige Verdinglichung der binären Codes. Sie besitzen »[…] die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens […]« (Marx 41
1867: 90). Dass sie kontingentes Menschenwerk sind, wird nicht gesehen. Sie werden vielmehr als etwas Nicht-anders-Mögliches – genauer: Nicht-mehr-anders-Mögliches – eingestuft. Damit erlegen die teilsystemischen Leitwerte den Akteuren ein Zu-Endedenken-wollen auf, das aber nie an ein Ende gelangen kann, sondern in eine unaufhaltsame Steigerungslogik mündet, der gemäß es beispielsweise nie genug wissenschaftliche Wahrheiten gibt und sämtliche Wahrheiten immer noch weiter verbessert werden können. Analoge Fortschrittsverheißungen und entsprechende Anspruchssteigerungen auf Seiten der Leistungsempfänger verbinden sich mit Gesundheit, Recht, Profiten, politischer Macht, sportlichen Siegen und den anderen »Wertsphären«. Hinzu kann ein Fortschritt funktionaler Differenzierung kommen, wenn sich neue Leitwerte und Teilsysteme ausdifferenzieren, wie es etwa im 19. Jahrhundert mit dem neu hinzukommenden Teilsystem des Journalismus geschah (Blöbaum 1994) oder in neuerer Zeit für ein Hilfesystem (Baecker 1994) oder womöglich auch ein auf Belange ökologischer Nachhaltigkeit ausgerichtetes Teilsystem behauptet wird. Luhmann (1986b: 76) bringt – insoweit als Ideologe der Moderne – diese Verdinglichung unfreiwillig zum Ausdruck, wenn er meint, lapidar als unbestreitbare Tatsachenbehauptung konstatieren zu können: »Für funktionale Differenzierung gibt es […] keine Alternative […].« Denn »[…] wir können uns nicht vorstellen, wie die Bevölkerungsmengen, das Lebensniveau, also die Errungenschaften der Moderne gehalten werden könnten, wenn wir funktionale Differenzierung aufgäben. Da hat man kein anderes Modell in Sicht.« (Luhmann 1994: 197) Die teilsystemischen Codes sind somit – im handlungstheoretischen Bezugsrahmen Hartmut Essers (2001: 261-268) ausgedrückt – »frames«, die immer dann, wenn sie als Situationsdefinitionen zum Einsatz kommen, jegliche Impulse zur relativierenden reflexiven Kalkulation des jeweiligen »Oberziels« unterdrücken. Sobald man sich in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft bewegt, weiß man, was nun allein zählt, und hat fortan zu diesem ersten und für alles Weitere wegweisenden Schritt der Handlungsselektion keine weiteren Fragen, etwa nachträgliche Zweifel, mehr. Das wird gerade dann deutlich, wenn situative Code-Herausforderungen auftreten. Manchmal bringen Akteure moralische 42
Gesichtspunkte ins Spiel, die den Code übertrumpfen sollen; oder Akteure tragen den Code eines anderen Teilsystems herein und beanspruchen für diesen eine Gleichrangigkeit oder sogar einen Primat bei der Situationsdefinition. Zumeist stellt sich dann schnell heraus, dass die code-fremden Gesichtspunkte diesem letztlich doch unterworfen werden. Das gilt beispielsweise für »corporate social responsibility« als Moralisierung wirtschaftlichen Handelns, die keineswegs vom Geldverdienen abhalten soll, dieses letztlich sogar voraussetzt. Nur in sehr seltenen Fällen geht es um echte Code-Herausforderungen; und dann ist allen Beteiligten klar, dass damit ein unerhörter Anspruch erhoben wird, der sich, wenn überhaupt, nur als seltene Ausnahme von der Regel begründen lässt – und zwar als die Regel ansonsten ausdrücklich bestätigende Ausnahme. Ein Beispiel wäre ein wirtschaftlich nicht mehr überlebensfähiges Unternehmen, das aus politischen Rücksichten auf die Arbeitsplätze von Wählern staatlich so subventioniert wird, dass es zumindest bis zum Wahltag weiter existiert. Dieses Beispiel zeigt im Übrigen, dass selbst solche punktuellen Suspendierungen des Codes kaum dauerhaft durchhaltbar sind. Das extrem hohe Beharrungsvermögen eines einmal als Situationsdefinition übernommenen Codes zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er über weite Strecken des Handelns gleichsam im Stand-by-Modus latent bleiben kann. Forscher beispielsweise denken und reden ja nicht ständig in wahr/unwahr-Kategorien. Aber der Code ist eben jederzeit in Erinnerung rufbar und auf alles, was im Forschungshandeln passiert, beziehbar. Das geschieht bezeichnenderweise immer dann, wenn ein Forschungsprozess Gefahr läuft, abzugleiten, also die Publikation als finaler Akt aus dem Auge verloren wird. Für sich genommen ist ein binär codierter teilsystemischer Leitwert freilich nicht weniger, aber erst einmal auch nicht mehr als ein Hinweisschild, das besagt, dass es in einer Situation um Wahrheit oder Gesundheit oder Macht geht. Zu wissen, dass es z.B. um Wahrheit geht, schließt zwar vieles andere aus und stellt insoweit bereits eine starke Reduktion von Komplexität für den orientierungsbedürftigen Akteur dar – aber worum geht es, wenn es um Wahrheit geht? Diese nächste Stufe der Orientierung leistet der Code nicht mehr aus sich heraus; er bedarf dafür vielmehr einer Operationalisierung durch teilsystemische Programmstruk43
turen (Luhmann 1986a: 89-100). Im Wissenschaftssystem – um bei diesem Beispiel zu bleiben – sind das vor allem Theorien, Methodologien und Methoden. Sie legen fest, was als Wahrheit gilt und unter welchen Bedingungen etwas als Wahrheit gilt. Ähnlich fungieren Spielregeln, Taktiken oder Fairnessprinzipien als Programmstrukturen des Sports oder Gesetze als Programmstrukturen des Rechts. Die Programmstrukturen eines Teilsystems reichen an vielen Stellen bereits über evaluative Orientierungen hinaus, enthalten also neben Spezifizierungen des teilsystemischen Wollens auch kognitive Orientierungen als eine zweite Art von Deutungsstrukturen. Die bereits angesprochenen wissenschaftlichen Theorien sind ein Beispiel dafür. Kognitive Orientierungen sagen Akteuren, was in einer Situation der Fall ist und welche der unzähligen in einer Situation existenten Sachverhalte und Wirkungszusammenhänge relevant sind. Als dritte Art von Orientierungen kommen – beim Sportbeispiel etwa in Gestalt der Spielregeln – normative Vorgaben hinzu, die als institutionalisierte Erwartungsstrukturen das Sollen regulieren. Dieser Ring von Programmstrukturen um den Code herum ist ebenfalls selbstreferentiell geschlossen, begründet sich also als Operationalisierung des Codes und nicht unter Verweis auf irgendwelche »höheren« Gründe anderswo. Handlungstheoretisch betrachtet fehlt an der bis hierher gelieferten Beschreibung gesellschaftlicher Teilsysteme noch etwas Entscheidendes, auf das Renate Mayntz (1987: 199) mit dem gegen die Systemtheorie gemünzten Hinweis, Gesellschaft sei keine »Dame ohne Unterleib«, aufmerksam macht. Neben Code und Programmstrukturen, die evaluative, kognitive und normative Handlungsorientierungen liefern, kommen als »Beweger« des Geschehens noch die Konstellationsstrukturen der Akteure hinzu. Die beiden ein Teilsystem tragenden Arten von Akteuren sind die Inhaber von Leistungsrollen und die Leistungsorganisationen – also etwa im Gesundheitssystem zum einen Ärzte, zum anderen Krankenhäuser. Es gibt nie nur eine einzige teilsystemische Leistungsrolle – neben Ärzten stellen auch Krankenpfleger oder Hebammen weitere Leistungsrollen des Gesundheitssystems dar. Zumeist finden sich auch mehrere Arten von Leistungsorganisationen in einem Teilsystem – wie im Gesundheitssystem Arztpraxen oder Diagnosezentren neben Krankenhäusern. Diesen Leis44
tungsproduzenten eines Teilsystems stehen als dritter Akteurtyp die jeweiligen Leistungsempfänger gegenüber. Als Individuen nehmen sie Publikumsrollen ein, wie es sie bei fast allen Teilsystemen gibt – etwa die Patientenrolle beim Gesundheits- oder die Konsumentenrolle beim Wirtschaftssystem (Burzan et al. 2008). Organisationen als Leistungsempfänger können demselben Teilsystem angehören, wenn etwa Hochschulen bei ihrer Lehre auf den Leistungen der Schulausbildung aufbauen, oder in anderen Teilsystemen angesiedelt sein – beispielsweise beim Technologietransfer von Hochschulen zu Unternehmen. Alle Arten von Leistungsrollen und Leistungsorganisationen sind in einer teilsysteminternen Arbeitsteilung miteinander verbunden, die sich etwa in den möglichen Wegen des »people processing« von Patienten im Gesundheitssystem manifestiert. Neben den Arten von Akteuren und dem zwischen ihnen etablierten Arbeitsteilungsmuster sind noch die teilsystemischen Governance-Regimes ein wichtiger Teil der Konstellationsstrukturen, also die teils normativ geregelten, teils als kognitive Regelmäßigkeiten geläufigen Muster der Interdependenzbewältigung zwischen den Akteuren – z.B. die Konkurrenzbeziehungen zwischen Arztpraxen oder der Föderalismus im deutschen politischen System (Mayntz/Scharpf 1995). Märkte, Hierarchien, Gemeinschaften, Netzwerke: Das sind einige der wichtigsten elementaren Governance-Mechanismen, die in teilsystemischen GovernanceRegimes ganz unterschiedliche Kombinationen miteinander eingehen können (Benz et al. 2007). Mit diesen drei Komponenten – binärer Code, selbstreferentielle Programmstrukturen sowie Konstellationsstrukturen – ist ein Bild der Teilsysteme und der funktional differenzierten Gesellschaft skizziert, demgemäß Erstere als völlig gegeneinander abgeschottete Monaden erscheinen: jedes eine eigene Welt, in der man nichts über die je anderen Welten weiß und auch nichts mit ihnen zu tun hat. Die Gesellschaft als Ganze stellt die bloße Ansammlung dieser Monaden dar: ein indifferentes Nebeneinander teilsystemischen Eigen-Sinns – sozusagen Anbieter von Leistungen für ein Publikum, die sich nicht im Geringsten darum kümmern, welche anderen Anbieter und Angebote es neben ihnen noch gibt. Sofern individuelle Akteure durch entsprechende Rollen in ihrem Handeln einem bestimmten teilsystemischen Orientierungshori45
zont unterworfen sind, agieren sie entsprechend der jeweiligen Eigen-Logik in »legitimer Indifferenz« gegenüber den WollensRichtungen der anderen Teilsysteme. Organisationen sind als korporative Akteure ohnehin jeweils in einem einzigen Teilsystem angesiedelt und brauchen deshalb, anders als Individuen, nicht zwischen verschiedenen Ausrichtungen ihres Wollens zu wechseln.17 Dies ist das Bild funktionaler Differenzierung, das die jeweiligen Teilsysteme als Orientierungshorizonte den sich in ihnen bewegenden Akteuren aufdrängen: So flaggt z.B. das Wissenschaftssystem Forschung als Selbstzweck aus, und wer in der Rolle des Forschers ist, hat nach Ansicht der anderen Forscher als primärer Bezugsakteure dieser Rolle keinerlei weitere Bedürfnisse außer dem unstillbaren Drang zu neuen Erkenntnissen zu haben. Die Forscher halten einander so wechselseitig auf der Linie des teilsystemischen Eigen-Sinns; und wo dieser wechselseitige Erwartungsdruck nicht ausreicht, tun die Leistungsorganisationen ein Übriges, um die immer wieder wankelmütige Subjektivität der Individuen auf Kurs zu halten. Deshalb muss eben jemand, der Mitarbeiter einer Forschungseinrichtung ist, im Rahmen der Arbeitszeiten forschen, anstatt sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, und dabei bei dem organisatorisch vorgesehenen Thema bleiben; vielleicht gibt die Organisation ihm sogar bestimmte Output-Kriterien wie Publikationszahlen vor. Jedes Teilsystem versieht seine Leistungsrollenträger also mit einem »falschen Bewusstsein« dergestalt, dass der Tatbestand latent gehalten wird, dass der je eigene Sinnhorizont lediglich einen Ausschnitt dessen umfasst, was die Reproduktion individueller Gesellschaftsmitglieder – und damit verbunden: die Reproduktion von Gesellschaft als Ganzer – an Wollens-Richtungen des Handelns benötigt. In den jeweiligen Publikumsrollen wahren die Individuen hingegen größeren Abstand gegenüber der selbstreferentiellen Geschlossenheit der teilsystemischen »illusio«. Als Leistungsempfänger müssen sich die Individuen zwar der teilsystemischen Handlungslogik fügen, um »bedient« zu werden; aber sie verabsolutieren den teilsystemischen Leitwert nicht selbstzweckhaft, sondern haben ihn allenfalls als Mittel zum Zweck für etwas anderes im Sinn. Ein Patient z.B. will gesund werden, um andere Aktivitäten und Lebenspläne realisieren zu können. Ein 46
Konsument ist analog am Gebrauchswert der gekauften Waren interessiert; dass er durch zähes Herunterhandeln des Verkäufers dessen Gewinnmarge schmälert, interessiert ihn nicht weiter. Gleiches gilt, wenn als Leistungsabnehmer nicht individuelle Akteure in den jeweiligen Publikumsrollen auftreten, sondern Leistungsproduzenten anderer Teilsysteme, also z.B. Unternehmen bestimmte Forschungsergebnisse oder gerichtliche Klärungen benötigen. Die Autonomie wissenschaftlicher Forschung oder juristischen Entscheidens ist es gerade nicht, woran sie interessiert sind. Die monomanische Fixierung auf den einen teilsystemischen Leitwert trifft also nur auf diejenigen Akteure zu, die an der jeweiligen Leistungsproduktion beteiligt sind. Sie vermögen sich – überspitzt gesagt – nicht vorzustellen, dass irgendwer auf der Welt noch etwas anderes braucht als das, was sie produzieren. Die jeweiligen Leistungsabnehmer instrumentalisieren hingegen das, was ihnen als Eigen-Sinn offeriert wird, im Rahmen ganz anderer Sinnbezüge, die sich für individuelle Gesellschaftsmitglieder aus der ganzen Breite der »alltäglichen Lebensführung« (Voß 1991) im Kontext aller anderen Teilsysteme sowie aus längerfristigen Verankerungen in der je individuellen Biografie und Identität ergeben (Schimank 2000: 121-143). Damit zeigt sich den Leistungsempfängern, dass die Teilsysteme in ihrer Gesamtheit sehr wohl einen arbeitsteiligen Zusammenhang bilden – und auch die teilsystemischen Leistungsproduzenten sind immer wieder Leistungsempfänger. Hartmut Esser (2000: 64, Hervorheb. weggel.) liest funktionale Differenzierung geradezu als »[…] Unterteilung […] der Gesellschaft in arbeitsteilig spezialisierte […] und in Austausch befindliche Systeme der Nutzenproduktion […]«. Diese Arbeitsteiligkeit ist aber nicht – wie ein funktionalistischer Fehlschluss nahelegen würde – das vielleicht gar planmäßig angestrebte Telos, sondern vielmehr der Preis der funktionalen Differenzierung der Moderne. Die selbstreferentielle Schließung der Sinnhorizonte der Teilsysteme der modernen Gesellschaft ist nur deshalb möglich, weil in jedem Teilsystem großzügig über die meisten Belange individueller Lebensführung und gesellschaftlicher Reproduktion hinweggesehen wird – zugunsten einer extremen Spezialisierung auf einen Aspekt wie z.B. Gesundheit, Bildung oder Kunst. Diese Vernachlässigung all des 47
Anderen ist die Voraussetzung der superioren Bedienung dessen, was der teilsystemischen Eigen-Logik entspricht, setzt aber eben stillschweigend voraus, dass den allermeisten Belangen jeweils andernorts Genüge getan wird. Was sorgt dafür, dass das auch geschieht? Die Antwort auf diese Frage vervollständigt die Strukturbeschreibung funktionaler Differenzierung mit einer vierten Komponente: den fremdreferentiellen Elementen der teilsystemischen Programmstrukturen. Die Programmstruktur eines Teilsystems enthält zahlreiche Elemente, die von außen, also aus anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, in es hineingetragen worden sind. Besonders augenfällig ist das an rechtlichen Regelungen, die sich mittlerweile in sämtlichen gesellschaftlichen Teilsystemen vorfinden. Die gesellschaftliche Verrechtlichung ist auch Ausdruck einer Politisierung, also des politischen Hineinwirkens in andere Teilsysteme, das sich darüber hinaus noch in anderen Formen bemerkbar macht. Beispielsweise sind forschungspolitische Förderprogramme inzwischen ein wichtiges Element der Programmstrukturen des Wissenschaftssystems, und auch zur Programmstruktur des Wirtschaftssystems gehören umfangreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen, wie nicht zuletzt an der Höhe dauerhafter staatlicher Subventionierungen verschiedener Branchen ablesbar ist. Weiterhin ist eine Verwissenschaftlichung aller anderen Teilsysteme feststellbar. Wissenschaftliche Wahrheiten sind in die Programmstrukturen des Sport- ebenso wie des Wirtschafts- oder des Gesundheitssystems eingegangen. Zahllose Beispiele ließen sich auch für eine Medialisierung, Versportlichung oder Pädagogisierung der Gesellschaft – also der jeweils anderen Teilsysteme – finden. Diese aus anderen Teilsystemen in die Programmstruktur eines Teilsystems hineingetragenen Elemente wirken auf die durch Code und selbstgeschaffene Programmelemente konstituierte Eigen-Logik eines Teilsystems ein: teils nur anregend, wie etwa forschungspolitische Förderprogramme, deren Geld angeboten wird, aber nicht genommen werden muss; teils ergänzend, wo die teilsystemischen Programmelemente gleichsam Orientierungslücken lassen; teils aber auch einschränkend, etwa als rechtliche Verbote bestimmter Arten von Forschung. Man kann sich dies als zwei Ringe der Programmstruktur vorstellen, die den Leit48
wert als Kern der teilsystemischen Handlungsorientierung umlagern: der selbstreferentielle, den Code gleichsam ausbuchstabierende innere und der fremdreferentielle äußere Ring, der diese Ausbuchstabierung in den gerade genannten Weisen anreichert – ohne freilich normalerweise den Orientierungsprimat des teilsystemischen Leitwerts zu tangieren, wie Thomas Schwinn (1996: 271) am Beispiel wirtschaftlicher Akteure betont: »Ökonomisches Handeln im Rahmen eines Unternehmens muß auch rechtliche, politische, ästhetische Kriterien berücksichtigen, aber immer bei Dominanz eines Leitkriteriums: der ökonomischen Rentabilitätsorientierung.« Es geht also stets nur um »[…] die selektive Einbeziehung heterogener Orientierungen in die eigenlogische Entwicklung eines Rationalitätskriteriums«.18 Das muss noch schärfer gefasst werden. Selbst die Kenntnisnahme des Leistungsaspekts dessen, was man im Rahmen der selbstzweckhaften teilsystemischen »illusio« tut, wird ja von den Leistungsproduzenten möglichst zu vermeiden versucht. Überspitzt am Beispiel des Kunstsystems formuliert: Aus der Sicht der Künstler ist es schon schlimm genug, dass sie überhaupt auf ein Publikum eingehen müssen; denn am liebsten würden sie nur andere Künstler beeindrucken, die allein die angemessene Wertschätzung für Kunstwerke aufzubringen vermögen. Das Publikum hat hingegen in der Regel immer noch vieles andere im Kopf – nicht zuletzt Leistungsproduktionen anderer Teilsysteme, an denen es ebenfalls und vielleicht gar stärker interessiert ist. Endgültig zu viel verlangt wäre aber, wenn die Künstler bei ihrer Kunstproduktion auch noch auf die Wollens-Richtung irgendeines anderen Teilsystems Rücksicht nehmen müssten. Die teilsystemischen Leistungsproduktionen operieren stattdessen geradezu in einer wechselseitigen Verachtung der Wollens-Richtungen der je anderen, was z.B. durch religiöse oder politische Kunst, die es ja gibt, gerade nicht widerlegt, sondern bestätigt wird. Sobald Kunst etwa primär dem politischen Machterhalt und der Machtsteigerung dienen soll, mag daraus hervorragende Propaganda werden – als Kunst ist sie gescheitert. Die Teilsysteme koexistieren somit in einem arbeitsteiligen, aber zugleich eminent und irreduzibel spannungsreichen Zusammenwirken. Es handelt sich um eine höchst widerwillige Arbeitsteilung, die aus der Sicht der Leistungsproduzenten eines 49
bestimmten Teilsystems wie folgt gesehen wird: Am liebsten wäre ihnen, wenn die jeweils von ihnen selbst benötigten Leistungen von den Leistungsproduzenten der anderen Teilsysteme zuverlässig erbracht würden, man selbst aber völlig rücksichtslos gegenüber deren Leistungserwartungen sowie generell den Leistungserwartungen des eigenen Publikums dem je eigenen Leitwert folgen könnte. Spätestens hier hinkt der Vergleich vom Anfang: Funktionale Differenzierung ist insofern kein Boeuf Bourguignon, was ja als Ganzes von einem Koch geplant und zusammengestellt wird. Man muss die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft, um halbwegs im Bild zu bleiben, eher als ein Büffet auf einer Feier ansehen, zu dem die Gäste unabgesprochen etwas mitbringen – und ob das zusammenpasst und alles Erforderliche abdeckt, muss sich im tagtäglichen Realitätscheck immer erst noch erweisen.19
2. Gesellschaftlicher Primat der kapitalistischen Wirtschaft Bis zu diesem Punkt habe ich eine handlungstheoretisch angelegte Beschreibung der zentralen Charakteristika des integralen Ordnungsmusters einer funktional differenzierten Gesellschaft geliefert. Diese Charakteristika sind in der differenzierungstheoretischen Perspektive ziemlich unkontrovers. Ich möchte nun noch ein weiteres Merkmal ansprechen, das ich für äußerst wichtig halte, das allerdings alles andere als unkontrovers ist: den gesamtgesellschaftlichen Primat der kapitalistischen Wirtschaft. Dieser wird bekanntlich vor allem in der marxistischen Gesellschaftstheorie behauptet; doch bereits seit Weber ist die Ausarbeitung der Differenzierungstheorie geradezu durch eine Frontstellung gegenüber dem Marxismus geprägt gewesen. Parsons (1966: 174) sieht ihn als eine Variante von »Ein-Faktor-Theorien« an, der die gesellschaftlichen Dynamiken letztlich nur aus der Wirtschaft heraus begreifen wolle, und erklärt ihn deshalb zu einer »Kindergartenstufe« gesellschaftstheoretischen Denkens; nicht viel freundlicher spricht Luhmann (1973a: 81) diesbezüglich von »alteuropäischen« Relikten im Selbstverständnis der Moderne, die gesellschaftstheoretisch beiseite zu räumen seien. Luhmann 50
(1979: 220) geht dann auch davon aus, dass in der funktional differenzierten modernen Gesellschaft alle Teilsysteme gleichermaßen unverzichtbar, somit gleich bedeutsam seien. Unbestreitbar ist indessen, dass im 19. Jahrhundert der Ausdifferenzierung der Wirtschaft eine ganz andere Qualität zugesprochen wurde als demselben Vorgang bei den anderen Teilsystemen. Wie bei diesen auch steigerte sich mit der monomanischen Fixierung auf den je eigenen Leitwert die Leistungsfähigkeit wirtschaftlichen Handelns enorm, was sich in Vielfalt, Qualität, Verfügbarkeit und Preisgünstigkeit von Gütern und Dienstleistungen aller Art bis heute eindrucksvoll dokumentiert. Diese »ungeheure Warensammlung« (Marx 1859: 15), die niemand bis heute ernsthaft missen will, kann kein anderes Wirtschaftssystem – schon gar nicht ein planwirtschaftlich-sozialistisches – überbieten. Aber man bekam eben auch schon früh eine horrende Gegenrechnung präsentiert – zum einen in Gestalt einer hohen Krisenanfälligkeit wirtschaftlichen Geschehens, zum anderen als Subordination aller anderen Teilsysteme unter wirtschaftliche Zwänge, was in Gestalt von Ökonomisierungsdruck auf nicht weniger als eine Gefährdung der Autonomie von Kunst, Wissenschaft, Bildung oder Politik hinausläuft – und damit letztlich auf eine Gefährdung funktionaler Differenzierung überhaupt. Das hinter diesen massiven gesamtgesellschaftlichen Dysfunktionalitäten des wirtschaftlichen Geschehens stehende Grundmuster lässt sich – so meine Einschätzung – differenzierungstheoretisch besser begreifen als mit Hilfe von in der Tat überholten marxistischen Denkfiguren; und Parsons und Luhmann schütten unnötigerweise das Kind mit dem Bade aus, wenn sie dekretieren, dass es einen gesamtgesellschaftlichen Primat der Wirtschaft in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht geben könne.20 Die Ausdifferenzierung der kapitalistischen Wirtschaft ruht auf drei binnenstrukturellen Pfeilern: erstens darauf, dass Unternehmer und Unternehmen als Akteure auftreten, für die Gewinnerzielung und -steigerung der durchgängig vorherrschende Leitwert des Handelns ist; zweitens darauf, dass Natur, Geld und vor allem Arbeit wirtschaftlich so behandelt werden, als ob es sich bei ihnen um Waren wie andere auch handelt; und drittens auf dem Markt als zentralem Governance-Mechanismus. Der gesamtgesellschaftliche Primat der so ausdifferenzierten Wirtschaft kon51
stituiert sich relational: aus der herausgehobenen Position, die sie im Gefüge der allseitigen Leistungsinterdependenzen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen hat. Die Wirtschaft – also das handelnde Zusammenwirken der dortigen Akteure – und nur sie versorgt die gesamte moderne Gesellschaft mit Geld. Genauer gesagt: In keinem anderen Teilsystem werden die Kosten der Leistungsproduktion – z.B. der Krankenbehandlung oder der wissenschaftlichen Forschung – durch zumindest kostendeckende Preise wieder hereingeholt. Unternehmen hingegen nehmen für ihre Waren Preise, die nicht nur die Produktionskosten decken, sondern auch noch Profite beinhalten sowie Steuerzahlungen – einschließlich der Lohnsteuern der Beschäftigten – abdecken. Aus diesen Steuern wiederum werden erhebliche Anteile der Produktionskosten anderer Teilsysteme finanziert. Damit hängen alle anderen Teilsysteme, soweit ihre Leistungsproduktionen staatlich finanziert sind, sowie die individuellen Gesellschaftsmitglieder über ihre Arbeitseinkommen am Tropf der Wirtschaft. Geld als Ressource der Leistungsproduktion nicht nur der Wirtschaft, sondern aller anderen Teilsysteme ist weiterhin dasjenige Einflusspotential von Akteuren, das sachlich, sozial und zeitlich viel universeller einsetzbar ist als andere. So ist legitime Macht an Territorien, inhaltlich umschriebene Befugnisse und befugte Positionen gebunden. Wahrheit können nur Experten handhaben, und jede Wahrheit ist inhaltlich spezifiziert und daher nur in dem passenden Kontext zu gebrauchen. Bei Liebe wiederum sind die Einsatzmöglichkeiten zwar sachlich vielfältig, aber in sozialer Hinsicht extrem reduziert. Wer geliebt wird, kann vom Liebenden fast alles verlangen – aber nur von ihm. Geld hingegen ist global; es vermag fast alles – wenn auch keine Liebe – zu kaufen, und vor allem, ohne heute vorausbestimmen zu müssen, was morgen gekauft wird; es kann von jedem gegenüber jedem gehandhabt werden; und es ist am eindeutigsten quantifiziert. Insbesondere vermag man mit Geld Arbeitskraft zu kaufen, wie sie in allen Teilsystemen in deren Arbeitsorganisationen benötigt wird, und diese Arbeitskraft im Rahmen einer weiten »zone of indifference« (Barnard 1938: 167-169) für die teilsystemische Leistungsproduktion einzusetzen. Man vergleiche nur die flexible Effektivität und Effizienz von Lohnarbeit mit anderen Arbeitsformen wie Sklaven-
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arbeit, Arbeit in Feudalverhältnissen, ehrenamtlicher Arbeit oder der Hausarbeit von Ehefrauen! Dieser unvergleichliche Generalisierungsgrad des überall benötigten Geldes bewirkt, dass die Unternehmen als zentrale wirtschaftliche Akteure, einfach indem sie mehr oder weniger Geld verdienen, als sich aufsummierenden externen Effekt einen nachhaltig spürbaren schwächeren oder stärkeren Ökonomisierungsdruck auf alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme sowie auf die individuellen Gesellschaftsmitglieder ausüben. Zugespitzt formuliert: Überall sonst in der Gesellschaft muss alles unterlassen werden, was das unternehmerische Gewinnstreben und das daraus sich ergebende Wirtschaftswachstum gefährden könnte, weil sonst die staatlichen Steuereinnahmen, aus denen größere Sektoren vieler gesellschaftlicher Teilsysteme finanziert werden, und die Lohneinkommen der Arbeitnehmer sinken und ein entsprechend intensivierter Kostendruck auf den Budgets von Krankenhäusern, Schulen, Forschungseinrichtungen oder Sozialämtern sowie den Haushaltskassen von Familien und Individuen lastet. Umgekehrt muss den Unternehmen, je schlechter es ihnen geht, überall, wo sie es wollen, die Gelegenheit zum Geldverdienen gewährt werden, damit es – als »Kollateralnutzen« – auch den Leistungsanbietern anderer Teilsysteme und den individuellen Gesellschaftsmitgliedern wieder besser geht. Zum Kostendruck gesellt sich also auch noch ein Kommodifizierungsdruck hinzu, etwa als Privatisierung zuvor staatlich getragener Infrastruktureinrichtungen wie Bahn oder Post oder als Zulassung kommerzieller Rundfunksender. Weil also Arbeitsorganisationen innerhalb, aber auch außerhalb der Wirtschaft Arbeitnehmer mit Geld entlohnen (Schimank 2000: 315-320), das letzten Endes nur in der Wirtschaft verdient werden kann, fühlen sämtliche Akteure der Moderne – Individuen wie Organisationen wie Staaten (Meyer/Jepperson 2000) – überall in der Gesellschaft beständig den Puls des wirtschaftlichen Geschehens und wissen, dass »weniger Geld« (Luhmann 1983: 39), umso weniger es wird, alle sonstigen gesellschaftlichen Belange und dabei insbesondere die Leitwerte der anderen Teilsysteme immer mehr relativiert und Sparimperativen unterordnet. Von Angebotsreduktionen bis zu Angebotsverformungen, etwa Qualitätseinbußen, reicht die Skala der Erscheinungsformen, die 53
diese Einbußen an autonomer, dem jeweiligen teilsystemischen Leitwert folgender Gestaltung der eigenen Leistungsproduktion annehmen kann, wie man pars pro toto etwa am heutigen Gesundheitssystem plastisch studieren kann.21 Der gesamtgesellschaftliche Primat der Wirtschaft könnte vergleichsweise harmlos sein, wenn diese intern eine robuste Wachstumsdynamik aufwiese. Er wird aber stattdessen gesamtgesellschaftlich dysfunktional, weil der Markt als zentraler wirtschaftlicher Governance-Mechanismus nur eine relativ schwache ordnungsbildende Kraft aufweist. Handlungsabstimmungen auf Märkten ergeben selbst dann, wenn die rechtlichen Regelungen allseits eingehalten werden, niemals mehr als eine temporäre und labile kognitive Erwartungssicherheit, eben keine dauerhafte normativ gefestigte Erwartungssicherheit; und kognitiv muss man jederzeit darauf gefasst sein, dass die Konkurrenten strategisch im Sinne eines »unruly opportunism« (Streeck 2009: 240, Hervorheb. weggel.) auftreten, also Geheimwissen bewahren, Täuschungen inszenieren und sich, wo immer sie können, nicht an die Regeln des »ehrbaren Kaufmanns« halten, sondern Konkurrenz durch Kartell- und Monopolbildung, Ausnutzung von Marktmacht, Insidergeschäfte, Bestechung etc. auszuschalten versuchen. Alle Akteure müssen daher ihren Gegenübern fortwährende Aufmerksamkeit widmen, um deren Absichten, Möglichkeiten und Zwänge zu erkunden und Änderungen möglichst antizipieren, mindestens aber nachvollziehen zu können; und jeder muss seine eigenen Entscheidungen jederzeit flexibel anpassen können. Dadurch fehlt jegliche Verlässlichkeit bietende Konstante, wie es sie in Hierarchien durch gesetzte Regeln und Befugnisse, in Gemeinschaften durch eingelebte Orientierungen und Routinen und in Netzwerken durch allseits bekannte Veto-Positionen gibt. Soziale Ordnung stellt sich demgegenüber auf Märkten nur noch als permanente wechselseitige Anpassung her; und zwangsläufig wird es dabei immer wieder turbulent. Da der Marktmechanismus das Wirtschaftssystem flächendeckend durchzieht, bleiben lokal entstehende Turbulenzen zudem oft nicht begrenzt, sondern schaukeln sich schnell über einfache Mechanismen der »deviation amplification« (Maruyama 1963) hoch – ob nun als Herdenverhalten auf Finanzmärkten, als De- oder Inflationsspiralen oder als 54
Pfadabhängigkeiten der Technikentwicklung, der Managementmoden oder der Konsumtrends. Kapitalismus stellt sich somit als zweites, aus funktionaler Differenzierung mit hervorgehendes und in sich extrem spannungsreiches integrales Ordnungsmuster der modernen Gesellschaft dar. Die funktionale Differenzierung der Moderne hat neben den anderen Teilsystemen mit der Wirtschaft ein Teilsystem hervorgebracht, das unter Funktionalitätsgesichtspunkten zwar einerseits eine enorme Leistungsfähigkeit aufweist, dessen Dynamik aber andererseits aus sich heraus immer wieder sowohl zu eigener Krisenhaftigkeit als auch zu einer Subordination aller anderen Teilsysteme und damit zu zwei gravierenden Dysfunktionalitäten drängt. Angesichts dessen stellt sich die Frage: Wie hält es die kapitalistische Gesellschaft mit sich selber aus? Die Antwort darauf lautet: durch die Etablierung eines funktionalen Antagonismus, nämlich eines politischen Gegenprinzips zum kapitalistischen Gewinnstreben – dieses erbittert bekämpfend und dadurch zu seinem eigenen Besten begrenzend: – zuerst Sozialpolitik, die noch hauptsächlich reaktiv individuelle Risiken (Gesundheit, Beschäftigung, Alter) für die Ware Arbeitskraft abfederte; – dann der Wohlfahrtsstaat, der nach 1945 immer stärker mit einem auch proaktiven Interventionsstaat verkoppelt wurde, dessen Tätigkeit, etwa als eine die industriellen Bedarfe antizipierende Wissenschafts- und Technologiepolitik, komplementär auf die Schaffung und Erhaltung der Voraussetzungen weiterer wirtschaftlicher Dynamik ausgerichtet gewesen ist; – darauf aufbauend schließlich das Versprechen sich immer weiter verbessernder Lebenschancen Aller in Gestalt dauerhaften Wohlstandes, individueller sozialer Aufstiegsmöglichkeiten und gesicherter Inklusion in die Versorgung insbesondere mit Bildungs- und Gesundheitsleistungen. Nach der Einrichtung basaler sozialer Sicherungen führte das umfassende Wohlstands- und Wohlfahrtsversprechen der »affluent society« (Galbraith 1958) zu einer Wohlfahrtsgesellschaft in dem ganz handfesten Sinne, dass jeder davon ausging, es werde ihm besser gehen als seinen Eltern, und seinen Kindern wiede55
rum besser als ihm selbst. Die Einhaltung dieses Versprechens gegenüber allen Gesellschaftsmitgliedern war bis in die 1980er Jahre die Geschäftsgrundlage für die Output-Legitimität staatlichen Handelns. Seitdem haben sich zunehmende Irritationen eingestellt, ohne dass eine Erneuerung oder eine ganz andere Geschäftsgrundlage sich bereits abzeichnet. Ungeachtet erheblicher nationaler Varianzen der Wohlfahrtsgesellschaft, etwa im Vergleich Deutschlands mit den USA, gilt nach wie vor überall in den Ländern des entwickelten Westens: Der funktionale Antagonismus von kapitalistischer Gesellschaft und Wohlfahrtsgesellschaft manifestiert sich im staatlichen Handeln als funktionaler Antagonismus von Steuerstaat und demokratischem Staat, wobei Ersterer zuvorderst durch das Finanzministerium, Letzterer durch die anderen Ressorts repräsentiert wird. Dabei wirkt der Steuerstaat keineswegs als unverrückbare Beschränkung dessen, was an geforderten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen umgesetzt werden kann. Wenn parteipolitisches Kalkül oder die Staatsräson nahelegen oder verlangen, dass Massenloyalität durch Sozialleistungen erhalten oder ausgebaut wird, setzt man sich oft auch gegen den Haushaltsvorbehalt des Finanzministers über leere Staatskassen hinweg. Niemand kann im Vorhinein sagen, wo hierbei die harte Grenze liegt. Letztlich manifestiert sie sich in derselben Ausdrucksform wie die Vernachlässigung des wohlfahrtsgesellschaftlichen Minimums: als Aufkündigung politischer Massenloyalität. Staatliche Politik bewegt sich in solchen kritischen Zeiten, wie sie in kapitalistischen Gesellschaften immer wiederkehren, in einem Entscheidungsraum, der ihr fast nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera lässt: Erhöht sie die Staatsverschuldung weiter, um die nicht-wirtschaftlichen gesellschaftlichen Funktionserfordernisse – letztlich: die Aufrechterhaltung funktionaler Differenzierung – zu bedienen, drohen Hyperinflation, »tax revolt« der Mittelschichten, Abwanderung des Kapitals ins Ausland u.ä.; wählt die Politik hingegen einen mit den Erfordernissen kapitalistischen Profitstrebens kompatiblen strikten Sparkurs mit entsprechendem Ökonomisierungsdruck auf die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme und die ärmeren Bevölkerungsgruppen, handelt sie sich deren Proteste sowie den Widerstand der Leistungsproduzenten der ökonomisierten Teilsysteme ein, wozu 56
längerfristig auch noch auf die Wirtschaft zurückschlagende Dysfunktionen kommen – wie z.B. ein Mangel an gut ausgebildeten Arbeitnehmern oder an transferrelevanten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Soweit meine äußerst knappe, nur mit sehr groben Strichen gezeichnete Skizze des Bauplans westlicher Wohlfahrtsgesellschaften! Deutlich werden sollte, dass diese Gesellschaftsform durch ein spannungsreiches Gegeneinander von Handlungsprinzipien – wirtschaftliches Gewinnstreben auf der einen, alle nicht-wirtschaftlichen Belange auf der anderen Seite – und diese Prinzipien verfechtender Akteure zusammengehalten wird. Schon dieses Grundmuster lässt erahnen, dass eine so konstituierte funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft immer wieder bis zur Zerreißprobe mit sich hadern wird: »While the reality of capitalism is always mixed, the mix is far from stable and indeed always explosive.« (Streeck 2010: 31) Dennoch wäre es falsch, im Antagonismus von kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik den sozusagen todsicheren Selbstzerstörungsmechanismus der funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft zu sehen. Der Antagonismus ist eben bei aller Explosivität ein funktionaler. Einerseits vergisst die monomanische Fixierung der Akteure der anderen Teilsysteme auf ihre jeweiligen Leitwerte die wirtschaftlichen Realitäten, an denen Kunst, Wissenschaft, Bildung, Gesundheitswesen oder Politik aber eben nicht vorbeikommen. Andererseits muss der »Eigenwert« jedes dieser nicht-wirtschaftlichen Teilsysteme gegen wirtschaftliche »Sachzwänge« verteidigt werden. Einfach davon auszugehen, dass der funktionale Antagonismus die erforderliche Balance herbeiführt, wäre ein funktionalistischer Fehlschluss. Ob das funktionale Erfordernis realiter bedient wird, ist eine immer nur empirisch zu klärende Frage. Das hier vorgestellte generelle theoretische Modell lenkt den Blick spezifischer Analysen konkreter Phasen der Dynamik funktional differenzierter kapitalistischer Gesellschaften auf genau diese Frage.
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3. Ef fekte auf Lebenschancen und gesellschaftliche Integration Damit ist das Gesellschaftsbild der differenzierungstheoretischen Perspektive beschrieben. Die nächste Leitfrage – mit doppelter Stoßrichtung – lautet: Was bedeutet es für eine Person, in solch einer Art von Gesellschaft zu leben? Und was bedeutet funktionale Differenzierung für die Integration der Gesellschaft? Mit Blick auf Personen ist zunächst herauszustellen, dass funktionale Differenzierung eine Transformation vormaliger exklusiver Totalinklusion in einen und nur einen gesellschaftlichen Stand – Bauer oder Ritter oder Kleriker – in eine multiple Partialinklusion in die verschiedenen Teilsysteme bedeutet (Hillebrandt 1999: 246-252; Farzin 2006: 24-37). Über ihre – zumeist berufliche – Leistungsrolle ist eine Person z.B. als Starkstromelektrikerin ins Wirtschaftssystem, als Richter ins Rechtssystem oder als Krankenpfleger ins Gesundheitssystem inkludiert; zusätzlich hat jemand mehr oder weniger intensiv Publikumsrollen aller oder fast aller anderen Teilsysteme inne. Man ist regelmäßig Konsumentin, Zeitungsleserin und Freizeitsportlerin; unregelmäßig tritt man auch als Patientin, Wählerin oder Museumsbesucherin auf, hoffentlich nicht zu oft als Klägerin vor Gericht. In jedem dieser Teilsysteme ist jemand mit dem jeweiligen Ausschnitt der eigenen Persönlichkeit involviert, also nirgends als Ganzes. In dieser mit funktionaler Differenzierung einhergehenden Inklusionsform ist eine Individualisierung der Person strukturell angelegt, wie vor allem Georg Simmel (1908: 305-344) als »Kreuzung sozialer Kreise« dargelegt hat. Die zunehmende Rollendifferenzierung der modernen Gesellschaft hat dazu geführt, dass sowohl die Anzahl als auch die Verschiedenartigkeit unterschiedlicher Rollen immer größer geworden ist. Jede dieser Rollen gehört zu einem bestimmten »sozialen Kreis« – die Rolle des Vaters beispielsweise zur Familie und die Rolle des Amateurfotografen zu einem Club derer, die demselben Hobby frönen. Mit zunehmender Anzahl verschiedener Rollen steigt die Anzahl möglicher Rollenkombinationen exponentiell; damit sinkt die Wahrscheinlichkeit einer auch nur annähernd gleichen Rollenkombination zweier Menschen gegen Null, woraus sich die Selbstwahrnehmung einer Person als einzigartig ergibt. Dies ist die eine Kom58
ponente von Individualität. Die andere ist Selbstbestimmung. Sie äußert sich zum einen in der Wahlfreiheit, die eine Person bezüglich immer mehr Rollen erhält – ob Berufswahl oder Wahl des Familienstands, der politischen Zugehörigkeit zu einer Partei oder der Freizeitaktivität. Diese Wahlfreiheit impliziert auch die »Exit«-Option, wenn man sich den Rollenerwartungen nicht länger beugen will – was dafür sorgt, dass keine zu strikten Erwartungen adressiert werden. Zum anderen lassen sich Erwartungen, die der einen Rolle gelten, gegen Erwartungen ausspielen, die aus einer anderen Rolle herrühren. So kann jemand beispielsweise in seiner Rolle als Ehemann von seiner Frau bezüglich seiner ehelichen Pflichten Rücksichtnahme darauf erwarten, dass er in seiner Berufsrolle den Erwartungen seiner Vorgesetzten gerecht werden muss. In diesem Sinne wirkt in der modernen Gesellschaft »[…] the complexity of roles as a seedbed of individual autonomy […]« (Coser 1975). Individualität wird also der Person durch die moderne Gesellschaft als selbstbestimmte Einzigartigkeit auferlegt. Mit Blick auf Lebenschancen erweist sich dies als hochgradig ambivalent. Auf der einen Seite bedeutet Individualisierung eine immense Steigerung an Optionen: »Der Mensch wird (im radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden.« (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 16/17) Auf der anderen Seite geht dies nicht zwangsläufig, aber doch in erheblichem Maße mit einem Verlust an Ligaturen einher. Das heutige Individuum verzeichnet für sich weniger und instabilere Bindungen an Gemeinschaften – angefangen bei der eigenen Partnerschaft und bis hin zu Nachbarschaften oder Lebensstil-Szenen – und an gesellschaftliche Wertorientierungen. Beides – Optionenzunahme und Bindungsverlust – kann zwar so oder so bewertet werden, aber in beiden Hinsichten erscheinen Schwellenwerte plausibel. Zu viele Optionen laufen nicht auf mehr positiv erlebte Einzigartigkeit, sondern auf eine Entscheidungsparalyse hinaus; und zu wenig Ligaturen resultieren in negativ erlebter Beliebigkeit anstelle von sinnstiftenden Bindungen. Mit Blick auf Lebenschancen ist funktionale Differenzierung also 59
vor allem daraufhin zu betrachten, ob nicht die erst einmal positive Optionenzunahme und der damit einhergehende Ligaturenverlust überhandnehmen. Betrachtet man nun die Integrationserfordernisse der Gesellschaft, kann man zunächst, einer eingeführten Unterscheidung folgend, die Sozialintegration von Personen in die gesellschaftliche Ordnung sowie die Systemintegration der gesellschaftlichen Teilsysteme untereinander unterscheiden (Lockwood 1964; Mouzelis 1974). Weiterhin ist aber auch noch die ökologische Integration der Gesellschaft in ihre natürliche Umwelt in Rechnung zu stellen. Diese lange Zeit wenig beachtet gebliebene Integrationsdimension wird spätestens seit dem ersten Bericht des Club of Rome zu den »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) breit thematisiert. In den drei explizierten Hinsichten denkt man – nach potentiellen Integrationsproblemen gefragt, die aus funktionaler Differenzierung herrühren – als Erstes an Phänomene gesellschaftlicher Desintegration. Zu wenig Integration zeigt sich in sozialintegrativer Hinsicht etwa in Phänomenen um sich greifenden abweichenden Verhaltens, also in Kriminalität, Protest und Rebellion oder psychischen Störungen. Dann fügt sich – wie man sagen könnte – das gesellschaftliche Personal nicht mehr hinreichend in die gesellschaftliche Ordnung. Ganz allgemein könnte funktionale Differenzierung, immer weiter getrieben, die Personen durch den schon von Weber (1919: 27/28) verzeichneten »Polytheismus« der »Wertsphären« überfordern. Daneben sind teilsystemspezifische desintegrative Effekte vorstellbar – etwa »Politikverdrossenheit« der Bürger aufgrund der Art und Weise, wie Parteien und Politiker um politische Macht kämpfen, oder um sich greifendes Doping unter Spitzensportlern aufgrund des auf ihnen lastenden Erfolgsdrucks. Systemintegrativ wäre als Desintegration einzustufen, wenn Teilsysteme einander durch ihr Operieren schwerwiegende Probleme bereiten – also beispielsweise die Leistungsproduktion des Bildungssystems sich nicht um die Qualifikationserfordernisse anderer Teilsysteme wie der Wirtschaft schert. In ökologischer Hinsicht schließlich läge Desintegration vor, wenn etwa die Wirtschaft sich in der Art und Weise, wie sie Güter produziert, nicht darum kümmert, dass bestimmte natürliche Ressourcen wie z.B. Erdöl endlich sind. 60
Desintegrationspotentiale sind in funktionaler Differenzierung mit ihrer »legitimen Indifferenz« und multiplen Partialinklusion strukturell angelegt. Aber die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft noch nicht zusammengebrochen ist, zeigt, dass es Integrationsmechanismen gibt, die der Desintegration entgegenwirken: Mechanismen sozialer Kontrolle sowie die Responsivität der teilsystemischen Leistungsproduktionen gegenüber den Bedürfnissen der Individuen wirken in sozialintegrativer Hinsicht. In systemintegrativer Hinsicht sind diesbezüglich intersystemische Abstimmungsmechanismen – von »Reflexion« (Luhmann 1984: 640-646) bis hin zu politischer Gesellschaftssteuerung – zu nennen, deren Ergebnisse sich vor allem in dem schon erwähnten fremdreferentiellen äußeren Ring der teilsystemischen Programmstrukturen niederschlagen. Sogar ökologische Nachhaltigkeit findet inzwischen ihre Fürsprecher – nicht zuletzt dergestalt, dass Akteure des Wirtschaftssystems wie etwa die Hersteller von Windkraftanlagen für bestimmte Belange der natürlichen Umwelt eintreten, weil sich darüber Gewinne erzielen lassen. Neben Desintegration – sogar gleichzeitig – kann es Überintegration geben. Sie produziert Blockaden gegen Erneuerung. Um nochmals die staatssozialistischen Gesellschaften Osteuropas der 1980er Jahre anzuführen: In sozialintegrativer Hinsicht unterlagen dort die Bürger so starken politisch auferlegten Konformitätszwängen, gepaart mit dadurch präformiertem egozentrischen Opportunismus, dass jegliches übergreifend innovative Denken und Handeln institutionell systematisch entmutigt wurde; und in systemintegrativer Hinsicht ließ der hypertrophe politische Planungsanspruch in den verschiedenen Teilsystemen und zwischen ihnen keinen Bewegungsspielraum für flexible Abstimmungen und dezentrale Innovationsimpulse.22 Dies waren Extremfälle; tendenziell ähnlich wirkt sich aber auch ein aus der kapitalistischen Wirtschaft hervorgehender Ökonomisierungsdruck auf die anderen Teilsysteme und die individuellen Gesellschaftsmitglieder überintegrierend aus. Sowohl die Leistungsproduktionen in den anderen Teilsystemen als auch die individuelle Lebensführung werden dann auf die eindimensionale Linie wirtschaftlicher Rationalität gebracht (Schimank/Volkmann 2008). In ökologischer Hinsicht schließlich liegt Überintegration immer dort vor, wo die »Angstkommunikation« (Luhmann 1986a: 61
237-248) ökologischer Fundamentalisten die Oberhand gewinnt und mit einem unwiderlegbaren Skeptizismus letztlich jegliches Handeln durch diffus heraufbeschworene ökologische Risiken unterbinden kann. Die im Einzelnen sehr vielfältigen Auswirkungen funktionaler Differenzierung auf das gesellschaftliche Personal und dessen Lebenschancen sowie auf gesellschaftliche Integration sind seit den gesellschaftstheoretischen Klassikern immer wieder hin und her gewendet worden. Nicht nur die Individualisierung der Personen erweist sich, wie dargestellt, als zutiefst zwiespältig. Gleiches gilt für die Integration einer funktional differenzierten Gesellschaft.23 Natürlich waren auch vormoderne Gesellschaftsformen ständig mit Problemen der Des- oder Überintegration konfrontiert; doch funktionale Differenzierung zahlt für die Höchstleistungsproduktion ausdifferenzierter selbstreferentiell geschlossener »Wertsphären« den Preis, dass das Schwierigkeitsniveau vieler Integrationsprobleme und damit die Anforderungen an die Integrationsmechanismen gestiegen sind.
4. Dif ferenzierungsdynamiken Bis hierher ist geklärt, wie die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft aussieht und welche Auswirkungen diese Gesellschaftsform auf individuelle Lebenschancen und gesellschaftliche Integration hat. Nun gilt es, die Fragerichtung umzukehren und funktionale Differenzierung nicht mehr als unabhängige, sondern als abhängige – zu erklärende – Variable zu behandeln. In dieser Fragerichtung ergeben sich drei Teilfragen. Die erste richtet sich auf die Entstehung einer funktional differenzierten Gesellschaft: Wie lief die Genese der verschiedenen Teilsysteme der modernen Gesellschaft – je für sich betrachtet und im Wechselspiel miteinander – ab? Zweitens ist vor dem empirischen Hintergrund, dass das Dutzend ausdifferenzierter Teilsysteme, die sich herausgebildet haben, bis heute fortbesteht, zu fragen: Wie vollzieht sich die identische Reproduktion der teilsystemischen Leitwerte? Drittens schließlich geht die identische Reproduktion der teilsystemischen Leitwerte mit einem erheblichen Wandel der selbstreferentiellen, insbesondere aber der fremdreferentiellen 62
Programmstrukturen der Teilsysteme sowie auch der Konstellationsstrukturen einher. Darauf bezogen lautet die Frage: Welchen Kräften und Richtungen des Wandels sind diese Teilsystemstrukturen ausgesetzt? Zur ersten Frage gibt es reichhaltiges empirisches Material aus geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, das theoretisch aufzuarbeiten wäre. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft hat sich über teils parallel verlaufende, teils zeitlich versetzte, mal starke Wechselwirkungen aufweisende und mal relativ isolierte Ausdifferenzierungen der verschiedenen Teilsysteme Schritt für Schritt herausgebildet, wobei sich der Gesamtvorgang über mehrere Jahrhunderte vollzog und in Timing und Ausprägung national erheblich variierte.24 Eine allererste, noch nicht sehr systematische Zusammenstellung von verallgemeinerbaren Mechanismen, die im Zusammenwirken funktionale Differenzierung erzeugt haben, kann verschiedene Verlaufsfiguren der Ausdifferenzierung unterscheiden – etwa die für die Ausdifferenzierung der kapitalistischen Wirtschaft wichtige Gelegenheit von »weak ties« in Gestalt von Tauschbeziehungen mit Fremden oder die für die Ausdifferenzierung der Wissenschaft und der Kunst bedeutsame Befreiung von religiösen und politischen Einflussnahmen (Schimank 2005b: 165-183). Intentionale Differenzierungspolitiken bestimmter Gruppen von Akteuren, die wie etwa Wissenschaftler oder Ärzte ihre berufliche Autonomie im Sinne von »occupational control« (Child/Fulk 1982) bzw. »sozialer Schließung« (Weber 1922: 23-25) steigern wollten, waren dabei oftmals wichtige Anstöße (Schimank 2010); doch selbst dann verliefen die Ausdifferenzierungsdynamiken einzelner Teilsysteme größtenteils transintentional, was erst recht für den Gesamtvorgang der Herausbildung funktionaler Differenzierung der Moderne gilt. Die zweite Frage richtet sich darauf, wie die teilsystemischen Leitwerte, nachdem sie als selbstreferentiell geschlossene evaluative Orientierungshorizonte etabliert worden waren, eine hochgradige Stabilität gewonnen haben. Keiner dieser Leitwerte hat sich nach seiner Inthronisierung noch gewandelt oder ist gar entthront worden, auch wenn manche – am prominentesten der Leitwert der Wirtschaft – notorisch umstritten sind. Sie alle prägen das im jeweiligen Teilsystem stattfindende Handeln durchschlagend, 63
ohne durch diesen ständigen Gebrauch verformt oder abgenutzt zu werden – im Gegenteil werden sie in diesem Vollzug jedes Mal aufs Neue identisch reproduziert. Diese bereits als Verdinglichung charakterisierte Stabilität der Leitwerte ergibt sich über den Mechanismus einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Schimank 2009: 216-219). Die teilsystemischen binären Codes werden von den Akteuren als »abstraktive Fiktionen« (Vaihinger 1918: 28-36) herangezogen und dem je eigenen Handeln zugrundegelegt. Sofern alle Beteiligten dies so handhaben, also so tun, als ob eine in ihrer konkreten Kontingenz stets einzigartige und, gemessen am etablierten Code und den ihn tragenden Programmstrukturen, viele »Fremdkörper« aufweisende Situation ein »perfekter Match« (Esser 2001: 251-258) sei, nähert sich die Situation diesem im weiteren handelnden Zusammenwirken immer mehr an. Wenn beispielsweise ein Käufer und ein Verkäufer die konkrete Situation, in der sie sich miteinander befinden, gemäß der Handlungslogik des Wirtschaftssystems interpretieren und damit fiktionalisieren, prägt dies die aufeinander bezogenen Erwartungen und Handlungsvollzüge. Beide Seiten wissen sogleich ziemlich eindeutig, was sie jeweils selbst wollen, was ihr Gegenüber will, und dass das jeweilige Gegenüber ebenfalls beides über sich selbst und über sein Gegenüber weiß. Diese Erwartungen mögen im konkreten Einzelfall richtig oder falsch sein – darauf kommt es überhaupt nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass sie der konkreten Situation als abstrakte Fiktionen übergestülpt werden und dadurch ganz im Sinne des Thomas-Theorems Geltung erlangen. Wenn ich beispielsweise eine Ware anzubieten habe, gehe ich davon aus, dass man mir Profitinteressen unterstellt und dass mein Gegenüber – deshalb! – wohl versuchen wird, mich herunterzuhandeln. Spätestens mit dieser Erwartungserwartung an sein Handeln habe ich mich dieser generalisierten Erwartung an mein Handeln unterworfen, obwohl ich möglicherweise ursprünglich noch ganz andere Motive mit meinem Warenangebot verbunden hatte. Die situative Performativität des – wie man sagen könnte – »doing economy« ergibt also eine Dynamik der Abweichungsverstärkung (Maruyama 1963) von der ursprünglichen, mehr oder weniger ausgeprägten Heterogenität der Situation zur Homogenität der gemeinsamen Exekution des immer gleichen Codes. Situationsübergreifend wiederum aggregieren sich all diese Ab64
weichungsverstärkungen zu einer Abweichungsdämpfung dergestalt, dass der Code sich in jedem Vollzug immer wieder aufs Neue bestätigt. Etwas ausführlicher wende ich mich nun der dritten Frage nach den Dynamiken teilsystemischer Programm- und Konstellationsstrukturen zu. Dabei blende ich hier diejenigen Wandlungsdynamiken teilsystemischer Programmstrukturen aus, die nur den inneren, selbstreferentiellen Ring um den Leitwert betreffen und auf rein teilsysteminterne Akteurkonstellationen zurückgehen – also z.B. den Wandel wissenschaftlicher Theorien als Ergebnis der teils kooperierenden, teils konflikthaften Aktivitäten von um Reputation konkurrierenden Wissenschaftlern (Mulkay 1972; Gläser 2006).25 Diese Differenzierungsdynamiken lassen sich als fortwährender Fünf-Fronten-Kampf der teilsystemischen Leistungsanbieter – Leistungsrollenträger und Leistungsorganisationen – verstehen und analytisch als interdependente Spiele modellieren (Schimank 2011a): – Inklusionsspiel zwischen teilsystemischen Leistungsanbietern und ihrem Publikum an Leistungsempfängern: Hier geht es um die Reklamierung von Ansprüchen an die teilsystemische Leistungsproduktion. Wem steht was zu, beispielsweise welche Bildungschancen oder medizinische Versorgung? Und wer darf das Leistungsangebot mitgestalten? Wie weit reichen etwa die Entscheidungsrechte von Eltern hinsichtlich der Schulausbildung ihrer Kinder? – Domänenspiel zwischen teilsystemischen Leistungsanbietern und den Leistungsanbietern anderer Teilsysteme: Auch hier geht es um Ansprüche an das teilsystemische Leistungsangebot und Mitwirkungsbefugnisse bei dessen Gestaltung. Was können etwa Unternehmen an Bildungsleistungen der Schulen erwarten oder welche Arten journalistischer Berichterstattung verbitten sich Politiker oder Sportler? – Ökonomisierungsspiel zwischen teilsystemischen Leistungsanbietern und Unternehmen:26 Hier geht es um die bereits angesprochene Rücksichtnahme der Leistungsanbieter aller anderen Teilsysteme auf die Prosperitätserfordernisse der Unternehmen, wobei oftmals staatliche Akteure als Vermittler fungieren. Denn Letztere erfahren eine Verschlechterung der 65
wirtschaftlichen Lage als Steuerrückgang, den sie über Ausgabenkürzungen als Ökonomisierungsdruck weitergeben. – Ökologiespiel zwischen teilsystemischen Leistungsanbietern und denjenigen Akteuren, die die Belange ökologischer Nachhaltigkeit gesellschaftlich vertreten: Hier treten u.a. Bürgerinitiativen oder Klimaforscher beispielsweise gegen Unternehmen oder das Militär an, sofern diese mit ihrem Handeln die natürliche Umwelt belasten. – Hegemoniespiel zwischen verschiedenen Fraktionen von Leistungsanbietern innerhalb eines Teilsystems: Hier geht es darum, wer die teilsystemische Leistungsproduktion wie stark zu dominieren vermag – siehe etwa die Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Pflegepersonal im Gesundheitssystem oder die Konkurrenz zwischen Banken und Sparkassen im Finanzsektor des deutschen Wirtschaftssystems. In allen fünf Spielen sind grundlegende Interessen der teilsystemischen Leistungsanbieter berührt. Stets geht es für sie um das Ausmaß der eigenen Autonomie im Sinne von »occupational control«. Zugleich ist aber auch ein Interesse an Einflusssteigerung virulent, wenn etwa im Domänenspiel Verwissenschaftlichung gesamtgesellschaftlich die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise erhöht oder im Inklusionsspiel die Sportvereine neue Publikumssegmente hinzugewinnen können. Beide Interessen konfligieren oft, zumindest ab einem bestimmten Punkt, miteinander und können dann die teilsystemischen Leistungsanbieter spalten. So hat sich etwa im Breitensport ein regelrechtes Inklusionsdilemma aufgetan, weil mit dem Mitgliederwachstum der Sportvereine auch immer stärker sportferne Motivationen in den Sport hineingetragen worden sind, die sich nicht haben neutralisieren lassen, sondern Berücksichtigung verlangen, worunter das traditionelle Wettkampfethos leidet; und es gibt unter den Leistungsanbietern diejenigen Akteure, die dieser »Entsportlichung« des Sports zur Wahrung teilsystemischer Autonomie Einhalt gebieten wollen, während andere bereit sind, einen Autonomieverlust für das Mitgliederwachstum hinzunehmen (Schimank 1988). In den ersten vier Spielen, in denen die Antipoden der teilsystemischen Leistungsanbieter außerhalb des Teilsystems angesiedelte Akteure sind,27 verteidigt ein Akteur mit der je eigenen 66
Autonomie auch die teilsystemische Autonomie. Die Leistungsanbieter halten so, bezüglich ihres Teilsystems, letztlich das Prinzip funktionaler Differenzierung hoch. In den Ansinnen der Antipoden bilden sich in diesen vier Spielen hingegen, funktionalistisch betrachtet, die drei gesellschaftlichen Integrationsprobleme ab: Sozialintegration im Inklusions-, Systemintegration im Domänen- und Ökonomisierungs- sowie ökologische Integration im Ökologiespiel. Im Inklusionsspiel geht es zudem um die außerhalb der Berufssphäre verorteten Lebenschancen der Individuen; berufsbezogene Lebenschancen werden hingegen im Ökonomisierungs- und im Hegemoniespiel behandelt. Denn Letzteres dreht sich um Ungleichheiten der Befugnisse, des Einkommens und des Prestiges zwischen Leistungsproduzenten eines Teilsystems. Diese fünf Fronten, an denen Konflikte über die Programmund Konstellationsstrukturen der Teilsysteme ausgefochten werden, sind gesellschaftstheoretisch zunächst je für sich für jedes Teilsystem zu betrachten. Damit eröffnen sich viele gesellschaftsanalytische Vergleichsperspektiven. So kann man beispielsweise das Inklusionsspiel des Breitensports in Deutschland im Vergleich der Weimarer Republik und der Bundesrepublik oder im Vergleich Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens seit den 1960er Jahren analysieren (Hartmann-Tews 1996). Sodann sind Vergleiche zwischen den Teilsystemen aufschlussreich: Wie stellt sich beispielsweise das Inklusionsspiel des Sports im Unterschied zur Religion, zur Bildung oder zur Politik dar (Schimank 2005b), oder welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede weist das Ökonomisierungsspiel bei den verschiedenen Teilsystemen auf? Zu solchen Fragen gibt es bereits Untersuchungen, die differenzierungstheoretisch auswertbar sind. Im nächsten Schritt ist den vielfältigen Interdependenzen zwischen verschiedenen Spielen nachzugehen – etwa zwischen dem Inklusionsspiel des Sports und dem Ökonomisierungsspiel des Sports oder zwischen dem Ökonomisierungsspiel des Sports und dem Ökonomisierungsspiel des Journalismus oder zwischen dem Domänenspiel von Religion und dem Ökologiespiel der Intimbeziehungen. Wenn letzteres Beispiel zu weit hergeholt erscheint: Nur so kann man einen wichtigen, wenn auch keineswegs alleinigen Ursachenfaktor dafür begreifen, warum weltweit keine ökologisch nachhaltige 67
Begrenzung des Bevölkerungswachstums stattfindet – weil religiöse Dogmen nicht nur des Christentums Empfängnisverhütung perhorreszieren. Um zumindest an einem Beispiel die Analyse eines der Spiele in Verknüpfung mit einem anderen noch etwas eingehender vorzuführen: Wie positionieren sich die Universitäten als Organisationen des Bildungssystems im Inklusionsspiel, und wie wirkt das Ökonomisierungsspiel hinein? Die erste Stufe der Veränderung der teilsystemischen Programmstrukturen, die seit den 1960er Jahren in vielen westlichen Ländern stattgefunden hat, besteht hier in einem Wechselspiel von Inklusionsversprechen und Inklusionsbegehren. Immer mehr und letztlich alle Gesellschaftsmitglieder sollen eine Teilhabechance an der teilsystemischen Leistungsproduktion haben, und zwar auf erweiterter Stufenleiter: also nicht nur das Minimalangebot der Volksschule, sondern auch Gymnasium und dann Studium. Und mehr und mehr Gesellschaftsmitglieder verlangen danach, dass dieser Quasi-Rechtsanspruch auch faktisch gewährt wird. Dies wird von dem durch Wachstumsinteressen geleiteten, darin allerdings dem teilsystemischen Leitwert huldigenden Handeln vieler Leistungsanbieter des Bildungssystems – von den Gymnasiallehrern bis zur Hochschulrektorenkonferenz – vorangetrieben. Die zweite, daraus hervorgehende Stufe der Veränderung der Programmstrukturen des Bildungssystems stellt sich als »Aufstand des Publikums« (Gerhards 2001), also der Leistungsempfänger gegen die Leistungsanbieter dar. Dieser »Aufstand« erfolgt aus zwei konträren Richtungen. Einerseits hinterfragen, durch das Versprechen der Chancengleichheit ermutigt, neue Publikumssegmente die Autorität der Leistungsanbieter und die Adäquanz des Leistungsangebots. Studierende fordern spätestens seit 1968 die Praxisrelevanz des Studiums außerhalb des »Elfenbeinturms« ein, weil ihnen klar ist, dass sie nicht allesamt Professoren werden können und wollen; und es wird mehr Qualität der Lehre verlangt. Dieses Forderungsbündel korreliert negativ mit der sozialen Herkunft der Studierenden: Je niedriger die Herkunft, desto fordernder! Andererseits gewinnen auch die traditionellen Leistungsempfänger der universitären Lehre – insbesondere Studierende mit bildungsbürgerlichem Hintergrund – zunehmend an Selbstbewusstsein gegenüber professoraler Autorität, ermutigt durch deren 68
Hinterfragung von Seiten des anderen Publikumssegments. So wissen plötzlich auch Studierende aus diesem Herkunftsmilieu, die bislang ehrfurchtsvoll an den Lippen ihrer Professoren hingen, alles besser, von den vermittelten Fachinhalten bis zur benutzten Didaktik. Einig sind sich beide Publikumssegmente darin, dass sie gegen eine weitere »Bevormundung« durch die teilsystemischen Leistungsanbieter, insbesondere Professoren, opponieren. Dieses Ergebnismuster des Inklusionsspiels geht darauf zurück, dass es sowohl auf Seiten der Leistungsanbieter als auch auf Seiten der Leistungsempfänger zwei Fraktionen gibt. Die Leistungsempfänger bestehen, ungleichheitstheoretisch betrachtet, aus den gesellschaftlich Besser- und den Schlechtergestellten. Letztere entwickeln ein Interesse an erweiterter Inklusion ins Bildungssystem, und dort schließlich auch in die Universitäten. Die Bessergestellten hingegen, insbesondere das Bildungsbürgertum, haben ein Interesse an weitgehender Aufrechterhaltung sozialer Schließung, also möglichst exklusiver Nutzung der höheren Stufen des Bildungsangebots. Denn so wird in instrumenteller Hinsicht ansonsten aufkommende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für akademische Berufe abgewehrt, und in symbolischer Hinsicht kommen Distinktionsgewinne hinzu. Anfänglich hatten die Bessergestellten die höhere Bildung quasi monopolisiert. Doch die quantitative Überzahl der Schlechtergestellten kann sich in einem demokratischen politischen System mit der Zeit in Durchsetzungsstärke auch in bildungspolitischen Fragen ummünzen – freilich unter einer Reihe von keineswegs selbstverständlichen Bedingungen, unter denen eine notwendige darin besteht, dass mindestens Teile der Schlechtergestellten ein ernsthaftes Interesse an höherer Bildung für sich und ihre Kinder entwickeln. Auf Seiten der teilsystemischen Leistungsanbieter existieren die bereits erwähnten einander entgegenstehenden Interessen. Dominant ist zunächst bei allen ein Interesse an Autonomie der eigenen Leistungsproduktion – unter deutschen Professoren als je individuelle »Freiheit der Lehre« hochgradig ausgeprägt und durch funktionalistische Überzeugungen, dass allein so die Sachgerechtigkeit ihres Tuns gewahrt sei, überhöht. Dann aber gibt es, wie in anderen Teilsystemen auch, ein untergeordnetes Interesse an Wachstum durch eine mehr oder weniger weitgehende Inklusion weiterer Bevölkerungsgruppen in die eigene Leistungsproduk69
tion. Wachstum mobilisiert zusätzliche Ressourcen, die unter den Leistungsproduzenten verteilt werden können, steigert deren gesellschaftliche Wichtigkeit und dadurch auch deren Einkommen und Prestige. Je größer der Anteil einer Alterskohorte ist, der ein Studium absolviert, desto mehr rücken die Hochschulen ins gesellschaftliche Zentrum. Genau dies sah Parsons (1971: 120-124) Anfang der 1970er Jahre als Konsequenz der »Bildungsrevolution«. Die Leistungsproduzenten merken allerdings sehr schnell, dass sie sich mit Wachstum in ein Inklusionsdilemma hineinmanövrieren. Entsprechend befürchtet die eine Fraktion der Professoren, dass nicht allein die Qualität von universitär vermittelten Bildungserfahrungen, sondern die ganze Idee universitärer Bildung Schaden nimmt, je mehr man die Universitäten öffnet. Diese Fraktion positioniert sich, mit Pierre Bourdieu (1992) gesprochen, am »autonomen Pol« des Bildungssystems. Sie gestaltet ihre Lehre, überspitzt gesagt, so, als ginge es darum, lauter künftige Professoren auszubilden, geht also beharrlich darüber hinweg, dass das Gros der Studierenden immer schon Berufe außerhalb des Hochschulsektors ergreift und auch ergreifen will. Diese Fraktion verbündet sich traditionell mit denjenigen Studierenden, die aus bessergestellten Elternhäusern kommen, und muss seit den 1960er Jahren nicht nur erleben, dass nun auch die Schlechtergestellten studieren wollen, sondern auch, dass eine andere Fraktion von Leistungsproduzenten diese zunächst von bildungspolitischen Akteuren mit Blick auf Wählerstimmen initiierte »massification of higher education« (Gibbons et al. 1994) mitträgt. Diese Fraktion verspricht sich etwas von wachsenden Studierendenzahlen und ist bereit, die universitären Bildungsangebote in Richtung der Interessen des immer größer werdenden Teils derjenigen Studierenden umzugestalten, die nicht universitäre Bildungserlebnisse, sondern berufliche Kompetenzen für Karrieren jenseits der Universitäten – Stichwort: »Employability« – haben wollen. Während am »autonomen Pol« gegenüber dem »Aufstand des Publikums« Widerstand geleistet wird, geht die zweite Fraktion auf die Studierenden und deren Belange zu. Bei diesem Inklusionsspiel sind die Publikumsakteure in ihren Interessen ziemlich festgelegt. Die Schlechtergestellten brauchen ein »Massenangebot«. Unter den Bessergestellten kann es trotz ihrer angesprochenen Interessenlage eine mehr oder weniger ver70
breitete und mehr oder weniger intensive Solidarmoral geben, also eine Offenheit für die Berechtigung der Teilhabeinteressen der Schlechtergestellten – ergänzend oder alternativ auch die Einsicht in das funktionale Erfordernis einer größtmöglichen Ausschöpfung von »Bildungsreserven« in einem rohstoffarmen Land. Alles in allem überwiegen also diejenigen Kräfte, die den Inklusionsdruck verstärken. Die teilsystemischen Leistungsanbieter haben hingegen einen größeren strategischen Spielraum. Beiden Fraktionen ist die Kehrseite der je eigenen Position durchaus deutlich. Wer die Autonomie der universitären Lehre hochhält, kann sich als »Humboldtianer« eine schwindende gesellschaftliche Wichtigkeit einhandeln, womit nicht nur Statusverluste, sondern auch empfindliche Ressourceneinbußen verbunden sein können. Umgekehrt kann eine entschiedene Wachstumsstrategie durch »Kundenorientierung« a la Bologna auf eine Autonomiegefährdung des Bildungssystems und der akademischen Profession durch eine Verwässerung des teilsystemischen Leitwerts hinauslaufen. Wie gesagt: ein Inklusionsdilemma. Es wird nun noch verschärft durch den Ökonomisierungsdruck, der seit Ende der 1970er Jahre infolge anhaltender wirtschaftlicher Wachstumsschwächen auf den Hochschulen lastet. Die Inklusion von Studierenden, deren Bildungshintergrund und Bildungsleistungen hinter dem zurückbleiben, was bis dahin Startbedingung war, macht eine entsprechende Qualitätsverbesserung der Lehre unabdingbar, soll dasselbe Niveau an Studiererfolg erreicht werden. Doch diese Qualitätsverbesserung bleibt auf der Strecke, weil die Finanzmittel für Lehrpersonal nicht mit den Studierendenzahlen mithalten können – ganz zu schweigen davon, mittels schneller steigender Finanzmittel bessere Betreuungsrelationen zu realisieren. Die Inklusionsdynamik bringt so unter den Rahmenbedingungen des Ökonomisierungsspiels Quantität zu Lasten von Qualität hervor. Dies kommt weder der traditionellen selbstreferentiellen Ausrichtung der Lehre auf Bildungserfahrungen noch der bildungspolitisch angestrebten fremdreferentiellen Neuausrichtung auf »Employability« zugute. Sowohl »Humboldt« als auch »Bologna« nehmen Schaden. Dieses Beispiel zeigt, dass eine handlungstheoretisch angelegte differenzierungstheoretische Perspektive keine großen Linien 71
gesellschaftlicher Differenzierungsdynamiken mehr zieht. Zwar kann man mit Blick auf Inklusion konstatieren, dass es in den westlichen Gesellschaften eine inzwischen knapp zweihundertjährige Tendenz fortschreitender Inklusion gegeben hat: Nach und nach sind sämtliche Bevölkerungsgruppen in alle teilsystemischen Leistungsproduktionen einbezogen worden, und dies auf zumeist steigendem Niveau, weshalb etwa Parsons (1971: 4042) hierin eine irreversible Steigerungstendenz sieht – in Verbindung mit einer immer weiter voranschreitenden funktionalen Differenzierung. Doch weder war die Inklusionsdynamik eine lineare und stetige, noch verlief sie überall in diesen Ländern gleich; und ob sie nicht zum Stillstand kommen wird, vielleicht schon hier und da gekommen ist, oder das Inklusionsniveau sogar wieder heruntergefahren wird, etwa infolge eines starken Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Leistungen aufgrund einer anhaltenden staatlichen Finanzkrise, ist eine völlig offene Frage. Die gleiche Kontingenz gilt für alle anderen Spiele und deren Dynamiken. Es kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass die Autonomie einzelner Teilsysteme drastisch erodiert, etwa infolge von Ökonomisierung oder auch Politisierung. Letzteres war in den ehemals staatssozialistischen Gesellschaften Osteuropas jahrzehntelang der Fall und hält sich in Nordkorea noch immer, trotz unübersehbarer massiver Dysfunktionalitäten der Leistungsproduktionen. Dies ist alles eine Frage der Kräfteverhältnisse in den jeweiligen Spielkonstellationen, nicht eines wie immer bestimmten Minimalniveaus an Funktionalität.28 Letztlich gilt das auch für funktionale Differenzierung insgesamt. So wie noch lange in die Moderne hinein eine die ständische Ordnung ablösende funktionale Differenzierung als sich selbst tragende stabile Gesellschaftsordnung jenseits des Vorstellungsvermögens Vieler war, vermag man heutzutage nicht zu imaginieren, wie eine andere, hinsichtlich der Funktionalität der Leistungsproduktionen nicht hoffnungslos unterlegene Ordnung aussehen könnte; und erst recht will man nicht wahrhaben, dass auch umgekehrt ein dramatischer Ordnungs- und Leistungsverlust eintreten könnte. Diese Überlegungen gelten ebenso für den funktionalen Antagonismus von kapitalistischer Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat. Schon die Geburt staatlicher Sozialpolitik erklärt sich nicht aus 72
funktionalen Erfordernissen, die sich gleichsam von selbst »hinter dem Rücken« der Beteiligten Geltung verschafft hätten. Vielmehr fand eine durchaus absichtsvolle Installierung der Gegenkraft des kapitalistischen Gewinnstrebens statt (Wehler 1995: 907-915). Eine entsprechende Einsicht – »Funktionalismus als Akteurswissen« (Vobruba 1992) – existierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl auf Seiten gesellschaftlicher Eliten als auch in denjenigen Teilen der Arbeiterbewegung, die den Kapitalismus nicht per Revolution beseitigen wollten und auch nicht von seiner naturnotwendigen Selbstzerstörung ausgingen, sondern dessen Reform zu einer Gesellschaft anstrebten, in der Sicherheit und ein zumindest bescheidener Wohlstand für alle garantiert war. Dass die Einsicht in die Notwendigkeit, »sozialen Frieden« schaffen und die Arbeiterschaft gesellschaftlich einbinden zu müssen, Durchschlagskraft entfalten konnte, war das Ergebnis einer Koalition desjenigen Teils der politischen Eliten, der von der Notwendigkeit einer sozialpolitischen Korrektur der gesellschaftlichen Externalitäten kapitalistischen Wirtschaftens überzeugt war, mit der eher kurzfristig und selbstbezogen denkenden reformistischen Mehrheit der Arbeiterbewegung – gegen die kurzfristig und selbstbezogen denkenden Unternehmer einerseits, die langfristig am utopischen Kollektivwohl der Arbeiterschaft interessierte revolutionäre Fraktion der Arbeiterbewegung andererseits. Solange noch keine politische Inklusion der Arbeiterschaft in den Staat als obersten gesellschaftsgestaltenden Akteur erfolgt war, musste die reformbereite politische Elite mit dem Druck der Straße argumentieren, wobei sie bekanntlich auf massive und eskalierende unzweideutige Evidenz verweisen konnte. Sobald Demokratie erkämpft worden war, also allgemeines und gleiches Wahlrecht herrschte, haben bis heute wechselnde parlamentarische Mehrheiten im Schatten der Steuerschätzungen und des Ausmaßes der Staatsverschuldung den weiteren Ausbau, Erhalt oder Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bestimmt. Irgendein Automatismus des Ausbaus ist nicht zu erkennen, auch wenn das den Zeitgenossen in den 1960er Jahren ein paar Jahre lang so erschien. Genauso wenig allerdings darf man freilich den »neoliberalen« Umbau des Sozialstaats seit den 1980er Jahren als nunmehr endgültige unumkehrbare Richtung dieser zentralen
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Strukturdynamik der funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft nehmen.
5. Fazit Damit sind die Konturen der differenzierungstheoretischen Perspektive auf die moderne Gesellschaft entlang der drei Leitfragen nach Gestalt, Effekten und Dynamiken einer funktional differenzierten Gesellschaft umrissen. In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich das hier präsentierte Bild – um dies noch einmal zu betonen – vom differenzierungstheoretischen Mainstream. Zum einen ist der Mainstream derzeit systemtheoretisch angelegt, während hier eine handlungstheoretische Fundierung genutzt wird. Zum anderen sieht derselbe Mainstream keine herausgehobene Position irgendeines der ausdifferenzierten Teilsysteme; hier hingegen wird argumentiert, dass der kapitalistischen Wirtschaft ein gesellschaftlicher Primat zukommt. Bei den beiden im Weiteren darzustellenden gesellschaftstheoretischen Perspektiven legt der jeweilige Mainstream eine handlungstheoretische Herangehensweise zugrunde, womit ich dann konform gehen kann. Allerdings werde ich wiederum – was längst nicht alle Ungleichheitstheoretiker tun und worum sich erst recht kaum ein Kulturtheoretiker kümmert – die gesamtgesellschaftlichen Implikationen einer kapitalistischen Wirtschaft berücksichtigen. Nicht nur die funktionale Differenzierung, auch die Ungleichheitsstrukturen und die Kultur der Moderne sind tiefgreifend durch diese Wirtschaftsform geprägt. Anders gesagt: Dass die moderne Gesellschaft eine kapitalistische ist, schlägt sich unübersehbar auch in entsprechenden Mustern sozialer Ungleichheit, nämlich einem Primat marktvermittelter Ungleichheiten, sowie in der Ausbuchstabierung zentraler kultureller Wertorientierungen der Moderne, nämlich einer ökonomisierten Lesart von gesellschaftlichem Fortschritt, nieder. Wie diese Vorab-Charakterisierung des weiteren Vorgehens schon erkennen lässt, geht es mir hier insgesamt um mehr als um ein bloßes additives Nebeneinanderstellen der drei gesellschaftstheoretischen Perspektiven. Es geht mir auch um mehr als bloß eine Komplementarität derart, dass sich je nach gesellschaftstheo74
retischer Fragestellung zu erweisen hat, welche der drei Perspektiven im Einzelfall am meisten zu bieten hat. Die Perspektiven sollen vielmehr möglichst kompatibel miteinander angelegt werden, so dass sie bei spezifischen Analysen ineinandergreifen können.
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III. Ungleichheitstheoretische Perspektive: Gleichheitspostulat und marktvermittelte Ungleichheiten Für die ungleichheitstheoretische Perspektive ist nicht erst in der Moderne, sondern war seit Anbeginn menschlicher Gesellschaften soziale Ungleichheit das immer schon alles weitere prägende Strukturmerkmal.29 Hans-Peter Müller und Michael Schmid (2003a: 5/6) behaupten etwa, dass »[…] dieser überragend wichtige Gegenstand […]« geradezu identitätsstiftend für die Soziologie sei, und vermerken sodann lapidar: »Ungleichheitsanalyse ist Gesellschaftsanalyse.« Das ist vor allem umgekehrt gemeint: Man vermag demzufolge Gesellschaft – nicht nur, aber eben auch die moderne Gesellschaft – allein aus ihren Ungleichheitsstrukturen heraus richtig zu begreifen. Es ließen sich mühelos zahlreiche weitere Aussagen gleichen Tenors zusammentragen (siehe bei Schwinn 2007: 7). Dennoch gilt, wie Thomas Schwinn (2007: 5) verzeichnet: »Die Theorie sozialer Ungleichheit hat seit den Klassikern der Soziologie keine großen Fortschritte zu verzeichnen.« Er weist damit auf eine große Diskrepanz hin. Auf der einen Seite gibt es eine längst unüberschaubare Vielzahl empirischer Studien zu allem und jedem, was es irgendwo auf der Welt als Ungleichheit gibt; auf der anderen Seite fehlen übergreifende theoretische Konzepte und Modelle zum Verständnis sozialer Ungleichheit nahezu völlig – was neuerdings Martin Diewald und Thomas Faist (2011) als Vertreter der ungleichheitstheoretischen Perspektive nochmals bestätigen. Mit diesem Theoriedefizit muss auch das vorliegende Kapitel zurechtkommen, das sich wiederum entlang der drei gesellschaftstheoretischen Leitfragen gliedert. In einem ersten Schritt werden, auf der Grundlage einer allgemeinen Definition, in der modernen Gesellschaft relevante Ungleichheitsdimensionen benannt. Als Zweites werden marktvermittelte Ungleichheiten als die in der Moderne dominante Form sozialer Ungleichheit bestimmt. Soviel zur ersten Leitfrage danach, wie die ungleichheitstheoretische Perspektive die moderne Gesellschaft beschreibt! Drittens wende ich mich der zweiten Leitfrage nach den Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder und die gesellschaftliche Integration zu. Im 76
vierten Schritt schließlich geht es um Ungleichheitsdynamiken, also die dritte Leitfrage.
1. Ungleichheitsstrukturen Soziale Ungleichheit liegt immer dann vor, wenn Unterschiede in den gesellschaftsstrukturell verankerten Lebenslagen von Menschen nach vorherrschender Bewertung Schlechter- und Besserstellungen hinsichtlich der Lebenschancen bedeuten (Bader/Benschop 1989: 39-43). Dass die einen Menschen blond, die anderen schwarzhaarig sind, ist in den meisten Gesellschaften belanglos für die Lebenschancen der Betreffenden; es ist nicht einmal ein Aspekt der Lebenslage, sondern einfach bloß eine körperliche Ungleichartigkeit von Personen. Dass Manche blonde Freundinnen oder Freunde bevorzugen, spielt keine Rolle z.B. für die Heiratschancen, solange die meisten diesbezüglich offen sind. Das heißt bekanntlich nicht, dass körperliche Unterschiede keine gravierenden sozialen Ungleichheiten markieren können, wie das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen seit Jahrhunderten in vielen Teilen der Welt demonstriert. Doch soziale Ungleichheit ist in keiner Hinsicht naturgegeben, sondern stets gesellschaftlich gerahmt. Welche »Heterogenitäten« als Ungleichheiten gesehen werden, ist sozial konstruiert (Diewald/Faist 2011). Das gilt selbst für Unterschiede der Körperkraft oder der Intelligenz: Was sie bedeuten und ob sie überhaupt etwas Nennenswertes ausmachen, hängt davon ab, wie sie gesellschaftlich bewertet und behandelt werden. So war Körperkraft in vielen sehr einfachen Gesellschaften eine Hauptquelle persönlicher Macht, während heutzutage der mächtigste Mensch der Welt – wofür von Vielen der amerikanische Präsident gehalten wird – körperlich ein völliger Schwächling sein könnte. Eine entscheidende Weichenstellung bei der Konzeption der ungleichheitstheoretischen Perspektive besteht somit darin, welche der vielen Unterschiede zwischen Menschen überhaupt als Besser- und Schlechterstellungen angesehen werden. Hier lassen sich zwei grundlegende Ungleichheitsdimensionen unterscheiden: zum einen Ungleichheiten unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, zum anderen Ungleichheiten gesellschaftlicher Einfluss77
potentiale.30 Unterschiede unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung – Ungleichheiten hinsichtlich der »[…] für das Wohlbefinden relevanten Bedürfnisse […]« (Diewald/Faist 2011: 98, Hervorheb. weggel.) entsprechend der je persönlichen Lebensziele – können sich heutzutage etwa aus den Konsumgütern, die sich jemand leisten kann, aus der Lage und Größe seiner Wohnung, aus der ihm gebotenen medizinischen Versorgung und aus dem von ihm nutzbaren Freizeit- und Kulturangebot, weiterhin auch aus der sozialen Zuwendung im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis, den ihm gebotenen Gemeinschaftserlebnissen in der Kirchengemeinde oder im Sportstadion, der Anerkennung im Berufsleben oder den ihm zugänglichen sexuellen Erlebnissen ergeben. Letztlich geht es Menschen um die Befriedigung von Bedürfnissen dieser Art. Doch um sich möglichst gute – oft knappe – Chancen solcher Bedürfnisbefriedigung zu verschaffen, zu sichern und auszubauen, sind Einflusspotentiale wichtig, die ebenfalls ungleich verteilt sein können. Auch von ihnen gibt es eine ganze Reihe; eine unvollständige Auflistung umfasst Macht, Gewalt, Geld, moralische Appelle, Wahrheit, Liebe, persönliches Charisma und soziale Netzwerke im Sinne »guter Beziehungen« (Schimank 2000: 247-258). Jedes dieser Einflusspotentiale gibt jemandem die Chance, den Handlungsspielraum anderer einzuschränken, also auf deren Seite ein bestimmtes Handeln einschließlich Unterlassen mehr oder weniger wahrscheinlich zu machen. Und generell gilt: Je besser jemandes Einflusspotentiale sind, desto besser sind seine Möglichkeiten, die eigenen Chancen der Bedürfnisbefriedigung und darüber die eigene Bedürfnisbefriedigung zu verbessern. Platt gesagt, und gleich noch genauer Behandeltes vorwegnehmend: Reichtum macht, bei gleicher Bedürfnisausprägung, glücklicher – jedenfalls soweit sich Bedürfnisbefriedigung kaufen lässt. Lebenslagen von Personen lassen sich also gesellschaftstheoretisch nach gesellschaftsstrukturell präformierten Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung und nach ebenso strukturell präformierten Einflusspotentialen ausbuchstabieren.31 Der Blick auf Bedürfnisbefriedigung akzentuiert die distributive Seite sozialer Ungleichheit: Wer lebt wie gut oder schlecht mit seinem Anteil am insgesamt zu verteilenden Kuchen? Demgegenüber lenkt der Blick auf Einflusspotentiale das Augenmerk auf die relationale 78
Seite sozialer Ungleichheit: Wer hat bei der Verteilung des Kuchens, auf welche Weise auch immer, die Oberhand über wen? Auch wenn beide Seiten, wie noch deutlich werden wird, aufs engste zusammenhängen, ist klar, dass Einflusspotentiale letzten Endes Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung sind,32 die distributive also der relationalen Seite übergeordnet ist. Verschafft man sich nun vor diesem theoretischen Hintergrund einen Überblick darüber, welche Ungleichheitsaspekte gesellschaftlich für wichtig genommen und entsprechend in der empirischen Forschung in den Blick genommen werden, kommt man etwa auf folgende Liste:33 – Geldbesitz: Dies setzt sich außer aus Arbeitseinkommen auch aus sonstigem regelmäßigen Einkommen, etwa als Wohnungsvermieter oder Kleinanleger, aus Erbschaften sowie aus angespartem Geld- oder Sachvermögen zusammen. – Eigentum an Produktionsmitteln: Dies wurde bekanntlich von Karl Marx als zentraler Ungleichheitsaspekt im Kapitalismus ausgemacht. Gemeint ist Kapitalbesitz in einem Umfang, der unternehmerisches Handeln, insbesondere den Kauf von Arbeitskraft, ermöglicht. Die Spanne reicht vom Großunternehmer bis zum Besitzer einer Imbissbude, der eine Angestellte hat. – Macht: Sie ist zum einen in Gestalt organisatorischer Positionen mit entsprechenden Anordnungsbefugnissen – z.B. als Manager oder, in geringerem Maß, als Vorarbeiter – sowie durch gesetzliche Regelungen, die etwa die Rechte der Konsumenten oder Wähler festlegen, formal institutionalisiert; zum anderen gibt es über formale Regelungen hinausreichende faktische gesellschaftliche Machtpositionen in Gestalt stabiler Hegemonien – siehe etwa die Stellung der Weißen gegenüber den Schwarzen in den Südstaaten der USA oder das »Patriarchat« in vielen Familien. – Selbstbestimmtheit der Arbeit: Wer als Nichteigentümer von Produktionsmitteln seine Arbeitskraft verkaufen muss, kann in seinem Arbeitsvollzug starker externer Kontrolle, insbesondere durch Vorgesetzte in Organisationshierarchien, unterliegen oder auch umgekehrt – wie etwa Ärzte oder Professoren – große Freiräume genießen. 79
– Bildung: Bildungszertifikate regeln, welche Berufe man ausüben darf, und bestimmen auf diesem Weg stark mit, welches Arbeitseinkommen man erzielt, wie selbstbestimmt man arbeitet und wie viel Organisationsmacht man ausüben kann. Zudem trägt Bildung zum Sozialprestige bei, das eine Person genießt. – Soziales Kapital: Dies sind die »Beziehungen«, die eine Person zu mobilisieren vermag – etwa, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. – Mentalität: Sie manifestiert sich u.a. in »[…] Lebensduktus […], Lebenshaltung, Gewohnheiten des Konsums und der sonstigen Lebensgestaltung, Freizeitverwendung, Lesegeschmack, Formen des Familienlebens und der Geselligkeit […]« (Geiger 1932: 80) sowie politischen und ideologischen Einstellungen. Inzwischen spricht man von Lebensstilen und entsprechend homogenen sozialen Milieus (Rössel/Otte 2011). – Prestige: In der Moderne ist vor allem Berufsprestige wichtig. Es wird, unterfüttert durch »kulturelles Kapital«, wie es außer in der Herkunftsfamilie in Bildungsgängen erworben wird, durch die »feinen Unterschiede« (Bourdieu 1979) standesgemäßer Lebensweise zum Ausdruck gebracht. So genießt z.B. ein Arzt ein höheres gesellschaftliches Ansehen als seine Sprechstundenhelferin, bewegt sich in »besseren Kreisen« und besucht Restaurants, in denen sie komisch angeschaut werden würde. – Geschlecht: Hier geht es um Privilegien vielerlei Art, die traditionell Männern zukamen und, wiewohl in geringerem Maße als früher, oftmals noch immer faktisch zukommen – von Arbeitsmarkt- und Karrierechancen über Entscheidungsrechte als Familienvorstand, Zugang zu Bildungseinrichtungen oder Sportarten bis zum politischen Wahlrecht. – Ethnie: Hautfarbe und andere Körpermerkmale laden als leicht sichtbare äußere Signale – wie Geschlecht – schnell zur Diskriminierung und Abwertung ein, wenn es um die Verteilung knapper Privilegien und die Markierung von Sündenböcken geht. – Region: Im nationalen Maßstab gibt es in vielen Ländern wirtschaftlich prosperierende Zentren wie München mitsamt seinem Umland und wirtschaftsschwache Gebiete wie den Bayerischen Wald. Dies schlägt sich nicht nur in Arbeitsmarktchan80
cen, sondern auch etwa in der Qualität der medizinischen Versorgung oder dem Kulturangebot nieder. Weit dramatischere regionale Ungleichheiten tun sich im Weltmaßstab zwischen sogenannter »Erster« und »Dritter Welt« auf. – Generation: Bestimmte Geburtsjahrgänge können von singulären historischen Ereignissen mit zentralen Bevorteilungs- bzw. Benachteiligungswirkungen betroffen sein – z.B. als heiratsfähige Frauen kurz nach 2. Weltkrieg, die mit einer Männerknappheit auf dem Heiratsmarkt konfrontiert waren. – Lebensalter: Dieser Ungleichheitsaspekt ist im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich in den Hintergrund getreten. So haben die Alten nicht länger automatisch bestimmte Machtpositionen inne, und ihnen kommt auch kein höheres Prestige zu. Dennoch darf man auch heute z.B. erst ab einem bestimmten Alter wählen oder wird – bislang noch – mit einem bestimmten Alter zwangsverrentet. – Soziale Herkunft: In diesem Ungleichheitsaspekt vermitteln sich viele der bisher aufgeführten Aspekte intergenerationell. Eltern zu haben, die etwa hinsichtlich ihres Einkommens, ihrer beruflichen Stellung, ihrer Bildung oder der Region, in der sie leben, zu den Schlechtergestellten gehören, bedeutet eine gewisse Prädestination, auch selbst als Erwachsener ähnlich schlecht gestellt zu leben – und umgekehrt ergeht es Kindern von Bessergestellten. An dieser Liste fällt erstens auf, dass von den beiden Ungleichheitsdimensionen vorrangig Einflusspotentiale angesprochen werden, unmittelbare Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung hingegen allenfalls mitgemeint sind. Dahinter steht die durchaus plausible Kausalvorstellung, dass Größe und Art des Einflusspotentials einer Person entscheidend dafür sind, wie sich ihr Möglichkeitsraum unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung darstellt. Weiterhin dürfte die analytische Konzentration auf Einflusspotentiale aber auch damit zu tun haben, dass persönliche Bedürfnisse in ihrer Ausprägung und Priorität gerade in einer individualisierten Gesellschaft sehr idiosynkratisch ausfallen. Allerdings hat seit den 1960er Jahren die »Sozialindikatorenforschung« begonnen, diese zweite Ungleichheitsdimension flächendeckend empirisch zu erfassen.34 Inzwischen weiß man durchaus Einiges darüber, wie 81
sich etwa die Ungleichheit medizinischer Versorgung (Wippermann et al. 2011) oder sportlicher Betätigung (Cachay/Thiel 2008) darstellt und von welchen Einflusspotentialen dies abhängt. Zweitens fällt auf, dass der präsentierten Liste von Ungleichheitsaspekten – die womöglich immer noch nicht vollständig ist – keine erkennbare durchgängige Systematik unterliegt. Man könnte versuchen, zumindest partiell systematischer zu sortieren, etwa nach zugeschriebenen oder erworbenen oder nach den sogenannten »vertikalen« oder »horizontalen« Ungleichheiten, wobei beide Unterscheidungen sich bei näherem Hinsehen als unscharf erweisen. Wie erworben ist z.B. das Sozialprestige oder das Einkommensniveau, wenn beides durch soziale Herkunft geradezu »vererbt« sein kann? Und ist »horizontale« Ungleichheit nicht ein Widerspruch in sich, wenn es doch stets um das »Oben« und »Unten« sozialer Lagen geht? Auch Lebensstile stehen ja nicht gleichberechtigt »horizontal« nebeneinander, sondern sind mit höherem oder geringerem Prestige assoziiert. Auch weitere Systematisierungsbemühungen stoßen bald an gegenstandsimmanente Grenzen. Denn die fehlende Systematik der vorliegenden Liste spiegelt den Tatbestand wider, dass die gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen sozusagen nicht »aus einem Guss« sind, sondern sich in ihnen einander überlagernde gesellschaftliche Erfordernisse, Interessen und Kräfteverhältnisse niederschlagen. Dies muss Gesellschaftstheorie erst einmal konstatieren und darf es gerade nicht aus Gründen theoretischer Windschnittigkeit oder politisch-missionarisch benebelt – siehe etwa das gleich zur Sprache kommende Zwei-Klassen-Modell der kapitalistischen Gesellschaft von Marx – simplifizieren. Einen Schritt weiter kann man dennoch gelangen und damit das Bild der modernen Gesellschaft, das die ungleichheitstheoretische Perspektive zeichnet, um ein entscheidendes Moment prägnanter zeichnen, wenn man die Frage nach der relativen Bedeutsamkeit der verschiedenen Ungleichheitsaspekte aufwirft. Wohl niemand würde behaupten, dass sie alle die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder gleich stark prägen. Geht man Varianten der ungleichheitstheoretischen Perspektive durch, findet man durchgängig mehr oder weniger selektive Hervorhebungen bestimmter Aspekte und Kombinationen von Aspekten vor. Um nur exemplarisch einige Positionen anzuführen: 82
– Am einseitigsten ist diesbezüglich, wie gerade erwähnt, Marx, für den letztlich nur der Besitz bzw. Nichtbesitz von Produktionsmitteln zählt. Zwar kennt er in seinen zeithistorischen Betrachtungen durchaus mehr Ungleichheitsaspekte; doch seine allgemeine Theorie der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Entwicklungsdynamik spitzt alles auf den Antagonismus von Kapitalisten und Arbeitern zu. – Weber (1922: 177-180) sieht Klasse und Stand als gleichrangige Ungleichheitsaspekte, wobei er unter »ständischer Lebenslage« eine Kombination von Sozialprestige und Lebensstil fasst. – Die Perspektiven von Marx und Weber weiter entwickelnde Klassentheorien wie die von John Goldthorpe (1980) beziehen neben dem Besitz/Nichtbesitz von Produktionsmitteln als zweite Dimension die Selbstbestimmtheit der Arbeit mit ein (Breen 2002). – Die Schichtungsforschung arbeitet seit Theodor Geiger (1932) mit einer eher additiven und, je nach Datenlage, unterschiedlich operationalisierten Kombination von Einkommen, Selbstbestimmtheit der Arbeit, Macht und Berufsprestige. – Pierre Bourdieus (1983) Konzept sozialer Ungleichheit unterscheidet »ökonomisches«, »kulturelles« und »soziales Kapital«. Ersteres fasst Einkommenshöhe und den Besitz/Nichtbesitz an Produktionsmitteln zusammen, Letzteres die Netzwerke, die einer Person zur Verfügung stehen. Das »kulturelle Kapital« wiederum umfasst zum einen Bildungszertifikate, zum anderen die durch soziale Herkunft vermittelten Mentalitäten und Lebensstile. – Als »Intersektionalität« (Knapp 2005; Müller 2011; Weischer 2011: 415-427) wird eine ungleichheitstheoretische Perspektive bezeichnet, die das nicht bloß additive Zusammenwirken multipler Ungleichheitsaspekte akzentuiert und insbesondere das Syndrom aus »class, gender, race« (Weischer 2011: 427, Hervorheb. weggel.) als zentrale Ungleichheitsaspekte der Moderne ansieht. – Gerhard Schulze (1992) schließlich sieht Alter – oder ist Generation gemeint? – in Kombination mit Bildung als Determinanten der von ihm identifizierten Milieus der »Erlebnisgesellschaft« an.
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Auch wenn dies nur eine Auswahl der Positionen ist, deutet sich daran zum einen an, dass bestimmte Ungleichheitsaspekte wie etwa Region in keiner der Positionen hervorgehoben werden und etliche andere nur in wenige Betrachtungsweisen eingehen. Zum anderen werden umgekehrt einige Aspekte mehrfach aufgegriffen – am häufigsten Klasse, Einkommen, Selbstbestimmtheit der Arbeit und Bildung. Hieran anschließend werde ich nun die ungleichheitstheoretische Perspektive, über den derzeitigen Mainstream hinausgehend, in dem Sinne zuspitzen, dass ich für die Moderne als kapitalistische Gesellschaft (Kap. II.2) eine Dominanz marktvermittelter Ungleichheiten herausarbeite.
2. Erwerbseinkommen als dominante Ungleichheit Um die Dominanz marktvermittelter Ungleichheiten in der Moderne zu begreifen, muss man einen – hier notgedrungen nur extrem kurzen – Blick zurück auf die mittelalterliche Ständegesellschaft werfen (Wehler 1987: 133-139; Weischer 2011: 303312). Die ursprünglichen drei Stände der politischen Herrscher, des Klerus und der Bauern – bereits lange zuvor von Platon als »Wehr-«, »Lehr-« und »Nährstand« anschaulich gefasst – bildeten, noch überformt durch die Unterscheidung von Adel mit entsprechenden Herrschaftsrechten und Nicht-Adel, was zur Unterwerfung unter Herrscher verpflichtete, eine gesellschaftliche Ordnung, in der die soziale Herkunft festlegte, welchem Stand man lebenslang angehörte – wodurch auch bereits der Stand der folgenden Generationen, im Prinzip ad infinitum, bestimmt war. Es gab zwar soziale Mobilität, aber eben fast nur innerhalb der Stände.35 Zwischen Herrschern auf der einen und dem zahlenmäßig weit überwiegenden beherrschten »dritten Stand« auf der anderen Seite bestand folgende generalisierte bindende Vereinbarung: Die Beherrschten waren den Herrschern politisch, rechtlich und religiös unterworfen und schuldeten ihnen in ökonomischer Hinsicht Abgaben und Arbeitsleistung sowie in militärischer Hinsicht Gefolgschaft; die Gegenleistung der Herrscher bestand im Schutz vor der Gewalt anderer Herrscher und in der Regelung von Konflikten zwischen den Beherrschten, also im äußeren und inneren 84
Frieden, sowie in der religiösen Vermittlung von Seelenfrieden. Die gesellschaftliche Ordnung der Ständegesellschaft war also primär eine durch gewaltgestützte Macht getragene Herrschaftsordnung – was auch heißt, dass die soziale Ungleichheit unmittelbar durch Herrschaft gesichert wurde. Stellt man dem die Ungleichheitsordnung der modernen Gesellschaft gegenüber, wird deutlich: Der primäre unter den vielen oben aufgeführten Ungleichheitsaspekten ist Geldbesitz. Niemandem kommt mehr Macht per Geburt zu, ebensowenig wie jemandem per Geburt Machtunterwerfung auferlegt ist. Jemandes gesellschaftliche Besser- oder Schlechterstellung wird vielmehr dadurch bestimmt, wie viel Geld er besitzt und durch kontinuierliche Erwerbstätigkeit verdient (Kreckel 1992; Diewald/Faist 2011: 98). Für die überwältigende Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder hängt dies von ihrem auf dem Arbeitsmarkt erzielten Einkommen ab. Sie verkaufen in der »Lohnarbeitsgesellschaft« (Castel 1995) die Ware Arbeitskraft. Ihnen gegenüber steht eine kleine Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern, die genügend Kapitalvermögen besitzen, um es als Unternehmer einzusetzen und – unter Nutzung gekaufter Arbeitskraft – auf dem Güter- oder auf dem Kapitalmarkt, also durch Investitionen in der »Realwirtschaft« oder auf dem Finanzmarkt, zu vermehren. Diese beiden Gruppen von Erwerbstätigen sind, Marx folgend, die Lohnabhängigen auf der einen, die Unternehmer auf der anderen Seite. Anders als Marx das gesehen hat, liegt aber die Scheidelinie sozialer Ungleichheit nicht im Gegeneinander beider Gruppen, sondern in der Höhe des auf eine der beiden Weisen erzielten Geldbesitzes. Beispielhaft verdeutlicht: Der angestellte Topmanager eines Großkonzerns ist finanziell weitaus besser gestellt als der Besitzer einer Imbissbude, der es diesbezüglich – von der Sicherheit des Arbeitsplatzes ganz abgesehen – nicht einmal mit einem mittleren Beamten in der Stadtverwaltung aufnehmen kann. Ob man Arbeitskraft- oder Kapitalbesitzer ist, besagt also für sich überhaupt nichts darüber, wo man, distributiv betrachtet, in der gesellschaftlichen Ungleichheitsordnung steht. Beide Arten von Marktbezügen stellen vielmehr funktionale Äquivalente des Zugangs zu Geldbesitz dar – und welcher Weg der lukrativere ist, ist nicht prädestiniert. Beide Wege sind aber, wie dargestellt, marktvermittelt und be85
ruhen nicht mehr auf der Abpressung von Arbeitsleistung und Arbeitsprodukten im Rahmen von Herrschaftsverhältnissen. Der Weg des unternehmerischen Erwerbs von Geldbesitz war schon lange vor der Moderne gebahnt, als das städtische Bürgertum entstand – von kleinen Handwerkern bis zu Großbankiers. Es überwand die Subsistenzproduktion der Bauern und Grundherren, in der allenfalls hier und da – wie in einer Sklavenhalterwirtschaft – Herrscher durch Zwang Gewinne erwirtschafteten. Der in den Städten konzentrierte Handels- und Finanzkapitalismus brachte schon in der Vormoderne Geldbesitz als einen die geburtsständischen Herrschaftsbefugnisse herausfordernden Ungleichheitsaspekt hervor. Insbesondere an der Entstehung der Arbeiterschaft ist historisch nachgezeichnet, wie sich der Verkauf von Lohnarbeit als anderer Weg zum Geldbesitz herausgebildet hat. So unterschiedliche soziale Gruppen wie Landarbeiter, Heimgewerbetreibende, städtische Dienstboten und Handwerksgesellen, auch verarmte Handwerksmeister waren die Rekrutierungsbasis der ersten Manufakturen und Fabriken, wo im Zuge der Industrialisierung die Lohnarbeit als wirtschaftliche Grundlage der Lebensführung durchgesetzt wurde (Wehler 1987: 133-202; Castel 1995: 98-191). Dahinter stand vor allem die Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft, die viele bis dahin benötigte Arbeitskräfte freisetzte (Appleby 2011: 94-123), verbunden mit der Wegnahme der Allmenden, wodurch Kleinbauern eine wichtige Grundlage der Subsistenzproduktion entzogen wurde – siehe die von Marx (1867: 741791) geschilderte »ursprüngliche Akkumulation«. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vollzog sich die Transformation menschlicher Arbeitskraft in die »fiktive Ware« Arbeit (Polanyi 1944: 102-112) – »fiktiv« deshalb, weil Arbeit, anders als sonstige Waren, nicht zum Zwecke des Verkaufs produziert, aber dennoch nun als verkäufliche Ware gehandelt wird. So bildete sich dann die »Lohnarbeitsgesellschaft« heraus, in der nach den Arbeitern auch die wachsenden Gruppen der Angestellten und staatlichen Beamten, bis hin zu Spitzenmanagern und Regierungschefs, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen. Genau das haben ein Hilfsarbeiter und der Chef der Deutschen Bank gemeinsam. Ebenfalls marktvermittelt sind die Lebenslagen weiterer Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern, deren Lebensunterhalt von der 86
direkten Versorgung durch Erwerbstätige oder von Versicherungen abhängt:36 – Dies gilt erstens für diejenigen Ehe- oder Lebenspartnerinnen, die selbst kein Geld verdienen, sondern von Unternehmern oder Arbeitnehmern mitversorgt werden. Unbezahlte Haushalts-, Beziehungs- und Erziehungsarbeit – marxistisch auf die Formel der »Reproduktion der Arbeitskraft« gebracht – im Austausch gegen finanzielle Versorgung war im Geschlechterverhältnis der Moderne typischerweise der Frau zugedacht, in deren Lebenslage sich somit »[…] keine eigenständige Vergesellschaftung, sondern eine von der reproduzierten Arbeitskraft abhängige Vergesellschaftung« abbildete (Kohlmorgen 2004: 42, Hervorheb. weggel.). Entsprechend stellte und stellt sich bis heute Geschlecht als ein dem durch Unternehmertum oder Lohnarbeit erworbenen Geldbesitz nachgeordneter Ungleichheitsaspekt dar. – Zweitens gehören Kinder – als noch nicht Erwerbstätige – zu den indirekt marktvermittelt Besser- oder Schlechtergestellten. Sie teilen die soziale Lage des erwerbstätigen Elternteils. – Drittens gibt es die nicht mehr Erwerbstätigen, also diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die erwerbstätig waren und deren finanzielle Versorgung nun als Rentner über Versicherungsbeiträge oder über eigene Kapitalmarkterträge erfolgt, wobei das Renteneinkommen stark vom vorherigen Erwerbseinkommen abhängt, also die soziale Lage, wenn es gut läuft, erhalten werden kann, und sich sonst verschlechtert. – Viertens sind nicht Erwerbstätige in Gestalt von Arbeitslosen zu nennen, die zeitweise durch die Arbeitslosenversicherung finanziert werden. Während die Rentenversicherung noch nach dem Umlageprinzip funktioniert, demzufolge die jeweils erwerbstätige Generation die Rente für die Älteren bezahlt, ist die Arbeitslosenversicherung so angelegt, dass viele Menschen entsprechend ihrem Erwerbseinkommen zahlen, damit vergleichsweise Wenige, bei denen der »Schadensfall« eintritt, unterstützt werden können.37 Insgesamt zeigt sich also, dass die große Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder in der Moderne direkt oder indirekt marktver87
mittelten Ungleichheiten unterliegt. Auf die eine oder andere Weise hängt ihr Lebensunterhalt an Erwerbstätigkeit. Der Markt – ob nun der Arbeits-, der Güter- oder der Finanzmarkt – konstituiert als Governance-Mechanismus, anders als die Ständegesellschaft, kein Herrschaftsverhältnis, weil die von ihm erzeugte Ungleichheit der sozialen Lagen nicht aus politisch-militärischer oder organisatorischer Machtstellung herrührt, sondern aus den Positionen, die verschiedene Marktteilnehmer in der jeweiligen Konstellation von Anbietern und Nachfragern einnehmen. Wie viel Geld jemand für sich aus seiner Marktposition herauszuholen vermag und welche Besser- oder Schlechterstellung im gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge daraus hervorgeht, hängt – um nur den häufigsten Fall anzusprechen – daran, wie wichtig seine Arbeitskraft wie vielen konkurrierenden Nachfragern ist und wie viel Lohn sie ihm dafür zu zahlen bereit sind. Anders gesagt: Die Reichen beherrschen die Armen nicht, sondern haben größeren Markterfolg als diese – was über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit marktvermittelter Ungleichheiten überhaupt nichts besagt, sehr wohl aber den fundamentalen Unterschied ihres Zustandekommens gegenüber Feudalismus oder gar Sklaverei festhält. Wie auch Marx nicht müde wurde zu betonen: Auf dem Arbeitsmarkt ist der Arbeitskraftanbieter völlig frei, welchen Arbeitsvertrag er von den ihm angebotenen Alternativen eingeht. Dass er sich freilich auf den Arbeitsmarkt begeben muss, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und dass die verfügbaren Arbeitsplatzangebote längst nicht immer seinen Wünschen entsprechen, steht auf einem anderen Blatt – hat aber eben mit Herrschaft nichts zu tun.38 Die Nutzung der »fiktiven Ware« Arbeit ist zunächst eine konstitutive Komponente einer ausdifferenzierten kapitalistischen Wirtschaft; Unternehmen als Leistungsorganisationen der Wirtschaft sind in diesem Sinne stets Arbeitsorganisationen. Doch dieser Organisationstyp findet sich dann sehr schnell genauso in allen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Auch Krankenhäuser oder Schulen, staatliche Behörden oder Museen beruhen auf Lohnarbeit und tragen so dazu bei, dass der zentrale Ungleichheitsaspekt der Moderne die Höhe des Erwerbseinkommens ist.
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3. Ef fekte auf Lebenschancen und gesellschaftliche Sozialintegration Wendet man sich nun der zweiten Leitfrage nach den Effekten sozialer Ungleichheit zu, ist schnell einsichtig, dass sich die Position einer Person im gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge auf das gesamte Spektrum ihrer Lebenschancen durchschlägt. Hierzu sei nochmals auf die bereits angesprochene »Sozialindikatorenforschung« verwiesen, die reichhaltige empirische Befunde dazu zusammengestellt hat, auf welche Optionen und Ligaturen einer Person sich ihre relative Besser- oder Schlechterstellung wie auswirkt (weiterhin: Geißler 1994a). Da es vorrangig genau diese Effekte auf Lebenschancen sind, die Ungleichheit zu einem Dauerthema gesellschaftlicher Debatten und soziologischer Forschung machen, wird oft im gleichen Atemzug mit der Beschreibung einer bestimmten Ungleichheitsstruktur und der darin verorteten sozialen Lage bestimmter Personen auf die Vor- oder Nachteile für bestimmte Lebenschancen eingegangen. Anstatt zahllose in der Literatur leicht zugängliche und oftmals auch ohne großen Theorieaufwand auf der Hand liegende Wirkungszusammenhänge aufzulisten, will ich noch etwas genauer betrachten, was es bedeutet, von einer Dominanz der gerade erläuterten marktvermittelten Ungleichheiten in der Moderne zu sprechen. Diese Dominanz besagt ja, dass die Menge des Geldes, die jemandem dauerhaft zur Verfügung steht, dessen Lebenschancen in allen gesellschaftlichen Teilsystemen nachhaltig, oft sogar stärker als alle anderen Ungleichheitsaspekte prägt – teils direkt, teils über Wirkungsketten. Wie es Erik Olin Wright (2002: 21, 22, Hervorheb. weggel.) bündig zusammenfasst: »What you have determines what you get.« Oder noch kürzer: »class counts«.39 Man muss dies explizit betonen, weil die Ungleichheitsforschung eine Zeitlang andere Ungleichheitsaspekte – etwa Geschlecht oder Ethnie oder Lebensstile – sehr in den Vordergrund gerückt hat. Aber – um es beispielhaft mit Blick auf Migranten zu sagen: Es ist nicht »[…] der nette Anwalt von nebenan, der in Teheran geboren wurde […]«, oder der »Zahnarzt aus Afghanistan«, der als Migrant von der deutschen Bevölkerung hart ausgegrenzt wird, sondern es sind arbeitslose »muslimische Jugendliche« aus dem Sozialhilfemilieu, denen sofort zugetraut wird, dass sie »[…] 89
nachts unsere Autoreifen kaputt stechen […]«, was sie aber nicht von deutschen Jugendlichen mit gleicher Herkunft unterscheidet (Niejahr 2012). Zuallererst Armut und nicht Hautfarbe oder Religion bestimmt die Lebenschancen dieser Jugendlichen – nicht zuletzt die soziale Anerkennung, die ihnen nicht gewährt wird. Sehr deutlich ist diese überragende Bedeutung des Geldbesitzes bei allen Konsumaktivitäten, die sich nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf konsumabhängige Aspekte der Lebensführung in den Publikumsrollen der meisten anderen gesellschaftlichen Teilsysteme erstrecken – etwa den Besuch von Konzerten oder Sportveranstaltungen oder die Fernreise zur Wiederauffrischung einer Intimbeziehung. Dass Geldbesitz erst jenseits eines bestimmten Schwellenwerts im Sinne Georg Simmels (1900: 274-277) »Vermögen« ist, also disponible Optionen, auch in Stilfragen, eröffnet und nicht bloß – wie Bourdieu (1979: 585619 – Zitat: 587) es nennt – den »Geschmack am Notwendigen« trägt, ist hier besonders hervorzuheben (Deutschmann 1999: 2022). Vergleichsweise wenig geldabhängig ist nur der Fernsehkonsum. Neben dem Konsum sind die Bildungschancen in erheblichem Maße vom Geldbesitz abhängig, wie sich – auch in Ländern ohne Schulgeld und Studiengebühren – gerade heute wieder zeigt: Mittel- und Oberschichteltern investieren erhebliches Geld, um ihren Kindern angesichts der erwarteten verschärften Konkurrenz auf dem künftigen Arbeitsmarkt durch Privatschulen, Nachhilfeunterricht und andere Maßnahmen möglichst gute Startchancen zu bieten (Bude 2011; Mau 2012: 159-162). Erst recht gilt diese Geldabhängigkeit der Bildungschancen, wenn »gute« Schulen und vor allem das Studium, insbesondere an renommierten Hochschulen, wie etwa in den USA erhebliches Geld kosten. In Zeiten »lebenslangen Lernens« sind auch die Kosten, die durch immer wieder fällige Weiterbildungen anfallen, verstärkt in Rechnung zu stellen. Wer sich Weiterbildung nicht leisten kann, verliert auf der Karriereleiter bald den Anschluss. Geldabhängig sind weiterhin – insbesondere für Männer – die Chancen auf dem Heirats- und Partnermarkt (Klein 2005: 173-182; Mau 2012: 148-153). Früher durften arme Männer überhaupt nicht heiraten. Heute gilt nach wie vor, dass für Männer kaum Frauen mit höherem Einkommen oder Vermögen als Partnerinnen in 90
Frage kommen. Zudem – und das betrifft beide Geschlechter – gilt hinsichtlich des Scheidungsrisikos, dass »[…] Beziehungen von armen Menschen besonders häufig […]« scheitern (Niejahr 2012). Durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen – Näheres noch später – wurde versucht, einige Aspekte der Lebensführung gezielt so zu regeln, dass Geldbesitz keine oder keine so große Rolle mehr für die betreffenden Lebenschancen spielt. Auch für die schon angesprochene Bildung wird »Chancengleichheit« proklamiert, aber eben nur in geringem Maße erreicht. Weniger geldabhängig ist demgegenüber bislang noch – zumindest in Deutschland – die gesundheitliche Versorgung, jedenfalls auf einem relativ hohen Standard der Grundversorgung. Der Ökonomisierungsdruck der letzten Jahrzehnte hat freilich auch hier bereits spürbare Folgen gezeigt. Chancen, als Kläger oder Angeklagter vor Gericht Recht zu bekommen, sollen unabhängig vom Geldbeutel sein – doch wer sich einen teuren Rechtsanwalt leisten kann, hat bessere Chancen. Politische Partizipation ist, was das aktive Wahlrecht anbelangt, nach Abschaffung von Regelungen wie denen des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts mit nach Geldbesitz gewichteten Stimmen nicht länger geldabhängig; sobald es freilich um finanzaufwendigere Formen intensiveren politischen Engagements, etwa Lobbying oder Kampagnen, geht, haben von Wohlhabenden getragene Organisationen mehr Möglichkeiten, Einfluss geltend zu machen – ganz abgesehen von besseren Kontakten zu Politikern. Ohne diese Andeutungen hier detaillieren und aufsummieren zu können, sollte klar sein, dass die Höhe des Geldbesitzes auf vielfache Weise die gesellschaftliche Besser- oder Schlechterstellung einer Person bestimmt. Niklas Luhmann (2000: 242-244) weist noch darauf hin, dass neben der Familie und, wo es sie gibt, staatlicher Armenhilfe nur noch die Kirchen für – letztlich aufgrund von Armut – aus allen anderen Teilsystemen exkludierte Menschen da sind. Der weltweit gar nicht so seltene und auch in den reichen Ländern vorkommende Extremfall des Null- oder Nahezu-Null-Geldbesitzes ist also auf ganz wenige gesellschaftliche Anlaufstellen zurückgeworfen – andersherum heißt das: Überall sonst wird vorausgesetzt, dass man dauerhaft über eine jenseits der Armutsgrenze liegende Geldsumme verfügt.40 In erster Linie Geldbesitz, damit zusammenhängend soziales Kapital sowie Bildung der Herkunftsfamilie sind die drei eng zu91
sammenwirkenden Ungleichheitsaspekte, die stark auf eine intergenerationelle Reproduktion sozialer Lagen und der damit einhergehenden Lebenschancen hinwirken. Thomas Schwinn (2004: 21) resümiert, etwas zugespitzt: »Frühe Sozialisationserfahrungen und das Ressourcenprofil der Familie im ersten Lebensjahrzehnt prägen die sich anschließende Bildungskarriere bis ins dritte Lebensjahrzehnt, und diese wiederum strukturiert in erheblichem Maße die sozioökonomischen Selektionsprozesse auf dem Arbeitsmarkt für weitere Jahrzehnte bis in die Lebensbedingungen des Alters hinein.« Bildung ist gleichsam der Mechanismus, der den Geldbesitz der Eltern in den Geldbesitz der Kinder transformiert und so die Dominanz dieses Ungleichheitsaspekts gerade nicht meritokratisch – so die Ideologie – relativiert, sondern weiter befestigt. Betrachtet man nun die gesellschaftliche Sozialintegration, so ist zunächst festzuhalten, dass als ungerecht erlebte soziale Ungleichheiten auch schon vor Jahrtausenden immer wieder für Aufruhr gesorgt haben. In der Moderne erhalten Ungleichheiten aber eine ganz andere Brisanz. Denn zu den prägenden Kulturmustern der Moderne zählt das Gleichheitspostulat. In allen vormodernen Gesellschaften gab es als legitim angesehene natur- oder gottgegebene große Ungleichheiten wie etwa die Ungleichheit der Stände in der mittelalterlichen Gesellschaft. Der Adel durfte sich zwar nicht alles erlauben, die Bauern ließen sich nicht alles gefallen – aber dass es den Adel als höheren Stand gab und dass derjenige, der in ihn hinein geboren worden war, viele Privilegien genoss, die einem Bauern nicht zustanden, war allseitiger Konsens. In der modernen Gesellschaft hingegen spitzt sich das in der Ungleichheit sozialer Lagen strukturell angelegte Konfliktpotential dadurch erheblich zu, dass sich kulturell die Gleichheit der Lebenschancen als generelles normatives Leitprinzip – auch politischer Gesellschaftsgestaltung – institutionalisiert hat (Parsons 1970). Reinhard Kreckel (1992: 49) konstatiert: »Das Gleichheitspostulat hat den letzten Erdenwinkel erreicht und den letzten Barbaren zum Mitmenschen gemacht.« Dass andere besser dastehen als man selbst, kann daher schnell als ungerecht erfahren werden und entsprechendes Aufbegehren hervorrufen. Die einzige Antwort, die in der Moderne noch überzeugt, lautet: Die Besserstellung einer Person gegenüber anderen ist das Resultat höherer 92
Leistung – und zwar bei anfänglicher Chancengleichheit. Hierbei wird vorrangig auf Leistung im Erwerbsleben – und zuvor: in der Bildungslaufbahn – geschaut. Nur als »Leistungsgesellschaft« kann sich eine Gesellschaft der marktvermittelten Ungleichheiten legitimieren. Dieser meritokratischen Legitimationsformel ist aber eine hohe Beweislast aufgebürdet (Offe 1970). Regelmäßig werden Zweifel laut, die sich erstens auf den Leistungsvergleich erstrecken: Was sind überhaupt Maßstäbe besserer oder schlechterer Leistung – insbesondere, wenn man nicht z.B. zwei Professoren miteinander vergleicht, sondern eine Professorin und einen Putzmann? Waren die Bedingungen der Leistungserbringung und die Ausgangsbedingungen gleich oder hatte im Prozess der Leistungserbringung einer Startvorteile oder begünstigende Umstände? Letztlich müsste so etwas stets auf einen Totalvergleich zweier Lebensläufe hinauslaufen, was natürlich nicht praktikabel ist und, selbst wenn man es versuchte, ewig strittig bliebe. Und es geht ja bei sozialer Ungleichheit nicht nur um zwei Personen, sondern um Personengruppen, was die Lebensläufe selbst bei Typisierungen erst recht unüberschaubar macht. Kurz gesagt: Die prinzipiell legitime meritokratische Begründung sozialer Ungleichheit ist in jedem konkreten Anwendungsfall, egal ob es nur um zwei Personen oder um Großgruppen wie etwa die Schichten einer Gesellschaft geht, schon im Ansatz undurchführbar. Etwas Weiteres kommt, die Legitimationsproblematik noch mehr verschärfend, hinzu. Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit sind nicht die einzigen kulturell verankerten Gerechtigkeitsvorstellungen der Moderne. Leistungskonkurrenz wird durch das Prinzip der Bedürfnisgerechtigkeit begrenzt (Miller 1999). Hier setzt die moderne Idee der Menschenwürde – wiederum umstrittene – Minimalstandards an Lebenschancen, die nicht unterschritten werden sollen. Und gerade weil diese Standards nach weit verbreiteter Einschätzung tatsächlich bis heute weltweit milliardenfach unterschritten werden, wenn man nur an Phänomene wie tagtäglichen Hunger oder ständige Bedrohung durch physische Gewalt denkt, und weil diese Misere – ob zu Recht oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben – nicht zuletzt auf die konkurrenzgetriebene kapitalistische Wirtschaft zurückgeführt wird, erscheint eine meritokratische Begründung gerechter Ungleichheit 93
Vielen wenig überzeugend. Eine globale »Leistungsgesellschaft«, die im wahrsten Sinne des Wortes über Berge von Leichen geht, stellt sich, selbst wenn es Chancengleichheit gäbe, als hochgradig unmoralisch dar. Die ungleichheitstheoretische Perspektive akzentuiert somit in sozialintegrativer Hinsicht ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen der Faktizität von Ungleichheit auf der einen und dem letztlich unausräumbaren Generalverdacht der Illegitimität dieses Faktums auf der anderen Seite. Das bedeutet nun zwar keine Dauerempörung oder permanenten Aufruhr Aller, aber Ungleichheitsstrukturen sind in der Moderne dauerhaft umstritten, und immer wieder gibt es individuelle und kollektive Bemühungen Schlechtergestellter, die eigene Lage zu verbessern. Aus diesen Aktivitäten – im Wechselspiel mit Aktivitäten der den Status quo verteidigenden Bessergestellten – können mehr oder weniger große Veränderungen von Ungleichheitsstrukturen resultieren. Spätestens an diesem Punkt verweist der kurze Blick auf die Sozialintegration auf die dritte Leitfrage nach den Dynamiken gesellschaftlicher Ungleichheit in der Moderne. Die Frage nach den Triebkräften von Ungleichheitsdynamiken ist grundsätzlich bereits beantwortet: Es sind Personen, die etwas gegen die eigene Schlechterstellung tun wollen. Aber welche Arten von Möglichkeiten stehen ihnen dafür grundsätzlich offen? Und wie wirkt das, was sie tun, mit dem Handeln anderer zusammen – derjenigen anderen, die sich ebenfalls verbessern wollen, sowie der anderen, die den Status quo bewahren wollen? Welche Verlaufsmuster der Dynamiken können sich aus diesen Kräfteverhältnissen ergeben?
4. Ungleichheitsdynamiken Ohne hier auf soziale Ungleichheiten generell eingehen zu können,41 wende ich mich sogleich den in der Moderne dominanten marktvermittelten Ungleichheiten zu. Aage Sorensens (2000) Konzept einer »rent-based analysis« marktvermittelter Ungleichheiten wendet sich Kräfteverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt zu. Er nimmt die perfekte Konkurrenz von vielen Anbietern und vielen Nachfragern von Arbeitskraft, wie sie das neoklassische Marktmodell beschreibt, als analytischen Standard. Wenn das ge94
geben ist und zudem keine Transaktionskosten des Kaufs oder Verkaufs von Arbeitskraft anfallen, gibt es bei niemandem »[…] above-market returns, to be obtained at the expense of somebody else« (Sorensen 2000: 123).42 Genau das liegt freilich real so gut wie nie vor; vielmehr geht es ständig um nichts anderes als den fortwährenden Kampf um »above-market returns« oder »rents«: »Rent-seeking creates the dynamics of capitalism […].« (Sorensen 2000: 151) Arbeitgeber versuchen beispielsweise, Extraprofite herauszuschlagen, indem sie die Arbeitnehmer verschiedener Standorte gegeneinander ausspielen; und jede Gewerkschaftsbildung ist nichts anderes als ein Angebotskartell der Arbeitnehmer, um wechselseitige Lohnunterbietung zu verhindern. Die Lohnverhandlungen auf dem Arbeitsmarkt vollziehen sich vor dem Hintergrund, dass beiden Seiten bewusst ist, dass sie sich in einer zweiphasigen »antagonistischen Kooperation« (Kliemt 1986) befinden, also einem »mixed motive game«, das zwar in dem Sinne zeitlich entzerrt ist, dass Kooperation in der ersten und Antagonismus in der zweiten Phase herrscht – doch die Akteure antizipieren in der ersten Phase bereits, wie sie in der zweiten zueinander stehen werden. In der ersten Phase wird etwas produziert und verkauft. Hier gilt: Die Arbeitskraft benötigt ein Beschäftigungsverhältnis, um Lohn zu erwirtschaften, den sie zur Lebensführung braucht; und das Unternehmen benötigt Arbeitskräfte, um Waren zu produzieren, aus deren Verkauf es Gewinn erzielen kann. Diese Kooperation aufgrund wechselseitiger Angewiesenheit aufeinander schlägt allerdings sogleich in eine Nullsummenkonkurrenz um, sobald die produzierten Waren verkauft sind und es dann in der zweiten Phase um die Aufteilung des Erlöses in Löhne auf der einen, Gewinn auf der anderen Seite geht.43 Die entscheidende Frage ist nun: Finden die Lohnverhandlungen auf dem Arbeitsmarkt in einer – was die Kräfteverhältnisse anbelangt – symmetrischen oder asymmetrischen Konstellation statt? Als symmetrisch würde hier auch gelten, wenn Situationen der Asymmetrie zeitlich symmetrisch im Sinne eines »turn-taking« verteilt sind: Mal müssen die Arbeitnehmer eines Unternehmens einen geringen Lohn akzeptieren, weil es der einzige Anbieter von Arbeitsplätzen in der Region ist und sie nicht räumlich mobil sind; und mal muss das Unternehmen, um ein großes Auftragsvolumen abzuarbeiten, den Arbeitnehmern Son95
derschichten teuer bezahlen. Aber gibt dieses ausgeglichene Bild die Wirklichkeit kapitalistischer Gesellschaften wieder? Reinhard Kreckel (1992: 149-164) führt eine Reihe von Faktoren an, die sich so auswirken, dass die Arbeitgeber – seien es Unternehmen, seien es andere Arbeitsorganisationen außerhalb der Wirtschaft wie vor allem staatliche Einrichtungen – erstens eine in der Regel bessere Organisations- und zweitens eine in der Regel bessere Strategiefähigkeit besitzen. Hinsichtlich der Organisationsfähigkeit gilt, dass Arbeitnehmer als Individuen zunächst unorganisiert sind, während jeder Arbeitgeber – von Kleinunternehmern einmal abgesehen – bereits eine Organisation darstellt.44 Arbeitnehmer müssen sich aber organisieren, um einander nicht gegenseitig bei den Lohnforderungen zu unterbieten. Dabei müssen vergleichsweise heterogene Interessenlagen auf einen Nenner gebracht werden, weil die Ware Arbeitskraft ja faktisch der ganze Mensch mit all seinen Bedürfnissen der Lebensführung ist, die heutzutage immer stärker individualisiert ausgeprägt sind. Arbeitgeber als Organisationen haben hingegen in der Regel klare Interessen, die erstens an ihrer Teilsystemzugehörigkeit hängen und zweitens der ökonomischen Logik von Kosten- und Verlustvermeidung bzw. Gewinnerzielung Rechnung tragen – wobei Unternehmen als Organisationen der Wirtschaft nur auf Letzteres fixiert sind. Zudem können sich Arbeitgeber als Organisationen auf der nächsten Stufe in Interessenverbänden organisieren, um so eine nochmals gesteigerte kollektive Schlagkraft gegen die andere Seite zu erlangen. Schaut man sich nun die Strategiefähigkeit beider Seiten an, ergibt sich ein ähnliches Bild. Arbeitgeber, insbesondere Unternehmen, können die eigene wirtschaftliche Lage oft sehr gut verschleiern und als schlechter darstellen, als sie tatsächlich ist, um so Arbeitnehmerforderungen als »unrealistisch« – insbesondere als Gefährdung von Arbeitsplätzen – abzuwehren. Die weitaus homogenere Interessenlage erleichtert Arbeitgebern auch die Strategiefindung in Auseinandersetzungen mit den diesbezüglich durch größere Heterogenität behinderten Arbeitnehmern. Bei Letzteren kommt noch die strategische Zerrissenheit hinzu: Jeder Einzelne muss sich zwischen kollektiv-solidarischer Organisierung, dem »Trittbrettfahren« und individuellen Strategien der Interessenverfolgung, etwa durch Karrierestreben, entscheiden, so dass sich die 96
Gesamtheit leicht strategisch auseinanderdividiert. Arbeitgeber können ferner in Auseinandersetzungen länger warten, weil sie nicht so schnell existentiell auf Geldzufluss angewiesen sind wie Arbeitnehmer, die ihren tagtäglichen Lebensunterhalt bestreiten müssen. Schließlich haben Arbeitgeber – jedenfalls wenn es sich um Unternehmen handelt – Alternativen der Investition ihres Kapitals zur Hand: Wenn sie es nicht in die eigene Produktion vor Ort investieren wollen, können sie es auch in andere Unternehmen oder auf dem weltweiten Finanzmarkt anlegen oder ihr Unternehmen an einen anderen Standort verlagern, wo Regierungen und Arbeitnehmer ihnen mehr entgegenkommen. Beim Ergreifen solcher Alternativen kann ein Arbeitgeber je für sich agieren; die Entscheidungen aller Arbeitgeber addieren sich als Druckpotential auf, etwa als Kapitalflucht ins Ausland. Einige dieser Unterschiede lassen sich auch in Richard Emersons (1962) Konzept der »power-dependence relations« fassen. Je wichtiger einem Akteur A die Interessen sind, bei deren Realisierung B ihm nützen kann, und je weniger A dabei um B herum kommt, desto größer ist die Abhängigkeit A’s und der entsprechende Einfluss von B auf A. Auf die Arbeitsmarktkonstellation angewandt: – Die Arbeitgeber benötigen zweifellos Arbeitskräfte, um zu produzieren und Geld zu verdienen. Allerdings können Arbeitgeber diese Abhängigkeit durch Technologieeinsatz partiell lockern; und Unternehmen können ihr Kapital auch auf dem Finanzmarkt investieren, wenn dort höhere Renditen erzielbar sind. Weil Arbeitgeber einen Streik zumeist länger durchhalten können als Arbeitnehmer, bedeutet das ebenfalls eine Lockerung der Abhängigkeit. Zudem ist jeder einzelne Arbeitnehmer ersetzbar, und zumeist vielfach; und wenn sich die Arbeitnehmer dagegen je regional oder national gewerkschaftlich zusammenschließen, kann es doch weltweit andere geben, die ihre Dienste anbieten. – Auf Seiten der Arbeitnehmer hat man es hingegen in der »Lohnarbeitsgesellschaft« mit einer existentiellen Abhängigkeit zu tun. Es gibt für die allermeisten keine realistischen anderen Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, als die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Bereits kurzfristige Ein97
bußen sind kritisch. Im Rahmen von Lohnarbeit existieren mal mehr, mal weniger Alternativen – je nach Beruf, Qualifikation, Region und wirtschaftlicher Lage. All dem unterliegt – und das macht den harten Kern der Asymmetrie aus – die in einer kapitalistischen Gesellschaft gegebene allseitige Angewiesenheit sämtlicher gesellschaftlicher Akteure auf wirtschaftliche Prosperität aus (Kap. II.2), die Kreckel (1992: 174) eher beiläufig erwähnt: »Im übrigen ist aber unverkennbar, daß nicht nur Staat und Unternehmer, sondern auch der Großteil der abhängig Beschäftigten nicht am Niedergang, sondern am Florieren der kapitalistischen Ökonomie interessiert sind, obwohl sie in ihr systematisch benachteiligt werden. […] Gerät die Ökonomie in die Krise, […] so verschlechtert sich die verhandlungsstrategische Lage der Arbeitnehmer […].« Spieltheoretisch müsste das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern als »Rambo«–Konstellation (Zürn 1992: 209-218; Scharpf 1997: 78/79) modelliert werden, in der die Arbeitnehmer immer wieder übervorteilt werden, ohne dem Einhalt gebieten zu können; im Gegenteil können sie oft genug nur nehmen, was für sie übrig gelassen wird. Insgesamt ist somit die meiste Zeit eine deutliche Asymmetrie zugunsten der Arbeitgeber zu konstatieren. Freilich nicht immer: So haben etwa im Zeitraum zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1970er Jahre die Arbeitnehmer in vielen westlichen Ländern vergleichsweise viel für sich herausholen können, während sich seitdem das Kräfteverhältnis wieder zugunsten der Arbeitgeber gewendet hat (Kaelble 2007: 87-118; Fischer/Mattson 2009; OECD 2011). Bis hierher ist der erste Schritt der Dynamiken marktvermittelter Ungleichheiten erklärt: wie sich das Erwerbseinkommen eines Arbeitnehmers und damit dessen diesbezügliche relative Besseroder Schlechterstellung ergibt – und was das für Kapitalbesitzer bedeutet, soweit sie von Unternehmensgewinnen abhängen. Nun geht es um den zweiten Schritt: auf welche Weisen jemand, der mit seinem Erwerbseinkommen unzufrieden ist, reagieren kann. Auch hierfür werde ich ein abstraktes Modell konzipieren, das die allgemeine Logik der weiteren Strukturdynamiken abbildet. Es geht also wiederum um keine historisch und national spezifischen Ereignisse oder Phasen wie z.B. den »Kampf um den Normalarbeitstag« in England Mitte des 19. Jahrhunderts (Marx 1867: 98
279-320), die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs durch Bildung im Nachkriegs-Westdeutschland oder die Verringerung der Armut im heutigen weltgesellschaftlichen Maßstab. Das Modell soll das Augenmerk auf die zentralen Variablen lenken, die bei der Analyse solcher konkreter Geschehnisse in den Blick zu nehmen sind, und allgemeine Zusammenhänge zwischen diesen Variablen aufzeigen. Es geht also weiterhin um eine analytische Erklärungsheuristik; konkrete Dynamiken marktvermittelter Ungleichheiten werden nur als Illustrationen herangezogen. Startpunkt der weiteren Strukturdynamiken ist, wie bereits gesagt, eine Unzufriedenheit von Gesellschaftsmitgliedern mit der eigenen sozialen Lage, wie sie sich aus dem Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt ergibt. Unzufriedenheit ist das Gefühl, ungerecht behandelt, also für das, was man leistet bzw. leisten könnte, nicht angemessen entgolten zu werden. Sofern nicht absolute Standards der Bedürfnisgerechtigkeit verletzt werden, man also etwa dauerhaft und ohne Aussicht auf Besserung Hunger leidet, erwächst Unzufriedenheit vor allem aus Vergleichen. Zum einen kann jemand seine aktuelle Lage mit früher vergleichen, als es ihm besser ging, und fragen, warum es ihm heute nicht mehr so gut geht – mit dem Anspruch, dass das aber so sein sollte. Zum anderen können Vergleiche mit anderen gezogen werden: Warum geht es denen besser als mir bzw. uns? Wiederum steht dahinter der Anspruch, dass deren Besserstellung ungerechtfertigt sei, man selbst also unter »relativer Deprivation« (Runciman 1966) leide. Drei Arten solcher sozialer Vergleichserfahrungen können Unzufriedenheit oder gar Empörung hervorrufen: – Vergleich mit Seinesgleichen, ohne Konkurrenz: Hier vergleicht man die eigene Lage mit anderen, mit denen man in keinem Konkurrenzverhältnis um Lebenschancen steht, sondern die anderswo trotz ähnlicher Merkmale besser gestellt sind. So können sich z.B. Muslime in Deutschland mit denen in Kanada vergleichen und zu dem Eindruck gelangen, dass die dortigen Glaubensgenossen bessere Chancen der Integration und beruflichen Karriere haben. – Vergleich mit Konkurrenten: Hier konkurriert man mit einer anderen Gruppe und fragt sich, warum diese besser wegkommt 99
als man selbst. So können sich Frauen angesichts propagierter Gleichberechtigung fragen, warum Männer auf der gleichen Berufsposition mehr verdienen und trotz gleicher Qualifikation schneller befördert werden. – Vergleich mit anderen unter Dominanzverhältnissen: Wenn eine gesellschaftliche Gruppe gegenüber einer anderen in vielen Belangen der Lebensführung faktisch oder sogar formell bevorteilt ist, wie etwa in besonders krasser Form die Weißen im früheren südafrikanischen Apartheid-Regime, können die Benachteiligten diesen Zustand in Frage stellen. Faktisch gegebene Ungleichheit bringt nicht automatisch Unzufriedenheit oder gar Ungerechtigkeitsgefühle hervor. Erstens kann die »objektiv« existierende Ungleichheit subjektiv und intersubjektiv unbemerkt bleiben oder als irrelevant angesehen werden. Manche Ausprägungen von Besser- und Schlechterstellung sind nicht ohne weiteres sichtbar. So können regionale Einkommensunterschiede unauffällig bleiben, solange wenig räumliche Mobilität besteht. Faktisch gegebene Ungleichheiten werden ferner auch dann nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie subjektiv entweder als Bagatelle bewertet werden oder jenseits des Vorstellungshorizonts der Person liegen. Wenn mir Geld nicht so wichtig ist, weil ich sehr bedürfnislos lebe, interessiert mich auch nicht, dass andere mit gleicher Ausbildung viel mehr verdienen als ich; und solange z.B. die katholische Arbeitertochter vom Lande sowieso nicht im Traum daran denkt, dass sie ja vielleicht auch studieren könnte, fühlt sie sich durch ihre diesbezügliche Diskriminierung nicht ungerecht behandelt. Zweitens können durchaus wahrgenommene Ungleichheiten von den Schlechtergestellten als gerecht, nämlich als Ergebnis besserer Leistung bei anfänglicher Chancengleichheit, akzeptiert werden – wobei die Beweislast, wie schon angesprochen, genau besehen nicht tragbar ist. Einerseits erscheint also eine meritokratische Legitimierung von Ungleichheit eher unwahrscheinlich. Wer sich schlechtergestellt vorkommt, kann sowohl die Chancengleichheit am Anfang als auch die Leistungsdifferenz als Ergebnis anzweifeln – z.B. die aus kleinen Verhältnissen stammende Köchin, die das eigene monatliche Sparen mit dem Sohn eines Bankiers vergleicht, der in großem Stil auf dem Finanzmarkt 100
spekuliert. Andererseits gibt es immer wieder wirkmächtige, das Denken und Streben vieler Menschen beherrschende ideologische Konstrukte von Chancengleichheit und Leistungsdifferenzen. Wer etwa an den sprichwörtlichen »American Dream« eines möglichen Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär glaubt oder wer sich davon überzeugen lässt, dass z.B. Ärzte eine schwierigere und verantwortungsvollere Tätigkeit als Busfahrer ausführen, neidet auch als armer Schlucker den Begüterten nichts. In dem Maße, in dem gegebene Ungleichheiten latent bleiben oder als legitim angesehen werden, läuft dies auf eine Strukturdynamik identischer Reproduktion hinaus. Die Schlechtergestellten fühlen sich nicht ungerecht behandelt und legen daher keine Bemühungen an den Tag, diese Ungleichheiten zu ihren Gunsten zu verändern. Die Bessergestellten hingegen bemühen sich, Latenz und Legitimität der Ungleichheit zu wahren. Das Spektrum reicht von verheimlichten oder gefälschten Einkommensstatistiken bis zu ideologischen Kampagnen. Wenn allerdings faktisch gegebene Ungleichheiten auf Seiten der Schlechtergestellten Unzufriedenheit auslösen, eröffnet diese Situationsdefinition drei prinzipielle Reaktionsmuster, die sich mit einer von Albert Hirschman (1970) konzipierten Typologie gut erfassen lassen: – »Loyalty«: Fügsamkeit im Sinne passiver Hinnahme des Ärgernisses, – »Exit«: individuelles Streben nach Aufwärtsmobilität, – »Voice«: kollektives Streben nach kollektiver Besserstellung. Nun ist zu betrachten, wovon abhängt, welche Reaktion von einem Akteur gewählt wird – wobei das erste Reaktionsmuster auf der einen, die beiden anderen Muster auf der anderen Seite einander ausschließen. Denn ein Individuum kann zu einem gegebenen Zeitpunkt nur entweder passiv oder aber aktiv sein. Die beiden aktiven Muster können hingegen auch kombiniert vorkommen. Und natürlich kann Passivität in die anderen beiden Muster umschlagen und umgekehrt. Wann ist Fügsamkeit trotz Unzufriedenheit das Reaktionsmuster auf die eigene Schlechterstellung (Terpe 2009)? Als Homo oeconomicus, der auf der Hand liegende eigene Interessen – wie 101
eine als gerecht angesehene Besserstellung – zu verfolgen trachtet, könnte jemand dennoch aufgrund mehrerer Erwägungen passiv bleiben. Hierzu zählt insbesondere die Einschätzung, dass eine nennenswerte Verbesserung der eigenen Lage wenig realistisch ist, weil keine plausiblen Wege, die dahin führen könnten, gesehen werden oder keine ausreichenden Einflusspotentiale verfügbar sind. Die Person kann auch meinen, dass der Aufwand, um eine zufriedenstellende Verbesserung zu erreichen, zwar prinzipiell leistbar, aber, gemessen am erwartbaren Ertrag, zu groß ist. So könnte ich ja z.B. vielleicht durchaus mit Erfolgsaussichten per Abendgymnasium das Abitur nachmachen und dann studieren, um mit einem Hochschulabschluss einen neuen Berufsweg einschlagen und viel mehr Geld verdienen zu können als jetzt – aber jahrelanger Verzicht auf Freizeit und ständiger Lernund Prüfungsstress erscheint mir als ein zu hoher Preis. Dieses Beispiel weist noch auf einen weiteren Beweggrund des Homo oeconomicus, nichts aktiv gegen die eigene Schlechterstellung zu unternehmen, hin: Manchmal kollidiert das, was man tun müsste, um die eigene Lage verbessern zu können, mit stärkeren anderen Interessen der Person – hier an genügend Freizeit oder an der Vermeidung von Konflikten mit dem Partner, der »Zeit zu zweit« reklamiert. Solchen Chancen-, Aufwands- und Interessensabwägungen beigemischt, bisweilen sogar dominant, können weitere Handlungsantriebe wirken, die der Person als Homo sociologicus oder Identitätsbehaupter innewohnen. Der Homo sociologicus kann sich, obwohl massiv unzufrieden mit der eigenen Schlechterstellung, dennoch aus übergreifenden Erwägungen in die Ungleichheitsordnung fügen, sich also etwa aus prinzipieller Gesetzestreue an Regeln halten, die ihn selbst diskriminieren. Auch die lange stillschweigende Duldung einer teils gesetzlich vorgegebenen, teils traditional eingelebten Praxis männlicher Vorherrschaft in der »patriarchalischen« Familie durch die Ehefrauen ist ein Fall des normkonformen Homo sociologicus. Noch tiefer verwurzelt ist solche Fügsamkeit, wenn die Identität einer Person stark durch die soziale Ordnung, der die eigene Schlechterstellung inhärent ist, geprägt wird. Dann kann die Ungleichheitsstruktur – obwohl als ungerecht erlebt – geradezu als verdinglicht erscheinen, etwa als Gottes Wille. Eine solche Sicht der Dinge war beispielswei102
se im 19. Jahrhundert Bestandteil der Mentalität nicht weniger schwarzer Landarbeiter in den Südstaaten der USA – auch nach Abschaffung der Sklaverei. Je mehr derjenigen Individuen, die eine gegebene Ungleichheitsstruktur als ungerecht erleben, aus den genannten Gründen »loyalty« zeigen, desto stärker läuft die Strukturdynamik auf eine Erhaltung der gegebenen Ungleichheit hinaus, also deren immer aufs Neue sich vollziehende identische Reproduktion. Wenn sich die Ungleichheitsstruktur dennoch verändert, hat das exogene Ursachen – also etwa technologischen Fortschritt, der auch in die Haushalte Einzug hält, eine enorme Rationalisierung der weiblichen Hausarbeit herbeiführt und so den Hausfrauen zeitlich die Gelegenheit bietet, andere Interessen zu entfalten, aus denen heraus dann allmählich die eigene Stellung gegenüber dem Ehemann in Frage gestellt wird. Im Gegensatz zu Fügsamkeit geht es bei den anderen beiden Reaktionsweisen darum, dass die Schlechtergestellten explizite Bemühungen um Nachbesserung dessen unternehmen, was der Arbeitsmarkt ihnen beschert hat. Das individuelle Streben nach Aufwärtsmobilität ist die »Exit«-Variante der Nachbesserungsbemühungen.45 In dem Maße, in dem sich die Schlechtergestellten Aufstiegschancen ausrechnen, werden sie Mobilitätsstreben an den Tag legen und damit zugleich die Legitimität der je aktuellen Ungleichheitsstrukturen anerkennen. Diese Personen sind zwar unzufrieden mit ihrem Status quo und fühlen sich ungerecht behandelt, sehen aber realistische Möglichkeiten der Selbsthilfe. Die drei wichtigsten Ausprägungen von Aufwärtsmobilität sind: – Das mit der eigenen Lage unzufriedene Individuum selbst steigt auf. Dies kann entweder durch eine wie auch immer erbrachte Eigenleistung, die von Bildungsanstrengungen und beruflichem Fleiß bis zur Kriminalität gehen kann, oder als »Huckepack«-Mobilität durch Heirat einer bessergestellten Person geschehen. – Man steigt als »Seilschaft« (Paris 1991) dergestalt auf, dass eine Gruppe nacheinander ein Mitglied nach dem anderen dabei unterstützt, dass der Betreffende »es schafft«; und jeder, der aufgestiegen ist, hat dann die Verpflichtung, den anderen bei ihren Aufstiegen behilflich zu sein. Es können sich z.B. regel103
rechte »Beutegemeinschaften« von Personen bilden, die berufliche oder politische Karriere machen wollen und sich etwa während des gemeinsamen Studiums zusammengefunden haben. – Die eigenen Kinder steigen auf, weil man sie zielstrebig dabei unterstützt, etwa für sie gespart und ihnen eine gute Bildung ermöglicht hat. Solange jemand die Hoffnung auf eine solche Intergenerationen-Aufwärtsmobilität aufrechterhalten kann, erträgt er oftmals viele selbst erlittene Ungerechtigkeiten. Er praktiziert »loyalty«, um seinen Kindern »Exit« zu ermöglichen. Man kann sich nun die Wege solcher Aufwärtsmobilität anschauen: Wohin führt das »Exit« die Person? Hier ist zunächst an ein räumliches »Exit« zu denken, also Migration als Bemühen, sich anderswo bessere Arbeitsmarktchancen – und sei es als Unternehmer – zu verschaffen (Kathmann 2012). Millionen Menschen haben z.B. im 19. und 20. Jahrhundert in den USA – wie es bezeichnenderweise heißt – »ihr Glück gesucht«. Wer räumlich bleibt, wo er ist, muss sich bemühen, innerhalb der von ihm dort als gegeben hingenommenen Ungleichheitsstrukturen »Exit« zu realisieren, also eine bessergestellte soziale Lage zu erreichen. Die eine Möglichkeit, dies zu tun, beruht auf einer Lebensführung, die in ihrer derzeit aktuellen Ausprägung als »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) etikettiert wird. Traditionell stand dahinter harte Arbeit, also eine außergewöhnliche Leistungsbereitschaft, und eine lange Zeit der Entbehrung, teilweise verbunden mit Ideenreichtum, und stets mit einer gehörigen – im Nachhinein dann oft vergessenen – Portion Glück. Selfmade-Unternehmerinnen oder erfolgreiche Selbständige illustrieren diesen Weg individueller Aufwärtsmobilität – ebenso wie Hilfsarbeiter, die sich zum Facharbeiter oder Handwerksmeister »hochgearbeitet«, oder Akademikerinnen, die über den zweiten Bildungsweg Karriere gemacht haben. Institutionalisierte Bildungs- und Berufskarrieren, wie sie mit der Expansion des Bildungssystems seit dem 19. Jahrhundert nach und nach eingerichtet worden sind, stellen den anderen Weg des »Exit« innerhalb der gegebenen Ungleichheitsstruktur dar. Je mehr Berufsgruppen dabei erfolgreich gewesen sind, die Zu104
gänge zu ihren jeweiligen Berufsfeldern sozial zu schließen, desto stärker hängt dieser Zugang von entsprechenden Bildungs- und Ausbildungszertifikaten ab. Es bildet sich insgesamt die »credential society« (Collins 1979) heraus – verstärkt durch die verbreitete Rationalitätsfiktion, dass Berufstauglichkeit generell mit der Länge des Bildungswegs steigt und die »Wissensgesellschaft« immer mehr immer besser ausgebildetes Personal benötigt. Für die verschiedenen Wege der Aufwärtsmobilität gibt es eine Reihe von begünstigenden Bedingungen. Dazu gehören neben koinzidentiellen Aspekten wie Kohortenzugehörigkeit (Easterlin 1980), die für die Arbeitsmarktchancen entscheidend sein kann, u.a. kulturelle Deutungsmuster, etwa das Leitbild einer »achieving society« (McClelland 1964), sozial offene Bildungszugänge und entsprechende Strukturen und Konstellationen des Arbeitsmarkts – oder auch der Zugang zu Kapital für Unternehmensgründungen. Sofern diese Bedingungen umgekehrt ausgeprägt sind, erschweren sie Aufwärtsmobilität. Eine weitere Behinderung stellen Gegenmaßnahmen der Bessergestellten dar, die die eigenen Privilegien verteidigen wollen. Auf ganz unterschiedliche Weisen können Aufsteiger subtil oder auch offen diskriminierend ausgebremst werden – sei es in je fallbezogenen individuellen Reaktionen, etwa eines bildungsbürgerlich verwurzelten Professors, der sich keine Mitarbeiter mit bildungsferner Herkunft vorzustellen vermag, oder in kollektiven Reaktionen wie z.B. dem Widerstand von Mittel- und Oberschicht-Eltern gegen alle Arten von Schulreformen, die das Gymnasium bedrohen könnten. Sofern individuelle Aufstiegsmobilität in nennenswertem Maße stattfindet, können sich verschiedene Arten von Aggregationseffekten einstellen. Teilweise passiert eine bloße Aufsummierung des voneinander völlig unabhängigen Handelns von Individuen. So bemühen sich je vereinzelt technisch interessierte junge Frauen, in Männerberufen wie Kfz-Mechaniker Fuß zu fassen, und in der Summe ergibt sich ein gewisses Maß an »Feminisierung« dieser Berufe. Oft gehen solche Bemühungen allerdings in erheblichem Maße auch auf wechselseitige Beobachtungen zurück: Frau fühlt sich dadurch ermutigt, dass andere Frauen diesen Weg bereits erfolgreich gegangen sind, und ist ihrerseits Vorbild für nachfolgende Kohorten. Zwischen den Aufstiegsorientierten kann also ein »mimetischer Isomorphismus« des Kopierens von 105
Erfolgsstrategien stattfinden, vielleicht kombiniert mit »normativem Isomorphismus« – wenn etwa viele durch ermutigende Expertenratschläge auf denselben Weg geschickt werden – sowie »Zwangsisomorphismus« wie z.B. durch eine Verlängerung der Schulpflicht, die Bildung als Aufstiegsvehikel unübersehbar in den Blick rückt und festschreibt.46 All dies wird auch stark durch journalistische Berichterstattung sowie durch Filme und Romane verbreitet. »Wahre Geschichten«, die in Zeitungsreportagen oder Soap Operas den Aufstieg vom mittelosen Immigranten zum geachteten Facharbeiter vorführen, liefern eine nicht zu unterschätzende Hintergrund-Ermutigung. Mit Blick auf den Aggregationseffekt können solche Dynamiken auf eine Erhaltung der gegebenen Ungleichheitsstruktur hinauslaufen, wenn sich Aufstiege und Abstiege die Waage halten oder die Verbesserungen der sozialen Lage der Schlechtergestellten mit einem entsprechenden Größenwachstum des verteilbaren Kuchens einhergehen, so dass die Bessergestellten nichts abgeben müssen. Letzteres war z.B. bei dem von Ulrich Beck (1986: 122) diagnostizierten »Fahrstuhleffekt« in den 1960er Jahren der Fall: Allen ging es besser, ohne Verteilungskämpfe. Es können aber auch mehr oder weniger weitreichende Verschiebungen der Ungleichheitsstrukturen passieren – bildlich gesprochen: Die Pyramide, in der die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder »unten« situiert ist, kann zum mit Karl-Martin Bolte assoziierten »Zwiebel-Modell« (Geißler 2006: 98) mutieren. Oder es können sich Aufstiegshoffnungen als »Illusion der Chancengleichheit« (Bourdieu/Passeron 1964) herausstellen, weil die massenhafte Verbreitung von Bildungstiteln diese stark entwertet und dann wieder soziale Herkunft – konkret etwa: ob man bereits im Elternhaus gelernt hat, wie man fachgerecht einen Hummer zerlegt – darüber entscheidet, wer die begehrten Leitungspositionen erringt. Wenn »Exit« hinreichend vielversprechend erscheint, braucht man kein »voice«. Das erklärt Werner Sombarts (1906) Frage, warum es keinen Sozialismus in den USA gibt. Sofern die Schlechtergestellten davon ausgehen, dass sie durch räumliches Weiterziehen ihr »Glück machen« können, »der Westen« ihnen also als »open frontier« erscheint, ist individuelles »Exit« attraktiver als ein den Aufwand kollektiver Mobilisierung erforderndes »voice«. Noch bedeutsamer als diese funktionale Äquivalenz ist freilich, 106
dass »voice« längerfristig auf eine Ermöglichung und Förderung von »Exit« hinwirken kann. Zugespitzt formuliert: Kein geringer Teil der Aufwärtsmobilität, wie sie in vielen Ländern – in unterschiedlichem Ausmaß, und im Zeitverlauf variierend – stattgefunden hat und weiter stattfindet, wurde durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaats ermöglicht; und dieser wiederum ist in vielen Ländern nicht nur des Westens das wichtigste strukturelle Resultat derjenigen kollektiven Praktiken, die auf eine Nachbesserung der sich auf dem Arbeitsmarkt einstellenden Verteilung von Lebenschancen abzielen. Es geht dabei im weitesten Sinne um kollektiven Protest gegen eine eigene Schlechterstellung. Solcher Protest will eine Umgestaltung derjenigen Ungleichheitsstrukturen, mit denen man unzufrieden ist, erreichen. Diese Strukturen werden öffentlich als illegitim gebrandmarkt; und daraus werden in der Regel an staatliche Entscheidungsträger adressierte Forderungen nach Änderung hergeleitet. Es ist eher die Ausnahme, dass anstelle solchen Protests nur kollektive Selbsthilfe der Betroffenen praktiziert wird; doch solche Selbsthilfeaktivitäten können am Anfang stehen und begleitend zum Protest auch weiterhin stattfinden – siehe z.B. selbstverwaltete Frauenhäuser, in denen Opfer ehelicher Vergewaltigung aufgenommen werden, oder die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung. Der generelle Adressat des Protests ist aber fast immer der Staat als derjenige Akteur, dem in der Moderne die oberste Verantwortung für Gesellschaftsgestaltung zugesprochen wird. Mit Bezug auf marktvermittelte Ungleichheiten läuft das auf Sozialpolitik, dann den Sozial- und schließlich, noch weiter ausgebaut, den Wohlfahrtsstaat hinaus (Kap. II.2). Das muss keineswegs immer eine Umverteilung von Geld bzw. geldwerten Leistungen von den Besser- zu den Schlechtergestellten bedeuten; in Zeiten eines kräftigen Wirtschaftswachstums kann sich auch ein Positivsummenspiel ergeben, in dem sich die soziale Lage der Schlechtergestellten verbessert, die der Bessergestellten sich aber zumindest nicht verschlechtert oder sogar ebenfalls verbessert. Eine systematische Analyse solchen kollektiven Protests müsste drei generelle Teilfragen bearbeiten und hierfür theoretische Konzepte und Modelle bereitstellen.47 Erstens wäre zu klären, wie sich eine kollektive Mobilisierung der Schlechtergestellten voll107
zieht, wobei Mancur Olson’s Theorem der Unwahrscheinlichkeit einer individuellen Teilnahme an Protestaktivitäten den Ausgang bilden könnte (Schimank 2000: 232-246). Zweitens müssten die möglichen Einfluss- und Verhandlungsstrategien der Schlechtergestellten in der Konstellation mit denjenigen, die den Status quo erhalten wollen, in den Blick genommen werden. Prinzipiell kommt die gesamte Palette sozialer Einflusspotentiale von moralischen Appellen bis zum Einsatz physischer Gewalt in Betracht; und bei den Verhandlungen ist sowohl ein Vetopositionen nutzendes, allenfalls Kompromisse und andere Tauschgeschäfte eingehendes »Bargaining« auf der einen Seite als auch ein verständigungsorientiertes und lernbereites »arguing« auf der anderen Seite zu berücksichtigen (Schimank 2000: 247-322). Drittens schließlich sind die Gegenstrategien der Verteidiger des Status quo – insbesondere der jeweils Bessergestellten – zu betrachten. Auch hier gibt es eine breite Palette von ideologischer Indoktrination über »Teile und herrsche« (Simmel 1908: 89-94) bis zur offenen Repression. Diese Konstellation von kollektiv aufbegehrenden Schlechtergestellten auf der einen und Verteidigern des Status quo auf der anderen Seite lässt sich in ihrer Grundstruktur spieltheoretisch als Ultimatumspiel modellieren (Güth et al. 1982; Diekmann 2009: 52-54). In diesem Spiel geht es darum, dass zwei Akteure Ego und Alter einen Geldbetrag (z.B. 100 €) untereinander aufteilen müssen. Diese Aufteilung vollzieht sich so, dass Ego einen Vorschlag unterbreitet (z.B. 70:30), den Alter akzeptieren oder nicht akzeptieren kann. Wenn er akzeptiert, erhalten beide Spieler die von Ego vorgeschlagenen Anteile. Wenn er nicht akzeptiert, erhalten beide nichts. Übertragen auf den kollektiven Protest gegen eine gegebene Ungleichheitsstruktur: Hier geht es darum, ein gesellschaftlich vorhandenes Kontingent an Lebenschancen (z.B. 100 Einheiten) neu aufzuteilen, weil die bisherige Aufteilung, wie immer sie ausgesehen hat (z.B. 90:10), von den dadurch Schlechtergestellten nicht länger akzeptiert wird. Die Schlechtergestellten begehren auf, was immer das konkret heißen mag. Jedenfalls können es die Verteidiger des Status quo, die hier der Einfachheit halber mit den Bessergestellten gleichgesetzt werden, nicht länger hinnehmen, ohne Gefahr zu laufen, dass die gesellschaftliche Ordnung ins-
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gesamt aus den Fugen gerät, worunter auch ihre Lebenschancen empfindlich leiden würden. In dieser Unruhesituation sind nun zunächst die Bessergestellten am Zug. Es ist an ihnen, den Schlechtergestellten eine Neuaufteilung der Lebenschancen anzubieten (z.B. 70:30). Im zweiten Zug müssen sich die Schlechtergestellten überlegen, ob sie sich mit dieser Aufteilung zufriedengeben oder nicht. Akzeptieren sie das Angebot, sind die Neuaufteilung und die damit verbundene soziale Ungleichheit vorerst stabilisiert; das Spiel ist beendet, die gesellschaftliche Ordnung ist wiederhergestellt. Lehnen die Schlechtergestellten hingegen das Angebot ab, bleiben die betreffenden Lebenschancen nach wie vor umkämpft, das Ultimatumspiel geht in die nächste Runde – und die gesellschaftliche Ordnung bleibt labil, worunter beide Seiten leiden.48 Zwei Arten von Iteration können vorkommen: Nach- und Neuverhandlungen. Zum einen können die Bessergestellten die Möglichkeit haben, ein abgelehntes Angebot mehrfach zu verbessern, um doch noch eine Annahme zu erreichen. Zum anderen kann es sein, dass eine einmal akzeptierte Aufteilung nach einer gewissen Zeit regel- oder unregelmäßig wieder zur Disposition steht. Die Nachverhandlungen ermöglichen den Bessergestellten, erst einmal wenig anzubieten, ohne dass damit gleich das Scheitern riskiert wird. Die Schlechtergestellten dürften in der Hoffnung auf Nachbesserung nicht gleich das erste Angebot annehmen; allerdings können die Bessergestellten, wenn die Schlechtergestellten zu »unverschämt« auf Nachbesserung beharren, auch die Verhandlungen beenden. Die Neuverhandlungen wiederum bieten beiden Seiten immer wieder Möglichkeiten, ihre jeweilige soziale Lage zu verbessern – sind damit aber natürlich auch Gelegenheiten, wo man sich verschlechtern kann. Die zuvor dargestellten Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und deren Veränderungen sind eine wichtige Determinante dafür, wer in einer gegebenen Situation in welchem Maße bereit ist, auf die andere Seite zuzugehen. Als weitere Faktoren kommen auf beiden Seiten verschiedene strategische Überlegungen sowie jenseits des engen Rationalitätskalküls eines kurzfristigen »maximize own gain!« liegende Beweggründe des Handelns. Angesichts der für beide Seiten geltenden Unattraktivität der Kosten einer dauerhaften Nicht-Einigung kann man erst einmal davon 109
ausgehen, dass im Ultimatumspiel alle Beteiligten ein hohes Interesse an einer Einigung haben – freilich nicht um jeden Preis. Wären beide Spieler ausschließlich kurzfristig eigennutzorientiert rational, wüssten dies übereinander und befänden sich in einem einmaligen Spiel: Unter diesen drei Voraussetzungen böte der erste Spieler dem zweiten die kleinstmögliche Verbesserung an (also von 90:10 zu 89:11) und dieser würde das annehmen, weil es besser als gar nichts ist. Real sehen solche Verhandlungen freilich fast immer deutlich anders aus, weil einzelne oder mehrere der Voraussetzungen nicht zutreffen: – Wenn sich das Spiel erwartbar immer wieder aufs Neue wiederholen wird, macht es für die Schlechtergestellten, sofern sie über den Tag hinaus kalkulieren, Sinn, solche Angebote, die sie weiterhin zu schlecht stellen (z.B. 87:13), nicht anzunehmen. Dadurch werden, selbst wenn die Schlechtergestellten erst einmal mehr Kosten auf sich nehmen, die Bessergestellten durch Fortdauer des Protests bestraft, auf dass sie lernen und das nächste Mal gleich ein besseres Angebot machen. – Beide Seiten, insbesondere aber die Schlechtergestellten, müssen bei Iteration auch ansonsten die längerfristige eigene Verhandlungsstärke bedenken. Geben sich die Schlechtergestellten mit zu wenig zufrieden, schwächen sie das zukünftige eigene Einflusspotential und müssen demnächst mit noch weniger vorlieb nehmen (Vieth 2003). Hierdurch wird ein Schwellenwert gesetzt, unterhalb dessen sich ein Akteur bei Strafe des zukünftigen Niedergangs nicht drücken lassen darf. – Am wichtigsten ist zumeist: Nicht-rationale Kriterien wie Fairnessvorstellungen, Solidarität oder soziale Vergleiche kommen ins Spiel und sorgen dafür, dass die Bessergestellten ihre Zugeständnisse erhöhen (Vieth 2003; Franzen/Pointner 2008). Soziale Vergleiche legen diesbezüglich häufig einen noch als legitim erachteten maximalen Abstand zugrunde. Sehr oft wird in Ultimatumspielen auf beiden Seiten die enge Rationalkalkulation mehr oder weniger stark durch mehrere dieser weiteren Gesichtspunkte überlagert. Hinzu kommt, dass das Wissen beider Seiten darüber, welche Aspekte wie stark auf der jeweils anderen Seite eine Rolle spielen und was die anderen einem 110
selbst unterstellen, mehr oder weniger unvollständig und irrig sein kann. Wer das auf Seiten der Bessergestellten einkalkuliert und daraufhin eher vorsichtig agiert, bietet lieber etwas mehr an. Ohnehin gilt im Ultimatumspiel zwischen Besser- und Schlechtergestellten einerseits, dass längerfristig Letztere am längeren Hebel sitzen, weil sie ein, wie sämtliche historische Erfahrung zeigt, nicht stillstellbares Gefährdungspotential gesellschaftlicher Ordnung – und damit auch der Lebenschancen der Bessergestellten – darstellen. Dafür sorgt allein schon die große Zahl. Auf dauerhafte fatalistische Apathie – also »loyalty« – der Schlechtergestellten zu setzen, wäre realitätsfern. Denn auch wenn es keinen politischen Protest gibt, können sie sich anderweitig als höchst virulente Störenfriede betätigen – von Diebstahl und Raub über Drogenhandel bis zur körperlichen Gewalt. Andererseits sind die Schlechtergestellten – das gehört zu ihrer sozialen Lage – kurzfristig orientiert, weil sie im Extremfall jetzt hungern und frieren und dies nicht länger aushalten können. Daher sind sie immer wieder sozusagen vorschnell kompromissbereit, auch wenn man ihnen nur Brosamen hinwirft, weil die Wenigsten für ihre moralischen Prinzipien und die langfristige Erfolgsgarantie der eigenen Sache leiden und vielleicht gar ihr Leben lassen wollen. Das Verhandlungsergebnis des kollektiven Protests der Schlechtergestellten ist daher inhärent zwiespältig. Man kann auf der einen Seite von »Massenbestechung«49 sprechen: Den Schlechtergestellten wird von Seiten der Bessergestellten genau so viel gewährt, wie nötig ist, damit »Ruhe im Land« herrscht. So besehen handelt es sich um das, was die Verhandlungsforschung als »Ausgleichszahlungen« für hingenommene Nachteile kennt (Scharpf 1991: 20-23). Auf der anderen Seite kann man genauso gut sagen: Nur so lassen sich offenbar soziale Ungleichheiten Zentimeter für Zentimeter reduzieren – und vor Rückschlägen sind die Schlechtergestellten nicht gefeit, um etwa nochmals an die Verringerung der Einkommensungleichheiten in vielen Ländern des Westens bis Mitte der 1970er Jahre und dann die neuerliche Verschärfung der Ungleichheiten seitdem zu erinnern. Die Aggregationseffekte des kollektiven Protests gehen auf intentionale Bemühungen der Gesellschaftsgestaltung zurück. Die Schlechtergestellten haben mehr oder weniger präzise formulierte Zielsetzungen, wie die Ungleichheitsstrukturen geändert wer111
den sollen. Allerdings stoßen sie auf mehr oder weniger starken und ihren Zielsetzungen mehr oder weniger konfrontativ entgegenstehenden Widerstand der Verteidiger des Status quo. Deshalb entgleitet das Resultat des handelnden Zusammenwirkens beider Seiten oft genug transintentional – und zwar umso mehr, je divergenter die Interessenlagen und je ausgeglichener die Kräfteverhältnisse beider Seiten sind (Schimank 2000: 179-188). Dann kann es passieren, dass ein Ergebnis erzielt wird, das keine der beiden Seiten so gewollt oder auch nur vorhergesehen hat. Das Gesamtresultat der Serie von Ultimatumspielen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist – wie bereits gesagt – der Wohlfahrtsstaat.50 Er bewirkt zweierlei: zum einen eine kollektive Verbesserung der Lebenschancen der Schlechtergestellten sowohl mit Blick auf Risikolagen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter als auch hinsichtlich des Lebensstandards, zum anderen eine Verbesserung der Chancen für individuelle Aufwärtsmobilität, insbesondere über die Ermöglichung des Zugangs zu höherer Bildung. Läuft die Herausbildung, Universalisierung und Dominanz marktvermittelter Ungleichheiten in der »Lohnarbeitsgesellschaft« auf eine umfassende Kommodifizierung der Lebensführung hinaus, so setzt der Wohlfahrtsstaat dem eine partielle De-Kommodifizierung eines Teils der eigenen Lebenschancen entgegen (EspingAndersen 1990). Thomas Marshalls (1949) Nachzeichnung der Herausbildung staatsbürgerlicher Rechte aller Gesellschaftsmitglieder identifiziert aus ungleichheitstheoretischer Perspektive drei aufeinander aufbauende Schritte der Etablierung des Wohlfahrtsstaats. Wenn erstens Gleichheit vor dem Gesetz und zweitens Gleichheit der Stimme bei politischen Wahlen erkämpft worden sind, wird es den gesellschaftlich Schlechtergestellten drittens möglich, Ansprüche auf stärkere soziale Gleichheit anzumelden, die sich dann in Anrechte auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen umsetzen können. Um den Effekt dieser »zweiten Einkommensverteilung« – nach der ersten durch den Arbeitsmarkt – einzuschätzen, kann man die Gini-Koeffizienten des Markt- und des Nettoäquivalenzeinkommens vergleichen und stellt dann etwa für Deutschland im Jahr 2003 fest, dass die auf dem Arbeitsmarkt erzeugte Einkommensungleichheit deutlich höher als die nach der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung liegt; noch markanter ist, dass die Ungleich112
heit der Markteinkommen von 1973 bis 2003 erheblich größer geworden ist, während die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung den Gini-Koeffizienten beinahe konstant gehalten hat (Weischer 2011: 184/185). Nimmt man noch ins Bild, dass in denjenigen Weltregionen, wo es keinen so ausgebauten oder gar keinen nennenswerten Sozialstaat gibt, der Gini-Koeffizient noch deutlich höhere Werte aufweist (Therborn 2006: 25-35), wird auch im Ländervergleich deutlich, welche Verbesserung ihrer Lebenschancen sich die Schlechtergestellten der entwickelten westlichen Länder über 150 Jahre durch kollektiven Protest erkämpft haben.
5. Fazit Damit schließe ich die Präsentation der ungleichheitstheoretischen Perspektive ab. Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Perspektive sich grundsätzlich um dieselben drei Leitfragen kümmert wie die differenzierungstheoretische Perspektive; und man erkennt in den Antworten weniger Konkurrenz als vielmehr Komplementarität beider Perspektiven – nicht erst dort, wo beide den Wohlfahrtsstaat in seiner konstitutiven Korrektivfunktion gegenüber den von der kapitalistischen Wirtschaft ausgehenden gesellschaftlichen Dynamiken hervorheben. Wenn nun im folgenden Kapitel die kulturtheoretische Perspektive auf die moderne Gesellschaft vorgestellt werden wird, bleibt es – so viel sei vorausgeschickt – bei diesem Bild. Auch diese Perspektive lässt sich entlang der drei gesellschaftstheoretischen Leitfragen entwickeln; und auch sie konkurriert, jenseits oberflächlicher Stilisierungen, nicht wirklich mit den beiden anderen, sondern verhält sich komplementär zu ihnen, was wiederum auch kombinatorische Gewinne an Erklärungskraft ermöglicht. Es sei dennoch darauf hingewiesen, dass Integration nicht auf Nivellierung von Differenzen hinauslaufen sollte. Es handelt sich um drei distinkte Scheinwerfer auf gesellschaftliches Geschehen, und das sollte auch so bleiben, weil man so mehr sieht, als wenn man sie alle drei auf gleicher Linie ausrichten würde.
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IV. Kulturtheoretische Perspektive: Gestalteter Fortschritt und Wirtschaftswachstum Jeffrey Alexander (1988: 91) brachte vor knapp 25 Jahren damals aktuelle theoretische Entwicklungen in den Sozialwissenschaften und speziell auch in der Soziologie auf den Begriff des »cultural turn«. Gut zehn Jahre später legte Andreas Reckwitz (2000 – Zitat: 16) eine großangelegte Übersicht über diese »konzeptuelle Wende zur ›Kultur‹« vor. Die darin zum Ausdruck kommende enorme Vielfalt kulturtheoretischer Fragerichtungen und Konzepte – vom in sich bereits heterogenen »interpretativen Paradigma« der Soziologie bis zu Praxistheorien, von Diskursanalysen bis zur »World-Polity«-Perspektive, von ethnologischen bis zu sprachphilosophischen Einflüssen – hat sich inzwischen sogar noch weiter erhöht (als Überblicke: Moebius 2009; Moebius/Quadflieg 2011). Gemeinsamer Nenner aller kulturtheoretischen Herangehensweisen ist, dass »[…] die ›ideelle‹ Dimension der sozialen Welt […] nicht mehr als vernachlässigenswertes Überbauphänomen, sondern als die Sinngrundlage, auf deren Boden Handeln, Praktiken und Kommunikation erst möglich werden […]« (Reckwitz 2000: 16), angesehen und zum zentralen Gegenstand der Analyse erhoben wird. Insoweit sich der »cultural turn« in die Gesellschaftstheorie und hier insbesondere in die Theorie der modernen Gesellschaft hinein erstreckt, heißt das, dass bestimmte kulturelle Orientierungen als entscheidende Prägefaktoren der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Dynamiken angesehen werden. Solche Orientierungen wirken – um die bereits zitierte griffige Formulierung Max Webers (1919a: 252) nochmals zu benutzen – als »Weichensteller« gesellschaftlicher Strukturdynamiken und stellen so das genaue Gegenteil eines zu vernachlässigenden »Überbaus« dar. Die eine solche Grundausrichtung aufweisende kulturtheoretische Perspektive ist nun als dritte Familie soziologischer Gesellschaftstheorien vorzustellen. Dabei ist, wie gerade angeklungen, in Rechnung zu stellen, dass es hier mit den Familienähnlichkeiten teilweise nicht ganz so weit her ist wie bei den anderen beiden gesellschaftstheoretischen Perspektiven. Daher werde ich in einem vorbereitenden ersten Abschnitt zunächst ein relativ konventionelles, hoffentlich viele mitnehmendes Verständnis des 114
Kulturbegriffs darlegen, bevor ich dann wieder in den bereits bekannten analytischen Dreischritt einsteige. Der zweite Abschnitt widmet sich der ersten gesellschaftstheoretischen Leitfrage danach, wie eine kulturtheoretische Beschreibung der Moderne aussieht – und zwar wiederum unter Berücksichtigung der dominanten Rolle der kapitalistischen Wirtschaft im gesellschaftlichen Gefüge. Im dritten Abschnitt geht es entlang der zweiten Leitfrage darum, wie sich die spezifische Kultur der Moderne auf individuelle Lebenschancen und gesellschaftliche Integration auswirkt. Die dritte Leitfrage nach Kulturdynamiken der Moderne ist schließlich Gegenstand des vierten Abschnitts.
1. Kulturelle Orientierungen Was ist Kultur? Hier hat mit dem »cultural turn« eine Inflation von Begrifflichkeiten stattgefunden, um feinste Unterschiede – die den jeweiligen Protagonisten natürlich stets Unterschiede ums Ganze sind – zu markieren. Hans-Ulrich Wehler (2003: XIX) spricht zu Recht kritisch von der »[…] häufig amorphen, allumfassenden Kategorie ›Kultur‹«.51 Was traditionell als Weltbilder, Werte, Ideen, Wissen oder Denkstile bezeichnet wurde, nennt sich heute – ohne dass diese alte Begrifflichkeit verschwunden wäre – auch Codes, interpretative Schemata, Deutungsmuster, Diskurse, Semantiken, um nur ein paar der weiteren Begrifflichkeiten anzuführen. Ich werde als Oberbegriff von kulturellen Orientierungen sprechen und dort, wo spezifische Arten kultureller Orientierungen wie etwa Werte gemeint sind, die entsprechenden Termini verwenden. Hartmut Esser (2001: IX) – sicherlich nicht des »cultural turn« verdächtig – umschreibt das Phänomen so: »Unter Kultur versteht man – ganz allgemein – die erlernten oder sonstwie angeeigneten, über Nachahmung und Unterweisung tradierten, strukturierten und regelmäßigen, sozial verbreiteten und geteilten Gewohnheiten, Lebensweisen, Regeln, Symbolisierungen, Wert- und Wissensbestände der Akteure eines Kollektivs, einschließlich der Arten des Denkens, Empfindens und Handelns. Auch Relikte dieses Handelns gehören dazu, wie der Kölner Dom, Max und Moritz, Messer und Gabel oder das White Horse von Iffington.« Hier wird 115
sehr deutlich, dass Kultur soziologisch nicht rein »ideell«, sondern als Prägung – im Sinne von Orientierung – des Handelns von Interesse ist. Dementsprechend werden viele kulturelle Phänomene gleichsam in einem Atemzug mit den dazugehörigen, oft sehr spezifischen Praktiken angesprochen – ob es um Lebensstile von sozialen Milieus oder national geprägte Alltagsgewohnheiten geht. In vielen kulturellen Praktiken drückt sich geradezu die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aus – und gleichzeitig damit findet auch eine symbolische Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen statt. Das kann eine lokale, regionale oder nationale Zugehörigkeit etwa als Bayer in Abgrenzung gegenüber den »Preußen« sein; es kann auch eine Lebensstil-Gemeinschaft wie die Punks oder eine Gemeinschaft auf der Basis gleichartiger Freizeitinteressen – vom Briefmarkensammeln bis zur Sadomasoszene. Anders gesagt: Viele kulturelle Orientierungen stiften mindestens schwache, einige auch starke Ligaturen. Dieser Aspekt leitet dazu über, dass in nicht wenigen Begriffsbestimmungen von Kultur eine Konnotation von Sinnstiftung mitschwingt. Damit ist offensichtlich nicht der allgemeine soziologische Sinnbegriff gemeint, wie ihn etwa Max Weber (1922: 1-3) benutzt, wenn er von »sinnhaftem« Handeln im Unterschied zu bloßem Verhalten spricht, oder wie ihn Niklas Luhmann (1971a) als Merkmal von Sozialität generell begreift. In diesem Verständnis hat alles soziale Handeln einen Sinn und jede soziale Struktur bietet eine sinnhafte Orientierung des Handelns – etwa auch eine Norm oder eine Einkommensverteilung. Sinn heißt hier nicht mehr, als dass etwas eine explizierbare Bedeutung hat. Wenn hingegen von kultureller Sinnstiftung gesprochen wird, ist etwas sehr viel Anspruchsvolleres gemeint: eine Bedeutung, die einen besonderen Generalisierungsgrad und eine besondere »Aura« besitzt. In letzter Instanz wird oft auch ein Bezug zu einer anthropologisch begründeten Sinnbedürftigkeit menschlicher Existenz hergestellt – so von Weber (1919a: 253): »Hinter den Ideen, den Weltbildern steckte stets die Stellungnahme zu etwas, was an der realen Welt als spezifisch ›sinnlos‹ empfunden wurde, und also die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ›Kosmos‹ sei oder: werden könne und solle.« Peter Berger und Thomas Luckmann (1966) arbeiten dies als Unterschied von Institutionen – und dem damit verbundenen 116
Sinn – auf der einen und »symbolic universes of meaning«, was ihr Ausdruck für Kultur ist, auf der anderen Seite heraus.52 Der von Institutionen vermittelte Sinn sagt den Handelnden: »This is how these things are done.« (Berger/Luckmann 1966: 77) Damit allein sind stets kontingente, immer auch ganz anders vorstellbare Institutionen aber noch nicht gegen allfällige Zweifel und andere Vorstellungen abgesichert: Warum gerade so und nicht anders? Diese Absicherung im Sinne von Legitimation wird durch Kultur geleistet. Kultur begründet und überhöht gleichsam den basalen Sinn von Institutionen durch höher generalisierte und mit einer höheren, im Extremfall unanfechtbaren Dignität ausgestattete Sinnmuster: eine »›second-order‹ objectivation of meaning« im Sinne von »›explaining‹ and ›justifying‹« (Berger/Luckmann 1966: 110/111). Auf eine Kurzformel gebracht: Kultur liefert den Sinn hinter dem Sinn. Kulturelle Orientierungen sind die Deutungsstrukturen, die die institutionellen Erwartungsstrukturen rahmen – in evaluativer, normativer und kognitiver Hinsicht: – Evaluative kulturelle Orientierungen sagen Handelnden, was erstrebenswert ist, geben also große Richtungen des Wollens vor. Beispiele dafür sind etwa die Idee der Freiheit oder der Weltzuwendung. Jede dieser Richtungsvorgaben schließt dadurch andere denkbare Wollens-Strebungen aus – die christliche Vorstellung, ein gottgefälliges Leben sei durch Weltzuwendung geprägt, etwa das buddhistische Lebensideal der Weltabwendung. Diese Ausschließung reduziert die evaluative Komplexität von Handlungssituationen enorm. – Normative kulturelle Orientierungen sagen Handelnden, was moralisch geboten ist, geben also Richtungen des Sollens vor, z.B. als Idee der Menschenwürde oder als Gebot der Wahrhaftigkeit. Auch hier gilt, dass viele Handlungsmöglichkeiten abseits der jeweiligen Richtungsvorgaben liegen, wodurch normative Komplexität stark reduziert wird. Wenn ich mich beispielsweise dem Wahrhaftigkeitsgebot verpflichtet fühle, sind für mich nicht nur Lügen, sondern auch »Halb-« und Notlügen keine Optionen mehr, obwohl sie vielleicht verlockend oder sogar geboten erscheinen. – Kognitive kulturelle Orientierungen sagen Handelnden, was im 117
weitesten Sinne des Wortes »machbar« ist, geben also Richtungen des Könnens vor. So sagt z.B. der Atheismus, dass es keinen Gott gibt, der die weltlichen Geschicke lenkt; oder die Vorstellung, dass dem Naturgeschehen regelmäßige Muster von Ursachen und Wirkungen unterliegen, verweist darauf, nach Kausalgesetzen zu suchen. Auch diese Richtungsweisungen reduzieren Handlungskomplexität – hier die Komplexität kognitiver Art, die sich darauf bezieht, was ein Handelnder überhaupt bewirken kann. Alle drei Orientierungsdimensionen wirken zusammen, um die Komplexität von Handlungssituationen zu reduzieren. Das kann, muss sich aber nicht immer harmonisch fügen. Immer wieder kommt es vor, dass z.B. eine normative kulturelle Orientierung einem Akteur eine Richtung des Handelns verbietet, die ihm evaluativ oder kognitiv nahegelegt wird. Dies können dann schwierige Richtungskonflikte sein, die zeigen, dass die Kultur einer Gesellschaft, und – wie sich noch zeigen wird – insbesondere die Kultur der Moderne, alles andere als ein konsistenter, den Akteur mit einem klaren Koordinatensystem ausstattender Orientierungshorizont ist.53 Ich habe in allen drei Hinsichten bewusst Beispiele kultureller Orientierungen gewählt, die sehr hoch generalisiert sind, um die Spanne gegenüber den von Esser genannten sehr spezifischen Praktiken, in denen solche Orientierungen letztlich zum Ausdruck kommen, zu verdeutlichen. Man könnte das auch an einer Idee wie Menschenwürde verdeutlichen, die schrittweise handlungsinstruktiv operationalisiert wird: über rechtsphilosophische und verfassungsrechtliche Kommentare hin zu spezifischen rechtlichen Regelungen wie dem Folterverbot, das dann über Ausführungsbestimmungen und über richterliche Entscheidungen anhand von Fällen, also konkreten Handlungssituationen weiter heruntergebrochen wird, bis man beim Einzelhandeln und dessen institutioneller Prägung angekommen ist.54 An diesem Punkt muss man dann auch noch über Berger und Luckmann hinausgehen und eine vor allem von Rainer Lepsius (1986) herausgearbeitete Vorstellung Webers einbauen, die mit der Begriffstrias Ideen – Institutionen – Interessen arbeitet. Wie schon gesagt sind kulturelle Orientierungen in dem hier zugrunde gelegten hand118
lungstheoretischen Bezugsrahmen als Deutungsstrukturen verortet, die die institutionellen Erwartungsstrukturen rahmen; und beide rahmen Konstellationsstrukturen und die darin zum Ausdruck kommenden Interessenlagen – von den Einflusspotentialen kann hier abgesehen werden – der Akteure (Kap. I). Dies ist die lange Wirkungskette der Handlungsprägung, an deren Anfang kulturelle Orientierungen als »Weichensteller« stehen. Damit diese Wirkungskette nun nicht doch noch »idealistisch« missverstanden wird, sei gleich hinzugefügt, dass kulturelle Orientierungen wie etwa Werte natürlich nicht »freischwebend« existieren, sondern es – wie auch Weber stets betont – die umgekehrte Wirkungsrichtung ebenso gibt. Kulturelle Ideen und Werte müssen auch zu den »materiellen« Bedingungen und Interessen sowie zu gegebenen institutionellen Strukturen – um deren Legitimation es schließlich geht – passen; und alle kulturellen Orientierungen gehen, wie sämtliche anderen sozialen Strukturen auch, aus dem interessen- und einflussgetriebenen handelnden Zusammenwirken in Akteurkonstellationen hervor.
2. Fortschrittsidee und Wirtschaftswachstum Wenn damit geklärt ist, was unter der Kultur einer Gesellschaft zu verstehen ist, geht es nun um die erste der drei hier interessierenden gesellschaftstheoretischen Fragen: Wie ist die Kultur der Moderne hinsichtlich der sie tragenden Orientierungen zu charakterisieren? Die Kultur der Moderne ist – geografisch eingegrenzt – eine Kultur des Westens, also zunächst West- und Nordeuropas sowie Nordamerikas.55 Weber spricht vom »okzidentalen Rationalismus« und vergegenwärtigt sich dessen Grundzüge, die er kulturell vor allem in einer jüdisch-christlichen Ideenlinie, kulminierend in einigen protestantischen Sekten, in Verbindung mit aufgegriffenen hellenistisch-römischen Elementen sieht, über einen Vergleich mit anderen, im Orient angesiedelten Weltreligionen wie dem Buddhismus, dem Hinduismus und dem Islam (Schluchter 1979; Schwinn 2001: 211-311). Talcott Parsons (1971: 176/177) gelangt in seiner soziologischen Rekonstruktion der Geschichte menschlicher Gesellschaftsformen zum selben Schluss: »Trotz seiner 119
Zersplitterung war ›der Westen‹ während der ganzen Zeit […] ein Gebiet mit einer gemeinsamen Kultur, die sich auf die religiösen Traditionen des Christentums und deren Erbe aus dem Israel und Griechenland der klassischen Antike stützte, wobei letzteres durch das institutionelle Erbe der Römer und das Wiederauftauchen in der Renaissance besondere Bedeutung erlangte.« Richard Münch (1991: 27-48 – Zitat: 29) sieht, an Parsons anknüpfend, vier grundlegende kulturelle Orientierungen der Moderne – und jede dieser »großen Ideen« in sich extrem spannungsgeladen: – Rationalismus: Die Moderne ist erstens durch ein rastloses Streben nach immer mehr Wissen über die Beschaffenheit der Welt gekennzeichnet. Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt ist nur eine der Erscheinungsformen dieses Rationalismus. Das Voranschreiten des Wissens führt jedoch nicht dazu, dass unser Unwissen immer mehr abnimmt, sondern geht mit der Erkenntnis eines wachsenden Nichtwissens einher – insbesondere auch mit der Einsicht in ein irreduzibles und womöglich ebenfalls zunehmendes nicht-gewusstes Nichtwissen (Wehling 2006). – Instrumenteller Aktivismus: Rationale kognitive Weltdurchdringung wird in der Moderne zweitens weltzugewandt zur Umgestaltung aller Arten von Gegebenheiten – von der Natur bis zu den Sozialverhältnissen – eingesetzt. Die Kehrseite dieses Interventionismus sind alle möglichen Arten von transintentionalen Effekten, die die Moderne auch zum »Zeitalter der Nebenfolgen« (Beck 1996) machen. – Individualismus: Drittens ist die zentrale evaluative Zielgröße dessen, wozu die Verbindung von Rationalismus und instrumentellem Aktivismus dienen soll, die Kultivierung des Individuums zu selbstbestimmter Einzigartigkeit. Die Gesellschaftsmitglieder sollen aus allen Arten von auferlegten Traditionen und Zwangsgemeinschaften freigesetzt werden. Doch auch hier tut sich auf, dass das zugleich mit neu bewusst werdenden Abhängigkeiten von immer weiter reichenden und immer vielfältigeren Fernwirkungen einhergeht, wofür Börsenturbulenzen am anderen Ende der Welt nur ein Beispiel sind. – Universalismus: Individualismus geht mit dem normativen Pos120
tulat der Gleichheit als vierter kultureller Grundidee der Moderne einher (Kap. III.2). Gleichheit hat sich mit der Globalisierung der westlichen Moderne zur internationalen Solidarität mit der großen Mehrheit einer immer noch verelendet lebenden Weltbevölkerung universalisiert. Doch wie viel von dieser Solidaritätsbeschwörung kann überhaupt praktische Früchte tragen und was alles bleibt aufgrund vielfältiger Restriktionen Illusion oder Ideologie? Münch arbeitet neben den Spannungen, die bereits jedem dieser vier Orientierungsmuster der Moderne für sich genommen innewohnen, weiterhin die Spannungen zwischen ihnen heraus. Zwar gibt es auch, wie angedeutet, teilweise Passungen. Doch der Rationalismus kann etwa den instrumentellen Aktivismus schonungslos als völlig illusorisch destruieren und Individualismus und Gleichheit gehen ebenfalls in vielen Hinsichten überhaupt nicht harmonisch zusammen. Ohne hier systematisch alle möglichen Spannungsverhältnisse durchzugehen, ergibt sich schon aus diesen wenigen Beispielen ein höchst zwiespältiges Gesamtbild der Kultur der Moderne. Sie ist multipel spannungsgeladen und aus dieser Beschaffenheit ihrer »Kulturgestalt« ergeben sich zahlreiche Risiken gesellschaftlicher Entwicklung im Sinne einer Erosion traditionaler Sicherheiten – ob nun in Gestalt von Konflikten, Krisen oder unerwünschten Nebenfolgen: »Risiko und Moderne sind zwei Seiten einer Medaille […].« Denn: »Das größte Risiko sind Aufklärung, Freiheit, Humanität, Demokratie und die rationale Gestaltung der Welt selbst. […] Eine Kultur, die nach totaler Sicherheit strebt, hätte diesen Weg niemals betreten dürfen.« (Münch 1991: 44) Die von John Meyer (2005) auf den Weg gebrachten Forschungen zur »World Polity« machen, auf etwas spezifischerer Ebene, einen ziemlich ähnlichen Wertekanon der westlichen Moderne und dessen weltweite Diffusion in Gestalt institutioneller Blaupausen und kultureller Praktiken aus. Wissenschaftlich-technologischer Fortschritt und Bildung, Individualität und Menschenwürde, Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit einschließlich »Gender-Mainstreaming« und »diversity« sowie Solidarität mit Benachteiligten und »challenged persons« wie Behinderten, ökologische Nachhaltigkeit und Tierschutz: Dies sind einige der kul121
turellen Orientierungen, die als fraglos rational und moralisch geboten eingestuft ihren globalen Siegeszug als »Weltkultur«56 angetreten haben. Man kann nun dieses Bild der Moderne, wie es sich aus kulturtheoretischer Perspektive zeichnen lässt, noch weiter verdichten: Alle genannten und auch noch andere generelle Werte und Ideen der Moderne sind jeweils partielle inhaltliche Ausprägungen einer übergreifenden abstrakten Zentralidee: der Idee von Gesellschaftsgeschichte und darin aufgehobener je individueller Lebensgeschichte als eines gestalteten Fortschritts. Robert Nisbet (1980: 4) konstatiert: »No single idea has been more important than, perhaps as important as, the idea of progress in Western civilization for nearly three thousand years. Other ideas will come to mind, properly: liberty, justice, equality, community, and so forth.« Doch all diese anderen kulturellen Ideen erlangen ihre Überzeugungskraft angesichts einer Realität, die jeweils sehr zu wünschen übrig lässt, erst im Rahmen einer Vorstellung von geschichtlichem Fortschritt: »Nothing gives greater importance or credibility to a moral or political value than the belief that it is more than something cherished or be cherished; that it is an essential element of historical movement from past through present to future.« Um diese These, die sich so zugespitzt in den verschiedenen Varianten der heutigen kulturtheoretischen Perspektive nicht findet,57 nachvollziehen zu können, muss man sich die einzelnen Komponenten der Fortschrittsidee vor Augen führen. Die schon in der Antike beginnende und sich dann in der frühen Neuzeit entscheidend intensivierende Ausarbeitung der Fortschrittsidee lässt sich – jenseits der im Einzelnen sehr komplizierten und unterschiedlichste Frontlinien aufweisenden Deutungskämpfe und vielfältigen Lesarten durch einzelne Protagonisten – logisch als Kombination von sieben Komponenten rekonstruieren.58 Die erste Komponente ist ein lineares Zeitverständnis, das den Blick auf eine offene Zukunft richtet. Dass es »nichts Neues unter der Sonne« gebe, wird zurückgewiesen, auch in der Variante einer zyklischen Wiederkehr des Gleichen, etwa als Oszillation zwischen immer wieder sich ereignendem Aufstieg, der unweigerlich in den Niedergang führt, woraus dann ein neuerlicher Aufstieg erfolgt usw. Stattdessen proklamiert die Fortschrittsidee: Es gibt sozialen Wandel, der genuin Neues bringt. Jede Generation erlebt 122
Dinge, die »die Alten« so noch nicht gekannt haben. Das bedeutet auch, dass die Zukunft als unerschöpflicher Quell des Neuen angesehen wird. Fortschritt wird vor allem deshalb zur »[…] endlosen Zielverschiebung, weil die Zwecke, die der Fortschritt erfüllen soll, selber als fortschreitend entworfen werden« (Koselleck/Meier 1975: 352). Die zweite Komponente der Fortschrittsidee bewertet das Neue auf eindeutige Weise: Die Zukunft wird besser sein als die Gegenwart, und diese ist besser, als es die Vergangenheit war: »Simply stated, the idea of progress holds that mankind has advanced in the past – from some aboriginal condition of primitiveness, barbarism, or even nullity – is now advancing, and will continue to advance through the foreseeable future.« (Nisbet 1980: 4/5, Hervorheb. weggel.) Zurückgewiesen wird damit zunächst einmal jede Art von Niedergangsvorstellung: dass es immer schlechter um die Welt stehe. Auch eine gemischte Bilanz der Zukunft entspricht nicht der Fortschrittsvorstellung: wenn sich Gutes und Schlechtes mehr oder weniger die Waage hielte oder das Gute zwar überwöge, aber doch zu viel Schlechtes mit sich brächte. Schließlich setzt sich die Fortschrittsidee auch über jede Geschichtsdeutung hinweg, der zufolge es darum gehen müsse, ein früheres »goldenes Zeitalter« wiederherzustellen. Denn auch diese Vorstellung, wie sie sich in vielen mythischen und religiösen Gedankengebäuden findet, bleibt eine doppelt rückwärtsgewandte. Man kann das sehr deutlich – und typisch – am christlichen Geschichtsbild ablesen: Startpunkt war das Paradies, und Endpunkt wird die Wiederherstellung des Paradieses im ewigen Leben sein. Die dritte Komponente der Fortschrittsidee besagt: Die verschiedenen Fortschrittsbewegungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen verknüpfen sich zu einer gesellschaftlich flächendeckenden Gesamtentwicklung. Dies unterscheidet sehr augenfällig die Moderne von Fortschrittsvorstellungen, wie sie in verschiedenen Phasen der Antike – etwa in der griechischen Welt des 5. Jahrhunderts vor Christus – durchaus verbreitet waren. Dass es überhaupt Fortschritt in der Welt gebe, ist keine spezifisch moderne Idee. Doch die Griechen sahen ihn eben erstens längst nicht überall, sondern nur im zivilisierten Teil der Menschheit, und dort hauptsächlich in allen Arten der Technik, auch im wissenschaftlichen Wissen über die Welt und in den Künsten – ob es 123
hingegen auch einen Fortschritt der Institutionengestaltung, etwa politischer Herrschaft, oder einen moralischen Fortschritt gebe, war schon fraglich. Zudem vollzogen sich diese verschiedenen Fortschritte weitgehend unverbunden nebeneinander. Eine gemeinsame Richtung wurde nicht ausgemacht. Erst in der Moderne wird von gesellschaftlichem Fortschritt im »Kollektivsingular« gesprochen, der sachlich »[…] die Summe aller Einzelfortschritte in sich bündelt […]« (Koselleck/Meier 1975: 388) und sozial die Menschheit als Ganze erfasst. Die vierte Komponente der modernen Fortschrittsidee erhebt die Menschen zu Trägern des Fortschritts. Damit werden letztlich sämtliche religiösen – insbesondere christlichen – Vorstellungen darüber, dass ein Gott, und sei es in allerletzter Instanz, den Geschichtsverlauf lenkt, zurückgewiesen. Schon im Mittelalter entwickelte das Christentum ja – Thomas von Acquin und Joachim von Fiore als wichtigste Denker – die Vorstellung, dass es auch vor dem Jüngsten Tag genuine Fortschritte menschlichen Daseins geben könne und dass, noch wichtiger, die Menschen dies selbst mit in der Hand hätten, sich dabei also nicht einfach auf Gottes lenkende Hand verlassen dürften. Auch ihr irdisches Leben müsse kein einziges Jammertal bleiben, wenn sie sich ernsthaft um Verbesserungen bemühten. Diese Denkfigur ist der eine Übergang zur modernen Fortschrittsidee, insofern explizit menschliche Gestaltungsspielräume ausgemacht werden. Die andere Übergangs-Denkfigur, die dann bis weit in die Moderne hinein wirkte, bestand darin, Gott nur noch als »ersten Beweger« zu konzipieren, der gleichsam das Spielfeld und die Spielregeln konzipiert und die Spielfiguren auf ihre Startpositionen gesetzt hat, aber den Spielverlauf fortan den Spielern und ihren Auseinandersetzungen selbst überlässt. Hier sind noch mehr Entfaltungsmöglichkeiten des menschengemachten Fortschritts vorgesehen – wobei man freilich auch scheitern kann. Schließlich ist es irgendwann nur noch ein kleiner Schritt, den ganz weit zurückliegenden Auftritt des »ersten Bewegers« gedanklich einzuklammern und bald ganz zu vergessen. Dann hegt man eine konsequent säkularisierte Fortschrittsvorstellung. Fortschritt als Menschenwerk zu denken, verweist erst einmal auf individuelle Personen und deren Tun. In der Moderne haben sich allerdings – als fünfte Komponente der Fortschrittsidee – drei Arten von Akteuren herausgebildet, die als Adressaten des 124
gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens gelten: Individuen, Organisationen und Nationalstaaten (Meyer/Jepperson 2000). Ihnen allen wird »actorhood« mit ihren verschiedenen Ingredienzien – wie Einheit, Autonomie, Kognitions-, Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, Selbstkontrolle, Ausbildung von Orientierungen und Intentionalität (Meier 2009: 82-97) – zugerechnet; und dieser Akteurstatus prägt sich mit Blick auf gesellschaftlichen Fortschritt für jeden der drei Akteure in einer je spezifischen Sendung aus: – Bei Individuen ist es Bildung, durch die Fortschritt im eigenen Lebensverlauf realisiert wird. Das fängt nicht erst mit höherer Bildung, also dem Gymnasium, an. Gerade die Elementarbildung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch immer größeren Teilen der einfachen Bauern und Arbeiter zukommt, ist als »Kampf gegen den Fatalismus« (Tenorth 2011) zu lesen. Plakativ zugespitzt: Schon wer Lesen und Rechnen gelernt hat, ist kritik- und utopiefähig. Er oder sie lässt sich nicht länger das eigene Schicksal als natur- oder gottgegeben einreden und vermag sich realistisches Besseres für sich selbst vorzustellen. – Organisationen sind, neben Individuen, der zweite Hoffnungsträger der Moderne. »Maintaining the dream of the rational organization« ist einer der zentralen »mechanisms of hope« der Moderne (Brunsson 2006). Was Bildung beim Individuum bewirkt, läuft bei Organisationen über Rationalisierung, wobei eines der avancierteren Konzepte dafür bezeichnenderweise als »lernende Organisation« tituliert wird. – Schließlich Nationalstaaten als dritter Hoffnungsträger: Mit ihnen wird Politik zur Gesellschaftsgestaltung in die Pflicht genommen und ist nicht mehr nur Herrschaft zur Sicherung der natürlichen oder gottgewollten Ordnung. Im Staatsgebiet muss dem Staatsvolk etwas geboten werden, was als »Gemeinwohl« allen und in diesem Rahmen auch jedem Einzelnen zugute kommt. Nur eine solche Politik findet fortan Legitimität, auf die sie insbesondere, aber nicht erst unter demokratischen Verhältnissen angewiesen ist. Das kann so weit gehen, wie es Ulrich Matz (1977: 90-101 – Zitate: 90, 93, Hervorheb. weggel.) in kulturkritischer Polemik auf die Formel vom »Staat als Organisator säkularisierter religiöser Ideen«, der eine »Politisierung des Glücks« betreibe, bringt. 125
Als Menschenwerk wird Fortschritt gestaltet: Substantielle Zielgrößen werden, im Rahmen des für möglich Gehaltenen, bewusst gesetzt – z.B. die »autogerechte Stadt«, eine Frauenquote für Unternehmensvorstände oder die Beseitigung des Hungers auf der Welt. Ein einzelner Akteur muss hierzu mit sich selbst ins Reine kommen – gegebenenfalls, indem er innere Konflikte und Unklarheiten darüber, was er will, durch rationale Abwägung vereindeutigt. Mehrere Akteure müssen, wenn sie keinen vollständigen Konsens erzielen können, Mehrheitsentscheidungen treffen oder Kompromisse eingehen, um einen einheitlichen Gestaltungswillen herzustellen. Diese sechste Komponente der Fortschrittsidee setzt erstens Kontingenzbewusstsein gegenüber der Welt voraus (Holzinger 2007). Fast nichts wird mehr als unveränderliche Naturkonstante gesehen, fast alles könnte auch ganz anders sein bzw. gemacht werden. Zweitens vermittelt kontinuierliche gesellschaftliche Selbstbeobachtung, von der Wissenschaft bis zum Journalismus, ein stetig wachsendes und aktualisiertes Wissen über die Welt. Auf dieser Grundlage weiß man, was der Fall ist, was geht und was anderswo wie aussieht. Das stärkt das Kontingenzbewusstsein und forciert zugleich – als dritte Voraussetzung – Kritikfähigkeit. Man erkennt die Perspektivität aller Wahrnehmung und Beurteilung. Nichts ist dann mehr heilig oder »natürlich« oder unübertrefflich optimal, alles könnte auch ganz anders gesehen werden.59 Damit kommt Variation ins Spiel, sogar gegenüber völlig verdinglichten Traditionen; und aus dem so generierten Alternativenspektrum muss man bewusst auswählen, welches Ziel man sich vornimmt. Damit ist bereits die siebte Komponente der modernen Fortschrittsidee angesprochen: Fortschritt ist nicht nur hinsichtlich der mit ihm verbundenen spezifischen Zielsetzungen gestaltet; er stellt sich darüber hinaus auch hinsichtlich der Implementation der Ziele nicht »hinter dem Rücken« der ihn tragenden Akteure – ob nun Individuen, Organisationen oder Nationalstaaten – á la Bernard de Mandevilles »private vices, public virtues« oder als Resultat von Adam Smiths »invisible hand« oder von Evolution im Sinne eines »survival of the fittest« ein; sondern Fortschritt wird in diesem Verständnis durch rationale Intervention in die Welt erzielt. Friedrich Rapp (1992: 15) stellt hierzu fest: »Das Fortschrittsdenken ist der großangelegte Versuch, den Gegensatz zwi126
schen Absicht und Wirkung aufzuheben […].« Dies ist der Selbstanspruch der menschlichen Gestalter. Fortschritt fällt einem in der Moderne nicht mehr zu, sondern muss gezielt herbeigeführt werden. Um es noch einmal zu betonen: Hier wird eine Idee rekonstruiert – mit einem von Weber oft genutzten Begriff formuliert: ein »Glaube«. Wie Nisbet (1980: 7) unmissverständlich feststellt: »From at least the early nineteenth century […], belief in the progress of mankind, with Western civilization in the vanguard, was virtually a universal religion […].«60 Dass Fortschrittsglaube die zentrale kulturelle Leitidee der Moderne ist, heißt weder, dass es Fortschritt in diesem Verständnis tatsächlich gibt oder geben müsste, noch, dass wissenschaftlich festlegbar wäre, was »wahrer« Fortschritt ist und was nicht. Soziologisch bedeutsam ist einzig, dass dieser Glaube Handeln motiviert und lenkt und darüber, vermittelt durch handelndes Zusammenwirken, gesellschaftliche Strukturdynamiken bewirkt. Diese handlungsantreibende Kraft kultureller Ideen kann enorm stark sein und war und ist es auch im Fall der Fortschrittsidee: Spätestens im 19. Jahrhundert leitete sich daraus eine globale »Zivilisierungsmission« (Osterhammel 2009: 1173-1188) des Westens ab, die bis heute anhält und sich, wie schon erwähnt, als »World Polity« institutionalisiert hat. Dass die Moderne kulturell von der Fortschrittsidee dominiert wird, heißt freilich keineswegs, dass diese Idee unangefochten geherrscht hat. Zum einen bringt sie aus sich selbst heraus gleichsam Zwietracht hervor; und zum anderen ruft sie eine Fortschrittsskepsis als Kritik von außen auf den Plan. Ersteres bedeutet, dass die Fortschrittsidee in ihrer sachlichen und sozialen Spezifikation zutiefst umkämpft ist. Wer was unter Fortschritt versteht und wem welche Fortschritte zugute kommen sollen, lässt sich nicht nur nicht aus der allgemeinen Idee deduzieren; der in ihr enthaltene Gestaltungsauftrag und das darin implizierte Kontingenzbewusstsein bringen sogar eine Vielzahl alternativer Lesarten dessen, was Fortschritt in bestimmten Hinsichten bedeutet, hervor. Daneben gibt es in der Moderne eine noch weitergehende, grundsätzliche Fortschrittsskepsis, freilich eher unter Intellektuellen inklusive soziologischer Zeitdiagnostiker. Diese »rhetoric of reaction« (Hirschman 1991) zweifelt am Fortschritt generell, nicht bloß an irgendeiner spezifischen Vorstellung von Fort127
schritt; und ihr grundsätzlicher Vorbehalt lautet, dass die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell kein erfolgreiches Gestaltungshandeln zulässt, also auch nicht die Verfolgung von Zielsetzungen, die im Namen des Fortschritts angestrebt werden. Die Fortschrittsskepsis läuft auf den an die Fortschrittsgläubigen gerichteten Vorwurf einer »Paradoxie des instrumentellen Aktivismus (Interventionismus)« hinaus: Dieser »[…] schafft mit jedem Eingreifen in die Welt zur Bewältigung von Leiden, Unrecht, Schäden und Irrationalitäten stets neue Formen von Leiden, Unrecht, Schäden und Irrationalitäten.« (Münch 1991: 34-37 – Zitat: 34) Die Strahlkraft der modernen Fortschrittsidee wird freilich daran deutlich, dass die Fortschrittsskepsis kaum einmal durchgehalten wird.61 Heutzutage zu behaupten, es gebe keinen Fortschritt, alles bleibe so schlecht, wie es ist bzw. dies sei die beste aller Welten, ist offenbar nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Die »rhetoric of reaction« bestreitet also in der Regel nicht die gesellschaftliche Dominanz der Fortschrittsidee. Ganz im Gegenteil: Diese Dominanz wird konstatiert und als gesellschaftlich höchst schädlich attestiert. Dass aber angesichts dessen keine starke Relativierung oder völlige Abschaffung der Fortschrittsidee gefordert wird, zeigt nochmals die Unanfechtbarkeit des Fortschrittsglaubens. Stattdessen läuft die »rhetoric of reaction« zum einen darauf hinaus, sich der Hoffnung hinzugeben, dass auch ohne – im Ergebnis immer nur schädliche – Gestaltungsbemühungen sich Fortschritt naturwüchsig über Evolution oder »invisible hand mechanisms« (Ullman-Margalit 1978) einstellen könne, verneint also letztlich nur die siebte Komponente der Fortschrittsidee. Zum anderen gesteht man zu, dass extrem vorsichtige Gesellschaftsgestaltung »auf Sicht« im Schneckentempo des »piecemeal engineering« (Popper 1957) bzw. des Inkrementalismus (Lindblom 1959; Schimank 2005: 237-306) gelingen könne. Den Trägern des gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens wird also eine »Politik der kleinen Schritte« empfohlen, aber eben kein totales Gestaltungsverbot auferlegt. Wenn in einer so explizierten Fortschrittsidee der zentrale kulturelle »Weichensteller« der inzwischen globalisierten westlichen Moderne zu sehen ist, muss man sich wiederum fragen, wie diese Idee sich unter Bedingungen eines gesamtgesellschaftlichen Primats der kapitalistischen Ökonomie ausformt. Man erkennt 128
schnell: Fortschritt wird, vor allen anderen sachlichen und sozialen Zielspezifikationen, als Wirtschaftswachstum und sich daraus ergebende Steigerung des je individuellen Lebensstandards gelesen. Nisbet (1980: 177) notiert zum 19. Jahrhundert: »There was very close affinity between faith in progress and faith in what today we call economic growth.« Das reicht inzwischen bis hin zu einer – wie es Klaus Dörre (2012) zugespitzt auf den Punkt bringt – »Sakralisierung des Wachstums«. Die Fortschrittsidee geradezu mit Wirtschaftswachstum gleichzusetzen, ist in einer kapitalistischen Gesellschaft plausibel, weil der Geldbedarf, der mit vielen Arten von Fortschritt mal in größerem, mal in geringerem Maße verbunden ist, nur aus der Wirtschaft geschöpft werden kann – und dies umso eher, je mehr sie prosperiert. Man kann dies mit Blick auf die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme etwa an einer Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung ebenso durchspielen wie an einer verbesserten Drohkulisse atomarer Abschreckung, sofern man Letzteres für Fortschritt hält; und natürlich erfordert auch der technische Fortschritt wirtschaftlicher Produktion hohe Investitionen, die erst mal als Gewinne verdient worden sein müssen. Auf individueller Ebene beruht Fortschritt im Sinne besserer Lebenschancen in ebenso starkem Maße auf disponiblem, nicht für das Existenzminimum benötigtem Einkommen, also einem entsprechenden Lebensstandard; und wenn eine Verbesserung der Lebenschancen nicht nur einer exklusiven Gruppe Besserverdienender möglich sein soll, wird »Wohlstand für alle« – wie die werbewirksame Formel mal hieß – benötigt. Sämtliche gesellschaftlichen Werte, aus denen Spezifikationen der Fortschrittsidee hervorgehen können, geraten in den Sog der Leitidee wirtschaftlichen Wachstums. Vergleichsweise abgeschirmt sind die Leitwerte der ausdifferenzierten Teilsysteme. Doch wie das Ökonomisierungs-Spiel zeigt, ist die »legitime Indifferenz« etwa wissenschaftlicher Wahrheitssuche oder medizinischer Versorgung gegenüber Kostenerwägungen darauf angewiesen, dass hinreichend viele Finanzmittel zur Verfügung stehen (Kap. II.4). Im Umgang mit »freischwebenden«, nicht teilsystemisch institutionalisierten Wertorientierungen wie etwa Naturschutz oder Rationalität ist eine Beugung durch wirtschaftliche Gesichtspunkte noch häufiger und oftmals geradezu selbst129
verständlich. Man beachte nur, wie oft und in wie vielen Kontexten Rationalität fraglos mit wirtschaftlicher Effizienz gleichgesetzt wird. Selbst die Menschenrechte müssen es sich gefallen lassen, immer wieder daraufhin befragt zu werden, wie viel man sie sich kosten lassen will oder kann. Pointiert formuliert: Jeglicher Fortschritt steht unter dem Generalvorbehalt des hier und jetzt Finanzierbaren und sollte, ist das gewährleistet, nach Möglichkeit auch noch Wachstumsimpulse versprechen. Dass das als eine banale Aussage gilt, belegt nur, welche Denkzwänge und Denkverbote in Sachen gesellschaftlicher Fortschritt eine kapitalistische Wirtschaft gesellschaftsweit auferlegt. Auf der Ebene individueller Lebensführung zeigt sich das ebenso. Der moderne Individualismus in Gestalt selbstbestimmter Einzigartigkeit (Kap. II.3) hängt in seinen Entfaltungsmöglichkeiten auf vielfältigste Weisen vom persönlichen Einkommen ab (Kap. III.3), auch wenn schon früh verarmte Adlige und eine bürgerliche Boheme oder Jugend Umtriebe wie die Romantik oder die »Gegenkultur« der späten 1960er Jahre inszenieren, in denen dann manchmal sogar eine als hoffnungslos »materialistisch« kritisierte Fortschrittsidee pathetisch über Bord geworfen wird – unter zumindest klammheimlicher Bewunderung durch Teile des Bildungsbürgertums, das selbst freilich im Staatsdienst oder als Selbständiger sein Auskommen hat. Und was heute zeitdiagnostisch insbesondere durch die an Michel Foucault anknüpfenden »governmentality studies« als »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) ausgemacht wird, steht in einer langen Tradition der Moderne, die mit der von Weber (1905) herausgestellten »protestantischen Ethik« begann.62 Selbstbestimmte Einzigartigkeit, egal ob in der Erwähltheit der Wenigen gegenüber der Verdammnis der Vielen oder in den »feinen Unterschieden« (Bourdieu 1979), mit denen man in der Distinktionskonkurrenz punktet, zeigt sich in und beruht auf persönlichem Wohlstand, wenn nicht Reichtum. Angesichts dessen, was die Vermögenden den weniger begüterten Gesellschaftsmitgliedern diesbezüglich vorführen, nimmt es nicht Wunder, dass das Streben nach Wohlstand oder, wie es auch bald hieß, einem höheren Lebensstandard für die Meisten der Königsweg zur Entfaltung eigener Individualität im Sinne von »Selbstverwirklichung« war und nach wie vor ist. Damit ist die Kultur der Moderne beschrieben: Ihr Grundzug 130
wird durch die Fortschrittsidee markiert, die wiederum primär auf Wirtschaftswachstum und Steigerung des persönlichen Lebensstandards hin ausgelegt wird. Was bedeutet eine solche »Weichenstellung« – nochmals mit Weber gesprochen – für die Lebenschancen der Individuen und die gesellschaftliche Integration?
3. Ef fekte auf Lebenschancen und gesellschaftliche Integration Hinsichtlich der Lebenschancen der Individuen könnte man es sich einfach machen und darauf verweisen, dass die Kultur der Moderne diesbezüglich äußerst umstritten ist. Immer wieder ist die schrittweise Realisierung der Fortschrittsidee als Segen für die individuellen Gesellschaftsmitglieder gefeiert worden; aber ebenso oft ist die moderne Kultur für das Individuum geradezu als Tragödie eingestuft worden. Genau die gleiche Dualität der Folgenbewertung findet sich mit Blick auf gesellschaftliche Ordnung. In der Zusammenschau ergeben einschlägige Bewertungen somit wiederum – wie auch schon in der differenzierungs- und der ungleichheitstheoretischen Perspektive – ein hochgradig ambivalentes Bild. Da die empirische Datenlage nicht so ist, dass man bestimmte einander widersprechende Einschätzungen klären könnte, lässt sich vorderhand erst einmal nur nach theoretischen Plausibilitäten fragen. Klar ist zunächst einmal, dass die Fortschrittsidee eine kulturelle Steigerungsdynamik auf den Weg gebracht hat, die sämtliche Lebensbereiche erfasst. Die in den teilsystemischen Leitwerten angelegten sachlichen Steigerungslogiken sind Bestandteil dessen, ebenso wie in sozialer Hinsicht die Steigerungsimperative des Gleichheitspostulats; doch das Fortschrittsstreben erschöpft sich längst nicht in diesen beiden auch von der differenzierungsbzw. der ungleichheitstheoretischen Perspektive herausgestellten Phänomenen. Steigerung bedeutet kulturtheoretisch ganz lapidar: mehr von allem, was als Fortschritt gilt, sowohl als Wachstum in quantitativer als auch als Vervielfältigung und Verbesserung in qualitativer Hinsicht. In diesem Sinne huldigt die Moderne, wie Peter Gross (1994: 366) es ausdrückt, dem »Mehrgott«. Dass die Fortschrittsidee der Moderne keine ihr innewohnende Stoppregel 131
kennt, nur temporäre, zu überschreitende Begrenzungen, dass also auch der Überfluss und das Beste immer noch vermehrt und optimiert werden könnten, stellt eine wie die Faust aufs Auge passende Wahlverwandtschaft zum Wachstumszwang kapitalistischer Wirtschaft dar. Längerwährendes Nullwachstum ist bereits Krise, von »Negativwachstum«, also einer schrumpfenden Wirtschaft ganz zu schweigen. Gross bringt die Effekte dieser allgemeinen und kapitalistisch weiter forcierten Steigerungsdynamik auf den Begriff der »Multioptionsgesellschaft«. Darin klingt mit Blick auf individuelle Lebenschancen bereits an, dass den Gesellschaftsmitgliedern immer mehr Optionen eröffnet werden. Gross’ kulturtheoretische Perspektive erweitert die entsprechende Diagnose, die auch differenzierungs- und ungleichheitstheoretisch präsentiert wird (Kap. II.3, III.3), und konstatiert geradezu eine nicht enden wollende Explosion von Optionen. Um nicht vorschnell einseitig die kulturkritische Rechnung zu präsentieren, will ich erst einmal verzeichnen, dass die »Multioptionsgesellschaft« vielen ihrer Mitglieder zahllose zusätzliche Lebenschancen eröffnet hat. Die Individualisierung der Person in der modernen Gesellschaft geht nicht nur – wie schon dargestellt – auf funktionale Differenzierung und wohlfahrtsstaatlich flankierte marktvermittelte Ungleichheiten, sondern auch auf das Wirken der Fortschrittsidee zurück; und noch allgemeiner hat deren Impetus in Richtung des erwähnten Kontingenzbewusstseins entscheidend zur Relativierung verdinglichter Traditionen – Sitten, Gebräuche, Sichtweisen, Dogmen – beigetragen. Dass beengende gesellschaftliche Verhältnisse, in welchem Lebensbereich auch immer, nicht länger als etwas Natürliches, gar nicht anders Mögliches hingenommen werden, ist dem Fortschrittsdenken zu verdanken. Fortschritt und Tradition sind gleichsam natürliche Feinde. Die handlungswirksam gewordene Fortschrittsidee beschert dementsprechend, mit Anthony Giddens (1996) gesprochen, dem Einzelnen ein »Leben in einer post-traditionalen Gesellschaft« – und das bringt Entscheidungszwänge mit sich: »In posttraditionalen Kontexten haben wir keine andere Wahl, als zu wählen, wer wir sind und wie wir handeln wollen.« (Giddens 1996: 142) Entscheidungen bedeuten nicht nur die Chance zur Selbstbestimmung des eigenen Lebens; die Kehrseite dessen sind die beiden Qualen 132
der Wahl (Schimank 2005: 49-52). Zunächst hat man die Qual vor der Wahl: Was soll ich tun? Und hat man eine Wahl getroffen, folgt die Qual nach der Wahl: Habe ich mich richtig entschieden? Und immer wieder merkt man früher oder später, dass man sich falsch entschieden hat und ist dann selbst dafür verantwortlich und muss die Folgen tragen. Optionssteigerung ist also alles andere als ein ungetrübter Segen. Insbesondere als »Entobligationierung« spricht Gross (1994: 71) dann eine weitere Kehrseite an: die mit der Optionssteigerung häufig und zumindest teilweise sogar zwangsläufig einhergehende Vernichtung von Ligaturen. Denn nicht wenige sinnstiftende Bindungen erwachsen aus Beschränkungen und werden zerstört, wenn das Ergreifen verfügbarer Optionen auferlegt wird. Ein simples, aber in seiner Provokation der »Political Correctness« aufschlussreiches Beispiel: Der Lebensentwurf der Hausfrau und Mutter ist als Ligatur durch die Optionen, die die Frauenbewegung den Frauen erkämpft hat, sowohl normativ als auch evaluativ radikal diskreditiert; solchen Frauen wird heutzutage vorgehalten, dass sie »nichts aus ihrem Leben machen«; und selbst wenn sie sich vollkommen freiwillig dafür entscheiden, wird ihnen das nicht abgenommen, sondern als manipuliertes »falsches Bewusstsein« verbucht. Andere Beispiele für Ligaturenverluste, die aus Optionserweiterungen herrühren können, wären etwa verlorengehende Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzwerke aufgrund räumlicher Mobilität, die sich aus beruflichen Karrierechancen ergibt, oder der von Gross (1994: 81) betonte »Verlust der religiösen Rahmenerzählungen«. Die Befreiungen des menschlichen Denkens, die mit der Aufklärung und dann der modernen Wissenschaft einsetzten, haben bei vielen Menschen den ihrem Leben Sinn verleihenden Glauben an Gott und die durch ihn gestiftete Weltordnung erschüttert. Die kulturell durch das Fortschrittsstreben herbeigeführte Optionssteigerung hat somit zwar die Autonomiespielräume vieler Individuen gesteigert, aber um den Preis einer Reduktion von Ligaturen, aus denen sich ebenso wichtige Erfahrungen persönlicher Authentizität speisen (Rosa 2012: 411). Optionssteigerungen werden darüber hinaus aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Dominanz der kapitalistischen Wirtschaft vor allem in Gestalt von 133
Warenangeboten und damit verbundenen Konsumchancen offeriert, was freilich eine ausreichende Kaufkraft der Person erfordert. Gesellschaftlicher Fortschritt heißt so aus individueller Sicht vor allem: höheres Einkommen, um sich ein entsprechend erweitertes Angebot an Gütern und Dienstleistungen leisten zu können. Dass immer wieder bestimmte gesellschaftliche Gruppen gegen den »Konsumterror« – wie das im Jargon der Gegenkultur der 1960er Jahre genannt wurde – aufbegehren und eine Rückkehr zum »einfachen«, aber genau deshalb »erfüllten Leben« propagieren, zeigt, dass auch den Konsumoptionen der Ligaturenverlust innewohnt. Hartmut Rosa (2009: 275-278 – Zitat: 277) weist darauf hin, »dass Kaufen […] geradezu zu einer Kompensationshandlung für entgangenen Konsum geworden ist […]«, wobei er mit Konsum die zeitintensive persönliche Anverwandlung der Ware meint. Der Fortschrittsglaube übersetzt sich – gerade als wirtschaftlicher Wachstumsimperativ verengt – letztlich in eine die gesamte individuelle Lebensführung und das gesellschaftliche Leben mit sich reißende »Beschleunigungsspirale«, wie Rosa (2006) an zahllosen Phänomenen diagnostiziert. Diese wird zu einer überdrehten Verselbständigung der Steigerungslogik, die aus der Fortschrittsidee erwächst. Es geht nicht mehr um Verbesserungen in Richtung bestimmter substantieller Ziele wie Freiheit, Gleichheit, Erkenntnis oder Gesundheit, sondern bloß noch darum, weiter zu eilen, um »[…] durch beschleunigte Auskostung der Weltoptionen […]« (Rosa 2006: 289 – Hervorheb. weggel.) möglichst viel aus der begrenzten je eigenen Lebenszeit herauszuholen. Wendet man sich nun den Folgen einer Fortschrittsorientierung des Handelns für gesellschaftliche Integration zu, stößt man auf ein vergleichsweise wenig und eher pauschal thematisiertes Feld an Fragen. Generell gibt es immer wieder Vorstellungen darüber, dass die Sozial- und auch die Systemintegration der modernen Gesellschaft durch einen gesamtgesellschaftlich übergreifenden Wertekonsens befördert oder sogar fundiert werden. Insbesondere Parsons (1971: 12-19, 23/24 – Zitat: 23) geht davon aus, dass ein Bündel generalisierter Wertorientierungen die »kulturelle Legitimation der normativen Ordnung« der Gesellschaft, also ihrer institutionellen Erwartungsstrukturen, leistet. Die kulturellen Wertorientierungen stecken für ihn einen Rahmen dessen ab, was gesamtgesellschaftlich als erstrebenswert und moralisch 134
geboten gilt. In vormodernen Gesellschaften war die Religion, im Okzident also die »christliche Einheitskultur« (Troeltsch 1922), der zentrale Ursprung dieser rahmensetzenden Wertorientierungen. Seit nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass alle Menschen in einer Nationalgesellschaft, von der Weltgesellschaft ganz zu schweigen, demselben Glauben angehören oder überhaupt religiös gläubig sind, wird diese Integrationsfunktion einer »civil religion«, wie sie sich u.a. in den Grundwerten ausdrückt, zugesprochen bzw. abverlangt (Bellah 1975; Bellah et al. 1985). Darin kommt die Fortschrittsidee zwar explizit nicht vor; wohl aber unterliegt sie, wie dargestellt, gleichsam als Meta-Überzeugung den Vorstellungen, dass Freiheit oder Gleichheit oder Menschenwürde zu achten und anzustreben seien. Die Frage ist nur erstens, welche gesellschaftsweite integrative Kraft eine »civil religion« jenseits eines unverbindlichen Pauschalkonsensus der Sonntagsreden noch zu mobilisieren vermag, sobald es um handfeste Auseinandersetzungen geht (Luhmann 1997: 340-344). Zweitens und noch weitergehend ist in Rechnung zu stellen, dass Wertorientierungen generell, gerade wenn sie eine tiefe Identifikation hervorrufen, mindestens genauso oft Konflikte auslösen und anfachen, wie sie integrativ wirken. Das weiß man spätestens seit den frühmodernen europäischen Religionskriegen. Gerade in kulturtheoretischer Perspektive werden die vielfachen Spannungsverhältnisse zwischen den Werten der Moderne herausgestellt. Hier stellt die Fortschrittsidee nicht das gemeinsame Band dar, sondern ist im Gegenteil in sich zerrissen. Sie befördert auf gleiche Weise ein Sich-Hineinsteigern in bestimmte substantielle Fortschrittsziele ohne Rücksicht auf Verluste, wie das bereits differenzierungstheoretisch für die teilsystemischen Leitwerte herausgestellt wurde (Kap II.1). Das entscheidende Problem ist also nicht, dass es in der Moderne keine über geteilte kulturelle Orientierungen vermittelte gesellschaftliche Integration mehr gibt. Entscheidend ist, dass diese Integration zwischen Personen und Personengruppen oder über Teilsystemgrenzen hinweg partikular bleibt, mehr aus- als einschließt und immer wieder geradezu eine Integration ist, die aus der dezidierten Gegnerschaft gegen andere und anderes erwächst und so auf höherer Ebene desintegrativ angelegt ist. So integriert etwa Fremdenfeindlichkeit bestimmte soziale Milieus oder sogar 135
große Teile einer Staatsbevölkerung sehr stark und sorgt – nicht etwa trotzdem, sondern gerade deshalb! – für einen Verlust an Sozialintegration der »gesellschaftlichen Gemeinschaft« (Parsons 1971: 22-29) als Ganzer. Insgesamt zeigt sich somit, dass sich die Fortschrittsidee hinsichtlich der Lebenschancen der Individuen nur auf der Seite der Optionen, und auch dort nicht ohne Nebenwirkungen, positiv auswirkt; noch deutlich kritischer fällt die Bilanz mit Blick auf gesellschaftliche Integration aus. Auch wenn dies keine empirisch gesicherten Erkenntnisse sind, ist klar: Die Fortschrittsidee wird in ihren Wirkungen nicht nur von gesellschaftstheoretischen Beobachtern, vorsichtig gesagt, ambivalent eingestuft; sie produziert auf Seiten der gesellschaftlichen Akteure immer wieder Enttäuschungen und Unzufriedenheiten – und genau daraus gehen die nun anzusprechenden Kulturdynamiken hervor.
4. Kulturdynamiken Die kulturellen Dynamiken der Moderne manifestieren sich als Kämpfe darüber, was als erstrebenswert, moralisch geboten und richtige Weltsicht gelten soll. Dabei gibt es zwei Frontlinien, an denen diese Deutungskämpfe ausgetragen werden: zum einen als fortwährende Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Moderne auf der einen, den Anti-Modernen auf der anderen Seite;63 zum anderen als Auseinandersetzungen zwischen Vertretern verschiedener Lesarten der Moderne. An ersterer Frontlinie hat sich die Kultur der Moderne gegen äußere Feinde zu erwehren, die nichts von der Fortschrittsidee der Moderne halten. An der zweiten Frontlinie kämpft die Moderne hingegen mit sich selbst; hier geht es um konfligierende Lesarten der Fortschrittsidee. Dabei wäre es entschieden zu einfach, die Anti-Modernen räumlich nur außerhalb des Westens und die immanenten Konflikte zwischen Lesarten der Moderne räumlich nur innerhalb des Westens zu verorten. Die katholische Kirche z.B. war lange Zeit eine dezidierte Gegnerin moderner Ideen und ist dies in bestimmten grundlegenden Hinsichten bis heute, ist aber zweifellos nach wie vor zutiefst westlich geprägt. Umgekehrt ist Japan ein außerwestliches Land, das sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ent136
schieden kulturell modernisiert hat. Damit ist nicht nur klar gestellt, dass man kulturtheoretisch nicht einfach »the west and the rest« (Hall 1992) auseinanderdividieren kann; es zeigt sich auch, dass sich innerwestlich auf der einen sowie zwischen Westen und außerwestlichen Kulturen auf der anderen Seite ähnliche Muster der Auseinandersetzung entdecken lassen, die ich nun in einem allgemeinen handlungstheoretischen Modell für die Analyse von Kulturdynamiken darlege.64 Dieses Modell kann insbesondere viele Komponenten aufgreifen, die von Andreas Reckwitz (2000: 617-643; 2006: 68-96; 2008: 135-145) zusammengetragen worden sind. Ausgangspunkt ist, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort – oft kann man nach wie vor von einer Nationalgesellschaft ausgehen – ein zumeist eher inhomogenes als homogenes, jedenfalls niemals völlig geschlossenes Ensemble an kulturellen Deutungsstrukturen in Gestalt von Ideengebilden existiert. So gibt es in der Regel eine Pluralität an religiösen Glaubensvorstellungen, sogar innerhalb derselben Kirche, und auch ansonsten weltanschauliche Vielfalt. Jedes Ideengebilde – etwa der Sozialismus oder der Katholizismus oder der Vegetarismus – hat Trägergruppen, deren Handeln es, oft als Teil ihrer Identität, prägt und die es damit reproduzieren. Dabei gehört jede Person mehreren Trägergruppen an, huldigt also mehreren Ideengebilden, ist beispielsweise zugleich katholisch und Kernphysiker und Veganer. Es gibt somit keine exklusiven Eins-zu-eins-Verknüpfungen bestimmter kultureller Ideen mit bestimmten Personengruppen. Ein und dieselbe Person ist Mitträgerin von manchmal sehr divergenten Ideen und eine bestimmte Idee wird unter Umständen von sehr verschiedenen Arten von Personen getragen. Trägergruppen sind erst einmal eine mehr oder weniger große Anzahl von Individuen mit in bestimmten Hinsichten ähnlichen kulturellen Orientierungen. Mehr oder weniger viele derjenigen Individuen, die eine Trägergruppe bilden, können sich zu kollektiven oder korporativen Akteuren zusammenfinden, etwa als Teilnehmer einer großen Protestdemonstration oder als Mitglieder einer politischen Partei. Die so erreichbare kollektive Handlungsfähigkeit kann dazu beitragen, dass eine Trägergruppe den von ihr verfochtenen Ideen mehr Nachdruck zu verleihen vermag, etwa gegenüber Trägergruppen konkurrierender Ideen. 137
Die innere Kohäsion einer Trägergruppe beruht auf wechselseitiger Beobachtung, partiell zumeist auch wechselseitiger Beeinflussung. Man registriert, was andere in bestimmten Handlungssituationen tun, an welchen evaluativen, normativen oder kognitiven Orientierungen sie ihr Handeln ausrichten. Wenn einem einleuchtet, was bestimmte andere tun, und sei es, weil man gar keine eigenen Präferenzen hat, kopiert man die anderen, passt also das eigene Denken und Handeln deren Linie an. Von da an erhält man oft soziale Bestätigungen von den Mitgliedern der Trägergruppe, wenn man auf der Linie der geteilten kulturellen Idee handelt; und man wird umgekehrt auf die eine oder andere Weise negativ sanktioniert, wenn man diese Idee missachtet oder gar in den Schmutz zieht. Man sollte nicht unterschätzen, was bereits eine solche Ansammlung je individueller Akteure mit ähnlichen kulturellen Ideen im Kopf gesellschaftlich zu bewirken vermag – weil etwa andere Trägergruppen oder Politiker dieser Ansammlung von Gleichgesinnten ein bestimmtes Einflusspotential zurechnen. Das Ensemble kultureller Deutungsstrukturen stellt sich nicht immer, aber oft so dar, dass es eine kulturelle Hegemonie derart gibt, dass ein bestimmtes Konglomerat von Ideen die Mehrheit der Mitglieder einer Nationalgesellschaft in seinen Bann zieht und andere Ideen entsprechend relativiert. Diesen wird entweder ein nachgeordneter Stellenwert zugesprochen oder sie werden in ihrer Geltung bestritten oder sogar als völlig irrelevant oder irreführend abgetan. Im mittelalterlichen Europa hatte der katholische Glaube viele Jahrhunderte lang eine unangefochtene und alle Lebensbereiche übergreifende kulturelle Hegemonie inne, die erst durch die Reformation erschüttert wurde. In der Moderne gibt es eher bereichsspezifische und kurzlebigere kulturelle Hegemonien, etwa – mit Blick auf die Fortschrittsidee – die Vorstellung, dass Naturwissenschaft und Technik die Lebensbedingungen der Menschheit immer weiter verbessern werden. Typisch für die Moderne ist vor allem, dass es bei weitem keine so große Unangefochtenheit hegemonialer Ideen gibt, wie es in vormodernen Gesellschaften zwar längst nicht immer, aber doch über längere Zeiten der Fall war. Man muss vielmehr für die Kultur der Moderne von Akteurkonstellationen ausgehen, in denen – um eine nützliche Unterscheidung von Reckwitz (2006: 71/72) zu adaptieren 138
– »hegemoniale«, »sub-hegemoniale«, »nicht-hegemoniale« und »anti-hegemoniale« Ideengebilde zum selben Themenfeld, etwa individueller Lebensführung oder politischer Gesellschaftsgestaltung, koexistieren und ihre jeweiligen Trägergruppen haben, die dann in ihrem handelnden Zusammenwirken, also den Kämpfen um kulturelle Deutungshoheit, zu betrachten sind. Fragt man weiter nach den Quellen der Variation bestimmter Ideen, ist die soziologisch erst einmal naheliegende Antwort, dass verschiedene soziale Lagen für entsprechend verschiedene Lesarten derselben Idee – etwa Gleichheit – prädestinieren, unzureichend. Denn damit ist noch nicht geklärt, woher die alternativen Lesarten, die dann als »Weichensteller« für die Formulierung von Interessen wirken, überhaupt stammen. Wieso gibt es, neben den jeweils die Köpfe beherrschenden Ideen, ein Reservoir prinzipiell vorstellbarer anderer Ideen über die Welt? Man muss hierzu von einer grundsätzlichen Kontingenz der Deutung der Welt ausgehen – eine der Implikationen menschlicher »Weltoffenheit« (Gehlen 1940). Zwar mag es bestimmte Deutungsschemata wie Raum und Zeit geben, die den Menschen als Apriori auferlegt sind; doch die allermeisten Phänomene sind deutungsoffen, und diese Deutungsspielräume werden auch tatsächlich breit genutzt, wie Vergleiche zwischen Kulturräumen und zwischen verschiedenen Phasen desselben Kulturraums zeigen – ob es nun um das Naturverständnis, um Kunststile oder um ethische Maximen geht. Aufkommende alternative Deutungen der Welt können verschieden inspiriert sein. Neue Lesarten können auf vier Arten von »kulturellen Interferenzen« (Reckwitz 2000: 629-643) zweier oder mehrerer Ideengebilde zurückgehen: – Neue kulturelle Ideen können aus der Fremde, also aus kulturell ganz anders beschaffenen Teilen der Welt importiert oder auch, z.B. durch militärische Eroberung, auferlegt werden. Das Fremde kann dann das je lokal – meist: national – Bisherige mehr oder weniger verdrängen, wie es heutzutage auf globaler Ebene oft als »Verwestlichung« oder, noch polemischer, »Amerikanisierung« diagnostiziert wird. Es kann aber auch eine kulturelle Heterogenisierung in Gestalt einer mehr oder weniger friedlichen Koexistenz des Lokalen mit dem Fremden resultieren oder gar eine »Kreolisierung« (Breidenbach/Zukrigl 2002) 139
im Sinne einer wechselseitigen Anverwandlung beider Ideengebilde – siehe etwa »Bollywood«, das inzwischen sogar westliches Interesse findet.65 – Neue kulturelle Ideen können auch aus dem Aufeinandertreffen der je lokal etablierten Ideengebilde mit bis dahin völlig unbeachteten, nicht einmal »nicht-hegemonialen« lokalen Ideen hervorgehen. Man entdeckt z.B. einen gänzlich vergessenen oder unbekannt gebliebenen Denker neu, der im eigenen Land gelebt hat, oder stößt auf die ethischen Prinzipien einer abgeschieden lebenden religiösen Sekte. Verdrängung, Heterogenisierung und »Kreolisierung« sind auch hier die möglichen Ergebnisse des Aufeinandertreffens. – Ebenso können neue kulturelle Ideen aus dem Wechselspiel der etablierten »hegemonialen«, »sub-hegemonialen«, »nichthegemonialen« und »anti-hegemonialen« lokalen Ideengebilde entstehen, etwa als Synkretismus zweier oder mehrerer lokaler Glaubensrichtungen oder politischer Ideologien. Auch hier kann es natürlich Verdrängungen bestimmter Ideen geben, die Hegemonie kann wechseln, oder es tun sich neue Verbindungen auf, etwa als entdeckte gemeinsame »anti-hegemoniale« Stoßrichtung. – Schließlich können bereichsbezogene Ideengebilde einander anhand bestimmter Themen und Anlässe gleichsam in die Quere kommen, z.B. ein bestimmtes politisches Programm und ein religiöses Glaubenssystem, weil die Trägergruppen beider nach einer Wahl eine Parteienkoalition als Zweckbündnis schließen oder weil bestimmte ethische Fragen in die Deutungshoheiten beider Ideengebilde fallen. Wiederum sind Verdrängung, Heterogenisierung oder »Kreolisierung« möglich. »Kulturelle Interferenzen« erzeugen Neues dadurch, dass zwei oder mehrere bis dahin distinkte kulturelle Ideen aufeinandertreffen und sich aneinander abarbeiten. Ein weiterer Ursprung des Neuen sind innere Offenheiten eines Ideengebildes, wie sie aus den folgenden vier Gegebenheiten hervorgehen: – Ideengebilde sind zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr oder weniger unfertig und ganz selten, ab einer gewissen Komplexität vielleicht niemals, je zu Ende gedacht. Ein Weiterdenken 140
kann an jedem Punkt unerwartete Wendungen nehmen und auf ganz Neues stoßen. Geradezu institutionalisiert ist dieses Weiterdenken im Fall wissenschaftlicher Theorien, für die eine »endless frontier« (Bush 1945) des Erkenntnisfortschritts unterstellt wird. – Ideengebilde sind, wiederum ab einer gewissen Komplexität zwangsläufig, uneindeutig. Das geht über einfache Vagheiten, die eher zur Unfertigkeit gehören, hinaus und reicht von denkstrategischen begrifflichen Unschärfen bis zu mehr oder weniger expliziten Selbstwidersprüchen. Immanente Spannungsverhältnisse dieser Art – etwa zwischen den Leitbildern demokratischer Partizipation und organisatorischer Entscheidungsstärke – lassen sich so oder so ausdeuten, und dies immer wieder neu. – Bei der Reproduktion von Ideengebilden über die Zeit können sich viele Arten von Kopierfehlern ereignen, die – evolutionstheoretisch rubriziert – den Variationspool darstellen. Ideen werden missverständlich angeeignet und weitergegeben. Beides kann unabsichtlich, aber auch in subversiver Absicht geschehen. Oft werden Kopierfehler gleich korrigiert oder schnell wieder vergessen. Wenn sie sich hingegen fortpflanzen, können sie sich unter den etablierten Lesarten der Welt festsetzen. – Schließlich können neue Lesarten kultureller Ideen auch daraus entstehen, dass die Ideen in ihrer Applikation auf bestimmte Handlungssituationen praktisch modifiziert oder gar revidiert werden. Hierfür ist zum einen die »interpretative Unterbestimmtheit« der konkreten Situationen verantwortlich, die selten eine perfekte Passung von Idee und Situationseigenschaften zulässt (Reckwitz 2000: 623-628); zum anderen erlauben die biografisch erworbenen Idiosynkrasien der Personen als Handelnder, gerade in der individualisierten Moderne, keine reibungslose Passung von kulturellen Ideen und je individueller Persönlichkeit und Identität. Anders gesagt: Aus der Reibung sowohl an Situationen als auch an Personen können sich kulturelle Ideengebilde erneuern. In konkreten Kulturdynamiken wie etwa dem Wertewandel vom »Materialismus« zum »Postmaterialismus«, der seit den 1970er Jahren in vielen Ländern zu beobachten ist (Inglehart 1977; 1998) 141
oder der westliche Einflüsse selektiv aufnehmenden Transformation Japans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Eisenstadt 2000: 110-173), findet sich eine Gemengelage mehrerer dieser insgesamt acht Quellen neuer kultureller Ideen – und ob die hier induktiv zusammengestellte Typologie bereits vollständig ist, muss offen bleiben. So können beispielsweise Ideenimporte von draußen auf innere Spannungsverhältnisse eines »hegemonialen« Ideengebildes einwirken und besondere Gegebenheiten der Situationen, in denen dieses Ideengebilde handlungsprägend zum Tragen kommt, bewirken weitere Ideen-Transformationen. Oder Kopierfehler verschmelzen ein »hegemoniales« und ein »sub-hegemoniales« Ideengebilde zu einer neuen, sehr viel dominanteren Lesart des betreffenden Handlungsfeldes. Damit ist die abhängige Variable einer Betrachtung von Kulturdynamiken genauer spezifiziert. Es geht darum, die Genese, die Fortexistenz, die Veränderung oder das Verschwinden bestimmter Ideengebilde zu beschreiben und dann zu erklären. Die unabhängige Variable ist die schon kurz umrissene Konstellation von Trägergruppen der aufeinandertreffenden kulturellen Ideen. Man kann sich nun, in einem freilich hier nur sehr groben historischen Rückblick, Trägergruppen kurz vergegenwärtigen, die in bestimmten Phasen der Moderne, oder auch mehr oder weniger durchgängig, Schlüsselfiguren kultureller Dynamiken gewesen sind – teils mit intentional kulturgestaltenden Bemühungen, teils aber auch eher transintentional, etwa als dies nicht weiter reflektierende Fortsetzer überkommener kultureller Orientierungen. Blickt man zunächst auf den Westen, fallen seit dem Übergang vom Mittelalter zur Moderne bis heute als erstes die christlichen Kirchen in den Blick. Häretische Strömungen in der katholischen Kirche, dann die Reformation, später die Religionskriege haben die frühe Kultur der europäischen Moderne zutiefst geprägt; sodann kamen langlebige restaurative Haltungen insbesondere der katholischen Kirche auf. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert stellte beispielsweise der »Kulturkampf« zwischen Rom und Preußen im Deutschen Reich ein Beispiel für ein dezidiert anti-modernes Auftreten der katholischen Kirche dar (Wehler 1995: 892-902), wohingegen das Zweite Vatikanische Konzil in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ein bewusst kompromissorientiertes Eingehen 142
des Katholizismus auf die Moderne bedeutete, was teilweise ein regelrechtes »bargaining with modernity« (Berger 1979: 95-124) nach sich zog – woran heute bereits wieder von Kirchenvertretern Kritik geübt wird. Andere Träger anti-moderner kultureller Ideen waren und sind verschiedenste fundamentalistische Bewegungen gewesen (Eisenstadt 2000: 174-240). Sie sind oftmals religiös verankert, von protestantischen über jüdische bis zu den heute im Blickpunkt stehenden muslimischen Fundamentalisten; teilweise sind aber auch ethnische oder nationale Zugehörigkeiten quasi-religiös fundamentalistisch aufgeladen worden. Wichtige Verfechter der Ideen der Moderne in Europa waren und sind demgegenüber Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle – die ersten beiden Gruppen seit der Renaissance für die Belange ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme, die dritte Gruppe dann seit dem 18. Jahrhundert in der entstehenden politischen Öffentlichkeit. Freilich gab es unter den Künstlern und Intellektuellen – nicht unter den Wissenschaftlern – auch AntiModernisten wie etwa Edmund Burke; aber die fortschrittsoptimistischen Modernisten überwiegen bis heute klar. Intellektuelle sind aufgrund ihrer Öffentlichkeitswirkung seit der Aufklärung wichtige Meinungsführer, die für die Einstellungen größerer gesellschaftlicher Milieus wie etwa des Bürgertums sehr entscheidend waren und sind. Intellektuelle können als Träger kultureller Ideen auch zu dogmatischen Ideologen werden, die dann, im Auftreten den fundamentalistischen Bewegungen nicht unähnlich, bis hin zum Terrorismus greifen, um ihre Ideen gesellschaftlich zu verwirklichen. Das Bürgertum war dann die erste durch ihre marktvermittelte soziale Lage konstituierte Großgruppe, die sich die Moderne auf die Fahne schrieb – gegen den lange der Vormoderne verhaftet bleibenden Adel auf der einen, das insbesondere auf dem Lande ignorant und fatalistisch den Status quo tradierende gemeine Volk auf der anderen Seite. Dabei muss man gerade in Deutschland das unternehmerisch ausgerichtete Wirtschafts- und das intellektuell ausgerichtete Bildungsbürgertum als zwei durchaus in vielen Fragen untereinander nicht einige Fraktionen unterscheiden.66 Bildeten das ganze 19. Jahrhundert hindurch große Teile des Bürgertums die kulturell hegemoniale gesellschaftliche Mitte, so wurden 143
seit den 1920er Jahre zunehmend die Angestellten und auch die Facharbeiter jene Gruppen, die die anwachsenden Mittelschichten und deren Kultur – von den Subjektivitätsidealen bis zur politischen Programmatik – prägten (Reckwitz 2006: 275-440). Spätestens mit der Romantik gegen Ende des 18. Jahrhunderts trat die erste Trägergruppe eines »anti-hegemonialen« Verständnisses der Kultur der Moderne auf (Reckwitz 2006: 204-242). Die vorherrschenden Züge insbesondere des sich herausbildenden Wirtschaftsbürgertums und der durch den frühindustriellen Kapitalismus geprägten Gesellschaft wurden radikal in Frage gestellt, was teilweise in dezidierten Anti-Modernismus mündete. Diese Art von »Künstlerkritik« (Boltanski/Chiapello 1999: 81-84) der etablierten Lesarten der Fortschrittsidee blieb dann eine mal schwächere, mal stärkere Konstante der Moderne – siehe etwa am Anfang des 20. Jahrhunderts die »Lebensreform«-Bewegung, die »Gegenkultur« der Hippies Ende der 1960er Jahre (Reckwitz 2006: 441-499) oder das »neoromantische« Gedankengut, das dann seit den 1970er Jahren nicht nur den »grünen« Protest mit speiste (Schimank 1983), sondern inzwischen auch einen tragenden Strang der Lebensform verschiedener Milieus in der gesellschaftlichen Mitte ausmacht, also zumindest »sub-hegemonial« geworden ist. Genau das ist die Bedeutung solcher »anti-hegemonialen« Kräfte: durch Widerspruch zu mehr oder weniger weitreichenden Transformationen der hegemonialen Lesarten der Moderne beizutragen. Sind solche Trägergruppen von »Künstlerkritik« zumeist für längere Zeit zahlenmäßig kleine Avantgarden oder bleiben dies sogar auf Dauer, so gab es bereits im 19. Jahrhundert eine viel massenhaftere »anti-hegemoniale« gesellschaftliche Kraft: die Arbeiterbewegung und ihre »Sozialkritik«. Damit trat die zweite durch ihre marktvermittelte soziale Lage konstituierte Großgruppe kulturwirksam auf den Plan. Als verelendete »Pauper« bildeten die städtischen Arbeiter zunächst geradezu eine für die bürgerlich geprägte gesellschaftliche Ordnung buchstäblich »gefährliche Klasse«, weil sowohl spontane als auch organisierte Aufstände chronisch in der Luft lagen (Wehler 1987a: 259-296; Castel 1995: 193-204). Zunächst schuf sich diese Klasse im Kampf gegen das Bürgertum selbstbewusst eine eigene Kultur mit andersartigen Vorstellungen über gesellschaftlichen Fortschritt und individuelle 144
Lebensführung, um diese Kultur dann mit fortschreitenden Erfolgen der eigenen Inklusion – insbesondere über den Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaats – der bürgerlichen anzunähern. Bereits die »Pauper« oder »Proletarier« waren aus der Sicht des Bürgertums ein »konstitutives Außen« (Reckwitz 2006: 84/85 – unter Rückgriff auf Ernesto Laclau): ein extremer Gegenpol, der zur Konturierung der eigenen Kulturvorstellungen durch Differenzmarkierung benötigt wird. Andere Facetten des natürlich hochgradig stereotypisierten »konstitutiven Außen« des Bürgertums wurden zeitweise durch die Aristokratie sowie die mal edlen, mal barbarischen Wilden beigesteuert. Das letzte Beispiel zeigt, dass ein »konstitutives Außen« nicht nur als sozusagen kulturell nicht satisfaktionsfähig abgewertete Andersartigkeit vorkommt, sondern auch gleichsam als schlechtes Gewissen des eigenen Selbstverständnisses. Die Frauen waren in der lange Zeit männlich dominierten bürgerlichen Kultur der Sonderfall eines inkludierten »konstitutiven Außen«, bis sie sich allmählich, schon mit der bürgerlichen Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts einsetzend und dann seit den 1970er Jahren gesellschaftlich sehr einflussreich werdend, nachhaltig in diese Kultur einschrieben. Schließlich sind, neben den durch die gesellschaftliche Ungleichheit konstituierten Großgruppen des Bürgertums und der Arbeiterschaft, auch die durch die funktionale Differenzierung konstituierten Leistungsakteure verschiedener Teilsysteme zu Trägergruppen kultureller Ideen geworden – und zwar der jeweiligen teilsystemischen Leitwerte. So treten z.B. Wissenschaftler als Vertreter eines szientistischen oder technokratischen Verständnisses gesellschaftlichen Fortschritts auf oder die Lehrerschaft meint, die Gesellschaft als Ganze könne und müsse am Bildungswesen genesen – nicht zu vergessen natürlich Unternehmer und ihnen sekundierende Wirtschaftswissenschaftler, für die sich Fortschritt als Wirtschaftswachstum liest. Diese Trägergruppen treten nicht nur in den differenzierungstheoretisch in den Blick geratenden Domänenspielen gegeneinander auf, um der Leistungsproduktion anderer Teilsysteme je eigene Ideen aufzuprägen (Kap. II.4). Trägergruppen der kulturellen Ideen eines bestimmten Teilsystems können sich auch gegen andersartige Trägergruppen wenden – so etwa noch lange Zeit die Gymnasiallehrer gegen höhere
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Bildungsaspirationen der Arbeiterschaft oder immer wieder bis heute Wissenschaftler gegen religiöse Fundamentalisten. Soweit zu den in den westlichen Gesellschaften seit Beginn der Moderne aktiven Trägergruppen kultureller Ideen – nun können diejenigen Träger, die im Zuge der kulturellen Globalisierung außerhalb des Westens für die westlichen Werte aufgetreten sind, nur noch kurz aufgeführt werden. Sie reichten sehr früh von den militärischen Eroberern und politischen Statthaltern etwa des Britischen Empire über die missionierenden christlichen Kirchen, die sich als »Weltreligionen« verstanden, bis hin zu Unternehmen, die zunächst als vor Ort tätige Produzenten ihre dortigen Arbeitskräfte, dann auch als Anbieter von Waren ihre Kunden in diesen Ländern kulturell geformt haben. Inzwischen ist vielleicht der wirkmächtigste Träger der Verwestlichung der Welt die globale Unterhaltungskultur – ohne Hollywoodfilme auch in Indien hätte es das schon angesprochene »Bollywood« nicht gegeben. Die stark gestiegene räumliche Mobilität der Menschen – vom Tourismus bis zur Migration – ist ein weiterer Träger von »global cultural flows« (Appadurai 1998). Seit 1945 schließlich sind auch immer wichtiger gewordene internationale Organisationen »Agenten« der westlichen kulturellen Wertmuster geworden, propagieren also deren globale Verbreitung (Hasse/Krücken 2005). Zu diesen Organisationen gehören die vielfältigen Unterorganisationen der Vereinten Nationen ebenso wie die OECD, internationale wissenschaftliche oder professionelle Fachgesellschaften und nicht zuletzt internationale Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace oder Amnesty International. Last but not least müssen paradoxerweise sogar die Globalisierungsgegner wie ATTAC eine weltweite Verbreitung ihrer Lesart der Moderne betreiben: Nur noch global lässt sich eine als falsch beurteilte Globalisierung bekämpfen. Die aufgeführten Gruppen stellen bei weitem keine erschöpfende Liste der Träger kultureller Ideen dar, sondern lediglich einige der prominentesten Hauptdarsteller kultureller Dynamiken. Im zeitlich und räumlich immer wieder ganz anders sich darstellenden Wechselspiel dieser und weiterer Akteure hat sich die moderne Fortschrittsidee etabliert und ist inhaltlich beständig neu ausgelegt, teilweise auch fundamental revidiert worden. Wie auch die differenzierungs- und die ungleichheitstheoretische He146
rangehensweise anfangs davon ausgegangen war, dass es möglich und ihre jeweilige Aufgabe sei, die große Linie gesellschaftlicher Dynamik in der Moderne aufzufinden und herauszustellen, sah sich auch die kulturtheoretische Perspektive in der Pflicht, eine – genauer: die eine – »große Erzählung« (Lyotard 1979) der Moderne beizusteuern. Dies war zunächst die bereits in Kap. I angesprochene Modernisierungstheorie, die von einer weltweiten Ausbreitung und Verankerung der westlichen Leitvorstellungen gesellschaftlichen Fortschritts ausging: Die Moderne fegt alles Tradierte hinweg, und das ist gut so. Ulrich Beck (1986; 1996) spricht demgegenüber davon, dass wir inzwischen in einer »anderen«, »reflexiven« »zweiten Moderne« leben. Die von der Modernisierungstheorie porträtierte und proklamierte »erste Moderne« reagierte in der Tat mit ihren »Basisprinzipien« – womit Beck die kulturellen Leitideen der Moderne meint – auf die vormodernen Traditionen und beseitigte diese sukzessiv. Doch fortan musste die Moderne sich mit sich selbst beschäftigen, »reflexiv« werden. Das heißt vor allem, dass sie sich an den modernisierungstheoretisch unter den Tisch fallenden unerwünschten Nebenfolgen der »ersten Moderne« abarbeitet, sehr bald dann auch an den »Nebenfolgen der Nebenfolgen« (Beck 1996: 27, Hervorheb. weggel.) – gemeint sind die Nebenfolgen der Bearbeitung der Nebenfolgen. Beabsichtigte Gesellschaftsverbesserung auf der Linie der Fortschrittsidee verstrickt sich demzufolge in einer kaskadenförmig um sich greifende Abarbeitung der Kollateralschäden der guten Absichten; tatsächliche Verbesserungen von Lebenschancen und gesellschaftlicher Integration erweisen sich demgegenüber schnell als zweitrangig. Die erste Zurückweisung der modernisierungstheoretischen »großen Erzählung« besteht somit darin, dass man die kulturellen Dynamiken der westlichen Moderne nicht länger uneingeschränkt oder auch nur überwiegend als unaufhaltsam voranschreitende Fortschrittsgeschichte verbuchen kann – wie auch immer man Fortschritt inhaltlich im Einzelnen verstehen will. Das verbindet sich mit einer zweiten, für die Geltung der Modernisierungstheorie ebenso kritischen Feststellung: Es gibt nicht die eine einzige Ausprägung von Moderne, sondern »multiple modernities«.67 Schon innerwestlich finden sich nationale »Kulturen der Moderne« (Münch 1986) – etwa hinsichtlich des deutlich unter147
schiedlichen Verständnisses von Individualismus in Deutschland im Vergleich zu Frankreich, zu England oder zu den Vereinigten Staaten. Die Erklärung dafür lautet, dass die allgemeinen kulturellen Ideen der Moderne, insbesondere das Verständnis von gestaltetem Fortschritt, in jedem dieser vier Länder ebenso wie in den anderen Ländern des Westens auf je spezifische kulturelle und institutionelle Ausgangsbedingungen und Akteurkonstellationen stießen und diese Varianz hinreichend prägend geblieben ist. Anders gesagt: Die von der Modernisierungstheorie postulierte unwiderstehliche Durchschlagskraft der tragenden Ideen der Moderne findet sich nicht; stattdessen ergeben sich, je nach dem Verhältnis von globaler Isomorphie und lokaler Beharrung, jeweils andere Mischungsverhältnisse. Dies zeigt sich noch viel deutlicher jenseits des Westens. Die westliche Moderne fächert sich durch Verbindungen mit nichtwestlichen nationalen oder regionalen Kulturen immer weiter auf, ob das Ergebnis vor Ort nun vorwiegend Heterogenisierung oder Kreolisierung ist – siehe z.B. die heutigen Kulturen Japans, der Türkei oder Indiens. Nirgends findet man den von der Modernisierungstheorie unterstellten rest- und widerstandslosen Austausch der autochthonen Kulturmuster durch diejenigen des Westens vor, sondern einen Vorgang der »[…] continuous selection, reinterpretation, and reformulation of these imported ideas […]« (Eisenstadt 2000a: 15). Kulturelle Trägergruppen dieser Länder sind keine passiven Rezipienten, sondern aktive, durch den jeweils eigenen Kulturkreis geprägte Rekonstrukteure. So haben sich in den genannten und anderen Ländern markant eigene Pfade der Modernisierung gegeben, z.B. der russische oder der südamerikanische oder der islamische in der Türkei im Unterschied zu Malaysia: »All developed distinctly modern dynamics and modes of interpretation, for which the original Western project constituted the crucial (and usually ambivalent) reference point.« (Eisenstadt 2000a: 2) Das Ergebnis ist eine »growing diversification of the understanding of modernity« (Eisenstadt 2000a: 24). Man muss sich hierzu nur die Unterschiedlichkeit der Ausgangsbedingungen für die Etablierung der Kultur der Moderne an den verschiedenen Orten vergegenwärtigen. Teils traf diese auf die eigenen vormodernen Kulturen, die aber eben z.B. in Skandinavien andere waren als in Italien oder Portugal. Teils wurden an148
derswo, wo sich Bevölkerungsgruppen aus dem Westen ansiedelten, die Kulturen der dortigen Ureinwohner marginalisiert oder völlig beseitigt – siehe etwa die heutigen Vereinigten Staaten oder Australien. Teils wurden Regionen mit nicht-westlichen Kulturen zeitweilig als Kolonien unterworfen und ihnen wurde die westliche Kultur aufgepfropft, wie beispielsweise in Indien oder im Nahen Osten. Wie prägend dann die westliche Kultur geworden ist, hat vor allem davon abgehangen, wie intensiv die Kolonialisierung war und wie lange sie dauerte. Teils haben sich nicht-westliche Kulturen auch von sich aus westlichen Ideen geöffnet – Japan als prominentester Fall. Im Rahmen dieser, hier nur ganz grob typisierten, sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen hängt es dann noch davon ab, wie nahe oder fern die lokalen Kulturen den westlichen Ideen gewesen sind, sowie von vielerlei Koinzidenzen, welchen Verlauf die kulturelle Dynamik genommen hat, wie bruchlos oder gebrochen – bis hin zur völligen Abwehr oder gar einer aus der Abwehr noch rigoroser fixierten eigenen Kultur – die Ideen der Moderne aufgenommen worden sind. Übrig bleibt angesichts dessen von der modernisierungstheoretischen »großen Erzählung« nur: Die Einzigartigkeit der westlichen Moderne besteht darin, dass allein ihre Kultur sämtliche anderen Kulturen weltweit so nachhaltig beeinflusst hat, dass diese sich, oft nolens volens, mit ihr auseinandersetzen mussten.68
5. Fazit Das Fazit zur dargestellten kulturtheoretischen Perspektive kann sehr kurz ausfallen. Wiederum hat – wie auch bei den anderen beiden Sichtweisen auf die moderne Gesellschaft – eine anfänglich vergleichsweise einfache, sich auf dieser Grundlage große Trendaussagen zutrauende und darin lange Zeit überwiegend optimistische Lesart der Moderne in Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand sukzessiv immer mehr Komplexität eingearbeitet, so dass inzwischen auch kulturtheoretisch die großen Ambivalenzen der Moderne herausgestellt werden, die keine klare Aussage über die langfristige Entwicklungsrichtung zulassen. Auch wenn so der Grundduktus aller drei geschilderten gesellschaftstheoretischen Perspektiven sehr ähnlich ist, erzählen sie – 149
das sollte ebenfalls nun deutlich sein – alles andere als dreimal dieselbe Geschichte. Im Gegenteil: Man kann die drei Perspektiven, ohne dass man einer von ihnen Gewalt antun müsste, so darlegen, dass jemand, der sie nacheinander zur Kenntnis nimmt, nicht auf die Idee kommen würde, dass sie vom selben konkreten Gegenstand – der modernen Gesellschaft – handeln. Man kann etwa über marktvermittelte Ungleichheiten reden, als ob es keine ausdifferenzierten Teilsysteme gäbe, oder über die Fortschrittsidee, ohne die ungleiche Teilhabe an den Segnungen ihrer Verfolgung zu thematisieren. Ich habe allerdings durchaus schon hier und da implizit Berührungspunkte oder sogar Schnittstellen der drei Perspektiven behandelt oder sogar explizit als solche angesprochen. Diesen Verknüpfungen geht das folgende Kapitel, das die Darstellung der soziologischen Gesellschaftstheorie abschließt, noch etwas genauer nach.
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V. Perspektivenintegration Bis hierher habe ich die drei Theorie-Familien je für sich betrachtet. Jede von ihnen liefert ein Instrumentarium, um konkrete gesellschaftliche Phänomene – Strukturen, deren Effekte und Dynamiken – zu analysieren. Alle drei Perspektiven durchziehen die soziologische Gesellschaftstheorie seit den Klassikern des 19. Jahrhunderts, wobei zu bestimmten Zeiten mal die eine, mal die andere mehr im Vorder- oder auch ein wenig im Hintergrund gestanden hat.69 Man könnte das nachzeichnen und dann auch wissenssoziologisch erklären, warum bestimmte gesellschaftliche Zustände zeitweise eine besondere Plausibilität oder Irrelevanz von Differenzierungs-, Ungleichheits- oder Kulturtheorie nahelegen. Das wäre spannend, ich kann dem hier aber nicht weiter nachgehen. Ich gehe stattdessen auf der Basis des Dargestellten jenseits temporärer kognitiver – oder auch ideologischer – Privilegierungen und Disprivilegierungen bestimmter Theorie-Familien davon aus, dass es sich um drei gleichermaßen unverzichtbare Perspektiven auf die moderne Gesellschaft handelt und dass keine von ihnen auf eine der anderen reduzierbar ist. Wenn das so ist, sollte man das Verhältnis der Familien zueinander näher bestimmen. Die These, die ich in diesem Kapitel zwar nicht im Einzelnen begründen kann, aber doch insoweit plausibilisieren möchte, dass ihr weiter nachgegangen wird, lässt sich auf die plakative – hoffentlich nicht als blasphemisch missverstandene – Formel der Dreifaltigkeit soziologischer Theorien der modernen Gesellschaft bringen. So wie sich der christliche Gott in drei verschiedenen Gestalten zeigt, die alle drei ein anderes seiner Wesensmerkmale zum Ausdruck bringen, so bilden die drei gesellschaftstheoretischen Perspektiven – um Karl Poppers (1946) bekannte Metapher aufzugreifen – Scheinwerfer, die ein konkretes gesellschaftliches Phänomen aus verschiedenen Richtungen beleuchten und genau deshalb, gemeinsam zum Einsatz gebracht, mehr Licht darauf werfen. Der eine Scheinwerfer leuchtet aus, was der andere im Dunkeln lässt; und zwei oder drei beleuchten Manches heller als nur einer. Man kann drei Verhältnisbestimmungen der drei Perspektiven unterscheiden, die – je nach betrachtetem gesellschaftstheoretischen Untersuchungsgegenstand – ihre Berechtigung haben: 151
– Keine Kopplung: Es reicht eine der Perspektiven aus; die Hinzunahme der anderen beiden wäre theoretischer Overkill. – Lose Kopplung: Zwei oder drei Perspektiven müssen ad hoc fallweise kombiniert werden, um eine adäquate Erklärung des betrachteten Phänomens zu liefern. – Enge Kopplung: Die eine Perspektive wird an wichtigen Punkten erst durch Einblendung einer anderen richtig ausgeleuchtet, setzt also für die eigene Entfaltung deren Hinzunahme voraus. Im Folgenden gehe ich im ersten Abschnitt zunächst auf keine und lose Kopplung ein, bevor ich dann im zweiten Abschnitt enge Kopplung in den Blick nehme.
1. Keine und lose Kopplung Zum Einstieg bietet es sich an, sich noch einmal vergleichend die zentralen Konstruktionselemente der drei gesellschaftstheoretischen Perspektiven zu vergegenwärtigen. Sie machen erstens ganz unterschiedliche Bauprinzipien der modernen Gesellschaft aus; sie sehen demzufolge zweitens andersartige grundlegende Strukturdynamiken und akzentuieren drittens die Probleme gesellschaftlicher Ordnung entsprechend anders. Man kann den Duktus jeder der drei Perspektiven auch so charakterisieren, dass sie jeweils andere Sinndimensionen sozialen Handelns und sozialer Strukturen als Aufhänger der Theoriekonstruktion nehmen und gesellschaftliches Geschehen dann von dort her erschließen: Differenzierungstheorien gehen von der Sach-, Ungleichheitstheorien von der Sozial- und Kulturtheorien von der Zeitdimension aus.70 In Stichworten: – Differenzierungstheorien sehen funktionale Differenzierung – also primär sachlich geschiedene Bereiche gesellschaftlichen Geschehens in Gestalt von Teilsystemen wie Wirtschaft, Kunst oder Recht – als Bauprinzip der Moderne. Funktionale Differenzierung wird überformt durch den aus ihr hervorgehenden gesamtgesellschaftlichen Primat der kapitalistischen Wirtschaft. Gesellschaftliche Strukturdynamiken gehen aus fortwährenden Kämpfen um teilsystemische Autonomie hervor. 152
Die Integration des sachlich Mannigfaltigen, also Systemintegration, wird als Problem gesellschaftlicher Ordnung besonders betont, daraus abgeleitet dann auch ökologische Integration. Gesellschaftlicher Sozialintegration wird hingegen vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit geschenkt; das Gleiche gilt für die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder. – Ungleichheitstheorien machen die Ungleichheit sozialer Lagen als gesellschaftliches Bauprinzip aus – also die Besser- oder Schlechterstellung bestimmter Arten von Individuen wie etwa Männer im Vergleich zu Frauen oder Reicher im Vergleich zu Armen. Für die Moderne als kapitalistische Gesellschaft ist das Primat marktvermittelter Einkommensungleichheiten charakteristisch. Kämpfe um Besserstellung sind das Movens gesellschaftlicher Strukturdynamiken. Mit Blick auf gesellschaftliche Ordnung stehen die Sozialintegration sowie die Lebenschancen von Individuen im Zentrum der Aufmerksamkeit, während für Fragen der Systemintegration und auch der ökologischen Integration kein ausgeprägtes Sensorium vorhanden ist. – Kulturtheorien schließlich erblicken das Bauprinzip der Moderne in der Idee des gestalteten Fortschritts, die eine Beantwortung individueller und kollektiver Orientierungs- und Sinnbedürfnisse durch Temporalisierung – das Versprechen eines besseren Morgen – darstellt. Die Fortschrittsidee prägt sich kapitalismusaffin als Fixierung auf Wirtschaftswachstum aus. Gesellschaftliche Strukturdynamiken sind das Resultat von Kämpfen zwischen fortschrittlichen und traditionellen Weltverständnissen sowie von Kämpfen über das Fortschrittsverständnis. Als Problem gesellschaftlicher Ordnung wird insbesondere die Permanenz und Beschleunigung sozialen Wandels mit Blick auf Sozial- und Systemintegration, dann auch auf ökologische Integration sowie auf individuelle Lebensführung herausgestellt. Soweit besehen haben die drei Theorie-Familien untereinander erst einmal nichts gemein. Jede stellt für sich eine hermetisch abgeschlossene Deutungsgestalt dar; und man kann sie allenfalls entlang der aufgeführten analytischen Dimensionen, die die drei gesellschaftstheoretischen Leitfragen anklingen lassen, miteinander vergleichen, aber nicht aufeinander beziehen. 153
Dieser Verhältnisbestimmung einer nicht vorhandenen Kopplung der drei Scheinwerfer entsprechen solche gesellschaftlichen Phänomene, die nur von einem dieser Scheinwerfer ins rechte Licht gerückt werden. Derartige Phänomene gibt es durchaus. Um z.B. die zunehmenden Einkommensungleichheiten in vielen Ländern der westlichen Welt in den letzten zwei Jahrzehnten oder den Rückgang individueller Aufwärtsmobilität zu analysieren, reichen ungleichheitstheoretische Werkzeuge vollauf. Analog lassen sich etwa systemintegrative Mechanismen zwischen Wissenschaft und Politik in Gestalt von intermediären Organisationen wie dem deutschen Wissenschaftsrat oder intersystemische Nutzenverschränkungen zwischen den Akteuren des Spitzensports und Akteuren anderer Teilsysteme ohne Hinzunahme der ungleichheits- oder kulturtheoretischen Perspektive allein differenzierungstheoretisch interpretieren. Schließlich kann man auch Phänomene wie die weltweite Diffusion westlicher Kulturmuster oder Widersprüche zwischen Freiheit und Gleichheit als Wertorientierungen politischer Gesellschaftsgestaltung rein kulturtheoretisch nachvollziehen. All dies sind Beispiele dafür, dass eine der drei Theorie-Perspektiven von der Sache her analytisch prädestiniert ist und die jeweils anderen beiden entweder überhaupt nicht greifen oder nur umständlicher dasselbe zeigen, was die prädestinierte Perspektive viel klarer und einfacher zeigt, oder allenfalls nebensächliche Erkenntnisse hinzufügen, auf die man zugunsten einer möglichst sparsamen Erklärung besser verzichtet. Andere gesellschaftliche Phänomene sind hingegen in ihrer Beschaffenheit nicht eindeutig auf eine dieser drei Perspektiven hin zugeschnitten; sondern jeder Scheinwerfer rückt je andere bedeutsame Aspekte in den Blick. Ein kontrovers diskutiertes kleines Beispiel hierfür: Seitdem in Deutschland Privatsender aufgekommen sind, habe sich – so das Verdikt – ein »Unterschichtfernsehen« etabliert; zuvor habe sich das von den Unterschichten mangels Alternativen mit genutzte öffentlich-rechtliche Fernsehen, weil es sich nicht in dem Maße um die Einschaltquote kümmern musste, nicht ihren »niveaulosen« oder gar »primitiven« Bedürfnissen angepasst, sondern im Gegenteil eine gewisse bildende und aufklärerische Wirkung auf sie ausgeübt. Diese Argumentation – was immer man von ihr halten mag – verbindet eine klar erkennbare ungleichheitstheoretische Deutung, der zu154
folge die soziale Lage die Rezeption künstlerischer Darbietungen und journalistischer Berichterstattung prägt, mit der differenzierungstheoretischen Einschätzung, dass eine zu starke Abhängigkeit künstlerischer oder journalistischer Leistungsproduktion von wirtschaftlichen Gewinnabsichten deren »eigentliche« Mission zu »Give the people what they want!« – um einen Album- und Songtitel der Kinks (1981) zu zitieren – verfälscht. Kulturtheoretisch steht dahinter eine Kontroverse über das richtige Verständnis der Autonomie des Individuums: Heißt Autonomie, dass jeder selbst wissen muss, was er will und ihn niemand »bevormunden« darf – oder muss dieser Autonomieanspruch erst erarbeitet werden, indem man sich etwa vom Bildungsbürgertum dekretierten »hochkulturellen« Tests unterwirft? Gesellschaftliche Phänomene wie dieses lassen sich somit besser verstehen, wenn man mit einer losen Kopplung von zwei oder sogar drei der Theorie-Perspektiven arbeitet. Lose Kopplung als Verhältnisbestimmung kann eher kompetitiv oder eher komplementär angelegt werden. Wer Ersteres tut, fragt danach, welche der drei Perspektiven hinsichtlich bestimmter Phänomene die beste Erklärungsleistung erbringt. Eine weitreichende Dynamik der modernen Gesellschaft, die in allen drei Perspektiven gesehen wird, ist etwa die Individualisierung der Personen. Ist hier die differenzierungstheoretisch hervorgehobene »Kreuzung sozialer Kreise« (Simmel 1908: 305-344) der Schlüssel zur Erklärung voranschreitender Individualisierung? Oder ist es ungleichheitstheoretisch betrachtet der Wohlfahrtsstaat, der u.a. durch die Bildungsexpansion immer mehr Menschen mit Anregungen versorgt, ein »eigenes Leben« zu führen, und entsprechende Ansprüche selbstbestimmter Einzigartigkeit weckt? Oder sind die kulturtheoretisch nachgezeichneten Verschiebungen der Deutungsmuster von Personalität entscheidend, also das Aufkommen der Idee des Individuums? Es mag Untersuchungsfragen geben, bei denen eine solche Konkurrenz von Erklärungsangeboten zweckdienlich ist. Schon das Beispiel der Individualisierung legt allerdings nahe, dass die drei angedeuteten Erklärungsangebote einander ergänzen dürften und man daher Erklärungspotentiale verschenkt, wenn man es nur darauf anlegt, eine Rangordnung des Etwas-weniger-, Etwasmehr- und Noch-etwas-mehr-erklären-könnens vorzunehmen. 155
Eine schwache, immer noch unbefriedigende Komplementarität der drei Perspektiven wäre erreicht, wenn man ihre Erklärungsangebote einfach eklektizistisch nebeneinander stellt, ohne sie miteinander zu verknüpfen. Man beseitigt die Konkurrenz, schafft aber keine Kooperation, sondern lediglich eine vage bleibende Addition von Erklärungsbemühungen. Eine starke, zufriedenstellende Komplementarität ist vielmehr erst dann gegeben, wenn die drei Erklärungsangebote ineinandergreifen und so wechselseitig blinde Flecken und Schwächen ausgleichen. Um dies an einem anderen Beispiel, den Tendenzen ökologischer Desintegration in der modernen Gesellschaft, anzudeuten: Eine Erklärung könnte erst einmal differenzierungstheoretisch beginnen und auf die negativen Externalitäten des Prozedierens verschiedener Teilsysteme (Wirtschaft, Militär, Religion, Intimbeziehungen u.a.) hinweisen, deren Leitwerte auf Belange ökologischer Nachhaltigkeit keine Rücksicht nehmen. Man muss aber dann weiterfragen: Warum gibt es ein Wachstum teilsystemischer Leistungsproduktionen, das von sich aus keine Grenzen – auch keine begrenzten natürlichen Ressourcen – kennt? Eine der Antworten darauf leitet sich ungleichheitstheoretisch her: um gesellschaftlich Schlechtergestellte z.B. mit finanziell für sie erschwinglichen Konsumgütern zu bedienen und so deren Massenloyalität sicherzustellen. An diesem Punkt der Erklärung ist aber sogleich auch die kulturtheoretische Perspektive impliziert: Denn hier wird unterstellt, dass sich viele Gesellschaftsmitglieder vorrangig an materialistischen Wertorientierungen, also einem möglichst hohen Lebensstandard, statt an postmaterialistischen Werten, die stattdessen »Lebensqualität« propagieren, ausrichten. Das ist unter bestimmten Bedingungen der Fall, unter anderen nicht, womit die Ausprägung der verbreiteten Wertorientierungen als »Weichensteller« der Ansprüche wirkt, die u.a. an die Leistungsproduktion des Wirtschaftssystem gerichtet werden. Das ist nur ein Teilstrang der Erklärung ökologischer Desintegration neben anderen, und er muss hier so stichwortartig notiert stehen bleiben. Das Beispiel kann dennoch demonstrieren, dass eine Kombinatorik von Werkzeugen aus allen drei gesellschaftstheoretischen Werkzeugkästen erforderlich ist, um eine adäquate Erklärung des betrachteten Phänomens zu liefern. Diese Kombinatorik ist im Einzelfall alles andere als einfach. Zum einen muss 156
man herausfinden, welche Werkzeuge man benötigt; und zum anderen muss man die Werkzeuge aus den verschiedenen Werkzeugkästen miteinander passend machen. Sie sind nämlich in den seltensten Fällen von vornherein kompatibel miteinander, weil sie ja eben aus ganz andersartig angelegten Theorie-Perspektiven stammen. Um es noch einmal zu sagen: Wo man diesen Aufwand nicht treiben muss, weil ein Scheinwerfer völlig ausreicht, um das betrachtete gesellschaftliche Phänomen zu beleuchten, sollte man sich darüber freuen und keine überflüssigen Theorie-Pflichtübungen – wohl gar aus Gründen der »theoretical correctness« – betreiben. Doch man wird in der gesellschaftstheoretischen Analysepraxis häufiger auf Phänomene stoßen, für deren angemessenes Verständnis man nicht bloß einen Scheinwerfer benutzen kann, sondern alle drei zum Einsatz bringen muss. Das zeigt sich insbesondere, wendet man sich den Fragen großer, also viele oder gar alle Gesellschaftsbereiche und gesellschaftlichen Gruppen erfassender und auf lange Sicht wirksamer gesellschaftlicher Dynamiken zu: ob es um Individualisierung oder Globalisierung, um Zivilisierung oder Demokratisierung, um Mediatisierung oder den Wohlfahrtsstaat geht – um nur sechs aus einer längeren Liste von durchgängig bedeutsamen Mega-Dynamiken der Moderne zu nennen. Eine lose Kopplung der drei Theorie-Familien ist also bei vielen gesellschaftstheoretischen Fragestellungen ein Muss. Aber ist es damit dann auch getan? Oder ist mehr möglich oder sogar nötig – also mehr als eine fallweise vorgenommene Verknüpfung von ungleichheits-, kultur- und differenzierungstheoretischen Komponenten zu einer gegenstandsspezifischen Kombination?71 Diese Kopplung verbliebe – um die in Kap. I.2 getroffene Unterscheidung aufzugreifen – im Rahmen der jeweiligen gesellschaftsanalytischen Aufgabenstellung und erstreckte sich nicht auf gesellschaftstheoretische Instrumente und Gesellschaftsmodelle.
2. Enge Kopplung Ich möchte nun zeigen, dass es über diese lose Kopplung der drei Theorie-Perspektiven hinaus und gleichsam als Rahmensetzung dafür eine enge Kopplung gibt. Dabei ist ein Missverständnis von 157
vornherein auszuschließen: Enge Kopplung heißt hier, wie schon angesprochen, nicht Reduktionismus derart, dass letztlich zwei der Perspektiven auf eine dritte, die dann die eigentlich fundierende wäre, zurückführbar sind. Es geht vielmehr um analytisch gleichrangige Perspektiven, die an bestimmten Punkten so ineinander verschränkt sind, dass die zufriedenstellende Ausformulierung der einen Perspektive sich gleichsam bestimmter Schlüsselworte der anderen Perspektive bedienen muss. Bei genauerem Hinsehen erweist sich ja bereits, dass es innerhalb der Theorie-Familien zwar durchaus Vertreter gibt, die die Moderne von einem und nur einem dieser drei Pole – funktionale Differenzierung, marktvermittelte Ungleichheit oder gestalteter Fortschritt – her zu erschließen versuchen, also in ihrer Familie strikt unter sich bleiben wollen. John Meyer ist so jemand am kulturtheoretischen, Gerhard Lenski am ungleichheitstheoretischen und – schon etwas weniger rigoros – Niklas Luhmann am differenzierungstheoretischen Pol. Die meisten Varianten von Differenzierungs-, Ungleichheits- oder Kulturtheorie basieren jedoch – zumeist ausgehend von einem der Pole – auf mehr oder weniger starken Beimischungen von Ingredienzien, die von den jeweils anderen beiden Polen stammen. Anders gesagt: Das, was Theorien der Intersektionalität im Rahmen der ungleichheitstheoretischen Perspektive anstreben, nämlich eine nicht bloß eklektizistische Betrachtung des Zusammenwirkens verschiedener Determinanten sozialer Ungleichheit, ist das, was gesellschaftstheoretisch implizit und partiell bereits vielfach praktiziert, aber bislang nur selten explizit als Theorieprogramm formuliert worden ist. Die meisten Gesellschaftstheoretiker bewegen sich mit ihren Arbeiten also im »Dazwischen«. Um nur ein paar weitere Namen zu nennen: Karl Marx ist zwischen Differenzierung und Ungleichheit angesiedelt, ohne Sensorium für Kultur, außer als »Überbau« – nahebei auch Pierre Bourdieu.72 Richard Münch positioniert sich zwischen Kultur und Differenzierung, mit eher wenig Sinn für Ungleichheit. Man kann insbesondere Max Weber bescheinigen, dass er mit ziemlich gleichen Anteilen Kultur-, Ungleichheits- und Differenzierungstheoretiker der Moderne ist, wenn er auch keine theoretisch stringente Verknüpfung dieser drei Perspektiven liefert. Und auch Ulrich Beck – um einen Gegenwartsdiagnostiker zu nennen – bedient sich zwar relativ ausgeglichen 158
bei allen drei Perspektiven;73 aber die Schnittstellen werden lediglich zufällig mal angesprochen. Wo genau liegen nun systematische Schnittstellen, an denen die drei Perspektiven so miteinander verknüpft sind, dass die eine wichtige Elemente einer anderen beisteuert? In meinen Darstellungen der drei Perspektiven habe ich die Schnittstellen kaum als solche herausgestellt, um nicht von der gerade behandelten Perspektive abzulenken. Betrachtet man aber hier jetzt jede der drei Theorie-Perspektiven im Lichte der jeweils anderen beiden, lassen sich – wiederum nur thesenhaft – die wichtigsten wechselseitigen Blick-Vervollständigungen aufführen: – Die Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft sind kulturell, also als Ideengebilde konstituierte Sozialgebilde, wie schon Webers Begriff der »Wertsphäre« unüberhörbar betont. Ein gleiches Verständnis liegt Luhmanns Konzept der binären Codes zugrunde. Dies sind, handlungstheoretisch gefasst, generalisierte evaluative Deutungsstrukturen, die einem Akteur sagen, was in einer Situation erstrebenswert bzw. nicht erstrebenswert ist – z.B. Zahlungsfähigkeit oder Wahrheit oder Gesundheit. An diesem für sie zentralen Punkt verweist also die differenzierungstheoretische Perspektive auf erst kulturtheoretisch näher aufzuschließende Sachverhalte.74 Insbesondere das Zu-Ende-Denken der selbstzweckhaft verabsolutierten teilsystemkonstitutiven Wertorientierungen ohne eingebaute Stoppregeln ist ein grundlegender und nicht stillzustellender kultureller Antriebsmechanismus von Differenzierungsdynamiken. – Weiterhin gilt: Die spezifische Art der Verdinglichung funktionaler Differenzierung generell und der einzelnen teilsystemischen Codes im Speziellen nutzt die kulturtheoretisch herausgearbeitete tragende Leitidee der modernen Kultur – gestalteten Fortschritt – als Anker. In vormodernen Gesellschaftsstufen vollzog sich die Invisibilisierung der Kontingenz bestimmter Gesellschaftsstrukturen vor allem durch Verweis darauf, sie seien »[…] results of cosmic laws, or manifestations of divine will« (Berger/Luckmann 1966: 106). Die Moderne konzediert demgegenüber durchaus, dass es früher keine funktionale Differenzierung gab, besteht dann aber darauf, dass inzwischen 159
der gesellschaftliche Fortschritt Strukturen funktionaler Differenzierung erzeugt habe, die zwar weiter verbesserbar, aber sowohl unhintergehbar als auch unüberschreitbar seien. Weil Fortschritt nicht in Rückschritt umschlagen darf, sind die teilsystemischen Leitwerte gleichsam sakrosankt. – Nun zur kulturtheoretischen Verankerung der ungleichheitstheoretischen Perspektive: In der Moderne spitzt sich das in der Ungleichheit sozialer Lagen immer schon strukturell angelegte Konfliktpotential dadurch erheblich zu, dass sich kulturell die Gleichheit der Lebenschancen als generelles normatives Leitprinzip institutionalisiert hat. Reinhard Kreckel (1992: 22) fragt daher völlig zu Recht: »Wie ist es möglich, daß die in einer Gesellschaft […] bei der Verteilung begehrter Güter regelmäßig benachteiligte […] Mehrheit der Bevölkerung diesen Zustand so häufig tatenlos hinnimmt?« Wie kommt also Massenloyalität mit Ungleichheit zustande, die nicht mehr natur- oder gottgegeben ist? Mit der Gleichheitsidee ist zwar prinzipiell eine meritokratische Begründung sozialer Ungleichheiten vereinbar, kann aber spätestens bei hartnäckigem Nachfragen die Beweislast nie tragen, woraus sich ein dauerhaft explosives gesellschaftliches Spannungspotential ergibt, das Ungleichheitsdynamiken vorantreibt. – Blickt man in Richtung kulturtheoretischer Perspektive, ist eine soziologische Binsenweisheit, dass jedes Ideengebilde – etwa der Sozialismus oder der Katholizismus oder der Vegetarismus – Trägergruppen hat. Hier liefern die ungleichheits- und die differenzierungstheoretische Perspektive Bodenhaftung. Denn als Träger von Ideengebilden treten insbesondere Kollektive gleichartiger sozialer Lagen und teilsystemische Leistungsproduzenten oder -empfänger auf.75 Auch hier gilt differenzierungstheoretisch die »Kreuzung sozialer Kreise«: Ein und dasselbe Individuum ist Arena des von Weber (1919: 27/28) beschworenen »Kampfes der Götter«, muss also etwa wie Peppone76 den Widerstreit von Kommunismus und Katholizismus in sich austragen. Und ungleichheitstheoretisch treten Lageinkonsistenzen auf, wenn jemand z.B. als Manager zu den organisatorisch Mächtigen und Gutverdienenden, aber als Türke und Homosexueller in Deutschland zu zwei immer noch diskriminierten Bevölkerungsgruppen gehört. 160
– Ich schwenke zur ungleichheitstheoretischen Unterfütterung der differenzierungstheoretischen Perspektive über. Einer der Mechanismen von Differenzierungsdynamiken ist das Inklusionsspiel zwischen den Leistungsanbietern eines Teilsystems auf der einen und ihrem Publikum an individuellen Gesellschaftsmitgliedern als Leistungsempfängern auf der anderen Seite. Letztere bestehen, ungleichheitstheoretisch betrachtet, aus den gesellschaftlich Besser- auf der einen und den Schlechtergestellten auf der anderen Seite. Die Schlechtergestellten wollen, aus ihrer sozialen Lage heraus, ein immer inklusiveres Leistungsangebot der Teilsysteme, während die Bessergestellten möglichst auf Exklusivität pochen und jedenfalls keine Umverteilung, die zu den eigenen Ungunsten ausgeht, haben wollen (Schimank 1998). Bestimmte Kämpfe um teilsystemische Autonomie lassen sich hinsichtlich der zugrundeliegenden Interessen nur verstehen, begreift man sie als Kämpfe ungleicher sozialer Lagen. – Umgekehrt bedeutet dieser Sachverhalt, dass die Vielfalt der Anlässe, anhand derer Gesellschaftsmitglieder in der Moderne soziale Ungleichheit erfahren, nicht zur Gänze, aber doch in erheblichem Maße die Leistungsproduktionen der verschiedenen Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft widerspiegelt – von Ungleichheiten der Bildungschancen und der politischen Partizipation bis zur Ungleichheit der gesundheitlichen Versorgung oder auf Heiratsmärkten. Die Ungleichheitsprofile, die die Ungleichheitsforschung inzwischen für Gesellschaftsmitglieder zeichnet, sind durch funktionale Differenzierung gleichsam hochgradig vorgestanzt. Anders gesagt: Wenn die Individuen gefragt werden, in welchen Hinsichten sie Ungleichheiten der Lebenschancen sehen, benennen sie vielfach Besser- und Schlechterstellungen bei der Versorgung mit den Leistungen der verschiedenen Teilsysteme. – Eine ungleichheitstheoretische Eingrenzung der differenzierungstheoretischen Perspektive zeigt sich an Phänomenen der Exklusion als Extremform sozialer Ungleichheit (Farzin 2006). Differenzierungstheoretisch wird erstens für entwickelte westliche Länder eine steigende Anzahl von Individuen registriert, die wohlfahrtsstaatlich in viele Teilsysteme und deren Leistungsangebot inkludiert waren, aber nun wieder einer kumu161
lativen weitgehenden Exklusion aus der Leistungspalette der meisten Teilsystemen zum Opfer fallen; und dies wird zweitens als nach wie vor weltweites Schicksal großer Bevölkerungsgruppen erkannt, weshalb Luhmann (1997: 631/632) sogar darüber spekuliert, dass der Code inkludiert/exkludiert vielerorts den Teilsystemcodes vorgelagert sein könnte – was zu Ende gedacht hieße, dass funktionale Differenzierung jedenfalls nicht das integrale Ordnungsmuster der »Weltgesellschaft« wäre, sondern lediglich ihres vergleichsweise kleinen Zentrums, während in der großen Peripherie extreme Ungleichheit das gesellschaftliche Geschehen bestimmt. Die globale gesellschaftliche Dynamik würde dann durch die spannungsreiche Konstellation zweier radikal differenter Ordnungsmuster bestimmt. – In kulturtheoretischer Perspektive kulminiert das Bild der Moderne in der von Peter Gross (1994) porträtierten »Multioptionsgesellschaft«. Der Fortschrittsglaube der Moderne läuft in der Umsetzung auf eine nicht enden wollende Vervielfältigung von Optionen in sämtlichen Lebensbereichen hinaus – was hinsichtlich der sozialen Träger differenzierungs- und ungleichheitstheoretisch betrachtet heißt: Die »Multioptionsgesellschaft« ist das Resultat des schon erwähnten Zu-Endedenkens der teilsystemischen Leitwerte, das nicht zuletzt durch Verteilungskonflikte zwischen Besser- und Schlechtergestellten immer wieder befeuert wird. So ist etwa die Vielfalt von Formen intimen Zusammenlebens, die wir heutzutage jenseits der Ehe kennen, zum einen durch das rigorose Durchdeklinieren dessen, was Liebe – im Sinne wechselseitiger Identitätsbestätigung – als teilsystemischer Leitwert alles heißen kann, und zum anderen durch Gleichberechtigungsansprüche aller Ausprägungen dieses Durchdeklinierens von Schwulen und Lesben bis zu esoterischsten Lebensstilszenen bestimmt. Diesen Schnittstellen sind weitere hinzuzufügen, wenn man die Moderne differenzierungs-, ungleichheits- und kulturtheoretisch als kapitalistische Gesellschaft ansieht. Dann setzt sich das Bild dieser Gesellschaftsform aus allen drei Perspektiven zusammen: – Differenzierungstheoretisch gehört zur Ausdifferenzierung der kapitalistischen Wirtschaft der die Subsistenzökonomie 162
überwindende Aufbau von Handelsbeziehungen mit Fremden, der aber zunächst nicht mehr als Handelskapitalismus hervorbrachte (Münch 1990: 448-451), der Handel mit Geld und – als entscheidender Durchbruch – der Handel mit der Ware Arbeitskraft. – Ungleichheitstheoretisch wurde die Ware Arbeitskraft nicht zuletzt über die »ursprüngliche Akkumulation« (Marx 1867: 741791) erzeugt, die Startpunkt einer Herausbildung der »Lohnarbeitsgesellschaft« (Castel 1995) war. – Kulturtheoretisch bildete sich die protestantische Ethik als religiös abgeleitetes Unternehmerethos heraus, das die Gelegenheiten der »Lohnarbeitsgesellschaft« beim Schopf nahm (Schimank 2011). Hier lag also eine Wahlverwandtschaft kultureller Dynamiken mit Ungleichheits- und Differenzierungsdynamiken vor. Die sich so konstituierende kapitalistische Wirtschaft errang einen gesamtgesellschaftlichen Primat gegenüber den anderen Teilsystemen, wodurch funktionaler Differenzierung ein unabschaffbarer Ökonomisierungsdruck innewohnt, der sich weiterhin in der Dominanz marktvermittelter über andere Ungleichheiten und in der Lesart von Fortschritt als Wirtschaftswachstum bzw. Steigerung des individuellen Lebensstandards ausdrückt. Die drei Theorie-Perspektiven betonen dabei jeweils andere Manifestationen des funktionalen Antagonismus, der der kapitalistischen Gesellschaft innewohnt: – Differenzierungstheorien den Antagonismus von kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik, woraus der Wohlfahrtsstaat hervorgeht; – Ungleichheitstheorien den wohlfahrtsstaatlich institutionalisierten Antagonismus von Kommodifizierung und De-Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft; – und Kulturtheorien den Antagonismus von »Lebensqualität« als ganzheitlichem Fortschrittsverständnis und wirtschaftlichen Wachstumszwängen. Auch dies ist eine sicherlich noch unvollständige und auf jeden Fall noch weiter zu explizierende Liste von Schnittstellen der drei 163
gesellschaftstheoretischen Perspektiven. An all diesen und vermutlich weiteren Punkten setzt eine der Perspektiven eine der anderen beiden voraus, stellt also kein selbstreferentiell geschlossenes Theoriegebilde dar, sondern erweist sich – wenn man so sagen darf – als fremdreferentialitätsbedürftig. Damit schlage ich insgesamt ein Verständnis der modernen Gesellschaft vor, das diese als komplexe und keinem eindeutigen übergreifenden Entwicklungsmuster folgende Überlagerung dreier Ordnungen versteht: der funktionalen Differenzierung von »Wertsphären«, der meritokratisch zu legitimierenden Ungleichheiten sozialer Lagen und der Entfaltung gestalteten Fortschritts.77 Alle drei Ordnungen der Moderne sind bereits in sich dauerhaft umkämpft; und die an den aufgezeigten Schnittstellen sozusagen fest verzurrte Überlagerung dieser drei Kampfzonen führt erst recht zu unübersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Dynamiken. Dementsprechend muss auch gesellschaftliche Integration vielschichtiger konzipiert werden. Der »Polytheismus« der »Wertsphären« (Weber 1919: 27/28), »oben« und »unten« sowie unterschiedliche Verständnisse von Fortschritt und Tradition können einander verstärken, aber auch »cross-pressures« erzeugen und einander so wechselseitig abschwächen; und was in einer der drei Kampfzonen integrativ wirkt, kann Integrationsprobleme in den anderen beiden erzeugen. Das Gesamtbild gesellschaftlicher Dynamik, das sich aus der Kombination der drei Perspektiven ergibt, läuft somit – in nochmaliger Zuspitzung des in Kap. I.2 Gesagten – nicht auf eine klar ausgerichtete »große Erzählung« der Moderne hinaus, sondern auf in starkem Maße kontingente Bewegungen im Rahmen der Randbedingungen, die durch alle drei Ordnungen gesetzt werden. Entsprechendes gilt für die Lebenschancen der Individuen. Auch in dieser Hinsicht bedeutet die Überlagerung der Kampfzonen vor allem eins: Ambivalenzen in Gestalt von Überraschungen, erratischen Wendungen und Gemengelagen. Der unerforschliche Ratschluss Gottes hat sich in das »Gewicht der Welt« – um Peter Handke (1977) zu zitieren – verwandelt, ohne dass es mehr Klarheit der Verhältnisse gäbe.
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3. Zum Schluss Was bleibt am Ende dieses Gewaltmarsches durch die soziologische Gesellschaftstheorie noch zu sagen? Ich möchte nur noch einmal unterstreichen, dass ich die wichtigsten Aufgaben bei der weiteren Ausarbeitung der soziologischen Gesellschaftstheorie in zwei Richtungen sehe. Vorab: Nicht besonders hervorgehoben werden muss, was Gesellschaftstheoretiker sowieso tun: die je eigene Perspektive für sich genommen weiter auszuarbeiten. Das ist ihre Art von »normal science« im Sinne Thomas Kuhns (1962). Jede Theorie-Familie verfügt intern ja durchaus über ein paradigmatisch einigermaßen konsolidiertes Theoriegebäude. Doch erstens ist weiterzutreiben, was ich im vorliegenden Kapitel nur thesenhaft anreißen konnte: die enge Kopplung der differenzierungs-, der ungleichheits- und der kulturtheoretischen Perspektive an jeder der benannten Schnittstellen genauer zu fassen und nach weiteren Schnittstellen zu suchen. Diese Aufgabe entspricht dem Selbstverständnis aller drei Perspektiven, die sich selbst erst einmal als Nabel der Welt sehen, keineswegs – umso wichtiger, dass nicht locker gelassen wird, sie dahin zu drängen. Aber wer soll drängen – außer einigen vereinzelten Gesellschaftstheoretikern, die das Lagerdenken überwinden wollen und sich dabei schnell zwischen die Stühle setzen? Hier könnte es wichtig werden, auch die zweite von mir ausgemachte Richtung, in der soziologische Gesellschaftstheorie voranzutreiben ist, zu stärken. Es kann nicht oft genug betont werden, dass Gesellschaftstheorie, sofern sie Gesellschaftsmodelle und gesellschaftstheoretische Instrumente ausarbeitet, eine dienende Rolle für empirische Gesellschaftsanalysen einnimmt. Sehr wünschenswert ist es, wenn sich Gesellschaftstheoretiker selbst an die gesellschaftliche Wirklichkeit herantrauen, also empirisch über konkrete gesellschaftliche Phänomene forschen, anstatt immer nur weiter abstrakte Modelle zu verfeinern, die allenfalls vage sekundäranalytisch auf jeweils passende Empirie Bezug nehmen. Sofern Gesellschaftstheoretiker sich der Empirie aussetzen und dabei keine Scheuklappen aufsetzen, werden sie durch die Sache selbst dazu bewegt werden, zumindest erst einmal lose Kopplungen der je eigenen gesellschaftstheoretischen Perspektive mit den 165
beiden anderen zu versuchen; und es ist nicht auszuschließen, dass sie als systematische Denker, die sie nun einmal sind, es nicht bei loser Kopplung bewenden lassen wollen, sondern engen Kopplungen nachgehen. Zu dieser Eigenmotivation kann auch noch Außendruck treten. Wenn Gesellschaftsforschung hinsichtlich der empirisch betrachteten Phänomene immer mehr ins Detail geht, betritt sie früher oder später die Zuständigkeitsbereiche der zahlreichen speziellen Soziologien – von der Bildungs- bis zur Technik-, von der Umwelt- bis zur Kunstsoziologie. Man kann hoffen, dass von den dortigen Fachvertretern – und den anderen Sozialwissenschaftlern, die sich mit den jeweiligen Spezialfeldern befassen – die gesellschaftstheoretische Bringschuld an empirisch brauchbaren Instrumenten und Modellen eingeklagt wird, anstatt dass man Gesellschaftstheorie irgendwann entnervt links liegen lässt. Letzteres Szenario, das beim heutigen Stand der Dinge nicht ganz von der Hand zu weisen ist, liefe auf eine fatale Balkanisierung der soziologischen Gesellschaftsforschung in je für sich vor sich hinarbeitende spezielle Soziologien hinaus – und darauf, dass auch die Gesellschaftstheorie dann nur noch eine spezielle Soziologie neben anderen wäre, was sie vermutlich immer mehr zur schlecht gemachten Sozialphilosophie degenerieren ließe. Das ist die Wahl, vor der die soziologische Gesellschaftstheorie bald stehen könnte: in die Bedeutungslosigkeit und Armseligkeit in sich selbst kreisender Reflexionen abzusinken – oder in Auseinandersetzung mit der »wirklichen« Gesellschaft »da draußen« und den anderen Sozialwissenschaftlern, die sich mit Ausschnitten davon befassen, ihren übergreifenden und ordnenden Beitrag zu leisten. Letzteres kann nur gelingen, wenn sich die drei Theorie-Familien möglichst bald entschieden näher kommen.
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Anmerkungen 1
Die weibliche und männliche Form werden in diesem Buch bewusst alternierend verwendet. Das bildet nicht nur die heutige Geschlechterunordnung ab, die wir haben wollten, sondern lässt einen gelegentlich fragen, ob alle oder nur das jeweils genannte Geschlecht gemeint ist. 2 Alle Texte werden hier aus Gründen der schnellen Erkennbarkeit ihres Veröffentlichungszeitpunkts mit dem Ersterscheinungsjahr zitiert, auch wenn eine spätere Ausgabe oder Quelle verwendet wird. Im Literaturverzeichnis ist dann die zugrundegelegte Ausgabe bzw. Quelle auch mit ihrem Erscheinungsjahr – als zweiter aufgeführter Jahreszahl – erkennbar. Sofern von einem Autor mehrere Texte verwendet werden, sind sie nach den Ersterscheinungsjahren sortiert. 3 Die Weltreligionen wie etwa die katholische Kirche sind zwar, was ihre Mitgliederzahlen anbetrifft, weitaus größer als alle Staaten. Doch organisierte Religion hat in der Moderne an Einfluss auf die Lebensführung der Gesellschaftsmitglieder verloren; wo sie ihn noch besitzt, fusioniert sie mit Staatlichkeit – siehe etwa den Islamismus im Iran. 4 Die auch empirisch belegte »Small-world«-Hypothese (Milgram 1967) behauptet sogar, dass die Anzahl der Zwischenglieder sehr oft überraschend kurz ist. 5 Ein geschichtswissenschaftliches Beispiel ist Hans-Ulrich Wehlers (1987; 1987a; 1995; 2003; 2008) fünfbändige »Deutsche Gesellschaftsgeschichte«, die sich zum einen an einem insbesondere von Weber inspirierten gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen orientiert, zum anderen aber offen für »giving disorder its due« (Boudon 1984: 180), also für die Besonderheiten und Kontingenzen historischer Abläufe bleibt. Auf soziologischer Seite kann man etwa an Norbert Elias’ (1939) Interpretation des neuzeitlichen »Zivilisationsprozesses« denken, die mittlerweile freilich viel historische Kritik erfahren hat. 6 Letztere Frage stand im Hintergrund der inzwischen fast vergessenen Grundsatzdebatte zwischen Jürgen Habermas und Luhmann Anfang der 1970er Jahre (Füllsack 2010). 7 Karl Popper (1957) legte schon früh eine grundlegende metho167
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dologische Kritik der marxistischen Gesellschaftstheorie – die freilich noch sehr stark geschichtsphilophisch geprägt war – vor. Raymond Boudon (1984) lieferte eine umfassende Kritik insbesondere modernisierungstheoretischer Vorstellungen. Wolfgang Knöbl (2007) schließlich führte an vielen neueren Diskussionen vor, dass nicht erst die Prognose zukünftiger, sondern schon die Erklärung vergangener gesellschaftlicher Strukturdynamiken wie des Aufstiegs des Westens sehr wenige große Linien verlässlich ausmachen kann. Aus der inzwischen ausufernden Literatur hierzu siehe nur Mayntz (2005), Schmid (2006), Hedström/Ylikoski (2010), Greshoff et al. (2011: 12-16). Sofern keine klare zeitliche Abfolge zu erkennen ist, weiß man bei einer Korrelation nicht einmal, was Ursache und Wirkung ist: Fördert beispielsweise Demokratie das Wirtschaftswachstum, oder umgekehrt Wirtschaftswachstum die Demokratie? Zur wissenschaftstheoretischen Kritik funktionalistischer Fehlschlüsse siehe nur Nagel (1956), Hempel (1959). Als funktionales Erfordernis für alles Mögliche werden schnell auch Gegebenheiten eingestuft, an denen man hängt, weil man sie moralisch oder unter Nutzenerwägungen für gut befindet – etwa Demokratie oder Zukunftssicherheit. Eine hervorragend edierte »Best-of«-Sammlung vielseitig verwendbarer klassischer Mechanismen bieten Neckel et al. (2010). In Schimank (2000) findet sich eine ausführliche Darstellung; für eine stark geraffte Wiedergabe, die ich meiner differenzierungstheoretischen Perspektive zugrunde gelegt habe, siehe Schimank (2005c). Wer sich für Handlungstheorie entscheidet, entscheidet sich damit vor allem gegen Systemtheorie – meine Gründe dafür, die ich hier nicht näher darlegen kann, finden sich in Schimank (1985; 1995). Einen breiten Überblick konflikttheoretischer Konzepte gibt Bonacker (2009). In Schimank (2005: 131-139) wird die spieltheoretisch explizierte Trias der Typen von Handlungsinterferenzen – reine Koordinationsspiele, reine Konfliktspiele und »mixed motive games« – dargestellt. Maurer/Schmid (2010) behandeln in ihrer sehr gründlichen analytischen Systematik der Handlungsprobleme 168
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von Akteuren auch noch die je individuelle Orientierungsproblematik. Einen Überblick über die differenzierungstheoretische Perspektive geben Schimank (1996) und Schimank/Volkmann (1999: 6-22). Hartmann Tyrell (1998) bietet eine gute ideengeschichtliche Einordnung und Systematisierung des differenzierungstheoretischen Denkens. Die aktuelle Diskussion insbesondere handlungstheoretischer Zugänge spiegelt sich in Schwinn et al. (2011) wider. Als Überblick zur systemtheoretischen Betrachtung funktionaler Differenzierung siehe nur Schneider (2002: 303-378). Von Ausnahmen wie Universitäten abgesehen, die sowohl im Wissenschafts- als auch im Erziehungssystem angesiedelt sind – womit bezeichnenderweise spezifische Schwierigkeiten der Doppelorientierung des Wollens verbunden sind. Schwinn kritisiert hier Richard Münchs (1980) Konzeptualisierung der »Interpenetration« der Teilsysteme, der zufolge bei jedem Handeln viele oder gar alle Leitwerte auf gleicher Augenhöhe mitregieren. Aus der einseitigen und damit zu harmlosen Betonung von Arbeitsteiligkeit rührt die Begriffsbildung »funktionale Differenzierung« her. Bei Parsons meint der Begriff, dass sich spezialisierte gesellschaftliche Teilsysteme entsprechend den funktionalen Erfordernissen gesamtgesellschaftlicher Reproduktion wie etwa Wirtschaft oder Politik ausdifferenzieren. So hat auch Luhmann den Begriff übernommen; doch schon in dessen weiterer Ausarbeitung der Differenzierungstheorie, die viel stärker auf die Autonomie der Teilsysteme abstellt, war der Begriff mit seiner Referenz auf gesamtgesellschaftliche Erfordernisse schließlich geradezu ein Fremdkörper (Schimank 1998a). Ich verwende ihn als eingeführtes Markenzeichen weiter, aber in dem hier dargelegten Verständnis eines hochgradigen Spannungsverhältnisses zwischen Autonomie und Leistung. Näheres zum Weiteren siehe in einigen – noch sehr vorläufigen – eigenen theoretischen Vorarbeiten: Schimank (2005d; 2009; 2009a; 2010; 2010a; 2011). Siehe nur als minutiöse Fallstudie zur »monetized medicine« Samuel et al. (2005). 169
22 Michel Croziers (1970) Analyse von Frankreich als »blocked society« hätte in diesen Ländern noch viel besseres Anschauungsmaterial gefunden. 23 Siehe auch Schimank (2000a) für eine Sichtung derjenigen Integrationsprobleme, die die soziologischen Zeitdiagnosen der 1980er und 1990er Jahre ansprachen. 24 Zu einer Reihe von Teilsystemen gibt es bereits differenzierungstheoretisch ergiebige, wenngleich längst nicht immer explizit differenzierungstheoretisch angelegte Studien – siehe nur als kleine Auswahl aus Letzteren zum Wissenschaftssystem Ben-David (1971), zum Journalismus Blöbaum (1994), zum Sport Cachay (1988) und Schimank (1988), zur Kunst am Fall der Literatur Schmidt (1989) oder zur Wirtschaft Schimank (2010) sowie übergreifend Schwinn (2001: 211-311). 25 Außer Betracht bleiben ebenfalls evolutionäre Wandlungsdynamiken, wie sie insbesondere bei den teilsystemischen Deutungsstrukturen vorkommen – siehe dazu aber auch die Darlegungen zu den Quellen der Variation kultureller Ideen in Kap. IV.4. 26 Das Ökonomisierungsspiel ist ein Spezialfall des Domänenspiels, wird aber wegen der besonderen Rolle der Wirtschaft eigens hervorgehoben. 27 Im Ökologiespiel können es auch innerhalb des Teilsystems angesiedelte Akteure sein, wenn etwa Hersteller von Windenergieanlagen die auf Kernkraft setzenden Energiekonzerne attackieren. 28 Die »neofunktionalistische« Kritik von Parsons’ Differenzierungstheorie hat dies vielfach aufgezeigt – siehe Alexander/ Colomy (1990) sowie zusammenfassend Schimank (1996: 228-241). 29 Als Überblicke zu soziologischen Ungleichheitstheorien siehe Burzan (2004) und Weischer (2011) sowie ferner die Kurzdarstellungen der »Hauptwerke der Ungleichheitsforschung« in Müller/Schmid (2003). 30 Dies entspricht der Unterscheidung von »Belohnungen« und »Ressourcen« bei Bader/Benschop (1989: 119/120). 31 Ohne damit zu übersehen, dass Lebenslagen immer auch glücklichen Umständen wie robuster Gesundheit oder einem Lottogewinn zu verdanken sind. 170
32 Auch wenn für manche Menschen z.B. die Ausübung von Macht zum narzisstischen Selbstzweck wird, überwiegt generell doch klar der Mittelcharakter der Einflusspotentiale. 33 Siehe die – jeweils etwas anders gegliederten – Auflistungen bei Hradil (1987: 13-46), Bader/Benschop (1989: 68-86), Kreckel (1992: 52-106) oder Weischer (2011: 323-427). 34 Als knappe Verortung siehe nur Hradil (1987: 98-102). Der Datenreport (2011) für die Bundesrepublik Deutschland führt viele Ungleichheitsaspekte auf, die sich auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung beziehen. 35 Adelige waren politische Herrscher oder bildeten den höheren Klerus, der oftmals zugleich politische Herrschaftsrechte wahrnahm. Nicht-Adelige konnten in Einzelfällen vom niederen in den höheren Klerus aufsteigen. Wenn aber ein NichtAdeliger – etwa ein reich gewordener Kaufmann – in den Adelsstand aufsteigen wollte oder sollte, musste eine Adelsherkunft erfunden und fingiert werden. 36 Die folgende Darstellung legt die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland zugrunde, die aber nicht völlig untypisch sind. 37 Jenseits solcher indirekter marktvermittelter Ungleichheiten gibt es nur zwei relativ kleine Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern, deren Lebenshaltungskosten durch staatliche Finanzmittel aufgebracht werden: zum einen längerfristig oder dauerhaft Arbeitslose und ihre Angehörigen, zum anderen Personen, die – wie Strafgefangene und andere Insassen geschlossener Anstalten sowie Asylanten – durch staatlichen Zwang von Erwerbstätigkeit abgehalten werden, so dass sie staatlicher Alimentierung bedürfen. Darüber hinaus existiert noch die – wiederum noch kleinere – Restgruppe derjenigen, die ihren Lebensunterhalt dauerhaft größtenteils durch Kriminalität oder durch Bettelei bestreiten. 38 Arbeitsorganisationen schaffen zwar interne Herrschaftsverhältnisse gegenüber ihren Mitarbeitern. Doch dies bleibt sachlich auf die Arbeitsaufgaben und zeitlich auf die Arbeitszeit begrenzt – und man hat die »Exit«-Option. Der Arbeitsvertrag begründet somit gerade kein die Gesamtheit der Lebensführung umfassendes unausweichliches Herrschaftsverhältnis, wie es in der Ständegesellschaft galt. 171
39 Sonja Weber-Menges (2004) zeigt, wie sich dies nach wie vor für die deutsche »Arbeiterklasse« auswirkt. 40 Es sei nochmals betont, dass die Geldbesitzabhängigkeit der Lebenschancen erst einmal den Blick auf Optionen lenkt. Aber auch manche Ligaturen stellen sich für Wohlhabende leichter ein und lassen sich mit Geld festigen. 41 Siehe dazu nur die Systematisierung von »Mechanismen der Genese sozialer Ungleichheiten«, die Diewald/Faist (2011: 102107) vorschlagen. 42 Sorensen übernimmt hier unkritisch das Dogma der Neoklassik, dass ein perfekter Wettbewerbsmarkt eine gerechte Preisbildung hervorbringt; denn die »above-market returns« nennt er auch »exploitation«. In welcher Hinsicht der Marktpreis gerecht ist, bleibt schleierhaft; zumindest entspricht er nicht allen gesellschaftlich verbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen. 43 Weitere Kostenfaktoren wie Rohstoffe, der Erhalt der Produktionsanlagen oder Steuern kann man hier der Einfachheit halber ausblenden. 44 Dies ist die wichtigste Ausprägung dessen, was James Coleman (1982) als »asymmetrische Gesellschaft« bezeichnet – wiewohl er selbst hierfür kaum einen Blick hat. 45 Generell zu Formen sozialer Mobilität siehe bereits Sorokin (1927) sowie Weischer (2011: 448-463); Geißler (2006: 255272) gibt einen Überblick über Ausmaß und Arten sozialer Mobilität in Deutschland. 46 Zu den drei Isomorphie-Mechanismen siehe DiMaggio/ Powell (1983). 47 Mit Blick auf Ungleichheitsdynamiken generell hat sich nur die viel zu wenig beachtete »Protheorie sozialer Ungleichheit« von Veit Bader (1991) um einen umfassend angelegten analytischen Bezugsrahmen bemüht, der sich vor allem aus den Forschungen über soziale Bewegungen speist. 48 Der Einfachheit halber werden hier sowohl die Besser- als auch die Schlechtergestellten als ein einziger Akteur behandelt. Tatsächlich kann es auf beiden Seiten Fraktionen geben, die mehr oder weniger anzubieten bzw. zu akzeptieren bereit sind. Das verkompliziert die Konstellation beträchtlich, ohne jedoch die grundlegende Logik, um die es an dieser Stelle nur geht, außer Kraft zu setzen. Siehe z.B. Przeworski (1991) für eine Analyse, 172
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die auf beiden Seiten weiter zwischen Hardlinern und Gemäßigten differenziert. So bereits die Beurteilung von Bismarcks Sozialpolitik durch Hans Rosenberg – zitiert bei Wehler (1995: 910). Also ein dritter Akteur, der nicht nur den rechtlichen Rahmen des Ultimatumspiels setzt, sondern den Schlechtergestellten beisteht. Er hat dabei den »cultural turn« in der Geschichtswissenschaft vor Augen; sein Urteil trifft aber die entsprechenden Tendenzen in der Soziologie gleichermaßen. Niklas Luhmanns (1980: 9-71) Unterscheidung von »Sozialstruktur« und »gepflegter Semantik« auf der anderen Seite ist ganz ähnlich angelegt. Siehe auch Margaret Archers (1988: 1-21) Kritik am »myth of cultural integration«. In Talcott Parsons’ Konzept des Handlungssystems kommt dies darin zum Ausdruck, dass kulturelle Werte auf der Ebene des sozialen Systems in Normen und Rollen übergehen, die sich wiederum auf der Ebene des Persönlichkeitssystems motivprägend auswirken (Parsons/Shils 1951). Später wird dieses Bild mit Blick auf »multiple modernities« verkompliziert, allerdings im Kern beibehalten. Auch für funktionale Differenzierung und die Dominanz marktvermittelter Ungleichheiten gilt im Übrigen, dass sich diese von den anderen beiden gesellschaftstheoretischen Perspektiven hervorgehobenen Charakterzüge der Moderne ebenfalls zunächst in diesen Teilen des Globus durchgesetzt und von dort aus ihren weltweiten Siegeszug angetreten haben. Diese räumlich und im Groben auch zeitlich koexistierenden Geburten aller drei Grundcharakteristika der Moderne deuten bereits darauf hin, dass es zwischen ihnen engere Zusammenhänge geben dürfte, denen noch nachzugehen ist (Kap. V). So die deutsche Übersetzung von »World Polity«, über deren Angemessenheit weiterhin gestritten wird. Von vielen Vertretern des »cultural turn« dürfte der These – allzu schnell – ein westlicher Fortschrittsoptimismus unterstellt werden. Das Folgende beruht auf den ideengeschichtlichen Überblicksdarstellungen von Koselleck/Meier (1975), Nisbet (1980), 173
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Oeing-Hanhoff (1981) und Rapp (1992). Siehe weiterhin noch Marquard (1973) und Sommer (2006) zur Geschichtsphilosophie, Westby (1991) zum Fortschrittsdenken in der Soziologie sowie Dodds (1973) speziell zu vormodernen Fortschrittsvorstellungen. Eine hilfreiche knappe begriffliche Systematisierung findet sich bei Kinzig (1994: 66-78). Durchaus beträchtliche Unterschiede zwischen diesen Darstellungen können hier nicht eigens notiert und kommentiert werden. Kritikfähigkeit kam als Herrschaftskritik zwar schon in der ersten Achsenzeit in den Jahren von 800 bis 200 vor Christus auf, als die dogmatisch konstituierten Weltreligionen entstanden und die Naturreligionen ablösten, und ist daher nichts genuin Modernes (Eisenstadt 1978; Joas/Knöbl 2004: 451-457). Dies war allerdings eine Kritik anhand nicht-kontingenter Maßstäbe in Gestalt religiöser Dogmen. Wenn ein »ungerechter« Herrscher einem Stand nicht das gewährt, was diesem zusteht, darf der Herrscher beseitigt werden. Um Fortschritt geht es dabei aber eben nicht, sondern um Wiederherstellung ewiger Gerechtigkeit. Man sieht hier nochmals, dass Religion und die moderne Fortschrittsidee letztlich unvereinbar miteinander sind – gegen eine insbesondere von Nisbet (1980) behauptete Ideenkontinuität. Er schränkt ein, dass dieser Glaube nunmehr im Westen verlorengegangen sei – mit dieser in ihrer Allgemeinheit wenig überzeugenden kulturkritischen Wendung seiner Analyse beschäftige ich mich hier nicht weiter. In dieser Hinsicht ist auch aufschlussreich, dass in der Debatte über »multiple modernities« der »common core of modernity« (Eisenstadt 2000a: 3) ebenfalls in der Idee des gestalteten Fortschritts gesehen wird (Wittrock 2000; Göle 2000; Schwinn 2006: 22). Dieser Kern ist zwar westlichen Ursprungs, findet sich aber längst auch in denjenigen Varianten von moderner Kultur verankert, die man heute etwa in der Türkei, in Japan oder in Lateinamerika vorfindet. Siehe auch noch die im 17. Jahrhundert aufkommende Ideenlinie des »possessive individualism«, die C. B. Macpherson (1962) für Großbritannien nachzeichnet. Es sollte klar sein, dass ich als Soziologe hier kein Werturteil derart abgebe, dass Anti-Modernität schlecht ist. 174
64 Spätestens an diesem Punkt könnte sich die soziologische Gesellschaftstheorie auch wissenssoziologisch selbst reflektieren. Sie hat von Anfang an beansprucht, über die »Weltgesellschaft« und nicht nur über den Westen zu sprechen, kann aber dabei gar nicht vermeiden, als im Westen entstandene Wissenschaft nicht-westlichen gesellschaftlichen Phänomenen auch westliche Denkmuster überzustülpen. Solche fixen Ideen und blinden Flecken der westlichen Sozial- und Gesellschaftstheorie wie des westlichen Denkens generell werden seit geraumer Zeit etwa durch die »post-colonial studies« aufgedeckt (Reckwitz 2008: 95-106; Moebius 2009: 171-176). 65 Zu diesen Szenarien am Fall kultureller Globalisierung siehe Schimank (2004: 55-61). 66 Siehe zum Bürgertum historisch Gall (1989) und Wehler (1987: 177-184; 1987a: 174-241; 1995:111-140) sowie soziologisch Lepsius (1987) und Reckwitz (2006: 97-203). 67 Unter diesem Titel gibt es mittlerweile eine breite, von Shmuel Eisenstadt angestoßene Diskussion, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann – siehe als Überblicke Daedalus (2000), Schwinn (2006; 2009). 68 Auf ein analoges Ergebnis würde auch eine Betrachtung der globalen Effekte funktionaler Differenzierung und marktvermittelter Ungleichheiten hinauslaufen. Funktionale Differenzierung und marktvermittelte Ungleichheiten haben sich vom Westen her verbreitet, und überall sonst musste man sich mit diesen beiden Dynamiken auseinandersetzen – was freilich regional ganz unterschiedliche Ergebnisse zeitigen konnte. 69 Vor einiger Zeit habe ich selbst z.B. noch von zwei soziologischen Gesellschaftstheorien gesprochen und dabei die kulturtheoretische Perspektive nicht als eigenständige im Blick gehabt (Schimank 1996: 9-12; 1998). Ganz ähnlich hat etwas später Thomas Schwinn (2007: 5-13) das gesellschaftstheoretische Panorama umrissen, und Markus Schroer (2011) hat dies noch jüngst so aufgegriffen und eine Kontroverse zwischen Ungleichheits- und Differenzierungstheorie in der deutschen Nachkriegssoziologie behauptet. 70 Allgemein zu diesen drei Sinndimensionen siehe Luhmann (1971a: 46-61); zu einer entsprechenden Charakterisierung von Differenzierungs- und Ungleichheitstheorie anhand von 175
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Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu siehe Nassehi (2004: 177-182). Gesellschaft von einer der drei Sinndimensionen her zu denken heißt freilich nicht, die je anderen beiden ganz zu ignorieren oder auch nur zu vernachlässigen, weil jedes sinnhafte Geschehen stets alle drei Dimensionen besitzt. Fallweise bedeutet freilich mehr als je ad-hoc immer wieder ganz neu konstruierte Perspektiven-Kombinationen. Gesellschaftsanalyse kann über verschiedene Phänomene hinweg ein in gewissem Maße generalisierbares Erfahrungswissen hinsichtlich bewährter oder zumindest oftmals erfolgversprechender Kombinationen sammeln. Dessen gängige Verortung als Kultursoziologe ist ein großes Missverständnis. Die kulturtheoretische Perspektive kommt bei ihm insbesondere in den »Basisprinzipien« der Moderne zum Ausdruck. Was Johannes Berger (1987), allerdings missbilligend, frühzeitig notiert hat. Siehe auch Reckwitz (2008: 141/142), wo »Subjektformen« als kulturelle »Praxis/Diskurs-Komplexe« an »soziale Felder«, die differenzierungstheoretisch zu verstehen sind, und Lebensstile sowie Geschlecht und Ethnizität, also an Ungleichheitsdimensionen gebunden werden. In Giovanni Guareschis Don-Camillo-Geschichten. Man könnte angesichts der dargestellten mehrfachen nicht wegzudenkenden Bindeglieder zwischen den drei Perspektiven daran gehen, diese zu einer integralen Gesellschaftstheorie zusammenzuschweißen. Die Frage ist nur, ob das nicht auf eine in mindestens zwei Hinsichten eher dysfunktionale theoretische Überintegration hinausliefe. Zum einen könnte man in Analogie zu den Erfahrungen, die bei Mergern von Unternehmen oft gemacht werden, sozusagen kulturelle Unverträglichkeiten zwischen den Vertretern der dann zwangsvereinigten Perspektiven erwarten. Zum anderen gäbe man so auch die bei vielen Fragestellungen evidenten Vorteile von loser oder gar keiner Kopplung der Perspektiven auf.
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Einsichten. Themen der Soziologie Heike Delitz Architektursoziologie 2009, 148 Seiten, kart., 11,50 €, ISBN 978-3-8376-1031-4
Stephan Moebius Kultur (2., überarbeitete Auflage) 2008, 248 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-697-7
Andreas Reckwitz Subjekt (3., unveränderte Auflage 2012) 2008, 164 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-570-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
»Die Zukunft hat schon begonnen.« Robert Jungk
»Die Zukunft kann nicht beginnen.« Niklas Luhmann
»Die Zukunft hat schon aufgehört.« Jürg Laederach
Magazine for the Next Society heft
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oktober 2012
Dritte Orte
Die revue°0DJD]LQHIRUWKH1H[W6RFLHW\ZLUIWHLQHQYHUVSLHOWHQHWKQRJUD½VFKLQVpirierten Blick auf die Vorboten einer Zukunft, die längst begonnen hat, unseren Alltag umzukrempeln. Wir blicken auf Grenzgänger und überraschende Nachbarschaften, auf all die sozialen Neuerungen, die gleichzeitig Treiber und Ergebnis einer digitalen Transformation unseres Zusammenlebens und Arbeitens sind. Die revue erscheint zweimal jährlich (März und September) und liegt bundesweit sowie in Österreich im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel aus. Bestellung und weitere Informationen unter www.revue-magazine.net.