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German Pages 226 [224] Year 2014
Christian Schmelzer (Hg.) Gender Turn
Gender Studies
Christian Schmelzer (Hg.)
Gender Turn Gesellschaft jenseits der Geschlechternorm
Der Druck dieser Publikation wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Felix Amsel, Hamburg Lektorat: Christian Schmelzer Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-2266-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
»Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.« Sabine Leutheusser-Schnarrenberger | 7
Geschlecht geht uns alle an Dialogisches Vorwort Brigitte G. Bremer/Christian Schmelzer | 9
gender turn – Einleitung Christian Schmelzer | 13
gender turn – Systematische Überlegungen Christian Schmelzer | 21
Gemeinsam gegeneinander mit dem Rücken an der Wand gender turn – eine Geschichte Gisa Bauer | 35
Trans* In Sexualwissenschaft und Recht vor Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes Adrian de Silva | 81
Dimension von Identität im Recht Eine kritische Studie zur queer legal theory Jörg Kleis | 105
Intersexualisierung Sportliche Gesellschaften, gender tests und Graswurzelbewegungen Lena Eckert | 143
»Kämpfen mit einem queeren Gott?« Aspekte einer queeren Theologie Kerstin Söderblom | 173
What is love Partnerschaft, Sexualität und narrative Ethik Christian Schmelzer | 189
Autorinnen und Autoren | 221
»Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.« 1 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Der Artikel 3 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes verpflichtet uns. Dort heißt es: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Die Unterschiedlichkeit der Menschen, ihre Individualität, sowie ihre mannigfaltigen Lebensentwürfe lassen sich unter dem Begriff der »Diversity«/Diversität fassen; ein Begriff, der immer mehr für kulturelle und soziale Vielfalt steht. In Deutschland wird dieser Begriff allzu oft auf einzelne Aspekte von »Diversity« reduziert, so zum Beispiel auf die Situation von Frauen in Führungspositionen. Mindestens ebenso spannend erscheint die Frage, ob es auch abseits der klassischen Geschlechtertrennung Möglichkeiten gibt, neue Wege zu beschreiten. So ist es unser aller Aufgabe, eingefahrene soziale Rollenbilder und Geschlechterunterschiede in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ins Gespräch zu bringen, um in der Folge grundsätzlich über diese Kategorisierungen nachzudenken. Denn keine Unterscheidung nach Kriterien wie Geschlecht, Nationalität, Herkunft, sexuelle Orientierung und Behinderung soll dazu führen, dass die staatsbürgerlichen Freiheiten eingeschränkt werden. Es geht darum, den individuellen Charakteren und ihren Begabungen in unserer Gesellschaft einen Platz für freie Entfaltung zu geben. Dabei darf in Politik und Gesellschaft nicht der Fehler gemacht werden, unter * Arendt, Hannah
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S ABINE L EUTHEUSSER -S CHNARRENBERGER
dem Begriff der »Diversity« lediglich und ausschließlich die Förderung einzelner Gruppen zu verstehen. Es geht nicht nur darum an den Symptomen zu arbeiten und so eine vermeintliche Geschlechtergerechtigkeit in unserem Land herstellen zu wollen – es geht darum, an den Ursachen anzusetzen, die vor allem mit unserem klassischen Bildern von Geschlecht und Geschlechtlichkeit einhergehen. Für dieses Anliegen setzt sich die Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld ein. Gerade angesichts der historischen Erfahrungen möchte sich die Stiftung für die Erforschung geschlechtlicher und sexueller Diversität einsetzen und sich mit den Fragen entitätsgenerierender Kategorien beschäftigen. Sie leistet damit einen wesentlichen Beitrag, diesen Diskurs in eine breite Öffentlichkeit zu tragen. Ich freue mich, dass dieser Band ebenfalls einen Beitrag zu dieser wichtigen Debatte leistet und sich wissenschaftlich aus verschiedenen Perspektiven mit der Queer Theory auseinandersetzt. Vielfalt ist keine Bedrohung für unsere Gesellschaft, sie ist eine Chance, die von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung jeder und jedes Einzelnen geprägt ist. Berlin im Juli 2012 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Bundesministerin der Justiz – Mitglied des Deutschen Bundestages
Geschlecht geht uns alle an Dialogisches Vorwort Brigitte G. Bremer/Christian Schmelzer »Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.« Benjamin Franklin »Frei werden wir erst, wenn wir uns mit dem Leben verbünden.« Dorothee Sölle
Christian Schmelzer: Mit diesem Band haben wir uns vorgenommen einen Bereich in den Blick zu nehmen, der manchmal eher als ein randständiger gesehen wird und doch keiner ist: Die Frage nach Geschlechtlichkeit aus einer ganz grundlegenden Perspektive heraus zu betrachten und dieses mit einer Reihe interdisziplinärer Beiträge zu gestalten. Ich freue mich, dass wir auch Sie für dieses Thema und diesen Band begeistern konnten und Sie sich von Beginn an dafür engagiert haben. Brigitte Bremer: Seit nun mehr als 30 Jahre engagiere mich mit viel Freude und Interesse gesellschaftlich und politisch. Oft, eigentlich fast immer, habe ich Initiative ergriffen, wenn etwas nicht in Ordnung war – ohne lange über die möglichen Folgen oder Risiken nachzudenken. Wenn ich von etwas überzeugt war, habe ich mich dafür eingesetzt und, wenn notwendig, auch dafür gekämpft. Schon ganz früh als Klassensprecherin, dann als Mitglied des Studentenparlaments, als AStA-Sozialreferentin, als Vorstandsmitglied Junger Liberaler, als Landesvorsitzende im Verband
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deutscher Unternehmerinnen, als Mitglied des Landesvorstands Liberaler Frauen oder als Vizepräses des Verbandes Liberaler Akademiker. Nicht immer verlief dabei alles positiv: das heißt, ich musste auch einstecken und verlieren können. Diese Erfahrung machte ich zum Beispiel zur Bundestagswahl 2005, als ich als Direktkandidatin kandidierte. Doch habe ich nie aufgegeben oder mich in mein ›Schneckenhaus‹ zurückgezogen. Christian Schmelzer: Gerade die Presse bescheinigt unserem Land häufig, dass es nur noch Wenige gibt, die dieses Interesse und den Mut überhaupt aufbringen; die sich als Teil einer freien Bürger_innengesellschaft verstehen und sich in diese einbringen, mit all den Unbequemlichkeiten, die es vielleicht mit sich bringt. Gerade im Engagement für unser hier behandeltes Thema gender turn erfahren wir nicht selten Ablehnung oder werden in eine bestimmte ›Ecke‹ gestellt. Unsere Gesellschaft, so scheint es manchmal, kann gar nicht anderes, als in die Bereiche männlich oder weiblich einzuteilen. Gerade in Politik, Wirtschaft und Finanzwesen, scheint diese Unterscheidung überlebensnotwendig. Brigitte Bremer: Das ist auch typisch für das, was im politischen Engagement dem Verhalten einer Frau nachgesagt wird. Bei einem Mandat geht es dann zunächst um den Listenplatz. Nach gründlicher Recherche kristallisiert sich eine Hitliste der Kandidaten und Kandidatinnen heraus. Der Einsatz soll sich lohnen und jede liebäugelt mit einem der oberen Listenplätze. Frauen suchen sich fast immer die Frauen auf der Liste aus, gegen die sie kandidieren möchten. Dafür gibt es immer auch ›gute‹ Gründe, warum sie und nicht die Andere – anstatt den schwächsten Kandidaten herauszufiltern und gegen diesen anzutreten, was wohl am meisten Erfolg verspricht. Als ehemalige Investmentbankerin habe ich oft, wenn es um Finanzierungskonstruktionen von Unternehmen ging, Sprüche von Männern vernommen: »Können Sie das?« Ich wäre nie auf die Idee gekommen, bei einem Kollegen oder einer Kollegin die Kompetenz in Frage zu stellen. Mir ist es aus meiner bisherigen Lebenserfahrung wichtig hervorzuheben, dass es nicht nur eine Rolle gibt, sondern viele und egal welche Rolle ich auch immer eingenommen habe, als Mutter, Berufstätige, Führungskraft oder Politikerin, wollte ich immer authentisch bleiben.
G ESCHLECHT GEHT UNS ALLE AN
Christian Schmelzer: Für die Freiheit ist deshalb das Selbstbestimmungsrecht einer und eines jeden Einzelnen eine wesentliche Grundlage. Jeder Mensch soll seine individuellen Chancen nutzen können, sich frei in seiner Persönlichkeit, seinen Fähigkeiten und religiösen, politischen Orientierungen entfalten und verwirklichen können. Dies gilt ganz besonders im Hinblick auf die individuelle Geschlechtlichkeit und Identität. Wir werden erst frei, wenn wir uns dem annehmen und uns mit dem verbünden, was unser Leben auszeichnet und versuchen, diesem bestmöglich gerecht zu werden. Brigitte Bremer: Oft habe ich in meinem Leben gehört: man tut, man sagt, man macht das oder jenes nicht. Wer ist eigentlich dieser Mensch, der glaubt, für andere definieren zu können, was gut oder schlecht ist; was richtig oder falsch ist? Ich kann nur für mich festlegen, was für mich wichtig und richtig ist, solange ich dabei nicht die Rechte und Würde meiner Mitmenschen verletze. Eines möchte ich dabei betonen: Wir als Menschen müssen auch eine soziale Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen übernehmen. Das wird schnell bei der Definition des Menschenbilds von einigen liberal Engagierten vergessen. Jeder Mensch hat das Recht auf würdevolles Leben und Teilhabe an unserer demokratischen Gesellschaft, die Schwachen und die Starken. Christian Schmelzer: Es ist und bleibt eine Aufgabe, sich nicht nur für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, hetero- oder homosexuellen Lebensentwürfen einzusetzen, sondern für ein Gesellschaftsbild, das Freiheit über diese Kategorien hinaus ermöglicht. Brigitte Bremer: Auch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist gefordert, ihren Beitrag zu leisten. Die Stiftung sollte dafür eine Vorbildfunktion einnehmen, von der Impulse für unsere liberal-demokratische Gesellschaft ausgehen. Es ist dabei unabdingbar, sich mit dem wandelnden Verständnis von Geschlecht und Geschlechteridentität auseinanderzusetzen. Diese Publikation möchte als Nachdokumentation eines Seminars – eines von vielen, das zu dem Thema »gender« oder »Geschlechtergerechtigkeit« in der Theodor-Heuss-Akademie – einen Beitrag dazu leisten. Gerne unterstützt die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit diese Publikation und bedankt sich bei allen Autorinnen und Autoren für ihre
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Beiträge. Ein besonderer Dank gilt dem Initiator und Mitherausgeber Christian Schmelzer. Christian Schmelzer: Abschließend möchte ich einen herzlichen Dank an all jene aussprechen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Zunächst Brigitte Bremer und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die dieses Vorhaben überhaupt ermöglicht haben. Ganz herzlich danke ich allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und wissenschaftlichen Leistungen und all jenen, die mich bei diesem Vorhaben beraten und unterstützt haben – mit Korrekturen, anregenden Diskussionen oder einem freundschaftlichen Rat – im Besonderen möchte ich dafür Jörg Kleis, Adrian de Silva und Max Schulze danken.
gender turn – Einleitung Christian Schmelzer »Philosophia non in verbis, sed in rebus est.« Seneca
Was heißt eigentlich »Mensch«? Das ist wohl keine neue Frage. Bereits Kant erklärte diese zur wesentlichsten Frage der Philosophie überhaupt: »Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.«1
Dass wir uns als Menschen besser verstehen möchten, wird wohl immer ein Anliegen sein und muss deshalb auch im Kontext der Zeit, der Gesellschaft und aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen immer wieder neu reflektiert werden. Die Frage nach der Geschlechtlichkeit des Menschen und wie die Kategorie Geschlecht unser Leben, unser Denken und Handeln, aber auch die Politik, Wirtschaft und Kultur beeinflusst und in allen unseren Lebensbereichen verstrickt ist, ist wohl das spannendste Thema unserer Zeit. Das Verständnis des Menschen hat sich mit Beginn der zweiten Wellen der Frauenbewegungen in den 1950 Jahren und den Diskussionen über Feminismus zu Beginn der 1990er Jahre dem wichtigen Thema Geschlechtlichkeit angenommen. Dabei lenkt die Kategorie gender den Blick gerade auf sehr subtile und intime Bereiche in unserem Denken 1 | Kant, Immanuel; Jäsche, Gottlob Benjamin (Hg.): Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen. Königsberg 1800, 25.
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und Leben. Sie möchte dazu beitragen, uns selbst und unsere Gesellschaft besser zu verstehen, indem wir das Thema der Geschlechtlichkeit in seiner Wichtigkeit wahrnehmen und reflektieren. In diesem Zusammenhang steht eine Vielzahl von so genannten turns der Geisteswissenschaften in den vergangenen 50 Jahren. Der linguistic turn der 1960er Jahren gab den Auftakt zu Wenden in der Philosophie, Kulturwissenschaft, Soziologie usw., die versuchten, den Kontext der Wissenschaft ihrer Zeit unter immer neuen Ausgangsbedingungen zu erfahren. Nun soll gerade mit der Kategorie gender eine erneute Wende beschrieben werden. Aber warum gerade von einem gender turn sprechen? Verliert der Begriff gender damit nicht an Bedeutung für Wissenschaft und Gesellschaft? Er könnte in der langen und bedeutungsschweren Reihe geisteswissenschaftlicher turns einfach untergehen. Soll der Begriff gender in diese Tradition eingereiht werden oder wäre es ohne dieses ›historische Gepäck‹ nicht leichter? Dies würde wohl eine Menge Konfliktpotential vermeiden. Aber welche Zukunft hat die Kategorie gender dann? Ist gender tatsächlich nur in den Gender Studies und in vereinzelten anderen wissenschaftlichen Disziplinen beheimatet? Oder steht der Begriff nicht vielmehr für eine allumfassende Kategorie unseres Denkens, Handelns und Lebens?
1. W AS IST GENDER ? Außer Frage steht wohl, dass gender mittlerweile als ein wichtiges wissenschaftliches Konzept gilt – sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften. Es ist letztendlich ein Ergebnis der Forschung engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Frauenforschung, den Gender Studien, den Queer Studien sowie den Transgender Studies. Die Debatte um und über den Begriff gender ist groß und vielfältig. Wir wollen deshalb nur kurze Einblicke geben und Aspekte ansprechen, die als unsere Ausgangpunkte dienen sollen. Im Vergleich zum deutschen Wort »Geschlecht« lassen sich im Englischen zwei Begriffen unterscheiden: Die biologische Konstitution beziehungsweise das Geschlecht wird als sex bezeichnet, hingegen wird die Geschlechterrolle beziehungsweise das soziale Geschlecht gender genannt.2 2 | Die Unterscheidung zwischen sex und gender entspring dem angloamerikanischen feministischen Diskurs der 1980er Jahre. Wir werden im weiteren Text
GENDER TURN
– E INLEITUNG
Das Wort gender lässt sich auf einen lateinischen Ursprung genus zurückführen.3 Gehen wir jedoch weiter zurück, treffen wir auf das altgriechische Wort γένος. Dessen Bedeutung lässt sich mit den folgenden Begriffen wiedergeben: Abstammung, Geschlecht beziehungsweise Geburt im Sinne der Familie, des Volksstammes oder des Nachkommens beziehungsweise der Nachkommenschaft, der Gattung oder Klasse, das Geschöpf und Wesen, wie das grammatikalische und natürliche Geschlecht.4 Aus dem lateinischen beziehungsweise griechischen Ursprung wird eher deutlich, dass der Begriff auf etwas Übergeordnetes hinweist und auf Tradierungen – also immer auf einen historischen Kontext aufmerksam macht und nicht ausschließlich auf das duale System von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ fokussiert ist. Im Gegensatz zu Braun und Stephan sehen wir eine Verengung des Begriffs gender, wenn dieser von Beginn an als ein Dualismus beschrieben und gedacht wird: »Der Vorteil der gender-Kategorie liegt im Vergleich zu den von der älteren feministischen Forschung verwendeten Begriffen ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ in ihrem Vermögen, beide Geschlechter einzuschließen, problematische Trennungen aufzuheben und Übergänge fließend zu halten.« 5
Der Begriff gender hat den Vorteil, dass er eine gemeinsame Perspektive von biologischem Geschlecht und der Geschlechterrolle zulässt. Es ermöglicht eine übergeordnete Ebene der Betrachtung von Geschlechtlichkeit – ohne durch ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ das Denken zu begrenzen. Diese Grenzen zu überwinden, sie durchsichtig zu machen und infrage zu stellen ist der große Verdienst der queer theory. Hierfür steht insbesondere
zeigen, dass diese Unterteilung zwar begrenzt hilfreich, aber unbedingt zu Problematisieren ist. Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. 3 | Vgl. Harper, Douglas: Online Etymological Dictionary. www.etymonline.com/ index.php?term=gender&allowed_in_frame=0 (Zugriff: 10.11.2011). 4 | Vgl. Menge, Hermann: Menge-Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, Erster Teil Griechisch-Deutsch. Berlin 1955, 145. 5 | Braun: Gender Studien, 10.
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das Werk Judith Butlers und ihr Buch »Gender Trouble«6, dass die Normativität und Natürlichkeit einer wohlgeordneten heterosexuellen Welt zurecht in Frage stellt und grundlegend kritisiert. Der Bereich Gender Studies bildet mittlerweile immer häufiger an Fakultäten deutscher Universitäten eigene Fach- und Forschungsbereiche. Auffällig ist jedoch, dass an vielen deutschen Universitäten Gender Studies zwar differenziert und fachlich breit aufgestellt sind, doch noch nicht umfassend genug eingebunden und vernetzt werden in traditionellere Fächer. In einigen Kritiken am System der Gender Studies, aber auch grundlegend am Begriff gender fallen zwei wesentliche Punkte auf: Zum einen wird immer wieder die Wissenschaftlichkeit dieser Forschungsdisziplin infrage gestellt. Zum zweiten werden in der Gesellschaft und der Wissenschaft Themen mit dem Begriff gender nicht selten ablehnend oder distanziert betrachtet. Eine Infragestellung vermeintlich natürlicher Eigenschaften von Geschlechtern sowie der Hinweis auf darauf aufbauende Privilegien und Ausschlüsse provozieren Widerstände bei denjenigen, die sie zu verteidigen wünschen. Der Kategorie gender eine Chance zu geben heißt ihre Akzeptanz in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu fördern und somit die Einwände und strukturelle Kritik am Begriff und an der Kategorie zu diskutieren und wahrzunehmen. Das soll ein Ziel des Projekts gender turn sein. Es liegt nicht nur an einer Verweigerungshaltung, es ist auch der Aggressivität in Debatten mit gender-Kontext, sowie einer wenig vermittelnden und wirklichkeitsfernen Sprache geschuldet, dass gender auf Kritik und Ablehnung stößt. Dies mischt sich oft mit einer undifferenzierten Kritik am Feminismus, der als einseitig und ungerecht wahrgenommen wird. Dass Geschlecht und Geschlechtlichkeit eine existentielle Bedeutung in unserem Menschsein einnehmen, ist nicht zu übersehen. Darum ist die Kategorie gender argumentativ gegen Bedenken und Kritik zu verteidigen. So müssen auch wir jede autoritäre Geste im gender-Diskurs kritisch hinterfragen. Die Beschäftigung mit gender muss anschlussfähig bleiben, um in die Gesellschaft auszustrahlen. Eine gender-Kategorie muss deshalb die Lebenswirklichkeiten der Menschen wahrnehmen, ernst nehmen und kritisch integrieren. Dies beginnt konkret bei jenen, die sich mit gender beschäftigen und dazu äußern – die eigene existentielle Betroffenheit dabei deutlich zu machen. 6 | Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990.
GENDER TURN
– E INLEITUNG
2. W AS IST EIN ›TURN ‹? Als wissenschaftlicher Begriff wurde das Wort turn im Rahmen der sprachphilosophischen Debatte der 1960er Jahren hervorgebracht und im Jahr 1967 durch Richard Rortys Anthologie »The Linguistic Turn«7 erstmals etabliert. Im Allgemeinen bedeutet turn ein Fokussierungswechsel von einer in der Wissenschaft etablierten Vorgehensweise zu einer neuen Perspektive, die das beschreibende Adjektiv vorgibt: linguistic turn heißt ein Fokussierungswechsel auf die Sprache, cultural turn ein Fokussierungswechsel auf die Kultur etc. Wobei ein turn gleichzeitig ein turn auf oder in etwas ist – der Akzent ist wortwörtlich auf das »Wohin« gerichtet. Rorty beschreibt den linguistic turn oft mit der Metapher eines Autofahrers. Ganz buchstäblich können wir Rortys Ausdruck »[to] take the linguistic turn«8 als »in die Sprache einbiegen« übersetzen, als würde man in eine Straße einbiegen. An einer anderen Stelle diskutiert Rorty, ob der linguistic turn vielleicht nur ein »ermüdender Kreisverkehr«9 sei – also eine Art unendliche Einbahnstraße. Die Metapher ist vielsagend. Der Wissenschaftler wird als Fahrer dargestellt, seine eigene Entscheidungsfähigkeit in den Mittelpunkt gesetzt. Es könnte also passieren, das der turn nicht genommen, nicht eingebogen und der Fahrer weiterhin geradeaus auf der traditionellen akademischen Straße fährt. Dass die »Sprach-Straße« schon existiert, ist ein Indiz dafür, dass der linguistic turn eine gewisse Anerkennung gewonnen hat, auch wenn dieser nicht auf der Hauptstraße des akademischen Establishments liegt. Hinsichtlich des linguistic turn ist damit alles andere als eine genaue oder fein durchdachte Methode oder Vorgehensweise gemeint. Die Straße ist breit. Unter den amerikanischen Sprachphilosophen der 1960er Jahren gab es unversöhnliche Differenzen, was die Ziele der Sprachphilosophie angeht. Ein Flügel wollte die Sprache »reformieren«, der andere die gegebene Sprache »besser« verstehen.10 Doch die Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide Flügel den Versuch nach Begriffen oder Ideen hinter der Sprache zu fragen, wie es etwa die platonische Ideenlehre oder andere on7 | Rorty, Richard (Hg.): The Linguistic Turn: Essays in Philosophical Method. Chicago 1992. 8 | Rorty: Linguistic Turn, 10. 9 | Ebd., 9. 10 | Vgl. ebd., 5.
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tologische Strömungen probierten, für nicht sinnvoll hielten. Der cultural turn der 1970er Jahren war ebenfalls kein einheitliches wissenschaftliches Phänomen. Der Begriff beschreibt ein Verschmelzen verschiedener Wissenschaftsbereiche wie der Soziologie, Sprachphilosophie, Media Studies, Anthropologie und Ethnologie in dem Versuch, die kulturelle Dimension von Ideen, Bedeutung, Symbolen, und Reden zu untersuchen.11 Eine umfangreiche und differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Entwicklungen geisteswissenschaftlicher turns stellt Doris BachmannMedick in »Cultural Turns«12 dar. Dieser Gesamtkontext ist für unsere Diskussion zu gender turn zu umfangreich. Wir konzentrieren uns auf Rorty und Bergmann als Ausgangspunkte.
3. V ON ›TURN ‹ ZU GENDER TURN Wenn wir den Sinn von ›turn‹ so verstehen, wie es Bergmann und Rorty formulierten, scheint es nicht die richtige Frage zu sein, ob es einen gender turn geben sollte. Die ›Straße‹ gender ist sozusagen schon da. Ähnlich ist es beim cultural turn, der sogar erst 1988 durch den Soziologen Jeffrey Alexander beschrieben wurde, um eine Bewegung hin zur Kultur seit dem Beginn der 1970er Jahren nachzuvollziehen.13 Bergmann und Rorty haben den linguistic turn nicht erfunden, sie haben diesen eher »mitbeobachtet«. Rortys Anliegen ist es, nicht danach zu fragen, ob es einen linguistic turn geben sollte, sondern zu fragen: »Warum sollten wir.«14 So verstehen wir uns nicht als Erfinder des gender turn. Es ist nicht unsere Aufgabe zu Fragen ob es einen gender turn geben sollte, sondern ob sich ein gender turn vollzieht und wenn ja, ob und wie wir diese Wende verstehen und umsetzen wollen.
11 | Vgl. Oorschot, Wim van: Culture and Welfare State: Values and Social Policy in Comparative Perspective. Cheltenham 2008, 3-4. 12 | Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Hamburg 2006. 13 | Vgl. Oorschot, Wim van: Culture and Welfare State, 3. 14 | Rorty: Linguistic Turn, 8.
GENDER TURN
– E INLEITUNG
4. D IE B EITR ÄGE DES B ANDES Mit den anschließenden systematischen Überlegungen sollen erste Ausgangspunkte für die Beschäftigung mit dem Thema gender turn beziehungsweise Beobachtungsperspektiven erschlossen werden. Dafür spielen unter anderem queer theory, der sprachphilosophische Ansatz und die Kritik an der Dichotomie des Objektiven und Subjektiven durch Donald Davidson, sowie einige Erörterungen zur Voraussetzungslosigkeit bei Rudolf Bultmann eine Rolle. In dieser Zusammenstellung werden verschiedene »Werkzeuge« und Perspektiven aufgeworfen, die im Hinblick auf gender turn neue Impulse geben sollen. In ihrem Beitrag Gemeinsam gegeneinander mit dem Rücken an der Wand beschäftigt sich Gisa Bauer mit den verschiedenen Strömungen und Entwicklungen in der Frauenbewegung und nimmt gleichzeitig die Geschichte der Schwulen- und Lesbenbewegung, Gender Mainstreaming und queer Bewegungen mit in den Blick. Sie zeigt dabei auf, wie die historischen Entwicklungen und Bewegungen das Verständnis und den Begriff von Geschlechtlichkeit geprägt haben. Adrian de Silva stellt in seinem Beitrag Trans* in Sexualwissenschaft und Recht vor Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes die verschiedenen Positionen und Konzepte in der Rechts- und Sexualwissenschaft dar und diskutiert diese in ihren historischen Entwicklungen bis zu Beginn der 1980er Jahre. Er stellt fest, dass bei allen diesen Diskussionen das grundlegende Konzept des Geschlechterbinarismus jedoch nicht infrage gestellt wird. Mit dem Aufsatz Dimension von Identität im Recht: Eine kritische Studie zur queer legal theory untersucht Jörg Kleis, inwiefern der Ansatz einer queeren Rechtstheorie umsetzbar für die Rechtswissenschaften ist. Er diskutiert dabei verschiedene juristischen Voraussetzungen und zeigt dabei Möglichkeiten auf, wie das Rechtsverständnis von Identität durch queertheoretische Überlegungen verändert werden kann. Die südafrikanische Leichtathletin Caster Semenya ist bei den Weltmeisterschaften 2009 in den Mittelpunkt einer Debatte um ihr »wahres Geschlecht« gestellt worden. Lena Eckert erzählt in ihrem Artikel Intersexualisierung – Sportliche Gesellschaften, gender tests und Graswurzelbewegungen die Geschichte dieser Sportlerin und hinterfragt die Suche nach dem »wahren Geschlecht« Semenyas. Von daher wirft sie grundlegende Fragenstellungen über die Konzepte von gender und sex auf.
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Theologisches Nachdenken auf Grundlage von Geschlechtlichkeit verknüpft mit Ansätzen der queer theory beschäftigt Kerstin Söderblom in ihrem Beitrag »Kämpfen mit einem queeren Gott?« Aspekte einer queeren Theologie. Sie bespricht zuerst grundlegende Fragen und Begriff und führt anschließend ihre Ergebnisse an einem konkreten Beispiel der biblisch theologischen Exegese aus. In meinem eigenen Artikel What is love. Partnerschaft, Sexualität und narrative Ethik untersuche ich, welche Auswirkung die Sexualisierung des Sündebegriffs in der Theologie auf die Themenbereiche Geschlechtlichkeit und Partnerschaft hat. Dabei werfe ich die Frage nach dem theologischen und kirchlichen Verständnis von Partnerschaft auf und verbinde diese dem Ansatz von narrativer Ethik.
gender turn – Systematische Überlegungen Christian Schmelzer »Bedeutungen stecken nun mal nicht im Kopf.« Hilary Putnam
Gender turn in den vielfältigen Debatten und differenzierten Diskussionen der Gender Studies und Queer Studies, der Frauen- und Geschlechterforschung und der Transgender Studies zu verorten und zu diskutieren, wäre ein nicht zu leistendes Vorhaben. Wir wollen darum die Grundlagen für unsere Diskussion eines gender turn deutlich machen. Sie dienen als Ausgangspunkte, wir sind ihrer vielen Voraussetzungen bewusst und wollen doch ein differenziertes Weiterdenken ermöglichen – in dem Bewusstsein keine perfekte und allumfassende Darstellung leisten zu können. Die Fragen der Geschlechtlichkeit unter der Perspektive des biologischen sex und der Geschlechterrolle gender hat vor allem in den Themenkomplexen des Gendermainstreaming und der Vielzahl an Gleichstellungsdebatten in der politischen Praxis eine wesentliche Rolle gespielt und dadurch gesellschaftlich eine enorme Schubkraft gewonnen. Obwohl die Kategorie gender so wichtig war und ist, bleibt eine übergeordnete Ebene der Betrachtung meist wenig berücksichtigt. Gender turn setzt an diesem Punkt an und etabliert im Zusammenhang mit queer theory eine Wende, die Perspektiven jenseits des Differenzdenkens entfalten will. Die Überlegungen zu queer theory bilden einen wesentlichen Ausgangspunkt für unsere Debatte. Judith Butler kritisierte im Feminismus ihrer Zeit die Konstruktion von Geschlecht: Die zum einen die Zweigeschlechtlichkeit (männlich, weiblich) als natürlich gegeben ansah und andererseits damit die Heterosexualität privilegierte. Butlers Anliegen und Grundlage der queer theory ist es zu zeigen, dass weder sex noch gender und auch das Begehren (desire) natürliche Gegebenheiten und
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natürlicherweise heterosexuell oder gar vordiskursiv sind, sondern immer Interpretationen und Sinnzuweisung unterliegen, die einem historisch-kulturellen Diskurs entspringen.1 Dies gilt konkret dafür, dass gender nicht von sex abgeleitet werden kann – also die Geschlechterrolle, die wir einnehmen und die biologische Konstitution, die wir an unserem Körper als jene interpretieren, logisch aufeinander beziehen. Diese Möglichkeit der Ableitung würde voraussetzen, dass die Bedeutung von sex, von der auf gender abgeleitet werden soll, eine »natürliche« Wahrheit beanspruchen muss, die demzufolge nicht aus einer diskursiven oder kulturellen Deutung hervorkommen kann. Dies wird sichtbar daran, wie Butler beschreibt: »Die kulturelle Matrix, durch die die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) intelligibel [sinnhaft, verstehbar] wird, schließt die ›Existenz‹ bestimmter ›Identitäten‹ aus, nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität (gender) nicht vom anatomischen Geschlecht (sex) herleiten lässt und in denen die Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch aus der Geschlechtsidentität ›folgen‹.«2
Die Verbindung aus sex, gender, desire und Heterosexualität, die als eine Art natürliche Setzung erscheint, wird mit dem Begriff Heteronormativität bezeichnet: »[…] ein binäres, zweigeschlechtliches und heterosexuell organisiertes und organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema, das als grundlegende gesellschaftliche Institution durch eine Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit zu deren Verselbstständigung und zur Reduktion von Komplexität beiträgt bzw. beitragen soll.« 3
1 | Vgl. Jagose, Annamarie: Queer Theory: eine Einführung. Berlin 2001, 11. 2 | Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991, 38-39. 3 | Degele, Nina; Schirmer, Dominique: Selbstverständlich heteronormativ: zum Problem der Reinfizierung in der Geschlechterforschung. In: Buchen, Sylvia; et al. (Hg.): Gender methodologisch. Empirische Forschung in der Informationsgesellschaft vor neuen Herausforderungen. Wiesbaden 2004, 108.
GENDER TURN
– S YSTEMATISCHE Ü BERLEGUNGEN
Es ist grundlegend für ein binäres Geschlechtersystem (›weiblich‹/›männlich‹), dass es zu gleich auch heteronormativ ist.4 Es bildet ein in sich geschlossenes und damit ein in sich stimmiges (intelligibles) Idealsystem. Ein weiterer wichtiger Punkt der queer theory, der hier nur kurz angesprochen werden soll, ist die Frage danach, wie überhaupt gender entsteht und hergestellt wird. Dafür entwickelt Judith Butler den Ansatz der Performativität. Indem ein bestimmtes Verhalten ›gespielt‹ beziehungsweise ›sich inszeniert‹. So entsteht die soziale Geschlechterrolle. Doch ist dies nicht als eine Art theatralisches Spiel, in der Art einer freien Performanz zu sehen. Butler beschreibt den Begriff der Performativität so: »Performativität [kann] nicht außerhalb eines Prozesses der Wiederholbarkeit verstanden werden […] außerhalb einer geregelten und restringierten Wiederholung von Normen. Und diese Wiederholung wird nicht von einem Subjekt performativ ausgeführt; diese Wiederholung ist das, was ein Subjekt ermöglicht und was die zeitliche Bedingtheit für das Subjekt konstituiert. Diese Wiederholbarkeit impliziert, daß die ›performative Ausführung‹ keine ›vereinzelte Handlung‹ oder ein vereinzeltes Vorkommnis ist, sondern eine ritualisierte Produktion, ein Ritual, das unter Zwang und durch Zwang wiederholt wird, unter der Macht und durch die Macht des Verbots und des Tabus, bei Androhung der Ächtung und gar des Todes, die die Form der Produktion kontrollieren und erzwingen, die sie aber nicht, darauf lege ich Nachdruck, im voraus vollständig determinieren können.« 5
Mit queer theory ist ein Analysewerkzeug entwickelt worden, das grundlegend die Überlegungen des gender turn ermöglichte. Zusammengefasst verstehen wir queer theory, wie es Jagose beschreibt: »Gegenstand der Queer Theory ist die Analyse und Destabilisierung gesellschaftlicher Normen von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit. Sie untersucht, wie Sexualität reguliert wird und wie Sexualität andere gesellschaftliche Bereiche – etwa staatliche Politik und kulturelle Formen – beeinflußt und strukturiert. 4 | Vgl. De Silva, Adrian: Zur Normalisierung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit im Recht: Eine queere Analyse der Regulation des Geschlechtswechsels im Vereinigten Königreich. In: Buckel, Sonja; Derleder, Peter; et al.: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. Bd. 41, Hf. 3. Baden-Baden 2008, 268. 5 | Butler: Unbehagen der Geschlechter, 133.
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Zentrales Anliegen ist, Sexualität ihrer vermeintlichen Natürlichkeit zu berauben und sie als ganz und gar von Machtverhältnissen durchsetztes, kulturelles Produkt sichtbar zu machen.« 6
Das Projekt gender turn ist auf der Basis der queer theory zu verstehen und will deshalb weder für bestimmte geschlechtliche Kategorien eintreten. Stattdessen der Vielfalt und den Möglichkeiten Raum geben, die hinter und über diese Festschreibungen hinausgehen. Es bedarf daher einer Ebene darüber, einen Perspektivwechsel, der es versteht, den Selbstbegriff, die eigenen Ziele und verborgenen Normen zu reflektieren. Die Herausforderung besteht darin, dass ein Reden und Nachdenken über den Begriff gender nie aus einer rein objektiven Perspektive geschehen kann. Das grundlegende Problem einer objektiven Perspektive zeigt die Wesentlichkeit des gender turn, der sich darum als grundlegende Methode etablieren muss. Damit wird ernst genommen, dass unser Leben unhintergehbar in Geschlechterkonstruktionen unserer Wirklichkeitsinterpretationen verstrickt ist. Mit einem gender turn wird sichtbar, dass das individuelle Menschsein in seinem historischen gewachsenen Kontext herausgearbeitet werden muss. Nur so wird die Komplexität des Individuums erst entfaltet und ernst genommen. Es wäre zu kurz gegriffen, sex und gender als etwas Getrenntes zu betrachten, es engt die Komplexität des Begriffs gender ein. Gender und sex müssen immer und werden auch bereits im Kontext gedacht. Wie auch in Rortys und Bergmanns Beschreibung des lingustic turn deutlich wurde und auch der des cultural turn, wird in der später folgenden Diskussion bei Davidson deutlich, dass wir mit unhintergehbaren Fakten unseres Daseins arbeiten müssen. Dazu zählt die Kultur, die Sprache aber eben auch unsere Geschlechtlichkeit. Der Begriff gender in gender turn nimmt dieses Wissen auf. Es wird deutlich, wenn wir gender und sex trennen wollen, dass wir diese Voraussetzungen unseres modernen Denkens missachten: »[…] so produziert das sex/gender-Modell letztendlich biologische Begründungszusammenhänge. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Unterscheidung eine Erkenntnistheorie (implizit) zugrunde liegt, die davon ausgeht, dass es möglich
6 | Jagose: Queer theory, 11.
GENDER TURN
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sei, Natur von Kultur zu unterscheiden. […] dies aber [ist] eine problematische Position.«7
Insofern wird die Trennung sex und gender auf ein erkenntnistheoretisches Wissen aufgebaut. Dies verdeutlicht, dass die Diskussion von sex und gender immer zusammen geschehen muss und wir beide Begriffe als Produkte und Interpretationen diskursiver Vorgänge behandeln müssen: »Die sex/gender Unterscheidung verschiebt lediglich den Rekurs auf die Natur, weil sie auf den universellen Status eines biologischen Rohmaterials beharrt. Damit wird ein sozial relevanter Ort jenseits des Sozialen postuliert, der logischerweise nur ontologisch begründet werden kann. Die sex/gender-Unterscheidung sitzt damit einer erkenntnistheoretischen Setzung auf, die einem genaueren Blick nicht standhält. Diese besteht darin, an einer natürlich gegebenen Zweigeschlechtlichkeit festzuhalten, obwohl es keine erkenntnistheoretisch befriedigende Möglichkeit gibt, auf die ›Natur selbst‹ zuzugreifen.« 8
Die Trennung von Körper und Geist im Cartesischen Dualismus und die unglückliche Fragestellung der Philosophie nach dem Objektiven und Subjektiven machen deutlich, dass die Perspektive des gender turn dazu aufruft, alle Dualismen zu hinterfragen, sie zu prüfen und zu zeigen, dass diese komplexitätsreduzierenden Ansätze (weiblich/männlich; Körper/ Geist, sex/gender) erst durch einen Perspektivwechsel, der Vielfalt und Komplexität mehr Raum geben. Die duale Perspektive des »Objektiven« und »Subjektiven« beschäftigte Donald Davidson, der diese als Grundproblem der modernen Philosophie identifizierte: »Anstatt zu behaupten die Probleme der modernen Philosophie seinen von der Dichotomie Schema/Inhalt beherrscht und definiert worden, könnte man demnach ebenso gut sagen, der maßgebliche Faktor sei die Art der Auffassung des Dualismus von Objektiven und Subjektiven gewesen. Diese Dualismen haben
7 | Villa, Paula-Irene: Sexy Bodies, Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Wiesbaden 32006, 70. 8 | Ebd., 71.
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nämlich einen gemeinsamen Ursprung: einen Begriff des Geistes mit seinen privaten Zuständen und Gegenständen.« 9
In dieser Art der Betrachtung wird deutlich, dass ein völlig neues Verständnis von der Beziehung zwischen Geist und Welt entstehen kann.10 Es ist für Davidson wichtig, nicht die Frage zu beantworten, wie und warum dieses »Paar« (objektiv, subjektiv) entstanden ist, sondern das Verhältnis beziehungsweise dessen grundsätzliche Plausibilität zu klären. Er bedient sich dafür des Beispiels, wie wir das Sprechen erlernen, um damit den Begriff der Subjektivität, beziehungsweise dessen, was »im Geist« ist, zu untersuchen.11 Er beschreibt den Vorgang, wie Menschen das Sprechen erlernen, folgendermaßen: »[…] unsere ersten Wörter – also Wörter wie »Apfel«, »Mann«, »Hund«, »Wasser« – lernen [wir], indem Geräusche oder Sprachverhalten durch Konditionierung auf die entsprechenden Materialen im öffentlichen Bereich abgestimmt werden. […] auch wenn es um einen angemessene Erklärung des Bezugs der Wörter und ihrer Bedeutung geht, muß diese Geschichte [gemeint ist jene über das Erlenen des Sprechens] einen wesentlichen Teil der Darstellung [des Lernvorganges] bilden.«12
Es ist wesentlich, dass es vor allem um das »Wie« der Verbindungen von Wörtern und Bedeutungen geht.13 Diese Verbindung wird durch einen Satz von Hilary Putnam deutlich: »Bedeutungen stecken nun mal nicht im Kopf.«14 In Bezug auf seine Überlegung interpretiert Davidson diesen Satz so: »[…] daß die richtige Interpretation dessen, was der Sprecher meint, nicht ausschließlich durch das bestimmt wird, was in seinem Kopf vorgeht, son-
9 | Davidson, Donald: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Frankfurt a.M. 2004, 86. 10 | Vgl. ebd., 86. 11 | Ebd. 12 | Davidson: Subjektiv, 86-87. 13 | Vgl. ebd., 87. 14 | Putnam, Hilary: Die Bedeutung von »Bedeutung«. Frankfurt a.M. 21990, 27.
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dern außerdem von der Naturgeschichte dessen abhängt, was in seinem Kopf steckt.«15
Davidson argumentiert, dass der Zusammenhang zwischen Außenwelt und Ich nicht nur für Bedeutungen von Worten gilt, sondern gleichfalls für Gedanken – da diese erst durch Worte ihren Ausdruck finden.16 Das Phänomen, dass Bedeutungen von der Außenwelt abhängig sind, gilt somit auch als ein umfassendes Phänomen, »denn es ist mit dem sozialen Charakter der Sprache untrennbar verbunden«17 und macht das Wesen des Denkens und Sprechens aus.18 Davidson »entmystifiziert« somit nicht nur den Begriff des »Subjektiven«, sondern macht klar, dass Sprechen und Denken nicht isoliert sind, weil: »[…] Bewusstseinszustände – einschließlich dessen, was der jeweilige Sprecher meint – anhand ihrer kausalen Beziehungen zu äußeren Gegenständen und Ereignissen identifiziert werden, ist ein für die Möglichkeit der Kommunikation wesentliches Faktum, durch welches das eine Bewusstsein grundsätzlich auch dem anderen zugänglich wird. Dieser öffentliche und interaktive Aspekt des Geistes ist jedoch nicht dazu angetan, der Autorität der ersten Person etwas von ihrer Bedeutung zu nehmen.«19
Was bedeutet dies für den Begriff der Subjektivität an sich und für das Denken? Davidson betont, dass vom Phänomen der Subjektivität zwei Grundmerkmale bestehen bleiben: zum einen die Privatheit unserer Gedanken und zum anderen der Weg, wie wir zu unseren Gedanken gelangen.20 Das Denken an sich ist für Davidson weit von dieser Privatheit entfernt und gehört somit: »[…] notwendig zu einer öffentlichen Welt. Es ist nicht nur so, daß andere in Erfahrung bringen können, was wir denken, indem sie auf die kausalen Abhängigkeiten achten, die unsere Gedanken ihren Inhalt verleihen, sondern die bloße 15 | Davidson: Subjektiv, 88. 16 | Vgl. ebd., 89. 17 | Davidson: Subjektiv, 93. 18 | Vgl. ebd. 19 | Davidson: Subjektiv, 100. 20 | Vgl. ebd., 101.
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Möglichkeit von Gedanken verlangt gemeinsame Maßstäbe der Wahrheit und Objektivität.« 21
Diese gemeinsamen Maßstäbe sind kein neues Diktat des Denkens. Sie machen deutlich, dass unser wissenschaftliches Bemühen und Denken eben nicht im Raum der Beliebigkeit stattfindet. Sind die Überlegungen Davidsons für den Ansatz gender turn hilfreich und was können diese für unser Nachdenken in Bezug auf gender bedeuten? Geschlechtlichkeit und Identität sind Phänomene, die ebenfalls keine strikte Trennung von »innen« und »außen« zulassen. Sie stehen damit ebenfalls wie die Sprache in einem öffentlichen Raum, der gemeinsame Maßstäbe verlangt, um eine sinnvolle Kommunikation zu ermöglichen. Diese Verflechtung muss ebenfalls in unser Nachdenken einfließen, wie die existentielle Bedeutung von gender die späterhin mit Bultmanns Thesen diskutiert wird. Ganz grundlegend ist die Forderung nach öffentlicher beziehungsweise gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit mit der Kategorie gender verbunden und geht gleichzeitig mit gender turn einher. Im Resümee seiner Überlegungen macht Davidson einen vergleichbaren Punkt deutlich, der die künstliche Note in unserem Denken auflösen kann: »Ist das Dogma eines Dualismus von Schema und Realität gegeben, erhalten wir Begriffsrealität und Wahrheit relativ zu einem Schema. Ohne das Dogma geht diese Art von Realität über Bord. Natürlich bleibt die Wahrheit der Sätze sprachrelativ, aber objektiver geht es nun einmal nicht. Indem wir den Dualismus von Schema und Welt fallenlassen, verzichten wir nicht auf die Welt, sondern stellen die unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen wieder her, deren Possen unsere Sätze und unsere Meinungen wahr oder falsch machen.« 22
Fundamental sind sex und gender in eine kulturelle und soziale Interpretation und Gesellschaftsdefinition verstrickt. Wir können unsere biologische und kulturelle Verflechtung nicht einfach übergehen – was bedeuten würde, dass gender turn dazu angelegt ist, sich in letzter Konsequenz selbst aufzulösen. Eine solche Forderung taucht bei Hotz-Davies und Schahadat
21 | Davidson: Subjektiv, 101. 22 | Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation. Frankfurt a.M. 1990, 282.
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auf.23 Doch macht gender turn gerade auf seine permanente Wichtigkeit aufmerksam und darauf, die gender-Kategorie selbst zu ihrem eigenen Gegenstand zu machen. Der linguistic turn hat die Sprache nicht marginalisiert oder gar einer untergeordneten Rolle zuweisen wollen, sondern die Sprache als wesentlich herausgestellt. Gender turn lässt sich nicht vereinnahmen oder gar herausentwickeln. Gender beansprucht Selbstständigkeit und ist deshalb richtigerweise als ›turn‹ zu etablieren.24 Aber wie können wir durch einen grundlegenden Perspektivenwechsel, kulturelle und biologische Interpretationen verstehen, weiterentwickeln und diese für einen ernsthaften, anerkennenden und innovativen Diskurs anschlussfähig machen? Gender turn bietet die Möglichkeit eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen zu schaffen, aber auch die Binnenperspektiven in den Bereichen der Kulturwissenschaften, Philosophie, Theologie und den Gender Studies in einem gemeinsamen Diskurs zu führen. Die Notwendigkeit der gender-Fragestellung in allen Bereichen, wird als turn, als unhintergehbaren Perspektivwechsel nicht nur interdisziplinär, sondern für den jeweiligen Fachbereich erst deutlich. Für die Arbeit unter der Perspektive gender turn stellen Davidsons Überlegungen einen grundlegend systematischen Ansatz dar. Sein Ansatz weißt uns auf die vielfältigen Verbindungen und Verstrickungen, in denen wir leben, hin. Er hilft uns zu hinterfragen, wie unsere Wirklichkeitsinterpretation sich vollzieht und sich explizit an der Sprache festmacht. In einem nun folgenden Schritt diskutiere ich, wie einige Gedanken Rudolf Bultmanns für die Perspektive gender turn fruchtbar gemacht werden können. Seine Thesen sollen vor allem die Praxis und Grundfragen der Arbeit mit der Kategorie gender bereichern. Gender turn kann als eine Art der Auslegung oder Interpretation, also der Exegese25, von Geschlechtlich23 | »Zum turn kann es nur kommen, wenn Gender eine untergeordnete Rolle spielt.«, Hotz-Davies, Ingrid; Schahadat, Schamma: Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt, Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Bielefeld 2007, 8. 24 | Schlenkes vorgebrachten Einwand, den Begriff gender turn in geleicherweise wie feministisch zu benutzen, kann deshalb nicht gefolgt werden. Vgl. Schlenke, Dorothee: Weibliche Moral? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Ethik der Geschlechterdifferenz in feministisch-theologischer Perspektive. In: Epp, Helga (Hg.): Gender Studies, Interdisziplinare Ansichten 1. Freiburg i.Br. 2004, 135. 25 | Aus dem griech. ἐ ξήγησις, Bedeutung: Darstellung, Auslegung, Deutung, Erklärung, vgl. Menge: Wörterbuch, 250.
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keit beziehungsweise Rollenstrukturen verstanden werden. Der Ansatz der »voraussetzungslosen Exegese« Rudolf Bultmanns soll dazu dienen. In seinem Aufsatz liefert Bultmann systematische Überlegungen, wie es möglich ist, biblische Texte wissenschaftlich zu untersuchen und kritisch auszulegen. Seine Überlegungen sind auf eine Vielzahl von Prozessen der Auslegung und Interpretation übertragbar, da sie die Selbstreflexion des Wissenschaftlers in den Vordergrund stellen. Für Bultmann ist eingangs die Frage nach der Voraussetzungslosigkeit des Wissenschaftstreibenden wesentlich. Zwei Blickwinkel spielen bei der Voraussetzungslosigkeit eine Rolle: Zum einen heißt voraussetzungslos, dass die Ergebnisse der Arbeit nicht vorausgesetzt werden dürfen – der Forschungsprozess muss immer ergebnisoffen gestaltet sein.26 Vorgefertigte Schemata, um Sachverhalte zu verstehen und zu deuten, dürfen genauso wie Vorurteile keine Relevanz bekommen: »Jede von dogmatischen Vorurteilen geleitete Exegese hört nicht, was der Text sagt, sondern läßt ihn sagen, was sie hören will.« 27
In dem Sinne ist niemand voraussetzungslos, da die eigene Lebensgeschichte, Individualität, Begabungen und Vorlieben uns wesentlich im wissenschaftlichen Arbeiten und Denken begleiten.28 Die nachfolgende Forderung Bultmanns, sich selbst zu einem neutralen Hörer zu erziehen, scheint jedoch nur begrenzt umsetzbar. Jedoch in der Reflexion des eigenen Standpunkts, sowie diesen bewusst und transparent darzulegen, liegt die Chance, diesem Ideal nahe zu kommen. Diese Reflexion gilt auch als hinterlegte Folie des gender turn, um dem wissenschaftlichen Arbeiten Klarheit und Transparenz zu verleihen. Für den Ansatz gender turn sollen diese Gedanken nicht nur als allgemeine Kriterien gelten: Konkret da, wo die Kategorien von »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« als hermeneutische Schlüssel auftauchen oder als Begrenzung stehen, gilt es diese Voraussetzungen beiseitezulegen, um einer Ergebnisvielfalt Raum zu geben. Gleichermaßen gilt das auch für alle ideologischen Prämissen, die nicht
26 | Vgl. Bultmann, Rudolf: Glauben und Verstehen, Dritter Band. Tübingen 1960, 142. 27 | Ebd., 143. 28 | Ebd.
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nur Ergebnisse vorprogrammieren wollen, sondern die Akzeptanz und Wissenschaftlichkeit des gender turn gefährden. Bultmanns zweiter Kernpunkt stellt die Frage des Verstehens dar. Für ihn ist wesentlich, dass Verstehen nur im Kontext stattfinden kann und dieser Kontext dabei deutlich zu machen ist: »Die in der Verknüpfung der Phänomene wirksamen Kräfte sind nur verständlich, wenn die Phänomene selbst verstanden werden, die in dem Wirkungszusammenhang verbunden sind. Das heißt: zum historischen Verständnis gehört das sachliche Verständnis. Denn kann man die politische Geschichte verstehen, ohne einen Begriff von Staat und Recht zu haben, die ihrem Wesen nach nicht historische Produkte, sondern Ideen sind?« 29
Das Verstehen zu ermöglichen ist auf der einen Seite durch Kontextualisierung bestimmt. Auf der anderen Seite heißt es auch, dass Verstehen, Forschen beziehungsweise wissenschaftliches Arbeiten nicht unbeteiligt vor sich geht, es hat immer einen existentiellen Bezug, wie am Beispiel der Geschichte deutlich wird: »Die Geschichte zu verstehen, ist nur dem möglich, der ihr nicht als ein neutraler, unbeteiligter Zuschauer gegenübersteht, sondern selbst in der Geschichte steht und an der Verantwortung für sie teilnimmt. […] Es bedeutet nicht, daß das Verstehen der Geschichte ein »subjektives« ist in dem Sinne, daß es von dem individuellen Belieben des Historikers abhängt, wodurch es ja alle objektive Bedeutung verlieren würde. Sondern es bedeutet, daß Geschichte gerade in ihrem objektiven Gehalt nur von dem existentiell bewegten, lebendigen Subjekt verstanden werden kann. Es bedeutet, daß für das geschichtliche Verstehen das Schema von Subjekt und Objekt, das für die beobachtende Naturwissenschaft Gültigkeit hat, nicht gilt.« 30
In der Kategorie gender ist ebenfalls das Existentielle enthalten, da wir alle in einer Gesellschaft und einem Dasein leben, dass die Geschlechtlichkeit impliziert und unser Nachdenken darüber immer im historischen Kontext stattfindet – mit allem auf das wir uns beziehen und mit dem wir arbeiten.
29 | Ebd., 146. 30 | Ebd., 147-148.
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Diesem existentiellen Aspekt gerecht zu werden ist nur möglich, wenn wir ihn als Kontext anerkennen und unser Verhältnis dazu beschreiben. Mit den Gedanken zu queer theory, Davidsons Überlegungen zum Verhältnis von Subjekt und Objekt und den Thesen Bultmanns zum voraussetzungslosen Nachdenken beziehungsweise Interpretieren wurde versucht, drei systematische Kernpunkte eines gender turn zu erarbeiten. Auch diesen stehen freilich zur Diskussion und bildenden einen ersten Ausgangspunkt, wie das Nachdenken über gender turn stattfinden kann. Ein Kontroverse um den Begriff gender turn ist mit dem bereits genannten Buch »Cultural Turns«31 aufgekommen. Einige Argumente und Antworten der Autorin, die sie zur Rezensionsdebatte in L’Homme ausführt, sollen die Notwendigkeit eines gender turn abschließend kritisch diskutieren. Die Geschlechterperspektive sieht Bachmann-Medick nicht als eine eigenständigen ›turn‹, sondern meint das diese die bisherigen ›turns‹ der Kulturwissenschaft durchkreuzt.32 Insofern wird deutlich, dass sie gender als Vorzeichen aller ›turn‹-bildenden Fokussierungen versteht.33 Genauso könnte aber auch eine Argumentation für alle anderen ›turns‹ in der Kulturwissenschaft aussehen, um deren Berechtigung infrage zu stellen. Wesentlicher scheint hier die Frage, ob tatsächlich die vielen ›turns‹, bei jeder kleinen Änderung oder neuen Forschungsperspektive, gerechtfertigt sind.34 Unter diesem Gesichtspunkt ist es gerade wichtig, die existentielle Kraft sowie die übergreifende Wichtigkeit und Bedeutung eines gender turns zu betonen. Richtigerweise kritisiert Bachmann-Medick auch, dass ›turns‹ nicht einfach ausgerufen werden können, sie sind viel mehr eine Beschreibung stattfindender Entwicklungen.35 Als solches versteht sich auch dieser Sammelband, der nicht nur beobachtet und aufnimmt, sondern gleichzeitig theoretische Impulse setzen will. Unsere Ausgangspunkte und Denkanregungen können nur begrenzt die Mannigfaltigkeit der Forschung auf diesem Gebiet einbeziehen. 31 | Bachmann-Medick: Cultural Turns. 32 | Vgl. Bachmann-Medick, Doris: »Diebin in der Nacht« – Gender diesseits und jenseits kulturwissenschaftlicher turns? Fragen und Antworten in einer kontroversen Debatte. In: Arni, Caroline et al. (Hg.): L’Homme, europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Bd. 19, 1. Köln 2008, 132. 33 | Ebd., 137. 34 | Ebd. 35 | Ebd., 132.
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Das bereits vorgetragene Anliegen, dass gender turn die gegenseitige Implementierung in Wissenschaft und Gesellschaft verlangt, geht einher mit der Rückbindung von Wissenschaft an die Gesellschaft.36 Die von Bachmann-Medick betonte Gesellschaftsflucht der Kulturwissenschaft, wie deren Neigung zur Entpolitisierung, machen sich vor allem an der Zwiespältigkeit des Begriffs gender fest. Gender steht auf der einen Seite als ein theoretisch-kritisches Analysewerkzeug, auf der anderen Seite als eine stark erfahrungsbezogene und praxisnahe Beschreibungskategorie.37 Bereits ausführlich wurde diese Zwiespältigkeit theoretisch mit Davidsons Ansatz diskutiert und ist deswegen kein Hindernis, um von einem gender turn zu sprechen. Mit Bachmann-Medicks Vorschlag gender als einen Übersetzungsbegriff zu etablieren und damit ihm eine Bedeutung zu geben, die über die eines ›turns‹ hinausgeht,38 trägt sie wenig zur ernsthaften Profilierung und Etablierung von gender bei. Ein grundlegendes Plädoyer gender als ›turn‹ zu verstehen, scheint bei Bachmann-Medick unverkennbar. Jetzt ist es daran, dies konsequent auszuführen. Es in verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Fachrichtungen zu diskutieren und schließlich auch weiterzuentwickeln – wir wollen versuchen, in die »Straße« gender einzubiegen.
L ITER ATUR Bachmann-Medick, Doris: »Diebin in der Nacht« – Gender diesseits und jenseits kulturwissenschaftlicher turns? Fragen und Antworten in einer kontroversen Debatte. In: Arni, Caroline et al. (Hg.): L’Homme, europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Bd. 19, 1. Köln 2008, 131-142. —: Cultural Turns. Hamburg 2006. Braun, Christina von; Stephan, Inge: Gender Studien, Eine Einführung. Stuttgart 2000. Bultmann, Rudolf: Glauben und Verstehen, Dritter Band. Tübingen 1960. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M 1991. —: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990. 36 | Gleichfalls betont dies Bachmann-Medick, vgl. ebd., 141-142. 37 | Ebd., 134. 38 | Ebd., 139.
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Davidson, Donald: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Frankfurt a.M. 2004. —: Wahrheit und Interpretation. Frankfurt a.M. 1990. Degele, Nina; Schirmer, Dominique: Selbstverständlich heteronormativ: zum Problem der Reinfizierung in der Geschlechterforschung. In: Buchen, Sylvia; et al. (Hg.): Gender methodologisch. Empirische Forschung in der Informationsgesellschaft vor neuen Herausforderungen. Wiesbaden 2004, 107-122. De Silva, Adrian: Zur Normalisierung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit im Recht: Eine queere Analyse der Regulation des Geschlechtswechsels im Vereinigten Königreich. In: Buckel, Sonja; Derleder, Peter; et al.: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. Bd. 41, 3. Baden-Baden 2008, 266-270. Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 1. 81913 Hannover. Harper, Douglas: Online Etymological Dictionary. www.etymonline. com/index.php?term=gender&allowed_in_frame=0 (MEZ 16:30h, 10.11.2011). Hotz-Davies, Ingrid; Schahadat, Schamma: Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt, Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Bielefeld 2007. Jagose, Annamarie: Queer Theory: eine Einführung. Berlin 2001. Kant, Immanuel; Jäsche, Gottlob Benjamin (Hg.): Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen. Königsberg 1800. Menge, Hermann: Menge-Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, Erster Teil Griechisch-Deutsch. Berlin 1955. Oorschot, Wim van: Culture and Welfare State: Values and Social Policy in Comparative Perspective. Cheltenham 2008. Putnam, Hilary: Die Bedeutung von »Bedeutung«. Frankfurt a.M. 21990. Rorty, Richard (Hg.): The Linguistic Turn: Essays in Philosophical Method. Chicago 1992. Schlenke, Dorothee: Weibliche Moral? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Ethik der Geschlechterdifferenz in feministisch-theologischer Perspektive. In: Epp, Helga (Hg.): Gender Studies, Interdisziplinare Ansichten 1. Freiburg i.Br. 2004, S. 131-152. Villa, Paula-Irene: Sexy Bodies, Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Wiesbaden 32006.
Gemeinsam gegeneinander mit dem Rücken an der Wand gender turn – eine Geschichte Gisa Bauer
Der Begriff gender turn hat in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung als ein in der Zukunft zu verwirklichendes Ideal erlangt – er steht nicht mehr nur für den Wechsel von Frauenforschung zu gender-Forschung, von Frauenbefreiung zur Geschlechterbefreiung. Ich setze voraus, dass gender turn beides meinen kann: die Paradigmenwechsel in dem Kampf um Frauenbefreiung und um die Rechte für Homosexuelle bis hin zu der Befreiung aus den Denkkategorien der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit und die Notwendigkeit der Fortführung dieses Kampfes, um menschliche Freiheit und Würde zu gewährleisten. Im Folgenden wird es um einen kurzen Abriss der bisherigen Geschichte des gender turns gehen, der als eine der bedeutsamsten Umwandlung im gesellschaftlichen, sozialen, politischen und individuellen Denken und Handeln in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstanden wird. Die Zukunftsvision weiterer Transformationen ist dabei in der historischen Perspektive innbegriffen, denn nur wer die Vergangenheit kennt und versteht, ist nicht gezwungen sie zu wiederholen, kann den Boden würdigen, auf dem sie/er steht und zu neuen Ufern aufbrechen.
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1. D IE SOZIALEN B E WEGUNGEN 1.1 Die Frauenbewegung/feministische Bewegung Die Frauenbewegung ist in Deutschland über 160 Jahre alt, allerdings setzt sie Ende der 1960er Jahre mit der so genannten Zweiten Welle, der feministischen Bewegung, neu an. Über die Erste Welle der Frauenbewegung wussten die Aktivistinnen der Zweiten anfangs so gut wie gar nichts1 und auch heute ist die Erste Frauenbewegung fast nur bei historisch Interessierten ein Thema. Die Ursache dafür liegt unter anderen in den disparaten Zielsetzungen und den völlig verschiedenen Ausgangsbedingungen der Ersten und der Zweiten Frauenbewegung. Ende der 1960er Jahre bildete sich das feministische Bewusstsein im Zusammenhang mit der Studentenbewegung heraus.2 Bekannt ist der berühmte Tomatenwurf von Sigrid Rüger auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am 13. September 1968, dem als Auftakt der Zweiten Frauenbewegung symbolischer Charakter zugeschrieben wurde. Auf dieser Delegiertenkonferenz des SDS hatte eine andere Aktivistin, die spätere Filmemacherin Helge Sander, das Konzept des neu gegründeten »Aktionsrates zur Befreiung der Frau« vorgestellt und darauf verwiesen, dass die Trennung in das Politische als Sphäre der Männer, und das Private als dem Bereich der Frauen die Unterdrückung der Frau vorantreibe. In ihrer Kritik des SDS betonte Sander: »wir stellen fest, dass der SDS innerhalb seiner organisation ein spiegelbild gesamtgesellschaftlicher verhältnisse ist«, insofern man auch hier »einen bestimmten bereich des lebens vom gesellschaftlichen abtrennt, ihn tabuisiert, indem man ihm den namen privatleben gibt. […] diese tabuisierung hat zur folge, daß das spezifische ausbeutungsverhältnis, unter dem die frauen stehen, verdrängt wird, wodurch gewährleistet wird, daß die männer ihre alte, durch das patriarchat gewonnene identität noch nicht aufgeben müssen. man gewährt zwar den frauen 1 | Schwarzer, Alice: Die Antwort. Köln 22007, 172f. 2 | Die nachfolgende Darstellung fußt auf Schenk, Herrad: Die feministische Herausforderung: 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland. München 61992, 83-103 und Notz, Gisela: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre: Entstehungsgeschichte – Organisationsformen – politische Konzepte. Neu-Ulm 2006, 12-33.
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redefreiheit, untersucht aber nicht die ursachen, warum sie sich so schlecht bewähren, warum sie passiv sind, warum sie zwar in der lage sind, die verbandspolitik mitzuvollziehen, aber nicht dazu in der lage sind, sie auch zu bestimmen. […] die trennung zwischen privatleben und gesellschaftlichem leben wirft die frau immer zurück in den individuell auszutragenden konflikt ihrer isolation. sie wird immer noch für das privatleben, für die familie erzogen, die ihrerseits von produktionsbedingungen abhängig ist, die wir bekämpfen.« 3
Die studentischen Revoluzzer waren recht gelangweilt von Sanders Vortrag und wollten ohne Diskussion zum nächsten Thema übergehen, was die Studentin Sigrid Rüger veranlasste, den nächsten Referenten, nämlich SDS-Theoretiker und Adornoschüler Hans-Jürgen Krahl, mit Tomaten zu bewerfen, nachdem sie ihn verbal als »Konterrevolutionär« und »Agent des Klassenfeindes« attackiert hatte.4 Nach dem Tumult, der durch die Tomatenwürfe entstand, ergriff Fritz Teufel, später Mitglied der »Kommune 1«, das Wort und plädierte dafür, »dass alle Mädchen aus dem Verband ausgeschlossen werden […]. Sie kommen sowieso kaum zu Wort, und wenn, quatschen sie noch entfremdeter und blöder daher, als die Männer.« 5
Noch am selben Tag gründeten sich innerhalb des SDS so genannte »Weiberräte«, in denen sich Frauen gegen die patriarchalen Strukturen in der Studentenbewegung aussprachen. Letztlich zeigte sich, dass selbst in einem zwar männerdominierten, aber Frauen doch vergleichsweise gleichberechtigt behandelnden Verband wie dem SDS6 dieselbe Problematik aufschien wie in der Gesamtgesellschaft. Die enge Verknüpfung von »links« und »feministisch« zerbrach endgültig, als sich um 1969/70 die politisch im SDS engagierten Frauen mit Frauengruppen zusammenfanden, die gegen die damalige, folgende Fassung des § 218 eintraten: Schwan3 | Sander, Helge (aktionsrat zur befreiung der frauen) (13.9.1968). In: Lenz, Ilse (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland: Abschied vom kleinen Unterschied: Eine Quellensammlung. Wiesbaden 2008, 59-63, hier 60 (durchgehende Kleinschreibung im Original). 4 | Notz, Warum flog die Tomate, 16. 5 | Zitiert nach ebd., 17. 6 | Zum Umgang mit Frauen innerhalb des SDS vgl. ebd., 22-25.
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gerschaftsabbruch wurde unter strafrechtlichem Verbot in jedem Fall mit Freiheitsstrafen für den Arzt und die jeweilige Frau geahndet. Erst 17 Jahre vorher war die Todesstrafe für Schwangerschaftsabbruch im Wortlaut des deutschen Strafgesetzbuches abgeschafft worden. Frauen, die einen Abbruch vornahmen, fuhren dafür in den 1960er Jahren ins Ausland. Im Juni 1971 fand die Selbstbezichtigungsaktion »Ich habe abgetrieben« in der Zeitschrift »Stern« statt: 374 teilweise prominente Frauen bekannten sich öffentlich dazu, abgetrieben zu haben. Hauptinitiatorin dieser Kampagne war Alice Schwarzer, die in Paris studiert und dort schon in der französischen Frauenbewegung mitgewirkt hatte, besonders bei der Kampagne des Mouvement pour la libération zur Abschaffung des Abtreibungsverbots. Vor allem aber hatte Schwarzer in Paris Simone de Beauvoir kennengelernt. Beauvoir beeinflusste Schwarzer nachdrücklich – sie ist die theoretische Vordenkerin des von Schwarzer in Deutschland vertretenen Feminismus. 1949 publizierte Beauvoir das epochemachende Buch »Le Deuxième Sexe« (dt.: »Das andere Geschlecht«), in dem sie die gesellschaftliche Unterdrückung der Frau analysierte. Für Beauvoir gab es, in Anlehnung an Sartres Existentialismus, kein im engeren Sinne spezifizierbares »Wesen« der Frau. Frauen, so Beauvoir, werden durch die gesellschaftliche Prägung, durch ihre Rollenzuschreibung zu Frauen. Das berühmte Zitat in dem Zusammenhang ist: »Frau ist man nicht durch Geburt – man wird eine« beziehungsweise »man wird zu einer gemacht«. Dieses »Zur-Frau-gemachtWerden« geschieht nach Beauvoir durch die Männer, für die Frauen das »andere Geschlecht« sind, während das männliche Geschlecht das eigentliche und absolute ist. Frauen wird die Rolle des Objekts zugewiesen und sie werden stets vor dem Hintergrund des Subjektes Mann definiert. Damit ist die Frau schon von der definitorischen Grundstruktur her vom Mann abhängig. Will sie ihrer »Weiblichkeit« entsprechen, muss sie ihre passive Rolle annehmen und kann sich nicht als Individuum frei entfalten. Die Zuschreibungen und die »gelebte Erfahrung« der Frau stehen sich diametral gegenüber. Nur die Erfahrungen von Frauen können, so Beauvoir, die Definitionsmacht von außen auflösen und Frauen zu ihrem individuellen Sein führen. Im Prinzip nahm die Französin die über 20 Jahre später entwickelte Trennung in sex, das biologische, und gender, das sozial determinierte Geschlecht, vorweg, ohne die Termini zu verwenden. Alice Schwarzer wiederum übernahm Beauvoirs feministische Theorie. Damit im Zusammenhang steht, dass Schwarzer den so genannten Gleichheitsfeminismus im Gegensatz zum Differenzfeminismus vertrat, das
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heißt, wie Beauvoir keine spezifisch weiblichen Wesensmerkmale voraussetzte, sondern die Gleichheit der Geschlechter proklamierte: »Nicht dieser biologische Unterschied, aber seine ideologischen Folgen müßten restlos abgeschafft werden! Denn Biologie ist nicht Schicksal, sondern wird erst dazu gemacht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind nicht Natur, sondern Kultur. Sie sind die in jeder Generation neu erzwungene Identifikation mit Herrschaft und Unterwerfung. Nicht Penis und Uterus machen uns zu Männern und Frauen, sondern Macht und Ohnmacht. […] Nichts, weder Rasse noch Klasse, bestimmt so sehr ein Menschenleben wie das Geschlecht. Und dabei sind Frauen und Männer Opfer ihrer Rollen – aber Frauen sind noch die Opfer der Opfer.«7
Die Diskrepanz zwischen Egalitäts-/Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus sollte in den 1980er Jahren zu scharfen Auseinandersetzungen in der feministischen Bewegung führen.8 Im Gleichheitsfeminismus wird im Gefolge von de Beauvoir von einer grundsätzlichen Gleichheit der beiden Geschlechter ausgegangen. Die real existierenden Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern werden mit den gesellschaftlichen Machtstrukturen, der geschlechtsspezifischen Sozialisation und Aufgabenteilung sowie den Rollenzuschreibungen begründet. Demzufolge geht es Vertreterinnen des Gleichheitsfeminismus um die Aufhebung geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Unterschiede. Dadurch wird sowohl Frauen als auch Männern ermöglicht, nach ihren individuellen Fähigkeiten und Vorlieben zu leben. Dagegen nehmen die Vertreterinnen des Differenzfeminismus, zum Beispiel Antoinette Fouque, Hélène Cixous, Luce Irigaray, Julia Kristeva und andere, auf der Grundlage durchaus sehr auseinandergehender Denkansätze, eine grundsätzliche Verschiedenheit der Geschlechter an, einen zeitlosen naturgegebenen Unterschied, der das Leben von Männern und Frauen von Anfang an bestimmt und der mit naturgegebenen Wesenszügen korreliert, zum Bei-
7 | Schwarzer, Alice: Der kleine Unterschied (Auszug). In: Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 108-115, hier 109 (Kursivschreibung im Original). 8 | Vgl. zu dem folgenden Abschnitt auch Galster, Ingrid: Französischer Feminismus: Zum Verhältnis von Egalität und Differenz. In: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2004, 42-48.
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spiel dass Frauen sozialer als Männer sind, weniger aggressiv usw.9 Die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, waren innerhalb des Differenzfeminismus verschieden: Einige Feministinnen bewerteten die Unterschiede nicht, andere wiederum nahmen eine moralische Höherbewertung von Frauen vor, die von Egalitätsfeministinnen punktuell heftig kritisiert wurde.10 Historische Matriarchatsforscherinnen und Vertreterinnen von feministischen Matriarchatsideen vertraten ebenso einen Differenzfeminismus, bei dem der androzentrischen Weltbeherrschung eine spezifisch weibliche Spiritualität gegenübergestellt wurde. Die Auseinandersetzungen zwischen Vertreterinnen des Egalitäts- und des Differenzfeminismus prägten die feministische Bewegung und darüber hinaus die Bewertung der Ersten Frauenbewegung durch die Zweite seit Ende der 1970er Jahre stark, auch wenn es vereinzelte Kritik innerhalb des feministischen Lagers an dieser binären Opposition gab.11 Die deutsche feministische Bewegung war im Wesentlichen von der Vorstellung der rein sozial konstruierten Geschlechterunterschiede geprägt, das heißt vom Gleichheitsfeminismus in Folge der Rezeption von Beauvoir durch Schwarzer. Allerdings spielten in der sozialen Bewegung des Feminismus die Aktionen, die pragmatischen Handlungen gegen konkrete, die Frauen diskriminierenden Zustände eine zentrale Rolle, die 9 | Bemerkenswerterweise sind die Vertreterinnen des Differenzfeminismus trotzdem dem Dekonstruktivismus zuzuordnen: Auch sie hinterfragen die den Frauen gesellschaftlich zugeschriebenen Rollenbilder und dekonstruieren ihre Gültigkeit vor dem Hintergrund des sozialen gesellschaftlichen Machtgefüges. 10 | So betonte Simon de Beauvoir 1986 in einem Interview mit Alice Schwarzer: »Aber man darf nicht ins andere Extrem fallen: sagen, die Frau habe eine besondere Erdverbundenheit, habe den Rhythmus des Mondes und der Ebbe im Blut und all dieses Zeug… Sie habe mehr Seele, sei von Natur aus weniger destruktiv et cetera. Nein! Es ist etwas dran, aber das ist nicht unsere Natur, sondern das Resultat unserer Lebensbedingungen. […] Eine Frau hat a priori keinen besonderen Wert, nur weil sie eine Frau ist! Das wäre finsterster Biologismus und steht in krassem Widerspruch zu allem, was ich denke.« (Zitiert nach Voß, HeinzJürgen: Geschlecht: Wider die Natürlichkeit. Stuttgart 2011, 13). 11 | So zum Beispiel Ende der 1980er Jahre Joan Scott, vgl. Hey, Barbara: Women’s History und Poststrukturalismus: Zum Wandel der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den USA. Pfaffenweiler 1995, besonders 80f.; vgl. auch Galster: Französischer Feminismus, 46f.
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theoretischen Debatten flankierten die Praxis lediglich. Frauen mit disparaten sozialen und theoretischen Hintergründen, geeint im Bewusstsein der Unterdrückung und Ungleichbehandlung von Frauen, fanden sich in Bezug auf ganz konkrete Probleme und Zustände zu Protestaktionen zusammen. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre wurde die »Aktion § 218« Schmelztiegel der vielen Gruppierungen und Aktivitäten von Frauen.12 Mit Slogans wie »Mein Bauch gehört mir« oder »Ob wir Kinder wollen oder keine bestimmen wir alleine« demonstrierten Frauen für ihr Mitbestimmungsrecht, ein Kind zu bekommen oder nicht. Das Jahr 1975 brachte in dreifacher Hinsicht eine Wende für die Frauenbewegung. Zum ersten entschied das Bundesverfassungsgericht gegen den Bundestagsbeschluss vom April 1974 und damit gegen die Novellierung des § 218 und für die so genannte Indikationsregelung: Auch weiterhin blieb Schwangerschaftsabbruch illegal und stand unter Strafe. Erst im Zuge der Wiedervereinigung wurde die seit 1972 in der Gesetzgebung der DDR verankerte Fristenregelung, das heißt die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs bis zum dritten Schwangerschaftsmonat, vom Bundesgerichtshof als zwar rechtswidrig aber straffrei angenommen. Zum zweiten begann 1975 eine zunehmende Medialisierung der jungen feministischen Bewegung. Unter anderem publizierte Alice Schwarzer 1975 das Buch, mit dem sie bekannt wurde: »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen«, in dem Schwarzer wesentliche Aspekte der späteren gender- und queer-Debatten proklamierte, zum Beispiel die Kritik der »Zwangsheterosexualität«, die das männliche Sexmonopol sichere und dadurch die freie Entfaltung von Homosexualität und Eigensexualität unterdrücke. Sexualität, so Schwarzer, ist »nicht privat, sondern politisch.«13 Deshalb forcierte Schwarzer vor allem die politische Aktivität im Kampf gegen die Unterdrückung der Frau. Ihr Buch »Der kleine Unterschied« wurde wegweisend für eine ganze Generation von feministisch orientierten Frauen und sollte eine große Wirkungsgeschichte entfalten. Es bot darüber hinaus der sich inzwischen als Teil der Homosexuellenbewegung etablierenden Lesbenbewegung eine theoretische Plattform, so dass es etwa in der Mitte der 1970er Jahre zur so genannten feministischen Wende der Frauen in der Homosexuellenbewegung kam. Die feministische Wende innerhalb der Lesbenbewegung sowie die Motive für das Zusammengehen 12 | Vgl. dazu Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 71-95. 13 | Schwarzer: Unterschied, 113.
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von Lesben- und Frauenbewegung kommen in Kap. 1.3 zur detaillierten Ausführung. 1977 gründet Schwarzer die Zeitschrift »Emma«, in jener Zeit eine von vielen feministischen Zeitschriften, aber die Einzige, die sich in den folgenden Jahrzehnten erhalten konnte. Seit Ende der 1970er Jahre wandte sich Schwarzer aufgrund einer Reise in den Iran, wo sie von Zwangsverschleierung und Entrechtung der Frauen unter Khomeini erfuhr, auch gegen die Gefahren des religiösen Fundamentalismus. Der dritte Aspekt, der die Zeit um 1975 charakterisierte, war die so genannte »Wende nach innen«. Um die Mitte der 1970er Jahre setzte ein Zustrom neuer Frauen in die politisch aktiven feministischen Gruppen ein, die weniger an der politischen Arbeit interessiert waren, sondern vielmehr am Gedankenaustausch mit anderen Frauen. Es begann die Zeit der Frauenselbsterfahrungs- und Theoriegruppen als »Wende nach innen«.14 Die Selbsterfahrungsgruppen waren, auch wenn ihre Lebensdauer im Einzelnen relativ kurz war, äußerst wichtig, denn bis dato gab es keine Gelegenheiten und Räume, in denen sich Frauen mit Frauen treffen und über ihre Belange sprechen und reflektieren konnten. Dieses Phänomen ist auch in der Geschichte der Homosexuellenbewegung zu beobachten und Teil der Konstitution einer sozialen Bewegung: Exklusivität, die Mitglieder einer Bewegung pflegen, um in eigenen Räumen unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Gefühl für sich und die eigene Identität zu entwickeln. Bei den feministischen Selbsthilfe- und Gesprächsgruppen ging es nicht nur darum, Befindlichkeiten auszutauschen – auch das war wichtig –, aber man wollte weitergehend Erfahrungen analysieren und daraus Handlungsoptionen ableiten. Bevorzugte Themen waren Kindheit, Sexualität, Beziehung, Beruf, Familie, Selbstverwirklichung, Verhältnis zu anderen Frauen. Eine besondere Bedeutung hatte die Entdeckung des eigenen weiblichen Körpers mit all seinen Facetten, um sich der männlich dominierten und auf Männer ausgerichteten Medizin zu entziehen, dieser eigenes Wissen entgegenzusetzen und ihr nicht länger ausgeliefert zu sein. Mit der »Wende nach innen« wurden nach 1975 spontane Protestaktionen seltener, dafür begann die Zeit langfristiger Projekte, meist im gesundheits- und sozialpolitischen sowie im kulturellen Bereich. Frauengesundheitszentren und -beratungsstellen wurden geschaffen – damit ging die theoretische Hinwendung zum Thema »Frauen und Körper« einher –, 14 | Vgl. Schenk, Herausforderung, 89-94.
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Frauenbuchläden, Frauenverlage, Frauencafés, Frauenhäuser wurden gegründet. Eine feministische Alternativkultur entwickelte sich.15 Im Gegensatz zu der US-amerikanischen Situation verweigerte sich die feministische Bewegung in Deutschland in ihrem Abgrenzungs- und Autonomiestreben lange Zeit der Anbindung an die institutionelle (Parteien-)Politik, da man dieser nicht zutraute, »wirkliche Veränderungen des Geschlechterverhältnisses hervorzubringen.«16 Bis 1980 pluralisierte und konsolidierte sich die Frauenbewegung.17 In dieser Zeit löste die Frauenbewegung eine »Transformation des Wissens und der Normen über Frauen und weibliche Sexualität«18 aus. Der gesamte Themenkomplex von Zweigeschlechtlichkeit, Körper, weiblicher Sexualität und Orgasmus differenzierte sich aus und wurde reflektiert, in seiner bisherigen Form teilweise radikal kritisiert und durch individuellere Erfahrungen erweitert und teilweise ersetzt.19 In diesem Zusammenhang wurden Beziehungen und Mutterschaft neu definiert. Darüber hinaus rückte die Frage der Frauenerwerbstätigkeit immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des feministischen Protestes. Die Frage nach der Lösung des Problems der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie kam auf. Bis zur Reform des Eherechts 1976 durften Ehefrauen in der Bundesrepublik nur einem Beruf nachgehen, wenn dies mit ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter vereinbar war. Noch 1980 war nur knapp die Hälfte aller Frauen von 16 bis 65 Jahre in Westdeutschland erwerbstätig, was sich im folgenden Jahrzehnt mit einer Steigerung um acht Prozent deutlich veränderte.20 Ab Mitte der 1970er Jahre forderten Frauen Gleichbehandlung in Bezug auf Erwerbsarbeit und Löhne, die Hälfte der qualifizierten Arbeitsplätze und eine Lösung des Problems der unbezahlten Hausfrauen- und Reproduktionsarbeit in der Familie.21
15 | Vgl. ebd., 94-103. 16 | Ehmsen, Stefanie: Der Marsch der Frauenbewegung durch die Institutionen: Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik im Vergleich. Münster 2008, 97. 17 | Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 97-355. 18 | Ebd., 99. 19 | Vgl. dazu ebd., 99-107. 20 | Ebd., 147, besonders Fußnote 3. 21 | Vgl. ebd., 150-152; Gerhard, Ute: Frauenbewegung und Feminismus: Eine Geschichte seit 1789. München 2009, 112.
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Ein wesentlicher Schritt hin zur Institutionalisierung der Frauenbewegung erfolgte seit Mitte der 1970er Jahre mit der Etablierung feministischer Wissenschaft an den Universitäten. Von 1976 bis 1983 fanden an der FU Berlin Sommeruniversitäten für Frauen statt, die eine Vorbildwirkung für die Installation von feministischen Wissenszweigen an den Universitäten hatten. Im Laufe der 1990er Jahre entwickelten sich in so gut wie jedem der traditionellen Fächer, sowohl in Natur- als auch Geisteswissenschaften, die Frauenstudien, die die Grundlage der Gender Studies an den Universitäten wurden. Ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1970er Jahren begannen erste Aktionen, die auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam machten, speziell die desaströse Rechtslage in Bezug auf Vergewaltigungen. In diesem Zusammenhang entstand und entwickelte sich die Frauenhausbewegung. Auch die Anti-Pornographie-Aktionen der feministischen Bewegung, zum Beispiel die Sexismus-Klage 1978 gegen die Zeitschrift »Stern« aufgrund von entwürdigenden Frauendarstellungen, sind in diesem Kontext zu sehen. Die Anti-Porno-Aktionen der feministischen Bewegung erreichten mit der 1987 von Alice Schwarzer gestarteten PorNo-Kampagne, die sich gegen die Behandlung von Frauen (und Kindern!) als Objekte von Männern in pornographischen Darstellungen richtete und ein Gesetz gegen Pornographie zum Ziel hatte, ihr Maximum. Gegen Ende der 1970er Jahre gab die feministische Bewegung ihre bis dato distanzierte Haltung zur Politik zögerlich auf. Die SPD öffnete sich auf Druck der Feministinnen punktuell für feministische Anliegen. Die Grünen wurden in ihrer Gründungsphase von der feministischen Bewegung stark beeinflusst, so dass schon 1980 eine »Quotierung von 50 Prozent für alle Wahllisten und Parteiämter beschlossen«22 wurde. Frauen engagierten sich, besonders in parteipolitischen Netzwerken, gegen Ende der 1970er Jahre zunehmend im linken Parteienspektrum. Die 1980er Jahren waren von Pluralisierungsschüben innerhalb der feministischen Bewegung gekennzeichnet. Gleichzeitig manifestierte sich die Institutionalisierung des Feminismus und es erfolgte eine zunehmende Professionalisierung.23 Zu den bestehenden nationalen Netzwerken kamen nun in stärkerem Maße internationale Kooperationen. Der Blick auf
22 | Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 329. 23 | Vgl. ebd., 359-705.
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das internationale Tableau der Frauenrechtsbewegungen erweiterte sich, ebenso wie die Wahrnehmung der Unterdrückung von Frauen weltweit. Der Einzug von Frauen in die verschiedensten Berufsgruppen, einschließlich der »typisch männlichen Berufe« wurde weiter forciert. Berufsspezifische Netzwerke »führten zu einer gewaltigen Erweiterung der beruflichen Chancenstrukturen für Frauen insgesamt«.24 Frauen zogen in die Politik ein und parallel dazu eröffnete man Möglichkeiten für Frauen, sich politisch gleichberechtigt zu engagieren. Zuerst im öffentlichen Dienst, später in großen Unternehmen wurden Stellen der Gleichstellungsbeauftragten geschaffen. »Insgesamt lässt sich die zunehmende Aufnahme der Frauen in Parteien, Verbände und Verwaltung nach 1980 als differenzielle Integration bezeichnen«, stellt Ilse Lenz in ihrer Quellensammlung zur Geschichte der Frauenbewegung fest und definiert dies wie folgt: »Für die Frauenanliegen wurden spezielle ›Frauenbereiche‹ oder ›Frauenstrukturen‹ herausdifferenziert, in denen nun Frauen als legitime Akteurinnen symbolisch konstruiert und weitgehend akzeptiert wurden. Während die Verbände so einen spezifischen Bereich für Frauen und Gleichheit schufen, war er oft durch eine Gendergrenze zu Männern in der Gesamtorganisation markiert, die Gleichheit weiterhin als ›Frauenproblem‹ und nicht als eigenes Organisationsproblem ansahen.« 25
Das bis heute diskutierte vielschichtige Problem der »gläsernen Decke« (»glass ceiling«),26 die verhindert, dass Frauen in Führungspositionen aufsteigen, geriet zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit und wurde analysiert, nicht zuletzt gekoppelt mit der Diskussion um Frauenquoten.
24 | Ebd., 527. 25 | Ebd., 582. 26 | Vgl. Ohlendieck, Lutz: Gender Trouble in Organisationen und Netzwerken. In: Pasero, Ursula; Weinbach, Christine (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble: Systemtheoretische Essays. Frankfurt a.M. 2003, 171-185; Kucsko-Stadlmayer, Gabriele: Kann die »gläserne Decke« mit den Mitteln des Rechts überwunden werden? In: Magerl, Gottfried; Neck, Reinhard; Spiel, Christiane: Wissenschaft und Gender. Wien; Köln; Weimar 2011, 115-139.
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Die Problematik der strukturellen Benachteiligung von Frauen bei oberflächlicher Gleichberechtigung wurde in den 1990er Jahren Ansatzpunkt des so genannten Gender-Mainstreaming, auf das im Folgenden noch ausführlicher eingegangen wird. Ein wesentlicher Faktor der Professionalisierung und Institutionalisierung der feministischen Bewegung waren die schon in den 1970er Jahren begonnenen Initiativen der Verbesserung der Situation für Frauen und für die Frauenforschung an den Universitäten. Wissenschaftlerinnen schlossen sich zu Netzwerken und Arbeitskreisen zusammen. Hier erfolgten die Theoriedebatten, die in einer Vielzahl von Perspektiven auf den Feminismus und zunehmend auf die Genderproblematik mündeten. Eine große Gewichtung bekam darüber hinaus die Frage nach der Situation von Migrantinnen in Deutschland innerhalb der feministischen Bewegung. Schwarze Frauen und Migrantinnen forderten ihre Rechte und die Anerkennung ihrer Lebenssituation, die sich eklatant von der Lebenssituation weißer, mittelständischer Frauen in Deutschland unterschied. »Ab etwa 1980 bildeten sich Teilbewegungen zu Migration, darauf zu afro-deutschen Frauen und zu Antirassismus heraus. Sie differenzierten sich mit eigenen Analysen und Forderungen, ihren Netzwerken und Aktivitäten aus. So gewannen sie in gewissem Umfang eine eigene Semiöffentlichkeit«, 27
konstatiert Ilse Lenz. Neu war nun für die feministische Bewegung der Vorwurf des Rassismus und der Zusammenarbeit mit der »Dominanzkultur« durch schwarze Feministinnen. Noch zur Jahrtausendwende konstatierte die Soziologin Gudrun-Axeli Knapp:
27 | Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 707. In Nordamerika zeichnete sich dieser Prozess der innerfeministischen Auseinandersetzung ebenfalls seit Anfang der 1980er Jahre ab, als afroamerikanische Feministinnen begannen, dem weißen Mainstreamfeminismus Rassismus nachzuweisen und sich von ihm distanzierten (vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: Achsen der Differenz – Strukturen der Ungleichheit. In: Becker-Schmidt, Regina; Knapp, Gudrun-Axeli: Feministische Theorien zur Einführung. Hamburg 2000, 103-123, hier 106-108). Zu dem gesamten Komplex der Ausdifferenzierung der Frauenbewegung in Deutschland durch die Schwarze deutsche Bewegung vgl. Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 707-734.
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»Eine der bedeutendsten Veränderungen im deutschsprachigen feministischen Diskurs dürfte darin liegen, dass sich nun zunehmend Feministinnen nichtdeutscher Herkunft zu Wort melden, die ihre Erfahrungen in die wissenschaftliche und frauenpolitische Diskussion einbringen. Es ist kein Zufall, dass Fragen der Ethnizität und die widersprüchlichen Erfahrungen von Migrantinnen dabei ein besonderes Gewicht haben.« 28
Darüber hinaus machten feministische Gruppen auf ihre individuelle Situation aufmerksam, die durch ihre kulturellen, religiösen, ethnischen oder biographischen Hintergründe vom (angenommenen) Mainstream in Westdeutschland abwichen, nicht zuletzt ab 1989/90 die ostdeutschen Frauen29 . So kam es in der zweiten Hälfte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre zu einer zuvor nicht existierenden Ausdifferenzierung der Frauenbewegung, vor dem Hintergrund der Einsicht, dass »der feministische Blick auf das Geschlechterverhältnis als die zentrale Konfliktlinie […] andere wichtige gesellschaftliche Konfliktlinien und damit auch wesentliche Differenzen zwischen Frauen«30 übersehen oder vernachlässigt hatte. In dieser Situation, in der innerhalb der feministischen Bewegung nach Wegen gesucht wurde, die internen Differenzen zum Ausdruck zu bringen, erschien 1991 die Übersetzung von Judith Butlers Buch »Gender Trouble« (dt: »Das Unbehagen der Geschlechter«). Butler, auf die in Kap. 2 noch ausführlicher eingegangen wird, bot mit ihrem feministischen Theorieansatz, dass das soziale und das biologische Geschlecht ebenso wie die gesamte Identität eines Menschen soziale Konstrukte und Akten der individuellen der Performance unterworfen seien und durch diese dekonstruiert werden können, eine theoretische Grundlage für die Ausdifferenzierung innerhalb der Frauenbewegung. Neben der weiteren Institutionalisierung 28 | Knapp, Achsen der Differenz, 121. 29 | Zu der ostdeutschen Frauenbewegung, aus der im Herbst 1989 das erste und einzige Mal in der Geschichte Deutschlands mit dem Unabhängigen Frauenverband eine eigene Frauenpartei hervorging, vgl. Gerhard, Frauenbewegung, 118-121; zu der Differenz der Ansätze ost- und westdeutscher Feministinnen innerhalb der deutschen Frauenbewegung im Zuge der Wiedervereinigung vgl. Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 867-916. 30 | Klinger, Cornelia: Über neuere Tendenzen in der Theorie der Geschlechterdifferenz. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), Hf. 5, 801-814, hier 802.
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der Frauenbewegung, vor allem durch das politische Konzept des GenderMainstreaming (vgl. Kap. 1.1.2) und der Herausbildung neuer Initiativen, die als »Dritte Welle« der Frauenbewegung bezeichnet werden können, sind die 1990er Jahre auch eine Kumulationszeit der akademischen Debatten zur Frage der Genderkonstellationen (vgl. Kap. 2.1). Diese Debatten wirkten zwar teilweise auf die Frauenbewegung ein, entwickelten aber im Wesentlichen eine Eigendynamik, die nicht in eine soziale Bewegung mündeten und von daher separat betrachtet werden müssen. Für die Frauenbewegung bedeuteten die 1990er Jahre eine Zeit des radikalen Umbruchs. Viele der älteren Feministinnen sprachen vom »Backslash«, dem Stillstand, gar dem Ende der Frauenbewegung, jüngere Frauen sehen in den 1990er Jahren den Aufbruch der »Dritten Welle« des Feminismus. Es ist fraglich, ob es sich hierbei tatsächlich um eine Fortsetzung der feministischen Bewegung handelt, da diese Dritte Welle oder »third wave« sich durch eine völlige Disparatheit von Zielen, Ausdrucksformen und theoretischen Ansätzen auszeichnet. Die teilweise starke Fokussierung auf Individualisierung deutet darauf hin, dass es sich hier nicht um einen Teil der feministischen Bewegung, sondern um den spezifischen Anschluss an allgemeine Mentalitäten handelt. Teilweise wurde von den Frauen der Dritten Welle die Selbstbezeichnung Feministin abgelehnt, auch wenn sie sich als die Erbinnen des älteren Feminismus verstanden. Im Prinzip hat der »Erfolg der feministischen Bewegung […] es Third Wave Frauen ermöglicht, zum eigentlichen Ziel der Frauenbewegung zurückzukehren: der Freiheit zu wählen (ohne eine feministische Festschreibung, welche Wahl zu treffen ist).«31 Die Unterschiede zwischen der der feministischen Bewegung und ihrer Dritten Welle sind zwar unter anderen auch auf der Ebene eines Generationenkonfliktes zu verorten. Inhaltlich aber brach die Frauenbewegung hinsichtlich der Anbindung jüngerer Frauen an das kontextuelle wirtschaftliche, politische und eben kulturell-geschlechtsspezifische System auseinander, das von Vertreterinnen der Dritten Welle mindestens teilweise deutlich weniger bis überhaupt nicht kritisiert wurde, als es durch die älteren Feministinnen geschah. Parallel zu der Dritten Welle beziehungsweise in Anschluss an sie etablierte sich unter jüngeren Frauen eine Mentalität, die gegen den älteren Feminismus gerichtet emanzipato-
31 | Richards, Amy: Zukunftsvisionen: Die Third Wave Bewegung in den USA: Ein dritter Weg. In: Schlangenbrut 22 (2004), 26-29, hier 28.
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rische Ziele vertrat.32 Publikationen wie die 2006 von Christiane Scherer alias Thea Dorn erschienene Interviewsammlung mit renommierten Frauen ihrer Generation »Die neue F-Klasse«, in der der Feminismus für tot erklärt, aber der individuelle Erfolg von Frauen als erstrebenswert dargestellt wird sind Proklamationen der weiblichen Anpassung an das kontextuelle wirtschaftlich-politische System und dessen Mentalitäten. Ähnlich argumentiert Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die sich als emanzipiert, aber nicht feministisch versteht und die 2010 in einem Interview hinsichtlich der Lohnunterschiede bei Männern und Frauen betonte: »Viele Frauen studieren gern Germanistik und Geisteswissenschaften, Männer dagegen Elektrotechnik – und das hat dann eben auch Konsequenzen beim Gehalt. Wir [gemeint sind offenbar Politiker_innen – Anm. der Verf.] können den Unternehmen nicht verbieten, Elektrotechniker besser zu bezahlen als Germanisten [sic!].«
Auf die anschließende journalistische Frage »Die Frauen sind also selbst schuld, wenn sie weniger verdienen?«, antwortete Schröder: »Zumindest müssen sie sich darüber bewusst sein, dass mit bestimmten Berufswünschen gewisse Einkommensperspektiven verbunden sind.«33 Eine ebenso eloquente Anpassungsleistung an den geschlechtsnormierten Kontext bilden die Überlegungen der US-amerikanischen Bestsellerautorin Stephenie Meyer, die auf die Frage, ob sie die Hauptfigur ihrer Jugendbuchreihe, die mit einem Vampir liierte Bella, als »anti-feminist heroine« verstehe – vor dem Hintergrund, dass Bella in ihrer Rolle als Liebende und schließlich Ehefrau und Mutter schon in jungen Jahren aufgeht –, kontert:
32 | Eine starke Wirkungsgeschichte entfaltete zum Beispiel das 1996 in Deutschland erschienene Buch der US-Amerikanerin René Denfeld »Frech, emanzipiert und unwiderstehlich«, in dem die Autorin massiv mit dem »alten Feminismus« abrechnet und ihn zugunsten der eigenen »Emanzipiertheit« für erledigt erklärt (Denfeld, René: Frech, emanzipiert und unwiderstehlich: Die Töchter des Feminismus. München 1996). 33 | Art.: Kristina Schröder im Interview mit dem »SPIEGEL« am 8.11.2010, verfügbar auf der Webseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gleichstellung,did=164220.html (Zugriff: 2.2.2012).
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»In my own opinion (key word), the foundation of feminism is this: being able to choose. […] One of the weird things about modern feminism is that some feminists seem to be putting their own limits on women’s choices. That feels backward to me. It’s as if you can’t choose a family on your own terms and still be considered a strong woman. How is that empowering? Are there rules about if, when, and how we love or marry and if, when, and how we have kids? Are there jobs we can and can’t have in order to be a ›real‹ feminist? To me, those limitations seem anti-feminist in basic principle.« 34
Feminismus wird in allen drei Argumentationsgängen als ein durch die Wahlmöglichkeiten von Frauen überholtes Phänomen angesehen, ohne zu reflektieren, dass es im Feminismus nicht prinzipiell um Wahlmöglichkeiten ging, sondern um die Beseitigung der für Frauen ungerechten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Durch die Annahme von (unbegrenzten) Wahlmöglichkeiten für Frauen – und diese Denkvoraussetzung wird besonders aus linker politischer Perspektive als eine Position von privilegierten Mittelschichtfrauen kritisiert – wird der kritische Blick auf das Bezugssystem verstellt und evoziert, die emanzipierte Frau von heute schaffe ihren Erfolg, ohne ihre Systemopportunität aufgeben zu müssen. Derartige Überlegungen sind zweifelsohne ein Ergebnis, aber keine Fortführung des Feminismus. Gerade für den deutschen Bereich scheint es durchaus berechtigt, seit den 1990er Jahren bezogen auf die Aktivität der feministischen Bewegung von der Zeit des »Postfeminismus« zu sprechen. In internationaler Hinsicht sieht die Sachlage in den 1990er Jahren jedoch anders aus, da sich zum ersten in verschiedenen Ländern, vor verschiedenen kulturellen Hintergründen, »Feminismen« herausbildeten, und zum zweiten im Zuge der Dritten Welle des Feminismus international dezidiert feministische Positionen abzeichneten. Zu diesen feministischen Positionen gehörte die bis heute lebendige Riot-Grrrls-Bewegung, die sich in den 1990er Jahren innerhalb der US-amerikanischen Punkszene herausbildete und inzwischen weltweit Vertreterinnen aufweist. Bekannte Vertreterinnen in den 1990er Jahren waren die Punkband Bikini Kill und die 1998 gegründete Nachfolgeband Le Tigre.
34 | Art.: Stephenie Meyer: Frequently asked Questions: Breaking Dawn: Is Bella an anti-feminist heroine?, www.stepheniemeyer.com/bd_faq.html (Zugriff: 1.3.2012).
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Derzeit geht man von einer (internationalen) »Vierten Welle« des Feminismus aus, die sich vor allem der Medien und des Internets bedient und damit rasch lokale Aktivitäten und Proteste global verbreitet, wie sich an den Aktionen und der Popularität der 2008 in Kiew gegründeten ukrainischen feministischen »Agitprop«-Gruppe »Femen« zeigt. In Deutschland agiert das 2008 begründete Missy Magazine als Sprachrohr der Vierten Welle des Feminismus. Ein Beispiel für die rasche Initiierung von globalen Spontanaktionen der Vierten Welle sind die »Slutwalks« (»Schlampenmärsche«), die 2011 in verschiedenen Städten in Nordamerika, Australien und Europa stattfanden. »Slutwalk« bezeichnet Demonstrationen, die sich sowohl gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen richten als auch die Annahme, Frauen seien an der gegen sie gerichteten Gewalt direkt oder indirekt Schuld. Auslöser für die im Jahr 2011 in nordamerikanischen, australischen und europäischen Großstädten stattgefundenen »Slutwalks« war die Bemerkung eines Polizeibeamten in einer öffentlichen Veranstaltung der York University in Toronto am 24. Januar 2011, »women should avoid dressing like sluts in order not to be victimezed«. Nach Protesteingaben und einer Stellungnahme der Polizei von Toronto kam es am 3. April 2011 zum ersten »Slutwalk« in Toronto, auf dem für die Wahrung von Persönlichkeitsrechten, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit demonstriert wurde. Ähnliche »Slutwalks« fanden in der Folge auch in Deutschland statt, der erste am 23. Juli 2011 in Passau. Die Provokation der »Slutwalks« besteht vor allem in der freizügigen beziehungsweise leichten und bunten Bekleidung der Teilnehmer_innen, die den Begriff »Slut«/»Schlampe« demonstrativ positiv umdeuten, wie dies mit den Begriffen »gay« und »queer« in der Schwulenbewegung beziehungsweise in queer theory geschah. Soweit es sich bisher abzeichnet, ist die Vierte Welle wesentlich radikaler als die Dritte Welle des Feminismus und kann als ein Versuch gewertet werden, »den Antibiologismus der dritten Welle (nach ’89) mit der Radikalität der zweiten Welle (nach ’68) zu verbinden.«35
35 | Art.: Slutwalks – eine Wende nach vorne-zurück zu einem kämpferischen Feminismus?, http://media.de.indymedia.org/media/2011/08//313936.pdf (Zugriff: 3.3.2012), 2.
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1.1.2
Die Institutionalisierung der feministischen Bewegung: Gender-Mainstreaming
In den 1990er Jahren löste sich die Frauenbewegung neben der Dritten Welle des Feminismus vor allem in die Institutionalisierung und die Akademisierung auf. Die Institutionalisierung ist in erster Linie durch das politisch etablierte Gender-Mainstreaming gekennzeichnet. Gender-Mainstreaming ist ein Begriff, der sich nicht direkt ins Deutsche übersetzen lässt, da er auf das Vorverständnis von gender und von Mainstreaming aufbaut. Sinngemäß übersetzt bedeutet der Terminus die Integration von Geschlechterpolitik in das allgemeine gesellschaftliche und politische Bewusstsein und wird im Deutschen auch schlicht mit »Gleichstellungspolitik« übersetzt. Da die Ebene der Politik, der Rechtsprechung und der Öffentlichkeit die tragende Rolle des Gender-Mainstreaming spielt, stellt Gender-Mainstreaming eine Form, wenn nicht gar die wesentlichste, der Institutionalisierung sowohl von Intentionen der feministischen Bewegung als auch von Aspekten der Genderforschung dar. Der Schwerpunkt liegt beim Gender-Mainstreaming nicht auf der Durchsetzung der Rechte von Frauen, sondern darauf, »in alle Entscheidungsprozesse die Perspektive des Geschlechterverhältnisses einzubeziehen und alle Entscheidungsprozesse für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar zu machen.«36 Damit kennzeichnet Gender-Mainstreaming das Ende des Entwicklungsprozesses von Frauenpolitik hin zu Geschlechterpolitik. Der Begriff Gender-Mainstreaming wurde erstmals 1983 auf der Konferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver verwendet,37 1985 auf der dritten UN-Weltfrauenkonferenz in Nairobi diskutiert und zehn Jahre später auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking propagiert. Im 1997 beschlossenen und 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag wird Gender-Mainstreaming zum offiziellen Ziel der Gleichstellungspolitik der Europäischen Union erklärt.38 In Deutschland haben die meisten öffentlichen Behörden und wissenschaftlichen und politischen Institutionen
36 | Stiegler, Barbara: Von der Frauenförderung zu Gender Mainstreaming: Wie innovativ ist Genderpolitik? In: Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 907-913, hier 907. 37 | Gerhard, Frauenbewegung, 117. 38 | Zur Gleichstellungspolitik der EU vgl. Tomic, Marina: Gender Mainstreaming in der EU: Wirtschaftlicher Mehrwert oder soziale Gerechtigkeit? Wiesbaden 2011.
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Gender-Mainstreaming als Handlungsanleitung in ihr Selbstverständnis aufgenommen.39
1.2 Die Homosexuellenbewegung Bevor auf den weiteren Entwicklungsstrang der 1990er Jahre neben dem Gender-Mainstreaming eingegangen wird, nämlich auf die Akademisierung feministischer Fragen, soll im Folgenden eine weitere soziale Bewegung zur Darstellung kommen, die die Debatten über queer vorbereitet hat: die Homosexuellenbewegung. Ebenso wie die Frauenbewegung gehört die Lesben- und Schwulenbewegung zu den neuen sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts und ebenso wie diese hat sie eine lange Vorgeschichte, aber auch ein Neuaufbruchsdatum Ende der 1960er Jahre. Dieser Beginn der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung ist mit dem Stonewall-Aufstand im Juni 1969 in New York City markiert, als sich erstmalig Homosexuelle und Sympathisanten der Schwulenszene einer der schikanierenden Polizeirazzien widersetzten.40 In den 1960er Jahren waren in den USA gewalttätige Übergriffe der Polizei gegenüber Schwulen an der Tagesordnung, ebenso wie Razzien in Schwulenbars, bei denen die Identität der Besucher festgestellt, in speziellen Listen festgehalten und die Namen teilweise an die Presse weitergegeben wurden.41 Durch die Ereignisse im Zuge des Stonewall-Aufstandes kam es zu einer Wende im Selbstbewusstsein der für ihre Rechte kämpfenden Schwulen und Lesben: »The riots inspired a new sense of self-respect in the participants.«42 Es entwickelte sich ein schwul/lesbisches Selbstbewusstsein in Form des »Gay Pride«, und zwar nicht nur in den USA. Noch im Juli 1969 wurde in New York die »Gay Liberation Front« – in Anlehnung an die »Nationale Befreiungsfront Viet39 | Vgl. Burbach, Christiane; Döge, Peter (Hg.): Gender Mainstreaming: Lernprozesse in wissenschaftlichen, kirchlichen und politischen Organisationen. Göttingen 2006. 40 | Vgl. Mondimore, Francis Mark: A Natural History of Homosexuality. Baltimore; London 1996, 238f.; Emilio, John d’: Sexual Politics, Sexual Communities: The Making of a Homosexual Minority in the United States 1940-1970. Chicago; London 1983, 231-233. 41 | Zur Vorgeschichte des Stonewall-Aufstandes in den USA vgl. Emilio: Sexual Politics, 223-231. 42 | Mondimore: A Natural History, 239.
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nams« –43 gegründet, die Ende 1969 in den meisten US-amerikanischen Großstädten und vor allem an den Universitäten verbreitet war und die sich ausgesprochen offensiv für Rechte für Homosexuelle einsetzte. Zum ersten Jahrestag des Stonewall-Aufstandes wurde von etwa 5000 Schwulen eine Demonstration in New York organisiert, die zum Modell der Christopher-Street-Day-Demonstrationen wurde. Ähnliche Organisationen wie die Gay Liberation Front, die für die Rechte Homosexueller kämpften, gründeten sich innerhalb kürzester Zeit in ganz Nordamerika, in Westeuropa sowie in Australien und Neuseeland. Die Bewegung erreichte Ende 1969, Anfang 1970 auch Deutschland. Man eignete sich die ursprünglich pejorative Fremdbezeichnung »schwul« offensiv an und ging damit provokativ in die Öffentlichkeit, um auf die eigene Situation und die Vorurteile der Gesellschaft aufmerksam zu machen.44 Diese gesellschaftlichen Vorurteile wurden flankiert von einer repressiven Rechtsprechung: bis 1969 galt in Westdeutschland der § 17545 in der Form, in der er von den Nationalsozialisten verschärft worden war: Homosexuelle Handlungen wurden mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Seit 1969 standen sexuelle Handlungen mit einem Jugendlichen unter 21 Jahren, homosexuelle Prostitution und Ausnutzung eines Unterordnungsverhältnisses unter Strafe. 1973 wurde das so genannte Schutzalter auf 18 Jahre abgesenkt, 1994 der § 175 endgültig gestrichen und das generelle Schutzalter auf 14 Jahre festgelegt. In Westdeutschland galten somit 25 43 | Blazek, Helmut: Rosa Zeiten für rosa Liebe: Zur Geschichte der Homosexualität. Frankfurt a.M. 1996, 269. 44 | Ein Beispiel für die gesellschaftliche Vorurteilshaltung gegenüber Homosexuellen zeigt folgendes Beispiel: 1974 initiierten die Soziologen Hanns Wienold und Rüdiger Lautmann eine empirische Studie, im Zuge derer Interviewpartner gebeten wurden sich vorzustellen, sie müssten mit einem anderen Menschen bei einer Kur oder im Urlaub längere Zeit verbringen, das heißt zum Essen immer am selben Tisch sitzen oder ähnliches. Die anschließende Frage war, hinsichtlich welcher Personen diese Vorstellung am unangenehmsten sei. 16 Personengruppen wurden zur Auswahl gestellt. Die am wenigsten beliebten Tischnachbarn waren mit 48 Prozent Homosexuelle, gefolgt von Epileptikern (42 Prozent) und Kommunisten (28 Prozent), Blazek: Rosa Zeiten, 279. 45 | Zur Einführung des § 175 1870/71 in die Strafgesetzgebung des Deutschen Reichs, vgl. Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela: Tabu Homosexualität: Die Geschichte eines Vorurteils. Frankfurt a.M. 1978, 337-340.
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Jahre lang verschiedene Schutzalter für heterosexuelle und homosexuelle Handlungen.46 Als Initialzündung für die Homosexuellenbewegung in Deutschland gilt die Uraufführung von Rosa von Praunheims Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« 1971 auf den Berliner Filmfestspielen. Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Schwulen, der in einer Großstadt Zweierbeziehung, Luxus, Strandbad, Park und Klappe erlebt und schließlich in einer schwulen Wohngemeinschaft mit dem Emanzipationsgedanken vertraut gemacht wird und erkennt, dass es das Ziel emanzipierten Schwul-Seins ist, mit der Antirassismus- und der Frauenbewegung gegen die Unterdrückung von Minderheiten zu kämpfen. Der Film sorgte für Furore – auch unter Schwulen, deren bürgerliches Leben er frontal angriff –47 und führte zur Gründung der »Homosexuellen Aktion Westberlin« und der »Roten Zelle Schwul« in Frankfurt a.M. In Münster fand 1972 die erste deutsche Demonstration von Schwulen statt. Die vorrangige Zielsetzung, der sich Anfang der 1970er Jahre gründenden Schwulenverbände, war der Kampf gegen die völlige Streichung des § 175, aber auch gegen Diskriminierungen im Arbeits- und Mietrecht.48 Der größte Teil dieser Organisationen war um gesellschaftliche Integration von Homosexualität bemüht. Daneben gab es schwule Gruppen der Studentenbewegung, die radikalere, linke Positionen vertraten und »eine grundlegende Veränderung für die Homosexuellen nur im gemeinsamen Kampf mit der Arbeiterklasse«49 gegen das kapitalistische System sahen. 46 | Antrag vom 17.12.2008 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag auf Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten. Drucksache 16/11440, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/114/1611440.pdf (Zugriff: 1.3.2012). In der DDR wurde Homosexualität 1968 entkriminalisiert. Bis 1989 galten ebenfalls unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen. 47 | Bruns, Manfred: Schwulenpolitik in der alten Bundesrepublik, verfügbar auf der Homepage des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland, http://lsvd. de/bund/schwulenpolitik.html (Zugriff: 3.3.2012), hier Kap. 1: Der Beginn der Schwulenbewegung. 48 | Der folgende Abschnitt fußt auf Blazek: Rosa Zeiten, 266-330; Bruns, Schwulenpolitik. 49 | Zitiert nach Blazek: Rosa Zeiten, 271.
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Die Spannungen zwischen den beiden Theorieansätzen eskalierten 1973 im so genannten »Tuntenstreit«. Auf der von der »Homosexuellen Aktion Westberlin« organisierten Abschlussdemonstration des Pfingstreffens traten französische und italienische Schwule in Frauenkleidern auf und wurden von deutschen linken Schwulen als »Tunten« beschimpft. Besonders die ausländischen Teilnehmer_innen verwehrten sich gegen diese Form von Diskriminierung und es brach bereits vor Ort die Diskussion aus, wie man mit Diskriminierungen in den eigenen Reihen umgehen sollte. Als Folge dieser Ereignisse standen sich der um gesellschaftliche Integration bemühte Flügel der Schwulenbewegung, die so genannten orthodoxen Marxisten, und der radikale Flügel, die so genannten »Feministen« (!) diametral gegenüber. Während es von ersteren als wesentliches Ziel angesehen wurde, in der Gesellschaft das Bewusstsein für die Diskriminierung von Homosexualität zu wecken, aufzuklären und letztlich Homosexualität in die Gesellschaft zu integrieren, lehnten die »Feministen« eine Integration ab, da dadurch die heterosexuellen Konzepte und Geschlechterrollen übernommen würden. »Die Feministen forderten eine Infragestellung der als überhistorisch und natürlich geltenden Geschlechtsrollen und kritisierten daher auch die Tunte, da sie den, Dualismus von männlich und weiblich übernehme.«50 Hier, in der frühen Schwulenbewegung, zeichneten sich bereits Grundfragen der späteren gender- und queer-Debatten ab. Der Schriftsteller und Dozent am Birbeck College in London Jonathan Kemp resümiert in seiner Darstellung der Homosexuellen- und queer-Bewegung in den USA: »The gay movement has always been torn by a conflict of interests between those who want social reform and those who want revolution. In this sense, ›queer‹ is just another name for those who want revolution […].«51 Diese Polarisierung charakterisiert auch die deutsche Homosexuellenbewegung und lässt sich signifikant an ihrer Geschichte ablesen. Ein problematischer Aspekt in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war die Debatte um »abweichende Sexualitäten« innerhalb der Schwulenbewegung, die zur Folge hatte, dass sadomasochistische Schwule als faschistoid ausgegrenzt und Pädophile von der Schwulenbewegung unterstützt wurden. Manfred Bruns, ehemaliger Bundesanwalt am Bundesgerichtshof 50 | Zitiert nach ebd., 272. 51 | Kemp, Jonathan: Queer Past, Queer Present, Queer Future. In: Graduate Journal of Social Science 6 (2009), Special Issue 1, www.g jss.org/images/ stories/volumes/6/1/0906.1a02kemp.pdf (Zugriff: 1.3.2012), 11.
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und Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland, wertet dieses Zusammengehen im Nachhinein unter anderem als Resultat der Tatsache, dass zum damaligen Zeitpunkt das Coming-out von Schwulen relativ spät erfolgte und die meisten darunter litten, »die beste Zeit ihres Lebens« versäumt zu haben und davon träumten, »wie viel besser ihr Leben verlaufen wäre, wenn ein älterer Mann sie schon früher ›aufgeweckt‹ hätte.«52 Das seit 1980 in der Frauenbewegung erwachende Bewusstsein von der Dimension sexueller Gewalt an Kindern führte dementsprechend schon bald »zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen der Frauenund der Schwulenbewegung.«53 Seit den 1990er Jahren grenzt sich die Schwulenbewegung rigoros von Pädophilie ab. Die Debatte um die »abweichenden Sexualitäten« war allerdings auch in anderer Hinsicht problematisch, denn dabei erfolgte eine Verengung der Definition von Homosexualität, die in einem homosexuellen Verhaltenskodex mündete und bei der Sadomasochismus und Bisexualität ausgeschlossen waren.54 Damit wurde schon frühzeitig die Entwicklung einer queeren Mentalität blockiert und Personengruppen, die ebenfalls aufgrund von sexuellen Präferenzen als gesellschaftliche Außenseiter galten, aus der Bewegung ausgeschlossen. Mitte der 1970er Jahre begannen die Schwulenorganisationen, insbesondere linke Gruppen, den Kontakt zu den Medien zu suchen. Auch die Homosexuellenbewegung ist wie die Frauenbewegung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von einer zunehmenden Medialisierung gekennzeichnet. Sieben Jahre nach der Selbstbezichtigungsaktion »Ich habe abgetrieben« gab der »Stern« im Oktober 1978 ein Heft mit der Titelstory »Ich bin schwul« heraus, in dem sich fast 700 Männer zu ihrem Schwulsein bekannten. Im selben Jahr wurde der erste schwule Buchladen in Europa, »Prinz Eisenherz«, in Westberlin eröffnet. 1978 erschien mit dem Buch »Tabu Homosexualität. Die Geschichte eines Vorurteils« der Journalistin und studierten Soziologin Gisela Bleibtreu-Ehrenberg eine der bis dahin umfassendsten Untersuchungen zur Geschichte der Diskriminierung von Homosexualität. 52 | Bruns, Schwulenpolitik, Kap. 5: Streitpunkt »abweichende Sexualitäten«. 53 | Ebd., Kap. 1: Der Beginn der Schwulenbewegung. 54 | In den USA, wo diese Debatten ebenfalls erfolgten, wurden die Diskussionen aufgrund ihrer Heftigkeit als »sex wars« bezeichnet (Duggan, Lisa; Hunter, Nan D.: Sex Wars: Sexual Dissent and Political Culture. New York; London 1995).
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Nachdem der Freiraum, der Schwulen nach den strafrechtlichen Reformen unter Willy Brandts Kanzlerschaft Ende der 1960er und in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zugestanden worden war, durch Gerichte und Institutionen immer wieder eingeschränkt wurde, kam es in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zunehmend zur Gründung von Organisationen, die sich dezidiert gegen die Diskriminierung von Homosexuellen wandten beziehungsweise die in gesellschaftliche Großorganisationen hineinwirkten, zum Beispiel die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche, der Arbeitskreis Homosexualität der Vorläuferorganisation von verdi, die Schwusos sowie der Arbeitskreis Homosexualität im Landesverband Berlin der FDP. An deutschen Universitäten entstanden, angebunden an die Studierendenvertretungen, Schwulen- und Lesbenreferate. Teilweise wurde gerichtlich gegen die staatlichen Hochschulvertretungen darum gekämpft, dass solche Referate eingerichtet werden durften. Die links-liberalen schwulen Organisationen »strebten nach einer Zusammenarbeit mit den Parteien, wohingegen sich die sozialistisch geprägten Organisationen an kommunistische Gruppen und an die Gewerkschaften wandten.«55 Mit den schwulen Arbeitsgruppen in Parteien und Institutionen begann die »Anti-Diskriminierungs-Politik« der 1980er Jahre, die von etwa 1978 bis 1988 andauerte. Das Ziel des gemäßigten Flügels der Schwulenbewegung war die Durchsetzung eines Antidiskriminierungsgesetzes, die »Radikalen« dagegen verfolgten die Durchsetzung konkreter Einzelprojekte. »Von der Entwicklung gemeinsamer Strategien war man […] weit entfernt«56, sondern arbeitete teilweise direkt gegeneinander. Die 1980er Jahren bedeuteten für die Homosexuellenbewegung ebenso wie für die Frauenbewegung die Zeit zunehmender Institutionalisierung. 1982 gründete sich der »Lesbenring« als Dachorganisation lesbischer Frauen, 1986 als dessen schwules Pendant der »Bundesverband Homosexualität« (BVH), der sich 1997 auflöste und dessen Arbeit von dem 1990 in Leipzig gegründeten »Schwulenverband in Deutschland« (heute: »Lesben- und Schwulenverband in Deutschland«), der zahlenmäßig größten homosexuellen Bürgerrechtsorganisation, übernommen wurde. Weiterhin wurde der Christopher Street Day (CSD) als Erinnerungsmarsch an den Stonewall-Aufstand als Dauereinrichtung installiert – die ersten CSDDemonstrationen fanden 1979 in Berlin und Bremen statt. 55 | Blazek: Rosa Zeiten, 278. 56 | Ebd., 279.
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Der Koalitionswechsel 1982 brachte in der Politik einen Abbruch von mancher prohomosexuellen Forderung in den deutschen Parteien. Eine schwulenfreundliche Haltung legten lediglich Die Grünen sowie Alternative Listen an den Tag, die Schwule unterstützten, die dann in verschiedenen Parlamenten Einzug hielten.57 Der am meisten einschneidende Faktor in der Geschichte der Schwulenbewegung war Mitte der 1980er Jahre das Aufkommen der Immunschwächekrankheit AIDS, von der Schwule in besonderem Maße betroffen waren. Erste Fälle traten 1981 in den USA auf. Mit Einführung des HIV-Tests 1984 zeigte sich die katastrophale Dimension der Krankheit. So waren zum Beispiel 56 Prozent aller 1984 auf HIV getesteten Männer in einer Klinik in San Francisco HIV-positiv.58 In Deutschland tangierte der Einbruch von AIDS unter anderem die Diskussionen um die seit Ende der 1970er Jahre immer stärker in den Vordergrund getretene und kaum noch kritisierte schwule unpolitische Subkultur, in der Schwule sowohl ihre sexuellen Wünsche auslebten als auch in den meisten Fällen überhaupt zu ihrer schwulen Identität fanden – Funktionen, durch die die homosexuelle Subkultur ein Äquivalent zu der schon in Bezug auf die feministische Bewegung angesprochene Exklusion und den Rückzug in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten darstellt. Mit AIDS begann sowohl in der politischen Schwulenbewegung als auch der schwulen Subkultur ein enormer Prozess des Umdenkens im Hinblick auf verantwortungsvollen Umgang miteinander, durchaus auch unter Druck von außen, denn die Presse agierte zwischen 1984 und 1988 mit Panikmache und offener Schwulendiskriminierung: »der Pathologisierung von Schwulen, aber auch der Verfallstheorie war nun wieder Tür und Tor geöffnet.«59 Die Bewegung reagierte nach und nach mit der Durchsetzung des Konzeptes »safer sex« und der Einrichtung von AIDS-Hilfen. Schon 1984/85 entbrannten die ersten Diskussionen um die Bedeutung und um den Umgang mit AIDS. In der Folge wurde AIDS zu einem Ausgangspunkt schwuler Politik und löste letztlich eine bisher nicht da gewesene gesellschaftliche Debatte um Homosexualität aus. Unter anderem wurde durch die Krankheit erstmalig Fragen nach Identitätszuschreibungen gestellt: Wie sollte man zum Beispiel diejenigen bezeichnen und mit 57 | Ebd., 281. 58 | Mondimore: A Natural History, 241. 59 | Blazek: Rosa Zeiten, 288.
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ihnen umgehen, die sich selbst als heterosexuell empfanden, gelegentlich homosexuelle Kontakte hatten, sich möglicherweise strikt von Homosexualität abgrenzten und nun ebenfalls an HIV erkrankt waren? Über all diese Entwicklungen hinaus hatte AIDS allerdings letztlich die bittere Konsequenz, dass tausende Schwule, unter ihnen viele Aktivisten der Schwulenbewegung, an der Krankheit vorzeitig starben. Gegen Ende der 1980er Jahre geriet die Schwulenbewegung in eine Krise, parallel zu den meisten anderen sozialen Bewegungen in Westdeutschland. Einen problematischen Bruch innerhalb der Schwulenbewegung gab es 1988/89 zwischen den »Reformisten« und den »Radikalen« hinsichtlich der »Homo-Ehe«: während der Grünen-Politiker Volker Beck und der Bundesanwalt Manfred Bruns die Öffnung der Ehe für Homosexuelle einführen wollten, lehnten andere, zum Beispiel der spätere Verbraucherschützer und Bundesgeschäftsführer der AIDS-Hilfe Stefan Etgeton und die Grünen-Abgeordnete im Bundestag Jutta Oesterle-Schwerin die Forderung nach der Homo-Ehe, der »kleinen Ehe«, ab, da die Fokussierung auf die Ehe andere schwul/lesbische Lebens- und Beziehungsformen und damit einen großen Personenkreis ausgrenze und, so Etgeton, den »Kindheitstraum« von Schwulen nach einer »nicht normierten Sexualität« eliminiere.60 Der Bundesverband Homosexualität setzte sich im Laufe der 1990er Jahre für eine gesetzliche Regelung für alle nichtehelichen Lebensgemeinschaften ein, während der Schwulenverband in Deutschland die Homo-Ehe proklamierte. Die Spaltung wurde in den 1990er Jahren letztlich obsolet, da der Kampf um die Einführung der Homo-Ehe als Ziel schwuler Politik breit an der Basis unterstützt wurde, so dass Gegenstimmen in dieser Front untergingen. Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten kamen die ostdeutschen Schwulenaktivisten, meist aus Gruppen, die in den 1980er Jahren unter dem Dach der Kirche entstanden waren, zu der westdeutschen Schwulenbewegung.61 Das Verhältnis gestaltete sich von Anfang an schwierig: Westdeutsche Aktivisten warfen den Ostdeutschen vor, sie »seien noch nicht soweit«, ostdeutsche Schwule fühlten sich von den ›Wessis‹ in der schwulenpolitischen Arbeit über den Tisch gezogen.«62 Ein 60 | Zitiert nach Blazek: Rosa Zeiten, 298. 61 | Zur Geschichte der Situation von Homosexuellen in der DDR und den begrenzten Möglichkeiten der Aktivität von Schwulengruppen vgl. ebd., 299-313. 62 | Ebd., 313.
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gravierender Unterschied zwischen der west- und ostdeutschen Schwulenbewegung war das Fehlen einer Schwulenszene in Ostdeutschland. Stattdessen waren hier Arbeitskreise, die den persönlichen Kontakt mit politischer Arbeit und Diskussionen verbanden, die gängige Form der Begegnung gewesen. Eduard Stapel, einer der führenden Persönlichkeiten der ostdeutschen Schwulenbewegung, resümierte über die westdeutsche homosexuelle Subkultur: »Wir haben mindestens kein Getto [sic!] aufgebaut. Darum wende ich mich ja auch gegen diese Art von Subkultur, die wir nun aus dem Westen bekommen, denn das ist nichts weiter als das Verschwinden im Getto [sic!]. […] Ich war immer heilfroh, daß wir dieses Ablenkungsmanöver ›Szene‹ hier nicht hatten. […] Die Szeneschwulen grenzen sich selber aus. […] Heute macht eine Schwulendisco auf, und die Leute spielen tagsüber wieder ihren Hetero und versinken nachts in den Discos. Dieses Doppelleben wird wieder richtig gefestigt. Schluß mit Integration und mit allem, sogar mit Emanzipation.« 63
Durch die verschiedenen Mentalitätslagen getrennt kam es lange Zeit zu einem Nebeneinanderher der schwulen Organisationen Bundesverband Homosexualität und Schwulenverband in Deutschland (ursprünglich »Schwulenverband in der DDR«), aber nicht zu einem Miteinander. In den 1990er Jahren waren neben der »Homo-Ehe«64 die Themen AIDS und »Gewalt gegen Schwule« virulent, wobei Gewalt gegen Homosexuelle im weitesten Sinne verstanden wurde, besonders auch die verschiedenen Diskriminierungen, denen Schwule und Lesben am Arbeitsplatz und in ihrem Berufsleben ausgesetzt waren. Während die erste Hälfte der 1990er Jahre noch von teilweise hohen gesellschaftlichen Vorurteilen gekennzeichnet war, kam es seit Ende der 1990er Jahre zu merklichen Liberalisierungsschüben. Ein Indikator dafür sind die Bemühungen der evangelischen Kirche, Homosexuelle stärker in ihre Gemeinden und ihren Dienst zu integrieren. 1996 gab der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Orientierungshilfe »Mit Spannungen leben« heraus, in 63 | Zitiert nach ebd., 314f. 64 | Die »Homo-Ehe« ist bis heute in Deutschland nicht eingeführt worden, dafür als Alternative die Möglichkeit der Verpartnerschaftlichung durch das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001, das umgangssprachlich »Homo-Ehe« genannt wird.
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dem erstmalig eingeräumt wurde, dass Homosexuellen, die nicht sexuell enthaltsam leben könnten, »zu einer vom Liebesgebot her gestalteten und damit ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft zu raten« sei und in Einzelfällen Homosexuelle Pfarrer und Pfarrerinnen werden dürften.65 Nach Vorbildern aus den Niederlanden und speziell in Anlehnung an die Frauenstudien entstanden gegen Ende der 1980er Jahre in verschiedenen europäischen Ländern an Universitäten angesiedelte Zentren für »Homostudien« mit eigenen Studiengängen, die sich in den 1990er Jahren entfalteten. Diese Institutionalisierung bedeutete gleichzeitig auch eine Professionalisierung der »Homostudien«.66 Allerdings, und damit ist schon das nächste Kapitel zur Lesbenbewegung angedeutet: Homosexuellenforschung war und ist männerlastig und auf Männer konzentriert.67 Trotz der Institutionalisierung und der sich zunehmend abzeichnenden Akzeptanz von Homosexuellen in der Gesellschaft waren die 1990er Jahre für die Schwulenbewegung eher ein Jahrzehnt der Stagnation hinsichtlich ihrer politischen Arbeit. Viele Aktivisten der früheren Jahrzehnte zogen sich enttäuscht aus der Arbeit zurück – mancherorts wurde die Schwulenbewegung für beendet erklärt. Parallel dazu erfolgte ein Aufschwung anderer Art: Vermehrt entwickelten sich seit Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Freizeitvereine mit unpolitischer Ausrichtung, während die aktive Beteiligung an klassischen politischen Emanzipationsgruppen schwand. Die Teilnehmerzahlen an den CSD-Demonstrationen explodierten. Der Spaß- und Coolness-Faktor in der öffentlichen Darstellung von Schwul-Sein als Vorreiter moderner Entwicklungen stieg. Schwule und Lesben wurden zu Trendsetter_innen und als Konsument_innen entdeckt, die es zu bewerben galt. In Fernsehserien kamen immer häufiger Schwule und Lesben vor, bis hin zu dem Umstand, dass eigene schwul/ lesbische Serien kreiert wurden. Die Selbstbezeichnung »queer« hielt Einzug, zwar immer noch als Synonym für schwul oder lesbisch, aber auch 65 | Mit Spannungen leben. Orientierungshilfe des Rates der EKD. 1996, www. ekd.de/familie/spannungen_1996_3.html (Zugriff: 3.3.2012). 66 | Vgl. Lautmann, Rüdiger: Homosexuellenforschung am Ende des 20. Jahrhunderts: Einheit oder Differenz der Geschlechter? In: Lautmann, Rüdiger: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte. Frankfurt a.M.; New York 1993, 390-396, hier 391. 67 | Ebd., 392.
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mit der Konnotation von Vielfalt und variablen Identitätskategorien und vor allem dem Lust- und Spaßfaktor, der, so die jüngeren queeren Lesben und Schwulen, der älteren Generation zugunsten von feststehenden Regeln und Verhaltensnormen sowie dem Anspruch auf political correctness abhandengekommen sei.68 Hier ist, ebenso wie auf feministischer Ebene und mit dieser verwoben, für die 1990er Jahre ein Übergang von Bewegung zu (Jugend-)Mentalität zu konstatieren. Diese Mentalität nahm im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends langsam wieder politisch Fahrt auf: Besonders in den letzten Jahren spielte die politische Wahrnehmung, zum Beispiel der Diskriminierung und Unterdrückung von Homosexuellen und transgender Menschen in anderen Ländern, zwar keine exponierte, aber eine nicht unwesentliche Rolle in den queeren Medien. Scharfe Kritik an der unpolitischen Haltung des massenwirksamen CSD äußerte im Jahr 2010 Judith Butler, als sie den ihr verliehenen Zivilcouragepreis des CSD mit der Begründung ablehnte, die Veranstaltung sei zu kommerziell und in der Schwulenbewegung würden homosexuelle und transgender Migranten und Migrantinnen diskriminiert.69 Dass der CSD von außen durchaus auch als Politikum gesehen werden kann, zeigt die Berichterstattung der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien über den CSD 2012: Im gesamten zweiten Teil des Beitrages wird darüber referiert, wie »das homophobe Russland […] böse aufs Korn genommen« wurde und dass die Veranstalter »eine betont politische Route gewählt« hätten.70
1.3 Die Lesbenbewegung Lesbische Frauen waren von Anfang an ein starkes Bindeglied zwischen der Schwulenbewegung und der Frauenbewegung, ohne dass sie bisher in der Historiographie beider Bewegungen eine originäre Rolle gespielt haben. Aufgrund ihrer Mittler_innenposition ist anzunehmen, dass der Begriff »Les68 | Söderblom, Kerstin: »We’re Queer – we’re here! – Get used to it!« Queer im Kontext einer feministischen Befreiungstheologie. In: Schlangenbrut 14 (1996), Hf. 54, 19-23, hier 21. 69 | Art.: Eklat bei Christopher Street Day: Butler lehnt Preis ab. In: Spiegel online vom 19.6.2010, www.spiegel.de/panorama/eklat-bei-christopher-street-daybutler-lehnt-preis-ab-a-701729.html (Zugriff: 2.3.2012). 70 | Art.: Spektakel für Toleranz: Hunderttausende beim Christopher-Street-Day in Berlin. In: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien vom 27.6.2012, 8.
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benbewegung« nicht in dem Maße zutreffend ist, wie die Termini »Frauenbewegung« und »Schwulenbewegung«, da sich Lesben entweder einer der beiden beziehungsweise beiden Bewegungen zuordneten. Damit ging zumindest am Anfang die Kohärenz für eine eigene Bewegung verloren. Prinzipiell haben die feministische Bewegung und die Homosexuellenbewegung in ihrer Protest- und Oppositionsrolle gegenüber der sie umgebenden patriarchal-heterosexuell normierten Gesellschaft viel gemeinsam, ohne dass es langfristig zu gemeinsamen Zielsetzungen oder Kampfbündnissen kam. Inhaltlich fokussieren beide Bewegungen auf Aspekte des Geschlechtlichen. Bemerkenswert ist, dass hinsichtlich von Abtreibung oder Familienrecht für Frauen und in Bezug auf die sexuelle Orientierung für Schwule bis in die 1960er, 1970er Jahre unhinterfragt die nationalsozialistische Gesetzgebung galt. Die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, die Vorurteile und Stigmatisierungen waren demzufolge der zentrale Angriffspunkt in den Abwehrstrategien beider Bewegungen. Beide kämpften um Integration ihrer Belange in die Gesellschaft beziehungsweise für eine Veränderung der Gesellschaft. Manche Entwicklungsphasen verliefen nahezu parallel. Die Auflösung beider Bewegungen in den 1990er Jahren in die Institutionalisierung, die akademischen Debatten und in die (Jugend-) Mentalitäten ist ähnlich gelagert und fließt hier sogar teilweise ineinander: die akademischen gender-Debatten und die queer theory gingen ineinander über, ebenso wie die Dritte und Vierte Welle des Feminismus teilweise unmittelbar mit queeren Lebensformen vernetzt waren und sind. Von daher scheint es nahezu zwingend, dass es auch schon vor den 1990er Jahren eine soziale Gruppe gibt, die beide Bewegungen verbindet: die homosexuellen Frauen. Der Begriff »homosexuelle Frauen« klingt im heutigen Sprachgebrauch antiquiert, aber so nannten sich Lesben Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Sie unterschieden sich von den Schwulen von vornherein durch ein Sprachproblem: sie mussten erst einmal einen Namen für sich selbst finden. Es gab sowohl sprachlich als auch in der öffentlichen Wahrnehmung keine lesbischen Frauen. Der seit 1870/71 in Kraft getretene und in der Zeit des Nationalsozialismus verschärfte § 175, der erst 1969 abgeschafft wurde, galt nur für Männer – es gab somit auch rechtlich, nicht einmal im negativen Sinne, eine lesbische Identität.71
71 | Das bedeutete trotzdem auch vereinzelt für Lesben Verfolgungen im Nationalsozialismus, allerdings als so genannte »asoziale Personen«.
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Das Problem des Unsichtbar-gemacht-Seins war das eigentliche Problem lesbischer Frauen, die weder verfolgt noch zur Sprache gebracht wurden. Im Gegensatz zu schwulen Männern, die in der Gesellschaft wahrgenommen und im Protest nach dem Motto »Seht her, wir sind schwul und wir sind stolz darauf« arbeiteten, begannen lesbische Frauen ihre Selbstfindung unter der Fragestellung »Wer sind wir, was empfinden wir – sind wir mehr als nur eine?« Schon um 1969/70 bildeten sich innerhalb der Homosexuellenbewegung Frauengruppen. Etwa seit 1972 trafen sich lesbische Frauen in eigenen Gruppen sowohl innerhalb der Frauenbewegung als auch innerhalb der Homosexuellenbewegung.72 Herausragend war die Arbeit der Lesben in der 1972 gegründeten »Homosexuelle Aktion Westberlin« (HAW). 1973 eröffneten diese Frauen zusammen mit Frauen anderer Lesbengruppen das erste Frauenzentrum in Berlin. Die HAW-Frauen verfolgten eine Strategie des Sichtbarwerdens. Ziel war es, aus der Isolierung, der Einsamkeit und der Tabuisierung lesbischen Lebens herauszukommen. Durch Vernetzung, Kontakte und Gruppenarbeit gründeten sich in der Folge bundesweit Lesbengruppen. Seit 1973 »nahm die autonome Organisation und Vernetzung von Lesben schwunghaft zu«.73 Schon rasch zeichnete sich ab, dass Frauen sich unabhängig von ihren schwulen Mitstreitern in der Homosexuellenbewegung unter sich trafen. Häufig wurden für Treffen der Arbeitsgruppen andere Räumlichkeiten genutzt. Außerdem wandten sich lesbische Frauen schon frühzeitig tendenziell eher der feministischen Bewegung zu. Gerade die feministischen Überlegungen zur Zwangsheterosexualität und zur weiblichen Identitätssuche jenseits der Fremddefinition durch Männer waren unmittelbare Anknüpfungspunkte der Lebensrealität von Lesben. 1974/75 fand die so genannte feministische Wende der Lesbenbewegung statt, die mit der Separation von der Schwulenbewegung einherging, aber auch die Diskussion um das Verhältnis von Feminismus und Lesbianismus in der Frauenbewegung auf die Tagesordnung brachte. Durch die feministische Wende der Lesbenbewegung erhielt die Frauenbewegung einen radikalfeministisch-lesbischen Flügel. Das Verhältnis von Mainstream-Frauenbewegung und dem lesbisch-radikalem Flügel war streckenweise problema72 | Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 229f. Zum folgenden Abschnitt vgl. ebd., 227-266. 73 | Ebd., 234.
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tisch. Besonders die Avantgarde der Lesbenbewegung Anfang der 1970er Jahre war noch wesentlich stärker von dem radikalen Gedanken geprägt, Lesbisch-Sein und Feminismus seien identisch – »Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis« war ein Slogan, der dieses Denken pointiert aufgriff –, als das in den nachfolgenden Generationen propagiert wurde.74 Um das Verhältnis von Feminismus und Lesbianismus gab es nicht nur mit heterosexuellen Feministinnen, sondern auch unter den Lesben immer wiederkehrende kontroverse Diskussionen und verschiedene Haltungen. Resümierend kann festgestellt werden, dass durch die Frauenbewegung, die stark von lesbischen Frauen mitgetragen wurde – auch wenn dies teilweise von außen nicht erkennbar war –, Lesben eine eigene Stimme und Plattform erhielten. Die Vernetzung von feministischer Bewegung und Lesben war seit Mitte der 1970er Jahre stärker als die zwischen Schwulen- und Lesbenbewegung. Der Soziologe Rüdiger Lautmann stellte dazu fest, »das lesbische Denken [hat sich] mehr unter dem Aspekt des Geschlechts entfaltet, das schwule Denken hingegen unter dem Aspekt des Sexuellen.«75 Lesben waren somit viel stärker als Schwule in die feministischen und später in den 1990er Jahren in die Debatten um gender involviert. Allerdings arbeiteten beide Gruppen wiederum zusammen, wenn es um konkrete Rechte für Homosexuelle ging. So beteiligten sich seit 1979 Lesben intensiv an den Aktivitäten der Schwulenbewegung, die versuchte, in öffentliche Institutionen, die Kirchen, die Parteien und Gewerkschaften Einzug zu erhalten, und gründeten zusammen mit Schwulen Arbeitskreise in diesen Organisationen. In den 1980er Jahren arbeitete man in der Politik eng zusammen. Wie für die Schwulen waren Die Grünen eine Partei, in der Lesben aktiv mitarbeiteten.
74 | So zum Beispiel bei der französischen, später in den USA als Professorin im Bereich der Women Studies lehrenden Monique Wittig. 75 | Lautmann: Homosexuellenforschung, 391. Lautmann fügt an: »Auch der politisch-soziale Kontext begünstigte das Auseinanderdriften der beiden Begehrensformen. In unserem zeitgeschichtlichen Raum schlägt das Gesellschaftliche dreimal auf die Homosexuellen zu: mit einer ausdehnenden Kriminalisierung, mit dem Konzentrationslager und mit der Geschlechtskrankheit AIDS. Jedesmal wird das an den Abenteuern des Penis festgemacht, bleiben die Zärtlichkeiten unter Frauen ungeschoren.«, ebd.
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Gleichzeitig kann seit Anfang der 1980er Jahre zunehmend von einer Sichtbarwerdung einer eigenständigen Lesbenbewegung gesprochen werden. Die Gründung von Großorganisationen wie 1982 des Deutschen Lesbenrings e.V. oder die Einrichtung des Lesbenfrühlingstreffens als jährlich zu Pfingsten in verschiedenen deutschen Städten rotierende Großveranstaltung zeigt die beginnende Institutionalisierung einer eigenen sozialen Bewegung. Wie die Frauenbewegung wurde auch unter den Lesben in der Frauenbewegung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begonnen, das Theoriekonzept der Zweigeschlechtlichkeit – und damit eine Säule des Identitätskonzeptes der frauenzentrierten Lesbe – zu hinterfragen und in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der queer theory aufzulösen. Daneben waren auch für die Lesbenbewegung die 1990er Jahre von Institutionalisierung und der zunehmenden Wahrnehmung der globalen Situation von Lesben geprägt.76 Mit dem Aufkommen von queer-Konzepten setzte ein tiefgreifender Mentalitätswandel unter lesbischen Frauen ein, der sich auch in einer Entfremdung der Generationen innerhalb der Lesbenbewegung deutlich zeigte. Allerdings verwischten sich dadurch auch die Grenzen zwischen dezidiert »schwul« und »lesbisch« – andere Kategorien kamen hinzu und der Individualisierungsgrad erhöhte sich. Damit ergab sich ein engeres Zusammengehen auf organisatorischer Ebene mit der Schwulenbewegung. So gab es gegen Ende der 1990er Jahre erste Beratungsgespräche des Schwulenverbandes in Deutschland mit lesbischen Frauen über einen Zusammenschluss der Schwulen- und Lesbenbewegung, der die Öffnung des Schwulenverbandes für Lesben folgte. Seit 1999 heißt der Schwulenverband »Lesben- und Schwulenverband in Deutschland«.
2. D IE AK ADEMISCHEN D EBAT TEN Die in Deutschland relativ gängige Wahrnehmung einer Synonymität von (sozialer) Bewegung und Theorie/Denken im Hinblick auf queer bildet eine der Hauptschwierigkeiten einer Darstellung, die die Geschichte der Frauen- und Homosexuellenbewegung und der gender- und queer theory zusammenfasst. Bisher wurde diese stillschweigend vorausgesetzte Syn76 | Lenz (Hg.): Frauenbewegung, 1015-1051.
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onymität, die in Butlers Ansatz der Konstruktion gesellschaftlichen Handelns durch Sprache/Denken bereits theoretisch angelegt ist, kaum kritisch hinterfragt beziehungsweise keine Trennung der Elemente »soziale Bewegung« und »akademische Debatte« vorgenommen.77 Ein Problem dabei ist, dass sich aufgrund der verschiedenen Entwicklungen der feministischen beziehungsweise Homosexuellenbewegung in den USA und in Deutschland im nordamerikanischen Bereich tatsächlich eine queerBewegung herausgebildet hat, in Deutschland jedoch nicht.78 Dieser Vorlauf der US-amerikanischen queer-Bewegung, bei der inzwischen schon Phasen und »Wellen« ausgemacht werden können, gegenüber der deutschen Entwicklung ist insofern problematisch, als dass dieser Umstand in den deutschen Debatten um queer größtenteils unerwähnt bleibt und somit die US-amerikanischen Verhältnisse auf die deutschen übertragen werden. In der vorliegenden Untersuchung soll die Unterscheidung zwischen sozialer Bewegung und Theorie eine größere Beachtung erfahren und bewusstgemacht werden. Zwar können die Theoriediskussionen nicht von den sozialen Bewegungen getrennt werden, da sie bis zu einem gewissen Grad einen Einfluss auf die Protestformen hatten, aber es ist im Umkehrschluss auch festzustellen, dass die Bewegungen nur bis zu einem gewissen Grad Einfluss auf die Theoriedebatten hatten. Vor allem aber ist festzuhalten, dass eine Theoriedebatte keine soziale Bewegung ist, denn zwar sind soziale Bewegungen »nicht nur Träger von vorhandenen Be-
77 | Vgl. beispielsweise Degele, Nina: Gender/Queer-Studies: Eine Einführung. Paderborn 2008. Degele schlägt in den Kapiteln 2.2 und 2.3 »Von bewegten Frauen zu den Genderstudies« (28-41) und von »Gay liberation zu queer« (41-55) auch einen historischen Bogen, trennt aber nicht die Ebene der Theoriedebatten und die der sozialen Aktionen. 78 | Woltersdorff, Volker (alias Lore Logorrhöe): Queer Theory und Queer Politics. In: Utopie kreativ (2003), Hf. 156, 914-923, hier 920, www.rosalux.de/fileadmin/ rls_uploads/pdfs/156_woltersdorff.pdf (Zugriff: 2.3.2012). Woltersdorff merkt in diesem Zusammenhang an, dass das in Deutschland gegebene »Ungleichgewicht zwischen einem großen Interesse für die Theorie und einer vergleichsweise geringen politischen Praxis […] dazu geführt [hat], dass queer hier mehr als in englischsprachigen Ländern der schlechte Ruch des Akademischen, Abgehobenen, Weltfernen anhaftet, das sich nicht in die Praxis umsetzen läßt.« (Ebd.)
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deutungs- und Glaubenssystemen, sondern auch deren Produzenten«,79 aber sie leben von Protesten und Protestaktionen, und sie können Anhänger_innen nur sammeln, wenn ideologisch der kleinste gemeinsame Nenner als Kernanliegen präsentiert wird. Bei der Frauen- und Schwulenbewegung einerseits und den gender- und queer theories andererseits kommt allerdings noch ein weiterer entscheidender Aspekt hinzu, der die Stränge der akademischen Diskussion und der sozialen Bewegung voneinander trennt. Eine »neue soziale Bewegung« wird erst durch eine kollektive Identität handlungsfähig: Soziale Bewegungen lassen sich als Koalitionen mit geringem Organisationsgrad und einer abstrakten kollektiven Identität beschreiben.80 Die Entwicklung dieser »kollektiven Identität« ist zentrale Aufgabe einer sozialen Bewegung, auch wenn diese kollektive Identität letztlich eine »imaginäre Konstruktion« ist.81 Nun ist es allerdings gerade die Identität, die im Genderkonzept im Gefolge von Judith Butler und in der queer theory bestritten und deren »imaginäre Konstruktion« entlarvt wird. Dieser Theorieansatz widerspricht grundlegend dem Basiselement der sozialen Bewegung: der kollektiven Identität. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum gerade das Fehlen des Paradigmas »Identität« in gender- und queer theory teilweise so vehement kritisiert wurde. Es geht dabei nicht nur um das Ringen um »Wahrheit«, um das Aufeinanderprallen von philosophischen Ansätzen, sondern unausgesprochen auch darum, dass der Ansatz von gender und queer der Logik einer traditionellen sozialen Bewegung zuwiderläuft und damit diese Bewegungen, zumindest auf der Theorieebene, auflöst. Die sozialen Bewegungen der Feministinnen und der Homosexuellen versuchten in den 1990er Jahren die Begriffe gender und queer in ihr Arbeitsrepertoire aufzunehmen. Allerdings war das nur mit inhaltlichen Umdeutungen und Umformungen möglich, denn ohne eine wie auch immer definierte kollektive Identität kann es keine soziale Bewegung geben.
79 | Kern, Thomas: Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkungen, Mechanismen. Wiesbaden 2008, 141. 80 | Ebd., 120f. 81 | Ebd., 119-122.
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2.1 gender und queer Der Begriff gender wurde 1975 erstmalig von der US-amerikanischen Feministin Gayle Rubin in einem Aufsatz verwendet, in dem sie zwischen biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht unterschied und damit die sex-gender-Kategorie einführte.82 An diese Form der Dekonstruktion von Geschlecht schlossen sich in der Folge eine ganze Reihe feministischer Forscherinnen an. Die feministische Bewegung übernahm den Theorieansatz relativ problemlos, war er doch, wie bereits erörtert, in den Anfängen der Frauenbewegung angelegt. Aus den gängigen »Women Studies« beziehungsweise aus der »Frauenforschung« wurden nach und nach die »Gender Studies«, die sich in Westdeutschland seit Mitte der 1980er Jahre als eigenständige Disziplin etablierten.83 Bei den zumeist interdisziplinär angelegten Gender Studies ging es darum, Geschlechterkonstruktionen in den einzelnen Fächern zu entlarven. Nach wie vor schnitten bei diesen Demaskierungen die Frauen schlechter ab als die Männer, aber insgesamt gerieten beide Geschlechter in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es kam zu einer Flut von Veröffentlichungen zum Thema. Nahezu alle Wissenschaftszweige begannen sich, mehr oder weniger (die Naturwissenschaften zunächst weniger – in den Geisteswissenschaften nahmen Kultur- und Sprachstudien das Thema offensiv auf) mit den Geschlechterrollen, ihren Bewertungen, ihren versteckten Implikationen, der Möglichkeiten ihrer Verschiebung, Auflösung und Dekonstruktion, kurz mit der Problematik gender zu beschäftigen.84
82 | Ankele, Gudrun: Auflösungen und neue Gemeinschaften: Wie zusammen leben? In: Ankele, Gudrun (Hg.): absolute Feminismus. Freiburg 2010, 148-156, hier 149. 83 | Czollek, Leah Carola; Perko, Gudrun; Weinbach, Heike: Lehrbuch Gender und Queer: Grundlagen, Methoden und Praxisfelder. Weinheim; München 2009, 18. 84 | Nur paradigmatisch seien einige Veröffentlichungen genannt, die interdisziplinäre Beiträge beziehungsweise Überblicke bieten: 2002 edierten Ingrid Bauer und Julia Neissl den Band »Gender Studies: Denkachsen und Perspektiven der Geschlechterforschung«, 2004 erschien der von Christel Balthes-Löhr und Karl Hölz herausgegebene Sammelband »Genderperspektiven interdisziplinär – transversal – aktuell«, 2011 publizierten Barbara Rendtorff, Claudia Mahs und Verena Wecker den Band »Geschlechterforschung. Theorien, Thesen, Themen zur Einführung«.
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1991 erschien in Deutschland das Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« der US-amerikanischen Philologin und Philosophin Judith Butler und löste spätestens seit der Diskussion um das Werk in der Zeitschrift »Feministische Studien« 1993 »einen Sturm der Entrüstung« aus, der »sich zu einem feministischen Generationenkonflikt entwickelte«.85 Judith Butler setzte sich am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere stark mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins auseinander und ist, neben der Foucaultschen Diskurstheorie und dem Derridaschen Denken der Differenz, von dieser aus zu verstehen. Sie ging einen Schritt weiter als ihre Vorgängerinnen und sah nicht nur in gender, sondern auch in sex, dem biologischen Geschlecht, eine soziale Konstruktion. Butler dekonstruierte nicht nur die Rollenzuschreibungen für Männer und Frauen, sondern die Gesamtheit aller mit Geschlechtlichkeit zusammenhängenden Aspekte und darüber hinaus den Feminismus und den Kampf gegen das Patriarchat. Bei Butler ist auffällig, wie stark sie sich in ihrem Werk auf die Sprachanalyse und die Macht der Sprache stützt: Sprache ist bei ihr nahezu ein Pendant zu »Recht« oder »Politik« und Trägerin der Macht, gesellschaftlich und kulturell determinierte Konstruktionen zu erstellen oder zu eliminieren. Butler greift das poststrukturalistische Denken im Zuge Foucaults auf und weist Diskursen die Bedeutungsmacht zu, Subjekte und Objekte, materielle Umwelt und Natur zu konstituieren. Die bis zu diesem Zeitpunkt angenommene Zweigeschlechtlichkeit wird von ihr ebenso bestritten wie das ontologische Sein von Subjekten in der Geschlechterdifferenz – all das sind diskursiv konstituierte Elemente. Neben dem eigenen gender, der eigenen Sexualität, sei auch die eigene Identität letztlich eine soziale, von außen an das »Ich« herangetragene Konstruktion, so Butler, wenn auch keine, die täglich wechsle. »Welche neue Form von Politik zeichnet sich ab, wenn der Diskurs über feministische Politik nicht länger von der Identität als gemeinsamer Grund eingeschränkt wird? […] Kann die feministische Theorie ohne ein in der Kategorie ›Frau(en)‹ bezeichnetes Subjekt auskommen?«86, fragte Butler in »Das Unbehagen der Geschlechter« und nahm damit die Kritik an ihrem Ansatz schon selbst im Vorfeld auf. Ihre Gegner_innen insistierten, dass es ohne kritisch agierendes Subjekt kein Handeln, kein Zusammen85 | Woltersdorff: Queer Theory, 920. 86 | Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991, 10 u. 12.
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gehen und keine Politik gebe.87 Zwar wurde die Möglichkeit, die in der Wahrnehmung von Identitätskategorien als normativ und damit repressiv für Minderheiten liegt, durchaus positiv in den Debatten um Butler, die Frage nach sex/gender und Identität gewertet, da kein »hegemoniale[r] Befreiungsdiskurs« geführt werden sollte, »der andere Kulturen und Kontexte möglicherweise durch die Art von offerierter ›Befreiung‹ erst recht unterdrückt.«88 Aber in Deutschland überwog das Unbehagen an Butler, ein Umstand, der nach Inge Stephan, einer der Mitbegründerinnen der Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität, darauf zurückzuführen ist, dass in Deutschland nach der »Wende« und dem Zusammenbruch des »Ostblocks« besonders sensibel auf die Infragestellung von Identität reagiert wurde, da man seinerseits auf der existentiellen Suche nach Orientierungen – und damit Identität – gewesen sei.89 Die deutschen Feministinnen ebenso wie die Schwulen und Lesben klammerten sich demnach an Identitäten – und reagierten massiv kritisch auf deren Dekonstruktion. Butler dagegen setzt auf die hohe, auch politische Sprengkraft der individuellen und subversiven »Performance«, um klassische Rollenbilder zu untergraben und Veränderungen herbeizuführen. Ihr Konzept, so Butler, unterminiere die gender-Normativität und biete breiten Raum für alle gesellschaftlichen Minderheiten. Butlers Ansatz war gegen jede Form der Einschränkung der »individueller Performance« und der gender-Non-Normativität gerichtet, wobei sie mit der Vorstellung der Performance beziehungsweise der performativen Effekte, die erst durch Handeln entstehen, das in die Soziologie aufgenommene Schlagwort »Doing Gender« entwickelte: Geschlecht ist kein Sein, sondern Handeln. »Man könnte es auf die Formel bringen: es gibt kein Geschlecht, außer man tut es.«90
87 | Vgl. Villa, Paula-Irene: Poststrukturalismus: Postmoderne + Poststrukturalismus = Postfeminismus? In: Becker; Kortendiek: Handbuch, 234-238, besonders 237f. 88 | Ladner, Gertraud: Befreiung ohne Subjekt? Judith Butler feministisch-theologisch gegengelesen. In: Schlangenbrut 22 (2004), Hf. 86, 15-19, hier 19. 89 | Stephan, Inge: Gender, Geschlecht und Theorie. In: Braun, Christina von; Stephan, Inge (Hg.): Gender Studies: Eine Einführung. Stuttgart 2000, 63-70. 90 | Woltersdorff, Queer Theory, 918.
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Mit diesem Ansatz hat Judith Butler zwar »den Begriff ›queer‹ nicht erfunden – aber beinahe«,91 wie es zu Recht in der Überschrift eines Interviews mit ihr heißt. Der Terminus queer, der in den 1980er Jahren vereinzelt als Eigenbezeichnung von Schwulen und Lesben in den USA verwendet wurde, kam 1991 erstmalig in dem heute verstandenen Sinne durch Teresa de Lauretis auf.92 Aus den zahlreichen Definitionen von queer sei an dieser Stelle die der Aufsatzsammlung »Queering Paradigms« genannt: »In contemporary human right’s activism and scholarship, the usage of the term ›queer‹ indicates much more than just the 1980’ re-appropriation of a hightly pejorative term used for homosexuals; […] at the beginning of Queer Theory, the choise of the term ›queer‹ points to an underlying challenge to the view that lesbian, gay, bisexual and transgender (LGBT) as well as intersex people solely form a minority to the heterosexual essence of humanity […]. In contrast to this ›minoritizing view‹, Queer Theory challenges the prevailing ›heteronormativity‹ […] – i.e. the hegemonic discourse of assumption of heterosexuality – by fundamentally drawing into question any assumed identitarian stability of gender and sexuality. Instead, queer thought stresses the universal fluidity of gender and sexuality and their performativity (in the sense elaborated by Judith Butler) – through constant constructive reinvention through intentional or non-intentional performance of identity.« 93
In queer theory wird also ebenso wie bereits von Judith Butler veranschlagt von keiner feststehenden Identität des Individuums ausgegangen, sondern von der Performance und Gestaltbarkeit von Identität. Zu diesem Ausgangspunkt und den sich daraus ergebenden Implikationen sowie philosophischen, kulturellen, literarischen und gesellschaftspolitischen Aspekten ist seitdem eine nahezu unüberschaubare Zahl von Publikationen besonders im anglo-amerikanischen Raum erschienen.94 Vor diesem Hintergrund impliziert der Begriff queer theory gleichermaßen eine breite akademische 91 | Art.: Wer hat Angst vor Judith Butler? Interview. In: L.MAG (2010), Hf. Juli/ August, 30f., hier 30. 92 | Czollek, Perko, Weinbach: Lehrbuch, 33. 93 | Scherer, Burkhard: Introduction: Queering Paradigms. In: Scherer, Burkhard (Ed.): Queering Paradigms (I). Oxford; Bern; Berlin 2010, 1-7, hier 1. 94 | Einen Überblick über Kumulationspunkte der (literarischen) Debatten um queer bietet: Kemp: Queer Past.
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und literarische Debatte. Wie schon angesprochen mündete diese Debatte in Deutschland allerdings nicht in eine Bewegung beziehungsweise entstand nicht aufgrund einer eigenständigen queer-Bewegung. Dass aber queer-Konzepte die Tendenz haben, sich zu Protestbewegungen umzubilden (und damit die proklamierten Nicht-Identitätszuschreibungen selbst zu unterlaufen) beziehungsweise von Protestbewegungen vereinnahmt werden, zeigen unter anderen die drei Richtungen, die die Queer Studies in Deutschland herausgebildet haben: 1. Der queer-Feminismus, der sich auf feministische Theorien bezieht, 2. Das Verständnis von als Synonym für schwul/lesbisch/ bisexuell und 3. Die Gleichsetzung von queer mit »transgender«, das heißt dem menschlichen Leben jenseits der binären Geschlechterordnung oder entgegengesetzt zu dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht.95 Es ist deutlich, dass die beiden erstgenannten Richtungen sich stark an die feministische beziehungsweise die homosexuelle Bewegung anlehnen, speziell auf diese rekurrieren und hier »Koalitionen« eingehen beziehungsweise von diesen Bewegungen adaptiert werden. Allerdings sind die Ausdifferenzierung von queer theory und das Potential von queer bei weitem umfassender als die bisherige schwache Ausbildung zu einer Bewegung in Deutschland vermuten lässt: queer kann und wird als Korrektivkategorie in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen herangezogen, so wie es vordem die Kategorie gender war. Queer theory bildet Schwerpunkte, zum Beispiel die »Queer of Color-« oder die »Queer Diaspora Critique«, weiterhin die »Queer Disability-Studies« und die »Transgender Studies«. Eine besondere Affinität von queer und Intersektionalität ist gegeben – auf diesem Forschungsfeld beginnen die Untersuchungen derzeit erst.96 Die Offenheit, die durch queer hinsichtlich von Körperzuschreibungen gegeben ist, lässt die Thematisierung von Intersexualität und ihrer gesellschaftlichen, rechtlichen und medizinischen Diskriminierungen zu, die erst seit kurzer Zeit in ihrer Problematik gesellschaftlich begonnen wird wahrzunehmen. Der Deutsche Ethikrat veröffentlichte im Februar 2012 eine Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen, in der die Auffassung vertreten wird, »dass intersexuelle 95 | Czollek, Perko, Weinbach: Lehrbuch, 34-36. 96 | Vgl. Dietze, Gabriele; Yekani, Elahe Haschemi; Michaelis, Beatrice: »Checks and Balances«: Zum Verhältnis von Intersektionalität und queer theory. In: Wagenbach, Katharina; Dietze, Gabriele; Hornscheidt, Lann; Palm, Kerstin: Gender als interdependente Kategorie: Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen; Berlin; Toronto 22012, 107-139.
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Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen.«97 Queeramnasty, die seit 2011 umbenannte ehemalige Arbeitsgruppe »Menschenrechte und sexuelle Identität« (!) von Amnesty International, würdigte, dass in der Stellungnahme »die schweren Menschenrechtsverletzungen an einer Gruppe von Menschen erstmalig von einer regierungsnahen Institution benannt, anerkannt und dokumentiert werden.«98 Im Hinblick auf diese Thematik sind noch weitere Debatten und vor allem politisches Handeln sehr zu wünschen und zu hoffen. Neben der Intersexualität ist unter anderen Transsexualität Bestandteil von queer, und hier zeigt sich die Disparatheit der Problemlagen sehr deutlich: Während Intersexuelle ungewollte chirurgische Eingriffe im Hinblick auf die sexuellen Körpermerkmale ablehnen, wünschen und fördern Transsexuelle solche Eingriffe. Darüber hinaus geht es sowohl Intersexuellen als auch Transsexuellen zu einem gewissen Teil, wenn nicht gar im Ganzen um Identitätsfindung und -stärkung – in paradoxer Umkehrung zu dem Konzept, das diese Gruppen eint: queer theory.99 Die Gemengelagen sind in der Praxis äußerst komplex und verlaufen häufig diametral zu dem Theoriekonzept von queer. Die Kritik an queer, so differenziert im Einzelnen, ist ähnlich gelagert wie die an Butlers Genderkonzept und fokussiert die Frage nach Identität. Zum Beispiel hebt der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Lee Edelman in seiner 2004 erschienenen Abrechnung mit queer, »No Future«, hervor: »Queerness can never define an identity; it can only ever disturb one.«100 Da laut Edelmann queer nur in Verneinung oder Negation bestehe und keine Identität vorausgesetzt werde, könne auch keine Opposition zu einer Identität entstehen. 97 | Art.: Intersexualität, www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/intersexualitaet (Zugriff: 6.7.2012). 98 | Art.: Intersexualität und Menschenrechte: Stellungnahme von Queeramnesty zu den Empfehlungen des Deutschen Ethikrats vom 7.3.2012, www.mersiamnesty.de/index.php?m=6&id=266&year=2012&bereich=ar tikel&UID=fov6 4i8n2ac14ofb39q0v9kl50&UID=fov64i8n2ac14ofb39q0v9kl50 (Zugriff: 7.7. 2012). 99 | Butler, Judith: Gemeinsam handeln (2004). In: Ankele (Hg.): absolute Feminismus, 195-209, hier 197f. 100 | Edelman, Lee: No Future. Queer Theory and the Death Drive. Durham 2004, 17.
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Nun ist aber queer »eine Art, Macht infrage zu stellen, Machtstrukturen zu verändern und ihre Widersprüche aufzudecken, indem andere Lebensformen eingefordert werden. Und zwar gewaltfrei, in Verbindung mit anderen und ungezähmt«, so Judith Butler in einem Interview im Jahr 2010. queer hat also ein zutiefst politischen Anspruch und »findet innerhalb von Machtstrukturen statt«, so Butler weiter, »und ist daher potenziell überall zu finden.« Derartige Aussagen führen zwar ins Unpräzise, stellen allerdings auch das Potential heraus, das dem Konzept innewohnt: »Queer ist eine um Bündnisse bemühte Politik, die über Identitätspolitiken weit hinausgeht. In diesen Bündnissen geht es darum, eine Opposition zu bilden gegen ungerechte, pathologisierende Machtverhältnisse, Rassismus und Staatsgewalt. Unabhängig davon, ob alle Mitglieder dieses Bündnisses miteinander auf jeder Ebene übereinstimmen. Es ist eine Oppositionsbewegung, natürlich, aber eine, deren Werte sich innerhalb unserer Gesellschaft auf effektive Art und Weise vermehren.«101
Obwohl Butler von Oppositionsbewegung spricht, ist hier letztlich eine oppositionelle Mentalität gemeint, eine »Regenbogenkoalition«, aber keine soziale Bewegung. An diesem Punkt setzt die Frage an, deren Beantwortung im Hinblick auf queer sich erst noch herauskristallisieren wird: Werden zukünftig politische Mentalitätsgefüge traditionelle soziale Bewegungen ablösen oder werden sie neue soziale Bewegungen hervorbringen? Aufgrund der globalen und medialen Vernetzung in der Gegenwart und des wahrscheinlich zunehmenden Einflusses von internationalem queerem Aktionismus auf Deutschland ist ersteres durchaus denkbar, wäre allerdings ein der Globalisierung geschuldetes Novum sozialer Gemengelagen. Mit der anderen Variante, dem Hervorgehen einer neuen sozialen Bewegung aus einer Mentalitätslage, ist zumindest für Deutschland in absehbarer Zeit kaum zu rechnen, da hier die Bündelungsenergie für eine queere Bewegung im Moment nicht erkennbar ist. Allerdings ist anzumerken, dass die Vorlaufzeit von sozialen Bewegungen durchaus auch recht kurz sein kann. 101 | Wer hat Angst, 31. Vor diesem Hintergrund ist Butler eine Gegnerin der Homo-Ehe, die unmittelbar die »Vielfalt der Beziehungsformen« und »andere radikale Bewegungen […], die neue sexuelle Beziehungsformen entwickeln« gefährde, denn »wir müssen weiterhin über Beziehungsformen außerhalb der Institution Ehe und Familie nachdenken«, ebd.
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Auf jeden Fall werden beide Varianten zukünftiger Entwicklungen das repräsentieren, was dieser Abriss zur Geschichte des gender turn zum Ausdruck bringen will: Wird gender turn nicht als theoretisches Konzept, sondern umfassender verstanden, so ist gender turn eine rigorose Umwälzung im Denken über Geschlechtlichkeit und im Handeln in Geschlechtlichkeit, die bereits die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend prägte. Selbst unter Voraussetzung einer an gender- und queer-Fragen wenig interessierten Öffentlichkeit in Deutschland ist evident, dass gender turn auch in Zukunft eine große Rolle im gesellschaftlichen, sozialen und politischen Leben spielen wird – oder, dass die Gesellschaft, das soziale Leben und die Politik eine große Rolle in einer weiteren Entwicklung umfassender Veränderung im Denken über Geschlechtlichkeit und im Handeln in Geschlechtlichkeit spielen werden.
L ITER ATUR Ankele, Gudrun: Auflösungen und neue Gemeinschaften: Wie zusammen leben? In: Ankele, Gudrun (Hg.): absolute Feminismus. Freiburg 2010, 148-156. Antrag vom 17.12.2008 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag auf Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten. Drucksache 16/11440, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/ 16/114/1611440.pdf (Zugriff: 1.3.2012). Art.: Eklat bei Christopher Street Day: Butler lehnt Preis ab. In: Spiegel online vom 19.6.2010, www.spiegel.de/panorama/eklat-bei-christopherstreet-day-butler-lehnt-preis-ab-a-701729.html (Zugriff: 2.3.2012). Art.: Intersexualität und Menschenrechte: Stellungnahme von Queeramnesty zu den Empfehlungen des Deutschen Ethikrats vom 7.3.2012, www.mersi-amnesty.de/index.php?m=6&id=266&year=2012&bereich=artikel&UID=fov64i8n2ac14ofb39q0v9kl50&UID=fov64i8n2ac 14ofb39q0v9kl50 (Zugriff: 7.7.2012). Art.: Intersexualität, www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/intersexualitaet (Zugriff: 6.7.2012). Art.: Kristina Schröder im Interview mit dem »SPIEGEL« am 8.11.2010, www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gleichstellung,did=164220.html (Zugriff: 2.2. 2012).
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Trans* In Sexualwissenschaft und Recht vor Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes Adrian de Silva
1. E INLEITUNG Transpersonen1 stellten eine Irritation dar in einer Geschlechterordnung, die auf dem Prinzip basierte, dass das Geschlecht eines Menschen unveränderbar sei. Auf der Grundlage sexualwissenschaftlicher und juristischer Fachartikel sowie veröffentlichter Gerichtsentscheidungen geht es in diesem Artikel um Konstruktionen von Transsexualität und damit auch implizit um die Herstellung von Geschlecht und Sexualität in der Sexualwissenschaft und im Recht in der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit unmittelbar bevor das Transsexuellengesetz (TSG) 1981 in Kraft trat. Im Vordergrund steht hierbei die Frage, wie im genannten Zeitraum das Verhältnis von Trans* zu hegemonialen Geschlechtern in Medizin und Recht hergestellt wurde unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen den beiden normgebenden Bereichen. Hierzu wird zunächst am Beispiel von klinischen Bildern, Differentialdiagnostik und Behandlungsprogramm die Konstruktion des sexualwissenschaftlichen transsexuellen Subjekts skiz1 | Transpersonen sind hier definiert als Individuen, die die Geschlechtszuweisung als »männlich« oder »weiblich« zum Zeitpunkt der Geburt als nicht bindend oder lebbar empfinden und unter anderem mit oder ohne medizinische und/oder chirurgische Interventionen als »Mann« oder »Frau« leben, sich weder als »Mann« oder als »Frau« hinreichend beschrieben fühlen oder sich als keines der beiden rechtlich legitimierten Geschlechter verorten und sich dabei selbst übergangsweise, gelegentlich oder permanent als Trans* verstehen.
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ziert. Anschließend untersuche ich die Dynamik zwischen Recht und Medizin. Schließlich werden rechtliche Konstruktionen des transsexuellen Subjekts am Beispiel ausgewählter veröffentlichter Gerichtsurteile analysiert. Hierbei ist festzustellen, dass die sexualwissenschaftliche Konstruktion von Transsexualität nicht nur die Ränder des Geschlechterregimes neu organisierte. Vielmehr trug sie weiterhin zur Normalisierung konventioneller Formen der Vergeschlechtlichung bei. Des Weiteren übernahm das Recht sexualwissenschaftliche Erkenntnisse zeitlich und regional ungleichmäßig. Dies hing nicht nur mit formal-juristischen Voraussetzungen zusammen, sondern auch mit präferierten Werten der Gerichte. Insgesamt wird deutlich, dass eine Veränderung des Geschlechtsstatus nur zu Konditionen erfolgen durfte, wenn sie weder die heterosexuelle noch zweigeschlechtliche Hegemonie in Frage stellte.
2. D AS SE XUALWISSENSCHAF TLICHE TR ANSSUBJEK T IN DEN 1970 ER UND FRÜHEN 1980 ER J AHREN 2.1 Zur Konstruktion des transsexuellen Subjekts als eine klar abgegrenzte Kategorie Trotz lückenhaften Wissens über Trans* und teils widersprüchlicher klinischer Beobachtungen waren die 1970er und frühen 1980er Jahre gekennzeichnet von dem Auftreten eines deutlich abgegrenzten transsexuellen Subjekts. Ausgehend von dominanten klinischen Bildern und der Differentialdiagnose des Transsexualismus ist festzustellen, dass die Spezifikation von Transsexualität zwei Effekte hatte: Erstens wurden dem transsexuellen Subjekt spezifische Merkmale zugewiesen. Zweitens wurde Transvestitismus in eine sexuelle Kategorie umdefiniert. Alle sexualwissenschaftlichen Ansätze in den 1970er Jahren definierten Transsexualität als eine vollständig transponierte Geschlechtsidentität, die bei Männern und Frauen auftritt. Das heißt, eine transsexuelle Person mit einem als männlich definierten Körper empfindet sich als Frau und ein transsexuelles Individuum mit einem als weiblich bezeichneten Körper versteht sich als Mann.2 2 | Vgl. Eicher, Wolf: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte bei fehlerhafter Geschlechtsentwicklung. In: Gynäkologe 9/1976, 42; Sigusch, Volkmar;
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In klinischen Bildern wurde Transsexualität zumeist beschrieben als eine lineare und fortschreitende Entwicklung einer gegengeschlechtlichen Identifizierung von frühem Kindesalter an.3 Diese manifestiere sich durch das Anlegen von Kleidung, das nach kulturellen Konventionen dem anderen der zwei gesellschaftlich legitimierten Geschlechter vorbehalten war. Dieses Phänomen wird auch als cross-dressing bezeichnet. Des Weiteren wurde transsexuellen Individuen nachgesagt, dass sie stereotypes Verhalten nachahmten sowie die Geschlechterrolle, den Sprachgebrauch und die Gestik des so genannten »anderen« Geschlechts annähmen.4 Sexualwissenschaftlern zufolge präsentierten sich transsexuelle Individuen in ärztlichen Sprechstunden als Personen, die sich als im falschen Körper lebend empfinden.5 Ihnen wurde zugeschrieben, dass sie mit großer Hartnäckigkeit danach strebten, ihren Körper mit seinen verhassten Attributen loszuwerden6 und mit »Hass und Ekel« auf die kulturell bedeutsamsten geschlechtsspezifischen Merkmale reagierten.7 Etliche Sexualwissenschaftler beobachteten psychologische Begleiterscheinungen bei transsexuellen Personen, wie zum Beispiel SuchtverMeyenburg, Bernd; Reiche, Reimut: Transsexualität. In: Sigusch, Volkmar (Hg.): Sexualität und Medizin. Köln 1979, 250; Haynal, André: Geschlechtsidentität und ihre Störungen, in interdisziplinärer Kooperation brauchbare Modelle schaffen. In: Sexualmedizin 3/1974, 111; Schorsch, Eberhard: Phänomenologie der Transsexualität, Therapie: Geschlechtsumwandlung ohne Alternative. In: Sexualmedizin 3/1974, 195; Eicher, Wolf; Spoljar, Marijan; Murken, Jan-Diether; Richter, Kurt; Stengel-Rutkowski, Sabine; Cleve, H.; Martin, F.: Transsexualität und Intersexualität. In: Sexualmedizin 1/1980, 12. 3 | Vgl. König, Peter; Grünberger, Josef: Merkmale der transsexuellen Persönlichkeit, Psychiatrische und psychometrische Befunde. In: Sexualmedizin 9/1977, 734; Eicher, Wolf; Herms, Volker: Geschlechtsidentität bei Transsexuellen. In: Vogt, Hermann-J.; Eicher, Wolf (Hg.): Praktische Sexualmedizin 77. Wiesbaden 1978, 36. 4 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 195; Sigusch et al.: Transsexualität, 251. 5 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 195; Eicher: Geschlechtsidentität, 43; Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 42; Kockott, Götz: Psychologische, soziale und juristische Probleme beim Transsexualismus. In: Vogt, Hermann-J.; Eicher, Wolf (Hg.): Praktische Sexualmedizin II. Wiesbaden 1978, 50. 6 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 195. 7 | Vgl. Sigusch et al.: Transsexualität, 251.
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halten8 oder Depressionen.9 Die meisten Sexualwissenschaftler führten Depressionen auf die vulnerable gesellschaftliche Situation zurück, in denen sich transsexuelle Individuen befanden.10 Sigusch, Meyenburg und Reiche jedoch, dessen Verständnis von Transsexualität und Behandlungsprogramm großen Einfluss nehmen sollte, betrachteten transsexuelle Individuen per se als zutiefst gestört. In dem Elften ihrer zwölf Leitsymptome beschrieben sie transsexuelle Personen als »kühl-distanziert und affektlos, starr, untangierbar und kompromisslos, egozentrisch, demonstrativ und nötigend, dranghaft besessen und eingeengt, merkwürdig uniform, normiert und durchtypisiert.«11 Während sexualwissenschaftliche Prämissen Transsexualität – wie eingangs erwähnt – als eine geschlechtliche Möglichkeit verstehbar werden ließ, so markierten Sexualwissenschaftler sie als eine abweichende Form des geschlechtlichen Selbstverständnisses in Relation zu weiblichen Personen, die sich als Frauen identifizierten und männlichen Personen, die sich als Mann verstanden. Obwohl die Sexualwissenschaft der Ansicht war, dass es kein sicheres Kriterium für das Geschlecht eines Menschen gibt, ist sie jedoch sehr wohl von einer Vorstellung vermeintlich normaler Geschlechter ausgegangen. Diese Vorstellung manifestierte sich unter anderem in der Pathologisierung und Totalisierung von Transsexualität, wie etwa in den Leitsymptomen.12 Trotz gelegentlicher Berichte über Mann-zu-Frau-Transindividuen, die gleichgeschlechtlich sexuell verkehrten,13 wurde die sexuelle Orientierung von transsexuellen Personen grundsätzlich als heterosexuell beschrie-
8 | Vgl. König: Merkmale der transsexuellen Persönlichkeit, 735. 9 | Ebd., Kockott: Psychologische, soziale und juristische Probleme, 49; Spengler, Andreas: Kompromisse statt Stigma und Unsicherheit, Transsexuelle nach der Operation. In: Sexualmedizin 3/1980, 102. 10 | Vgl. König: Merkmale der transsexuellen Persönlichkeit, 735; Kockott: Psychologische, soziale und juristische Probleme, 49; Spengler: Kompromisse, 102. 11 | Sigusch, Volkmar et al., Transsexualität, 252. 12 | Sigusch revidierte 1991 die von ihm, Meyenburg und Reiche verfassten Leitsymptome. Vgl. Sigusch, Volkmar: Die Transsexuellen und unser nosormorpher Blick, Teil II: Zur Entpathologisierung des Transsexualismus. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 4/1991, 307-343. 13 | Vgl. Eicher: Geschlechtsidentität, 40.
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ben.14 Durch eine Differentialdiagnostik, die Transsexualität bei männlichen Personen und Homosexualität, insbesondere feminine Varianten männlicher Homosexualität voneinander trennte, erwuchs mitunter auch der Zwang unter transsexuellen Personen, die medizinische und chirurgische Behandlungen anstrebten, sich während der Diagnostik als heterosexuell zu präsentieren. Mit wenigen Ausnahmen wurden medizinische und chirurgische Interventionen die Methode der Wahl in der Behandlung von transsexuellen Individuen. Während Haynal überzeugt war, dass transsexuelle Individuen erfolgreich therapiert werden könnten,15 war die Mehrheit westdeutscher Sexualwissenschaftler der Auffassung, dass geschlechtsangleichende Maßnahmen die einzige effektive Methode war, um Individuen mit einer »irreversibel transponierten Geschlechtsidentität« zu behandeln.16 Eicher und Herms betonen, dass ihrer klinischen Erfahrung nach jede andere bekannte Methode verheerende Effekte hätte, bis hin zum Tod durch Suizid.17 Während es weitgehend Einigkeit unter Sexualwissenschaftlern in den 1970er Jahren gab, dass chirurgische Maßnahmen die beste verfügbare Behandlung darstellte,18 waren die Befürworter der chirurgischen Route ihr gegenüber zugleich reserviert. Sigusch, Meyenburg und Reiche beispielsweise sprechen in ihrer Abhandlung zur Transsexualität von einer »Notfalltherapie«.19 Sexualwissenschaftler, welche den chirurgischen Behandlungsweg befürworteten, waren sich im Wesentlichen darüber einig, dass die Behandlung aus gegengeschlechtlichen Hormonen und Chirurgie bei erwachsenen Männern mit weiblichen Körpern und erwachsenen Frauen mit männlichem Körper bestehen sollte, vorausgesetzt, es lägen keine ernsthaften Kontraindikationen vor. Allerdings unterschied sich das Ausmaß der als erforderlich betrachteten medizinischen, chirurgischen und 14 | Ebd., 44; Sigusch et al.: Transsexualität, 252. 15 | Vgl. Haynal: Geschlechtsidentität und ihre Störungen, 114. 16 | Eicher: Geschlechtsidentität, 45. 17 | Vgl. ebd., 44. 18 | Vgl. Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 4; Spengler: Kompromisse, 103; Schorsch: Phänomenologie, 197; Richter, Kurt: Die Geschlechtskonversion, Endokrinologisch-chirurgische Angleichung bei Transsexualität. In: Sexualmedizin 11/1977, 913. 19 | Sigusch et al.: Transsexualität, 289.
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sonstigen therapeutischen Interventionen je nach Programm des jeweiligen Krankenhauses.20 Westdeutsche Ärzte und Psychologen traten für eine Zusammenarbeit in multidisziplinären Teams ein.21 Schorsch beispielsweise schlug ein Team vor, dass mit psychologischen, psychiatrischen, gynäkologischen, plastisch-chirurgischen, endokrinologischen und urologischen Fachkräften besetzt sein sollte.22 Wie die Aufstellung des medizinisch-psychiatrischen Teams ahnen lässt, ging der Behandlung von transsexuellen Individuen ein gründliches und langwieriges diagnostisches Programm voraus. Sigusch, Meyenburg und Reiche unterteilten beispielsweise den diagnostischen Prozess in psychosoziale Untersuchungen und Psychotherapie, körperliche Untersuchungen und eine Untersuchung durch einen zweiten Experten, wobei jeder Aspekt wiederum zahlreiche weitere Untersuchungen nach sich zog.23 20 | Im Gegensatz zu Sigusch, Meyenburg und Reiche etwa, die Lösungen mit so wenigen chirurgischen Interventionen wie möglich anstrebten (Sigusch et al.: Transsexualität, 298), befürworteten Eicher und Richter, so erforderlich, maximale Chirurgie (Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 43; Richter, Kurt: Die endokrinologisch-chirurgische Angleichung. In: Vogt, HermannJ.; Eicher, Wolf (Hg.): Praktische Sexualmedizin 77. Wiesbaden 1978, 57; Richter: Die Geschlechtskonversion, 914). Einig waren sich Sexualwissenschaftler jedoch darüber, dass eine Phalloplastik bei Frau-zu-Mann Transsexuellen auf Grund der wenig ausgereiften chirurgischen Methoden nicht gefordert werden könne (Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 43; Richter: Die Geschlechtskonversion, 914; Richter: Die endokrinologisch-chirurgische Angleichung, 58). 21 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 198; Richter: Die Geschlechtskonversation, 913; Kockott: Psychologische, soziale und juristische Probleme, 49. 22 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 198. 23 | Hierbei beinhaltete das psychosoziale Programm eine sechsmonatige psychiatrische Untersuchung, die darauf hinweisen sollte, ob das Individuum sich eher für eine geschlechtsangleichende Behandlung oder für eine Psychotherapie eignet und Transvestitismus, Borderline-Pathologien und Psychosen ausschließen sollte (Sigusch et al.: Transsexualität, 289). Darüber hinaus wurde eine Anamnese erhoben und die Eltern oder andere eng verwandte Personen, die den Patienten/die Patientin in früher Kindheit begleiteten, befragt. Auf der Basis dieser Untersuchungen wurde das Individuum entweder zu einer analytischen
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Eicher entwickelte ein ähnlich extensives und zeitraubendes Behandlungsprogramm. Dabei sollten die vorangestellten Untersuchungen und Gespräche Ärztinnen und Ärzte dazu befähigen zu entscheiden ob 1. der Patient/die Patientin ein Kandidat/eine Kandidatin entweder für Psychotherapie oder geschlechtsangleichende Chirurgie sein soll; 2. ob der Patient/die Patientin wirklich motiviert war. Unter »echter Motivation« verstand Eicher, dass der Patient/die Patientin keinerlei Ambivalenz oder vorübergehende, situationsbezogene Identifikation mit dem Geschlecht zeigen sollte, als dass er oder sie anerkannt werden wollte. Drittens sollte der Arzt/die Ärztin entscheiden können, ob der Patient/die Patientin psychotisch ist, wobei dieses ein Ausschlusskriterium gewesen wäre. Schließlich sollte der Behandler/die Behandlerin antizipieren können, ob der Patient/die Patientin postoperativ in eine sozio-kulturelle Krise verfallen würde.24
2.2 Zur Redefinierung des Transvestitismus In den 1960er Jahren konzeptualisierten Sexualwissenschaftler Transsexualität auf einem Kontinuum mit Transvestitismus.25 Auf diesem Kontinuum von ungewöhnlichen Vergeschlechtlichungen stellte Transsexualität eine Extremform des Transvestitismus dar. In den 1950er Jahren wurden Psychotherapie weiterverwiesen oder an eine Therapie, die die Person während der Behandlung unterstützen sollte (ebd., 289-290). Die körperlichen Untersuchungen bestanden aus einer umfangreichen internistischen Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Merkmale, einem Blutbild, um Kontraindikationen auszuschließen und einem EKG und Röntgenaufnahmen des Thorax. Letztere dienten vor allem dokumentarischer Zwecke. Morphologisch weibliche Männer mussten sich zudem einer gynäkologischen Untersuchung unterziehen, um eine Schwangerschaft auszuschließen. Alle transsexuellen Individuen wurden endokrinologisch untersucht, unter anderem um Intersexualität, Hypogonadismus und Schilddrüsenerkrankungen auszuschließen. Diese Untersuchungen wurden gefolgt von genetischen Tests, um Intersexualität auszuschließen und neurologischen Tests, um Temporallappenerkrankungen auszuschließen (ebd., 294). 24 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 43. 25 | Vgl. Nevinny-Stickel, Josef; Hammerstein, Jürgen: Medizinisch-juristische Aspekte der menschlichen Transsexualität. In: NJW 1967, 665.
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transsexuelle Individuen gar als Transvestiten bezeichnet. Im Prozess der Abgrenzung der Transsexualität vom Transvestitismus jedoch wurde letzterer als ein Verkleidungsfetischismus umgedeutet und beides als separate Entitäten konzipiert. Sexualwissenschaftler beschrieben Transvestiten als gewöhnlich männliche Individuen, die Kleidung anlegten, die kulturell mit Frauen mit weiblichem Körper assoziiert werden zum Zwecke der sexuellen Erregung und Befriedigung.26 Anders als bei Mann-zu-Frau Transsexuellen wurde cross-dressing bei Transvestiten als ein temporäres Verhalten27 und insgesamt eher als ein Ausdruck von Sexualität als von Geschlecht betrachtet. Sexualwissenschaftler unterschieden auch zwischen Transsexualität und Transvestitismus auf der Basis des Alters, bei dem sie glaubten, dass sich so genanntes gegengeschlechtliches Verhalten zeigt. Wie zuvor am Beispiel des klinischen Bildes von Transsexualität erwähnt, sollte sich gegengeschlechtliches Verhalten und eine weibliche Identität bei Frauen mit männlichem Körper bereits in der frühen Kindheit manifestieren. Demgegenüber vertraten Sexualwissenschaftler in den 1970er Jahren die Auffassung, dass gegengeschlechtliches Verhalten bei Transvestiten zumeist ab der Pubertät auftritt.28 Das wichtigste Kriterium, wonach Sexualwissenschaftler zwischen Transsexualität und Transvestitismus unterschieden, war die jeweilige Einstellung zum Körper, insbesondere zu den Genitalien. Sexualwissenschaftler nahmen an, dass männliche transsexuelle Personen jedes als männlich konnotierte Attribut ihres Körpers ablehnen und sich an Ärzte und Ärztinnen wenden, um sie entfernen zu lassen,29 während dies nicht der Fall sei bei Transvestiten. Somit wurden insbesondere medizinische und chirurgische Interventionen zum definierenden Merkmal des Transsexualismus.
26 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 196; Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 43; Sigusch et al.: Transsexualität, 279. 27 | Vgl. Sigusch et al.: Transsexualität, 279-280. 28 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 196; Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 43. 29 | Vgl. Schorsch: Phänomenologie, 196; Eicher: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte, 43; Sigusch et al.: Transsexualität, 279.
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3. Z UM V ERHÄLTNIS VON M EDIZIN UND R ECHT ZU TR ANS* IN DEN 1960 ER UND 1970 ER J AHREN 3.1 Rechtliche Interpretationen medizinischer Konzepte von Geschlecht in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Das Recht der Bundesrepublik Deutschland enthält kein inhärentes und statisches Konzept von Geschlecht, der Anzahl von Geschlechtern oder von einem Zusammenhang zwischen Geschlecht und Vornamen. Vielmehr legen dies Rechtsprechung und rechtliche Kommentare fest. Diese wiederum verlassen sich auf medizinisches Wissen. Vom Recht wird erwartet, dass es medizinischen Fortschritt auf diesem Gebiet berücksichtigt.30 Wie ich im Folgenden an einigen Beispielen aufzeigen werde, war dieser Prozess in Bezug auf die Auffassung von Geschlecht und Trans* keineswegs reibungslos. In seinem Beschluss vom 07. Nov. 1957 zum Status einer Ehe zwischen zwei Personen des weiblichen Geschlechts, von denen sich eine nicht als Frau identifizierte, befand das Kammergericht, dass nach allgemeinem und unumstrittenen Verständnis die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen von ihrer oder seinen körperlichen Gegebenheiten abhinge.31 Das Kammergericht benannte Determinanten des Geschlechts und die Hierarchie der Bestandteile von Geschlecht in seinem Beschluss vom 11. Jan. 1965. Hier vertrat es die Auffassung, dass die Geschlechtszuweisung einer Person generell bestimmt sei von der äußeren körperlichen Konstitution, insbesondere von den äußeren Geschlechtsmerkmalen. Die psychische Einstellung sei hingegen nicht entscheidend.32 Das Kammergericht revidierte seine vorhergehende Auffassung in seiner bahnbrechenden Begründung zur Anerkennung des Geschlechts einer Transperson am 08. Sept. 1970. Auf der Grundlage eines Ausschnittes des einflussreichen Artikels der Mediziner Nevinny-Stickel und Hammerstein
30 | Vgl. Walter, Michael: Rechtliche Aspekte der Transsexualität. In: StAZ 5/1975, 120; Kammergericht: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 79-82. 31 | KG: 1 W 1840/57, Beschluss vom 07. Nov. 1957. In: FamRZ 2/1958, 60-61. 32 | KG: 1 W 2139/65, Beschluss vom 11. Jan. 1965. In: NJW 23/1965, 1084.
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in der Neuen Juristischen Wochenzeitschrift33 stellte das Gericht fest, dass es heutzutage als gesichertes medizinisches Wissen gelten könne, dass das Geschlecht eines Menschen nicht von der Konstitution der Geschlechtsorgane und geschlechtlicher Merkmale allein bestimmt sei, sondern auch von der Psyche.34
3.2 Rechtliche Interpretationen medizinischer Konzepte von Trans* in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft So wie Konzepte von Geschlecht in der Rechtsprechung variierten, so traf dies auch auf rechtliche Interpretationen medizinischen Wissens über Trans* zu. Hier unterschieden sich rechtliche Interpretationen von Trans* in einer Spannbreite, die von einer präzisen Wiedergabe neuester medizinischer Erkenntnisse reichte bis hin zu kreativen Lesarten, um es einmal diplomatisch zu formulieren. Der Rechtswissenschaftler Walter zum Beispiel fasste präzise das zeitgenössische Verständnis von Transsexualität zusammen, wie es zum Beispiel in den Publikationen des Sexualwissenschaftlers Schorsch (1974) erschien. Walter beschrieb transsexuelle Individuen als männliche oder weibliche Individuen, deren Geschlechtsidentität im Kontrast zu ihren physischen Gegebenheiten stünde und die daher ihre Körper als »Irrtum der Natur« betrachteten. Transsexuelle Individuen würden mit allen Mitteln versuchen, ihre körperliche Erscheinung an das empfundene Geschlecht anzupassen. Nach Walter war dieses Unterfangen nicht nur auf medizinische Aspekte beschränkt, sondern bezog sich auch auf die soziale Umwelt, insbesondere auf die Annahme angemessener Vornamen. Walter stimmte mit der verbreiteten sexualwissenschaftlichen Auffassung der Zeit überein und wies darauf hin, dass die einzige Heilung darin bestünde, den Wunsch nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen nach vorsichtiger Beobachtung nachzugeben, da Psychotherapie und gleichgeschlechtliche Hormontherapie bisher versagt hätten. Wie es auch sexualwissenschaftli-
33 | Nevinny-Stickel: Medizinisch-juristische Aspekte der menschlichen Transsexualität, 663/664. 34 | KG: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 81.
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che Veröffentlichungen taten, unterschied Walter zwischen Transsexualität und Transvestitismus.35 Das Oberlandesgericht Frankfurt hingegen interpretierte in den 1960er Jahren medizinisches Wissen fehl. In seiner Entscheidung vom 08. Dez. 1965 befand das Gericht zum Beispiel, dass die Vagina, die weiblichen Brüste und die hormoninduzierte psychologische Entwicklung des Antragstellers, das heißt einer post-operativen Transfrau, nur künstliche und nicht natürliche Gegebenheiten darstellten. Sie würden funktional nicht mit der inneren Geschlechtsdisposition korrespondieren.36 In einer späteren Entscheidung zur Geschlechtszugehörigkeit einer Transfrau befand das Gericht, dass er [sic!] sich ursprünglich psychologisch und später physisch mit dem weiblichen Geschlecht identifiziert hätte auf Grund der Hormonbehandlung und geschlechtsangleichender Chirurgie.37 Der Jurist Eberle entgegnete dieser Auffassung. Korrekt im sexualwissenschaftlichen Sinne der Zeit bemerkte er, dass geschlechtsangleichende Chirurgie keinen Bruch darstelle in dem Sinne, dass es nur möglich wäre, eine Person nach Operationen als transsexuell zu betrachten. Stattdessen wäre es die psychosexuelle Haltung, die einen Menschen transsexuell mache, unabhängig von medizinischen und chirurgischen Interventionen.38 Fehlinterpretationen, wenn nicht gar willkürliche Lesarten medizinischer Konzepte waren jedoch nicht nur auf die Rechtsprechung begrenzt. Vielmehr traten sie auch in rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen auf. Der leitende Regierungsdirektor Becker zum Beispiel gibt folgende Gründe für die Entwicklung des Transvestitismus in seinem Zeitschriftenartikel »Mann oder Frau? Rechtliche Probleme der Intersexualität« an: »Gründe des Transvestitismus sind sehr komplexer Art, ohne dass eine einhellige Meinung festgestellt werden kann. Bestimmend sind wahrscheinlich eine Überfunktion der Hypophyse, eine besondere Anlage in Verbindung mit speziellen 35 | Walter: Rechtliche Aspekte der Transsexualität, 117. 36 | Oberlandesgericht Frankfurt: 6 W 56/65, Beschluss vom 08. Dez. 08 1965. In: NJW 9/1966, 408. 37 | OLG Frankfurt: 6 W 311/68, Beschluss vom 14. Feb. 1969. In: NJW 36/1969, 339. 38 | Eberle, Arnulf: Ausfüllung einer Gesetzeslücke bei Transsexualismus durch progressive Rechtsfindung oder gesetzliche Fiktion? In: NJW 6/1971, 222.
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Umwelteinflüssen, eine Neigung zu Perversion, namentlich zu fetischistischen Interessen, ein Identifizierungskomplex, ein Narzissmus, aber auch Neurosen und der sogenannte Freud’sche Kastrationskomplex. Man unterscheidet zwischen permanenten und partiellen Transvestiten, wobei die Gruppen, mit denen es speziell die Polizeibehörden zu tun haben, meist die homosexuellen Transvestiten sind.« 39
Wie Eberle feststellt, wurden Transsexualität und Transvestitismus in Rechtsprechung und medizinischen Publikationen häufig und fälschlicherweise unter Intersexualität subsumiert.40 Abgesehen von der verwirrenden Verwendung von Kategorien, fabrizierte Becker weitere Ursachen von Transvestitismus, als es die Medizin ohnehin tat. Tatsächlich durchzieht ein unpräziser Gebrauch der Begrifflichkeit etliche medizinische und juristische Texte. Insbesondere trugen verschiedene medizinische Klassifikationen zur Verwechslung von Begriffen in der Rechtsprechung und in rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen bei. Carsten, zum Beispiel subsumierte Transsexualität unter Intersexualität41, wie dies auch Nevinny-Stickel und Hammerstein taten. Letztere klassifizierten männliche Transsexualität als psychische Intersexualität: »Die männliche Transsexualität ist eine äußerst seltene, offenbar genetisch verankerte Spielart der menschlichen Natur, die dem Formenkreis der Intersexualität zuzurechnen ist.«42 Bei einer weiteren Gelegenheit beschrieb ein medizinischer Experte die Antragstellerin als »echten Transvestiten«.43 Obwohl die Antragstellerin Merkmale manifestierte, die die medizinische Wissenschaft zu der Zeit mit Transsexualität assoziierte, entschied das OLG Frankfurt, den Antrag nicht als analog zu dem eines transsexuellen Individuums zu behandeln, da sie sich als Transvestit bezeichnete.44 39 | Becker, Walter: Mann oder Frau? Rechtsprobleme der Intersexualität. In: StAZ 7/1965, 191. 40 | Eberle: Ausfüllung einer Gesetzeslücke bei Transsexualismus, 222. 41 | Carsten: Zur Geschlechtszugehörigkeit von Intersexuellen. In: StAZ 4/ 1970), 107. 42 | Nevinny-Stickel: Medizinisch-juristische Aspekte der menschlichen Transsexualität, 666. 43 | OLG Frankfurt: 6 W 311/68, Beschluss vom 14. Feb. 1969. In: NJW 36/ 1969, 338. 44 | Ebd., 339/340.
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Medizinische und rechtliche Konzepte divergierten am meisten, wenn es um Transphänomene ging, die mit Sexualität assoziiert wurden. Dies traf besonders auf Transvestitismus zu, der sowohl in der Medizin als auch im Recht sexualisiert wurde. Rechtswissenschaftler stigmatisierten häufig Transvestitismus. Eberle zum Beispiel entwertete Transvestitismus deutlich, als er vorschlug, dass »[d]er bitterböse Makel der Perversität […] der Transsexualität anhaften [wird], solange sie noch in gleichen Atemzug mit dem Transvestitismus genannt wird«.45 Die Entwertung von Transvestitismus war noch auffälliger, wenn dieser mit Homosexualität in Verbindung gebracht wurde. Becker zum Beispiel nahm an, dass »[man] unter den heterosexuellen Transvestiten […] Angehörige aller Schichten [findet], wohingegen bei den homosexuellen Transvestiten die Debilen und Imbezillen [sic!] überwiegen, denen Kritikfähigkeit und Schamgefühl regelmäßig fehlen und die sich in den bekannten Transvestiten-Lokalen zusammenfinden«.46 Während Sexualwissenschaftler die Kriminalitätsrate von Transvestiten und transsexuellen Individuen mit ihrer jeweilig prekären gesellschaftlichen Situation erklärten,47 konstruierte Becker homosexuelle Transvestiten als per se kriminell: »Die kriminelle Anfälligkeit der Transvestiten ist erheblich größer, als dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht. Außer den Straftaten nach § 175 StGB findet man bei ihnen vor allen Dingen die kriminellen Handlungen des Diebstahls, Raubes und der Erpressung vor. Transvestitismus muss man als Erscheinung von Krankheitswert und Degeneration bezeichnen. […] Eine Resozialisierung ist, wie die Erfahrungen gelehrt haben, kaum möglich, weil Transvestiten meist einer regelmäßigen Arbeit nicht nachgehen und einen unsteten Lebenswandel führen.«48
45 | Eberle, Arnulf: Ungelöste Probleme der Transsexualität. In: Sexualmedizin 3/1974, 139. 46 | Becker: Mann oder Frau?, 191. 47 | Vgl. Kockott: Psychologische, soziale und juristische Probleme, 49. 48 | Becker: Mann oder Frau?, 191/192.
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4. R ECHTLICHE K ONSTRUK TIONEN VON G ESCHLECHT UND TR ANS* IN DEN 1960 ER UND 1970 ER J AHREN 4.1 Kontroversen über die staatliche Ordnung, Ehe und die gesellschaftliche Ordnung Ob ein Gericht entschied eine Berichtigung des Geschlechtseintrags und der Vornamen vorzunehmen, hing nicht nur von Interpretationen der formalen Gesetzeslage sowie der Einschätzung der jeweiligen Richter/innen ab, eine Rechtslücke füllen zu können. Vielmehr hing diese Entscheidung auch mit der Einschätzung des jeweiligen Gerichts ab, wie sehr dieser Vorgang zu einer Störung der staatlichen Ordnung, der Sitten und institutionalisierter Heterosexualität führen könnte. Hierbei unterschieden sich die Begründungen der Gerichte erheblich. Die Effekte auf die staatliche Ordnung wurden verschieden eingeschätzt und spiegelten sich in der Debatte über den Zweck des Personenstandsgesetzes49 wider. Im Falle einer postoperativen Transfrau ging das Landgericht Münster 1963 von der Prämisse aus, dass die menschliche Gemeinschaft und die staatliche Ordnung klare Personenstandsverhältnisse benötigen. Darunter gehört nach dem Gericht »die beweiskräftige Feststellung der familienrechtlichen Verhältnisse einer Person zu anderen lebenden Personen«.50 Das Gericht argumentierte, dass dies nicht der Fall sei, wenn die äußere Erscheinung eines Individuums, die Form seiner äußeren Geschlechtsorgane und die Stellung in der Gesellschaft, die daraus resultiere, dem Geschlecht widerspräche, das im Personenstandsregister vermerkt sei.51 In seiner Entscheidung vom 06. Dez. 1968 widersprach das Bundesverwaltungsgericht einer solchen Interpretation. In dem Falle eines Transvestiten, der seine Vornamen mit dem Namen »Maria« ergänzen wollte, zitierte das Gericht die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs vom 15. Apr. 1959. Jenes Gericht hatte vernehmen lassen, dass es der rechten 49 | Das Personenstandsgesetz regelt die Führung von Geburten-, Sterbe- und Familienbüchern. Bevor das Transsexuellengesetz (TSG) am 01. Jan. 1981 in Kraft trat, war das Personenstandsgesetz das einzige Instrument, welches das Prozedere zur Festlegung des Geschlechts eines Menschen verbindlich regelte. 50 | Landgericht Münster: 5 T 725/61, Beschluss vom 31. Jan. 1963. In: StAZ 9/1963, 250. 51 | Ebd.
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Ordnung, die durch Sitte und Moral gefestigt sei, widerspräche, wenn die Namensnennung nicht den allgemein akzeptierten »natürlichen« Begrenzungen folge.52 Das Gericht argumentierte, dass nur der Vorname des Individuums einen Hinweis auf das Geschlecht einer Person in den Ehe-, Familien- und Todesregistern gäbe, da das Personenstandsrecht nur die Eintragung des Geschlechts eines Kindes im Geburtenregister vorsehe.53 Gerichte waren sich auch nicht einig über die Implikationen einer Berichtigung der Vornamen und des Geschlechtsstatus eines verheirateten Individuums. Verteidiger eines Konzepts von Ehe als ein exklusives heterosexuelles Rechtsinstitut nahmen an, dass eine nunmehr gleichgeschlechtliche Ehe das traditionelle und verfassungsmäßig geschützte Konzept von Ehe als einer Vereinigung von Mann und Frau bedrohen würde. In seiner Entscheidung über eine Ehe zwischen zwei weiblichen Individuen, von denen eines sich nicht als Frau identifizierte und das Andere als Frau, befand das Kammergericht, dass die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen sich nach der physischen Konstitution richte, und zwar unabhängig von der Identität der Person. Daher erklärte das Gericht diese Vereinigung, die der Standesbeamte ursprünglich als Ehe eingetragen hatte, zur »Nicht-Ehe«.54 Im Gegensatz hierzu entschied zwei Jahrzehnte später das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg in einem Fall von zwei verheirateten Partnerinnen, von denen die eine postoperativ sich als Frau hatte anerkennen lassen, dass es keinen Grund für den Staat gäbe, die Lebensgemeinschaft von Menschen, die einst als Mann und Frau eine Ehe eingegangen waren und deren Partnerschaft nach der Transition eines Partners zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft wurde, nicht zu schützen. Das Gericht befand, dass solche Ausnahmefälle nicht das Bild der Ehe als eine Vereinigung von Frau und Mann in Frage stelle. Darüber hinaus wären die verfassungsrechtlich garantierten Rechte in Art. 2(1) in Verbindung mit Art. 1(1) GG als höher zu bewerten als potentielle Störungen der öffentlichen Ordnung und Irritationen und Schwierigkeiten, die sich dadurch für Behörden ergeben könnten.55 52 | Bundesverwaltungsgericht: VII C 33/67, Beschluss vom 06. Dez. 1968. In: NJW 19/1969, 858. 53 | Ebd. 54 | KG: 1 W 1840/57, Beschluss vom 07. Nov. 1957. In: FamRZ 2/1958, 61. 55 | Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg: 2 W 72/79, Beschluss vom 08. Apr. 1980. In: StAZ 9/1980, 245.
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Ob Gerichte bereit waren die Vornamen und die Geschlechtszugehörigkeit im Geburtenregister anzuordnen, hing auch davon ab, welchen Wert das entsprechende Gericht auf individuelle Rechte in Relation zur rechtlichen und gesellschaftlichen Ordnung der Zeit legte. In seinem Beschluss vom 08. Dez. 1965 zum Beispiel bestritt das Oberlandesgericht Frankfurt vehement, dass das Geschlecht einer postoperativen Transfrau sich geändert hätte. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass soziale und ökonomische Entwicklungen biologische Dispositionen berücksichtigten. Daher müsse die Bestimmung des Geschlechts eines Menschen diesen »natürlichen« Fakten Rechnung tragen. Letztere wären als höher zu bewerten, als individuelle Auffassungen.56 Nach der Auffassung des Gerichts stellten individuelle Geschlechterkonzepte eine Bedrohung für die rechtliche und soziale Ordnung dar: »Wollte man unabhängig davon die persönliche Einstellung allein für bestimmend halten, so könnte unsere Sitten- und Rechtsordnung vom Einzelnen beeinflusst werden, so lange die Unterscheidung der Menschen in solche weiblichen und männlichen Geschlechts unser Dasein in vieler Hinsicht beherrscht und aus der Vorstellung und dem Verhalten nicht wegzudenken ist. Man denke zum Beispiel an die Familie als Zelle unserer Gesellschafts- und Sozialordnung und an die Strafbestimmungen, die die Qualifizierung des Täters als Mann oder als Frau voraussetzen.« 57
Das Bundesverfassungsgericht jedoch sah in seiner Entscheidung vom 11. Okt. 1978 die Frage nach der gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung anders. Im Gegensatz zum Oberlandesgericht Frankfurt verstand das Gericht das Empfinden, sich einem bestimmten Geschlecht zugehörig zu fühlen und die Möglichkeit nach den Konventionen des erlebten Geschlechts zu leben als der Sphäre zugehörig, die »zum intimsten Bereiche der Persönlichkeit, der prinzipiell staatlichem Zugriff entzogen ist und in den jedenfalls nur bei Vorliegen besonderer öffentlicher Belange eingegriffen werden darf«.58 Die Achtung der Würde des Individuums entsprach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von der rechtlichen Ordnung. 56 | OLG Frankfurt: 6 W 56/65, Beschluss vom 08. Dez. 08 1965. In: NJW 9/1966, 408. 57 | Ebd. 58 | Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 16/72, Beschluss vom 11. Okt. 1978. In: StAZ 1/1979, 12.
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4.2 Kontroversen über Geschlechterkonzepte Gerichte, deren Verständnis von Geschlecht auf physischen Gegebenheiten beruhte, erkannten das Anliegen, den Geschlechtseintrag auch nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen an das gelebte Geschlecht anzupassen, nicht an. Höhere Gerichte in den 1960er Jahren entwerteten Transkörper und delegitimierten Transidentitäten. Das Kammergericht und das Oberlandesgericht in Frankfurt betrachteten Transgenitalien entweder als »körperliche Mißbildung«,59 »künstlich«60 oder »unecht«61 und die Transition von einem Geschlecht zum anderen entweder als unmöglich oder als einen Effekt willkürlichen Handelns: »Die durch die Nichtanerkennung des Antragstellers als Frau sich möglicherweise ergebenden seelischen Nöte sowie Schwierigkeiten in seinem gesellschaftlichen und beruflichen Leben können keine Berücksichtigung finden […] Er hätte sich vor der Operation Klarheit über die weittragenden Folgen seines freiwilligen Entschlusses verschaffen müssen.« 62
Im Gegensatz hierzu passten andere Gerichte wiederum ihr Konzept von Geschlecht an zeitgenössische medizinische Konzepte an, die Geschlecht als von multiplen Faktoren zusammengesetzt betrachteten. Diese sympathisierten in der Regel mit dem Anliegen der Transperson. Jedoch variierte der Stellenwert, dem der Psyche eingeräumt wurde gegenüber physischen Determinanten des Geschlechts. In seinem Beschluss vom 08. Sept. 1970 folgte das Kammergericht der Auffassung Nevinny-Stickels und Hammersteins (1967), die Transsexualität als eine psychische Form der Intersexualität betrachteten. Das Gericht entschied, dass psychologische Faktoren berücksichtigt werden sollten, wenn die »natürliche« physische Entwicklung Anlass gäbe, das »wahre« Geschlecht herauszufinden.63 Das Landgericht Münster und das Bundesverfassungsgericht jedoch betrachteten Interse59 | OLG Frankfurt: 6 W 56/65, Beschluss vom 08. Dez. 08 1965. In: NJW 9/1966, 407. 60 | Ebd. 61 | KG: 1 W 2139/65, Beschluss vom 11. Jan. 1965. In: NJW 23/1965, 1084. 62 | OLG Frankfurt: 6 W 56/65, Beschluss vom 08. Dez. 08 1965. In: NJW 9/1966, 409. 63 | KG: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 79.
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xualität und Transsexualität als getrennte Phänomene und körperliche und psychologische Aspekte des Geschlechts eines Menschen als gleichermaßen signifikant.64 Höhere Gerichte in den 1970er Jahren, die davon überzeugt waren, dass die Forderung der jeweiligen transsexuellen Person, die Vornamen und den Geschlechtseintrag im Geburtenregister geändert zu bekommen, berechtigt sei, diskutierten auch die Voraussetzungen für eine Anerkennung. Alle Gerichte beschäftigten sich, wenngleich in unterschiedlichem Maße, mit Fragen der Irreversibilität, geschlechtsangleichender Chirurgie und der Motivation für eine medizinische Geschlechtsangleichung. In seinem Vorlegungsbeschluss65 vom 08. Sept. 1970 befand das Kammergericht explizit, dass § 47(1) PStG anwendbar sei, wenn der Wechsel nicht auf dem willkürlichen Verhalten der Transperson beruhte.66 Das Kammergericht und das Bundesverfassungsgericht waren in den jeweiligen an sie herangetragenen Fällen davon überzeugt, dass der Wunsch der jeweiligen Antragstellerin67 als das so genannte andere Geschlecht leben zu wollen keineswegs willkürlich sei. Sie gelangten zu dieser Auffassung, weil medizinische Experten dieses bestätigt hatten.68 Sowohl das Kammergericht als auch das Bundesverfassungsgericht nahmen in ihren jeweiligen Fällen unter anderem geschlechtsangleichende Maßnahmen als Indiz für die Irreversibilität der Entscheidung der je-
64 | LG Münster: 5 T 725/61, Beschluss vom 31. Jan. 1963. In: StAZ 9/1963, 249; BVerfG: 1 BvR 16/72, Beschluss vom 11. Okt. 1978. In: StAZ 1/1979, 12. 65 | Das Kammergericht sah sich auf Grund des abweichenden Beschlusses des OLG Frankfurt vom 14. Feb. 1969 an seiner beabsichtigten Entscheidung gehindert und legte deshalb die sofortige Beschwerde dem Bundesgerichtshof vor. Vgl. KG: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 82. Obwohl der BGH mit dem Anliegen der antragstellenden Person sympathisierte, lehnte er aber eine Änderung des Geschlechtseintrags im Geburtenbuch mangels einer gesetzlichen Grundlage ab. Vgl. Bundesgerichtshof: IV ZB 61/70, Beschluss vom 21. Sept. 1971. In: FamRZ 2/1972, 82. 66 | KG: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 79. 67 | Unabhängig vom rechtlichen Geschlechtsstatus zum Zeitpunkt der Antragstellung gehe ich hier vom Identitätsgeschlecht aus. 68 | Ebd., 82; BVerfG: 1 BvR 16/72, Beschluss vom 11. Okt. 1978. In: StAZ 1/1979, 12.
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weiligen Antragstellerin als Frau zu leben.69 Das Bundesverfassungsgericht argumentierte folgendermaßen: »GG Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 gebietet es, die Eintragung des männlichen Geschlechts eines Transsexuellen im Geburtenbuch jedenfalls dann zu berichtigen, wenn es sich nach den medizinischen Erkenntnissen um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus handelt und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist.«70
5. S CHLUSSFOLGERUNGEN Sexualwissenschaft und Recht operierten (und operieren) zwar mit unterschiedlichen Parametern und entwickelten sich in Bezug auf Trans* in der Periode unmittelbar vor Inkrafttreten des TSG ungleichzeitig, wenn nicht gar bisweilen konflikthaft. Zugleich aber wirkten sich die sexualwissenschaftlichen und rechtlichen Konzeptualisierungen und Reglementierungen von Transsexualität im Verlaufe der 1970er Jahre einerseits stabilisierend aus auf heterosexuelle Normalität und das scheinbar kausale Verhältnis von einem als weiblich definierten Körper und der Identität als Frau beziehungsweise von einem als männlich definierten Körper und dem Selbstverständnis als Mann, andererseits minorisierend, wenn nicht gar ausschließend auf verschiedene Transphänomene. Die Vorstellung von der Veränderbarkeit des Geschlechts war in den 1970er Jahren fest in der Sexualwissenschaft verankert. Diese Vorstellung basierte auf der Prämisse, dass sich Geschlecht aus verschiedenen Faktoren zusammensetzt, wie etwa den Chromosomen, Gonaden, Hormonen, inneren und äußeren Genitalien sowie der Psyche. Wie Nevinny-Stickel und Hammerstein darlegten, sei Geschlecht derart komplex, dass es kein sicheres Kriterium für das »wahre« Geschlecht eines Menschen gäbe.71 Da eine Identität somit nicht zwangsläufig der Morphologie folgt, wird ein Phänomen wie Transsexualität erst konzeptualisierbar. 69 | KG: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 82; BVerfG: 1 BvR 16/72, Beschluss vom 11. Okt. 1978. In: StAZ 1/1979, 9. 70 | BVerfG: 1 BvR 16/72, Beschluss vom 11. Okt. 1978. In: StAZ 1/1979, 9. 71 | Nevinny-Stickel: Medizinisch-juristische Aspekte der menschlichen Transsexualität, 664.
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Zugleich ließ die Sexualwissenschaft in der prälegislativen Zeit keinen Zweifel daran, dass es sich bei Transsexualität um eine abweichende Form des geschlechtlichen Selbstverständnisses handelte im Vergleich zu so genannten Zissexuellen,72 die ihrerseits normalisiert wurden. Das heißt, obwohl die Sexualwissenschaft kein sicheres Kriterium für die Bestimmung des Geschlechts eines Menschen vorweisen konnte, ging sie jedoch deutlich von einer Vorstellung »normaler« Geschlechter aus, die sie zugleich auch verstärkte. Die Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland betrachtete transsexuelle Individuen als weitgehend homogen in dieser Zeit. Dies geschah, indem sie heterosexualisiert wurden, die Vorstellung des »falschen Körpers« verallgemeinert und Transsexualität als eine dauerhafte Disposition dargestellt wurde mit einer linearen und progressiven Entwicklung, die gewöhnlich bis weit in die frühe Kindheit zurückreichte. Transsexualität wurde nicht nur pathologisiert und medikalisiert. Vielmehr ließen dieses Konzept und insbesondere die gängigen Behandlungsprogramme keinen oder nur wenig Raum für Transsubjektivität und Selbstbestimmung. Die Herstellung klarer Grenzen zwischen Transsexualität und Transvestitismus machte diejenigen Individuen – in Butlers Worten73 – unintelligibel, welche die Zwischenbereiche der neu gefassten Kategorien von ungewöhnlich vergeschlechtlichten Individuen besiedelten. Subjekte wie etwa homosexuelle transsexuelle Individuen, transsexuelle Personen, die als das Geschlecht, mit dem sie sich identifizierten ohne oder mit nur geringen chirurgischen Interventionen zu leben wünschten, Transvestiten, die sich »gegengeschlechtlich« kleideten für andere als sexuelle Zwecke oder die wünschten, ihre Körper vorübergehend mit weiblichen Hormonen zu modifizieren, wurden unkonzeptualisierbar. Die Periode von den 1960ern und den späten 1970er Jahren im Recht war gekennzeichnet von einer allmählichen Verschiebung von einem rechtlichen Konzept von Geschlecht als angeboren und unveränderbar zu einem Verständnis von der Veränderbarkeit des Geschlechts. Diese Verschiebung hing im Wesentlichen damit zusammen, ob ein Gericht Ge72 | Unter Zissexualität ist die normalisierte und scheinbar natürliche Kongruenz von körperlichem Geschlecht und Geschlechtsidentität zu verstehen. Sigusch: Die Transsexuellen und unser nosormorpher Blick, 338. 73 | Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London 1990, 17.
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schlecht nach zeitgenössischem medizinischem Wissen definierte, das Geschlecht als ein Konglomerat etlicher Faktoren betrachtete, einschließlich der Psyche. Hierbei basierten Konzepte von Geschlecht in veröffentlichten Entscheidungen höherrangigerer Gerichte in den 1960er Jahren noch auf der Morphologie eines Menschen, insbesondere die Beschaffenheit der Genitalien zum Zeitpunkt der Geburt. Höherrangige Gerichte in den 1970er Jahren hingegen maßen der Psyche eine größere Bedeutung bei. Ungefähr ein Jahr bevor das Transsexuellengesetz im Parlament der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wurde, gewährte die Rechtsprechung eine Personenstandsänderung, wenn folgende konzeptuelle und prozedurale Aspekte zusammenfielen: Die Gerichte interpretierten § 47(1) PStG im Einklang mit Art. 2(1) in Verbindung mit § 1(1) GG; sie waren bereit eine gesetzliche Lücke per Rechtsprechung zu füllen; sie interpretierten Geschlecht im Einklang mit den neuesten Erkenntnissen in der Medizin; die Geschlechtszugehörigkeit einer Transperson zum so genannten anderen Geschlecht wurde als irreversibel bewertet, und dieser Mensch hatte sich geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen. Zugleich deutet der Beschluss des Frankfurter Oberlandesgerichts 1969 an, dass Transkategorien nicht so säuberlich voneinander zu trennen waren, wie es die Sexualwissenschaft oder rechtliche Normen in den 1970er Jahren vorgaben. In diesem Fall identifizierte sich ein Mensch als Transvestit, obwohl das Individuum sich geschlechtsangleichenden Maßnahmen unterzogen hatte. Während die Rechtswissenschaft insgesamt dazu tendierte, dem Wunsch von transsexuellen Individuen nach Anerkennung ihre jeweiligen Geschlechts Sympathien entgegen zu bringen, als es etwa die Rechtsprechung tat, galt dies nicht für Transvestiten. Reaktionen reichten von Unbehagen zur Pathologisierung mit Merkmalen, die diejenigen der Sexualwissenschaft überschritten, bis hin zur Kriminalisierung. Letztere geschah umso mehr, wenn ein Transvestit sich sexuell gleichgeschlechtlich betätigte. Dies macht deutlich, dass – mit wenigen Ausnahmen – Rechtswissenschaft und Rechtsprechung dieser Zeit dazu beitrugen eine heteronormative Gesellschaft zu produzieren und zu reproduzieren. Während die Veränderbarkeit des Geschlechts gegen Ende der 1970er Jahre in der Rechtsprechung verankert war, blieb der Geschlechterbinarismus unangetastet. Transphänomene wurden als pathologisierte und defizitäre geschlechtliche Entwicklungen betrachtet, und es deutete sich zunehmend an, dass eine Transition von einem zu dem »anderen« Ge-
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schlecht nur anerkannt werden würde unter der Bedingung, dass eine physische Anpassung an normative Verständnisse von Männern und Frauen stattgefunden hatte.
L ITER ATUR Becker, Walter: Mann oder Frau? Rechtsprobleme der Intersexualität. In: StAZ 7/1965, 189-192. Bundesgerichtshof: IV ZB 61/70, Beschluss vom 21. Sept. 1971. In: FamRZ 2/1972, 82-85. Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 16/72, Beschluss vom 11. Okt. 1978. In: StAZ 1/1979, 9-13. Bundesverwaltungsgericht: VII C 33/67, Beschluss vom 06. Dez. 1968. In: NJW 19/1969, 857-858. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London 1990. Carsten: Zur Geschlechtszugehörigkeit von Intersexuellen. In: StAZ 4/ 1970), 107-109. Eberle, Arnulf: Ungelöste Probleme der Transsexualität. In: Sexualmedizin 3/1974, 139-145. —: Ausfüllung einer Gesetzeslücke bei Transsexualismus durch progressive Rechtsfindung oder gesetzliche Fiktion? In: NJW 6/1971, 220-224. Eicher, Wolf: Geschlechtsidentität und psychosoziale Aspekte bei fehlerhafter Geschlechtsentwicklung. In: Gynäkologe 9/1976, 39-46. Eicher, Wolf; Herms, Volker: Geschlechtsidentität bei Transsexuellen. In: Vogt, Hermann-J.; Eicher, Wolf (Hg.): Praktische Sexualmedizin 77. Wiesbaden 1978, 35-45. Eicher, Wolf; Spoljar, Marijan; Murken, Jan-Diether; Richter, Kurt; StengelRutkowski, Sabine; Cleve, H.; Martin, F.: Transsexualität und Intersexualität. In: Sexualmedizin 1/1980, 12-15. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg: 2 W 72/79, Beschluss vom 08. Apr. 1980. In: StAZ 9/1980, 244-246. Haynal, André: Geschlechtsidentität und ihre Störungen, in interdisziplinärer Kooperation brauchbare Modelle schaffen. In: Sexualmedizin 3/1974, 111-114. Kammergericht: 1 W 2139/65, Beschluss vom 11. Jan. 1965. In: NJW 23/1965, 1084.
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—: 1 W 1840/57, Beschluss vom 07. Nov. 1957. In: FamRZ 2/1958, 60-61. —: 1 W 3047/69, Beschluss vom 08. Sept. 08 1970. In: StAZ 3/1971, 79-82. Kockott, Götz: Psychologische, soziale und juristische Probleme beim Transsexualismus. In: Vogt, Hermann-J.; Eicher, Wolf (Hg.): Praktische Sexualmedizin II. Wiesbaden 1978, 46-51. König, Peter; Grünberger, Josef: Merkmale der transsexuellen Persönlichkeit, Psychiatrische und psychometrische Befunde. In: Sexualmedizin 9/1977, 734-741. Landgericht Münster: 5 T 725/61, Beschluss vom 31. Jan. 1963. In: StAZ 9/1963, 249-250. Nevinny-Stickel, Josef; Hammerstein, Jürgen: Medizinisch-juristische Aspekte der menschlichen Transsexualität. In: NJW 1967, 663-666. OLG Frankfurt: 6 W 56/65, Beschluss vom 08. Dez. 08 1965. In: NJW 9/1966, 407-409. —: 6 W 311/68, Beschluss vom 14. Feb. 1969. In: NJW 36/1969, 1575-1577. Richter, Kurt: Die Geschlechtskonversion, Endokrinologisch-chirurgische Angleichung bei Transsexualität. In: Sexualmedizin 11/1977, 913-916. —: Die endokrinologisch-chirurgische Angleichung. In: Vogt, Hermann-J.; Eicher, Wolf (Hg.): Praktische Sexualmedizin 77. Wiesbaden 1978, 5365. Schorsch, Eberhard: Phänomenologie der Transsexualität, Therapie: Geschlechtsumwandlung ohne Alternative. In: Sexualmedizin 3/1974, 195-198. Sigusch, Volkmar: Die Transsexuellen und unser nosomorpher Blick, Teil II: Zur Entpathologisierung des Transsexualismus. In: Zeitschrift für Sexualforschung 4/1991, 307-343. Sigusch, Volkmar; Meyenburg, Bernd; Reiche, Reimut: Transsexualität. In: Sigusch, Volkmar (Hg.): Sexualität und Medizin. Köln 1979, 249-311. Spengler, Andreas: Kompromisse statt Stigma und Unsicherheit, Transsexuelle nach der Operation. In: Sexualmedizin 3/1980, 98-103. Walter, Michael: Rechtliche Aspekte der Transsexualität. In: StAZ 5/1975, 117-123.
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Dimension von Identität im Recht Eine kritische Studie zur queer legal theory Jörg Kleis
1. D ER S CHUT Z VON I DENTITÄT IM R ECHT 1.1 Diskriminierungsverbote als Schutzgarantie für Identitäten Eine zentrale Aufgabe des Staates ist es zu bestimmen, wie dieser mit den vielfältigen Identitäten der verschiedenen Gemeinschaften, Kulturen, Sprachen oder Religionen umgehen soll.1 In der Bundesrepublik Deutschland schützt das Recht diese Identitäten in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Deutlich wird dies beispielsweise an Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes. Darin heißt es: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« 2
Das in Artikel 3 Grundgesetz festgelegte Prinzip der Rechtsgleichheit umfasst alle drei Aspekte des menschenrechtlichen Gleichheitsgedankens: 1 | Fleiner, Thomas; Fleiner, Basta; Lidija, R.: Allgemeine Staatslehre, Über die konstitutionelle Demokratie in einer multikulturellen globalisierten Welt. Berlin 3 2004, 513, 673, 674. 2 | Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. Juli 2012 (BGBl. I S. 1478) geändert wurde.
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Rechtsanwendungsgleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz), Rechtsetzungsgleichheit (Gleichheit durch das Gesetz) und das Prinzip der Nichtdiskriminierung, also der Schlechterbehandlung aufgrund eines personenbezogenen Differenzierungsgrundes.3 Der Schutz der verschiedenen Gemeinschaften vor Ungleichbehandlungen aufgrund ihrer geschlechtlichen, religiösen oder sprachlichen Identität ist somit in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich garantiert. Die Rechtswissenschaft spricht bei dieser Ausprägung der unterschiedlichsten Identitäten von Anknüpfungsmerkmalen. Dabei handelt es sich um Kategorien, die bei persönlicher Anwendbarkeit ihren Schutz vor Diskriminierung entfalten können. Diese Merkmale »charakterisieren in ihrer – allerdings holprigen, teilweise pleonastischen – Aufzählung die typischen menschlichen Ungleichheiten, die immer wieder Ansatzpunkt für Bevorzugungen oder Benachteiligungen aller Art waren. Gerade, weil die in den genannten Seinsprägungen Andersartigen von Staats wegen als Menschen zweiter Klasse […] angesehen wurden […], wehrt das Grundgesetz diesen […] Angriff auf die Idee des Menschen […] noch einmal besonders ab«. 4
Die explizite Nennung dieser in Kategorien verfassten Identitäten entspricht einer Absichtserklärung des Verfassungsgebers, durch die er der Verwirklichung von Gleichberechtigung der unter sie fallenden Personen eine besondere Bedeutung zukommen lässt. Gleichbehandlungen wegen – beziehungsweise trotz – beispielsweise religiöser oder politischer Anschauungen sind schlechthin konstituierend für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.
1.2 Geschlecht als Teil verschiedener Identitäten im Recht Noch grundlegender ist jedoch die Aufführung des Geschlechts an erster Stelle des dritten Absatzes. Es zeigt nicht nur, dass das Geschlecht als 3 | Altwicker, Tilmann: Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2. Teil: Recht der menschenrechtlichen Gleichheit. In: Bogdandy, Armin von; Wolfrum, Rüdiger (Hg.): Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht. Band 223, Berlin 2011, 34. 4 | Maunz, Theodor; Dürig, Günter (Begr.): Grundgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung. München Stand: Februar 2012. Eintrag zu Artikel 3 Absatz 3, Randnummer 2.
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Seinsprägung vom Verfassungsgeber als besonders schutzwürdig eingestuft wird. Es zeigt vielmehr, dass unser gesellschaftliches Miteinander von der grundlegenden Annahme geprägt ist, dass Geschlecht eines der zentralen Gliederungsprinzipien unserer Gesellschaft ist.5 Wie Sauer es zutreffend ausdrückt: »Die Einteilung in Männer und Frauen ist uns vergleichsweise selbstverständlich, ja wir empfinden es als geradezu notwendig, um mit einem Menschen kommunizieren zu können, zu wissen, ob er/sie Mann oder Frau ist.«6 Das Recht folgt dieser Annahme in Artikel 3 Absatz 2, in dem es heißt: »(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.«7
Das Grundgesetz stellt dabei sowohl in Absatz 2 als auch in Absatz 3 ausschließlich auf das biologische Geschlecht im Sinne körperlicher Geschlechtsmerkmale (sex) ab.8 Gleichfalls dient sex in zahllosen weiteren Rechtsbereichen, wie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, dem Personenstandsgesetz, dem Staatsangehörigkeitsgesetz, dem Passgesetz oder dem Beamtengesetz als Anknüpfungsmerkmal zur Anwendung der darin enthaltenen Regelungen auf Rechtssubjekte.9 Der Begriff des Geschlechts im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes beispielsweise »entspricht dem des außerjuristischen Wortsinns. [Er] bezeichnet die Erscheinungsform menschlicher Organismen als weiblich oder männlich, wie [er] durch die Geschlechtschromosomen bestimmt wird.«10 5 | Sauer, Birgit: Gender und Sex. In: Scherr, Albert (Hg.): Soziologische Basics: Eine Einführung für Pädagogen und Pädagoginnen. Wiesbaden 2006, 50. 6 | Ebd. 7 | Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. 8 | Vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.1.1987, 1 BvR 455/82, Randnummer 45. Das Gericht beruft sich auf die biologischen und funktionalen Unterschiede bei Männern und Frauen. 9 | Vgl. § 1 AGG, § 21 PsStG, §§ 33 II Nr. 1, 34 I Nr. 5, 36 I Nr. 2 StAG, § 4 I Nr. 6 PaßG und §§ 8 III, 98 I Nr. 3 BeamtG. 10 | Thüsing, Gregor: § 1 AGG. In: Säcker, Franz-Jürgen; Rixecker, Roland et al. (Hg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Band 1, 2. Halbband, München 62012, Randnummer 58.
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Diese Anknüpfungsmethode wird bei der Mehrheit der Menschen angewendet. Die Devise lautet »what you see is what you get«11 . Sie ist dadurch zugegebenermaßen höchst praktikabel, da sich das Recht ausschließlich daran orientiert, welche Geschlechtsmerkmale vorliegen. Doch wie steht es um Männer und Frauen, die zwar biologisch einem der Geschlechter zugeordnet werden können, sich jedoch ausschließlich mit dem anderen Geschlecht identifizieren (gender identity) oder solchen, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können (Intersexualität)? Eine Aussage zu gender, also zum sozialen Geschlecht in Form der erwarteten Geschlechtsrolle, trifft das Recht in § 1 des Transsexuellengesetzes, wonach die Vornamen einer Person auf Antrag zu ändern sind, wenn sich die Person »auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet […] und mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird.« 12
Das Transsexuellengesetz geht zwar von sex als Ausgangspunkt aus, indem es auf das im Geburtseintrag angegebene Geschlecht Bezug nimmt. Es verkörpert jedoch die gesellschaftlich überwiegende Auffassung vom sozial konstruierten Geschlecht (gender), dessen Rolle durch die Gesellschaft geprägt ist und welches besagt, wie sich Männer und Frauen typischerweise verhalten. Das Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht, von dem das Gesetz spricht, basiert gänzlich auf der gesellschaftlichen Erwartung, der die Betroffenen nicht gerecht werden können und wollen. Diese Personen fühlen sich dem anderen Geschlecht zugehörig. Sie tun dies, weil sie sich nicht durch die von der Gesellschaft aufgrund ihres Geschlechts für sie vorgesehene Rolle definieren können.
11 | Gender Identity Research and Education Society (GIRES): Gender Variance (Dysphoria), 2008, 3, www.gires.org.uk/assets/gdev/gender-dysphoria.pdf (Zugriff: 24.5.2012). 12 | Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen. Transsexuellengesetz vom 10. September 1980 (BGBl. I S. 1654), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 17. Juli 2009 (BGBl. I S. 1978) geändert wurde.
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Es lässt sich festhalten, dass das Recht mit dem Begriff des Geschlechts grundsätzlich das biologische Geschlecht, und nur in einer Ausnahme in Form des Transsexuellengesetzes das soziale Geschlecht meint.13 Diese Differenzierung zwischen sex und gender, also dem biologischen und dem sozialen Geschlecht, folgt der Annahme, dass sich gesellschaftliche Erwartungen und Zumutungen an Männer und Frauen nicht aus ihrem biologischen Geschlecht ableiten lassen, sondern gesellschaftlich konstruiert sind.14 Sauer verweist hierzu auf den Sexualwissenschaftler Money, der in den 1950er Jahren zur Klärung des Begriffs Geschlecht darauf hinweisen wollte, »[…] dass die vermeintlich eindeutigen körperlich-biologischen Differenzen zwischen Menschen nicht automatisch mit ihrem Verhalten oder mit ihrem Können verknüpft sind. Aus der Fähigkeit von Frauen, Kinder zu gebären, folgt nicht automatisch, dass sie deshalb für reproduktive Arbeiten zuständig sind, dass sie empathischer und liebevoller sind, dass sie diese Arbeiten tun und diese Empfindungen haben müssen. Auch die Ausstattung mit männlichen biologischen Merkmalen bedeutet nicht automatisch, stark und aggressiv zu sein und die Familienernährerrolle einzunehmen. Im Gegenteil: Dies sind zugeschriebene, von der Gesellschaft erwartete Rollen und Charaktermerkmale und die weiblichen und männlichen Geschlechtscharaktere sind in gesellschaftliche Strukturen […] eingeschrieben.«15
1.3 Die Einführung einer neutralen Norm queer für bestehende Identitäten Die Philosophin Butler kritisiert die Unterscheidung zwischen sex und gender, da selbst die Vorstellung vom biologischen Geschlecht sozial konstruiert und somit in gewisser Weise veränderbar sei. Zwar seien körperliche Merkmale nicht frei wählbar. Jedoch ist die den biologischen Geschlechtsmerkmalen zukommende Bedeutung gesellschaftlich konstruiert und reproduziert. Körperliche Unterschiede erlangen erst durch soziale Prozesse 13 | Cowan, Sharon: »Gender is no substitute for sex«: A Comparative Human Rights Analysis of the Legal Regulation of Sexual Identity. In: Feminist Legal Studies. 2005, 13: 70. 14 | Sauer: Gender und Sex, 51. 15 | Ebd.
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ihre Bedeutung. Butler beschreibt Geschlechtsidentität als »eine Art ständiger Nachahmung, die als das Reale gilt«16. Nach der durch sie begründeten queer theory ist das Geschlecht nicht primär eine leibliche Seinsform, sondern das Wissen um körperliche Differenz, vor allem aber ein sozialer Modus, der aus leiblichen Differenzen Macht- und Herrschaftsverhältnisse konstruiert ist.17 Die hierdurch entstehende Kontroverse ist, dass die im Recht vorgenommene Einteilung in sex und gender zwar die derzeitige mehrheitliche Auffassung der Gesellschaft zum Geschlecht widerspiegelt. Gerade das Gliederungsprinzip sex (Mann und Frau) wird, um auf Sauer zurückzukommen, für ein »geordnetes« Leben vorausgesetzt. Die queer theory versucht jedoch, diese Unterscheidung aufzulösen. Sie hält die Differenzierung zwischen sex und gender für ungerechtfertigt, stemmt sich somit nicht nur gegen das geltende Recht, sondern auch das sich darin widerspiegelnde mehrheitliche gesellschaftliche Verständnis der Dimension von Geschlecht. Dies wirft die Frage auf, ob das Recht als ein System von Regeln mit allgemeinem Geltungsanspruch und die queer theory miteinander kompatibel sind, ob sich also Elemente der queer theory in das Recht integrieren lassen, beziehungsweise welche Veränderungen das Recht durchlaufen muss, um der queer theory rechtliche Geltung zu verschaffen. Dazu muss zunächst geklärt werden, ob das Recht überhaupt Raum bietet für eine Sichtweise, die ohne Gliederungen, Differenzierungen oder Kategorisierungen auskommt. Welcher Stellenwert kann einem neuen Oberbegriff queer, der sich der geschlechtlichen Identität im Sinne der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung des einzelnen Menschen widmet, im Recht eingeräumt werden? Dieser Fragestellung geht die queer legal theory nach. Sie will eine Alternative zur derzeitigen Auffassung über die rechtlichen Dimensionen von Geschlecht anbieten, indem sie im Sinne der queer theory rechtlich relevante Kategorisierungen grundsätzlich ablehnt. Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob und wie ein neues Verständnis von Identität im Recht dauerhaft etabliert werden kann. Er wird dazu die queer legal theory, ihren Ursprung und Inhalt anhand der Gleichberechtigungsforderungen schwuler Männer und lesbischer Frauen beleuchten und dabei zum umfassenden Verständnis auf zwei weitere im Themengebiet von Recht und Geschlecht angesiedelte Rechtstheorien, schwerpunktmäßig die gay and lesbian legal theory sowie ansatzweise die feminist legal theory, 16 | Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, 8. 17 | Sauer: Gender und Sex, 51f.
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Bezug nehmen. Er wird sodann bewerten, ob und inwiefern das Recht aufnahmefähig für die queer legal theory, ihre Ansichten und Forderungen ist und vor dem Hintergrund der Gegensätzlichkeit der geltenden Rechtslage und dem Gesellschaftsbild der queer theory einer möglichen Strategie zu ihrer rechtlichen Verwertbarkeit nachgehen.
2. D AS R ECHT ALS S PIEGELBILD MEHRHEITLICHER GESELLSCHAF TLICHER A UFFASSUNGEN Die Staatslehre geht davon aus, dass durch die in Demokratien festgelegte Herrschaft auf Zeit das Recht wandelbar und der Rechtssetzungsprozess beeinflussbar ist.18 In liberalen Verfassungsstaaten herrscht ein permanenter Wettbewerb um die Steuerung des gesellschaftlichen Wandels, in dem die Wettbewerber ihre Weltanschauungen zum Ausgangspunkt staatlichen Handelns machen wollen.19 Gewinnen bestimmte Strömungen, Bewegungen oder politische Meinungen an Bedeutung, schlägt sich dies – zumindest theoretisch – früher oder später in der konkreten Rechtslage eines Staates nieder. Der Bürger hat demnach stets die Macht, einen Veränderungsprozess einzuleiten und darüber zu entscheiden, wem welches Recht zuteilwerden soll. Dies geschieht dadurch, dass jede emanzipative Bewegung zunächst auf die Mobilisierung der Kreativität der Subalternen hinausläuft und dann beabsichtigt, die Vergesellschaftung und institutionelle Absicherung durch aus Projekten alternativer Lebensweisen hervorgehende Rechtsvorstellungen voranzutreiben. Es ist kaum eine »soziale Bewegung bekannt, die nicht auch Rechtsforderungen aus sich heraus erzeugt«20. Im Regelfall sind es die Parteien, die die aus einer solchen Bewegung abgeleiteten Interessen in Form von Gesetzesanträgen in Parlamenten vertreten. Aus einer Idee wird ein Gesetz. Spürbare und dauerhaf18 | Fleiner: Allgemeine Staatslehre, 326, 361. 19 | Rüthers, Bernd; Fischer, Christian: Rechtstheorie: Mit juristischer Methodenlehre. München 6 2011, 24. 20 | Buckel, Sonja: Zwischen Schutz und Maskerade – Kritik(en) des Rechts. In: Demirovic, Alex (Hg.): Kritik und Materialität. Schriftenreihe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Band 1, Münster 2008, 110, www.rav.de/ publikationen/infobriefe/infobrief-102-2009/zwischen-schutz-und-maskeradekritik-en-des-rechts (Zugriff: 25.5.2012).
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te Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse können somit nur unter der Prämisse der Einbindung des Rechts bewirkt werden. Kirchheimer hat hierzu kritisch zum Ausdruck gebracht, dass das moderne Recht die »Garantie einer bestehenden Gesellschaftsordnung« sei.21 Das Recht und der damit verbundene Rechtssetzungsprozess spiegeln daher stets mehrheitliche gesellschaftliche Vorstellungen und Werte wider. Dies gilt auch für die Regelungen bezüglich der sexuellen Identität. Diverse Verbände setzen sich beispielsweise für eine Aufnahme derselben in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz ein.22 Jedoch hat sich für eine solche Grundgesetzänderung noch nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag ergeben. Aus staatstheoretischer Sicht könnte somit festgehalten werden, dass die Gesellschaft aufgrund einer fehlenden parlamentarischen Mehrheit noch nicht zu einer entsprechenden Rechtslagenänderung bereit ist. Ursprünglich stellen für die Politik als auch für Rechtswissenschaftler die Aufstände im Stonewall Inn in New York 1967 den Anfang des Emanzipationsprozesses homosexueller Frauen und Männer dar. Er ist nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich mit der Freiheitsbewegung der Afroamerikaner in den USA vergleichbar. Während diese gegen die Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe vorgingen, strebten Homosexuelle nach Akzeptanz, die ihnen aufgrund der herrschenden Homophobie vorenthalten blieb. Um ihr Ziel der Gleichberechtigung zu erwirken, versuchten homosexuelle Männer und Frauen einschlägige Bürger- und Menschenrechte, zuvorderst die in nationalen Verfassungen und internationalen Verträgen verbürgten Anti-Diskriminierungsverbote, geltend zu machen. Sie bedienten sich somit des positiven Rechts als Werkzeug zur Erreichung ihrer Ziele, obwohl dieses Recht für sie ursprünglich keinen expliziten Schutz vorsah.23 Beispielhaft sind hier die USA zu nennen, wo sich 21 | Kirchheimer, Otto: Reichsgericht und Enteignung: Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes?. In: Ders.; Luthard, Wolfgang (Hg.): Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung. Frankfurt a.M. 1976, 77. 22 | So beispielsweise der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) mit seiner Aktion »Artikel 3+«, www.artikeldrei.de (Zugriff: 24.5.2012). 23 | Als Beispiele dienen: Artikel 26 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen
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Homosexuelle der Bürgerrechtsbewegung anschlossen, indem sie ihren Grundsatz »equal but different« ebenfalls für sich beanspruchten und als Gruppe forcierten. Hinsichtlich der in der US-amerikanischen Verfassung verankerten Equal Protection Clause24 verlangte die Rechtsprechung des US-amerikanischen Supreme Court stets, dass das Merkmal der sexuellen Orientierung vergleichbar mit dem der »Rasse« sein müsse, um gleichen Schutz zu entfalten. Dies könne nur dann der Fall sein, wenn die sexuelle Orientierung ein unbeeinflussbares Beurteilungsmerkmal darstellt, auf das das Individuum keinen Einfluss zu nehmen vermag.25 Die Initiativen in den USA argumentierten beständig, dass sie einen natürlichen Gruppenstatus innehätten und Homosexualität angeboren sei. Vance beschreibt den Erfolg dieser Strategie zutreffend mit den Worten: »By dint of repetition, ideas about gay essentialism were reinforced in the contemporary gay movement (though they were hardly unknown in American culture), and, more importantly, linked to group advancement, success and self-affirmation.« 26
In politisch organisierten Strukturen fordern Verbände und Parteien bis heute eine vollständige Rechtsangleichung. Dies geschieht in Deutschland gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.« Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.« 24 | Die Klausel stellt einen Teil des 14. Zusatzes der US-amerikanischen Verfassung dar. Der Zusatz besagt, dass kein Staat einem Bürger im Rahmen seiner Zuständigkeit den gleichen Schutz durch das Recht untersagen soll. 25 | De Vos, Pierre: Gay and Lesbian Legal Theory. In: Roeder, Christopher J.; Moelendorf, Darrel (Hg.): Jurisprudence. Kapstadt 2004, 339. 26 | Vance, Carole S.: Social Construction Therory: Problems in the History of Sexuality. In: Crowley, Helen; Himmelweit, Susan (Hg.): Knowing Women: Feminism and Knowledge. Cambridge 1992, 142.
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bislang in Form von Anträgen auf Einführung der »sexuellen Identität« als neue Anti-Diskriminierungkategorie. Im Zivilrecht findet man diese Kategorie bereits im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, das, ursprünglich als Richtlinie der Europäischen Union, 2006 in deutsches Recht umgesetzt wurde.27 Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbietet ausdrücklich jede Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung.28 Die queer legal theory ist eng mit der besagten, seit den 1960er Jahren wirkenden Freiheitsbewegung verbunden. Dennoch ist sie nicht zu verwechseln mit der gay and lesbian legal theory, die aus rechtlicher Perspektive das beschreibt, was die Bewegung homosexueller Männer und Frauen seither ausmacht, nämlich die Angleichung der Rechte homosexueller Menschen an die von heterosexuellen Männern und Frauen. Beide Theorien widmen sich zwar den rechtlichen Belangen Homosexueller. Anders als bei der gay and lesbian legal theory, die sich etwa in der Forderung nach Weiterentwicklung des Gleichbehandlungsgrundsatzes widerspiegelt, dient die sexuelle Orientierung im Rahmen der queer legal theory aber nicht als Hauptanknüpfungsmerkmal für die zu erreichende Gleichberechtigung schwuler Männer und lesbischer Frauen. Ähnlich verhält es sich mit der feminist legal theory, die sich generell der Gleichberechtigung von Frauen widmet, weshalb bei ihr das weibliche Geschlecht als Anknüpfungsmerkmal dient. Fineman meint, dass zwar weite Teile der queer theory ihren Inhalt der feminist theory verdanken, diese jedoch ebenso den Einfluss der queer theory anerkennen.29
27 | Richtlinie der Europäischen Union 2000/78/EG. 28 | Artikel 21 Abs. 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Dieses Verbot bindet nicht nur die Union selbst sondern auch die EU-Mitgliedstaaten, sofern sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts (nicht) handeln (vgl. Artikel 51). 29 | Fineman, Martha: Introduction: Feminist and Queer Legal Theory. In: Dies.; Jackson, Jack; Romero, Adam (Hg.): Feminist and Queer Legal Theory: Intimate Encounters, Uncomfortable Conversations. Ashgate 2009, Emory Public Law Research Paper No. 09-75, 3.
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3. D ER E INFLUSS DER GAY AND LESBIAN LEGAL THEORY AUF DAS R ECHT Während nationale und internationale Gerichte zunächst zurückhaltend reagierten, folgt bis heute in weiten Teilen Europas eine graduelle Anpassung der Rechtslage, oftmals bereichert durch die Rechtsprechung.30 Wie bereits angedeutet, führt insbesondere die Geltendmachung von Anti-Diskriminierungsverboten zu wesentlichen Beiträgen in der Angleichung der Rechte Homosexueller. Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt die sexuelle Selbstbestimmung ein zentrales Schutzgut der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar.31 Zwar wird hierzu nicht auf das Geschlecht (sex) als Anknüpfungsmerkmal abgestellt, jedoch wurde der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung in andere Schutznormen hineininterpretiert. Der EGMR sah beispielsweise eine Verletzung des in Artikel 14 der EMRK verbürgten Diskriminierungsverbotes, weil das Österreichische Strafgesetzbuch eine Unterscheidung zwischen dem einwilligungsfähigen Alter für heterosexuelle und homosexuelle Handlungen traf.32 In einer weiteren Entscheidung stellte das Gericht fest, dass die Entlassung aus dem Militärdienst im Vereinigten König-
30 | Die meisten europäischen Staaten kennen die gleichgeschlechtliche Partnerschaft. In Spanien und den Niederlanden beispielsweise wurde das Institut der Ehe gänzlich für homosexuelle Paare geöffnet. 31 | Als Beispiele aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes seien hier genannt: Dudgeon vs. UK (7525/76), Urteil vom 22.10.1981; Norris vs. Ireland (10581/83), Urteil vom 26.10.1988; Modinos vs. Cyprus (15070/89), Urteil vom 22.04.1993. 32 | L. & V. v. Austria (39392/98, 39829/98), Urteil vom 9.1.2003, Par. 36. Das Gericht spricht vom »most intimate aspect of private life«. Artikel 14 der EMRK lautet: »Der Genuß der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.«
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reich aufgrund der sexuellen Orientierung eine Verletzung des in Artikel 8 der EMRK festgelegten Rechts auf Achtung des Privatlebens ist.33 Das Bundesverfassungsgericht hat 2009 ebenfalls einen strengen Kontrollmaßstab im Falle von Differenzierungen aufgrund der sexuellen Orientierung etabliert.34 Es verkündete in einem grundlegenden Urteil zur Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, dass die vorinstanzlichen Urteile den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt hätten. Das Gericht führte aus, dass ein verheirateter Versicherter eine Anwartschaft auf den Erhalt einer Hinterbliebenenversorgung im Falle des Versterbens seines Ehegatten hat. Ein Versicherter, der eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet hat, erlange eine solche Anwartschaft für seinen Lebenspartner jedoch nicht. Diese Ungleichbehandlung sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Dem Gesetzgeber sei es grundsätzlich zwar nicht verwehrt, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. Geht die Privilegierung der Ehe aber mit einer Benachteiligung anderer Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht.35 Das Urteil leistete einen weiteren Beitrag dazu, die durch das Lebenspartnerschaftsgesetz im Jahre 2001 eingeführte gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft inhaltlich noch stärker an die Ehe anzupassen. Der Gesetzgeber ist aufgrund des Urteils verpflichtet, sämtliche Ungleichbehandlungen zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zu beseitigen, sofern kein hinreichend gewichtiger Sachgrund vorliegt, der gemessen am jeweiligen Regelungsgegenstand und -ziel eine Benachteiligung rechtfertigt.36 Dies bezieht sich etwa auf das Recht des öffentlichen Dienstes, das Einkommenssteuerrecht, das Erbschaftssteuerrecht, das Ausländer- und Aufenthaltsrecht, das Gewerberecht, die Ausbildungsför33 | Smith & Grady vs. United Kingdom (33985/96; 33986/96), Urteil vom 27.09.1999. 34 | Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7.7.2009, BvR 1164/ 07, Randnummern 85, 86, 88, 93, 100, 112, 114, 115. 35 | Ebd. Randnummern 83, 102, 105. 36 | Ebd. Randnummer 105.
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derung sowie diverse öffentliche Leistungen und Gebühren.37 Nach heutigem Rechtsstand unterscheiden sich die in Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz geschützte Ehe, die nach der Rechtsprechung ein »auf Dauer angelegtes Zusammenleben von Mann und Frau in einer umfassenden, grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft«38 meint, und die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft nur noch in wenigen Punkten, darunter dem verfassungsrechtlichen Schutz, dem Adoptionsrecht und dem Einkommenssteuerrecht. Weltweit war es die Verfassung der Republik Südafrika, die als erste Verfassung das Gleichbehandlungsgebot hinsichtlich der sexuellen Orientierung in Artikel 9 Absatz 3 aufnahm.39 Der südafrikanische Constitutional Court hat sich bereits mehrfach mit Beschwerden aufgrund dieser Norm beschäftigt. Er befand die Strafbarkeit von männlichen homosexuellen Handlungen für verfassungswidrig40 und urteilte zugunsten der Beschwerdeführer über die Angleichung von Rechten zugunsten gleichgeschlechtlicher Lebenspartner an die Ehe hinsichtlich des Zuzugsrechts und der gemeinsamen Adoption durch beide Elternteile.41 Bereits zuvor, im Jahre 1999, hatten die Beschwerdeführer behauptet, der Aliens Control Act No. 96 aus dem Jahre 1991, Teil des südafrikanischen Zuwanderungsrechts, der den Zuzug von Ehegatten aus dem Ausland regelt, gelte auch 37 | Vgl. Bundestag Drucksache 16/7550: Große Anfrage von Bündnis ’90/Die Grünen zum Stand der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften vom 12.12.2007. 38 | Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht mit Betreuungsrecht, Erbrecht, Verfahrensrecht, Öffentlichem Recht (FamRZ) 2007, 1869, mit weiteren Nachweisen. 39 | Artikel 9 Absatz 3 der Verfassung der Republik Südafrika lautet: »The state may not unfairly discriminate directly or indirectly against anyone on one or more grounds, including race, gender, sex, pregnancy, marital status, ethnic or social origin, colour, sexual orientation, age, disability, religion, conscience, belief, culture, language and birth.« 40 | Entscheidung des Südafrikanischen Verfassungsgerichts vom 9.10.1998: National Coalition for Gay and Lesbian Equality and Another v Minister of Justice and Others (CCT 11/98) [1998] ZACC 15; 1999 (1) SA 6; 1998 (12) BCLR 1517. 41 | Entscheidung des Südafrikanischen Verfassungsgerichts vom 10.9.2002: Du Toit and Another v Minister of Welfare and Population Development and Others (CCT 40/01) [2002] ZACC 20; 2002 (10) BCLR 1006; 2003 (2) SA 198 (CC).
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für gleichgeschlechtliche Lebenspartner.42 Eine Zuwanderungserlaubnis soll unter anderem dann erteilt werden, wenn die betreffende Person charakterlich und beruflich geeignet ist und weitere verwaltungsrechtliche Vorgaben erfüllt werden. Da das Gesetz von spouse (Ehegatten) spricht, stellte sich die Frage, ob gleichgeschlechtliche Lebenspartner ebenso in den personellen Anwendungsbereich dieser Norm fallen. Das Gericht bejahte dies und wies die Auffassung zurück, dass schwule und lesbische Paare weniger geeignet oder befähigt seien, dauerhaft verpflichtende Beziehungen einzugehen oder beispielsweise für Kinder zu sorgen als heterosexuelle Paare. Ebenso wenig seien sie auf einen durch ihre Sexualität dominierten, eindimensionalen Lebensstil zu reduzieren. Das Gericht äußerte vielmehr, dass gleichgeschlechtliche Lebenspartner genauso wie heterosexuelle Paare imstande seien, treu und monogam zu leben, finanziell und seelisch füreinander zu sorgen, sowie einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Interessanterweise verfolgte das Bundesverfassungsgericht die gleiche Argumentation in seinem Urteil aus dem Jahre 2009, indem es wie folgt formulierte: »Nicht in jeder Ehe gibt es Kinder. Es ist auch nicht jede Ehe auf Kinder ausgerichtet. Ebenso wenig kann unterstellt werden, dass in Ehen eine Rollenverteilung besteht, bei der einer der beiden Ehegatten deutlich weniger berufsorientiert wäre. Das in der gesellschaftlichen Realität nicht mehr typusprägende Bild der ›Versorgerehe‹, in der der eine Ehepartner den anderen unterhält, kann demzufolge nicht mehr als Maßstab der Zuweisung von Hinterbliebenenleistungen dienen. Umgekehrt ist in eingetragenen Lebenspartnerschaften eine Rollenverteilung dergestalt, dass der eine Teil eher auf den Beruf und der andere eher auf den häuslichen Bereich einschließlich der Kinderbetreuung ausgerichtet ist, ebenfalls nicht auszuschließen. In zahlreichen eingetragenen Lebenspartnerschaften leben Kinder, insbesondere in solchen von Frauen. Der Kinderanteil liegt bei eingetragenen Lebenspartnerschaften zwar weit unter dem von Ehepaaren, ist jedoch keineswegs vernachlässigbar.« 43 42 | Entscheidung des Südafrikanischen Verfassungsgerichts vom 2.12.1999: National Coalition for Gay and Lesbian Equality and Others v Minister of Home Affairs and Others (CCT10/99) [1999] ZACC 17; 2000 (2) SA 1; 2000 (1) BCLR 39. 43 | Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7.7.2009, BvR 1164/ 07, Randnummer 113.
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Nach derzeitigem Kenntnisstand hat sich jedoch noch kein Gericht mit der Frage beschäftigt, ob eine Definition der Ehe, die gleichgeschlechtliche Verbindungen ausschließt, eine Diskriminierung darstellt. Dennoch lassen die beschriebenen Urteile eine Entwicklung hin zu einer vollständigen Anpassung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften an die Ehe erkennen. Es scheint sogar, als laufe die derzeitige Rechtsentwicklung – ganz im Sinne der gay and lesbian legal theory – langsam aber sicher auf die vollständige Beseitigung jeglicher rechtlicher Unterschiede und eine vollständige Angleichung hinaus. Der Weg dorthin – und für diese Erkenntnis ist die vorgestellte Rechtsprechung beispielhaft – verläuft damit im Sinne der herrschenden Rechtsauffassung, die zwischen sex und gender unterscheidet. Die erlassenen Urteile sorgen durch diese Argumentation für Gleichberechtigung, indem sie zwischen biologischen Geschlechtsmerkmalen und den an sie geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen differenzieren.
4. A BGRENZUNG ZUR QUEER LEGAL THEORY 4.1 Identität und Geschlecht in verwandten Rechtstheorien Wie bereits beschrieben ist die sexuelle Identität das Hauptanknüpfungsmerkmal der gay and lesbian legal theory. Die Rechtswissenschaft versteht darunter »die sexuelle Orientierung im Hinblick auf das gleiche Geschlecht, das andere Geschlecht oder beide Geschlechter (Bisexualität)«.44 Sexuelle Identität im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes soll dasselbe wie sexuelle Ausrichtung bedeuten. Während Identität eher die Persönlichkeit beschreibt, erfasst die sexuelle Ausrichtung wohl auch solche Ausprägungen sexueller Ausrichtung, die nicht die Persönlichkeit ausmachen. Die sexuelle Identität erfasst daher in richtlinienkonformer Auslegung auch das sexuelle Verhalten, da es Teil der sexuellen Ausrichtung ist.45 »Durch die ›Identität‹ knüpft das Gesetz an die subjektiven 44 | Fuchs, Maximilian: § 1 AGG. In: Bamberger, Heinz Georg; Roth, Herbert (Hg.): Beck’scher Online-Kommentar zum BGB. Stand: 01.02.2012, 22. Edition, Randnummer 9. 45 | Schlachter, Monika: § 1 AGG. In: Müller-Glöge; Rudi; Preis, Ulrich; Schmidt, Ingrid (Hg.): Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. München 11 2011, Randnummer 13; Roloff, Sebastian: § 1 AGG. In: Rolfs, Christian; Giesen, Richard; Krei-
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Vorstellungen bezüglich der eigenen Sexualität eines Menschen an und bezieht sich sowohl auf das eigene als auch auf das Geschlecht des Sexualpartners. Zur sexuellen Identität zählt deshalb die Hetero- und die Homosexualität sowie die Bisexualität eines Menschen, aber auch dessen Transsexualität oder Zwischengeschlechtlichkeit.«46 Aus soziologischer Sicht bestehen dennoch zwei gegensätzliche Auffassungen. Die eine Auffassung betrachtet die sexuelle Identität als ein natürliches, unabhängiges und starres Element des Diskurses, während die zweite Meinung stärker auf die soziale Konditionierung und Beeinflussung durch kulturelle Modelle abstellt.47 Letztere Ansicht geht somit auch davon aus, dass es wegen der unterschiedlichen kulturellen Modelle keine einheitliche oder universelle homosexuelle Identität geben kann und gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen immer in ihrem historischen, kulturellen und sozialen Kontext betrachtet werden müssen. Die gay and lesbian legal theory knüpft an die sexuelle Identität ihrer Rechtssubjekte an. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es im Emanzipationsprozess seit jeher um die Frage ging, ob Homosexuelle die gleichen Ansprüche stellen können, beziehungsweise ob sie den gleichen Rechtsschutz genießen, da sie zuvor wegen ihrer sexuellen Präferenz diskriminiert wurden. Die geäußerte Kritik hieran beinhaltet, dass es sich bei dieser Strategie um nicht mehr handele, als um einen initiierten Autoassimilationsprozess seitens der Schwulen- und Lesbenbewegung. Die Forderungen nach einer Aufnahme der sexuellen Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes, die Beanspruchung der Equal Protection Clause in den USA sowie die vorliegenden Gerichtsurteile spiegeln dies wider. Die Rechtsprechung beispielsweise macht den Erfolg einer Gleichberechtigungsklage von der Vergleichbarkeit der heteronormativen Rechtslage und dem Ansinnen homosexueller kebohm, Ralf; Udsching, Peter (Hg.): Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht. Stand: 01.12.2011, Randnummer 9. 46 | Oetker, Hartmut: § 14 AGG: Verbot der Diskriminierung wegen persönlicher Merkmale des Arbeitnehmers nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. In: Richardi, Reinhard; Wlotzke, Otfried; Wißmann, Hellmut; Oetker, Hartmut: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht. München 3 2009, Randnummer 12. 47 | Stein, Edward: Conclusion: The Essentials of Constructionism and the Construction of Essentialism. In: Ders. (Hg.): Forms of Desire: Sexual Orientation and the Social Constructionist Controversy. New York 1992, 325.
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Kläger abhängig. Auch die Argumentation der Interessenverbände in den USA zur Equal Protection Clause zur Zeit der dortigen Bürgerrechtsbewegung zeigt, dass nur solche Gruppen Gleichbehandlung genießen konnten, die ihre Ähnlichkeit zur Norm plausibel darlegten. Diese Argumentation stellt aus der Perspektive der queer legal theory einen Rückschritt dar, der weiterhin eine klare von Heteronormativität geprägte Hierarchie erkennen lässt, selbst wenn man bald von einer faktischen Verwechselbarkeit zwischen heterosexuellen und homosexuellen Partnerschaften und deren rechtlichen Behandlung wird sprechen können. Sogar die Änderung von Artikel 3 des Grundgesetzes würde zwar zu verfassungsrechtlichem – und damit höchstrangigem – Schutz in der Bundesrepublik führen. Das Merkmal der sexuellen Identität würde sich jedoch lediglich in eine Liste von Kategorien (Geschlecht, Abstammung, »Rasse«, Sprache) einreihen, die nicht unabhängig sind, sondern stets an einer höher stehenderen Norm ausgerichtet werden. Für die Befürworter der gay and lesbian legal theory bedeutet dies, dass sie Homosexualität im Sinne einer Gruppenidentität trotz aller Ähnlichkeiten zur privilegierten heterosexuellen Norm weiterhin als andersartig manifestieren. So entsteht ein Konstrukt, in dem das Merkmal der Homosexualität zwar die gleiche Rechtsfolge anstrebt. Jedoch verordnet sich die Schwulen- und Lesbenbewegung dadurch eine Identität, mit der sie implizit eine Hierarchie zwischen Heterosexualität und Homosexualität akzeptiert, auch wenn sie in Zukunft keine rechtlichen Nachteile mehr beinhalten mag. Kepros suggeriert, dass sich hieraus gewisse Vorteile der queer theory ergeben: »While queer theory operates in the realm of social and political goals, it is not concerned directly with […] equality. Instead, [it] focuses ›on the manner in which heterosexuality has, silently but saliently, maintained itself as a hidden yet powerfully privileged norm; and an implicit, if not explicit, questioning of the goals of formal equality that, on their face simply reify the very categories that have generated heterosexual privilege and Queer oppression.‹ Within this ideological framework, queer theory seeks to foster social change by keeping its own status as a theory undefined, its techniques postmodern, and its membership open.« 48
48 | Kepros, Laurie: Queer Theory: Weed or Seed in the Garden of Legal Theory. In: Law & Sexuality, 2000, 284.
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4.2 Kritik der queer legal theor y Warum hinterfragt die queer legal theory diese positive Rechtsentwicklung? In der Tat könnte man meinen, sie wolle den Erfolg der jahrzehntelangen Arbeit schwul-lesbischer Verbände und Initiativen verleiden. Die queer legal theory verfolgt bekanntermaßen das gleiche Ziel, wenn man mit gleichem Ziel die uneingeschränkte Rechtsentfaltung für schwule Männer und lesbische Frauen meint. Die Antwort liegt darin, dass sie den besagten Assimilationsprozess für kontraproduktiv erachtet. Die queer legal theory würde argumentieren, dass Gesetzgeber und Gerichte zwar faktische Verbesserungen herbeiführen, sich aber gar nicht dem grundsätzlichen Problem stellen, zu hinterfragen, was ursächlich für die Unterordnung schwuler Männer und lesbischer Frauen ist. Dieses Problem besteht darin, dass der Staat – seien es die Bundesrepublik Deutschland, die USA oder die Republik Südafrika – nur solchen Lebensgemeinschaften eine spezielle rechtliche Anerkennung zuteilwerden lässt, die heterosexuellen Stereotypen entsprechen. So widmet man sich aktiv den Belangen von Minderheiten, scheitert jedoch an der vorgegebenen sozialen Ordnung. Buckel führt zu diesem vermeintlichen Erfolg aus: »Während normative Ansätze mit dem Recht eine zivilisatorische Errungenschaft feiern, ein gewisses Potential von Solidarität und die Eindämmung von Gewalt, gilt denjenigen, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse als vermachtete und verwaltete Welt kritisieren und ihre grundlegende Transformation anstreben, genau jene Vorstellung als geradezu naive und oberflächliche Betrachtungsweise.« 49
Insbesondere suggerieren die beschriebenen Gerichtsurteile des südafrikanischen Constitutional Court und des Bundesverfassungsgerichts mit ihren Ausführungen zu Familie und Kindern, dass es solche Beziehungen gibt, die der Staat für mehr schützenswert erachtet, als andere, da letztere bestimmten Kriterien nicht entsprechen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass viele Familien längst keine traditionellen Züge mehr aufweisen und in anderen Identitätsformen leben, die keine entsprechenden im Sinne der Gerichte sind. Die gay and lesbian legal theory stößt somit an ihre Grenzen, da eine Angleichung stets nur in einem Abhängigkeitsverhältnis 49 | Buckel: Zwischen Schutz und Maskerade – Kritik(en) des Rechts.
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vollzogen werden kann und ihre Rechtssubjekte nur den Schutz genießen, den das heteronormativ geprägt Rechtssystem als schützenswert erachtet. Ähnlich verhält es sich mit der feminist legal theory. Grundsätzlich besteht die Gemeinsamkeit von queer und feminist legal theory darin, dass sie beide zu einem gewissen Grad subversiv sind, indem sie das traditionelle, hegemoniale, im Recht verankerte Verständnis von sex und gender infrage stellen.50 Obwohl es nicht die »eine« feminist theory gibt, aus der sich die entsprechende feminist legal theory ableiten ließe, sondern diese viele Facetten mit unterschiedlichen Schwerpunkten umfasst, bewegen sich die Debatten im Verhältnis zwischen Feminismus und queer zumeist um die Begriffe gender auf der einen Seite sowie sex und Sexualität auf der anderen Seite. In einigen Fällen wurde Feminismus unzutreffend als übermoralistisch verurteilt, während queer fälschlicherweise mit der Legalisierung jeglicher sexueller Tätigkeit gleichgesetzt wurde. Dennoch äußern Anhänger der queer legal theory ihre Skepsis darüber, ob die feminist legal theory tatsächlich das Potential für einen radikalen Wandel habe, da sie sich ebenfalls existierenden Identitäten und sozialen Strukturen bedienen. Der feminist theory wird nachgesagt, sie würde weiterhin nach vermeintlich notwendigen Kategorien suchen, um politischen Fortschritt zu erreichen.51 Fineman konstatiert insofern, dass sich ein gewisser Vorteil der queer legal theory darin zeige, dass sie sich an eine größere Zahl von Adressaten richtet, gerade weil ihr Verständnis von Sexualität keinen starren Kategorien, sondern einem fließenden Element unterliege: »In its strongest form, the notion that sexuality is fluid virtually erases the categories of heterosexual and homosexual. It is argued that this theoretical move enlarges the political reach of queer legal theories because it encompasses a far greater number of constituents. It is this claim that leads to the assertion that the promise of queer theory is an inclusiveness not found in feminism.« 52
50 | Fineman: Introduction: Feminist and Queer Legal Theory, 3. 51 | Ebd., Zu nennen sind hier beispielsweise der »Gleichheitsfeminismus« sowie der »Differenzfeminismus«. Es wird kritisiert, dass die sich aus der Feminist Theory abgeleitete Feminist Legal Theory ausschließlich auf Frauen als passive Opfer konzentriere, vgl. Harris, Angela: Race and Essentialism in Feminist Legal Theory. In: 42 Stanford Law Review 581, 1990, 587ff. 52 | Fineman: Introduction: Feminist and Queer Legal Theory, 7.
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Die queer legal theory richtet sich insofern auch gegen Mehrfachdiskriminierungen, die sich beispielsweise aufgrund der sexuellen Orientierung sowie der »Rasse« ereignen.53 Denn ebenso wie bei »Rasse« handelt es sich bei Geschlecht um eine imaginäre Formation, die Wirklichkeit produziert, einschließlich die der Körper, die in der Wahrnehmung vor allen anderen Konstruktionen zu liegen scheinen.54 Diese Sichtweise kommt der Feministin Lorde entgegen, die sich wie folgt kritisch gegenüber der feminist legal theory äußert: »As a Black lesbian feminist comfortable with the many different ingredients of my identity, and a woman committed to racial and sexual freedom from oppression, I find I am constantly being encouraged to pluck out some one aspect of myself and present this as the meaningful whole, eclipsing or denying the other parts of self.« 55
Entsprechend heißt es bei Valdes, dass eine stärkere Verbindung zwischen der feminist und der queer legal theory hergestellt werden müsste, in Form eines so genannten feminist-queer dialogue: »Queer legal theory can, should, and must join the critical enterprise of deconstructing ›sex‹ and ›gender‹. Feminist legal theory likewise can, should, and must begin to include ›sexual orientation‹ more consciously within its discourse. Through mutual collaboration, the depth and scope of Queer/Feminist legal critiques can help to expand both Queer and Feminist consciousness while advancing the legal and social interests that are important to each and common to both under conflationary traditionalism.« 56 53 | Vgl. El-Tayeb, Fatima: Begrenzte Horizonte. Queer Identity in der Festung Europa. In: Steyerl, Hito; Rodríguez, Gutiérrez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster 2003, 129-131. 54 | Haraway, Donna: Geschlecht, Gender, Genre: Sexualpolitik eines Wortes. In: Hauser, Kornelia (Hg.). Viele Orte. Überall? Feminismus in Bewegung, Festschrift für Frigga Haug. Berlin 1987, 37. 55 | Lorde, Audre: Age, Race, Class, and Sex: Women Redefining Difference. In: Dies.; Clarke, Cheryl (Hg.): Sister Outsider: Essays and Speeches. Berkeley 1984, 120. 56 | Valdes, Francisco: Queers, Sissies, Dykes, and Tomboys: Deconstructing the Conflation of »Sex«, »Gender« and »Sexual Orientation« in Euro-American Law and Society. In: California Law Review, Vol. 83, No. 1. 1995, 373.
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Dies sieht auch Butler so, die argumentiert, dass beide Strömungen zusammenarbeiten sollten. Dazu müssten die Anhänger beider Theorien jedoch akzeptieren, dass sie im Widerspruch zueinander stehen: »For either set of intellectual movements to remain vital, expansive, and selfcritical, room must be made for the kind of immanent critique which shows how the presuppositions of one critical enterprise can operate to forestall the work of another.« 57
5. I MPLIK ATIONEN DER QUEER LEGAL THEORY Die queer legal theory versucht, ein anderes Verständnis von Identität rechtlich zu verwerten, bei dem die Sexualität nur einen Teil dieser Identität darstellt. Für eine rechtliche Betrachtung ist dabei entscheidend, dass von der Existenz einer neutralen Norm ausgegangen wird, die die sexuellen oder geschlechtsspezifischen Kategorien in der heutigen westlichen Welt gänzlich infrage stellt. Diese neutrale Norm queer bildet demnach den einzigen Baustein unseres rechtlichen Verständnisses von Identität. Queer bezieht sich primär auf das Geschlecht, ist jedoch übertragbar auf andere Kategorien, wie die sprachliche oder religiöse Identität. Hinsichtlich des Geschlechts geht sie von multiplen Formen von Sexualität und Identitäten aus, während das Recht mit einem engen Verständnis agiert, welches die geschlechtliche Binarität als Tatsache sowie Heterosexualität als Norm voraussetzt.58 Die Vertreter der queer legal theory argumentieren, dass nicht nur die bürgerliche und die patriarchale Lebensweise, sondern auch die heterosexuelle Matrix über das Recht abgesichert werden. Laut Butler produziert der Staat aktiv rechtliche Kategorien und reguliert mit ihrer Hilfe die Einzelnen, insbesondere gesellschaftlich nicht hegemoniale
57 | Butler, Judith: Against Proper Objects. In: Weed, Elizabeth; Schor, Naomi (Hg.): Feminism Meets Queer Theory. Bloomington 1997, 1. 58 | Elsuni, Sarah: Zur ReProduktion von Machtverhältnissen durch juridische Kategorisierungen am Beispiel ›Geschlecht‹. In: Behmenburg, Lena et al. (Hg.). Wissenschaf(f)t Geschlecht. Machtverhältnisse und feministische Wissensproduktion. Frankfurt a.M. 2007, 136.
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Gruppen wie etwa die der Homosexuellen.59 Die queer legal theory beharrt auf der Zusammenhangslosigkeit der vermeintlich eng miteinander verbundenen Faktoren von sex, gender und sexuellen Präferenzen (desire) und betont dabei, dass diese auch im Recht lediglich einen fiktionalen Status innehaben.60 Sie kritisiert nicht nur, dass eine Person, die mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren wird, auch automatisch ein weibliches Subjekt darstellt und sich ausschließlich daran ihre Rechte anknüpfen. Sie argumentiert zudem, Identitäten wie homosexuell, schwul oder lesbisch schlössen die Möglichkeit aus, das eigene Leben selbstbestimmend zu führen, da sich jegliche Rechtsänderung weiterhin an dieser Hierarchie orientieren. Dadurch schließt sie weitere Gruppierungen wie Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle mit ein.61 Nur durch eine Berücksichtigung der queer legal theory erführen auch sie den gleichen Schutz durch das Recht, wodurch sich im Sinne von Fineman der zuvor angedeutete Vorteil herausbildet, den sie im Unterschied zur gay and lesbian beziehungsweise zur feminist legal theory hat. Das bestehende heteronormative und damit hierarchisch ausgerichtete Rechtssystem soll demnach nicht lediglich neu geordnet werden, sondern abgeschafft und durch eine einzige, alle Identitäten einschließende, zentrale Rechts- und Wertenorm – queer – ersetzt werden. Die diversen Facetten des heutigen Zusammenlebens – die anfangs von Fleiner beschriebene »vielfältige Identität der verschiedenen Gemeinschaften«, denen sich der multikulturelle Staat widmen muss – finden so ihren gleichwertigen Platz im Recht. Die Devise der Gleichbehandlung, die im Anti-Diskriminierungsrecht ihre konkrete Ausformung erhält, wird damit überflüssig. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird ersetzt durch einen im Recht verankerten Gleichwertigkeitsgedanken. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf 59 | Butler, Judith: Excitable Speech: A Politics of the Performative. New York 1997, 123. 60 | Halley, Janet: Sexuality Harassment. In: Dies.; Brown, Wendy (Hg.): Left Legalism/Left Critique. Durham 2002, 82. 61 | Gerade Letztere sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie keine entsprechende Berücksichtigung im Recht finden. § 18 Personenstandsgesetz fordert, dass jedem neugeborenen Kind innerhalb einer Woche das männliche oder weibliche Geschlecht zugewiesen wird. Derzeit ist die Eintragung als Zwitter in das Geburtenbuch unzulässig. Überwiegt kein Geschlecht, können Rechtsnormen, die ein bestimmtes Geschlecht voraussetzen, nicht angewandt werden.
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das Zusammenspiel zwischen der queer legal theory und dem herrschenden Rechtsverständnis. Wie anfangs beschrieben, spiegelt das geltende Recht unser mehrheitliches gesellschaftliches Verständnis von Geschlecht wider. Die Tatsache, dass Artikel 3 des Grundgesetzes und das Transsexuellengesetz nicht nur zwischen sex und gender unterscheiden, aber auch dass das Recht generell von Kategorisierungen durchsetzt ist, zeigt auf, dass die Gesellschaft entsprechende Gliederungen und Kategorien akzeptiert. Dies wurde jedenfalls deshalb bislang nicht grundlegend infrage gestellt, da diese Kategorisierungen den Anschein von Transparenz vermitteln. Sie sind im Alltag einfach zu verstehen, zu befolgen und umzusetzen. Man könnte im Sinne von Sauer festhalten, dass die Gesellschaft sie als unerlässlich erachtet, um ihren Normen und Werten Bedeutung zu verleihen. Adorno beschrieb dieses Gehege von Systematisierungen, welches die Subsumtion des je Besonderen unter juridische Kategorien organisiere, als das »Urphänomen irrationaler Rationalität«62 .
6. I MPLEMENTIERUNG DER QUEER LEGAL THEORY 6.1 Die Frage nach dem »ob« Dies wirft die Frage nach der rechtlichen Verwertbarkeit der queer legal theory auf. Nach Patterson erlangen Rechtstheorien dann für die Rechtspraxis Bedeutung, wenn sie sich an einer juristisch profunden Rechtfertigung orientieren.63 Insbesondere vor dem Hintergrund des zuvor beschriebenen Rechtsetzungsprozesses, von dem die Staatslehre ausgeht, ergeben sich somit zwei Fragen: erstens, ob die weitreichende rechtliche Folgen mit sich bringende queer legal theory überhaupt eine unmittelbare Abbildung im Recht finden kann. Dieser Frage liegt, wie Buckel ausführt, folgende Erwägung zugrunde »Das Ergebnis der juridischen Verfahren ist eine normative Ordnung: Sie normiert das, was rechtens ist, eine bestimmte Lebensweise und spezifische Kategorien 62 | Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1966, 302. 63 | Patterson, Dennis: Does Legal Theory Matter to the Practice of Law?. In: Legal Theory: Legal Positivism and Conceptual Analysis Proceedings of the 22nd IVR World Congress Granada 2005, Vol. 1, 159.
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[…], welche Selbstführungspraktiken anleiten. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse schreiben sich in diese normative Ordnung ein – als hegemonialer Konsens. Hegemonie, verstanden als eine Weltanschauung, auf der die Vorlieben, der Geschmack, die Moral, die Sitten und die philosophischen Prinzipien der Mehrheit der Gesellschaft beruhen, und die sich im ganzen Gewebe des sozialen Lebens ausbreitet, findet dabei auf eine subtile Weise Eingang in die Rechtsform über die juridischen Verfahren.« 64
Daran schließt sich die zweite Frage an: Wie kann die queer legal theory umgesetzt werden? Auf den ersten Blick würde sich dies in der Abschaffung jeglicher (zuvorderst geschlechtlicher, aber auch religiöser, abstammungsbezogener, sprachlicher oder behinderungsbedingter) Kategorien niederschlagen. Der Grund hierfür ist, dass sie rechtliche Kategorisierungen grundsätzlich ablehnt, obwohl – wie soeben beschrieben – kategorisches Denken für die westlichen Rechtssysteme geradezu prägend ist. In der Tat handelt es sich hierbei um einen Widerspruch, der ein Zusammenspiel zwischen der queer legal theory und dem derzeitigen Rechtsverständnis auf den ersten Blick erheblich erschwert. Teil dieser zweiten Frage ist es zu klären, wie Juristen auf die durch die queer legal theory möglicherweise entstehenden Rechtsänderungen reagieren sollen, wie sie also das neue Recht letztendlich anzuwenden haben. Die erste Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit einer Implementierung der queer legal theory im Recht lässt sich relativ schnell positiv beantworten. Der zuvor beschriebene in Demokratien geltende Rechtssetzungsprozess ermöglicht grundsätzlich jede Rechtsänderung, sofern sie – wie beispielsweise in der Bundesrepublik durch Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz garantiert – mit bestimmten Verfassungsprinzipien, insbesondere dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip, vereinbar ist. Es ist nicht ersichtlich, wie die queer legal theory die in den Artikeln 1 (Menschenwürde) und 20 (Verfassungsprinzipien) Grundgesetz festgelegten Grundsätze berühren könnte. Gerade in freiheitlichen Demokratien soll es gesellschaftlichen Kräften grundsätzlich möglich sein, sich entsprechend ihren Ressourcen und Strategien als hegemoniale und gegenhegemoniale
64 | Valdes, Francisco: Queers, Sissies, Dykes, and Tomboys: Deconstructing the Conflation of »Sex«, »Gender« and »Sexual Orientation« in Euro-American Law and Society. In: California Law Review, Vol. 83, No. 1. 1995, 373.
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Projekte in die Rechtsform einzuschreiben und ihr eine konkrete Gestalt zu verleihen. Dies ist bei den Inhalten der queer legal theory nicht anders.
6.2 Die Frage nach dem »wie« Anders verhält es sich mit der konkreten Umsetzung der queer legal theory. Eine Implementierung würde zunächst bedeuten, die geltende Rechtslage in allen Bereichen, die Regelungen bezüglich des Geschlechts sowie anderer Identitäten beinhalten, mit queer-rechtlichen Bestimmungen zu versehen oder diese entsprechend anzupassen. Dies brächte die Einführung einer neutralen Norm queer und die Ersetzung der geltenden heteronormativ geprägten Kategorien (Geschlecht, »Rasse« oder Religion) mit sich. Dem liegt im Kern die Annahme zugrunde, dass queer die Abschaffung von Kategorisierungen und Differenzierungen zur Identität im Recht zur Folge hat. Es wäre in diesem Zusammenhang nicht zielführend zu fragen, wie das Recht im Sinne der queer legal theory konkret aussehen könnte oder müsste. Grundsätzlich stellt die queer legal theory, wie jede andere Rechtstheorie, einen Versuch dar, allgemeine nachprüfbare Aussagen über Rechtsnormen und ihre Wirkungsweise auf Gesellschaft und Wirtschaft zu treffen.65 Sie will das Recht als solches in seinen realen Funktionsabläufen erkennen und beschreiben. Dabei dient sie dem besseren Verständnis der Grundbegriffe und Grundstrukturen des Rechts, seiner Kausalfaktoren und seiner Wirkungen auf die Gesellschaft66 über Identität, insbesondere über das Verhältnis zwischen den Bereichen Geschlecht und Identität: »Die Rechtstheorie ist ein Beitrag zur Selbsterkenntnis, Selbstvergewisserung und zur Selbstkritik des Tuns von Juristen.«67 Es kommt also gar nicht darauf an, eine Theorie schablonenhaft in die Praxis umzusetzen. Zum anderen spricht dagegen, dass eine solche Umsetzung stets von den konkreten Interessen und Forderungen ihrer Befürworter abhängt. Sie ist jedenfalls, solange weder diskutable queere Gesetzesnovellen, noch die nötigen parlamentarischen Mehrheiten vorliegen, von lediglich theoretischem Interesse. Darüber hinaus ist, wie bereits angeführt, das gesamte Recht durchsetzt von Kategorisierungen, womit es einem Konzept folgt, 65 | Röhl, Klaus F.; Röhl, Hans-Christian: Allgemeine Rechtslehre. Köln 32008, 62. 66 | Rüthers; Fischer: Rechtstheorie, 14. 67 | Ebd., 16.
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das seit Jahrhunderten die Rechtsdogmatik beherrscht. Gesetzesänderungen könnten zwar theoretisch durch den Austausch vereinzelter Normen mit queeren Inhalten durchgeführt werden. Jedoch ist nicht geklärt, wie dies gleichzeitig ohne negative Auswirkungen in Form von Widersprüchen oder Unklarheiten auf Rechtsgebiete vonstattengehen könnte. Eine notwendige Konsequenz läge beispielsweise in der Abschaffung oder Ersetzung des Anti-Diskriminierungsrechts, zumindest in seiner jetzigen Form. Dies würde sich automatisch bis auf die Verfassungsebene und den darin verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz) auswirken. Eine solch radikale Rechtsänderung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Kohärenz und Stimmigkeit ist schwer vorstellbar. Einen möglichen Ansatz, queere Inhalte in das positive Recht einfließen zu lassen, bietet jedoch die Rechtsmethodenlehre. Dieser Ansatz richtet sich nicht an diejenigen, die das Recht setzen, sondern an diejenigen, die es anwenden. Statt der Änderung des geschriebenen Rechts geht es darum, im Wege der Interpretation rechtlicher Normen queer als wertneutralen Oberbegriff einzuführen und dauerhaft zu etablieren. Das geschriebene Recht würde in seiner jetzigen Form (zumindest vorerst) bestehen bleiben, jedoch im Lichte der queer legal theory ausgelegt. Das heißt, dass ihre Inhalte und Forderungen im Falle einer juristischen Streitfrage – beispielsweise vor Gericht – in rechtliche Entscheidungen einfließen. Problematisch hieran ist, dass juristische Auslegungslehren immer eine rechtspolitische Funktion haben, da sie die interpretative Regelungsmacht, die mit jeder Rechtsanwendung verbunden ist, begrenzen oder erweitern. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt jedoch in ihrer Praktikabilität. Richter können beispielsweise durch Auslegungen den Inhalt einer Norm entsprechend einer bestimmten juristischen Sichtweise prägen, ohne ihren Wortlaut zu verändern. Der mögliche Effekt einer Auslegung im Lichte der queer legal theory ist insofern nicht zu unterschätzen, da gerade in Deutschland der Anteil des Richterrechts an der Gesamtrechtsordnung ständig zunimmt.68 Eine Auslegung im Lichte der queer legal theory zeigt gleichzeitig eine Möglichkeit auf, das Problem des Widerspruchs zwischen den systematischen Kategorisierungen im Recht einerseits und der Kategorisierungsfeindlichkeit der queer legal theory andererseits zu lösen. Es würde weiterhin mit den im Recht bestehenden Kategorisierungen gearbeitet, diese würden jedoch an Bedeutung verlieren. Konkret könnte dies bei der Urteilsformulierung 68 | Ebd., 411, 412.
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zur Geltung kommen. Durch die gay and lesbian legal theory tolerierte, heteronormativ geprägte Argumentationsweisen, wie die des südafrikanischen Constitutional Courts oder des Bundesverfassungsgerichts, würden dann entfallen. Gleichzeitig könnten Richter durch ihre Urteile, die nationale Beachtung genießen, neue queere Ansätze formulieren.
7. V ERNE T ZUNG UND V ERBREITUNG ALS M IT TEL Dies setzt zunächst voraus, dass diejenigen, die das Recht interpretieren und anwenden, die queer legal theory kennen und einzuordnen wissen. Dies ist eine vermeintlich triviale Erkenntnis, der man sich in Anbetracht der geringen Publizität der queer legal theory jedoch bewusst sein muss. Valdes schlägt eine Strategie vor, die darauf abzielt, Juristen für die queer legal theory zu sensibilisieren, da sie es sind, die das Recht anwenden und gestalten.69 Ziel der Strategie sei die Schaffung einer gender dignity, die Freiheit für jedes Individuum garantieren soll. Valdes plädiert dabei für die konsequente Bekämpfung der Stereotype, die das menschliche Verhalten einer Person und die rechtliche Dimension ihrer Identität unweigerlich an die Tatsache koppeln, mit welchen Geschlechtsorganen sie geboren wurde. Dies führe zu ungerechtfertigten Privilegierungen beziehungsweise Unterwerfungen. In einem wesentlichen Schritt wird hierzu die Sozialwissenschaft mit der Rechtswissenschaft verknüpft. Hierbei sollen die durch den Genderdiskurs geschaffenen empirischen Erkenntnisse aus der Sozialwissenschaft in das Recht einfließen, jedoch nicht umgekehrt. Die Rechtssoziologie, die die Wechselwirkung von Rechtsordnung und sozialer Wirklichkeit untersucht, stellt hierzu ein geeignetes Forum dar. Rechtswissenschaftler erlangen so Kenntnis über die Marginalisierung sexueller Minderheiten oder können sich Vorurteilen über Menschen entledigen, die nicht einem heteronormativen Stereotyp entsprechen.70 Im Anschluss daran folgt die Kommunikation, sozusagen das Mitteilen eigener Erkenntnisse und das Berichten von rechtlich relevanten Fragestellungen und Begebenheiten. Valdes selbst nimmt hierbei Bezug auf einen Fall vor dem US-amerikanischen Supreme Court. Der dort beisitzende Richter 69 | Valdes: Queers, Sissies, Dykes, and Tomboys: Deconstructing the Conflation of »Sex«, »Gender« and »Sexual Orientation«, 367-376. 70 | Ebd.
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Powell gab nach einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit homosexuellen männlichen Geschlechtsverkehrs71 zu, es sei frustrierend gewesen, zur Zeit der Gerichtsverhandlungen keinen einzigen öffentlich schwulen Mann gekannt zu haben.72 Dieser Kommentar verdeutlicht, welch bedeutende Rolle das Bewusstsein für und die Kenntnis von der eigenen Umwelt für Juristen spielt. Wie für Powell ist es die Aufgabe eines jeden Richters, Kriterien zu entwickeln, die einen Konsens zwischen einer abstrakten Norm und dem konkreten Einzelfall herstellen. Es ist möglich, dass sich bereits im Frühstadium eines Gerichtsverfahrens eine bestimmte Rechtsauffassung manifestiert, die es sodann erleichtert, eine finale rechtliche Entscheidung zu untermauern. Dies ist einfacher, als diese erneut zu hinterfragen oder gar zu widerrufen. Dieses menschliche Verhalten kann zu subjektiv motivierten und einseitigen Tatsachenfeststellungen führen,73 was jedoch ein unvermeidbares Problem darstellt, den ein Rechtsstaat ertragen können muss. Die aus diesem Phänomen resultierenden Negativeffekte können jedoch gemildert werden, indem über soziale Verhältnisse gut aufgeklärte Richter eingesetzt werden. Heterosexistische Fiktionen wären somit nicht mehr das maßgebende Bild für Entscheidungen, sondern Lebenserfahrung und Wissen. Dies gilt im Übrigen nicht allein für den Rechtsprechungsprozess, sondern ebenso für den von Juristen begleiteten, in Parlamenten und Ministerien stattfindenden Rechtssetzungsprozess. Valdes spricht hierbei von konstruktivistischer Sensibilisierung, die vor Ausgrenzung schützen soll und menschliches Verlangen als natürliche körperliche Eigenschaft verstanden wissen will. Nur so könne eine Entächtung bestimmten sexuellen Verhaltens stattfinden, die sich auf die Rechtsanwendung auswirkt. Zuletzt fordert Valdes eine Koalition der verschiedenen Interessengruppen, die bisher in Kategorien eingeteilt unabhängig voneinander für ihre Rechte streiten, um eine gemeinsame, auf der queer theory
71 | Entscheidung des U.S. Supreme Court vom 30.6.1986, Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186. 72 | De Vos: Jurisprudence, 345. 73 | Schneider, Jochen; Schroth, Ulrich: Sichtweisen juristischer Normanwendung. Determination, Argumentation und Entscheidung. In: Kaufmann, Arthur; Hassemer, Winfried: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Heidelberg 61994, 449.
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basierende Position zu vertreten.74 Dies entspricht dem Gedanken, dass die queer legal theory – wenn auch in diesem Beitrag anhand der Rechte Homosexueller dargestellt – sich nicht nur im Sinne Lordes gegen Mehrfachdiskriminierungen richtet, sondern die Abschaffung all der Kategorisierungen fordert, die Diskriminierungen überhaupt ermöglichen. Man könnte die Strategie von Valdes als unzulänglich kritisieren, da sie im Kern lediglich zugunsten einer stärkeren Publizität der queer legal theory argumentiert. Dies soll über das Einwirken von Einflüssen der Sozialwissenschaft in die Rechtswissenschaft und eine sich daran anschließende, jene Erkenntnisse kommunizierende, Interessenkoalition zu bewerkstelligen sein. Dies ist insofern trivial, als dass die Rechtstheorie ohnehin mit der Soziologie, der Rechtssoziologie, der empirischen Sozialforschung, aber auch der Rechts- und Sozialgeschichte eng verknüpft ist. Das Recht zu verstehen, wie es entsteht und wirkt, ist ohne diese interdisziplinären Bezüge kaum möglich.75 Ebenso verhält es sich mit dem Vorschlag nach einer Interessenkoalition. Tatsächlich greift Valdes mit seinem Vorschlag jedoch den grundsätzlichen Gedanken auf, dass zur Einflussnahme auf das Recht die Mobilisierung der Subalternen unerlässlich ist. Die vorhin beschriebene Forderung nach einer Kooperation aus feminist, gay and lesbian sowie queer legal theorists könnte eine solche Koalition darstellen. Da praktizierende Juristen das Recht nur anwenden, es aber nicht initiativ fortentwickeln – das Richterrecht einmal außen vorgelassen – muss man sie mit Inhalten versorgen. Hierfür sind die Befürworter der queer legal theory selbst zuständig, da sie es sind, die die Vergesellschaftung ihrer Ansicht vorantreiben wollen. Dies ist besonders vor dem Hintergrund wichtig, dass ein möglicher Rechtswandlungs- und Gestaltungsprozess zeitintensiv und konsensbedingt ist und der Kenntnisgrad von Juristen zu queeren Inhalten im Recht äußerst gering ist. Valdes ist also insofern zuzustimmen, wenn er sich die Tatsache zu Nutze macht, dass Juristen einem täglichen Lernprozess ausgesetzt sind. Das Beispiel des Richters Powell zeigt, dass Juristen in ihrer Tätigkeit von ihrem juristischen Wissen und ihrer allgemeinen Lebenserfahrung gleichermaßen abhängig sind. Der Abbau kategorisierender Auffassungen kann somit nur durch den Abbau von Be74 | Gemeint sind alle von der derzeitigen hierarchischen Normativität betroffenen Gruppen, wie Frauen, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle, Behinderte oder »Fremde«. 75 | Rüthers; Fischer: Rechtstheorie, 14.
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rührungsängsten mit dem Themenbereich Identität und Geschlecht einhergehen. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der Juristenausbildung besonders hervorzuheben. Einen interessanten Ansatz verfolgen Brooks und Parkes, die queere Elemente in das amerikanische Jurastudium integrieren wollen, um nachfolgende Generationen von Juristen bereits zu Beginn ihrer Ausbildung auf das Thema aufmerksam zu machen: »It is the growth of a queer presence at law schools that makes our question of how to teach law in a way that leaves students feeling fully human more timely now than it was ten years ago. Law schools have begun, in a limited way, to integrate the experience of queer lives into the curricula. […] As academics, our visibility and invisibility can be powerful for both ourselves and our students. Our ability as professors in the classroom to express ourselves as fully as possible provides a voice that might otherwise be absent and potentially grants students some freedom to be themselves in the classroom. Queer experience must be centered because we cannot accept the invisibility of our lives. Narrative will, therefore, necessarily play a part in our understanding of queer pedagogy.«76
Im Jahre 1957 war eine Verfassungsbeschwerde aufgrund der Strafbarkeit männlicher homosexueller Handlungen noch zurückgewiesen worden. Dabei wurde unter anderem die unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Homosexualität auf biologische Gegebenheiten und das »hemmungslose Sexualbedürfnis« des homosexuellen Mannes zurückgeführt. Zudem wurden die »sittlichen Anschauungen des Volkes«, die sich maßgeblich aus den Lehren der »beiden großen christlichen Konfessionen« speisten, als zu schützende Rechtsgüter angeführt.77 Inzwischen hat jedoch eine gegenhegemoniale Kritik heteronormativ geprägter Rechtsauffassung Eingang in Gerichtsentscheidungen gefunden. So wurde einer homosexuellen Frau vor dem EGMR ein Schadensersatzanspruch zugestanden, da die französischen Behörden ihr die Adoption eines Kindes aus diskriminierenden Motiven aufgrund der sexuellen Orientierung versagt
76 | Brooks, Kim; Parkes, Debra: Queering Legal Education: A Project of Theoretical Discovery. In: Harvard Women’s Law Journal, Vol. 27, 2004, 29, 120. 77 | Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.5.1957, 1 BvR 550/52.
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hatten, was Artikel 8 und 14 der EMRK widerspricht.78 Dies zeigt, dass subalterne Interessen im Recht dann zum Ausdruck kommen, wenn es ihnen gelingt, Berücksichtigung in der juristischen Argumentation und Praxis zu finden.79
8. Z USAMMENFASSUNG In diesem Beitrag wurde untersucht, wie queere Inhalte im Recht verstärkt Berücksichtigung finden können, wie verwertbar sie somit für eine Veränderung des Rechtsverständnisses von Identität sind. Dabei ist deutlich geworden, dass die geltende Rechtslage in den beschriebenen Staaten zwar queere Grundzüge aufweist, jedoch nicht explizit im Sinne der queer legal theory Recht gesetzt oder gesprochen wurde. Derzeit ist es vielmehr so, dass das Recht im Sinne der gay and lesbian legal theory für eine Rechtsangleichung durch Abschaffung von Differenzierungen sorgt und sich dadurch – so ihre Kritiker – lediglich einen Anstrich der Gleichberechtigung verpasst. Dies liegt daran, dass das grundlegende Problem der durch Heteronormativität geprägten Hierarchie bestehen bleibt. Heterosexualität bleibt dominant gegenüber Homosexualität. Zudem berücksichtigen weder die gay and lesbian legal theory noch die feminist legal theory andere Formen von Identität außer sexueller und geschlechtlicher Identität. Die queer legal theory hingegen überwindet solche Grenzen, da eine neutrale Norm als Ausgangspunkt dient und Identität im Recht somit über ihre sexuelle Komponente hinauswachsen kann. Kategorien wie Geschlecht, »Rasse«, Herkunft, Alter oder körperliche Verfassung werden ebenfalls erfasst und verlieren ihre rechtlich relevanten Konturen. Sie bietet insofern Vorteile, die jedoch zugegebenermaßen solch weitreichende Konsequenzen mit sich bringen, dass sich die Frage der Implementierung stellt. Grundsätzlich steht das Recht dieser nicht entgegen. Hier ist jedoch bedeutsam, dass 78 | Entscheidung des Gerichtshofes vom 22.1.2008, E.B. vs. France, Appl. No. 43546/02. 79 | Buckel, Sonja: Zwischen Schutz und Maskerade – Kritik(en) des Rechts. In: Demirovic, Alex (Hg.): Kritik und Materialität. Schriftenreihe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Band 1, 2008, 110, www.rav.de/publikatio nen/infobriefe/infobrief-102-2009/zwischenschut z-und-maskerade-kritikendes-rechts (Zugriff: 25.5.2012).
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die Formung von Kategorien eine wesentliche Eigenschaft des Rechts ist, die Differenzierungen gerade ermöglichen soll, was die vorhin genannten Gesetze, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Personenstandsgesetz, das Staatsangehörigkeitsgesetz, das Passgesetz oder das Beamtengesetz verdeutlichen. Dies steht in einem krassen Widerspruch zum Kern der queer legal theory. Zudem zeichnen sich juristische Verfahren durch eine besondere Eigenlogik aus. Sie beinhalten ein Netzwerk aus Gesetzen, richterlichen Entscheidungen, Prozessordnungen, Kommentaren, Lehrbuchmeinungen, Klageschriften und Rechtstheorien, mit denen gesellschaftliche Sachverhalte unter juristische Kategorien subsumiert werden.80 Die derzeitige Rechtslage in Deutschland hinsichtlich der sexuellen Identität hat sich im Sinne der gay and lesbian legal theory über mehr als sechzig Jahre entwickeln müssen, um im Recht Berücksichtigung zu finden. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass die queer legal theory insofern noch am Anfang ihrer Entwicklung steht, da sie noch nicht hinreichend Berücksichtigung in der juristischen Praxis gefunden hat. Gemessen an der Tatsache, dass das Recht ein Spiegelbild der mehrheitlichen Vorstellung einer demokratischen Gesellschaft ist, verwundert dies nicht. Es zeigt jedoch, dass queere Inhalte zunächst gesellschaftlich stärker vertreten werden müssen, um sich auch im Recht dauerhaft zu etablieren. Bislang ist dies der gay and lesbian legal theory gelungen. Man sollte die beiden Theorien jedoch nicht als zu stark miteinander konkurrierende Ansätze verstehen. Richtungsweisend wäre die schrittweise Ablösung der gay and lesbian legal theory durch queere Elemente. Die von Valdes vorgeschlagene Strategie weist in diese Richtung. Sie ist zwar weniger revolutionär als vielmehr evolutionär, da sie analog zum Emanzipationsprozess schwuler Männer und lesbischer Frauen zu Beginn der 1960er Jahren verläuft. Er weist jedoch zutreffend auf die Notwendigkeit der Vernetzung und Verbreitung queerer Inhalte im Recht hin. Hier ist besonders die Rolle praktizierender Juristen hervorzuheben, die durch Auslegung des Rechts im Lichte der queer legal theory ein neues Verständnis von Identität im Recht etablieren können. Für ihre Kritiker mag die queer legal theory ein verfrühtes und zu weitreichendes, gar subversives Modell darstellen. Die Vorstellung von einer Gesellschaft, in der rechtlich relevante Kategorien aufgelöst werden und durch eine neutrale Norm ersetzt werden, ist faszinierend, gerade weil sie weitreichende Folgen mit sich bringt. Es stellt sich in diesem Zusammenhang 80 | Ebd.
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jedoch die Frage, ob in einer Gesellschaft ein Leben ohne jegliche rechtlich relevante Kategorien möglich ist, beziehungsweise – und dies ist noch entscheidender – ob eine Gesellschaft ohne solche Kategorien überhaupt auskommen will. Es ist es auch denkbar, queer so verstehen und auszulegen, dass sich bei gleichzeitiger Auflösung ebenso andere beziehungsweise neue Kategorien bilden. Zwar mag die queer legal theory vor dem Hintergrund derzeitiger gesellschaftlicher und rechtlicher Auffassungen noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen. Sie ist jedoch dann verwertbar, wenn sie in Forschung, Lehre und Praxis sukzessive Berücksichtigung findet, indem man ihre beschriebenen Vorzüge hervorhebt. Es wird nicht möglich sein, Juristen und insbesondere Richter zu sozialwissenschaftlichen Studien zu verpflichten. Man kann jedoch gezielt ihre Aufmerksamkeit auf den rechtssoziologischen Diskurs lenken und damit ihr Bewusstsein für die soziale Wirklichkeit schärfen. Oder um es mit den Worten von Brooks und Parkes auszudrücken, die auf die Rechtsausbildung sowie die Stellung und Rolle von Juristen in der Öffentlichkeit eingehen: »We need to think seriously about the content and structure of the curriculum and its effect on all marginalized peoples. Seeing the faces and hearing the experiences of queer and other marginalized peoples in our legal education is a good beginning, but it is not enough. We need the material we read and the people we see in our law schools to be firmly rooted in feminist, antiracist, antiablist approaches and conscious of sites and mechanisms of oppression. This is an enormous task. It requires that legal educators undertake to understand their own privilege and to consider how their practices interfere with learning in the classroom. […] Our commitment to this transformative project is in part a commitment to the idea that law school educates citizens. Regardless of the form of the future legal work undertaken by graduates, law schools are charged with educating people who will become role models and leaders in their communities. It is an obvious point, but one that is often underappreciated: law students are future local politicians, volunteers at homeless or women’s shelters, and government lobbyists. Whatever politics such citizens choose to embrace, at a minimum they should be aware of, and understand the effects of, law on less powerful individuals and groups.« 81
81 | Brooks; Parkes: Queering Legal Education: A Project of Theoretical Discovery, 130, 135.
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Intersexualisierung Sportliche Gesellschaften, gender tests und Graswurzelbewegungen Lena Eckert
S PORTLICHE G ESELLSCHAF T Die schwarze Südafrikanerin Caster Semenya gewann am 19. August 2009 bei den 12. Internationalen Leichtathletik Weltmeisterschaften (IAAF) in Berlin im 800-Meter-Lauf die Goldmedaille. Nach ihrem Erfolg kam, aufgrund ihrer äußeren Erscheinung, der Verdacht auf, dass Semenya Intersex*1 wäre, was dazu führte, dass sie nicht nur einen gender test2 über sich ergehen lassen musste, sondern auch durch die Medien auf ihr »wahres« Geschlecht hin geprüft wurde.3 Es dauerte fast ein Jahr, bis Semenya wieder bei Wettbewerben starten durfte – bei den Frauen. Diese Entscheidung wurde von einer Jury, bestehend aus Expert_innen der Gynäkologie, der Endokri1 | Die Benutzung des * signalisiert die verschiedenen Möglichkeiten der SelbstBezeichnung. Ich verwende das *, um zu signalisieren, dass Intersex* ein sehr umstrittener Begriff ist und immer zur Verhandlung offen ist und sein sollte. Hier verwende ich intersex*, um eine Öffnung in Bezug auf die Defintion zu schaffen. 2 | Mehrere Begriffe für den »gender test« sind derzeit im Umlauf, so zum Beispiel »Gender Verification Test« oder »Sex Test« oder »Sex Verification Test«. Diese Verwirrung ist nicht nur symptomatisch für das, was hier getestet werden soll, sondern auch für die zu Grunde liegenden Parameter. 3 | Warum dieser Verdacht aufkam ist unklar; ihr wahres Geschlecht kam in Zweifel. Allerdings wurde auch der Verdacht des Rassismus geäußert, da die 800 Meter Strecke eine Strecke ist, die, im Gegensatz zu Kurz- oder Langstrecken, hauptsächlich von weißen Läufer_innen dominiert ist.
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nologie, der Psychologie, der Inneren Medizin und der Sexualwissenschaft (Spezialisierung Intersex*/Transgender) getroffen. Die Zusammenstellung der Jury verwundert und lässt ein Problem vermuten. Interessanterweise ist hier ein_e Psycholog_in mit an Bord, die über sex mitbestimmen soll, oder ist es doch gender? In den Medien wurden beide Begriffe, »sex test« und »gender test«, verwendet. Die Frage liegt nahe: Um was geht es nun? Um sex, das biologische Geschlecht, oder um gender, das soziale Geschlecht? Was soll hier eigentlich bestimmt werden, von wem und wozu genau? Diese Fragen sind nicht nur zentral, wenn es um Geschlecht im Leistungssport geht. Sie sind der Ausgangspunkt und das Resultat der Trennung von sex und gender. Wer bestimmt also, welches gender oder welches sex Caster Semenya hat? Die oben aufgelisteten Expert_innen sind scheinbar keiner zufälligen Auswahl unterlegen. Beispielsweise ist kein_e Vertreter_in der Kardiologie vorhanden – anscheinend wird das Geschlecht also nicht im Herzen vermutet. Erstaunlicherweise findet sich in der Jury auch kein_e Vertreter_in der Neurologie. Obwohl die Neurowissenschaften dabei sind, Geschlecht im Gehirn zu verorten, sind sie noch nicht so weit, die Wahrheit von Geschlecht oder vielleicht auch nur eine Annäherung daran gefunden zu haben. Die Disziplinen, die jedoch vertreten sind, haben in der Bestimmung von sex und gender eine Tradition der Beweisführung. Seit John Money an der Johns Hopkins Universität in Baltimore begonnen hat, Intersex*ualität, damals noch Hermaphroditismus, genau zu untersuchen, waren diese Institutionen die Ersten, die konsultiert wurden, um zu bestimmen, ob eine Person eher Mann oder Frau ist und als welches Geschlecht diese Person nun leben soll.4 Die Stimme Caster Semenyas war in der Unruhe um ihr Geschlecht kaum noch hörbar. Semenya hätte sich genauso gut nie äußern können während dieser elf Monate. Viele haben ihre Meinung dazu, ob Semenya nun wirklich Mann oder Frau ist, abgegeben. Diese sogenannten Expert_ innen-Stimmen wurden jedoch gehört. Semenya schien nicht nur für den Leistungssport eine Bedrohung zu sein, auf all seine Vorbedingungen, seine Moral und seine Sinnhaftigkeit, sondern auf die gesamte Gesellschaft.5 Je4 | Vgl. Money, J.; Hampson, J.G.; Hampson, J.L.: Hermaphroditism: recommendations concerning assignment of sex, change of sex, and psychologic management. Bulletin of the Johns Hopkins Hospital, 97(4), 1955. 5 | Siehe die Analysen von Blogbeiträgen: Vannini, A.; Fornssler, B.: Girl, Interrupted: Interpreting Semenya’s Body, Gender Verification Testing and Public Discourse. 2011.
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de_r fühlte sich befähigt etwas darüber zu sagen, was Geschlecht wirklich ist und welches von beiden verfügbaren Geschlechtern Semenya wirklich ist. Das Phänomen, dass Expert_innen, die sich durch eine Ausbildung im psycho-medizinischen Bereich qualifiziert haben, befragt werden, welches Geschlecht bei einem Menschen vorliegt, ist relativ neu. Auch, dass der Mensch selbst dazu nicht befragt und seine Stimme gehört wird und seine Aussage gilt, ist erst ein halbes Jahrhundert alt.6 Wie ich zeigen möchte, ist das Phänomen der Intersex*ualisierung7 erst zu Mitte des 20. Jahrhunderts aufgekommen. Es hat sich seitdem zwar verändert und wurde vor allem durch soziale Bewegungen sehr kritisiert, jedoch ist der Ursprung dieses Phänomens in einer älteren Entwicklung zu finden. Das Zweigeschlechtersystem, wie wir es heute kennen, ist zeitgleich mit der Herausbildung der modernen Nationalstaaten entstanden. Das sogenannte dritte Geschlecht, als das Intersex* häufig gehandelt wird, stellt hier keine Störung dar, sondern funktioniert als Verstärkung der binären symbolischen und politischen Ordnung.
O LYMPIA Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Frauen bei den Olympischen Spielen als Partizipierende zugelassen. Die Olympischen Spiele gehen bis ins 8. Jahrhundert vor Christus zurück. Frauen waren zu Beginn nicht zugelassen, weder als Partizipierende noch als Zuschauerinnen, hauptsäch-
6 | Zur Zeit der Herausbildung der Sexualwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es noch gängige Praxis, dass Sexologen wie Magnuns Hirschfeld und andere das persönliche Empfinden ihrer Patient_innen in ihre Analysen mit einbezogen. Seit der Etablierung der Balitmorer Konzepte (vgl. Klöppel, U.: XX0XY ungelöst, Bielefeld 2010) wurden die Stimmen der Betroffenen in die Diagnosen immer weniger einbezogen. 7 | Als Intersex*ualisierung bezeichne ich den Prozess, der durch psycho-medizinische Tests auf Schlussfolgerungen über eine Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit und deren Unterschiedlichkeit und Unterscheidbarkeit zielt, vgl. Eckert, L.: Intervening in Intersexualization: The Clinic and the Colony (Doctoral Dissertation Universiteit Utrecht) 2010.
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lich wegen ihrer »verunreinigenden« Eigenschaften.8 Seitdem besteht die Angst, dass Männer sich als Frauen ausgeben und gegen Frauen antreten könnten. Womit sie sich, so wird es angenommen, einen ungerechten Vorteil verschaffen würden.9 Frauen beteiligten sich verstärkt seit den 1920er Jahren und insbesondere nach dem 2. Weltkrieg an den Olympischen Spielen.10 Zu dieser Zeit wurden alle Frauen, die teilnehmen wollten, von Gynäkolog_innen untersucht; diese Untersuchung war visuell; Brüste und Vagina genügten als Beweis für Weiblichkeit.11 Im Jahre 1968 wurde dieses Prozedere abgeschafft, da sich viele dagegen wehrten und als sexistisch bezeichneten. Der visuelle Text wurde durch chromosomale Tests ersetzt. Dieser genetische Test wurde 1986 schließlich als unzureichend erklärt12 und durch einen allumfassenden medizinischen Test aller Athlet_innen ersetzt.13 Gene und/oder Chromosomen waren von nun an nicht mehr befriedigend; ein XX oder XY-Chromosomensatz ist seitdem nicht mehr ausreichend für die Bestimmung des Geschlechts. 2006 hat die IAAF festgelegt, dass das sex bei Athlet_innen nicht nur durch Labortests bestimmt werden soll, sondern dass Personen, die »unter Verdacht« stehen, von einer Jury evaluiert werden müssen. Diese Jury, bestehend aus den 8 | Vgl. Cavanagh, S. L.; Sykes, H.: Transsexual bodies at the Olympics 2006, 75. 9 | Vgl. Wiederkehr, S.: We shall never know the exact number of men who have competed in the Olympics posing as women: Sport, gender verification and the Cold War, 2009, 556. 10 | Zuerst wurden Frauen nur zu bestimmten Sportarten zugelassen. Zuerst zu Tennis und Golf, dann zum Schwimmen und zur Leichtathletik, zum Volleyball und dem Rudern, dann zum Radfahren, zum Fußball und zum Ringen. Bis heute sind Frauen bei den Olympischen Spielen nicht zum Boxen, zum Baseball, der nordischen Kombination und dem Skispringen im Winter zugelassen. Dagegen sind Softball, Synchronschwimmen und Rhythmische Gymnastik den Frauen vorbehalten. Vgl. Zehnder, K.: Der Zwitter als Freak. Phase 2:34, 2009; Ljungqvist, A. et al.: The history and current polities on gender testing in elite athletes, 2006. 11 | Vgl. Genel, M.; Ljungqvist, A.: Essay: Gender verification of female athletes. 2005. 12 | Ebd., 41. 13 | Vgl. Qinjie, T.; Fangfang, H.; Yuanzheng, Z.; Qinsheng, G.: Gender verification in athletes with disorders of sex development. Gynecological Endocrinology, 25 (2), 2009, 117.
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obengenannten Expert_innen, sollte bestimmen, welches biologische und damit »wahre« Geschlecht vorliegt. Bei den Olympischen Spielen 1988 gab es bereits einen ähnlichen Fall wie den von Caster Semenyas. Maria Patiño wurde vom International Olympic Committee (IOC) untersucht, um festzustellen, ob sie fälschlicherweise zu den Frauen zugelassen wurde. Der genetische Test bestimmte, dass Patiño ein Y-Chromosom hat. Sie wurde daraufhin mit dem Androgen Insensitivitäts Syndrom (AIS) diagnostiziert. AIS wird zu den intersex* Konditionen gezählt. Patiño wurde aus den Olympischen Spielen ausgeschlossen und erst mehrere Monate später von der International Amateur Athletic Federation (IAAF) rehabilitiert. Patiño, wie Anne FaustoSterling schreibt, ist als erste Frau, die dem Gender Test unterzogen wurde, in die Annalen des professionellen Sportes eingegangen.14 Im Jahre 2006 wurden in Athen sechs Athletinnen mit XY Chromosomen für die Frauen zugelassen. In der Geschichte des professionellen Sports gab es wohl öfter ähnliche Fälle, aber warum hat Caster Semenyas Fall dann so ein Aufsehen erregt?15 Wie organisiert sich dieser panoptische Blick der Medien? Die Darstellung Caster Semenyas in den Medien begann damit, dass ein Fokus auf ihren trainierten Körper, ihre flache Brust und ihre tiefe Stimme gelegt wurde. Es ging um Ästhetik, und zwar um eine vergeschlechtlichte Ästhetik. Was die Medien taten, war ein Augenmerk auf sogenannte sekundäre Geschlechtsmerkmale zu legen, um ihr »wahres« Geschlecht in Zweifel zu ziehen. Ihre Körperform und die Verteilung ihrer Muskeln wurden wiederholt evaluiert, um zu zeigen, dass sie nicht richtig weiblich war und der normativen Vorstellung von Weiblichkeit nicht entsprach. Als Semenya auf dem Cover einer Zeitschrift erschien, war sie mit einem komplett weiblichen Make-up zu sehen; das sollte davon überzeugen, dass sie wirklich weiblich ist und dass sie auch weiblich aussehen kann. Das 14 | Vgl. Fausto-Sterling, A.: Sexing the body: Gender politics and the construction of sexuality. New York 2000, 2. 15 | Eine weitere Dimension, der hier Beachtung geschenkt werden muss, ist dass der 800 Meter Lauf eine besondere Stellung bei den Olympischen Spielen hat. Erstens wurde der 800 Meter Lauf, der als zu beschwerlich galt, erst 32 Jahre nachdem die Leichtathletik für Frauen zugänglich war, im Jahre 1960 für Frauen geöffnet. Und zweitens ist diese Strecke im Gegensatz zu allen anderen »weiß dominiert«. Es laufen sehr wenige schwarze Frauen und schwarze Männer auf den 800 Metern. Semenya stellt hier also auch eine Grenzüberschreitung dar.
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Bild hat alle Insignien weißer, westlicher Femininität: Make-up, Wimperntusche, Lidschatten, lange rote Fingernägel, ein Kleid und Schmuck kombiniert mit einer weiblichen Pose. Das Titelblatt lautet: »Wow, look at Caster now!«16 Wir sehen hin und erkennen, dass Semenya nicht nur kein Mann sein kann, sondern auch noch nicht mal mehr männlich ist: Sie hat sich der Weiblichkeit ergeben. Weiße Weiblichkeitskonstruktionen beruhen auf einer klaren Abgrenzbarkeit von Männlichkeitskonstruktionen, also wenig Muskelpräsenz und schlanker Körper was unter anderem auch verständlich macht, warum in Südafrika auch rassistische Motive in der Behandlung des Falles vermutet wurden.17 (Weiße) Normalität ist in Semenyas Repräsentation eingezogen. Suzanne Kessler und Wendy McKenna haben schon 1978 in ihrem Buch Gender – an ethnomethodological Approach den Begriff cultural genitals – kulturelle Genitalien geprägt. Dieser Begriff benennt den Fakt, dass wir in sozialen Interaktionen eigentlich nie (oder sehr selten) wissen, welche Genitalien sich unter der Kleidung unseres Gegenübers befinden. Dennoch attribuieren wir ein Geschlecht. Diese Attribution erfolgt aufgrund normativer ästhetischer Kategorien, die wir aus unserem kulturellen und symbolischen Wortschatz von Geschlecht ableiten. Das Zweigeschlechtersystem beruht darauf, dass ein Geschlecht einen geringeren Status hat (den Mangel) als das andere, ob das beim Sport ist oder in anderen Bereichen der Gesellschaft. Im Sport ist es so, dass es zwar einen Bereich für Frauen gibt, dieser Bereich aber darauf beruht, dass Frauen eine andere, eine minderwertige Wettbewerbsfähigkeit haben.18
D IE G ESCHICHTE VON GENDER Die Prägung des Begriffes gender wird oft der feministischen Wissenschaft der siebziger Jahre zugeschrieben. Tatsächlich wurde er jedoch in der Intersex*-Forschung das erste Mal zu Beginn der 1950er Jahre ver-
16 | »Wow, look at Caster now!« war die Überschrift des Südafrikanischen Magazins YOU, Nummer 114, 10.09.2009. 17 | Vgl. auch Zehnder, K.: Der Zwitter als Freak. Phase 2, 34, 2009, 58-60. 18 | Vgl. Wackwitz, L.A.: Verifying the myth: Olympic sex testing and the category of woman. Women’s Studies International Forum, 26, 556.
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wendet und grenzt sich auch hier schon von sex ab.19 Die Sozialwissenschaftlerin Ann Oakley hat 1972 den Begriff gender von Robert Stoller übernommen, in der Hoffnung ihn für die feministische Agenda nutzbar machen zu können. Dies ist sicherlich passiert, auch wenn Toril Moi fragte, ob es nicht produktiver gewesen wäre, mit Simone de Beauvoirs Begrifflichkeiten der Immanenz und der Transzendenz weiterzuarbeiten.20 Die Trennung von sex und gender hat allein aufgrund ihrer Herkunft aus der pathologisierenden Intersex*-Forschung in vielerlei Hinsicht eine produktive feministische Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und der Produktion von biologischem Wissen lange Zeit erschwert. Gender als Begriff, der mit dem Sozial-Politischem und dem Gesellschaftlich-Kulturellen assoziiert war, hat die Nutzung des Begriffes sex lange Zeit als unabhängig von gender produziert und damit viele produktiven Analysen, die diese Trennung als selbst schon konstruiert untersuchen konnten, verhindert. Als Judith Butler die Verschränktheit von sex und gender herausgearbeitet hat, war innerhalb der feministischen Wissenschaft eine Arbeitsteilung zu verzeichnen, die sex den Biolog_innen und gender den Geisteswissenschaftler_innen zuwies. Butler hat in »Das Unbehagen der Geschlechter«21 diese Trennung untersucht und festgestellt, dass die Vorstellung einer binären sozialen Geschlechterordnung (gender) immer der binären Konzeption von biologischem Geschlecht (sex) vorausgeht. Das heißt, dass die Natur- und Medizinwissenschaften schon eine Idee von einer binären Geschlechterordnung haben müssen, bevor sie ihre Daten nach diesem Raster interpretieren. Das heißt aber auch, dass wir sex binär leben und als natürlich empfinden (müssen), damit es den Biolog_innen als logisch erscheint, ihre Forschung als Beschreibung einer biologischen Faktumslage zu konstruieren. Diese gefühlte Natürlichkeit einer binären Anordnung von sex ist natürlich nicht nur den Forschungsergebnissen der Biomedizin geschuldet. Auch unsere symbolische Ordnung ist binär strukturiert. Diese symbolische Ordnung ist die Strukturierung der Erfahrung und Vermittlung von Welt. Geschlecht, konstruiert als natürlich zweigeschlechtlich, hat einen großen Anteil daran, wie diese symbolische 19 | Vgl. Money, Hermaphroditism; Stoller, R.; Rosen, A.C.: The intersexed patient. In: California Medicine 91(5), 1959, 261-265. 20 | Vgl. Moi, T.: Sexual/Textual Politics: Feminist Literary Theory. London 1985; Beauvoir, S. de: Le deuxième sexe. Paris 1949. 21 | Butler, J.: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991.
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Ordnung strukturiert ist. Donna Haraway zum Beispiel hat anhand anderer Binaritäten sehr anschaulich herausgearbeitet, wie eine binär gedachte Geschlechterordnung unser Verständnis von Welt organisiert – also Zweigeschlechtlichkeit als Strukturkategorie für unsere Erfahrung und Vermittlung von anderen Bereichen unserer Wirklichkeit.22 Das biologische Geschlecht – sex – ist hier nur eine von vielen anderen Erfahrungswelten, die mit gender strukturiert werden. Sex ist demnach keine eigenständige Kategorie; unsere Vorstellung von Geschlecht, der Körperlichkeit der anderen, unserer eigenen Körperlichkeit und der damit einhergehenden Erwartungen an und Wahrnehmungen von Leiblichkeit oder Materialität sind immer schon vorstrukturiert durch eine binäre Ordnung, der Ordnung von gender. Dass diese Ordnung nicht die Natur oder unser Bild, das wir von ihr haben, abbildet oder mit ihr kongruent ist, wird nicht nur klar, wenn wir die Geschlechterordnungen anderer Kulturen ansehen. Dies wird auch klar, wenn wir uns die gewaltsamen Eingriffe in Körper in westlichen Krankenhäusern vor Augen führen, die vorgenommen werden, um das sogenannte natürliche Zweigeschlechtersystem operativ herzustellen.23
G ENDER UND S E X Seit der Psychologe John Money am Johns Hopkins Universitätskrankenhaus in Baltimore, USA in den 1950er Jahre Intersex*ualität untersuchte, hat sich das »Money-Protokoll« in der Behandlung von intersex*ualisierten Menschen und auch erst die Intersex*ualisierung durchgesetzt.24 Eine der ersten Publikationen von Money enthält eine eindeutige Passage zu den Behandlungsmaximen, die zum Teil auch noch heute gelten:
22 | Vgl. Haraway, D.: Simians, Cyborgs, and Women. London 1991. 23 | Vgl. zum Beispiel Kessler, S.: Lessons from the Intersexed. London 1998; Chase, C.: Letter to the Editor. 1996, 1139; Dreger, A.D (Hg.): Intersex in the Age of Ethics . Hagerstown 1999; Eckert: Intervening. 24 | Vgl. Redick, A.: What happened at Hopkins: The Creation of the Intersex Management Protocols. Cardozo. Journal of Law and Gender 12, 2005, 289-296; Eckert: Intervening.
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»[T]he greater medical wisdom lay in planning for a sterile man to be physically and mentally healthy, and efficient as a human being, than for a probably fertile woman to be physically well but psychologically a misfit and a failure as a woman, a wife, or a mother« 25
Was hier beschrieben wird, ist eine Behandlungspraxis, die darauf abzielt, Menschen effizient zu machen und vor allem Bürger_innen zu garantieren, die in eine der beiden Geschlechtskategorien, also männlich oder weiblich, einzuteilen sind. Eine Frau, die nicht heiraten und keine Kinder haben will, wird als »failure«, als Misserfolg und Fehler konzeptionalisiert. Das psychologische Funktionieren wird über die Verletzung der physischen Integrität gestellt.26 Eine mögliche psychologische Außenseiterin, etwa eine Frau, die nicht den heterosexistischen Ansprüchen ihrer Umgebung gerecht wird, wird als nicht wünschenswert – als krank konstruiert. Money hat zudem den Begriff gender role – Geschlechtsrolle in die Intersex*-Forschung eingeführt. Dieser wird wie folgt beschrieben: »By the term, gender role, we mean all those things that a person says or does to disclose himself or herself as having the status of boy or man, girl or woman, respectively. It includes, but is not restricted to sexuality in the sense of eroticism. Gender role is appraised in relation to the following: general mannerism; deportment and demeanor; play preference and recreational interests; spontaneous topics of talk in unprompted conversation and casual comments; content of dreams, daydreams and fantasies; replies to oblique inquiries and projective tests; evidence of erotic practices and, finally, the person’s own replies to direct inquiry.« 27
25 | Money: Hermaphroditism, 299 [Hervorhebung L.E.]. 26 | Transpersonen, die sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, das ihnen aufgrund ihres jeweils als »eindeutig männlich« oder »eindeutig weiblich« deklarierten Genitalstatus bei der Geburt verordnet wurde, (siehe Adrian de Silvas Kapitel) sind hier nicht gemeint, da die auf Wunsch der Person ausgeführte Operation keine Zwangsoperationen sind und somit anders behandelt und untersucht werden müssen. Nicht alle Transpersonen wollen oder wünschen eine Operation. 27 | Money: Hermaphroditism, 302.
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Demnach bezeichnet die Geschlechterrolle alles, was ein Mensch denkt, fühlt, sagt und tut.28 Kein Bereich des Lebens ist unabhängig von gender, alles kann durch den Dualismus des Geschlechtsbegriffes interpretiert werden. Interessanterweise hängt dies jedoch nicht mit der physischen Integrität des Körpers zusammen. Sex, zum Beispiel die Fähigkeit zu reproduzieren, ist nicht die Vorbedingung für ein gender, im Gegenteil, es kann ihm in Moneys Behandlungspraxis sogar diametral entgegenstehen. Das gender muss effektiv sein.29 Foucaults Forderung nach dem »wahren Geschlecht« scheint hier nicht im Vordergrund zu stehen.30 Es scheint das »beste Geschlecht« zu sein, das hier verfolgt wird. Das »beste Geschlecht« jedoch wofür? Ist die Suche nach dem wahren Geschlecht bei Semenya nicht eigentlich eine Suche nach dem besten Geschlecht – dem besten Geschlecht, das Semenya im Leistungssport haben kann, oder vielleicht eher: das für den Leistungssport beste Geschlecht für Semenya? Immerhin ist klar, dass das beste Geschlecht für eine Person dasjenige ist, das die Person nicht zu einem Fehler im System macht – und zwar im System der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Ich werde hier nicht weiter auf die Forschungs- und Behandlungspraxis von John Money und seinem Forschungsteam eingehen.31 Was mich jedoch im Folgenden interessiert, ist Intersex*ualisierung heute im System der Zweigeschlechtlichkeit und sei28 | Der Begriff gender role wird von Money und seinen Mitarbeiter_innen über die Jahre hinweg immer wieder neu definiert, seine Dualität verliert das Konzept jedoch nie, vgl. Money et al.: Imprinting and the establishment of gender role. 1957; Money, J.; Tucker, P.: Sexual Signatures: on Being a Man or a Woman. Boston 1975. 29 | In manchen Forschungskontexten wurde und wird auch der Begriff optimal gender policy benutzt. Vgl. Meyer-Bahlburg, H.F.L.: Gender Assignment in Intersexuality. 1998, 1-21. 30 | Foucault, M. (Hg.): Über Hermaphroditismus. Der Fall Barbin. Frankfurt a M. 1998. 31 | Money’s Behandlungsprotokoll beinhaltet Operationen und die hormonelle Behandlung meistens in den ersten achtzehn Lebensmonaten, Das Behandlungsprotokoll hat zum Ziel, die äußeren Genitalien einem sogenannten normalem weiblichen oder männlichen Erscheinungsbild operativ anzupassen, vgl. Klöppel XX0XY ungelöst; Kessler, S.: Lessons from the Intersexed. London 1998, Voss, H.-J.: Making Sex Revisited. Bielefeld 2010; Eckert: Intervening.
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ne Voraussetzungen und seine Folgen für die Gesellschaft und in diesem Sinne auch den modernen Nationalstaat.
S YMBOLISCHE O RDNUNGEN UND G ESCHLECHTERGESCHICHTE Frauen wurden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den Olympischen Spielen zugelassen, etwa zur gleichen Zeit, als sie das erste Mal wählen gehen durften (in manchen europäischen Staaten viel später) und zur etwa gleichen Zeit, als sie Zugang zu den Universitäten bekamen. Die erste Frauenbewegung war durchaus erfolgreich, der öffentliche Raum wurde zugänglicher für Frauen. Jedoch wurde zur gleichen Zeit ihre natürliche Minderwertigkeit extensiv diskutiert und ihre eigentlich unrechtmäßige Präsenz im öffentlichen Raum ständig erneut festgestellt. So beschreibt Edward Carpenter 1896, der im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen einen Sinn für Gleichberechtigung hatte, die Situation kurz vor der Jahrhundertwende wie folgt: »In late years (and since the arrival of the New Woman amongst us) many things in the relation of men and women to each other have altered, or at any rate become clearer. The growing sense of equality in habits and customs – university studies, art music, politics, the bicycle etc. – all these things have brought about a rapprochement between the sexes.« 32
Foucault, der sich mit Hermaphroditismus, vor allem durch die Herausgabe der Tagebücher von Herculine Barbin, aber auch mit der Diskursivierung und Herstellung des (wissenschaftlichen) Konzeptes von Sexualität zum gleichen Zeitraum beschäftigt hat, hat sich auch mit den Zusammenhängen von Sexualität, Geschlecht und dem modernen Nationalstaat auseinandergesetzt: »Biologische Sexualtheorien, juristische Bestimmungen des Individuums und Formen administrativer Kontrolle haben seit dem 18. Jahrhundert in den modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedessen die freie 32 | Carpenter, E.: The intermediate sex. A study of some transitional types of men and women. London 1921 [1896], 16.
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Entscheidung der zweifelhaften Individuen zu beschränken. Fortan jedem ein Geschlecht, und nur ein einziges. Jedem seine ursprüngliche sexuelle Identität, tiefgründig, bestimmt und bestimmend; was die Merkmale des anderen Geschlechts betrifft, die unter Umständen in Erscheinung treten, so können sie rein zufällig sein, oberflächlich oder sogar einfach trügerisch.« 33
Ich werde später darauf eingehen, wie sich Geschlecht und seine Bestimmung zur Herausbildung des modernen Nationalstaates verhält. Zuerst möchte ich jedoch auf die Geschichte der Geschlechterforschung zurückgreifen, um die symbolische Ordnung, die sich immer auch zur politischen Ordnung verhält, zu erläutern. Der Ursprung des sogenannten Expertentums über Geschlecht geht einige Jahrtausende zurück. Bekannt sind hier insbesondere Platon (428/ 427-348/347 v. Chr.) oder Aristoteles (384-322 v. Chr.), deren medizinische Erklärungen weit rezipiert wurden, vor allem von Claudius Galen von Pergamon (131-201 n. Chr.), einem Arzt der Antike. Galens Theorien wurden sehr anschaulich für nachfolgende Generationen aus Sicht der Geschlechtergeschichte von Thomas Laqueur aufgearbeitet.34 Von ihm wissen wir, dass es nicht immer ein Zweigeschlechtermodell gegeben hat. Laqueur zeigt, dass Geschlecht im Eingeschlechtermodell zwar auch hierarchisch, aber nicht binär konzipiert wurde.35 Intersex*ualität oder Hermaphroditismus haben erst im 19. Jahrhundert eine wachsende und umgreifende Aufmerksamkeit erfahren.36 Während dieser Zeit wuchs das wissenschaftliche Interesse, Geschlecht als naturgegeben und als binär zu definieren. Die aufkommende erste Frauenbewegung in den europäischen Staaten hat durch ihre Forderungen maßgeblich zu einer Irritation in den patriarchalen Gesellschaften beigetragen. Die Reaktion war eine wissenschaftliche Bestimmung von Weiblichkeit – in erster Linie tatsächlich Weiblichkeit, da die Bestimmung der Anomalität immer vor der Be-
33 | Foucault, M. (Hg.): Über Hermaphroditismus. Der Fall Barbin. Frankfurt a.M. 1998. 8f. 34 | Vgl. Laqueur, T.: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. London 1990. 35 | Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst. 36 | Ebd.
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stimmung der Norm geschieht.37 Da Männlichkeit als Repräsentantin von Normalität gesetzt ist, muss Weiblichkeit zuerst einer Prüfung und Definierung unterzogen werden. Vor allem die Psychoanalyse ist hier ein dominanter Diskurs, der zumindest bis in die heutige Zeit in der westlichen Gesellschaft, mehr als beispielsweise soziologische Theorien (Simmel, Weber) rezipiert wird. Die Freudsche Sicht auf Weiblichkeit und den Mangel des Phallus wurde von Lacan weiter ausgeführt und kann auch heute noch als Erklärungsmuster von Zweigeschlechtlichkeit und seiner Wirkmächtigkeit in der symbolischen Ordnung dienen. Frauen haben keinen Penis, sie haben keinen Phallus, was verkürzt ausgedrückt viele psychoanalytisch ausgebildete Leser_innen sehr schmerzen wird, jedoch ist dieser Mangel des Phallus (nach Lacan sind Frauen der Phallus, aber können keinen haben) immer mit dem Mangel – wie symbolisch auch immer – des Penis gleichzusetzen (insbesondere dann, wenn es in einer heteronormativen Gesellschaft um Begehren geht).38 Luce Irigaray beschreibt, dass der weibliche Körper unter mehrfacher Hinsicht als Mangel konstruiert wird. Der weibliche Körper wird als Kontrast oder als Gegenstück zum normativen männlichen Körper konstruiert und diese Konstruktion verursacht eine negative Definition des Weiblichen.39 Die lacansche Psychoanalyse, an der Irigaray sich abarbeitet, ist einem Phallozentrismus verpflichtet, der binäre Oppositionen wie Penis/Mangel, Einssein/Anderssein und männlich/weiblich wahrnimmt.40 Semenyas Körper ruft gerade im Leistungssport solch Unbehagen hervor, weil er den weiblichen Mangel (die Penis-Absenz) nicht hat. Im Leistungssport wird davon ausgegangen, dass Frauen eine andere Wettbewerbskategorie brauchen als Männer, weil sie diesen Mangel haben. Männer jedoch glänzen durch Absenz des Mangels. Da vermutet wird, dass Semenya keinen Mangel hat, folgt, dass sie ein Mann sein muss. Semenya 37 | Vgl. Foucault, M.: Abnormal. Lectures at the Collège de France 1974-1975, New York 2003. 38 | Vgl. Lacan, J.: Écrits. A selection. London 1989; Theresa Brennan schreibt hierzu »The phallus, when it is tied to the advent of desire, is tied to the visually significant penis.«, vgl. Brennan, T.: History after Lacan, London 1993, 52. 39 | Vgl. Irigaray, L.: This sex which is not one. Ithaca, New York 1985. 40 | Vgl. Inahara, M.: This body which is not one: The body, femininity and disability. Body & Society, 15 (1), 2009, 49.
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hat demnach einen Mangel an Mangel.41 Ein weiblicher Körper mit Mangel an Mangel muss demnach männlich sein, was im Leistungssport einen unfairen Vorteil produziert. Einen Vorteil über weibliche Körper. Semenya ist demnach zu athletisch und eine zu starke Konkurrenz für die anderen »normalen« Frauen. Kurz gesagt, um eine richtige Frau zu sein, muss man schlechter sein als ein Mann. Männlichkeit wird demnach als biologischer Exzess konstruiert, aber als einer, der athletische Standards repräsentiert. Frauen können demnach nur gewinnen, wenn sie gegen Frauen antreten, nur dann haben sie eine Chance. Verkürzt gesagt, nur Mangel kann gegen Mangel antreten.
E IN DRIT TES G ESCHLECHT ? Was würde jedoch passieren, wenn es eine eigene Kategorie gäbe, für diejenigen als intersex* identifizierten Personen? Intersex* wird oft als drittes Geschlecht bezeichnet. Vor allem in anthropologischer Forschung werden hier verschiedene nicht-normative Geschlechter unter diesen Begriff gefasst.42 Die Darstellung verschiedener historischer und kultureller Ausprägungen nicht-normativer Geschlechter wird unter den Begrifflichkeiten drittes sex oder drittes gender zusammengefasst und verursacht dadurch nicht nur eine unzulässige Vereinheitlichung der unterschiedlichsten Lebens- und Ausdrucksformen, sondern stellt im gleichen Moment auch die beiden normativen Geschlechter wiederum als »rein«, natürlich und normal her. Mit der Vereinheitlichung aller nicht-normativen Geschlechter unter eine Kategorie werden die Kategorien Mann und Frau als überregional, ahistorisch und selbstverständlich konstruiert. Das erste und zweite Geschlecht,43 also Mann und Frau erfahren durch die Konstruktion einer dritten Kategorie: Alle Geschlechter, die nicht als erstes und zweites Geschlecht zählen, erfahren eine erneute Bekräftigung, die eine Homogenität in den ersten beiden Kategorien herstellt. Nicht nur im Leistungssport sind diese beiden Kategorien fiktiv, zufällig und willkürlich. Wäre es nicht sinnvoller, wenn die Beinlänge für 41 | Vgl. Vannini; Fornssler: Girl, Interrupted. 42 | Vgl. Herdt, G. (Hg.): Third Sex Third Gender. Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History. New York 1994. 43 | Vgl. Beauvoir, Le deuxième sexe.
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das Laufen ausschlaggebend wäre? Wäre es beim Hochsprung nicht einleuchtender, die Größe einer Person als Kriterium für den Wettbewerb zu nehmen? Würde es nicht mehr Sinn machen, die Muskelmasse in Bezug auf das Körpergewicht und die Größe einer Person zu berechnen, um dann als gleich evaluierte Körper gegeneinander antreten zu lassen? Oder würde das wiederum den Wettbewerbssport an sich der Notwendigkeit einer Neudefinition unterziehen? Ist nicht eben genau die Heterogenität der Wettbewerbsteilnehmenden und der unidentifizierbaren Unterschiede das eigentlich Spannende und »Unheimliche« am Leistungssport? Die Idee mancher44 ein dritte Kategorie für Intersex* in den Leistungssport einzuführen ist der Idee geschuldet, dass auch Männer und Frauen als Kategorien komplementär und in sich homogen seien. Demnach gibt es die Vorstellung, dass Intersex* auch eine homogene Kategorie wäre. Intersex* jedoch ist ebenso heterogen wie die Kategorien männlich und weiblich.45
I NTERSE X *UALITÄT IN DER W ISSENSCHAF T – WISSENSCHAF TLICHE I NTERSE X *UALISIERUNG Intersex*ualität ist kein Phänomen, vielmehr das Reden über intersex* und das Bestreben intersex* zu definieren, sind das Phänomen.46 In den USA schreiben feministisch- und queer-Theorie-inspirierte Autor_innen schon seit mehreren Jahrzehnten über dieses wissenschaftliche Phänomen der Intersex*ualisierung. Intersex*ualisierung ruft auch in Deutschland seit ein paar Jahren großes Interesse hervor. Insbesondere nach der Übersetzung von Judith Butlers Thesen in »Das Unbehagen der Geschlechter« haben auch deutsche Forscher_innen begonnen, das Thema aus geisteswissenschaftlicher Perspektive zu betrachten.47 Im anglophonen Sprachraum, vor allem in den feministisch beeinflussten Wissensgebieten, wie 44 | Vgl. Vannini; Fornssler: Girl, Interrupted. 45 | Zu den verschiedenen biomedizinischen Kategorien, die unter die Diagnose Intersex*ualität fallen, siehe Fausto-Sterling, Sexing the body. 46 | Vgl. Holmes, M.: Queer cut bodies. In: Queer Frontiers. Millennial Geographies, Genders, and Generations, edited by J. Boone et al. Madison 2000, 84110; Eckert: Intervening. 47 | Vgl. Dietze, G.: Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus. 2006, 46-68.; Klöppel, U.: »Störfall« Hermaphroditismus und Trans-Formationen
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der Ethnographie und der Soziologie, haben schon in den 80er Jahren Wissenschaftler_innen begonnen, das Thema Intersex* kritisch zu beleuchten.48 Kritische Biolog_innen haben sich mit dem biologischen Zweigeschlechtersystem (sex) beschäftigt und unterschiedliche Alternativen in der Konzeptualisierung von Geschlecht angeboten (insbesondere Anne Fausto-Sterling49). Hier wurden nicht nur biologische Argumente für ein anderes Konzept von biologischem Geschlecht (sex) angeboten, sondern auch die ethischen Komponenten der Behandlung von als intersex* identifizierter Kinder betrachtet50 und die Argumentationen und Meinungen von behandelnden Ärzten untersucht. Kessler zitiert eine Aussage, die die Anfänge eines Umdenkens bei Mediziner_innen anzeigt. Die interviewte Person fragt sich: »Why do we do all these tests if in the end we’re going to make the decision simply on the basis of the appearance of the genitalia?«51 Die weitere Auseinandersetzung zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde stark von der aufkommenden intersex* Bewegung (vor allem aus den USA) und der wachsenden Bereitschaft von Mediziner_innen, mit »Betroffenen« ins Gespräch zu kommen, beeinflusst. Jedoch ist in der Debatte zwischen Intersex*ualisierten und Mediziner_innen ein Ungleichgewicht zu entdecken, das den Behandelnden einen Expertenstatus zu- und den Behandelten abspricht. Die Intersex*-Bewegungen (zum Beispiel Aissg, Accord Alliance, OII) sind sehr unterschiedlich in ihren Zielsetzungen und ihren Absichten. So verfolgen nach Davidson manche einen eher evolutionären, andere einen revolutionären Ansatz.52 Diese beiden Ansätze unterscheiden sich in ihrer Perspektive auf Geschlecht und die damit einder Kategorie »Geschlecht«. 2002, 137-150, Klöppel, XX0XY; Voss, H.-J.: Making Sex Revisited, Bielefeld 2010; Eckert: Intervening etc. 48 | Vgl. Kessler, S.; McKenna, W.: Gender: An Ethnomethodological Approach. London 1978. 49 | Vgl: Fausto-Sterling, A.: The Five Sexes: Why Male and Female are not enough. The Sciences 33, March/April 1992, 20-25; Fausto-Sterling, Sexing the body. 50 | Vgl. Dreger, A. D.(Hg.): Intersex in the Age of Ethics. Hagerstown 1999. 51 | Kessler, S.: The Medical Construction of Gender: Case Management of intersexed Infants. 1990, 13. 52 | Vgl. Davidson, R.: DSD debates: social movement organizations’ framing disputes surrounding the term ›Disorders of Sex Development.‹ Liminalis, 3, 2009, 60-80.
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hergehenden Zuweisungen und Operationen (an Kindern). Die grundsätzliche Frage, die hier gestellt wird, ist die nach der Notwendigkeit eines eindeutigen Geschlechts und seiner Zuweisung durch Mediziner_innen bei der Geburt eines als intersex* identifizierten Kindes. Foucault, der die Biographie Herculine Barbins herausgab, versah sie mit einem Begleitwort, aus dem die immer noch zu stellende Frage stammt: Brauchen wir ein wahres Geschlecht?53 Im Fall Caster Semenya geht es nicht um ein wahres Geschlecht oder seine Herstellung und Definition, sondern um das beste oder legitimste Geschlecht. Ein Geschlecht, das uns immer zu einer oder der anderen Kategorie zuordenbar und damit auch kontrollierbar macht. Ein Geschlecht, das innerhalb gesellschaftlicher Repräsentation, wie in der Sphäre des Leistungssportes und damit auch innerhalb der zweigeschlechtlichen Ordnung des modernen Nationalstaates einen Sinn ergeben kann.
S TÖRUNGEN DER SOZIALEN E NT WICKLUNG Die Wissenschaftshistorikerin Myra Hird war 2000 auf der Konferenz »Atypical Gender Identity Development: Therapeutic Models, Philosophical and Ethical Issues« der Tavistock/Portman Klink. Hird berichtete neben einer Zusammenfassung der Beiträge Folgendes: Vorträge wurden von Psychiater_innen, Psycholog_innen und Mediziner_innen, die mit intersex* und trans* Patient_innen aus England, Kanada und den USA arbeiten, gehalten. Den Vorträgen zufolge waren sich alle einig, dass »normale« Mädchen Kleider und »normale« Jungen Hosen mögen und tragen. Hird berichtet weiterhin von ihrer Verblüffung, bezüglich folgender Situation: »All the female clinicians, including the presenters were wearing trousers. Moreover, none of the female clinicians in the small group wore nail polish or high heels and use of make-up was minimal.«54 All die Kriterien, die von den Vortragenden als Insignien normaler Weiblichkeit definiert wurden und bei ihrer Absenz als Zeichen von Geschlechtsidentitätsstörungen gedeutet wurden, wurden von den Expert_innen selbst nicht getragen. Hird schließt daraus, dass weibliche Expert_innen die Aussagen 53 | Vgl. Foucault, M. (Hg.): Herculine Barbin. Frankfurt a.M. 1998. 54 | Hird, M.: A Typical Gender Identity Conference? Some Disturbing Reports from the Therapeutic Front Lines. 2003, 189.
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über Geschlechtsidentitätsstörungen machen, sich selbst, wenn sie nur in dieser Logik kohärent wären, als »gestört« in ihrer geschlechtlichen Identität diagnostizieren müssten (»made assessments of GID based on behaviors, roles, clothing and so on which, by their own assessment, would render themselves as suffering from GID«).55 Demnach muss die Geschlechtsrolle gerade von Menschen, denen eine Intersex* oder Trans* Diagnose gegeben wird, übererfüllt werden.56 Jedoch ist diese Übererfüllung nicht nur auf die äußerliche Repräsentation bezogen, sondern sie geht viel weiter. Die Koordinaten, die uns gesellschaftlich verorten, sind binär organisiert. Die Ausrichtung an diesen Koordinaten ist gesellschaftlich sanktioniert. Sichtbar wird diese Ausrichtung erst dann, wenn sie eine Herausforderung darstellt. Im Fall Semenya wurde Geschlecht als Koordinate im Leistungssport überdeutlich; was diese Sichtbarmachung verursacht hat, ist nicht Semenyas Körper, sondern die Störungen, die in Bezug auf die klaren Grenzen gesellschaftlicher Verortung von Körpern entstanden sind. Im Oktober 2005 auf einer Konferenz in Chicago, die von der Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society (LWPES) und der European Society for Pediatric Endocrinology (ESPE), ausgerichtet wurde, kamen 50 internationale Expert_innen und 2 Intersex*-Aktivist_innen zusammen, um neue Forschung- und Behandlungsperspektiven zu formulieren. Die entstandene Publikation, das sogenannte ›Consensus Statement‹, führte den neuen Begriff ›Disorders of Sexual Development‹ (DSD)57 als Bezeichnung für Intersex*ualität ein. In diesem Dokument ist folgender Satz zu finden: »a key point to emphasize is that the DSD child has the potential to become a well-adjusted, functional member of society«58 . Wiederum wird hier die Notwendigkeit der Anpassungsfähigkeit und der Funktionabilität der zu behandelnden Person aufgegriffen und ins Zentrum der derzeitigen Behandlungsmaximen gestellt. Ich finde auch hier wieder die Wortwahl besonders interessant: To be well-adjusted kann ins Deutsche nicht nur als 55 | Ebd., 190. 56 | Vgl. Klöppel: »Störfall«, 173. 57 | Oft wird der Begriff auch als Disorders of Sexual Differentiation gehandelt. Im ursprünglichen »Consensus Statement« wird DSD jedoch als Disorders of Sexual Development bezeichnet; Hughes, I.A. et al.: Consensus statement on management of intersex disorders. Archives of Disease in Childhood, 91, 2006, 554-563. 58 | Ebd., 151.
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angepasst, sondern auch als bereinigt oder eingestellt übersetzt werden. Operative Eingriffe an intersex*ualisierten Kindern, die jetzt unter dem Begriff DSD gefasst werden, stellen demnach unter der neuen Nomenklatur eine Störung dar, die bereinigt werden muss. Alyson Spurgas hat die Begrifflichkeit des DSD wie folgt beschrieben: »[DSD] positions the pre-/ post-/intersex body as a haunted body that must be constantly surveilled and preemptively managed, so that the individual’s at-risk status is never realized, the ambiguity is kept in (profitable) remission, and the (hetero-) normative identity remains secure«.59 »Disorder of Sexual Development« wird oft als »Störung der Geschlechtsentwicklung« ins Deutsche übersetzt.60 Meine polemische Ausgangsfrage an dieses Konzept möchte ich hier gerne mit meinen Leser_innen teilen, vor allem, weil diese Frage in meinem Nachdenken über Intersex*ualisierung in den Nationenstaat ein wichtiger Moment war. Ist diese Bezeichnung, und vor allem auch die Behandlung von als intersex* bezeichneten Menschen nicht eher die Störung? Stellen nicht die gewaltsamen operativen Eingriffe an Körpern eine »soziale Störung« dar? Ist nicht die Ignoranz und Auslöschung der Vielfalt von sex zugunsten eines Zweigeschlechter-Systems die soziale Störung? Was würde mit sex passieren, wenn eine immer noch hierarchische und patriarchalische Gesellschaft von dem Konzept gender Abschied nehmen würde? Die Dissoziation des Konzeptes gender von sex, also dem sogenannten biologischen oder materiellen Körper ist die Voraussetzung für die Differenzierung und auch die Pathologisierung von beiden Konzepten. Wäre es möglich sex als solches, als solch ein variables materielles Erscheinungsbild, das es ist, zu denken, hätte gender eigentlich keine Existenzberechtigung mehr. Körper und ihre Materialität sind vielfältiger als das Konzept gender es jemals sein kann. Gender ist ein soziales Konzept, das der symbolischen Ordnung zufolge binär angelegt ist. Diese dichotome symbolische Ordnung ist immer hierarchisch angeordnet, da Gesellschaften sich hierarchisch organisieren. Was also würde mit sex passieren, wenn gender keinen Einfluss mehr auf die Wahrnehmung und Konzeption von sex hät59 | Spurgas, A.K.: (Un)Queering identity: The biosocial production of Intersex/ DSD. Farnham 2009, 114. 60 | Vgl. zum Beispiel Thyen, U.; Hampel, E.; Hiort, O.: Störungen der Geschlechtsentwicklung. Disorders of sex development. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 2007, 1569-1577.
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te? Was könnte nicht nur mit sex passieren, sondern auch mit Sexualität? Ich meine hier Sexualität als immer schon auf binärem sex basierend konzeptionalisiert. Sexualität als Begegnung zwischen Körpern, Sexualität als nicht nur, sondern eher unter ferner liefen mit Reproduktion assoziiert? Was würde passieren, wenn wir sex als so vielfältig denken, wie menschliche (und auch tierische und pflanzliche) Körper auf dieser Welt erscheinen? Wie würde unser Konzept von Sexualität sich verändern müssen, wenn wir anfingen, sex als nicht-binär wahrzunehmen? Die wenigsten Arten der sexuellen Interaktion zwischen (menschlichen) Lebewesen sind ausschließlich auf Reproduktion ausgelegt. Andere Resultate von Sexualität oder vielleicht eher Erfahrung, während der sexuellen Begegnung, sind in vielen Fällen wichtiger als die reproduktiven Zukünftigkeiten, Aspekte oder Möglichkeiten. Sobald gender als soziales Konzept mit sex in Verbindung gebracht wird, wird sex wie auch Sexualität immer schon in Zusammenhang mit einer heteronormativen, reproduktiven und sozial effektiven Ordnung verstanden. Sex als Konzept, und die Biologen sind sich darüber einig, ist ein bisher ungeklärtes Phänomen. Gender jedoch ist ein Konzept, das gesellschaftliche (und symbolische) Ordnungen widerspiegelt und erklärt (allerdings auch reproduziert). Gender ist zwar fähig, so etwas wie ein drittes Geschlecht zuzulassen, jedoch bestätigt ein drittes auch immer das erste und zweite Geschlecht. Die Dichotomie und vor allem die Hierarchie wird hier nicht gebrochen, im Gegenteil, sie wird vielmehr bestärkt – denn so wird es vermutlich immer ein erstes, zweites und ein drittes Geschlecht geben. Auch die Vorstellung eines Kontinuums von Geschlecht (hier immer gender und sex als eines gedacht) ist wenig hilfreich, wenn wir gender dekonstruieren wollen.61 An einem Punkt des Kontinuums wird trotzdem der maskuline Mann und am »gegenüberliegenden« Punkt die feminine Frau stehen. Irgendwo in der indifferenten, gesellschaftlich unidentifizierbaren Mitte wird das dritte Geschlecht liegen. Für die gesellschaftliche Ordnung ist dies auch irrelevant – aber nur dann, wenn wir diese gesellschaftliche Ordnung weiterbestehen lassen und als natürlich begreifen. Auch nur dann, wenn wir weiter sex als binär denken und unser Verständnis von Sexualität bestimmen lassen.
61 | Vgl. Eckert, L.: The Category of ›the Third‹ — some theoretical and political implications. Liminalis. Zeitschrift für Geschlechtliche Emanzipation 1, 2007, 6-19.
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G ESELLSCHAF T UND A K TIVISMUS , Q UEER - ANARCHISTISCHE Ü BERLEGUNGEN Verschiedene Intersex* Bewegungen haben sich für unterschiedliche Strategien entschieden, um die psychologische und physiologische Gewalt gegen Menschen, die als intersex* diagnostiziert wurden, zu bekämpfen.62 Dass es sozial-politische Bewegungen gibt, die sich mit diesem Thema beschäftigen, bestätigt meine Annahme, dass intersex* kein medizinisches Problem ist, sondern ein sozial-politisches. Die meisten Intersex*-Bewegung haben ähnliche Ziele: sie wollen den Fokus auf gender hin zu einem Fokus auf medizinische Notwendigkeiten richten. Mit Robert Davidson habe ich die Unterscheidung zwischen solchen Bewegungen gemacht: Bewegungen, die einen eher revolutionären und anderen, die einen eher evolutionären Charakter haben.63 Die Bewegungen, die wir unter »evolutionär« gefasst haben, zielen darauf ab, die Methoden, nach denen entschieden wird, wie Intersex* medikalisiert wird, zu verändern. Das wichtigste Anliegen ist hier innerhalb des medizinischen Paradigmas zu argumentieren und anhand einer medizinischen Sprache für eine Veränderung in der Intersex*-Behandlung zu arbeiten. Die Bewegungen, die wir als revolutionär bezeichnet haben, lehnen den medizinischen Diskurs um Intersex* und auch die Sprache mit der Intersex* verhandelt wird, ab.64 Viele der Aktivist_innen, die in diesen Bewegungen organisiert sind, gehen davon aus, dass ihr »Problem« kein medizinisches, sondern ein gesellschaftlich-politisches ist. Demnach liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Organisation von Gesellschaft und den Strukturen von sex und gender. Diese Graswurzelbewegungen sind nicht willens, den medizinischen Diskurs zu bedienen und bewegen sich auch oft nicht in Sprachparametern, die auf den ersten Blick intelligibel sind.65 62 | Dreger, A. D.; Herndon, A.M.: Progress and politics in the intersex rights movement. 2009, 199-224. 63 | Vgl. Davidson, R.; Eckert, L.: DSD debates: identifying revolutionary and evolutionary approaches. Paper given at the Disorderly Conduct conference, Wilfrid Laurier University, CA, July 24-26, 2009. 64 | Vgl. Davidson: DSD debates, 64. 65 | Vgl. OII, n.d.: FAQ: About the Organisation Intersex International. www. intersexualite.org/Organisation_Intersex_International.html (Zugriff: 01.09. 2011).
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G ESCHLECHT UND N ATION Foucault stellte in einer seiner Vorlesung fest »being homosexuals, we are in a struggle with the government, and the government is in a struggle with us«.66 Was mich hier interessiert, ist Foucaults Feststellung, dass es eine Störung oder sogar einen Kampf zwischen nicht-normativer Sexualität und damit auch dem Zweigeschlechtersystem und dem modernen Nationalstaat gibt. Ich möchte also der Frage nach einer In-BeziehungSetzung verschiedener Graswurzelbewegungen und deren Denkbewegungen innerhalb der modernen Nationalstaaten, deren Organisation auf dem Zweigeschlechtersystem beruht, nachgehen. Der moderne europäische Nationalstaat ist ein relativ neues politisches Gebilde, das nicht nur in erster Linie, sondern aufgrund seiner Entstehungsgeschichte männliche Individuen in einer politischen Gemeinschaft zusammengeschlossen hat. Das Zweigeschlechtersystem, wie wir es heute noch kennen, ist demnach von zentraler Bedeutung für die Herausbildung von Nationalstaaten gewesen. Das Konzept Nation basiert auf dem Konzept Zweigeschlechtlichkeit in seinen vielfältigen aber immer hierarchischen Verhältnissen. Feministische Studien zur Gleichzeitigkeit der Entstehung von Nationenstaaten und Geschlechterhierarchie haben aufgezeigt, dass mit der Emanzipation des Bürgers (der vorher Untertan war in der Feudalgesellschaft) die Institutionalisierung und Konstruktion der bürgerlichen Ehe einherging (Unterwerfungsvertrag).67 Erna Appelt schreibt, dass »[die] soziale und politische Kategorie Geschlecht [ist] eines der wichtigsten strukturbildenen Elemente von Staat und Nation« ist.68 Der Begriff Nation wurde seit dem 18. Jahrhundert in unterschiedlichster Weise definiert. Jedoch sind alle Definitionen darauf ausgerichtet, festzulegen, welche Kriterien eine Zugehörigkeit oder einen Ausschluss 66 | Foucault, M.: Sex, power, and the politics of identity. New York 1997. 67 | Vgl. Pateman, C.: »God has Ordinained to Man a Helper«: Hobbes, Patriarchy and Conjugal Rights. Cambridge 1991; Frevert, U.: »Mann und Weib, und Weib und Mann« Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995; Frevert, U.: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. Frankfurt a.M. 1996; Rumpf, M.: Staatsgewalt, Nationalismus und Geschlechterverhältnis in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1996. 68 | Appelt, Erna: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt a.M. 1999, 20.
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zu einer Nation herstellen. Demnach bedeuten diese Kriterien somit die Herstellung von Identitäten und damit immer auch die Bestimmung des Nicht-Identischen, also des Außen, des Anderen, des Fremden. Damit ist das Konzept des Nationenstaates eines, das definiert, wer dazugehört, wer legitim »innen« ist und wer nicht. Der Zugriff des Nationenstaates auf diejenigen, die als zugehörig definiert werden, ist demnach eine politische Herstellung von Identitäten. Die feministische Forschung hat die Entstehung der Industriegesellschaften bereits überzeugend in Beziehung mit der Transformation dem System der Zweigeschlechtlichkeit und den Veränderungen in der Bedeutung der modernen Familie als Sozialisationsinstanz gesetzt.69 Der moderne Nationalstaat wird als autonom verstanden, dem die männlichen Bürger ihre Macht übertragen. Zur gleichen Zeit entstand ein Verständnis von Männlichkeit oder Männlich-Sein, das sich von einem Verständnis von Weiblich-Sein oder Weiblichkeit abgrenzen musste. Die Erfindung des modernen Nationenstaates ging Hand in Hand mit der Erfindung der Trennung von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Öffentlich und Privat, von Autonom und Abhängig. Ebenso gab es eine Militarisierung des männlichen Staatsbürgers. Die moderne Familie und ihre Sozialisationsmechanismen sind zu tiefst verbunden mit der Legitimierung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses. Der Begriff des Bürgers, und zwar des männlichen, nicht des weiblichen Bürgers, ist ein Schlüsselbegriff der europäischen Nationenstaaten. Alle männlichen Bürger sind hier »gleich« und werden als solche verstanden. Diese haben demnach die Gemeinsamkeit der politischen Partizipation. Nur männliche Bürger haben den Status eines politischen Bürgers, der sich nach Appelt dreifach abgrenzt.70 Erstens nach oben gegenüber der Obrigkeit, zweitens nach außen gegenüber Fremden und drittens nach innen gegenüber dem Binnenbereich der familial organisierten Privatsphäre, der Produktionsbetriebe und damit denjenigen, die abhängig sind, und daher keine Gleichen unter Gleichen sind. Diese Nicht-Gleichen unter Gleichen sind im modernen Nationalstaat in erster Linie Frauen. Staatsbürgerschaft definiert sich einerseits über die Inklusion der Gleichen und andererseits der Exklusion 69 | Vgl. Bernold, M. et al.: Familie: Arbeitsplatz oder Ort des Glücks? Historische Schnitte ins Private. Wien 1990; Mazohl-Wallnig, B.: Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert. Wien 1995. 70 | Vgl. Appelt: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation, Frankfurt a.M. 1999, 15ff.
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derer, die nicht gleich sind. Dieser Prozess, in dem wir uns immer noch befinden, auch wenn der öffentliche Raum zunehmend von Frauen erobert wird (sogar im Leistungssport können Frauen inzwischen eine Geschichte verzeichnen), ist der Prozess der Institutionalisierung der Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit. Der moderne Nationalstaat basiert auf dieser Dichotomie, die durch und über das Zweigeschlechtersystem verhandelt und repräsentiert wird. Was würde es also heißen, Geschlecht nicht mehr binär zu denken? Was würde es heißen, Geschlecht nicht mehr binär zu leben? In erster Linie würde das vermutlich heißen, dass wir von vielen binären Organisationsstrukturen Abschied nehmen müssten, die nicht nur unsere Körper in eine binäre Architektur einlassen, sondern auch unsere Arbeitsverhältnisse und unsere Kommunikationsstrukturen – im Zuge dessen auch die jene Struktur, die diese einzelnen Verhältnisse zusammenhält: den Nationalstaat. Herrschaft auf nationaler und geschlechtlicher Ebene wird dann prekär, wenn Irritation entsteht; denn so wird sie sichtbar. Im Falle von Caster Semenya wird klar, dass ein Event wie die Olympischen Spiele, die bisher auf dem Wettbewerb zwischen Nationalstaaten beruht haben, prekär wird. Das Koordinatensystem der Zweigeschlechtlichkeit wird herausgefordert und sichtbar, wenn seine Grenzen von anderen Entwicklungen tangiert werden. Geschlecht ist das wichtigste Instrument der Nationalstaaten. Vielleicht dient die Grenzziehung, wenn es bei Olympia dem Kampf der Völker, um Geschlecht geht, der Versicherung der alten Ordnung. Vielleicht zeigt aber auch die Angst um die Geschlechtergrenzen nur die Angst um die Grenzen zwischen den Nationalstaaten.
O RDNUNGEN – NATIONAL UND GESCHLECHTLICH – EIN A USBLICK Mit dem Begriff Intersex*ualisierung habe ich versucht, den Prozess zu benennen, durch den bestimmte Körper psychologischen und physiologischen Normalisierungsprozessen unterworfen werden.71 Das Zweigeschlechtersystem des modernen Nationalstaates ist so rigide, dass es Körper, deren äußere und innere Erscheinungsformen nicht den zuvor gesetzten Parametern entsprechen, diesen durch menschliches Eingreifen 71 | Vgl. Eckert: Intervening.
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angepasst werden müssen. Das heißt nicht, dass es diese Körper nicht gibt; es heißt aber auch, dass es kein natürliches Zweigeschlechtersystem gibt. Wenn Körper existieren, deren Materialität die Vorstellung eines Zweigeschlechtersystems übersteigt, muss das notwendigerweise heißen, dass dieses System nicht alle existierenden Körper fassen kann und sie zurichten muss, demnach also fehlerhaft ist. Graswurzel Intersex*-Bewegungen wie OII versuchen, ein Bewusstsein für dieses Verhältnis zu schaffen. Mit der Hilfe von queer-theoretischen Ansätzen und ihrem eigenen Erfahrungsschatz (zumeist gewaltvolle Eingriffe in die körperliche Integrität) stellen sie zur Diskussion, ob die Definition von Intersex*ualität als »Störung« gefährlich ist für das betroffene Individuum oder eher für die Ordnung einer heteronormative Gesellschaft. Mit dieser Diskussion entsteht meiner Ansicht nach eine Öffnung des Intersex*Diskurses für andere Störungen der heteronormativen Gesellschaft und ihrer Organisation. In erster Linie geht es hierbei um queere Subjekte, deren Begehren nicht in heteronormative Strukturen passt, aber auch an viele andere Subjekte und Zusammenhänge von Subjekten, deren Verhalten eine Störung der Ordnung ist. Heterosexualität hat also etwas mit der politischen Organisation des Nationalstaates zu tun. Feministische Analysen haben diese Verknüpfung dichotom organisierten Geschlechtern und Sexualität mit der Trennung von öffentlich und privat, reproduktiver Arbeit und Lohnarbeit, und insbesondere der Stellung der Kleinfamilie als kleinste Zelle des Nationalstaates weitreichend diskutiert ist.72 Intersex* hat in dieser binären, auf Reproduktion ausgelegter kapitalistischer Organisation keinen Platz – Intersex* ist hier unintelligibel.73 Doch können auch andere nicht-normative Sexualitäten, Geschlechter und Identitäten vom Nationalstaat nicht als adäquate Bürger_innen (an-)erkannt werden. Solange der moderne Nationalstaat auf Zweigeschlechtlichkeit als symbolische Verständlichmachung für die Trennung von Öffentlich und Privat, von Innen und Außen beruht, ruft jede Störung in Bezug auf heteronormative und binäre Kategorien Beunruhigung hervor. Im gleichen Moment jedoch definieren sie als Außen – als Objekte – die normative, intelligible Ordnung.74 Intersex* ist eine Vorbedingung für eine binäre Geschlechterkonstruktion; das Dritte bestätigt immer 72 | Vgl. Appelt, Erna: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation. Frankfurt a.M. 1999; Seemann, B.: Feministische Staatstheorie, Leverkusen 1996. 73 | Vgl. Butler, J.: Undoing Gender, New York 2004. 74 | Vgl. Kristeva, J.: Powers of Horror. New York 1982.
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das Erste und das Zweite. Intersex* und alle nicht-normativen Geschlechter und Sexualitäten sind demnach auch Vorbedingung für einen binär organisierten Nationenstaat. Intersex* ist eine Bedrohung für Heteronormativität und das Intersex*Management repräsentiert den Kampf von regierenden Institutionen (wie medizinischen Institutionen) mit allem was queer ist.75 In diesem nicht-intelligiblen, oder vielleicht auch nur sehr herausforderndem Sprachduktus gleichen sie sehr vielen Queer Theoretiker_innen, die die symbolische Ordnung infrage stellen. Oft muss ein Gedanke, der etablierte Gedankengänge infrage stellt, außerhalb der einfach verständlichen Sprachgewohnheiten formuliert werden, um sich selbst gerecht werden zu können. Gerade queer-theoretische Diskurse versuchen das: Gedanken zu finden, die ungewohnt sind und deren Ausmaß erst noch verstanden werden muss. Die symbolische und politische Ordnung und die Ordnung von Körpern hängen eng zusammen; auch die Beziehungen zwischen Körpern und ihren Organen und Körpern und anderen Körpern sind durch die symbolische Ordnung und Sprache hervorgebracht und definiert. Wollen wir diese Beziehungen infrage stellen, ist es oft nötig, eine andere Sprache und auch eine andere politische Organisationsform zu finden.
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»Kämpfen mit einem queeren Gott?« Aspekte einer queeren Theologie Kerstin Söderblom
E INLEITUNG Die Herausgeber dieses Bandes schlagen in ihrer Einleitung einen Fokussierungswechsel vor. Genderdiskurse sollten jenseits von ideologisch geführten Differenzdebatten ihre existentielle und gesellschaftspolitische Bedeutung und ihre normierende Wirksamkeit beschreiben und kritisch reflektieren. Dadurch würden die Debatten um gender kontextbezogen und ergebnisoffen geführt werden, ohne die Kategorie gender unzulässig eng zu führen oder ganz zu verabschieden. Sie beziehen sich dabei auf Erkenntnisse der queer theory, die jede Form der binären Dichotomisierung, der ideologischen Naturalisierung oder der ignoranten Tabuisierung von gender ablehnen. Stattdessen vervielfältigen queere Untersuchungen die Diskurse und bürsten traditionelle Genderdebatten kritisch gegen den Strich.1 Ich nehme in meinem Beitrag ebenfalls Erkenntnisse der queer theory auf und zeige an einem konkreten Beispiel, wie die biblisch theologische Exegesearbeit durch queere Re-Lektüre ausdifferenziert wird und gewinnen kann.
1 | Vgl. Hark, Sabine: Heteronormativität revisited. Komplexität und Grenzen einer Kategorie. In: Kraß, Andreas (Hg.): Queer Studies in Deutschland, Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung. Berlin 2009, 23-40; oder: Engel, Antke: Unauffällig, unbehelligt – und staatstragend. Sexualpolitiken in Zeiten der Restauration. In: Queer Studies in Deutschland, Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung. Berlin 2009, 41-59.
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H E TERONORMATIVITÄT Mit dem Begriff der Heteronormativität bezeichne ich die Erkenntnis vieler Studien der queer theory, dass Heterosexualität als scheinbar zeitloses und unveränderbares Phänomen in Geschichte und Gegenwart zur unhinterfragten Norm erhoben wurde und wird.2 Demgemäß muss sich das Prinzip der Heterosexualität nicht erklären, weil es angeblich von Natur aus da ist, weil es von Gott so gewollt ist und als »Inbegriff von Geschichte jenseits von Geschichte«3 erscheint. Queer theory analysiert diese heteronormative Grundierung der Gesellschaft. Sie zeigt auf, wie Heteronormativität eingeschrieben ist in Identitätskonstruktionen, Geschlechterverhältnisse, Körper- und Familienpolitiken, ökonomische Verhältnisse und in religiös, kulturell und national chiffrierte Mythenbildungen. Auf dieser Erkenntnisgrundlage erklären queer theoretische Ansätze, wie die heteronormativ organisierte zweigeschlechtliche Ordnung funktioniert und als quasi natürliche aufrechterhalten wird.4 2 | Vgl. Söderblom, Kerstin: Religionspädagogik der Vielfalt. Herausforderungen jenseits der Heteronormativität. In: Pithan, Annebelle et al. (Hg.): Gender Religion Bildung, Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt. Gütersloh 2009, 371-372. 3 | Hark, Sabine: Heteronormativität revisited, 31. 4 | Im Gegensatz dazu haben zahlreiche feministische Studien in den siebziger und achtziger Jahren den Zusammenhang von Sexismus und Homophobie außer Acht gelassen. Dagegen formulierte aber Gayle Rubin bereits in den siebziger Jahren, dass Heterosexualität nicht einfach qua Natur gegeben ist, sondern durch gesellschaftspolitische und ökonomische Machtstrukturen hergestellt und aufrechterhalten wird, vgl. Rubin, Gayle: Frauentausch, Zur politischen Ökonomie von Geschlecht. In: Dietze, Gabriele; Hark, Sabine (Hg.): Gender kontrovers, Genealogie und Grenzen eine Kategorie, Königstein 2006, 89; in unzähligen empirischen und theoretischen Studien wurde in der Folge ein Analyserahmen entwickelt, der aufzeigt, dass Sexismus und Homophobie die Folgen derselben machtpolitischen und ökonomischen Regulierungen sind, die Geschlecht und Sexualität heteronormativ aufeinander beziehen und engführen, vgl. Sedgwick, Eve Kosofsky: Epistemology of the Closet. Berkeley 1990; das scheinbar alternativlose System der Heterosexualität und dessen Arsenal von Negativsanktionen bei Abweichungen skizzierte Adrienne Rich in den achtziger Jahren programmatisch mit dem Begriff der »Zwangsheterosexualität«, vgl. Rich, Adrienne: Zwangshete-
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Die »Machtkonfiguration der Heterosexualität«5 wurde bereits in den neunziger Jahren am radikalsten von Judith Butler hinterfragt, die damit eine wichtige Theoriebildnerin der queer theory der neunziger Jahre und der Jahrtausendwende wurde.6 Butler lehnt jede Form von wesensmäßiger Identitätszuschreibung ab und betont, dass sowohl die Kategorien von sex (biologisches Geschlecht) als auch von gender (soziales Geschlecht) durch soziale, kulturelle und politische Normen und Regulierungen geschaffen werden.7 Auch sex sei also nicht vordiskursiv und gleichsam natürlich gegeben, sondern immer schon ein Effekt kultureller und machtpolitischer Normen und Konstruktionen und damit unhintergehbar sprachlich und kulturell verfasst.8 Genauso wenig wesenhaft oder natürlich sei das heterosexuelle Begehren, das angeblich aus der eindeutigen Bezogenheit der zwei biologischen Geschlechter aufeinander abgeleitet werden könne. Butler kritisiert folglich die normative und normalisierende Kraft des biologischen Geschlechts, die durch die heteronormative Einheit von Identität, Begehren und Sexualität eine heterosexuelle Matrix organisiert und aufrechterhält. Ansätze von queer theory stützen sich auf Butlers Analyse und führen das Konzept der Heteronormativität weiter aus.9 Auch ich stütze mich im Folgenden auf Butlers Erkenntnisse. Es geht mir dabei jedoch nicht darum, Heteronormativität oder gender zu einer »Masterkategorie« zu erheben, der sich alle anderen Achsen sozialer Dif-
rosexualität und lesbische Existenz. In: Schultz, Dagmar (Hg.): Ausgewählte Texte von Adrienne Rich und Audre Lorde. Berlin 1983, 138-168. 5 | Hark, Sabine, Heteronormativität, 36. 6 | Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991; dies.: Körper von Gewicht, Berlin 1995. 7 | Vgl. die Einleitung zu diesem Band. 8 | Vgl. Söderblom, Kerstin: Fremde Haut – unter die Haut? Aspekte einer queeren Theologie anhand der Filmanalyse von Fremde Haut von Angelina Maccarone. In: Lanwerd, Susanne; Moser, Marcia Elisa: Frau Gender Queer, Gendertheoretische Ansätze in der Religionswissenschaft. Würzburg 2010, 273-275. 9 | Vgl. beispielsweise Wagenknecht, Peter (Hg.): Heteronormativität, Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2006; Kraß, Andreas: Queer Studies in Deutschland; Lanwerd, Susanne (Hg.): Frau Gender Queer.
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ferenzierungen unterzuordnen haben.10 Stattdessen plädiere ich für eine umfassende normalisierungskritische Perspektive, die die Funktionsweise und Verbindungslinien verschiedener normierender Kategorien im Hinblick auf Geschlechtsidentität, Herkunft, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit und sexuelles Begehren in den Blick nimmt und deren Regulierungsmechanismen durchbuchstabiert. Ich beziehe mich dabei auf Michel Foucault, der in seinen Studien umfangreich skizziert hat, wie gesellschaftspolitisch, kulturell, soziale und religiös organisierte und legitimierte Machtstrukturen vielschichtig miteinander verwoben sind, und damit kontextbezogen immer wieder neu eine Matrix der Macht weben, der sich niemand entziehen kann.11 Heteronormativität wähle ich folglich als Fokussierungspunkt der verschiedenen Machtstrukturen, ohne sie in ihrer Bedeutung über andere Regulierungsstrategien zu stellen. Denn im Kontext theologischer und religiös grundierter Diskurse stellt sie ein besonders umstrittenes Feld dar.12
A SPEK TE EINER QUEEREN THEOLOGIE Es gibt nicht die eine queere Theologie. Stattdessen gibt es Anfragen, Impulse und Positionen zu theologischen Themen aus queerer Perspektive. Die Erkenntnisse daraus können dazu beitragen, einen analytischen und kritischen Blick auf die Probleme zu werfen, die in christlichen Kirchen und auch in anderen Religionen im Umgang mit Geschlechtsidentitäten, Geschlechterrollen, sexuellen Regulierungen, Ausschlüssen und Stigmatisierungen auftreten. Queer theology ist in diesem Sinn keine eigene Disziplin, sondern eine übergreifende Forschungsperspektive und -haltung, um heteronormative Machtstrukturen im Feld theologischer und religiös grundierter Diskurse aufzudecken. Der gemeinsame theoretische Bezugspunkt ist die queer theory.13 Ansätze einer queeren Theologie werden 10 | Siehe dazu ebenso Hark, Sabine: Heteronormativität revisited, 37. 11 | Vgl. Söderblom, Kerstin: Religionspädagogik der Vielfalt, 371. Siehe dazu auch Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 41981; ders.: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1971. 12 | Vgl. dazu Lanwerd: Frau Gender Queer. 13 | Beispiele für Forschungsfelder einer queeren Theologie bietet Porsch, Hedi: Queer-Theologie, Geschichte – Themen – Chancen. In: Brinkschröder, Mi-
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im deutschsprachigen Raum vor allem im Kontext gender sensibler und schwul-lesbischer Netzwerke und Initiativen erarbeitet.14 Akademisch anerkannte Positionen dazu existieren dagegen nur wenige.15 Im Folgenden stelle ich eine konkrete queere Re-Lektüre des 32. Kapitels aus dem 1. Buch Mose dar und formuliere im Anschluss daran Erkenntnisse und Herausforderungen für die Weiterarbeit.
Q UEERE R E -L EK TÜRE : K ÄMPFEN MIT EINEM QUEEREN G OT T ? Queere Re-Lektüren biblischer Texte beziehen sich auf die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelexegese und deren kultur- und sozialgeschichtlichen, befreiungstheologischen und semiotischen Vertiefungen. Es gibt danach keine allein gültige Bibelauslegung, sondern viele mögliche Auslegungen, die von der jeweiligen Auslegungsperspektive und -intention abhängen. Die Bibel selbst ist ein kontextgebundenes Buch, das in den Jahrhunderten ihrer Entstehung vielschichtige – zum Teil auch widersprüchliche Interpretationsprozesse erlebt hat. Eine queere Bibelexegese re-interpretiert traditionelle Bibelauslegungen. Sie werden undogmatisch und provokant quer gebürstet und auf gender sensible Themen hin überchael et al. (Hg.): Schwule Theologie, Identität, Spiritualität, Kontexte. Stuttgart 2007, 85-101; siehe auch Koch, Timothy: Hermeneutisches Cruising, Homoerotik und die Bibel. In: Werkstatt Schwule Theologie, 7. Jg. Heft 3, 2000, 213-225; Althaus-Reid, Marcella Maria: Indecent Theology, Theological Perversions in Sex, Gender and Politics. London 2000; Goss, Robert: Queering Christ, Beyond Jesus Acted Up. Cleveland 2002; Loughlin, Gerard: Erotics, God´s Sex. In: Milbank, John; Pickstock, Cathrine; Ward, Graham (Hg.): Radical Orthodoxy, A New Theology. London 1999, 143-162; siehe auch Ward, Graham: The Displaced Body of Jesus Christ. In: Milbank, John; Pickstock, Cathrine; Ward, Graham (Hg.): Radical Orthodoxy, A New Theology. London 1999, 163-181; Stuart, Elisabeth (Hg.): Religion is a Queer Thing, A Guide to the Christian Faith for Lesbian, Gay, Bisexual and Transgendered People. London 1997; Smith, James K.: Introducing Radical Orthodoxy, Mapping a Post Secular Theology. Grand Rapids 2004. 14 | Vgl. zum Beispiel Walz, Heike; Plüss, David (Hg.): Theologie und Geschlecht. Dialoge querbeet, Münster 2008. 15 | Vgl. Porsch, Hedwig: Sexualmoralische Verstehensbedingungen: Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs, Stuttgart 2008.
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prüft. Homoerotische Spuren in Bibeltexten werden aufgespürt und kontextualisiert, androgyne, hybride oder queere Gottesbilder herausgearbeitet und reflektiert. Einige AutorInnen sprechen in diesem Zusammenhang vom »hermeneutischen cruising«16. Für eine queere Re-Lektüre vom 32. Kapitel des 1. Buch Moses fasse ich zunächst die biblische Geschichte zusammen: Jakob, der Sohn von Rebekka und Isaak lebte in Beerscheba, einer Stadt in Kanaan, im heutigen Israel. Er hatte sich durch eine List den Erstlingssegen von seinem Vater ergaunert. Eigentlich hätte dieser Segen nach damaliger Tradition seinem zuerst geborenen Zwillingsbruder Esau zugestanden. Aber Jakob wollte den Erstlingssegen unbedingt haben. Denn daran hing Macht, Existenzsicherung und Gottes Schutz. Der feminin anmutende und unbehaarte Jakob zog sich ein Ziegenfell über seine Arme und seinen Hals. Denn sein Bruder Esau war sehr behaart und verkörperte das Inbild von Männlichkeit. Dann trat Jakob an das Bett seines sterbenskranken und mittlerweile erblindeten Vaters. Mit Hilfe seiner Mutter Rebekka überlistete Jakob seinen Vater Isaak und überzeugte ihn, dass er Esau sei. Jakob bekam den Segen vom Vater zugesprochen (1. Buch Mose 17,28f.). Als sein Zwillingsbruder Esau von dem Betrug erfuhr, drohte er damit, Jakob zu erschlagen. Jakob musste fliehen und reiste zu seinem Großvater Laban von Beerscheba nach Aram ins Land der Aramiter. Dort arbeitete er 14 Jahre für den Großvater im Ausland und bekam in einer polygam organisierten Großfamilie mit seinen zwei Frauen Leah und Rahel und seinen Mägden Bilha und Silpa insgesamt zwölf Söhne (1. Buch Mose 29,1-30,24). Danach verließ er seinen Großvater mit seinen Frauen, Kindern, Mägden und seinem gesamten Herdenbestand. Wieder musste er fliehen, denn sein Großvater wollte ihn nicht freiwillig ziehen lassen (1. Buch Mose 31). Als Jakob den Rückweg in seine alte Heimat nach Kanaan antrat, wurde ihm bewusst, dass er dort vermutlich wieder auf seinen Bruder Esau treffen würde. Daraufhin sandte er Boten aus, um sich anzukündigen. Die Boten kamen zurück und berichteten, dass Esau ihm bereits mit 400 Mann entgegen kam. Da bekam Jakob Angst um sein Leben. Er teilte seine Familie, seine Arbeiter und Mägde, Schafe, Ziegen und Kamele in zwei Herden auf und schickte sie in unterschiedliche Richtungen da16 | Vgl. Koch: Hermeneutisches Cruising; siehe auch Goss, Queering Christ; Goss, Robert/West, Mona (Hg.): Take Back the Word: A Queer Reading of the Bible, Cleveland 2000.
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von, um zumindest einen Teil seines Besitzes vor dem befürchteten Angriff seines Bruders schützen zu können. Jakob gab den beiden Anführern seiner Herden jeweils eine große Anzahl von Geschenken für Esau mit, um ihn zu beschwichtigen. Er selbst blieb zurück und verbrachte die Nacht am Fluss Jabbok. In der Nacht überraschte ihn ein Unbekannter. Der Fremde kam aus dem Nichts. Jakob wusste weder wer er war noch woher er kam. Sie kämpften die ganze Nacht miteinander (1. Buch Mose 32, 23-33). Keiner der beiden gewann den Kampf, aber es verlor ihn auch keiner. Zum Ende hin verletzte der Fremde Jakob so sehr am Hüftgelenk, dass Jakob für den Rest seines Lebens humpeln musste. Jakob schrie den Fremden an, dass er ihn nicht loslassen würde, bevor der ihn nicht segnete. Der Andere fragte Jakob stattdessen nach seinem Namen und gab ihm einen neuen Namen »Israel« (»Gottesstreiter« laut Lutherbibel). Dagegen gab der Fremde seinen Namen nicht preis, aber er segnete Jakob. Daraufhin gab Jakob dem Ort am Fluss den Namen »Pnuel« (»Gottesgesicht« laut Lutherbibel). In traditionellen Auslegungen wird davon ausgegangen, dass Jakob mit Gott selbst gekämpft hat und dass durch Gottes Segen der vorher erschlichene Erstlingssegen gleichsam anerkannt wird, und Jakob dadurch für die Begegnung mit Esau gestärkt aus dem Kampf hervorgeht. Das ist für traditionelle Bibelauslegungen wichtig, denn Jakob gilt – genauso wie Abraham und Isaak – als Ahnherr des davidischen Geschlechts und damit als Ahnherr von Jesus. Eine queere Re-Lektüre dieser Bibelstelle rekonstruiert aus dieser Geschichte noch ganz andere Spuren17: Jakob kämpft eine ganze Nacht mit einem fremden Menschen. Jener wird im biblischen Text als unbekannter Mann vorgestellt. Susannah Cornwall bezeichnet den anschließenden Zweikampf als (homo-)erotisch, ja sogar als Liebesakt.18 Die beiden Männer wälzen sich durch den Matsch und kämpfen körperlich miteinander. Sie entziffert darin eine erotische Begegnung, auch wenn sie ein offenes Ende hat und ohne Sieger bleibt. Dennoch oder gerade deswegen wirkt 17 | Ich beziehe mich in meiner Auslegung vor allem auf Cornwall, Susannah: Wild Rice and Queer Dissent. In: Isherwood, Lisa et al. (Hg.): Wrestling with God. Leuven 2010, 61-75. 18 | Vgl. Carden, Michael: Genesis/Bereshit. In: Guest, Deryin; Goss, Robert; West, Mona; Bohache, Thomas (Hg.): The Queer Bible Commentary. London 2006, 48.
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die körperliche Begegnung verstörend, bewegend und zutiefst existentiell. Der Unbekannte bleibt geheimnisvoll und jenseits einer zuweisbaren Geschlechtsidentität oder Rollendefinition. Er entzieht sich einer klar definierbaren Identität. Obwohl er als Mann eingeführt wird, wirkt er in seiner geheimnisvollen Erscheinung eher als ein Wesen jenseits binärer Geschlechterkategorien. In der traditionellen Bibelauslegung wird der Unbekannte mit Gott identifiziert. Gott erscheint in dieser Szene allerdings nicht als der Abwesende, Distanzierte, ewig Unberührbare, wie er in theologischen Lehrsätzen oft dargestellt wird, sondern er tritt auf als der Nahe, der körperlich spürbar und sichtbar wird, obwohl er gleichzeitig geheimnisvoll und unmarkiert bleibt. Zudem wirkt Gott streitbar und emotional angreifbar, und er begibt sich selbst in den Kampf. In der Re-Lektüre dieser Szene betont Cornwall, dass Gott nicht nur der gütige Vater ist, der unbeirrbar über allem schwebt, sondern dass Gott wütend und unbeherrscht erscheint, frustriert, aggressiv und kampfeslustig und vor allem körperlich. Im körperlich sinnlichen Kampf zeigt sich für Cornwall, für Carden und andere AutorInnen eine Grenzüberschreitung im Hinblick auf traditionelle Gottesdefinitionen. Gott macht sich schmutzig, wälzt sich im Dreck und begegnet in körperlicher, ja (homo-)erotischer Weise einem anderen Mann. Dieser Perspektivwechsel verschließt sich jeder einfachen Antwort auf die Frage, wer Gott sei.19 Anerkannte Exegeten wie Gerhard von Rad haben mit Bezug auf diese Szene von dem Unbekannten als einen ursprünglichen Flussgeist oder einen Dämon gesprochen, der erst im Zuge der Traditionsgeschichte mit Gott JHWH identifiziert wurde.20 Dieser ehemalige Flussgeist ist nach Cornwalls Lesart ein Gott ohne klare Grenzen und Definitionen. Es ist ein Gott im Werden: queer, geheimnisvoll und unergründlich, von dem ganz unterschiedliche Genealogien und Geschichten erzählt wurden, die in der Tradition allerdings dogmatisch und heteronormativ vereinheitlicht wur-
19 | Cornwall: Wild Rice, 70. 20 | Vgl. Rad, Gerhard von: Genesis. A Commentary (= Old Testament Library, revised edition) London 1972, 321. Vgl. ebenfalls Wenham, Gordon: Genesis 1650 (= Word Biblical Commentary), Dallas 1994, 295.
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den.21 Dennoch wirken diese alten Bilder, Mythen und Geschichten nach und ermutigen zu einer queeren Re-Lektüre. Die Kampfszene ereignet sich im Freien auf der Grenze zwischen den Ländereien von Jakobs Großvater Laban im Land der Aramiter und dem Land von Jakobs Heimat Kanaan. Der konkrete topographische Ort des Kampfes befindet sich an einer Furt am Fluss; nicht im Wasser und auch nicht im Trockenen, sondern im Übergang von beiden – auf der Schwelle. Nach Victor Turner ist es ist ein »liminaler« Ort.22 Demnach ist es ein Schwellen- oder Grenzort, der hybrid ist und in den Niederungen von Matsch und Dreck verschwimmt und damit klare Zuordnungen, Schubladen und Kategorisierungen sprengt. Dieser Ort liegt jenseits aller topographischen, materiellen und psychologischen Komfortzonen; nämlich am heterotopen »Anders-Ort« oder »Gegenort«, wie es Michel Foucault genannt hat.23 Nur dort erscheint es möglich, gegen Gott zu rebellieren und zu kämpfen, seine Güte zu hinterfragen und Gottes Segen zu fordern. Cornwall weist darauf hin, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle, – und ich füge hinzu: Kirchenferne, Kritiker und Zweifler, Stigmatisierte und Marginalisierte – im Hinblick auf ihr Verhältnis zu christlichen Kirchen weltweit genau an solchen »Anders-Orten« jenseits von Komfortzonen stehen und von dort aus ganz unterschiedliche Entscheidungen treffen: Die einen bleiben in ihren Kirchen und kämpfen von innen heraus um Gleichberechtigung, Respekt und soziale Gerechtigkeit. Andere verlassen ihre Kirchen und wenden sich frustriert, verletzt oder wütend ab. Wieder Andere bleiben auf der Grenze und kämpfen gegen einen Gott, der Unrecht zulässt. Sie wenden sich intern und öffentlich gegen heteronormative Regulierungen, gegen Homophobie und Transphobie, gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen Sexismus und jede Form von Gewalt.24 All diese verschiedenen Entscheidungsorte sind Orte, von denen aus queere Theologie betrieben wird. In der traditionellen Exegese wird Jakobs Kampf mit Gott am Jabbok unter anderem psychologisch als innerer Kampf gegen Schuld- und Schamgefühle ausgelegt; also als Reise nach innen, als Kampf gegen die 21 | Vgl. Althaus-Reid, Marcella Maria: The Queer God. London 2003. 22 | Vgl. Turner, Victor: Das Ritual, Struktur und Anti-Struktur Frankfurt a.M. 2000, 95. 23 | Vgl. Foucault, Michel: Heterotopien. Frankfurt a.M. 2005. 24 | Vgl. Cornwall: Wild Rice, 65ff.
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eigenen dunklen Seiten, als Kampf gegen Gefühle von Wertlosigkeit und Verzagtheit. Dem liegt die These zugrunde, dass erst wenn Jakob mit sich und seinem Gott im Reinen ist, nachdem er Esau Jahre zuvor um den Erstlingssegen betrogen hat, erst dann kann Jakob in seine Heimat zurückkehren und seinem Bruder Esau wieder begegnen. Dieser Prozess ist nach Cornwalls Verständnis kein einfacher linearer Weg, sondern ein Prozess auf Leben und Tod; mit Unterbrechungen, Umwegen, Krisen, schweren Kämpfen und Bedrohungen. Und Jakob überlebt diesen Kampf. Aus queerer Perspektive kann auch jeder Coming-out-Prozess von Lesben und Schwulen, von AusländerInnen und MigrantInnen, von Kranken oder Behinderten als körperlicher, geistiger und seelischer Kampf um Leben und Tod gelesen werden. Es ist ein Kampf mit normierten und normalisierenden Werten in einem heteronormativen Umfeld und mit einem Lebensabweisenden Gott. Dagegen flackert in dieser biblischen Geschichte ein ganz anderer archaischer queerer Gott auf, der Grenzen überschreitet und auch Jakob zwingt Grenzen zu überschreiten. Dieser Gott ist nicht männlich, nicht weiblich. Er ist queer und ungeschlechtlich zugleich; körperlich, wild, emotional und gefährlich. Er lässt sich körperlich berühren und berührt selbst und sprengt damit dichotome Aufspaltungen von Kampf und Erotik, Körper und Geist, Subjekt und Objekt und verflüssigt sie. Die Transformation von Jakob geschieht am liminalen Ort der Schwelle und wird durch die Namensänderung von Jakob zu »Israel« deutlich markiert. Jakob wird die Kraft einer anderen Wirklichkeit zuteil. Im Kampf wird der alte Status quo transzendiert und Macht verschoben. Die Beziehung mit Gott bleibt dabei unabgeschlossen und offen. Es gibt auf dieser queeren Reise keine einfachen Ergebnisse und Antworten, keine einfachen Ideologien und Kategorien, sondern Grenzgänger und Grenzgängerinnen, die sich in liminalen Schwellenräumen bewegen und weiter entwickeln. Cornwall nennt es die »Queerness of the Journey«25 . Jakob wird zum Gottesstreiter; er wird zu jemandem, der mit Gott streitet und kämpft; nicht nur symbolisch, sondern handfest und körperlich existentiell. Von dem Kampf trägt er Wunden und Narben davon. Er ist für sein Leben gezeichnet, denn seine Hüfte trägt irreparable Schäden davon. Jakob muss von da an humpeln. Denn die Gottesbegegnung hat sich in seinen Körper eingeschrieben. Gott geschieht damit in der Begegnung zwischen Jakob und dem Unbekannten. Und dadurch wird nicht 25 | Ebd., 69.
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nur Jakob ein Anderer, sondern auch Gott wird im Kampf ein Anderer. Ganz so wie es Carter Heyward in Anlehnung an Martin Bubers dialogischem Prinzip formuliert hat: Gott, das »Ewige Du«, kann sich nur in der Begegnung zwischen Ich und Du ereignen und kann nur dort erfahren werden. Insofern ereignet sich das »Ewige Du« in der Begegnung und im Werden. Es lässt sich weder auf heteronormative Definitionen noch auf heterosexuelle Interaktionen einengen. Das »Ewige Du« geschieht dort, wo Menschen sich wechselseitig und unmittelbar im Angesicht zu Angesicht begegnen und erkennen.26 In der Jakobsgeschichte bekommt der Ort einen konkreten Namen: »Pnuel« (im Angesicht Gottes). Solche Begegnungsorte zwischen Ich und Du sind kontext- und lebensweltbezogen und verkörpern nach meinem Verständnis Orte von Wertschätzung und Respekt, von Trost und manchmal sogar von Heilung. Dies geschieht aber nicht nur vergeistigt und körperlos, sondern sinnlich und körperlich erfahrbar, voller Erotik, Sexualität und Begierde.27
A USBLICK Die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok bleibt verstörend und geheimnisvoll. Sie kann nicht glattgeschliffen werden. Der Verlauf der Geschichte bürstet die Vorstellung von einem fernen und unbeteiligten Gott genauso gegen den Strich wie die von den körperlich unbeteiligten Kontrahenten im Kampf. Durch die dissonant gehaltene Erzählung am liminalen Grenz- oder Gegenort werden Ermöglichungs- und Spielräume geöffnet, die für eine queere Bibel-Relektüre wichtig sind. Die körperliche Begegnung zwischen Jakob und dem Fremden rückt die Frage nach der Geschlechtsidentität der beiden ins Blickfeld. Homoerotische Anspielungen nehmen sich Raum und werden durch die unmarkiert gehaltenen Geschlechtskategorien zugleich wieder verflüssigt und transzendiert. Diese hermeneutische Perspektiverweiterung hat Folgen für das biblische Menschen- und Gottesbild. Die dualistische Aufteilung in Körper und Geist, Erotik und Verstand, Sexualität und Spiritualität wird aufgebrochen. 26 | Vgl. Heyward, Carter: The Redemption of God, A Theology of Mutual Relation. Lanham 1982. 27 | Vgl. Cornwall: Wild Rice, 68.
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Körper-, Lust- und Sexualitätsfeindlichkeit werden beim »hermeneutischen cruising« unterlaufen, indem sinnlich erotische Anmutungen in biblischen Texten bewusst aufgegriffen, verstärkt inszeniert oder verfremdet werden. Menschliche Sexualität wird dabei als fließend betrachtet und eine heteronormative Kategorisierung von Begehren abgelehnt. Es gibt demnach weder ein naturgegebenes oder Gottgewolltes universales Verständnis vom menschlichen Wesen noch von menschlicher Sexualität. Auch das biblische Verständnis von Sexualität wird als vielfältig beschrieben. Lust, Leidenschaft und Sexualität werden in mancher queeren Re-Lektüre selbst zum Ort der Gottesoffenbarung, und menschliche Körper können als Orte der Inkarnation Gottes zu Trägern des Heils werden. Gleichzeitig bleiben solche existentiell dramatischen und zugleich theologisch relevanten Ereignisse nicht ohne Spuren und Narben, wie uns auch das Schicksal von Jakob am Jabbok eindrücklich aufzeigt. Im Hinblick auf biblische Gottesbilder zeigt uns die Erzählung von Jakob am Jabbok, wie vielfältig, widersprüchlich und uneindeutig Gott dargestellt wird. Gott erscheint in dem Text als leidenschaftlich, erotisch, körperlich aktiv und als nahbares Gegenüber. Er wirkt zornig und empathisch, emotional involviert und aggressiv. Dadurch eröffnet sich eine körperliche und sogar (homo-)erotische Erlebnisdimension von Zwiesprache und Gottesbegegnungen, die Konsequenzen für Gott und Menschen und ihr Verhältnis zueinander hat. Körperlich greifbare und emotional nahbare Gottesbilder jenseits aller engführenden Geschlechterkategorien nehmen Gestalt an. Sie haben neben den Bildern von Souveränität, Unnahbarkeit und Unberührbarkeit eine eigene biblische Grundlage und verändern die Sicht der Menschen auf Gott. Gott bleibt der ganz Andere und Unverfügbare. Gleichzeitig kommt er den Menschen nah und lässt sich von ihren Schicksalen körperlich berühren und in sie hinein verstricken. Gott lässt sich folglich in keine dogmatischen Definitionen und normierten Kategorien pressen, genauso wenig wie die Menschen. Das hat erhebliche Folgen für das Verständnis von der Gottesebenbildlichkeit. Hier bieten queere biblische Re-Lektüren wichtige Einsichten für eine unvoreingenommene und undogmatische theologische Weiterarbeit. Die vielschichtigen Interpretationen von Jakob am Jabbok stellen sich der Vereinheitlichung der Traditions- und Wirkungsgeschichte entgegen und unterbrechen heteronormative Auslegungen. Doch der hermeneutische Streit darüber ist noch lange nicht beendet. Dialogische Werkstätten
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und kontroverse aber faire Gespräche auf Gemeindeebene, in Bildungshäusern, an den Universitäten und andernorts sind notwendig, um Gott und die Menschen aus theologischer Perspektive gender sensibel und queer in den Blick nehmen zu können und um eine unvoreingenommene Theologie jenseits von Lehrsätzen und festen Kategorien zu betreiben. Dieses Geschäft ist in sich selbst ein Ringen um prozesshaftes Verstehen und um Interpretationen jenseits von dogmatischen Vorgaben. Die Undefinierbarkeit von Jakobs Gegner macht nachdenklich und ermutigt dazu, normierende und normalisierende Vereinheitlichungen zu unterbinden und queere Gegen-Lektüren einzubeziehen. Das Ringen mit dem Unbekannten gleicht einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit einem queeren Gott – jenseits aller Reglementierungen und Verordnungen. Gott und Mensch haben den Kampf damals überlebt. Eine Ermutigung. Und Gottes Segen stand am Ende.
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What is love Partnerschaft, Sexualität und narrative Ethik Christian Schmelzer »Da ›ist‹ irgendein vorsozialer Körper, aber sobald wir ihn musternd erblicken oder gar anfangen zu beschreiben, was wir in ihm sehen, hat er aufgehört ein unkonstruierter, natürlicher Körper zu sein. ›Der Körper‹ existiert für uns nur in sozialer Vermittlung: als Resultat von Formierung und Bearbeitung, als Signifikat von Darstellungen, Beschreibungen und Zuschreibungen und als Medium kultureller Inskriptionen. Als sozial voraussetzungslose ›Basis‹ erscheint er nur als von den Naturwissenschaften konstituierter Gegenstand.«1 »Der Hass der Normalen auf die Homosexuellen wie die Angst vor ihnen ist unabstellbar, solange beide für die Heterosexualität konstitutiv sind und dazu noch weitgehend dem Bewusstsein entzogen. Solange es Hetero- und Homosexualität als abgegrenzte allgemeine Sexualformen gibt, so lange wird das so sein.« 2
Welche Rolle spielt die Zeitgeschichte, die Philosophie, Soziologie und andere Wissenschaften heute im theologischen Denken? Die Entwicklungen der postmodernen Lebenswelt, sowie den für die Geisteswissenschaften daraus erwachsenden neuen Grundbedingungen fordern auch die Theologie heraus unter veränderten Perspektiven in vielen Bereichen neu an1 | Hirschauer, Stefan: Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit. Zeitschrift für Soziologie, 18, 1989, Heft 4, 112. 2 | Sigusch, Volkmar: Neosexualitäten, Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt a.M. 2005, 191.
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zusetzen. Besonders deutlich wird dieses Phänomen an der Frage der Geschlechterdifferenz und den für die konventionelle Theologie daraus folgenden Problemen: Wie beispielsweise die Frage der Ehe, Partnerschaften, gelebte Homosexualität in der kirchlichen Gemeinschaft, die Rolle des ›Mannes‹ und der ›Frau‹ grundsätzlich infrage zu stellen. Zunächst möchte ich diesem Phänomen des theologischen Denkens nachgehen und zeigen, dass es dazu führt, dass ganze Theologien, dogmatische und auch ethische Überlegungen mit einer eklektizistischen Grundierung versehen sind und dadurch ihre Anschlussfähigkeit für eine moderne Gesellschaft, den wissenschaftlichen Dialog und eine weltoffene Kirche ungewiss ist. Weiterhin werde ich das Modell eines narrativen Verständnisses von Ethik vorstellen, was letztendlich mit einer entflechteten Vorstellung von Sexualität und Partnerschaft verbunden werden soll.
1. E KLEK TIZISTISCHE THEOLOGIEN – E INIGE KRITISCHE R EFLE XIONEN Zunächst stelle ich einige Positionen und Perspektiven vor, die als Ausgangspunkte dienen, um bewerten zu können, was eklektizistische Theologie in Bezug auf die Frage nach der Geschlechterdifferenz meint und warum dies auf Kosten einer gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kirchlichen Anschlussfähigkeit des theologischen Denkens geht. Die aktuelle evangelische Anthropologie und Ethik und im Speziellen die Sozialethik ist in weiten Teilen von zwei Phänomenen geprägt: (1) Von dem Grundmuster, das Sexualität, Sünde und Tod als traditionelle und strukturelle Verbindungen darstellt und damit die sexualitätsfeindliche Tradition des Christentums scheinbar fortführen möchte.3 (2) Es wird in der Sozialethik überwiegend ein dualistisches Geschlechtermodell vorausgesetzt, das häufig einer unsachgemäßen exegetischen beziehungsweise systematisch-theologischen Argumentation entlehnt ist.
3 | Vgl. Hartlieb, Elisabeth: Kann Liebe Sünde sein? Zur sexuellen Obsession christlicher Sündenlehre. In: Keil, Siegfried; Haspel, Michael (Hg.): Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in sozialethischer Perspektive, Beiträge zur rechtlichen Regelung pluraler Lebensformen. Neukirchen-Vluyn 2000, 100.
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1.1 Sex – Sünde – Tod Die Sexualisierung des Sündenbegriffs in der Theologie hat eine lange Tradition, die hier nur kurz in einigen Eckpunkten skizziert werden kann. Grundlegend steht dafür das als »Sündenfall« gedeutete Narrativ der Schöpfungsgeschichte beziehungsweise der Erschaffung von ›Mann‹ und ›Frau‹ durch Gott in Gen 2-3.4 Ich werde mich im Folgenden mit den zwei Kirchenvätern Augustinus (354-430 n. Chr.) und Gregor von Nyssa (335/340-394 n. Chr.) beschäftigen, deren Auffassungen auch in der heutigen theologischen Diskussion erstaunlich aktuell sind und deren Wirkungsgeschichte beachtlich ist. Doch sind die Anfänge des sexualfeindlichen Christentums nicht einheitlich, wie ich später an einem Zeitgenossen Augustins und Gregors zeigen werde. Besonders wesentlich für die christliche Tradition ist die Deutung von Gen. 2-3 durch Aurelius Augustinus.5 Dieser argumentiert, dass die ›concupiscentia‹, das Verlangen oder die Begierde, beispielhaft für Unkontrolliertheit und damit für den Charakter der Sünde steht und so das Verhältnis zwischen Gott und Menschen zerstört.6 Sie ist auf dem Weg der sexuellen Fortpflanzung der ›Überträger‹ der Erbsünde.7 Augustins Argumentationsgang ist dabei entscheidend – zum einen im Zusammenhang mit der Sexualisierung des Sündebegriffs in der Kirchengeschichte und zum anderen, um zu verstehen, durch welches Denksystem die zähe Verbindung von Sexualität, Sünde und Tod im Christentum gekennzeichnet ist. Augustins Exegese von Gen. 3 arbeitet mit einer »Vorher-Nachher«Perspektive. Diese beschreibt die Zeit der Menschen im Paradies vor dem ›Sündenfall‹ als für die Menschen ›Sünden freie‹ Zeit, ohne Zwang oder das Verlangen nach ›sündhaften‹ Handlungen, die späterhin durch den Sündefall erst ausgelöst werden. Die irdische Welt wird als mangelhafte im Vergleich zur ›Welt‹ Gottes konstruiert:
4 | Ebd., 102. 5 | Ebd., 103. Aurelius Augustinus, 354-430 n. Chr., ab 391 Bischof von Hippo (heute: Annaba/Algerien). 6 | Vgl. Hartlieb, Liebe Sünde, 103. 7 | Vgl. Löhr, Winrich: Art. Sündenlehre. In: Drecoll, Volker Henning (Hg.): Augustin-Handbuch. Tübingen 2007, 499.
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»So ist es ehrenhafter und besser zu glauben, daß der animalische Körper des Menschen im Paradies, der noch nicht durch das Gesetz zum Tod verdammt war, das Begehren nach fleischlicher Lust nicht hatte, das die Körper jetzt haben, die nun aus Nachkommenschaft des Todes hervorgegangen sind. Und nichts war in ihnen so, bis sie vom verbotenen Baum gegessen hatten. Eben weil Gott nicht gesagt hatte: Wenn ihr davon esst, sollt ihr des Todes sterben; sondern: Wie ihr an einem Tag davon esst, werdet ihr sterben [oder: sterblich]. […] Man sollte nicht glauben, dass jene Körper so gewesen sind [sterblich], obgleich sie zwar animalisch, noch nicht geistig, aber trotzdem nicht tot waren. Es wäre nicht notwendig gewesen, dass sie starben: weil dies erst an dem Tag passierte, als sie den verbotenen Baum berührt hatten.« 8
In der Folge des Sündenfalls wird der Mensch sterblich und unterliegt dem Zwang, sich zu vermehren. Damit einhergehen auch den körperlichen Lüsten oder Vergnügen. Die Sexualisierung der Sünde findet erst an dieser Stelle statt, an welcher ein direkter Zusammenhang zwischen Vergnügen/Lust, dem Akt der Zeugung und der Sterblichkeit des Menschen hergestellt und dies alles als Strafe für die Abkehr von Gott durch Adam und Eva verstanden wird. Jedoch fasst Augustin unter den Begriff der ›concupiscentia‹ mehr als nur den sexuellen Akt der Reproduktion: Es ist auch die Begierde oder die Lust, die allein durch das Anschauen entsteht, also das »Habenwollen« und das Bekommen von Anerkennung in der Welt, die unter der Erbsünde zusammengefasst werden.9 Die ›ignoratia‹ (Unwissenheit), ›difficultas‹ (Mangel, Eigensinn), ›concupiscentia‹ und die 8 | »Quamvis honestius meliusque credatur, ita fuisse tunc illorum hominum corpus animale constitutorum in paradiso, nondum mortis lege damnatum, ut non haberent appetitum carnalis voluptatis, qualem nunc habent ista corpora, quae iam ex mortis propagine ducta sunt. Neque enim nihil est in eis factum, cum de ligno prohibito edissent: quandoquidem Deus dixerat, non: Si ederitis, morte moriemini; sed: Qua die ederitis, morte moriemini […] Non ita credendum est fuisse illa corpora, sed licet animalia, nondum spiritalia, non tamen mortua, id est, quae necesse esset ut morerentur: quod ea die factum est, qua lignum contra vetitum tetigerunt.« Augustinus Hipponensis: De Genesi ad Litteram libri duodecim, Patrologia Latina (PL) 34, Liber 9, 10.16 (Übersetzung C.S.). 9 | »Jubes certe, ut contineam »a concupiscentia carnis, et concupiscentia oculorum, et ambitione saeculi«.« Augustinus Hipponensis: Confessiones. Patrologia Latina (PL) 32, Liber 10, 41.
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›mortalitas‹ sind für Augustinus Folgen der Erbsünde.10 Die Deutung der Paradiesgeschichte ist zwar rückwärts konstruiert, wird aber genau anders herum verstanden und gedeutet. Es ist eine zweckgerichtete Konstruktion, die die Bedingungen der irdischen Welt an der idealen Gotteswelt kontrastiert und alle durch die Sterblichkeit bedingten menschlichen Bedürfnisse als Bestrafungen versteht und den Menschen für bestimmte Bereiche seines Körpers und Willen nicht die volle Kontrolle gibt. Für Augustinus spielt eine wesentliche Rolle, dass die von Erbsünde belastete Sexualität ihren einzigen und rechtmäßigen Ort in der Ehe zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹ hat; nur in dieser Beziehung, die allein durch die Reproduktion motiviert ist, kann Sexualität positiv sein, auch wenn sie durch die Begierde mit Mängeln behaftet bleibt.11 Auch bei Gregor von Nyssa12 , eine Zeitgenossen Augustins, wird Sünde in diesem biblischen Zusammenhang der Erschaffung des Menschen interpretiert. Gregor stellt heraus, dass die Lust beziehungsweise das Vergnügen13, die Sexualität, aber auch der Zorn und andere affektive und emotionale Momente des Menschen, die unvernünftigen, tierischen Eigenschaften sind, die durch den Sündenfall entstanden sind. Er geht dabei von der grundlegenden Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus und zeigt daran, wie der Mensch sich von diesem Bild, in unvernünftiger, sündhafter Weise durch den Sündenfall entfernt hat. Dementsprechend müssen die Menschen Bestimmtes meiden oder tun, um sich nicht noch tiefer in die Sünde zu verstricken, sondern dem Ebenbild Gottes ähnlicher zu werden: »Es ist nämlich gewiss nicht richtig, dass die Natur des Menschen der ersten Anfänge, die gemäß dem Bilde Gottes gestaltet war, leidenschaftliche Verhaltensweisen bezeugt. Sondern [es passierte] erst, als das unvernünftige Leben in diese Welt kam und von dessen Natur, aus dem genannten Grunde, auch der Mensch 10 | Löhr, Sündenlehre, 504. 11 | Lüthi, Kurt: Christliche Sexualethik, Traditionen, Optionen, Alternativen. Wien 2001, 167. 12 | 335/340-394 n. Chr., ab 372 Bischof von Nyssa (heute: Nevşehir/Türkei, Kappadokien). 13 | Der altgriechische Begriff ἡδονή bezeichnet auf der einen Seite die sexuelle, körperliche Lust, aber auch das geistige Vergnügen, den Genuss und Wohlklang, wie auch im negativen die Schadenfreude oder das Vergnügen am Laster.
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etwas erhielt – ich meine die Art der Zeugung – so nahm er [der Mensch] dadurch auch Anteil an den übrigen Dingen, die bereits beschrieben wurden von jener Natur. Weder nämlich in den Gemütsbewegungen [bspw. Zorn, Ärger] ist der Mensch Gott gleich, noch durch die Lust [Vergnügen] zeichnet sich die allerhöchste Natur aus […] alles Derartige ist eines Gottes würdigen Charakters fern.«14
Wie bei Augustinus wird auch bei Gregor von Nyssa deutlich, dass gerade der Begriff der Lust, des Vergnügens durchgängig in einem negativen, abwertenden und sündhaften Zusammenhang steht. Interessanterweise ist diese Auffassung bereits unter den Zeitgenossen Augustins und Gregors nicht so einheitlich, wie vielleicht zu vermuten wäre. Im Gegensatz zu diesen ›sündhaften‹ Verständnissen von Lust oder Vergnügen, beziehungsweise der irdischen Gestalt und Anlage des Menschen zeigt Nemesios von Emesa15 , dass eine der ersten frühchristlichen Anthropologien gänzlich ohne ein sündhaftes Verständnis von den körperlichen Bedingungen des Menschen, sowie der Lust beziehungsweise dem Vergnügen auskommt. Nemesios sieht alle diese Eigenschaften, als von Gott gewollte und gut eingerichtete Umstände des Irdischen. Er behandelt in der einzigen von ihm überlieferten Schrift »Über die Natur des Menschen« in 43 Kapiteln die verschiedenen Bereiche des menschlichen Empfindens, der Wahrnehmung, die Seele und so weiter. Der folgende Textausschnitt des 18. Kapitels trägt die Überschrift: »Über die Vergnügen16«.
14 | »Οὐ γὰρ δὴ θέμις τῇ ἀνθρωπίνῃ φύσει, τῇ κατὰ τὸ θεῖον εἶδος μεμορφωμένῃ, τῆς ἐμπαθοῦς διαθέσεως προσμαρτυρεῖν τὰς πρώτας ἀρχάς. Ἀλλ’ ἐπειδὴ προεισῆλθεν εἰς τὸν κόσμον τοῦτον ἡ τῶν ἀλόγων ζωὴ, ἔσχε δέ τι διὰ τὴν εἰρημένην αἰτίαν τῆς ἐκεῖθεν φύσεως καὶ ὁ ἄνθρωπος, τὸ κατὰ τὴν γένεσιν λέγω, συμμετέσχε διὰ τούτου καὶ τῶν λοιπῶν τῶν ἐν ἐκείνῃ θεωρουμένων τῇ φύσει. Οὐ γὰρ κατὰ τὸν θυμόν ἐστι τοῦ ἀνθρώπου ἡ πρὸς τὸ Θεῖον ὁμοίωσις, οὔτε διὰ τῆς ἡδονῆς ἡ ὑπερέχουσα χαρακτηρίζεται φύσις […] πάντα τὰ τοιαῦτα πόῤῥω τοῦ θεοπρεποῦς χαρακτῆρός ἐστι.« Gregorii Nysseni: De hominis opificio. Patrologia Greaca (PG) 44, 192-196 (Übersetzung C.S.). 15 | Spätes 4. bis frühes 5. Jh. n. Chr., griechischer Philosoph und Bischof von Emesa (heute: Homs/Syrien). 16 | Zur Übersetzung des Begriffs »Vergnügen« siehe Anmerkung 13.
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»Von den sogenannten körperlichen Vergnügen sind die einen notwendige und natürliche, ohne die es unmöglich ist zu leben, wie die Ernährung, die ein Bedürfnis befriedigt, und die Kleidung notwendig ist. Die anderen aber sind zwar natürlich, nicht aber notwendig, wie der Natur und den Gesetzen gemäße Geschlechtsverkehr. Diese nämlich tragen zum Erhalt des gesamten Geschlechtes bei, möglich ist es aber auch ohne sie ein Leben in Jungfernschaft. Wieder andere sind weder notwendig noch natürlich, wie die Trunkenheit, die Wollust und die Völlerei, die die Stillung der Bedürfnisse übersteigen.«17
Deutlich wird, dass neben der positiven Grundierung bei Nemesios das ›richtige‹ Maß eine wesentliche Rolle spielt. Die Vergnügen erfüllen dann ihren vorgesehenen Zweck, wenn sie nicht schaden beziehungsweise die Menschen in Sucht- oder Abhängigkeitsverhältnisse bringen. Dies trifft auf alle Bedürfnisse zu, die aus seiner Sicht weder notwendig noch natürlich sind. Auch wenn dieser Begriff von natürlich eine Menge an problematischen und gesetzten Inhalten mit sich bringt, ist wesentlich, dass Nemesios den Fokus auf das Gute in der Schöpfung legt. Der Mensch wird gegenüber Gott nicht als bedürftiges Mangelwesen dargestellt, sondern zeichnet sich durch seine individuellen Bedürfnisse, Besonderheiten und Unterschiedlichkeiten aus. Dazu zählen unter anderen die geistigen und auch die sexuellen Vergnügen, die als Gabe der Schöpfung angesehen werden und die Vollkommenheit der Schöpfung widerspiegeln: »Als Vergnügen aber gelten die, die mit der Erkenntnis des göttlichen, mit den Wissenschaften und Tugenden irgendwie einhergehen oder damit verbunden sind. Diese soll man unter die einreihen, die gemäß der ersten Ausführung erstrebenswert sind, nicht, weil sie einfach sind und auch nicht zur Erhaltung der Art
17 | »τῶν δὲ σωματικῶν καλουμένων ἡδονῶν αἱ μέν εἰσιν ἀναγκαῖαι ἅμα καὶ φυσικαί, ὧν χωρὶς ζῆν ἀδύνατον, ὡς αἱ τροφαί αἱ τῆς ἐνδείας ἀναπληρωτικαὶ καὶ τὰ ἐνδύματα ἀναγκαῖα. αἱ δὲ φυσικαὶ μέν, οὐκ ἀναγκαῖαι δέ, ὡς αἱ κατὰ φύσιν καὶ κατὰ νόμον μίξεις · αὗται γὰρ εἰς μὲν τὴν διαμονὴν τοῦ παντὸς γένους συντελοῦσι, δυνατὸν δὲ καὶ χωρὶς αὐτῶν ἐν παρθενίᾳ ζῆν · αἱ δὲ οὔτε ἀναγκαῖαι οὔτε φυσικαὶ, ὡς ἡ μέθη καὶ ἡ λαγνεία καὶ αἱ πλησμοναὶ τὴν χρείαν ὑπερβαίνουσαι.« Morani, Moreno (Hg.): Nemesii Emeseni De natura hominis. Leipzig 1987, 76-77 (Übersetzung C.S.).
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beitragen, sondern weil sie zum Wohlbefinden und zur Vollkommenheit des Menschen selbst beitragen, die die Seele und die geistige Wahrnehmung betrifft.« 18
Eine entscheidende Weichenstellung passierte als die moralischen Urteile aus der Verbindung des frühen Christentums mit den Aussagen der stoischen und platonischen Denksysteme vermischt wurden.19 Diese eher negativ geprägte Wirkungsgeschichte ist vor allem in der westkirchlichen Tradition verankert. Sie setzten sich bei Thomas von Aquin, Martin Luther über die Angst vor der Sünde der Sexualität im Pietismus fort. Gerade im Protestantismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, geprägt durch die Thesen Max Webers, verlagert sich die Kontrolle über Sexualität immer mehr in die bürgerlichen und familiären Verhältnisse und in eine rigide Selbstkontrolle. Sexualität wird rational ökonomischen und pragmatischen Überlegungen beziehungsweise der Pflichterfüllung untergeordnet. So pervertieren die unterschwelligen sexualmoralischen Vorstellungen ganz selbstverständlich die individuelle Lebensführung und werden in Narrativen der Ehe und Partnerschaft ganz unreflektiert hingenommen.
1.2 ›Mann‹ und ›Frau‹ – Wie Gott sie schuf? Die Sexualisierung des Sündebegriffs hat eine weitere wesentliche Komponente: das Denken in Geschlechterdualen, das heißt in den geschlechtlichen Kategorien von ›Mann‹ und ›Frau‹. Diese grundlegende Frage wird in den meisten dogmatischen und ethischen Entwürfen der Gegenwart nicht problematisiert.20 Bei dieser antropologischen Aussage ist wiederum die Deutung der Paradiesgeschichte aus Gen. 1-3 wesentlich. Von hier wird der vorgegebene Geschlechterdualismus einfach übernommen. Eine weitere Folge dieser Annahme ist die damit einhergehende Abwertung der 18 | »κυρίως δέ εἰσιν ἡδοναὶ αἱ τῇ κατανοήσει τοῦ θείου καὶ ταῖς ἐπιστήμαις καὶ ταῖς ἀρεταῖς ἐπιγινόμεναί πως ἢ συμπεπλεγμέναι, ἅσπερ ἐν τοῖς κατὰ πρῶτον λόγον περισπουδάστοις θετέον οὐκ εἰς τὸ εἶναι ἁπλῶς οὐδὲ εἰς τὴν διαμονὴν τοῦ γένους, ἀλλ᾽ εἰς τὸ εὖ εἶναι καὶ σπουδαίοις καὶ θεοφιλέσιν εἶναι συvτελούσας καὶ εἰς αὐτὴν τοῦ aνθρώπου τὴν κατὰ ψυχὴν καὶ το νοερὸν τελειότητα […]« Morani, Nemesii Emeseni, 77 (Übersetzung C.S.). 19 | Lüthi, Christliche Sexualethik, 165. 20 | Vlg. Karle, Isolde: »Da ist nicht Mann noch Frau…«, Theologie jenseits der Geschlechternorm. Gütersloh 2006, 200.
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Frau, sodass der Sündenfall, verursacht durch Eva, zu einer Verbindung von »[…] Sexualität und Sünde mit Androzentrik und Frauenfeindlichkeit christlicher Theologie […]«21 geführt hat. Folgerichtig weißt Radfort Ruether darauf hin, dass: »[…] eine instrumentelle Auffassung von der Frau inbezug auf den sexuellen Akt, nämlich als Gefäß des sündhaften Begehrens des Mannes, das nur zum Zweck der Fortpflanzung seine richtige »Verwendung« fand. Bemerkenswert ist hier das Fehlen jeglicher Vorstellung von Sexualität als Ausdruck einer Liebesbeziehung.« 22
Sehr erfolgreich bemühten sich viele feministische Theologinnen, diesen Zusammenhang zu entkräften. Doch häufig bleiben ihre Arbeiten bei der These einer Geschlechtergerechtigkeit zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹ stehen. So zeigt beispielhaft Magdalene Frettlöh, dass ihr Bemühen um eine geschlechtergerechte Theologie trotzdem einen eklektizistischen und wenig kontextualisierenden Rückgriff auf Gen. 1, 27 (»Mann und Frau schuf er sie.«23) vornimmt: »Mit genderspezifischen, kanonischen Lektüren von Gen 1,27 und Gal 3,28 kann die Theologie einen eigenen Beitrag zum gegenwärtigen Geschlechterdiskurs leisten. Ihrerseits durch das »Unbehagen der Geschlechter« herausgefordert, wird sie sich mit jenen Geschlechtertheorien treffen, die sich weigern, der Leiblichkeit, dem Wesen und dem Verhalten lebendiger Menschen eine geschlechtliche Identität einzuschreiben, sie typologisch vor- oder festzuschreiben. Sie wird die geschöpfliche Geschlechterdifferenz als göttliche Vor-Gabe anerkennen und das Gewinnen einer geschlechtlichen Identität als eine nie abgeschlossene Aufgabe (faktisch nicht selten in der doppelten Konnotation dieses Wortes) ansehen, […] Orientierung im gender trouble kann es auch theologischerseits nicht durch definitorische Vereindeutigungen, seien sie de- oder präskriptiv, son-
21 | Hartlieb: Liebe Sünde, 102. 22 | Radford Ruether, Rosemary: Gaia & Gott, Eine ökofeministische Theologie der Heilung der Erde. Luzern 1994, 148. 23 | » «זָ ָ ֥כ ר וּנְ ֵק ָ ֖בה ָבּ ָ ֥רא א ָ ֹֽתםElliger, Karl et al. (Hg.): Biblia Hebraica Stuttgartensia. Stuttgart 41990, Gen. 1, 27 (Übersetzung C.S.).
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dern nur durch die kritisch-solidarische Begleitung und Reflexion der Praxis geschlechtlicher Existenz geben.« 24
Auch wenn Frettlöh von prozesshaften geschlechtlichen Identitäten spricht, bleibt sie doch den beiden grundlegenden Geschlechteridentitäten treu. Interessant ist dabei auch der systematische Theologe Dietrich Korsch, der die Debatten um gender und sex in den letzten Jahrzehnten völlig unreflektiert hinter sich lässt.25 Auch bei ihm ist zu sehen, dass mit seinem dualistisch gedachten Geschlechterbild und der Ehe als daraus folgende Norminstanz eine Abwertung aller anderen Beziehungsformen einhergeht.26 In der Kritik an gender-theoretischen Entwürfen versucht sich der Systematiker Wilfried Härle. Er begründet seine Ablehnung mit einem diffusen Begriff von »Natur« und einer falsch verstandenen Verknüpfung von gender und sex, sowie in einer unreflektierten, eklektizistischen Fortführung heteronormativer Grundlegungen: »Und ebenso stimme ich dem Satz zu, dass wir alles Naturhafte, sobald wir es wahrnehmen und deuten, stets in kultureller und sozialer Vermittlung wahrnehmen und deuten. Der ›vorsoziale Körper‹ als (dynamisches) Objekt wird wahrnehmbar durch Zeichen, die aber erst durch unsere Interpretation als solche und in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden können. Diese sind aber durchweg kulturell bedingt. Insofern ist es richtig, dass es ›Sex‹ nur in Verbindung mit ›Gender‹ gibt. Aber wie bei allen konstruktivistischen Theorien wird die Bedeutung des ›vorsozialen Körpers‹ als dynamisches Objekt dabei nicht hinreichend ernst genommen. Dadurch erscheinen die sozialen Konstruktionen als beliebige Konstrukte. Der Denkfehler, der dabei gemacht wird, beruht m.E. auf folgendem Dual: Entweder lässt sich die Geschlechterdifferenz aus der naturalen Basis deduzieren oder sie ist reines gesellschaftliches Konstrukt. Aber diese Dualisierung 24 | Frettlöh, Magdalene L.: Gott Gewicht geben, Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre. Neukirchen-Vluyn 22009, 172 (Markierung C.S.). 25 | »Das Geschlecht ist nächst der bloßen Existenz die erste Bestimmung des Lebens, weil das Geschlechterverhältnis dual strukturiert ist. […] Daß sie [das Deutungsmuster der Geschlechtlichkeit] aber als Zweiteilung geschieht, die nichtreduzierbare Unterschiede festhält, ist unvermeidlich.« Korsch, Dietrich: Dogmatik im Grundriß: Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott. Stuttgart 2000, 97-98. 26 | Vgl. Korsch, Dogmatik, 101.
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ist unangemessen: Die naturale Basis leistet eine gewisse, nicht unerhebliche Orientierung der Geschlechterdifferenz, kann sie jedoch alleine nicht erklären. Aber aus der kulturellen Deutung (lnterpretantenbildung) ist sie auch nicht zu erklären. Sie hat und braucht ein dem (Selbst-)Erleben zugängliches naturhaftes Substrat – und zwar nicht nur ab und zu, sondern permanent. Deswegen müssen physiologische Befunde für die Darstellung und Bearbeitung der Geschlechterdifferenz ernster genommen werden, als das in der konstruktivistischen GenderPositionen der Fall ist.« 27
An seinem Begründungsmuster wird deutlich, dass sich Härle in einen Selbstwiderspruch verstrickt. Obwohl er die kulturelle, soziale und sprachliche Vermittlung und Wahrnehmung von Realität anerkennt, meint er trotzdem eine »natürliche Begründung« von Geschlechterdifferenz zu finden. Die Konstruktion des Geschlechterkörpers in der Geschichte stellt der US-amerikanische Kultur- und Wissenschaftshistoriker Thomas Laqueur ausführlich dar. In seiner Ausführung wird deutlich, dass gender und sex schon deshalb zusammengehören, weil jede Aussage, die über den Geschlechtskörper als sex vorgenommen wird oder wurde, »immer schon etwas aussagt über das Geschlecht im sozio-kulturellen Raum (gender).«28 Damit wird weder die Materialität der Körper geringer betont, noch fallen die Konstrukte, weil sie als solche erkannt werden, einer völligen Beliebigkeit zum Opfer. Sex und gender sind immer nur in kulturellen, sprachlichen und durch Machtstrukturen29 gekennzeichneten Räumen zu verstehen und deshalb nicht beliebig, aber auch nicht als »natürlich gegeben« zu verstehen. Deshalb ist der Glaube Härles, die physiologischen Befunde gäben bessere Antworten auf die Geschlechterdifferenz, vergebens, da er hofft, die Grenzen der Sprache und des Menschen als kulturell-soziales Wesen überwinden zu können. Eine empirisch-objektive Erforschung der Geschlechterdifferenz ist schon deshalb unmöglich, »[…] weil in der Sprache der Naturwissenschaften die Sprache des sozialen Geschlechts bereits eingelagert ist. Alle Aussagen über das biologische Geschlecht [sex] sind 27 | Härle, Wilfried: Ethik. Berlin 2011, 316. 28 | Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben, Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. München 1999, 25. 29 | Vgl. ebd. Laqueur beschreibt diese Erkenntnis eindrücklich historisch an den verschiedenen Interpretationsweisen von sex in einem Ein- und ZweiGeschlechtermodell.
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von Anfang an mit Kulturarbeit belastet.«30 Alle Ansätze einer dualistischen Begründung von sex sitzen aus den vorgenannten Gründen auch immer wieder dem Konstrukt des Objektiven und Subjektiven auf.31 Den gesellschaftlichen Kontext dieser als »natürlich« geglaubten Vorstellung von Geschlechterdifferenz erläutert Judith Lorber: »Die meisten Menschen aber fügen sich freiwillig den Vorschriften, die ihre Gesellschaft den Angehörigen ihres gender-Status macht, weil diese Normen und Erwartungen Teil ihres Wert- und Identitätsempfindens als einer bestimmten Art Mensch sind und weil sie der Überzeugung sind, daß es so, wie es in ihrer Gesellschaft zugeht, natürlich ist. Diese Überzeugungen sprechen aus der allgegenwärtigen Metaphorik, die unsere Art zu denken, zu sehen, zu hören und zu sprechen, zu phantasieren und zu empfinden bestimmt.« 32
Es bemühen sich viele Alttestamentler_innen darum, die Interpretationen der Schöpfungsgeschichte unter anderen Blickwinkeln zu zeigen und auch hier auf die Konstruktion von gender und sex hinzuweisen.33 Eine der wichtigsten Erkenntnisse liegt darin, dass die Gottesebenbildlichkeit des Menschen eben nicht als Entsprechung in Aussehen, Geschlecht etc. zu verstehen ist, sondern in der Funktion des Menschen als zum und nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen – die Menschen repräsentieren damit Gott in der Welt, indem sie verantwortlich mit der Welt und mit ihren Lebewesen umgehen und damit zum Bilde Gottes werden.34 30 | Karle, Mann noch Frau, 87. 31 | Vgl. dazu die Einleitung dieses Buches. 32 | Lorber, Judith: Gender-Paradoxien. Opladen 1999, 82. 33 | Beispielsweise die Beschäftigung mit der Frage, der Erzählung von der gender (undifferenziertes ›adam‹, Mann und Frau) in der Paradieserzählung, vgl. Baumann, Gerlinde: Seit Adam und Eva … werden Geschlechterrollen konstruiert. Feministische Exegese und Gender-Fragen am Beispiel der Schöpfungserzählung Gen 2,4b-3,24. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (ZPT), 56, 2004, Heft 4, 297-308; Frage von Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2-3 vgl. Rottzoll, Dirk U.: Die Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2f. In: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft (ZAW), 109, 1997, Heft 4, 481-499. 34 | Vgl. Groß, Walter: Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nach Gen. 1,26.27 in der Diskussion des letzten Jahrzehnts. In: Biblische Notizen (BN), 68. Freiburg 1993, 37; vgl. dazu auch Zenger, Erich: Die Schöpfungsgeschichten der
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Eine ganz grundlegende Frage ist meinem Erachten nach, wie überhaupt der Zugriff auf die Texte des Alten Testaments beziehungsweise auch den biblischen Texten insgesamt passiert. Daran wird klar, dass gerade ein eklektizistischer Umgang – wie wir ihn bei den verschiedenen systematischen Ansätzen gesehen haben – sich aus »geglaubten« nicht kontextualisierten Vor-stellungen speist. Es wird versucht diese Vorstellungen mit der Bibel zu belegen, indem der Text zum Instrument subjektiver androzentrischer und heteronormativer Wirklichkeitsvorstellungen wird, die so einen vermeintlich objektiv-wisseschaftlichen beziehungsweise theologisch begründenden Anstrich erhalten sollen. Dieser Umgang mit dem Alten Testament und den biblischen Erzählungen ist abzulehnen, weil versucht wird, die biblischen Texte in einen ahistorischen und kontextfreien Rahmen zu stellen. In diesem Zusammenhang spricht sich der Alttestamentler Thomas Krüger dafür aus, das Alte Testament nicht im Sinne eines Lehrbuchs der evangelischen Ethik zu verstehen.35 Er verdeutlicht dies am Beispiel der Zehn Gebote (Dekalog), deren Gebrauch als maßgeblicher Text für die christliche Ethik problematisch ist.36 Zum einen werden die vertretenen Normen und Moralen des Alten Testaments (AT) hier eingeschränkt auf eine bestimmte Auswahl, ohne deren Kontext zu beachten.37 Zum anderen enthält das AT eine ganze Reihe weiterer moralisch-sittlicher Werte und vor allem auch Reflexionen und Geschichten »über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis des Guten und der Umsetzung entsprechender Einsichten in die Lebensführung, über das Verhältnis von moralisch gutem Leben und Wohlergehen, über Schuld und deren Konsequenzen u.a.m.«38 Krüger entwickelt darum den Vorschlag, die ethischen Werte und Normen des Alten Testaments nicht als lehrbuchhafte Formeln in die evangelische Ethik zu übernehmen und führt diese problematische
Genesis im Kontext des Alten Orients. In: Welt und Umwelt der Bibel, 4, 1996, Heft 2, 20-33. 35 | Vgl. Krüger, Thomas: »Wer weiß denn, was gut ist für den Menschen?«, Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Ethik. Zeitschrift für evangelische Ethik (ZEE), 55, 2011, Heft 4, 259. 36 | Ebd., 249. 37 | Ebd. 38 | Krüger, Bedeutung des Alten Testaments, 249.
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Praxis an verschiedenen Beispielen vor.39 Das AT kann nicht als ein Lehrbuch gesehen und benutz werden, das Christ_innen zeigt, was ein gutes Leben ist oder wie sie sich zu verhalten haben; es kann nur als ein »ethisches Lernbuch« begriffen werden, »an dem die Wahrnehmung moralischer Probleme und deren kritische Reflexion exemplarisch eingeübt werden können und dazu weitergehende ethische Reflexion und Diskussion anstößt.«40 Diese Überlegungen sind auch im Zusammenhang der hier weiterhin vorgestellten Gedanken wesentlich, da gerade die Diskussion über Geschlecht, Sexualität und Partnerschaft sich ausschnitthaft an biblischen Texten bedient und damit in der gesamten Diskussion dazu eine Engführung auf wenige Stellen forciert.
1.3 Zwischen wenigen Narrativen Die Auswahl an biblischen Stoffen und Geschichten beziehungsweise Narrativen, die immer wieder für die Diskussion um Sexual- und Partnerschaftsethik herangezogen werden, ist doch recht überschaubar. Wie bereits dargestellt wurde, stützen sich eine große Zahl der Argumentationen auf Stellen aus den ersten drei Kapiteln des Buches Genesis. So finden sich auch einige Stellen in der paulinischen Briefliteratur, die zum Thema Sexualität Auskunft geben.41 Weitere umfangreiche Auseinandersetzungen zur biblischen Exegese und Sexualethik finden sich für das Thema Homosexualität, indem entsprechende Stellen kontextualisiert und historisch exegetisch eingeordnet werden.42 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gerade durch relative Modernität des Begriffs der Homosexualität, 39 | Vgl. ebd., 249-259; beispielsweise am vielfaltigen und differenzierten Diskussion im AT über die Erkenntnis des Guten und des Bösen, welche »nicht zuverlässig verfügbar ist, sondern ein Glücksfall (beziehungsweise ein Geschenk Gottes). Moral ist nicht ›machbar‹.« 40 | Krüger, Bedeutung des Alten Testaments, 259; vgl. dazu auch Deidun, Tom: The Bible and Christian Ethics. In: Hoose, Bernhard (Hg.): Christian Ethics. London 1998, 3-46. 41 | Vgl. dazu 1. Kor. 6, 12ff.; Eph. 5,24 und 28. 42 | Vgl. unter anderen Spilling-Nöcker, Christia: Wir lassen Dich nicht, Du segnest uns denn, Zur Diskussion um Segnung und Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare im Pfarrhaus. Berlin 2006, 40-56; Art, Monja Elisabeth:
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entspringend aus einem stark binar gedachten Geschlechterverhältnis, dieser im biblischen Kontext nicht gemeint ist, und es sich um Phänomene gesellschaftlicher Rangordnungen, kultischer Prostitution, Päderastie etc. handelt43 , doch ist umstritten, was genau diese Stellen intendieren.44 Neben diesen exegetischen Bemühungen, bestimmte biblische Texte einzuordnen und sie in ihrem Kontext zu erläutern, hat Isolde Karle sich dafür eingesetzt, ein neutestamentliches Narrativ stärker in den Blick zu nehmen. Im Sinne gender-theoretischer Überlegungen zur Geschlechterdifferenz tritt sie damit für eine Überwindung des Geschlechterduals ein. Dafür rückt sie die Aussage »Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angelegt. Es gibt nicht Juden noch Griechen, nicht Sklaven noch Freie, es gibt nicht Mann und Frau, alle nämlich seid ihr einer in Christus Jesus.«45 aus Galater 3, 27-28 in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Mit der Taufe beginnt für Christusgläubige eine Art Neuschöpfung, indem sie Anteil bekommen, an der durch Jesus verkündigten Welt.46 Durch diesen urchristlichen Taufspruch werden alle identitätsbestimmenden Grenzen zugunsten einer neuen, gerechten und nicht binären Sozialstruktur aufgehoben, da nun alle so Getauften Anteil an der Identität Christi nehmen, dies gilt vor allem für die Geschlechterdifferenz.47 Wie ich bereits zuvor gezeigt habe, wird diese Interpretation in Bezug auf die Geschlechterdifferenz nicht in allen modernen Exegesen angenommen.48 Gegen diese Annahme führt Karle zum einen an, dass die Vormoderne das Zwei-Geschlechter-Modell nicht kennt und somit Argumentationen, die sich auf die Unterscheidung zwischen sex und gender beziehen nicht »Liebt einander!«, Die Vereinbarkeit von Homosexualität und christlichen Glauben. Wien 2008. 43 | Vgl. Spilling-Nöker, Paare im Pfarrhaus, 51. 44 | Vgl. Stowasser, Martin: Homosexualität und Bibel, exegetische und hermeneutische Überlegungen zu einem schwierigen Thema. In: New Testament Studies (NTS), 43, 1997, Heft 4, 503. 45 | »ὅσοι γὰρ εἰς Χριστὸν ἐβαπτίσθητε, Χριστὸν ἐνεδύσασθε, Oὐκ ἔνι Ἰουδαῖος οὐδὲ Ἕλλην, οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλεύθερος, οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ• πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ.« Gal 3,27-28, Nestle-Aland: Novum Testamentum Graece. Stuttgart 272007 (Übersetzung C.S.). 46 | Vgl. Karle, Mann noch Frau, 227. 47 | Ebd., 228. 48 | Ebd., so beispielsweise bei Frettlöh oder Karl Barth.
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angemessen sind.49 Zum anderen nimmt Gal 3,28 Bezug auf die Schöpfungsgeschichte, indem Gen 1,27 (»Mann und Frau schuf er sie.«) hier als Antithese aus der Septuaginta50 zitiert wird.51 Karle interpretiert dies als radikalen Identitätswechsel durch die Taufe in Christus, welcher »ein[en] Freiraum [entstehen lässt], der es Menschen ermöglicht, in einem entdualisierten und antihierarchischen Miteinander zu leben.«52 Dadurch wird eine »Kultur der Vielfalt« ermöglicht, die die Unterscheidungen zwischen ›Männern‹ und ›Frauen‹ idealerweise überwinden soll zugunsten einer »radikale[n] Egalität und schöpferische[n] Vielfalt.«53 Sie unterstreicht dabei, dass es ihr nicht um eine Forderung nach völliger Beliebigkeit in der sozialethischen Praxis geht, sondern um die Betonung der befreienden Kraft, die durch Christus für von Ausgrenzung und Repression Betroffene ausgeht.54 Mit ihrem Überlegungen, Geschlechterdifferenzen zu überwinden, leistet Karle einen wesentlichen Beitrag zu einem theologischen Konzept, das an die postmoderne Kultur anschlussfähig ist. Es hat sich gezeigt, obwohl es eine grundlegende gender-theoretische Weiterentwicklung des biblisch-theologischen Verständnisses durch Isolde Karle gegeben hat, sich trotzdem die Textvielfalt zur Sexual- und Partnerschaftsethik nur zwischen ganz wenigen Passagen der Bibel bewegt. Ich möchte im Folgenden erkunden, wie die biblischen Texte unter dem Gedanken der Bibel als einem »Lernbuch«55 gelesen werden können und welche systematischen Differenzierungen dafür vorab notig sind.
1.4 Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz oder Geschlechternorm? Eine Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz bedeutet nicht, dass die Geschlechtlichkeit der oder des Einzelnen aberkannt wird, das sex und 49 | Ebd., 230. 50 | »ἄρσεν καὶ θῆλυ ἐποίησεν αὐτούς« Gen 1,27 LXX, vgl. dazu bei Anmerkung 44. 51 | Vgl. Karle, Mann noch Frau, 230. 52 | Karle, Mann noch Frau, 231. 53 | Ebd., 232. 54 | Ebd., 233. 55 | Vgl. Krüger, Bedeutung des Alten Testaments, 259.
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gender deswegen eine weniger bedeutende Rolle spielen. Es geht darum die Differenz dahin gehend zu überwinden, dass diese das theologische Denken nicht in der dichotomen Grundstruktur von ›Mann‹ und ›Frau‹ hält. Obwohl sich die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) in ihrem Positionspapier »Denkschrift zu Fragen der Sexualethik«56 zwar für eine »Entsündigung« der Sexualität ausspricht, bleibt sie trotzdem dem ZweiGeschlechtermodel treu und kann eine Geschlechterpluralisierung über die Kategorien von ›Mann‹ und ›Frau‹ hinaus nicht denken. Diese Grundlegung führt dazu, dass diese Geschlechterdifferenz eine Beziehung impliziert, die ebenfalls nur zwischen diesen beiden, sich ergänzenden Geschlechtern stattfinden kann.57 Als unauflöslich stellt sich weiterhin der Zusammenhang zwischen Sexualität, Genitalität, Generativität und Partnerschaft dar, die einhergeht mit einer unreflektierten Überbetonung der Ehe: »Der Mensch lebt nur als Mann oder als Frau; er ist also durch seine Sexualität bestimmt. Das geschlechtliche Gegenüber und die Begegnung von Männern und Frauen haben ihren Sinn in sich selbst. Deshalb dient die Sexualität nicht in erster Linie der Fortpflanzung. Mann und Frau sind aneinander gewiesen, um ihre Beziehung zu gestalten. In der Begegnung mit der Andersartigkeit des Partners erfährt der einzelne Mensch nicht nur eine Ergänzung, sondern er erkennt sich selbst und den anderen.« 58
Diese Zentrierung auf Ehe als partnerschaftliche Norminstanz besteht weiter fort in den Reflexionen über Homosexualität der EKD in der Orientierungshilfe »Mit Spannungen leben«. Ganz deutlich werden andere Beziehungsformen außer der Ehe herabgesetzt beziehungsweise die Institution Ehe als alleinige Instanz für Familie in einer heterosexuellen Paarbeziehung dargestellt: »Die Institutionen Ehe und Familie kommen nur für heterosexuell ausgerichtete Menschen in Betracht. Für bisexuell empfindende Menschen, die eine Ehe eingehen wollen, bedeutet dies die Entscheidung und die Aufgabe, auf das Ausleben 56 | Kirchenkanzlei der EKD (Hg.): Denkschrift zu Fragen der Sexualethik. Gütersloh 1971. 57 | Vgl. Hartlieb, Liebe Sünde, 112. 58 | EKD, Denkschrift Sexualethik, 149.
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ihrer homosexuellen Anteile zu verzichten und ihre heterosexuellen Anteile bewußt zu entwickeln. Für Menschen, die eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägt sind, sagt das zunächst, daß Ehe und Familie nicht die Leitbilder sind, an denen sie sich persönlich ausrichten können. Es sagt darüber hinaus, daß sie sich an diesen Leitbildern in der eigenen Lebensführung auch nicht ausrichten dürfen.«59
Obwohl die kirchlichen Positionen Sexualität nicht mehr ausschließlich als generativen Akt, und damit als Partizipation an der göttlichen Schöpfung verstehen, sondern der sexuellen Lust ihre Berechtigung im Rahmen einer personalen Liebesbeziehung einräumen, wird die »entsündigte« sexuelle Lust verknüpft mit der Generativität, die ihren Ort in der Ehe findet.60 Das Modell der Geschlechterdifferenz führt dazu, dass die eigentliche Entsündigung der Sexualität nur in dem Bereich der heteronormativen Paarbeziehung stattfindet. Dies wird vor allem an den Stellungnahmen EKD zur Homosexualität und homosexuellen Paarbeziehungen deutlich. Hartlieb weißt richtigerweise darauf hin, dass »die Entflechtung von Sünde und Sexualität hintertrieben wird«61, indem alle von der Ehe und Heterosexualität abweichenden Beziehungsformen weiterhin als »sündig« erklärt werden, da sie das Kriterium der Generativität nicht erfüllen können.62 Das theologisch dogmatische Dilemma der Geschlechterdifferenz und den bereits beschriebenen daraus entstehenden Positionen kann nur entkommen werden, wenn das theologische Denken eine Geschlechterpluralisierung, im Sinne einer Vervielfältigung sexueller Identitäten anerkennt. In diesem Punkt folgen meine Überlegungen denen Isolde Karles. Es kommt jedoch zu einer Engführung des biblischen Kanons in den ethischen Reflexionen, wenn sich diese Debatte nur zwischen den bereits vorgestellten wenigen Narrativen zur Geschlechterdifferenz bewegt; es wird mehr relativiert und erklärt, als das etwas Wesentliches zum ethischen Diskurs beigetragen wird. Der erzählerische Reichtum der biblischen Schriften muss deshalb unter dem Blickwinkel der Geschlechterdifferenzierung betrachtet werden und deutlich machen, dass es um eine Viel59 | Rat der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD): Orientierungshilfe »Mit Spannungen leben« 1996. www.ekd.de/familie/spannungen_1996_3.html (Zugriff: 30.8.2012). 60 | Vgl. Hartlieb: Liebe Sünde, 118. 61 | Hartlieb: Liebe Sünde, 121. 62 | Vgl. Hartlieb: Liebe Sünde, 121.
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falt sexueller Identitäten geht und so der Herabsetzung von Identitäten entkommen werden kann. Der Auftrag des christlichen Liebesgebotes63 und der daraus erwachsenden Verantwortung gegen über der oder dem Nächsten wird nur ernst genommen, wenn dieser nicht vor den sexuellen Identitäten haltmacht. »Es geht um nichts anderes als um die Überwindung von Ausgrenzung und Repression und damit um eine Befreiungstheologie im Geist Jesu Christi. Jesus hat menschenverachtende Konventionen gesprengt, er hat aus Verengung herausgeführt und jede exkludierende Praxis verurteilt. Mit seinen inklusionsorientierten Mahlfeiern, mit seinen Heilungen und Dämonenaustreibungen und mit seiner Botschaft vom Reich Gottes hat er ganz besonders die Ausgeschlossenen, Bedrückten und Randständigen im Blick gehabt.« 64
63 | Vgl. dazu Mk 12,28-34 »Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.« und Mt 5, 21-26 »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein. Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen, und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du wirst ins Gefängnis geworfen. Amen, das sage ich dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast.«; zur genaueren theologischen Einordnung vgl. Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testament. Göttingen 2007, 393, 418. 64 | Karle, Mann noch Frau, 233.
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Geschlechterpluralisierung ist der erste Schritt in diese richtige Richtung, das Beziehungsgeschehen zwischen Menschen starkzumachen und dabei auf die Vielfalt der biblischen Narrative zurückzugreifen. Die Besessenheit und extreme Überbetonung heteronormativer Sexualität der kirchlichen Entwürfe hat bereits lebensweltlich drastisch an Wichtigkeit verloren. Diese Fixierung auf sexuelle Kategorisierung wird auch im theologischen Diskurs unwichtiger werden, indem die noch hart verteidigte bipolare Geschlechterauffassung zum Teil einer radikalen, narrativ orientierten christlichen Ethik wird. Es kommt zu einer Verschiebung des sexual- und partnerschaftsethischen Diskurses hin zur Reflexion biblischer Narrative in einem ausdifferenzierten und entflochtenen Partnerschafts- und Sexualdiskurs. Eine Theologie, die diese Aufgaben übernehmen kann, kann nur jenseits von Geschlechternorm agieren und muss die »unheiligen Allianzen« von Sexualität, Generativität, Partnerschaft etc. auflösen.
1.5 Unheilige Allianzen entflechten Die Verflechtung von (1) Sexualität als Lust, (2) der generativen Sexualität und (3) den Fragen nach Partnerschaften hat sich in den vorausgegangenen Überlegungen als feste Konstante im theologischen Denken seit den Kirchenvätern bis in die Diskussionen der EKD erhärtet. Die bereits vorgestellten Überlegungen haben gezeigt, wie auf der einen Seite die Geschlechterdifferenz und auf der anderen die daraus hervorgehende Geschlechternorm folgenschwere Konsequenzen für die theologische Urteilsbildung haben. Im Kern sind bei allen diesen sexualethischen Konzepten zwei problematische Grundierungen zu erkennen. Zum einen wird das Liebesgebot gegenüber dem oder der Nächsten unterwandert. Zum Zweiten bedienen sich all diese Entwürfe des eklektizistischen Zugriffs auf biblische Texte und versuchen somit die Verflechtung zur Geschlechternorm zu begründen. Es ist also notwendig diese Verflechtung von (1) Sexualität als Lust, (2) der generativen Sexualität und (3) den Fragen nach Partnerschaften und Lebensgemeinschaften konsequent aufzulösen und mit den Erkenntnissen einer Theologie der Geschlechterpluralisierung zu verknüpfen. Die normative Verknüpfung dieser sexual- und partnerschaftsethischen Bereiche ist aus den vorhergegangenen Überlegungen grundlegen abzulehnen. Jeder dieser Bereiche bildet ein eigenes ethisches Arbeitsfeld zu denen jeweils andere in Beziehung gesetzt werden müssen. Alle drei Bereiche unterliegen
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damit einer separaten ethischen Urteilsbildung, deren Einfluss auf andere Bereiche des theologischen Nachdenkens geprüft werden muss. Überlegungen zu (1) erkennen an, dass Sexualität ein menschliches Grundbedürfnis ist und somit die sexuelle Lust eine positive Bewertung erfährt. Die (2) generative Sexualität wird in einem zwanglosen Rahmen diskutiert und geht nicht aus einer Notwendigkeit, sondern der inneren Berufung zum eigenen Kinderwunsch hervor. Als wesentliche Auflösung begreife ich die separate Behandlung (3) der Fragen nach Partnerschaft und Lebensgemeinschaften. Durch die bereits ausgeführten Gedanken wird nun deutlich, dass Partnerschaften, Ehe, Familie, Lebensgemeinschaften etc. getrennt von Sexualität den Schwerpunkt auf ein gelingendes Beziehungsgeschehen legen, dass unabhängig von normativ geprägten Rollenbildern seine ethisch-theologische Entfaltung findet. Als Beispiel kann die Überlegung stehen, dass die Institution der Ehe nie so viel Bedeutung zugemessen werden kann, als der Frage, ob eine Lebensgemeinschaft in Verantwortung und Liebe füreinander geführt wird. Oder ob Kinder in einer liebevollen und verantwortlichen Umgebung aufwachsen, ist nicht von Partnerschaftsinstitutionen abhängig, sondern von den Menschen, die miteinander ein gelingendes Beziehungsgeschehen praktizieren. Durch die Trennung dieser drei Bereiche fallen zwangsläufig die bisherigen theologischen Reflexionsgrenzen und können somit zu einer Ethik erweitert werden, die mit und an Narrativen biblischen Ursprungs eine christliche Sexual- und Partnerschaftsethik ausformulieren kann. Diese stellen nunmehr nicht normative Kategorisierungen in den Mittelpunkt, sondern machen das Beziehungsgeschehen zwischen Menschen stark, indem sie der Vielfalt und Individualität einen narrativen Ausdruck geben. Im Folgenden werde ich deshalb einige Überlegungen zur narrativen Ethik vornehmen, um damit die Idee einer narrativen Sexual- und Partnerschaftsethik deutlicher zu machen.
2. N ARR ATIVE S E XUAL- UND P ARTNERSCHAF TSE THIK Das Erzählen als Konzept für ethisches Nachdenken im Bereich der Sexual- und Partnerschaftsethik stellt sich als ein vielversprechender Ansatz dar, der die Möglichkeit bietet, eine neue Sichtweise des theologischen Nachdenkens zu eröffnen. Bevor ich genauere Überlegungen zum Konzept
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einer narrativen Ethik vorstellen möchte, sollen zunächst einige Grundlagen reflektiert werden, ohne die dieses Konzept nicht zu denken wäre.
2.1 Postmoderne Pluralität Pluralität kann wohl als das wesentliche Kennzeichen der Postmoderne und als das Grundmuster des postmodernen Denkens gelten.65 Die Gefahr, die von einigen gesehen wird, dass alles Postmoderne demnach ein »anything goes« bedeutet ist jedoch unbegründet, da es die Interessen des postmodernen Denkens nicht erkennt: »Diese Pluralisierung wäre, als bloßer Auflösungsvorgang gedeutet, gründlich verkannt. Sie stellt eine zuinnerst positive Vision dar. Sie ist von wirklicher Demokratie untrennbar.«66 So kann ein und derselbe Sachverhalt unter ganz verschiedenen Blickwinkeln völlig anders erscheinen und verliert dadurch keineswegs an Gültigkeit. Die Vielheit der Positionen ist keine Beliebigkeit, kein Relativismus, sie ist schlicht eine notwendige Konsequenz aus der Erfahrung über den Typus des Aufklärungsdenkens im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts.67 Das Prinzip der Aufklärung, beziehungsweise der wissenschaftlichen Methode, der »Mathesis universalis« hat den entscheidenden Aufbruch in die Neuzeit gegeben.68 Descartes steht am Anfang dieses Denkens, das wir heute als die exakte Wissenschaft, die systematische Naturbeherrschung verstehen.69 Das Neue an diesen der Mathematik orientierten Prinzip Descartes ist eine universelle Methode für alle Wissenschaften. Sie brachte gleichzeitig einen Denktypus mit sich, der vereinheitlichend, radikal, universalisierend und totalisierend ist, einen Drang zur Strukturierung hat70, und zurecht von Horkheimer und Adorno als »technisches Wissen« charakterisiert wird: »Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Wie allen Zwecken der bürgerlichen Wirtschaft in der Fabrik und auf dem Schlachtfeld so steht es 65 | Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere Postmoderne Moderne. Berlin 6 2002, 5. 66 | Welch, Postmoderne Moderne, 5. 67 | Vgl. ebd. 68 | Ebd., 69. 69 | Ebd. vgl. dazu Mittelstraß, Jürgen: Die Idee einer Mathesis universalis bei Descartes, Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 1978, 4, 177-178. 70 | Vgl. Welch, Postmoderne Moderne, 72.
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den Unternehmenden ohne Ansehen der Herkunft zu Gebot. Die Könige verfügen über die Technik nicht unmittelbarer als die Kaufleute: sie ist so demokratisch wie das Wirtschaftssystem mit dem sie sich entfaltet. Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.«71
Die Entfremdung des Menschen, die Entgrenzung von seinen »natürlichen« Bedürfnissen und Bedingungen, sie ist der Preis für dieses technische Wissen.72 Das postmoderne Denken beziehungsweise die Postmoderne hat darum auch ein grundlegend moralisches Anliegen, wenn sie sich gegen diesen Denktypus wendet: »Ihr philosophischer Impetus ist zugleich ein tief moralischer. Sie folgt der Einsicht, daß jeder Ausschließlichkeits-Anspruch nur der illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten entspringen kann. Daher ergreift sie für das Viele Partei und wendet sich gegen das Einzige, tritt Monopolen entgegen und decouvriert Übergriffe. Ihre Option gilt der Pluralität – von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denktypen und Sozialkonzeptionen, von Orientierungssystemen und Minderheiten.«73
71 | Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 16 2006, 10. 72 | »Die Haßliebe gegen den Körper färbt alle neuere Kultur. Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ›Corpus‹, unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat. Der Zwang zu Grausamkeit und Destruktion entspringt aus organischer Verdrängung der Nähe zum Körper, ähnlich wie nach Freuds genialer Ahnung der Ekel entsprang, als mit dem aufrechten Gang, mit der Entfernung von der Erde, der Geruchssinn, der das männliche Tier zum menstruierenden Weibchen zog, organischer Verdrängung anheimfiel. In der abendländischen, wahrscheinlich in jeder Zivilisation ist das Körperliche tabuiert, Gegenstand von Anziehung und ›Widerwillen‹.« Ebd., 247. 73 | Welsch, Postmoderne Moderne, 5.
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Postmodernes Denken lässt darum diesen universalisierenden Stil von Wissen hinter sich. »Die Grundthese des Postmodernen Wissens ist die von der Verabschiedung der Meta-Erzählungen, gerade auch der Meta-Erzählungen der Neuzeit – Mathesis universalis – und ihrer Nachfolgerformen. Die Grundoption gilt dem Übergang zur Pluralität, zur Anerkennung und Beförderung der heterogenen Sprachspiele in ihrer Autonomie und Irreduzibilität.«74 Wenn wir diesen Gedanken konsequent weiterverfolgen und auf dem Bestand der bereits vorgebrachten Überlegungen zur Sexual- und Partnerschaftsethik in der Theologie sehen, wird deutlich, dass die Ethik die Sinn- und Erfahrungswelten einer heterogenen Gesellschaft der Postmodernen Moderne nur angemessen umsetzten kann, wenn sie sich der Pluralität durch verschiedene Narrative annähert.
2.2 Überlegungen zum Sinn einer narrativen Ethik Eine Ethik die auf Narrationen aufbaut verlässt grundlegen den Bereich des Argumentativen und Deskriptiven, in der Narration wird ein Geschehen als Handlungsablauf er-zählt und damit Anderen mitgeteilt.75 Es stellt sich darum die Frage, inwiefern Theologie und Ethik narrativ sind beziehungsweise Narrative ihre Grundlage bilden76, ob Geschichten selbst als Reflexionsform gelten und somit als eigenständig Form neben dem »[…]
74 | Ebd., 79. 75 | Die Narratio gehört zu den klassischen vier Teilen einer Rede (exordium: Redeanfang, narratio, argumentatio: Beweisführung oder Begründung, peroratio: Zusammenfassung und Affekte oder Emotionen der Zuhörer wecken) und entspringt dem juristischen: »Die ›Erzählung‹ meint eigentlich die Schilderung des Tathergangs aus der Sicht des Anklägers oder des Verteidigers. Sie ist also immer eine parteiische, den eigenen Interessen dienende Darstellung eines Sachverhalts – und vor den Schranken des Gerichts kommen ja meist auch recht unterschiedliche Versionen des Geschehens zum Ausdruck, die anschließend in der argumentatio bewiesen werden sollen.« Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart 1996, 54ff. 76 | Vgl. Hofheinz, Marco: Narrative Ethik als »Typfrage«, Entwicklungen und Probleme eines konturierungsbedürftigen Programmbegriffs. In: Hofheinz, Marco et al. (Hg.): Ethik und Erzählung, Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik. Zürich 2009, 15.
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spekulativen, begrifflichen und argumentativen Denken […]«77 stehen. Als ersten Ausgangspunkt schließe ich mich der folgenden Definition von narrativer Ethik an: »Narrative Ethik fragt als genuin narrative Ethik danach, welche Bedeutung das Erzählen und bestimmte Erzählungen (Narrationen) für die Gestaltgewinnung von Moral haben. Die Reflexion auf diese Gestaltgewinnung kennzeichnet nach dieser vorläufigen Benennung narrative Ethik.«78
Für das theologische Nachdenken ist darum wichtig, dass wir auf der einen Seite erzählende Wesen sind und auf der anderen Seite erzählte Wesen79 und in diesem Sinne geschaffene Wesen sind.80 Es bedeutet, dass wir nicht nur in Geschichten verstrickt, sondern durch Gott in dessen eigene Geschichte als schöpferisch handelnde Wesen integriert sind.81 Für die Partnerschafts- und Sexualethik, die die drei Bereiche (1) Sexualität als Lust, (2) generative Sexualität und (3) Partnerschaft differenziert und aus narrativer Perspektive behandelt, sind zwei Aufgaben wesentlich. Zum einen soll die Ethik der Exploration dienen, das heißt unser Dasein zu entdecken, indem der Weg des geschöpflichen Lebens nachgegangen wird als Erzählung.82 Dabei besteht die wesentliche Aufgabe darin, all das zur Sprache zu bringen, also zu erzählen, was auf dem Weg des Lebens »zu erfahren, wahrzunehmen, zu verstehen, zu bezeugen und im Urteil zu bewähren und dann vielleicht auch theoretisch zu erfassen ist.«83 Es geht darum, wie Menschen im »Geschaffen-Werden« verbleiben können und an der Geschichte Gottes teilhaben können.84
77 | Ulrich, Hans: Wie Geschöpfe leben, Konturen evangelischer Ethik. Münster 2005, 51. 78 | Hofheinz, Narrative Ethik, 18. 79 | Vgl. ebd., 45. 80 | Vgl. Hauerwas, Stanley: Introduction. In: Hauerwas, Stanley (Hg.): Performing the Faith, Bonhoeffer and the Practice of Nonviolence. Grand Rapids 2004, 22. 81 | Vgl. Hofheinz, Narrative Ethik, 45. 82 | Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 51. 83 | Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 80. 84 | Ebd., 174.
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Zum anderen geht es darum, die eigene Lebensgeschichte und Existenz in den Geschichten Gottes mit den Protagonisten der biblischen Erzählungen zu kontextualisieren. Aus dieser Perspektive die eigene Lebensgeschichte mit den Geschichten der Bibel in Beziehung zu setzen und dabei die Differenzen und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Somit in einen erzählerischen Austausch mit den biblischen Texten zu treten. Eine christlich geprägte narrative Sexual- und Partnerschaftsethik bleibt deshalb fundamental mit der Person Jesu Christi verbunden und fragt zu aller erst nach der Existenz, die durch die Geschichte Jesu Christi geprägt ist.85 Wie bereits in Kapitel 1.4 angedeutet, stellt das Narrativ des Doppelgebots der Liebe dafür die Leiterzählung dar. Dabei sollen die Geschichten der biblischen Texte nicht eingeengt werden auf einen bestimmten Bereich, genauso wenig wie davon zu reden ist, dass die Ethik Jesus auf eine Stellungnahme reduziert werden kann.86 Es bildet jedoch das Zentrum der Ethik Jesu und hat die dreifache Form »der Nächstenliebe (vgl. Mt 5,43), der Feindesliebe (Mt. 5,44) und als Doppelgebot der Liebe (Mk, 12,28-34) […]«87. Die uneingeschränkte Radikalität des Liebesgebotes88 lässt die Grenzen von Kategorien, sei es denen der Geschlechtlichkeit, der heteronormativen Rollenbilder und Partnerschaftsvorstellungen verschwinden. Glaube und Kirche entstehen dort, wo Menschen im Einklang mit ihrer Geschöpflichkeit, Verantwortung in ihrer eigenen Geschichte und ihrem eigenen Leben übernehmen. Darum sind der Glaube und die christliche Gemeinschaft nicht abhängig von äußeren Formen und Kategorien.
85 | Vgl. Hofheinz, Narrative Ethik, 63. 86 | Vgl. Schnelle, Udo: Das Liebesgebot im Neuen Testament: Jesus, Paulus und Johannes. In: Tanner, Klaus (Hg.): »Liebe« im Wandel der Zeit, Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Leipzig 2005, 23. 87 | Schnelle, Liebesgebot, 23. 88 | Vgl. ebd., 25.
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3. E IN F A ZIT Dass auch heute in den Evangelischen Kirchen ein Menschenbild89 vorherrscht, das sich nicht wesentlich von den Gedanken der Patristik abhebt, habe ich zu Beginn des Artikels dargestellt. Es ist ein Menschenbild, was sich den Vorwurf untheologisch zu sein, gefallen lassen muss. Es ist darauf angelegt, Menschen in ihrer Sexualität herabzusetzen, es nährt sich aus einem unredlichen wissenschaftlichen Umgang mit der christlichen Tradition und den biblischen Texten und zeichnet ein Bild normativer Partnerschaft und Sexualität, das darauf angelegt ist auszugrenzen. Dieses theologische Denken ist fern von jeder Ethik, die sich tatsächlich eine in der Tradition Jesus stehende nennen könnte. So produziert die Theologie und die Evangelischen Kirchen ein System, das nicht nur ausschließt, sondern alle Probleme (Homosexualität im Pfarrhaus als ein Beispiel) selbst produziert und dabei diesen Zusammenhang nicht erkennt. Theologisches Denken im Bereich der Sexual- und Partnerschaftsethik kann durch die Entflechtung der Bereiche (1) der Sexualität als Lust, (2) der generativen Sexualität und (3) den Fragen zur Partnerschaft als einzelne Arbeitsfelder gelingen, die Strukturen von Diskriminierung erkennen und ganz individuell die Lebenswirklichkeit der Menschen erschließbar machen. Außereheliche Formen des Zusammenlebens sind kein Abweichen von der Norm, sonder unter der ethischen Betrachtung des Beziehungsgeschehens zu beurteilen. Die Ehe wird somit eine Lebensform unter vielen, die aus dem Blickwinkel der uneingeschränkten Verantwortlichkeit gegenüber dem oder der Nächsten keiner Sonderstellung bedarf. Jede Partnerschaft, sei sie zwischen zwei oder mehr Personen kann durch eine Segenshandlung im pastoralen Rahmen bekräftigt werden, eine darüber hinausgehende theologische Aufladung dieses Rituals für bestimmte Partnerschaftsformen ist unangemessen. So werden Möglichkeiten eröffnet, Partnerschaften und Verantwortungsgemeinschaften mit ganz unterschiedlichen Bezügen zur generativen Sexualität und zur Sexualität als Lust zu denken.
89 | Vgl. hierzu vor allem EKD: Orientierungshilfe »Mit Spannungen leben«; bei der EKD finden sich eine Reihe weitere Texte, die außereheliche Lebensformen und Formen der Kindererziehung und Sexualität diskreditieren.
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Im Bereich der generativen Sexualität liegt nicht mehr das Augenmerk auf deren institutionellen Bedingtheit, sondern auf dem Beziehungsgeschehen, in das Kinder hinein geboren werden. Dieses ist nicht durch äußere Formen, sondern durch eine Gemeinschaft in gegenseitiger Verantwortung und Liebe geprägt. Die generative Sexualität vollzieht sich in ganz verschiedenen Konstellationen zur Frage der Partnerschaft. Die Sexualität als Lust wird in der Geschöpflichkeit des Menschen als wesentliches und gutes Merkmal erkannt und wertgeschätzt und damit auch selbst zu einer möglichen Dimension von Frömmigkeit und Spiritualität.90 Es eröffnet sich so der Raum, neu über spirituelle Sexualität nachzudenken und diese im Bezug auf die beiden anderen Bereiche abzugrenzen und einzubinden. Sexualität und Frömmigkeit können wie bei Robert Goss in einem engen Zusammenhang stehen: »I analyzed my sexual feelings that summer in specific examinations of conscience and continually thought about the experience of infused contemplation in prayer. I spoke with my spiritual director to discern the movement of God’s Spirit in my prayer. I also masturbated, allowing myself to make love with Jesus in prayer and contemplation. contemplation is a meditative envisioning of God in image or symbol. It has some of the qualities of a lucid dreaming and free association without blockage. These added erotic energies deepened my meditative experience and coming to love myself. My technique of meditative prayer was to envision Christ with me and experience him as a lover. Scott Haldeman, Betty Dodson, and Joe Kramer argue that masturbation can be spiritual and can become a form of transcendental meditation.« 91
Die drei Felder der Sexual- und Partnerschaftsethik konnten hier nur mit ganz kurzen, grob skizzierten ersten Ideen dargestellt werden und bedürfen einer weiterführenden Bearbeitung. Grundlegend eröffnet das Konzept einer narrativen Ethik für den Bereich der Sexual- und Partnerschaftsethik neue Möglichkeiten. Es spiegelt auf der einen Seite die Pluralität der postmodernen Lebenswelt wider beziehungsweise nimmt diese auf und ermöglicht auf der anderen Seite eine radikal an Jesu ausgerichtet Ethik. 90 | Vgl. Porsch, Hedi: Queer-Theologie, Geschichte – Themen – Chancen. In: Schürger, Wolfgang et al. (Hg.): Schwule Theologie, Identität – Spiritualität – Kontexte. Stuttgart 2008, 94-96. 91 | Goss, Robert E.: Queering Christ, Beyond Jesus acted up. Eugene 2006, 17.
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Spilling-Nöcker, Christia: Wir lassen Dich nicht, Du segnest uns denn, Zur Diskussion um Segnung und Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare im Pfarrhaus. Berlin 2006. Stowasser, Martin: Homosexualität und Bibel, exegetische und hermeneutische Überlegungen zu einem schwierigen Thema. In: New Testament Studies (NTS), 43, 1997, Heft 4, 503-526. Ulrich, Hans: Wie Geschöpfe leben, Konturen evangelischer Ethik. Münster 2005. Welsch, Wolfgang: Unsere Postmoderne Moderne. Berlin 62002. Zenger, Erich: Die Schöpfungsgeschichten der Genesis im Kontext des Alten Orients. In: Welt und Umwelt der Bibel, 4, 1996, Heft 2, 20-33.
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Autorinnen und Autoren
PD Dr. theol. Gisa Bauer wurde 1970 in Zwickau geboren und studierte evangelische Theologie. Als Mitarbeiterin/Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kirchengeschichte des Instituts für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig wurde sie im Jahr 2005 mit einer Arbeit zu Kulturprotestantismus und Frauenbewegung promoviert und im Juni 2012 auf Grundlage der Habilitationsschrift »Das Verhältnis von evangelikalen Gruppen und den Landeskirchen in Westdeutschland in der Zeit von 1945 bis 1989« zur Privatdozentin ernannt. Im Sommersemester 2012 war sie Professor asociat für Kirchengeschichte an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Hermannstadt (Rumänien) und ist derzeit Wissenschaftliche Referentin für Ostkirchenkunde am Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim sowie Lehrbeauftragte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Dr. Lena Eckert wurde 1978 in Nürnberg geboren. Sie hat von 1998-2005 Gender Studies und Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und außerdem einen Master in Gender History an der Essex Universität absolviert. Mit einer Arbeit zu »Intervening in Intersexualization: The Clinic and the Colony« wurde sie 2010 an der Universität Utrecht promoviert. Seitdem arbeitet sie an der Bauhaus Universität in Weimar als Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken. Zu ihren vorrangigen Forschungsinteressen zählen Gender Studies, Queer Theory, Postkoloniale Theorie, Psychoanalyse, Prozesse der Intersexualisierung, Wissenschaftsgeschichte. Jörg Kleis wurde 1984 in Stolberg (Rheinland) geboren. Er studierte in Heidelberg, Maastricht und Berlin Jura. Er arbeitete danach als Wissenschaft-
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licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht der Freien Universität Berlin, bevor er 2011 Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung wurde. Er schreibt derzeit an seiner Dissertation über Gerichte Regionaler Wirtschaftsgemeinschaften in Afrika. Christian Schmelzer wurde 1987 in Zeitz geboren. Er hat evangelische Theologie an der Universität Leipzig und an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und ist Stipendiat der Begabtenförderung der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit. Hier leitet er die Arbeitsgruppe queer. Er beschäftigt sich mit Kirchengeschichte der Aufklärungszeit und theologischer Zeitgeschichte, Queer Theology und mit Fragen der Sexual- und Partnerschaftsethik. Adrian de Silva wurde 1966 in London geboren und studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Englischen Philologie. Von 1999 bis 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Gender Studies (ZGS) an der Universität Bremen. Er arbeitet zurzeit an seiner Dissertation im DFGgeförderten Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität Berlin. Außerdem veröffentlicht er zu den Themen Queer Theory, Konzepte von Trans* in Sexualmedizin, Recht und Politik, Staatstheorie sowie medizinsoziologische und medizinethische Aspekte der Intersexualität. Dr. phil. Kerstin Söderblom wurde 1963 geboren und studierte Pädagogik und evangelische Theologie. 1996 wurde sie mit der Arbeit »Die Bedeutung von christlicher Religion in der Lebensgeschichte lesbischer Frauen« im Fach Religionspädagogik an der Uni Hamburg promoviert. Sie ordinierte Pfarrerin und arbeitet als Studienleiterin am Institut für Personalberatung, Organisationsentwicklung und Supervision in Friedberg (IPOS) und ist Lehrbeauftragte im Fachgebiet Praktische Theologie an der GoetheUniversität in Frankfurt.
Gender Studies Sarah Dangendorf Kleine Mädchen und High Heels Über die visuelle Sexualisierung frühadoleszenter Mädchen Oktober 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2169-3
Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform 2010, 498 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4
Stefan Paulus Das Geschlechterregime Eine intersektionale Dispositivanalyse von Work-Life-Balance-Maßnahmen September 2012, 472 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2208-9
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Gender Studies Ralph J. Poole Gefährliche Maskulinitäten Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen Januar 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1767-2
Julia Reuter Geschlecht und Körper Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit 2011, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1526-5
Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit Februar 2012, 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2
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