Jenseits der Ordnung: Versuch einer philosophischen Ataxiologie [1. Aufl.] 9783839419984

Mit der »Ataxiologie« präsentiert Christian Lavagno einen neuartigen philosophischen Ansatz im Schnittbereich von Kritis

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German Pages 228 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Der Karneval und das Dionysische
a)
b) „Metaphysik“
c) Der Karneval
d) Apollo und Dionysos
2. Modell (I): Versuch über das Inhumane
3. Für und wider die Ordnung – Das Motiv der Öffnung
a) Sechs Argumente
b) Chaos, Ermüdung, Vision
c) Die Verarmung der Erfahrung
d) Macht und Herrschaft
e) Im Universum der Signifikanten
4. Grundlinien der Ataxiologie
a) Diesseits der Ordnung
b) Das Tranchieren und die Artikulation
c) Naive Kritik, heimliche Phänomenologie
d) Der Widerstreit
e) Im Denkraum
5. Identität, Angst, Ambivalenz
a) Kritik der Identitätsphilosophie
b) Die Ambivalenz der Angst
c) Der existentielle Verlust der Ordnung
6. Modell (II): Leonard – Leben jenseits der Ordnung
7. Das Überschreiten der Ordnung
a) Der Knecht und sein Triumph
b) Die Souveränität und das Fragile
c) Der Über-Nietzsche
8. Modell (III): Jackson Pollock – Kunst jenseits der Ordnung
a) Ordnungsstrukturen und ihre Überwindung in der Malerei
b) Jackson Pollock – Drippings
c) Pollock und Derrida – Dekonstruktion und Öffnung
9. Jenseits der Ordnung
Danksagung
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Jenseits der Ordnung: Versuch einer philosophischen Ataxiologie [1. Aufl.]
 9783839419984

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Christian Lavagno Jenseits der Ordnung

Edition Moderne Postmoderne

Christian Lavagno (Dr. phil. habil.) lehrt Philosophie an der Universität Osnabrück. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Erkenntnistheorie und philosophische Ästhetik.

Christian Lavagno

Jenseits der Ordnung Versuch einer philosophischen Ataxiologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Christian Lavagno Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1998-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Der Karneval und das Dionysische | 7

a) |7 b) „Metaphysik“ | 12 c) Der Karneval | 15 d) Apollo und Dionysos | 19 2. Modell (I): Versuch über das Inhumane | 31 3. Für und wider die Ordnung – Das Motiv der Öffnung | 41

a) Sechs Argumente | 41 b) Chaos, Ermüdung, Vision | 43 c) Die Verarmung der Erfahrung | 49 d) Macht und Herrschaft | 56 e) Im Universum der Signifikanten | 69 4. Grundlinien der Ataxiologie | 81

a) Diesseits der Ordnung | 81 b) Das Tranchieren und die Artikulation | 89 c) Naive Kritik, heimliche Phänomenologie | 94 d) Der Widerstreit | 105 e) Im Denkraum | 114 5. Identität, Angst, Ambivalenz | 121

a) Kritik der Identitätsphilosophie | 121 b) Die Ambivalenz der Angst | 130 c) Der existentielle Verlust der Ordnung | 140 6. Modell (II): Leonard – Leben jenseits der Ordnung | 149 7. Das Überschreiten der Ordnung | 163

a) Der Knecht und sein Triumph | 164 b) Die Souveränität und das Fragile | 169 c) Der Über-Nietzsche | 178

8. Modell (III): Jackson Pollock – Kunst jenseits der Ordnung | 185

a) Ordnungsstrukturen und ihre Überwindung in der Malerei | 186 b) Jackson Pollock – Drippings | 189 c) Pollock und Derrida – Dekonstruktion und Öffnung | 192 9. Jenseits der Ordnung | 201 Danksagung | 215 Literaturverzeichnis | 217 Namenregister | 223

Verfasserin von Kapitel 8 ist Dorea Weihrauch

1. Der Karneval und das Dionysische

A) Der Leser wird eine Einleitung vermissen. Hat nicht der Autor in seiner Eigenschaft als Dozent oft genug seinen Studenten eingeschärft, zu jeder ordentlichen wissenschaftlichen oder philosophischen Arbeit gehöre eine Einleitung, also ein Vorwort oder eine Vorbemerkung, worin sich der Verfasser gleichsam selber über die Schulter schaut und dem Leser ohne Umschweife über Gegenstand, Fragestellung und Vorgehensweise der Arbeit Rechenschaft ablegt? Gewiss, und in dieser Hinsicht mag es sich um ein unordentliches Buch handeln, wie der Titel auch anzudeuten scheint. Die Frage ist indes, was es heißt, gleich zu Beginn oder, im Grunde, vor dem Beginn derartige Erklärungen zu verlangen, und vor allem, aufgrund welcher sachlichen Voraussetzungen die Forderung nach Rechenschaft erhoben wird. Ohne Umschweife den Gegenstand eines Buches anzugeben setzt voraus, dass man über diesen Gegenstand verfügt, dass seine Präsenz jederzeit gewährleistet ist und über seine Identität Klarheit besteht. Was aber, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind? „Selbstverständlich kann sie nicht exponiert werden“, sagt Derrida über die différance1 und deutet damit die Möglichkeit von Fällen an, in denen das, was sich in einem Buch als Gegenstand nicht abweisen lässt, gleichwohl jedem Zugriff, jeder Aneignung und jeder Kontrolle widersteht (und somit nur unter Vorbehalt Gegenstand genannt werden kann). In der Tat ist die Exposition, dem Anschein nach ein harmloser und selbstverständlicher Vorgang, in Wirklich1

Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 34.

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keit ein brisantes Unterfangen voller Probleme und „theologischer Mucken“. De jure beansprucht sie die Verfügungsgewalt über das zu Exponierende, ein Anspruch, der sich de facto mangels menschlicher Allmacht als uneinlösbar erweist. Ein Gegenstand wahrhaft exponieren könnte nur Gott. Folglich weckt die Exposition falsche Hoffnungen; sofern wir uns theologische Ausflüchte versagen wollen, sollten wir konsequenterweise auf sie verzichten. Dafür spricht auch eine weitere Überlegung: als Ort für die Definition von Grundbegriffen verstanden setzt die Exposition voraus, dass das Spiel der Begriffe, und sei es für einen Augenblick, angehalten werden kann. In Analogie zum Modell der Fotografie suggeriert sie, dass in einer Momentaufnahme die schärfsten Konturen erzielt werden können. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass im Denken die Konturen sich allererst aus dem Spiel ergeben, so dass die Aufgabe nicht darin besteht, die Bewegung stillzustellen, sondern im Gegenteil in sie hineinzukommen. Die Philosophie ist ganz entschieden auf die geschichtliche Bewegung ihrer Begriffe angewiesen; folglich beginnt sie im Unterschied zu den sog. exakten Wissenschaften nicht mit einer Definition ihrer Fundamentalbegriffe.2 So bleibt nur die Option, definitions- und expositionslos zu beginnen. Der Königsweg ist versperrt. Freilich, wenn das Buch keine Einleitung hat, dann, so könnte man argwöhnen, wird es aus denselben Gründen auch keinen Schluss haben. Und folglich auch keinen Hauptteil, jedenfalls im Sinne von Thesen und Argumenten, Beweisführungen und Widerlegungen, systematischen Zusammenfassungen und historischen Exkursen. Ist dieser Argwohn berechtigt? Nehmen wir einmal an, er wäre es, und fragen wir uns, welche Konsequenzen sich daraus für das Buch ergeben. Einleitung, Hauptteil und Schluss sind zusammen mit den Behauptungen und Begründungen, der großen Danksagung im Vorwort und den kleinen Sticheleien in den Fußnoten – all dies sind, wenn die biologische Metapher erlaubt ist, die Organe eines Buches, alle mehr oder minder überlebenswichtig, mehr oder minder verzichtbar. Das Buch als Organismus verstanden ist hierarchisch aufgebaut: es hat einen zentralen Sinn, die Kernthese oder Hauptaussage, und die genannten Organe müssen sich dieser obersten Instanz unterordnen, indem

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Vgl. dazu die Sentenz Nietzsches: „Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“ (Genealogie der Moral [II, 13]. Werke, Bd. 2, S. 820)

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sie – jedes im Rahmen seiner Möglichkeiten, jedes auf seine spezifische Weise – einen Beitrag zur Manifestation des Sinns leisten. Was ist nun, wenn der oberste Punkt der Hierarchie entfällt – und damit die Hierarchie als solche? Wenn sich nicht mehr alles auf ein Ziel hin ordnet und kein Kern mehr auszumachen ist? Nun, dann haben wir es mit einer Struktur ohne Zentrum zu tun, mit einem „organlosen Körper“, um einen Ausdruck von Deleuze und Guattari zu borgen. In diesem Gewebe, dieser Textur, diesem Text gibt es keine Über- oder Unterordnung, jedes Element steht für sich und spricht für sich, geradezu radikaldemokratisch. Die Aussagen fügen sich nicht zu einem organischen Ganzen, sondern sie wuchern hierhin und dorthin, ohne Wächter, ohne Plan. Aber, die Frage drängt sich hier auf, handelt es sich dann überhaupt noch um ein Buch? Und nicht um bloße Kritzelei, unverständliches Gemurmel, die sinnlose Aneinanderreihung von Sätzen, unwissenschaftlich und unphilosophisch? Auf diese Frage sei es gestattet mit einer Gegenfrage zu antworten: wer dürfte denn dekretieren, dass das Denken hierarchisch organisiert sein müsse und von einem obersten Sinnzentrum auszugehen habe, gesetzt, dass die Aufgabe der Philosophie im Denken liegt? Ist die Untersuchung der Struktur des Denkens nicht selber eine eminent philosophische Aufgabe, die wir nur bewältigen können, wenn wir ohne Vorab-Festlegungen an sie herangehen? Wenn dem so ist, dann wird sich im Laufe des Buches oder an seinem Ende, das wie gesagt kein Schluss ist, erweisen müssen, ob es sich um ein Buch und gar ein philosophisches handelt. Selbst die Kriterien für seine Philosophizität werden sich im Verlauf ergeben müssen. Letzteres wiederum klingt fatal nach einer Münchhausen-Geschichte: ein dem Anspruch nach philosophisches Buch, das selber festlegt, was philosophisch ist – gleicht das nicht dem Versuch, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen? Es hat in der Tat den Anschein; bleiben wir also argwöhnisch. Argwohn ist schon allein deshalb angezeigt, weil nicht auszuschließen ist, dass wir uns bereits an dieser Stelle, noch bevor irgendeine Denkbewegung angefangen hat, in einen performativen Widerspruch verstrickt haben. Denn auf der einen Seite hat es den Anschein, als wollten wir eine Reihe von Dichotomien eröffnen: zentrierte vs. azentrische Struktur, Organismus vs. organloser Körper, hierarchisches vs. „demokratisches“ Buch etc. Auf der anderen Seite haben gerade Deleuze und Guattari darauf hingewiesen, dass Dichotomien aller Art sich einer binären Logik verdanken, die unmittelbar mit dem klassischen, hierarchisch organisierten Denken kommuni-

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ziert: „Aus eins wird zwei: jedesmal wenn wir dieser Formal begegnen [...], haben wir es mit dem ältesten und am meisten ausgelaugten Denken zu tun. [...] Dieses Denken hat die Mannigfaltigkeit nie begriffen: um auf geistigem Wege zu zwei zu kommen, muß es von einer starken, grundlegenden Einheit ausgehen.“3 Die binäre Logik mit ihren fortgesetzten Verzweigungen nimmt stets einen Ursprung an, aus dem alles hervorquillt, ein Fundament, auf dem alles ruht. Sie lässt keine wirkliche Pluralität zu, wo sich die Elemente auf derselben Ebene treffen, und führt im Gegenteil jede Zweiheit sogleich auf eine übergeordnete Einheit zurück. Die Philosophie von Kant mit ihren vielen Einteilungen und Dichotomien – Anschauung und Begriff, a priori und a posteriori, theoretische und praktische Vernunft, bestimmende und reflektierende Urteilskraft – kann als Paradebeispiel für jenes baumartige Denken gelten, dem Deleuze und Guattari ein rhizomartiges gegenüberstellen. Aber das ist genau der Punkt: Baum vs. Rhizom – was ist das anderes als erneut eine Dichotomie? Gibt es am Ende zur binären Logik gar keine Alter-native, weil in dem alter bereits die Gegenüberstellung und damit das Prinzip der Zweiteilung enthalten ist? Bei diesem Widerspruch bleibt scheinbar nur die ästhetische Frage, ob er als tragisch oder als komisch aufzufassen ist: ein Buch, das, folgt man dem Titel, von der Unordnung zu handeln sich anschickt (das erklärt den Untertitel Versuch einer Ataxiologie), das aber, von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, mit dem ältesten aller Ordnungsschemata einsetzt, der Zweiteilung (Ordnung vs. Unordnung), und sich so selber ad absurdum führt. Aber bevor wir derart das Kind mit dem Bade ausschütten, sollten wir prüfen, ob es sich in allen angeführten Fällen um die gleiche Art von Dichotomie handelt. Bei Kant fügen sich die Elemente einer Unterscheidung zu einem harmonischen Ganzen zusammen, im Idealfall ergänzen sie sich und produzieren durch ihr Zusammenwirken einen geistigen Mehrwert, die Erkenntnis, die sie isoliert nicht hätten hervorbringen können („Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“4). Wir können von einem symmetrischen Gegensatz sprechen: so verschieden die Elemente sind, treffen sie sich doch auf einer gemeinsamen Ebene und erkennen sich gegenseitig an; sie sind gleicher Natur (Anschau-

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Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 14. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 75.

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ung und Begriff fallen beide unter den Oberbegriff repraesentatio oder Vorstellung), und folglich gibt es eine höhere Warte, von der aus sie als Einheit angesehen werden können. Symmetrie, Harmonie und Kompatibilität sind die Kennzeichen dieses Typus von Dichotomie. Offenkundig gibt es nun aber Gegensatzpaare, die anders geartet sind. Um auch hier ein Beispiel zu nennen: wenn Lévinas in Totalität und Unendlichkeit das Selbe und das Andere gegenüberstellt, so legt er Wert auf die Feststellung, dass es keinen höheren Standpunkt gibt, von dem aus sich die beiden Pole in Einklang bringen lassen, dass sie sich im Gegenteil wechselseitig ausschließen und folglich das Verhältnis zwischen ihnen asymmetrisch und unumkehrbar ist. „Die Umkehrbarkeit einer Beziehung, in der sich die Termini ebenso von links nach rechts wie von rechts nach links lesen lassen, würde sie miteinander, den einen mit dem anderen, verknüpfen. Sie würden sich zu einem von außen sichtbaren System ergänzen. So würde die vermeintliche Transzendenz aufgehen in der Einheit des Systems, das die radikale Andersheit des Anderen vernichtet.“5 Das Selbe und das Andere verhalten sich nicht zueinander wie die beiden Seiten einer Münze. Vielmehr ist das Selbe in einem bestimmten Sinn bereits das Ganze, die Totalität, die sich der alltäglichen Erfahrung als lückenloses System der Wirklichkeit darbietet. Kein Mangel kennzeichnet dieses System, keine Leerstelle weist auf das Fehlen von etwas hin. Der Gesichtspunkt des Anderen oder die Alterität kommt erst in dem Moment ins Spiel, wo die Totalität aufbricht, wo die Ordnung sich als haltlos erweist und dadurch im Ganzen fragwürdig wird. Aber auch in diesem Moment bleibt das Andere, wie Lévinas nicht müde wird zu betonen, absolut anders, unintegrierbare Exteriorität, die sich dem aneignenden Zugriff entzieht. Es handelt sich daher bei dem Selben und dem Anderen um ein asymmetrisches Gegensatzpaar, das sich nicht harmonisch zu einer Einheit fügt, das inkompatibel bleibt und wo von reziproker Anerkennung keine Rede sein kann. Kein synoptischer Blick vermag die beiden Pole des Gegensatzes, der folglich keine Antithese im herkömmlichen Sinn ist, zu umfassen. Dergestalt eröffnet sich die Perspektive, dass es sich auch bei der hier verhandelten Gegenüberstellung von Ordnung und Unordnung oder genauer von einem Diesseits und einem Jenseits der Ordnung nicht um eine

5

Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 39.

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Dichotomie im Sinne der von Deleuze und Guattari inkriminierten binären Logik handelt, sondern um einen asymmetrischen Gegensatz, der jeder Aufhebung in eine höhere Einheit spottet. Damit wäre einerseits der Vorwurf des performativen Widerspruchs entkräftet. Andererseits erleben wir jetzt auf einmal ein Anbranden von Fragen: besteht zwischen der Ordnung und ihrem Widerpart eine ebenso strikte Trennung wie bei Lévinas zwischen dem Selben und dem (absolut) Anderen? Impliziert also der Versuch, das oder im Jenseits der Ordnung zu denken, einen Überstieg, eine Grenzüberschreitung in Richtung auf ein Terrain, das von Lévinas mit einiger Überzeugungskraft als das Feld der Metaphysik beschrieben wird? Oder endet an diesem Punkt die Parallele zu ihm? Ferner: wie sind die Asymmetrie und die fehlende Synopsis im Verhältnis der Ordnung zu ihrem Gegenüber zu denken? Offenkundig scheidet das statische Modell zweier sich komplementär ergänzender Felder aus; kann ein dynamisches Modell das Problem lösen, etwa die Vorstellung, dass eine Ordnung von Natur aus korrodiert und über kurz oder lang aufbricht und schließlich implodiert, so dass sie von sich aus ihr Gegenteil erzeugt? Und neigt im Gegenzug jeder ungeordnete und chaotische Zustand zum kristallinen Niederschlag, trägt er also den Keim der (neuen) Ordnung bereits in sich? Oder führen solche dynamischen Modelle nur zu einer Pneumatik, die sich am Ende als Symmetrie zweiter Ordnung entpuppt? Und schließlich: mit welchem Ausdruck wollen wir den Gegenpol zur Ordnung, den terminus ad quem der Ataxiologie, begrifflich besetzen? Unordnung (griech. ataxía)? Chaos, Rauschen, Entropie? Karneval, Orgie, Exzess? Subversion, Panik, Anarchie? Was für ein Schwall von Fragen! Es kann hier nicht darum gehen, auf jede von ihnen sogleich eine Antwort zu geben. Vielmehr muss es unser Ziel sein, uns von der Schwungkraft dieser Fragen mitreißen zu lassen, um in eine Denkbewegung zu kommen, die uns peu à peu von der Ordnung entfernt und so einen Blick ermöglicht auf das, was jenseits ihrer liegt.

B)

„M ETAPHYSIK “

Freilich ist bei der Schwungkraft auch eine gewisse Vorsicht geboten, damit sie uns nicht in Gefilde trägt, die wir lieber hinter uns lassen würden – etwa weil sie uns nur einen weiteren Totalverdacht eintragen. Ein solcher Fall deutete sich soeben im Zusammenhang mit Lévinas bereits an, nämlich

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der Verdacht, dass Überlegungen zum Jenseits der Ordnung notwendig in metaphysisches Fahrwasser geraten. Ohne Umschweife gefragt: impliziert der Versuch, über die Ordnung hinauszudenken, einen Sprung in das transzendente Feld der Metaphysik? Lévinas würde diese Frage bejahen: Metaphysik ist für ihn „eine Bewegung, die ausgeht von einem ,Zuhause‘, das wir bewohnen, [...] und die hingeht zu einem fremden Außer sich“6, mithin zu jener Dimension von Alterität, die im Zentrum seines Denkens steht. Dementsprechend sieht er sein eigenes Philosophieren als metaphysisch an, und er verwendet den Terminus unbefangen affirmativ. Aber das ist natürlich nur eine mögliche Auslegung von vielen. Ganz anders beispielsweise die Sichtweise von Derrida: in der Dekonstruktion avanciert der Ausdruck ,Metaphysik‘ mit Verlaub gesagt zum Prügelknaben. Im Anschluss an Heidegger deutet Derrida die Metaphysik als ein Gefängnis, aus dem es auszubrechen gilt, weil es das Denken seiner Entfaltungsmöglichkeiten beraubt; freilich ähnelt dieses Gefängnis in seiner Architektur weniger den modernen, dem Benthamschen Panopticon7 nachgebildeten, d. h. auf Überschaubarkeit angelegten Strafvollzugs- und Disziplinaranstalten als vielmehr der Höhle des Minotaurus, also einem riesigen Labyrinth, das zwar streng genommen unverschlossen ist, aus dem wir aber, wenn überhaupt, den Ausgang nur auf langen verschlungenen Wegen und nach vielen scheinbaren Rückschritten finden können. Zwei Wertungen also, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: bei Lévinas die Metaphysik als verheißener Ort der Wahrheit, als Ziel der Philosophie, bei Derrida als Abstoßungspunkt, als Stätte der Einengung und der Verarmung, der wir entfliehen müssen. Wo liegt das Problem – in der Sache oder im Terminus ,Metaphysik‘ mit seiner vielleicht schon allzu langen Geschichte? Offenkundig ist, dass die beiden Autoren einen sehr verschiedenen Begriff von Metaphysik haben: für Lévinas ist sie das – aktivisch verstandene – Moment der Transzendenz, der Überstieg von der Totalität zur Exteriorität im Augenblick der Begegnung mit dem Anderen, also das Aufbrechen der Ordnung; für Derrida hingegen verkörpert sie – als Denken der Präsenz, als Festhalten an der Chimäre eines transzendentalen Signifikats – jene falsche alte Ordnung, die die Philosophie hinter sich

6 7

Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 35. Vgl. dazu Foucault, Überwachen und Strafen, S. 256.

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zu lassen bestrebt sein muss, weil in ihr das Spiel der Begriffe in nicht länger zu tolerierender Weise kontrolliert und gezügelt wird. Es wäre daher oberflächlich und irreführend, Lévinas als Metaphysiker und Derrida als Anti-Metaphysiker zu titulieren. In Wirklichkeit besteht eine tiefe Übereinstimmung zwischen beiden: sie sehen weite Teile der abendländischen Philosophie in einem falschen Denkschema befangen, das sie sprengen möchten, wohl wissend, dass dies nicht mit dem Aussprechen eines einzigen Zauberwortes zu bewerkstelligen ist. Der Anschein eines Gegensatzes entsteht durch eine Differenz im Wortgebrauch: Derrida bezeichnet als Metaphysik gerade die verhasste alte Ordnung – die bei ihm übrigens, psychoanalytisch gesprochen, väterliche Züge annimmt, sofern er bei allem Abscheu und allem Willen zur Loslösung doch immer wieder betont, dass wir ihr nur unter größter Anstrengung, nach langen Auseinandersetzungen und niemals ganz entrinnen können –, während bei Lévinas der Ausdruck Metaphysik im Gegenteil für das Heraustreten aus dem Alteingefahrenen steht. Die Pointe ist, dass es auch im Denken von Derrida, wenngleich an einem „späteren“ Punkt, das Moment des Überstiegs, genauer des plötzlichen Hereinbrechens gibt, in Gestalt des Ereignisses (im starken Sinne), d. h. der unvorhersehbaren und in keiner Weise kontrollierbaren Wende (vornehmlich im Denken). Derrida hat die entsprechenden Überlegungen8 aber nicht mehr auf sein Verständnis von Metaphysik zurückbezogen. Einen mittleren Kurs in Bezug auf die Verwendung des Metaphysikbegriffs fährt Adorno. Als Materialist ist für ihn der Glaube an transzendente Hinterwelten obsolet, und er lässt keinen Zweifel an seiner Auffassung, dass seit der Antike die großen metaphysischen Systeme immer auch eine ideologische Funktion hatten und als Apologie des ohnehin schon Bestehenden, insbesondere der herrschenden Mächte herhalten mussten: „Die philosophischen Begriffe, mit denen Platon und Aristoteles die Welt darstellen, erhoben [...] die durch sie begründeten Verhältnisse zum Rang der wahren Wirklichkeit. [...] Sie spiegelten mit derselben Reinheit die Gesetze der Physik, die Gleichheit der Vollbürger und die Inferiorität von Weibern, Sklaven, Kindern wider.“9 Auf der anderen Seite erkennt er in der Metaphysik sehr wohl ein Moment von Wahrheit, mag es auch stets wieder

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Vgl. Derrida, Die unbedingte Universität, S. 71-76. Horkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 28.

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verzerrt auftreten: aus der Sehnsucht nach Transzendenz spricht der Impuls, sich nicht mit dem Bestehenden abzufinden, den Bann zu brechen, aus dem Immergleichen herauszutreten. Die Metaphysik zielt also mit ihren Fragen in die richtige Richtung, aber – und darin besteht ihr nicht auszumerzender Fehler – sie schießt gleichsam übers Ziel hinaus, wenn sie aus ihrem Ungenügen am Realen die Legitimation für einen Sprung in jenseitige Gefilde ableitet. Adorno strebt ein Denken an, das jenes berechtige Ungenügen in einen Impuls zur Veränderung übersetzt, in ein Aufbegehren, das sich im Diesseits am Diesseits abarbeitet, immer das – zuzeiten transzendent anmutende – Ziel einer menschenwürdigen Existenz vor Augen. „Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“10 Lévinas, Derrida, Adorno: drei verschiedene Positionen zur Metaphysik, die je auf einem unterschiedlichen Begriff von Metaphysik beruhen. Sicherlich werden wir im Weiteren das zentrale Sachproblem im Auge behalten müssen: impliziert der Versuch, jenseits der Ordnung zu denken, einen Ausgriff auf eine alle Erfahrung übersteigende Hinterwelt? Aber es erscheint ratsam, für die Durchführung dieser Reflexionen nicht länger den so ausgelaugten und abgenutzten Ausdruck Metaphysik zu strapazieren. Vor allem weil in keiner Weise klar ist, ob die Metaphysik auf der Seite der Ordnung steht (Derrida) oder jenseits davon (Lévinas) oder in gewisser Weise beides (Adorno). Statt zur Erhellung beizutragen, stiftet der Terminus Metaphysik nur Verwirrung, und so tun wir gut daran, auf ihn zu verzichten.

C)

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Weitaus mehr Aufschluss über die Ordnung und das jenseits ihrer Liegende dürfen wir uns von der Thematisierung eines Phänomens erhoffen, das bislang nur selten zu philosophischen Ehren gekommen ist, dem aber in der Literaturwissenschaft durch Bachtin eine angemessene Würdigung zuteil wurde: der Karneval. Offenkundig wird im Karneval so manche Ordnung umgestülpt und auf den Kopf gestellt, und das Karnevaleske, auf welchem Gebiet auch immer, besteht gerade im heiteren, mitunter rauschhaften

10 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 400.

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Ausbrechen aus fest etablierten und seriösen Ordnungssystemen mit ihrem vielfach hierarchischen Aufbau. Der Karneval ist die Periode der großen Umkehrung der Verhältnisse: in der „fünften Jahreszeit“, wie man so schön sagt, wird das Seriöse profaniert, der Narr wird König, alles Ernste wird der Lächerlichkeit preisgegeben, und die Standesunterschiede weichen einer familienähnlichen, fast intimen Zusammengehörigkeit. Der Karneval feiert „die fröhliche Relativität einer jeden Ordnung“11. Vor allem sind die Verbindlichkeiten der Hierarchie außer Kraft gesetzt: die etablierten Mächte müssen nolens volens ihren Herrschaftsanspruch zurückschrauben zugunsten eines bunten Treibens, dem sie nicht nach Belieben Einhalt gebieten können. Die Insignien der Macht wie Szepter, Krone und Bischofsstab wandern vorübergehend zum entgegengesetzten Pol des sozialen Körpers, zu den ansonsten Rechtlosen oder zumindest Unterprivilegierten, freilich um dort keineswegs mit demselben feierlichen Ernst behandelt zu werden. Im Gegenteil werden sie, wie die Wahl und anschließende Ausstaffierung des Narrenpapstes zeigt, parodiert und ins Lächerliche gezogen.12 Damit stellt die feiernde Menge unter Beweis, dass sie sich jedenfalls in dieser Phase von der Ordnung und ihren Hütern nicht einschüchtern lässt, dass die gewöhnlich Angst erzeugenden Mechanismen der Macht eine Zeitlang nicht greifen. In der christlichen Welt des Spätmittelalters und der Renaissance waren, wie Bachtin zeigt, die heiligen Werte der Kirche bevorzugte Zielscheiben der Parodien und der derben Späße, gerade das Hohe und Geweihte wurde auf ein irdisch-allzuirdisches Maß zurechtgestutzt und dergestalt profaniert. Auch hier ging es darum, einer ansonsten Angst einflößenden und mit Drohungen wie „Hölle“ und „Ewige Verdammnis“ nicht sparenden Macht die Stirn zu bieten. Der Sieg über die Angst wiederum war die Voraussetzung dafür, das Hauptziel des karnevalistischen Treibens zu erreichen: nämlich die Menschen zusammenzuführen, das unmittelbare Band zwischen ihnen wiederherzustellen und die Distanz, die durch die Hierarchisierung und die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft entstanden ist, zu überwinden. Im Karneval – dem „Schauspiel ohne Ram-

11 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 51. 12 Vgl. hierzu die großartige Szene zu Beginn von Notre-Dame de Paris von Victor Hugo, wo die Wahl auf Quasimodo fällt, den missgestalteten und schwerhörigen Glöckner von Notre-Dame.

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pe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer“13 – gehören idealiter alle Individuen der einen Menge an, alle sind gleich, jeder kann und darf mit jedem anderen unmittelbare Beziehungen aufnehmen, ohne auf gesellschaftliche Konventionen Rücksicht nehmen zu müssen. Es gibt keine Mesalliancen mehr, statt dessen herrscht eine Anarchie, die es den Menschen ermöglicht, einander unvermittelt gegenüberzutreten, d. h. ohne dass ihre Beziehungen durch Unterschiede der Herkunft, des Standes, der Bildung, des Alters oder des Geschlechts verzerrt wären. Ist dieses freie Spiel der Beziehungen – diese karnevalistische Libertinage, wie man sagen möchte – das Paradigma für ein Denken jenseits der Ordnung? Auf der einen Seite ist offensichtlich, dass das karnevalistische Leben die Bahnen des Gewöhnlichen und Geordneten verlässt. Auf der anderen Seite hebt Bachtin aber zu Recht die Ambivalenz vieler Züge des karnevalistischen Treibens hervor. So gehört zur Figur des Karnevalskönigs nicht nur seine Wahl und feierliche Einkleidung, sondern auch sein späterer Sturz, der mit Verspottung und Erniedrigung einhergeht. Dieses Motiv der Doppelung konträrer Momente ist laut Bachtin so häufig anzutreffen, dass es geradezu als ein Wesensmerkmal des Karnevals angesehen werden kann. Er führt zur „ambivalenten Natur der karnevalistischen Figuren“ aus: „Sie vereinigen in sich alle Polaritäten des Wechsels und der Krise: Geburt und Tod (in der Gestalt des schwangeren Todes), Segnung und Verfluchung (man denke an die segnenden Karnevalsflüche, die Tod und Wiedergeburt zugleich wünschen), Lob und Schelte, Jugend und Alter, Oben und Unten, Gesicht und Gesäß, Torheit und Weisheit.“14 An dieser Aufzählung fällt nun aber die Symmetrie der angeführten Gegensatzpaare auf. Jedes Moment hat sein Pendant, und bei aller Entgegensetzung ergänzen sich beide doch zugleich auch. Oder der Gegensatz wird in einen Zyklus aufgehoben: jede Geburt weist schon auf den bevorstehenden Tod hin, der wiederum den Keim zu neuem Leben in sich trägt. Wenn aber ein Denken jenseits der Ordnung sich dadurch auszeichnet, dass es mit asymmetrischen Gegensätzen zu tun hat, so wird deutlich, dass der Karneval, so sehr er Ordnungen in Frage stellt, so sehr er Motive wie Umkehrung und fröhliche Relativität zur Geltung bringt, gleichwohl die Dimension der Unordnung und des Unkon-

13 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 48. 14 Ebd. S. 53.

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trollierbaren, des Aufbrechens und der Implosion von Ordnungen bei weitem nicht erschöpft. Es ist Bachtin zuzustimmen, wenn er von den „besonderen Gesetzen“ und der „spezifischen Logik der Karnevalswelt“ spricht15, aber gerade das zeigt, dass der Karneval in vielen Hinsichten noch diesseits der Ordnung verbleibt. Die Ambivalenz ist hier letztlich eine simple Umkehrfigur, keine abgründige Unentscheidbarkeit. Das Moment des Zyklischen findet sich nicht nur innerhalb des karnevalistischen Treibens, es beschreibt auch den Karneval als solchen. Als Infragestellung der Ordnung gehört zu ihm, dass er nicht von Dauer sein kann; er bleibt stets auf die Ordnung als das zu Negierende oder, genauer, zu Parodierende bezogen (ohne dass man ihn deshalb als parasitär beschimpfen müsste). So kommt es zum Zyklus mit vier Jahreszeiten würdevoller Pietät, unerbittlicher Strenge, Herrschaft und Gehorsam und einer fünften Jahreszeit der Ausgelassenheit und Nachsicht, des Spotts und der Intimität. Der Regelmäßigkeit des Wechsels (die ökonomische Gründe haben mag: in der Karnevalszeit kommt die wirtschaftliche Produktion zum Erliegen; der Karneval hat demnach die Funktion, die gesamtgesellschaftlich erwirtschafteten Überschüsse zu verprassen16) führt noch einmal vor Augen, wie der Karneval, trotz des bunten Treibens an der Oberfläche, unterschwellig mit der Ordnung kommuniziert. Mehr noch, in gewisser Weise bestätigt und unterstützt er sie sogar. Diese Behauptung mag überraschen, denn die These lautete doch, dass der Karneval die etablierten Herrschaftsstrukturen vorübergehend außer Kraft setzt. Steckt folglich im Karneval nicht ein beträchtliches revolutionär-subversives Potential? Die historische Evidenz spricht für das Gegenteil: trotz aller spöttischen Parodien auf die Herrschenden, trotz der Möglichkeit, unter dem Schutz der Narrenkappe Dinge zu sagen, die ansonsten schärfste Sanktionen nach sich gezogen hätten, scheint gerade im Spätmittelalter und in der Renaissance – Bachtin zufolge die hohe Zeit des europäischen Karnevals – dieser eher die Funktion eines Ventils gehabt zu haben. Statt ihre Kräfte zu konzentrieren und in einem Aufstand das Joch der Feudalherrschaft abzuwerfen, sind die Unterworfenen damit zufrieden, für eine bestimmte Ausnahmezeit im Jahr frei zu sein. Sie begnügen sich damit, die Umkehrung der Verhältnisse zu

15 Ebd. S. 48, 52. 16 Zur Theorie der Verschwendung vgl. unten S. 171 ff.

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spielen, und verlieren darüber den realen Umsturz aus den Augen. So kommt der Karneval letztlich den Herrschenden entgegen, und die Klugen unter ihnen haben ihn seit jeher als das Zuckerbrot begriffen, das die Peitsche ideal ergänzt. Aber trotz dieser theoretischen und politischen Einschränkungen wollen wir doch festhalten, dass die Betrachtung des Karnevals manchen Fingerzeig für unsere Fragestellung gegeben hat. Das Phänomen des Karnevals verdeutlicht, dass jede Ordnung Gegenkräfte auf den Plan ruft, die ihre eigene Dynamik und ihre eigene Kreativität entwickeln. Diese Gegenkräfte sind subversiv und blasphemisch, sie streben nach Zersetzung, Auflösung und Anarchie, sie profanieren das Heilige und geben das Ernste parodierend der Lächerlichkeit preis. Angesichts ihres destruktiven Charakters verzehren sie sich schließlich selber; ihre gleichwohl nicht zu leugnende Attraktivität verdanken sie dem Umstand, dass sie die einer Ordnung Unterworfenen entlasten und ihnen zumindest temporär Erleichterung verschaffen, beispielsweise im Lachen. Auch sind sie in der Lage, die Distanz, die durch die Ordnung vielfach in den zwischenmenschlichen Beziehungen entsteht, zu überwinden und die Individuen wieder einander anzunähern. All dies erklärt, warum der Karneval so viele Jahrhunderte und Epochenwechsel überdauert hat und warum er sich, nur in der Form variierend, bei so vielen Völkern und Kulturen findet. Es zeigt überdies, dass die Frage nach dem Jenseits der Ordnung einen Phänomenbereich aufschließt, der aus der Conditio humana nicht wegzudenken ist. Es bietet sich deshalb an, nach vergleichbaren Begriffen Ausschau zu halten, die auf denselben Bereich zielen.

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Dazu gehört der Begriff des Dionysischen, wie er – im Rückgriff auf Motive der Romantik – von Nietzsche in die Philosophie eingebracht worden ist. Ins Auge springt zunächst eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen Bachtins Beschreibung des Karnevalesken und Nietzsches Schilderung des Dionysischen: in beiden Fällen ist von einer Gemeinschaft stiftenden Kraft die Rede, die von bestehenden Satzungen und Hierarchien absieht und persönliche Beziehungen auch zwischen Menschen stiftet, die einander im gewöhnlichen Leben reserviert gegenübertreten. Während alltägliche sozia-

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le Beziehungen vielfach von wechselseitigen Rollenerwartungen geprägt sind und im Grunde nicht Individuen, sondern Charaktermasken einander begegnen – Käufer und Verkäufer, Lehrer und Schüler, Angestellter und Chef –, stellen karnevalistische und dionysische Festivitäten Ausnahmezeiten dar, in denen sich der Mensch mit seinesgleichen wieder ursprünglich verbunden fühlt. „Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben. [...] Der Karneval bildet [...] einen neuen Modus der Beziehung von Mensch zu Mensch aus.“17 – „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich [...] der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen.“18 – „Der Karneval ist ein das ganze Volk ergreifendes und universelles Phänomen. Am familiären Kontakt sollten alle teilhaben.“19 – „Singend und tanzend äußert sich der Mensch [sc. in der dionysischen Selbstvergessenheit] als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit.“20 Was im Karneval wie im Dionysos-Kult preisgegeben wird – und zwar lustvoll preisgegeben wird –, ist das principium individuationis, d. h. der Rückzug des Menschen auf seine private Existenz und seine ureigensten Interessen. Der Einzelne verzichtet auf alles, was ihn als dieses besondere Individuum auszeichnet, und wird dafür mit einem Zugehörig- und Zusammengehörigkeitsgefühl belohnt, das mit dem Empfinden höchster Lust einhergeht. Die Schranken, die im gewöhnlichen Leben die Menschen auf Distanz halten, sinken mit einem Mal nieder; die Ansammlung singender und tanzender Leiber verschmilzt zu einer einzigen wogenden Menge. Das Subjekt – der ganze Stolz der Aufklärung – wird unter großem Gelächter vom Sockel gestoßen. Die Menschen sind wie von Sinnen, aber sie sind es im Kollektiv, und sie sind es nur, weil sie eine nie gekannte Verbundenheit mit dem Anderen fühlen. Es ist gleichsam ein dionysisch-karnevalistischer Sozialismus, den Nietzsche und Bachtin übereinstimmend entwerfen, bei dem freilich – das ist der Unterschied zum angeblich einmal real existierenden – auf die entsagungsvolle Diktatur des Proletariats verzichtet werden kann. Ist mithin der dionysische Taumel das Urbild für einen Geistes- bzw. Gemütszustand jenseits der Ordnung? Dafür spricht, dass die Korsettstan-

17 18 19 20

Bachtin, Literatur und Karneval, S. 48. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Werke, Bd. 1, S. 24. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 56. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Werke, Bd. 1, S. 25.

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gen, die im Normalzustand die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten – Herrschaft, Arbeitsteilung, Rollenzuweisungen –, im gemeinschaftlichen Rausch an Bedeutung verlieren und zur Seite gelegt werden können. Dennoch: was Nietzsche betrifft, sind die Dinge erheblich komplizierter. In der Geburt der Tragödie wird dem Dionysischen mit dem Apollinischen von Anfang an ein Widersacher zur Seite gestellt, eine Art negativer Doppelgänger, der alles zerstört, was unter dem Einfluss des Dionysischen entstanden ist, oder genauer, der unverdrossen wieder aufbaut, was vom dionysischen Sturm verwüstet wurde. Das Apollinische wird von Nietzsche wie das Dionysische als Kunsttrieb der Natur eingeführt, aber während der Weingott Dionysos für Trunkenheit und Kontrollverlust steht, für das wonnevolle Aufgehen des Einzelnen in einer amorphen Masse, symbolisiert Apollo Strenge, Maß, Harmonie und feste Grenzen, mit einem Wort: Ordnung. Das Apollinische ist der Fels in der dionysischen Brandung. Indem Nietzsche das Dionysische gleich zu Beginn mit diesem Antipoden konterkariert, lässt er es nicht zur ungezügelten Entfaltung kommen. Fast scheint es, als sei er selber über die monströsen Kräfte des Rauschhaften erschrocken und wolle ihre völlige Entfesselung mit allen Mitteln verhindern. Die stärkste Waffe zur Bändigung des Dionysischen ist die angebliche Versöhnung zwischen Apollo und Dionysos, aus der am Ende die attische Tragödie hervorgeht. „Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Kultus. [...] Es war die Versöhnung zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien.“21 Nietzsche gibt sich alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, als münde die Aussöhnung zwischen den beiden Göttergestalten in einen fairen Kompromiss. Aber seine Beteuerungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Wirklichkeit einer von beiden – Apollo – den Sieg davonträgt. Denn was ist davon zu halten, wenn der Gott des Maßes und der Grenzen und der Gott der Maßlosigkeit und der Grenzüberschreitung einen Vertrag schließen, der vor allem eine „scharfe Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien“ enthält? Der Widerspruch ist nicht zu übersehen. Schon die Idee eines Vertrages ist eine durch und durch apollinische: was haben Rausch und Trunkenheit mit Satzungen und Verträgen zu schaffen? De facto behält deshalb die apollinische Ordnung das letzte

21 Ebd. S. 27.

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Wort – Sloterdijk spricht in seiner Nietzsche-Deutung einprägsam davon, das dionysische Aufbrausen werde „in apollinische Anführungszeichen gesetzt“22 –, und so wird dem Dionysischen der Stachel gezogen. Wie ist die Diskrepanz zwischen Nietzsches feierlichen Erklärungen und den offenkundigen Konsequenzen seiner Theorie zu erklären? Offenbar hat er nicht genügend berücksichtigt, dass es sich bei dem Apollinischen und dem Dionysischen um ein asymmetrisches Gegensatzpaar handelt: zwischen dem Willen zum Kompromiss und der unbedingten Kompromisslosigkeit ist ein Kompromiss unmöglich. Es kann keinen Ausgleich zwischen den beiden Götterfiguren geben, weil jeder der beiden Kontrahenten notwendig die Alleinherrschaft beansprucht: Apollo muss von jeder unkontrollierten dionysischen Aufwallung die Zerstörung der unter größten Mühen errichteten Ordnung befürchten, und umgekehrt läuft Dionysos jederzeit Gefahr, dass seine schier unbändige Kraft apollinisch kanalisiert wird. Ein Vertrag setzt die wechselseitige Anerkennung der Vertragsparteien voraus; gerade dies ist jedoch bei Apollo und Dionysos ausgeschlossen. Folglich ist die von Nietzsche angebotene Versöhnung erschlichen, und Apollo ist der heimliche Sieger. Zwar dürfen sich die dionysischen Kräfte weiterhin manifestieren (und, wenn’s denn sein muss, dergestalt die animalische Seite des Menschen repräsentieren), aber sie sind von nun an gezähmt, sie beißen nicht mehr und geben artig Pfötchen. Das wird nirgends deutlicher als an der Stelle, wo Nietzsche im Dionysischen selber noch einmal eine Unterscheidung vornimmt. Wird in der Geburt der Tragödie das „glühende Leben dionysischer Schwärmer“23 zunächst mit unverhohlener Sympathie als rauschendes Fest beschrieben, als authentischer Karneval, der wichtige Kräfte im Menschen freisetzt, so erfährt diese Wertung im Weiteren eine Differenzierung, durch die sie vorübergehend ins Gegenteil umkippt. Die zweite Textstelle, die vom Dionysischen handelt, hebt nämlich auf einmal die „abscheuliche Mischung von Wollust und Grausamkeit“ hervor, die für den DionysosKult kennzeichnend sei, und diagnostiziert – jetzt mit unverkennbarem Abscheu – den „Rückschritt des Menschen zum Tiger und Affen“24. Ge-

22 Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 54. 23 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Werke, Bd. 1, S. 24. 24 Ebd. S. 27.

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nauer: diese Diagnose gilt für die dionysischen Feste der Nicht-Griechen, der so genannten Barbaren, für die der Graecist Nietzsche nur kalte Verachtung übrig hat. Ihnen stellt er die dionysischen Orgien der Griechen gegenüber, die er nun wieder mit geradezu hymnischen Worten preist: „Erst bei ihnen erricht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreißung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen.“25 Wie ist die Unterscheidung zwischen griechischen und barbarischen Dionysien und wie ist vor allem das extreme Oszillieren der Wertung des Dionysischen zu erklären? Wir müssen zwei Stufen unterscheiden: auf der ersten Stufe geht es um das Dionysische als einer im Menschen angelegten und sich durch ihn Ausdruck verschaffenden Naturkraft („Kunsttrieb der Natur“), die sich durch die Fähigkeit auszeichnet, die Menschen in der Ekstase zu vereinen und Gemeinschaft zu stiften. Auf der zweiten Stufe hingegen nimmt Nietzsche eine ganz andere Perspektive ein – er betrachtet alles aus dem Blickwinkel der Kultur. Deshalb die pejorativen Bemerkungen zu den babylonischen Sakäen und anderen barbarisch-dionysischen Festen: zwar ist ihnen das Rauschhafte nicht abzusprechen, aber sie sind letztlich roh und primitiv, sie stellen keine Kulturleistung dar. Ganz anders bei den Griechen, bei denen der Rausch nicht ein physiologisches Phänomen mit kollektiven Begleiterscheinungen bleibt, sondern zur Quelle künstlerischer Inspiration avanciert. Das Dionysische ist mit einem Mal weit mehr als undifferenzierte Aufwallung, trunkene Schwärmerei und karnevalistisches Einheitsempfinden: es stellt sich in den Dienst der Kunst und webt dadurch mit an dem großen Teppich der Kultur, der den Menschen über das Tierreich erhebt. Nietzsche gibt auch präzise an, in welcher Weise das Dionysische am Prozess der Erschaffung von Kunstwerken teilhat: „Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt. [...] Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nötig.“26 Das Dionysische potenziert also das ästhetische Vermögen des Menschen, indem es seine Symbolkraft erhöht, deren Bedeutung bei der künstlerischen oder literarischen Produktion in der Tat nicht überschätzt werden kann. So weit, so gut. Die Frage ist nur: ist das noch dasselbe Dionysische, wie es zu

25 Ebd. 26 Ebd. S. 28.

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Beginn der Geburt der Tragödie als urtümliche Kraft eingeführt wurde, die sich über alle positiven Ordnungen hinwegsetzt und die die vermeintlichen Errungenschaften der Individuation in einer einzigen rauschhaften Aufwallung fortzuspülen in der Lage ist? Offenkundig hat hier unter der Hand eine Bedeutungsverschiebung, wenn nicht gar eine Substitution stattgefunden. Das Dionysische, wie es der vornehme Grieche in sich aufsteigen spürt, ist zwar immer noch eine elektrisierende Macht, aber nunmehr eine, die sich unter den hellenischen Kulturwillen gestellt und dadurch ihre ursprüngliche Wildheit abgelegt hat. Die Dionysos-Orgien der Griechen kratzen zwar immer noch am Prinzip der Individuation, aber nur so weit, dass dabei die Kultur als solche nicht in Frage gestellt wird. Wir haben es deshalb, wenn der Ausdruck gestattet ist, mit einer Art Dionysos light zu tun: die Kraft, die einst durch ihr Aufbrausen noch die altehrwürdigsten Satzungen und Ordnungen erzittern ließ, ist in den Prozess der Zivilisation integriert worden und produziert nun ästhetische Werte in Gestalt von Symbolisierungen und Allegorien. Die Geburt der Tragödie ist daher, entgegen dem ersten Anschein, nicht primär ein Buch über das Dionysische und sein Pendant, das Apollinische; in der Hauptsache ist es ein Buch über die Kultur und ihre schillerndste Blüte, die Kunst. Wie im Kosmos der Griechen die Moira als ewiges Schicksal noch über den olympischen Göttern thront, so nehmen in Nietzsches Universum Kultur und Zivilisation die höchste Stelle ein. Aus diesen Überlegungen könnte man den Verdacht ableiten, dass es ein reines, unverfälschtes, unbedingtes Dionysisches gar nicht gibt – und damit eigentlich gar kein Dionysisches, sofern die Unbedingtheit zu seinen wesentlichen Merkmalen gehört. Setzen wir uns also im Karneval wie Dionysos-Kult bloß eine weitere Charaktermaske auf? Erneut gilt es, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Die Hoffnung auf ein schlechthin Dionysisches ist ebenso naiv wie die Vorstellung vollständiger Unordnung; wie auf den Rausch das Erwachen folgt, bleibt jeder Ausbruch aus einer Ordnung auf das bezogen, was zurückgelassen werden soll. Auch das Dionysische durchläuft daher notwendigerweise einen Prozess, in dem es kulturell adaptiert und zum Moment herabgesetzt wird. Aber das heißt nicht, dass es folgenlos bliebe und damit entwertet wäre. Im Gegenteil gilt es zu sehen, dass das Dionysische eine radikale Ambivalenz in den Begriff der Kultur hineinträgt und dadurch sein subversives Potential bewahrt, ja es allererst angemessen entfaltet. Diese Ambivalenz äußert sich darin, dass

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das Verhältnis der Kultur zur Ordnung auf einmal außerordentlich problematisch wird. Auf der einen Seite gibt es keine Kultur ohne Ordnung: die Sicherung des Überlebens gegenüber einer als feindlich erlebten Natur ist ebenso wie die Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz innerhalb einer als antagonistisch erfahrenen Gesellschaft nur durch die Einführung von Strukturen möglich, die Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit schaffen. Ohne eine Landwirtschaft, die uns tagtäglich mit Lebensmitteln versorgt, wäre unsere Existenz ebenso in Frage gestellt wie durch das Fehlen einer gesetzlichen Ordnung, die uns Rechte gegenüber den Mitmenschen und gegenüber dem Staat verschafft. Auf der anderen Seite dürfen diese Evidenzen aber nicht zu einer Gleichsetzung von Kultur und Ordnung hypostasiert werden; de facto ist die Ordnung in mancher Hinsicht der Feind der Kultur. Orwell hat in seinem Roman Nineteen Eighty-Four die negative Utopie einer überreglementierten Gesellschaft entworfen und allegorisch gezeigt, dass zu einem menschlichen Dasein, das seinem Begriff gerecht wird, notwendig Freiräume des Unvorhersehbaren gehören. Auch die Lotophagen-Episode aus dem neunten Gesang der Odyssee wäre hier anzuführen; sie verdeutlicht, dass eine arkadische Harmonie, mag sie noch so friedlich sein, unterhalb der Stufe der Kultur bleibt. Die Lotophagen (Lotosesser) leben, so scheint es zunächst, im vollkommenen Glück: sie essen von den im Überfluss vorhandenen Lotosblumen und sind zufrieden, weil sie keine anderen Bestrebungen kennen; bei ihnen gibt es kein Kapital, keine Akkumulation, keine Konkurrenz, keine Herrschaft. Wenn Odysseus gleichwohl das Angebot, für immer bei ihnen zu bleiben und einer von ihnen zu werden, ausschlägt, so kommt in seiner Weigerung die Einsicht zum Ausdruck, dass es des Menschen nicht würdig ist, sich in eine Idylle zurückzuziehen und jeder Initiative zu entsagen. Zum Leben in der Kultur gehört es, sich Ziele zu setzen – in seinem Fall die Rückkehr nach Ithaka – und für die Erreichung dieser Ziele Energien aufzuwenden, Widerstände zu überwinden, unter Umständen sogar Risiken einzugehen. All dies impliziert jedoch eine Infragestellung der Ordnung, eine partielle Außerkraftsetzung ihrer Normen, die aber gerade die treibende Kraft des zivilisatorischen Prozesses ausmacht. Folglich ist die Kultur, scheinbar Inbegriff der Ordnung, in Wirklichkeit immer schon auf ein Jenseits der Ordnung angewiesen, von wo sie entscheidende Impulse empfängt. Ohne derartige Anstöße würde sie in rigider Gleichförmigkeit erstarren und zu einem Analogon zum immergleichen Naturkreislauf herabsinken. Dass der Funke

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nicht innerhalb der Ordnung erzeugt werden kann, sondern von außen hinzutreten muss, verdeutlicht, dass die Ambivalenz im Verhältnis von Kultur und Ordnung strukturell bedingt ist und sich nicht „aufheben“ lässt, mittels welcher Kunstgriffe auch immer. Aus dem Gesagten lässt sich schließen, dass es kein Zufall ist, dass sich Motive des Karnevalesken und des Dionysischen bei so vielen Völkern und Kulturen und quer durch die Zeiten hindurch finden: die kulturelle Ordnung verweist von sich aus auf ihr Anderes, sie trägt ihre eigene Infragestellung in sich. Das ist ihre Ambivalenz, die wiederum die Quelle aller karnevalistischen und dionysischen Festivitäten ist. Das Entscheidende besteht nun darin, dass die Ambivalenz tendenziell die Grundlagen der Ordnung selber angreift, sofern jeder Rausch die Möglichkeit unkontrollierter irreversibler Folgen impliziert und noch nicht einmal das Erwachen aus ihm gewährleistet ist. Es handelt sich daher um eine radikale Ambivalenz, die sowohl bei dem Versuch, sie gedanklich zu erfassen, als auch bei der Reflexion über ihre handlungspraktischen Konsequenzen in abgründige Schwierigkeiten führt. Denn wie sollen wir uns verhalten, wenn zu einer menschenwürdigen Existenz die Infragestellung der Ordnung gehört, eben jene Infragestellung aber unkalkulierbare Risiken birgt? Offenkundig ist das Sein des Menschen in ein Dilemma eingelassen, aus dem kein Ausweg in Sicht ist. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Einsicht in die Ambivalenz der Ordnung für das Verhältnis der Ordnung zu ihrem Widerpart? Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, noch einmal auf Nietzsche und seine Wertschätzung der kulturellen Ordnung zurückzukommen. Es kommt nämlich nicht von ungefähr, dass bei ihm Kultur und Zivilisation einen derart hohen Stellenwert einnehmen: namentlich die apollinische Kultur hat in der Geburt der Tragödie die Funktion, das Leben allererst erträglich zu machen. Die zugrunde liegende These lautet, dass unser gesamtes Dasein auf einem Urgrund des Grauens und des Unerträglichen ruht und dass die Kultur mit ihrer holden Blüte des apollinischen Scheins der Schleier ist, der uns diesen Quell des Entsetzens in barmherziger Weise verhüllt. Nietzsche kleidet seine Theorie erneut in antike Gewänder und deutet die heitere Welt der olympischen Götter als schützende Illusion, die uns davor bewahrt, der grauenhaften Realität ins Auge sehen zu müssen: „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzen-

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de Traumgeburt der Olympischen stellen.“27 Lassen wir für einen Augenblick die Frage beiseite, ob diese explizit als „metaphysische Annahme“28 eingeführte Behauptung – die im Übrigen eher weltanschaulicher als philosophischer Natur ist – sich in postmetaphysischen Termini reformulieren lässt, und konzentrieren wir uns ganz auf das Verhältnis der Ordnung zu ihrem Gegenüber, wie es hier gedacht ist. Da gibt es also eine Art Abgrund, von dem wir aber besser unseren Blick abwenden, weil das, was wir dort sehen könnten, zwar höchst real ist – real im Lacanschen Sinne –, aber es würde das Maß dessen, was von Menschen zu bewältigen ist, überschreiten und uns dadurch in die Tiefe reißen. Wir benötigen schützende Gläser vor den Augen – bei Lacan die symbolische Ordnung –, die unsere Sinneseindrücke codieren und ihre Intensität auf ein erträgliches Quantum reduzieren. Das in ataxiologischer Hinsicht Bedeutsame besteht darin, dass hier die Ordnung bei aller Unentbehrlichkeit als das Spätere, nachträglich Hinzugefügte und Verschleiernde gedacht wird. Das Primäre und eigentlich Wahre ist das Amorphe des Abgrunds, das wir jedoch nicht fassen können und dem unser Adaptionsvermögen nicht gewachsen ist. (Aber ist es dann überhaupt noch sinnvoll, in diesem Zusammenhang von Wahrheit zu sprechen? Ist es ein Zufall, dass in der Geschichte der Philosophie die Wahrheit traditionell auf der Seite des Bestimmten, des Wohldefinierten und klar und deutlich Erkennbaren stand? Hier hingegen rückt sie auf die Seite des Unbestimmten und Formlosen, das sich durch keinen Begriff einfangen lässt. Die Infragestellung der Ordnung impliziert also eine Erschütterung des überkommenen Wahrheitsbegriffs; es zeichnet sich ab, dass für ein Denken jenseits der Ordnung andere Kriterien gelten werden als die klassische adaequatio intellectus et rei.) Nietzsches Hochschätzung der Kultur hat also nichts mit einer Voreingenommenheit für die Ordnung zu tun. Im Gegenteil, und hier kommt sein klares Bewusstsein der Ambivalenz der Ordnung zum Ausdruck: die kulturelle Ordnung ist in seiner Konzeption etwas Abgeleitetes und Sekundäres, das freilich für das Leben und für die Steigerung des Lebens, insbesondere für die Fortentwicklung auf dem Gebiet der Kunst, unverzichtbar ist.

27 Ebd. S. 30. 28 Ebd. S. 32.

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Festzuhalten bleibt, dass die Funktionalität der Ordnung gerade darin besteht, zu verfälschen und von der Realität abzulenken – welch ein Affront gegen wissenschaftliche Systematik! Kein Wunder, dass sich die Geburt der Tragödie für die Universitätskarriere ihres Verfassers rasch als Tragödie herausstellen sollte. Für den philosophischen Diskurs der Moderne hingegen muss das Buch als Schlüsseltext gelten: Nietzsche hat mit beispielloser Konsequenz die Frage nach dem Jenseits der Ordnung gestellt und damit ein Terrain erschlossen, auf dem sich noch bedeutende Teile der Philosophie der Gegenwart bewegen. Er hat gesehen, dass das Denken sich nicht bei der Ordnung beruhigen kann (weil jeder Versuch einer Strukturierung eine Ablenkung darstellt und den Blick auf den tatsächlichen Untergrund unseres Daseins verstellt) und folglich stets wieder auf Impulse von außerhalb angewiesen ist. Sicher lauern jenseits der Ordnung der Tod und die Sinnlosigkeit; darauf pocht mit einigem Recht die Aufklärung mit ihrem Prinzip der Selbsterhaltung und ihrem Ideal der klaren und deutlichen Erkenntnis. Aber Nietzsche erinnert daran, wie arm und blass das Leben ist, das uns – am Gegenpol – die totale Ordnung zuteilt, und wie dürftig der Gehalt der korrespondierenden Begriffe. Ordnung ist stets artifiziell, tendenziell anämisch, ihr mangelt es an der für die Entfaltung von Leben und Sinn so wichtigen Kraft des Urtümlichen, Rohen, Erdigen. Das Denken steht daher vor der Aufgabe, einerseits den Sirenenklängen von jenseits der Ordnung zu lauschen und ihren Verlockungen ein Stück weit nachzugeben, ohne sich andererseits betören zu lassen. Diese Aufgabe enthält jedoch ein Paradox, ein schizophrenes double bind, sofern das Feld, von dem hier die Rede ist, gerade kein „Stück weit“, kein „teilweise“ zulässt und im Gegenteil eine klare Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Seite erfordert. Den Sirenen kann man nur geistesgegenwärtig trotzen oder man ist ihnen verfallen. Diese wechselseitige Exklusion ist nicht gerade eine beruhigende Ausgangsbasis für unsere weiteren Überlegungen. Bleibt abschließend die Frage, wo eigentlich die enorme und von Nietzsche mitunter mit martialischen Ausdrücken beschriebene Kraft des Dionysischen – zu deren Bändigung ein ganzes „Kriegslager des Apollinischen“29 vonnöten ist – herkommt. Nun, sie speist sich aus jenem Ur-, Ab- bzw.

29 Ebd. S. 35.

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Untergrund, dessen unverhüllter Anblick für uns nicht zu ertragen wäre. Während das Apollinische uns in sicherer Entfernung hält, nähert das Dionysische uns ihm periodisch wieder an und lässt uns dadurch an der Energie teilhaben, die in ihm brodelt. Das ist deshalb möglich, weil der Abgrund selber höchst ambivalent ist. Insofern er alles, was in ihn stürzt, verglühen lässt, ist er das Furchtbare und Entsetzliche schlechthin. Aber zugleich geht eine deutlich spürbare Anziehungskraft, eine fast unheimliche Verlockung von ihm aus, die darauf beruht, dass er die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit weckt, eine Einheit – mit der Natur, mit den anderen Menschen –, die die ungeheure Last, die die Kultur auch für uns bedeutet (insofern sie uns den Zwang eines Reglements auferlegt), von unseren Schultern nehmen würde. Nietzsche wird der Ambivalenz auf allen Ebenen gerecht, indem er bei der Explikation des Dionysischen vor keinem Oxymoron zurückschreckt und so Grauen und wonnevolle Verzückung, Entsetzen und höchste Freude, Schmerz und Lust stets in einem Atemzug nennt. * Gegen die Ausführungen dieses Kapitels lässt sich der Einwand erheben, es sei ein performativer Widerspruch, eine ernste Abhandlung über einen heiteren Gegenstand zu verfassen – es fehle die karnevaleske Schreibweise. Dem Ordnungsdiskurs der abendländischen Philosophie sei nur zu entkommen, wenn man ihm auch in der Art der Darstellung und des Vortrags die Gefolgschaft verweigere, etwa indem man in einem humorvoll-parodistischen Feuerwerk seine Unzulänglichkeiten aufs Korn nehme. Ist der Einwand berechtigt? Schauen wir uns die Zusammenhänge im Einzelnen an. Zunächst ist festzustellen, dass der Einwand, so formuliert, selber im Gewand eines ernsthaft vorgetragenen Arguments daherkommt. Er hätte also, gerade wenn er im Recht wäre, mit demselben performativen Widerspruch zu kämpfen. (Ich lade den Leser ein, ihn kabarettistisch zu reformulieren; man wird von mir nicht erwarten, mich selber zu parodieren.) Sodann fällt auf, dass die beiden von mir zur Orientierung herangezogenen Schriften, Bachtins Literatur und Karneval und Nietzsches Geburt der Tragödie, sich jede humoristische Einlage versagen: Bachtin tritt als seriöser Wissenschaftler auf, und das Buch von Nietzsche hebt gleich zu Beginn, im Vorwort an Richard Wagner, überdeutlich hervor, „daß der Ver-

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fasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat“30. Das lässt die Frage virulent werden, ob es überhaupt eine Alternative zum getragen-feierlichen Ernst gibt, wie er dem Genre der Abhandlung, Erörterung und Untersuchung zueigen ist. Fakt ist, dass in den Schriften der abendländischen Philosophie dieser Stil bei weitem den Ton angibt. Seine Vorherrschaft reicht von den Vorsokratikern bis weit in die Neuzeit; auch die Philosophie des 20. Jahrhunderts ist nach der Erfahrung zweier Weltkriege nicht zu Scherzen aufgelegt. Eine Ausnahme ist der Nietzsche der Fröhlichen Wissenschaft, also der Nietzsche, der die Wagnerei hinter sich gelassen hat und statt dessen beginnt, das Dasein von seiner heiteren Seite her zu sehen und insbesondere die abendländische Philosophie als Komödie zu begreifen. Ihm gelingt es tatsächlich, philosophische Gedanken in einer unbeschwerten Schreib- bzw. Redeweise vorzutragen, die alle Register des Komischen und Komödiantischen zieht. In zugespitzten Aphorismen geht es ihm oft um die Demaskierung des Lächerlichen und Lachhaften, das die europäische Kultur teils freiwillig, teils unfreiwillig enthält, und da ist der scherzhafte Stil nicht bloß eine aufgesetzte Manier, sondern ein Zeichen höchster performativer Konsequenz. Freilich darf nicht übersehen werden, dass Nietzsches Aphoristik bei aller Heiterkeit31 und stilistischen Brillanz von einem profunden Sachinteresse getragen ist und auf einem Ethos ruht, das nur als ernsthaft bezeichnet werden kann. Die Leichtigkeit der Darbietung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in Wirklichkeit sich (und dem Leser) enorme philosophische Lasten aufbürdet. Deshalb ist es kein Bruch, wenn er in seiner späten Schrift Zur Genealogie der Moral zur Form der Abhandlung zurückkehrt. Das bedeutet aber: es ist für einen sachhaltigen Gedanken niemals unangemessen, in einem seriösen Sachtext entfaltet zu werden. Philosophischer Gehalt kommt am besten in präziser Argumentation zur Geltung, und so wird sich in der Regel die abwägende Untersuchung als geeignete Art der Präsentation erweisen. Überlegungen zum Karneval müssen deshalb nicht unbedingt in einer Büttenrede vorgetragen werden, und die Ataxiologie kann versuchen, in ernsthaften und bedächtigen Schritten sich dem Ordnungsdiskurs zu entwinden.

30 Ebd. S. 19. 31 Vgl. dazu den Aphorismus Nr. 343 der Fröhlichen Wissenschaft, überschrieben: „Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat“ (Nietzsche, Werke, Bd. 2, S. 205).

2. Modell (I): Versuch über das Inhumane

Wenn es stimmt, dass das Menschsein dem Menschen nicht einfach gegeben, sondern ihm zugleich aufgegeben ist, „als eine Angelegenheit, die nicht qua Gattungszugehörigkeit erledigt ist“1, so stellt sich die doppelte Frage, wie der Mensch die ihn derart bedrängende Aufgabe bewältigen kann und wie und warum er sie faktisch so oft verfehlt. Das Erste ist die Frage nach der Humanität, nach dem, was den Menschen als Menschen auszeichnet und woran er sich bei seinen Entwürfen orientieren kann. Das Zweite ist die Komplementärfrage nach dem Inhumanen, das die Humanität bedroht. Beide Fragen gehören eng zusammen, gemeinsam eröffnen sie ein Feld, in dem es möglich wird, den Begriff des Menschen zu präzisieren und die Frage nach seiner Bestimmung zu stellen. Wenn die folgenden Überlegungen auf die Problematik des Inhumanen fokussiert sind, so in der Überzeugung, dass im Denken Konturen nur durch Abgrenzung zu gewinnen sind, ex negativo, und dass folglich die Thematisierung des Inhumanen wesentlich zur Schärfung des Begriffs der Humanität beiträgt. Deshalb lauten die Leitfragen für das Weitere: wo kommt das Inhumane her und in welchen Gestalten tritt es auf? Gibt es eine angemessene Weise, ihm zu begegnen? Was ist das überhaupt, das Inhumane? Es bietet sich an, als Einstieg in die Problematik ein literarisches Beispiel zu wählen: die Erzählung Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert Louis

1

Anna Herzog und Sarah Ambrosi im call for papers zur Tagung „Humanität – Wert und Würde des Unterschieds“ (Goslar 2006). Die Überlegungen dieses Kapitels wurden auf der Tagung vorgetragen, waren aber von Anfang an für das vorliegende Buch konzipiert.

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Stevenson. In dieser Erzählung ist die Figur des abstoßenden und brutalen Mr. Hyde unschwer als Inkarnation des Inhumanen zu erkennen: rücksichtslos bahnt er sich seinen Weg, er ist nicht willens, seine Begierden zu zügeln, und schließlich begeht er grundlos ein abscheuliches Gewaltverbrechen. Stevenson zieht alle literarischen Register, um Hyde als Bestie hinzustellen: er nennt ihn bösartig, niederträchtig und monströs, attestiert ihm völlige moralische Fühllosigkeit und vergleicht ihn mit dem Teufel. Am Ende setzt er ihn explizit mit dem Inhumanen gleich: „That child from hell had nothing human.“2 Im krassen Gegensatz hierzu wird Dr. Jekyll als echter gentleman vorgestellt, als ein liebenswürdiger und kultivierter Zeitgenosse, der stets Haltung bewahrt, um das Wohl seiner Mitmenschen besorgt ist und sich deshalb großer Beliebtheit erfreut. Die Pointe ist nun aber bekanntlich, dass es sich bei Jekyll und Hyde um dieselbe Person handelt: Mr. Hyde ist das Alter Ego von Dr. Jekyll, eine mittels einer chemischen Substanz erzeugte Abspaltung seiner moralisch verwerflichen Anteile. So sehr Jekyll überall in hohem Ansehen steht und umgekehrt Hyde nur auf Abneigung und Verachtung stößt, gehören beide doch untrennbar zusammen und bilden eine Einheit. Es versteht sich von selbst, dass diese Konstellation für Reflexionen über das Verhältnis von Humanität und Inhumanem von größtem Interesse ist. Wie kommt es zu der Abspaltung? Die Ursache liegt im Charakter des Dr. Jekyll, der schon in jungen Jahren in moralischen Fragen hypersensibel ist und ein übertriebenes Schamgefühl entwickelt. Seine hohen Ansprüche an sich selbst führen – oder verführen – ihn schließlich zu der fixen Idee einer Trennung des Guten und Schlechten im Menschen. Wären beide Teile unabhängig voneinander, so seine Überlegung, würden beide gewinnen und das Leben wäre erträglicher: der böse Teil würde nicht mehr an heteronomen moralischen Ansprüchen gemessen, und der gute Teil könnte sicherer weil ohne Anfechtungen den Weg des Gerechten gehen. Seine Forschungserfolge auf dem Gebiet der Chemie versetzen ihn schließlich in die Lage, die Trennung tatsächlich herbeizuführen. Resultat ist die „Geburt“ des Mr. Hyde. Was hat diese phantastische und scheinbar von der Realität weit entfernte Geschichte mit dem Problemkomplex der Humanität und des In-

2

Stevenson, Dr. Jekyll and Mr. Hyde, S. 98.

V ERSUCH ÜBER

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humanen zu tun? Erschöpfen sich die Bezüge in einigen netten Details der Beschreibung des Mr. Hyde? Keineswegs; meine These lautet, dass die Figur der Abspaltung des Bösen und der Projektion nach außen das Grundmuster der Entstehung von Feindbildern ist und gerade auch in der Weltpolitik der Gegenwart die Hauptbedrohung der Humanität darstellt. Wir erleben heute auf vielen Bühnen der internationalen Beziehungen eben jene Dissoziation, von der Dr. Jekyll lange Zeit träumt und die er schließlich verwirklicht; allenthalben wird das Antlitz des Kontrahenten zu einer Fratze verzerrt, die keine menschlichen Züge mehr aufweist. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in der Erzählung eine chemische Substanz vonnöten ist, während in der Realität die politische Rhetorik die Trennung herbeiführt. Als Beispiel sei an den Irakkrieg im Jahr 2003 erinnert: in der Vorbereitungsphase zu diesem Krieg musste zunächst der irakische Diktator Saddam Hussein mit an Wahn grenzenden Argumenten zur Inkarnation des Bösen hochstilisiert werden, bevor der Befehl zum Angriff erteilt werden konnte. Später, nach dem Sieg, wurden dann die angeblichen Massenvernichtungsmittel, deren Existenz zuvor als bewiesen galt und die die Invasion rechtfertigen sollten, nie gefunden. Aber da hatte die Figur der Abspaltung bereits tadellos funktioniert; bekanntlich beteiligten sich im Sog ihrer Suggestivkraft mehrere europäische Staaten an dem von den USA geführten Feldzug. Um Missverständnissen vorzubeugen: es geht hier nicht darum, einen arabischen Militärpotentaten reinzuwaschen, und noch weniger um eine Verteufelung Amerikas – in beiden Fällen würde die Argumentation ihrerseits in die Falle der Dissoziation tappen. Aber es erscheint angebracht, auf ein augenscheinlich fatales Denkmuster aufmerksam zu machen: wovon heute die größte Gefahr für die Humanität ausgeht – und jeder Krieg ist ein Desaster für die Menschheit –, das ist die simplifizierende Trennung von Gut und Böse und in ihrem Gefolge die Projektion alles negativ Konnotierten auf ein fortan als feindlich stigmatisiertes Außen. Der Feind der Israelis, Hutu, Tamilen – um weitere Beispiele aus der politischen Gegenwart zu nennen –, das sind nicht die Palästinenser, Tutsi, Singhalesen (oder umgekehrt). Vielmehr haben sie alle einen gemeinsamen „Feind“, jene Separierung des Bösen, die Stevenson in seiner Erzählung paradigmatisch vor Augen führt. Daraus ergibt sich umgekehrt die Forderung, dass ein Engagement zugunsten von Frieden und Humanität die Kritik nicht gegen diese oder jene Kriegspartei richten müsse, sondern gegen die beschriebene Figur der Abspaltung.

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Das Gesagte lässt sich zu der These verdichten, dass das Inhumane eine Konstruktion ist, ein Artefakt. Individuen (und übrigens auch Gesellschaften) finden sich als komplexe, vielschichtige Gebilde vor, in denen die unterschiedlichsten Motive und Bestrebungen miteinander konkurrieren, manche davon mit dem bestehenden Moralkodex vereinbar, andere nicht. Gerade die allseitige Konkurrenz der Bestrebungen sorgt nun dafür, dass keine von ihnen sich auf Kosten der anderen zur Alleinherrscherin aufschwingt; zwischen ihnen besteht sozusagen ein Patt. Aber das gilt nur, solange sie vermischt bleiben und keiner Ordnung unterliegen. Sobald in das betreffende Feld Demarkationslinien eingefügt werden, funktioniert der Mechanismus der wechselseitigen Kontrolle nicht mehr, und das ganze System gerät aus den Fugen. Genau das ist der Moment der Entstehung des Inhumanen. Zwar gibt es auch zuvor schon moralisch nicht akzeptable Bestrebungen – die Psychoanalyse gibt hierüber nähere Auskunft –, aber das Gleichgewicht der Kräfte hindert sie daran, hypertroph zu werden. Als Teile eines Ganzen sind sie noch lange nicht unmenschlich, eher im Gegenteil. Inhuman wird das moralisch Verwerfliche erst, wo es sich verselbständigt, dadurch keiner Kontrolle mehr unterliegt und am Ende ins Monströse wuchert. Voraussetzung und Anstoß für die Verselbständigung ist die beschriebene Abspaltung, die ihrerseits unschwer als Gestalt von Ordnung zu erkennen ist. – Immerhin eine Ahnung davon, dass das Böse nicht per se unmenschlich ist, gibt Stevenson übrigens seinem Protagonisten Dr. Jekyll mit auf den Weg. Als dieser zum ersten Mal die Verwandlung vollzogen hat und sich im Spiegel in seiner neuen Gestalt betrachtet, heißt er sein zweites Ich durchaus noch willkommen und leugnet in keiner Weise die Verwandtschaft mit ihm, räumt also seine Menschlichkeit ein: „This, too, was myself. It seemed natural and human.“3 Erst viel später, nach einem fürchterlichen Exzess sinnloser Gewalt, spricht Jekyll von Hyde nur noch distanzierend in der dritten Person („He, I say – I cannot say, I“4). Aber da ist es schon zu spät. Wenn das Inhumane im vollen Wortsinn erst eine Konsequenz der Abspaltung ist, so lässt sich daraus die Forderung ableiten, das moralisch Fragwürdige und tendenziell Inhumane als Teil der Person zu akzeptieren

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Ebd. S. 83. Ebd. S. 98.

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und ihm einen Platz im Innern einzuräumen, statt es nach Außen abzudrängen. Diese Forderung ist auf der einen Seite sinnvoll und berechtigt; sie führt zu einem von Grund auf ambivalenten Bild des Menschen, wie Brigitte Sändig es in eindringlichen Worten beschrieben hat: „Ihm, der er den Unvorhersehbarkeiten, Wechseln und Widersprüchen der Existenz ausgesetzt ist, bleibt es vorbehalten, selbst nicht bis ins Letzte vorhersehbar, also vielfältig, widersprüchlich, mehrdeutig, überraschend zu sein – und dies im Guten wie im Schlimmen.“

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Auf der anderen Seite sollte man aber auf keinen Fall die enormen theoretischen und praktischen Schwierigkeiten unterschätzen, die mit der genannten Forderung verbunden sind. Denn auch in der abgeschwächten Variante steht das Inhumane noch in einem krassen Gegensatz zu den Ansprüchen der Humanität. Dieser Gegensatz lässt sich durch keine dialektischen Kunstgriffe „aufheben“, und ebenso wenig ist ein Ausgleich oder eine friedliche Koexistenz der widerstrebenden Anteile denkbar. Die Humanität und das Inhumane bilden ein asymmetrisches Gegensatzpaar, das sich gegen jeden Versuch einer Vermittlung sperrt. Die Humanität kann nur um den Preis einer unwürdigen Komplizenschaft das Inhumane als Moment tolerieren; jedes Unrecht in der Welt ist für einen emphatischen Begriff des Menschen ein Schlag ins Gesicht. Augenscheinlich steuern wir auf eine Aporie zu: weder darf das moralisch Bedenkliche zum Inhumanen hypostasiert und nach außen abgespalten werden, noch lässt es sich umstandslos im Innern integrieren. Wie sollen wir mit dem Widerspruch umgehen? Da ein einfacher Ausweg nicht in Sicht ist, mag es hilfreich sein sich zu vergegenwärtigen, dass derartige asymmetrische Gegensätze gerade im Zusammenhang mit dem Menschen und seinen spezifischen Merkmalen wiederholt auftreten. So ist die menschliche Existenz insgesamt in den Gegensatz von Natur und Kultur eingelassen, und für diesen Gegensatz gilt ebenfalls, dass aufgrund seiner Asymmetrie die in ihm waltende Spannung nicht aufgelöst werden kann. Auf der einen Seite ist der Mensch zu Recht stolz darauf, aus dem blinden Naturzusammenhang mit seinen immer gleichen Kreisläufen herausgetreten zu sein und Kultur und Zivilisation be-

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Brigitte Sändig, Erzählen vom Menschen, S. 10.

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gründet zu haben. Nur in der Kultur gibt es Freiheit, Geist, Kunst, Raffinement; nur auf ihrem Boden macht es Sinn, von Humanität zu sprechen. Auf der anderen Seite ist aber auch das viel zitierte Unbehagen in der Kultur (Freud) nicht von der Hand zu weisen: durch den Schritt in die Zivilisation hat sich der Mensch von seiner Naturbasis entfernt, ohne ihrer jedoch völlig enthoben zu sein. Vielfältige Kulturzwänge verlangen von uns tagtäglich die Unterdrückung naturhafter, leibgebundener Impulse und vergällen uns dadurch oftmals die gewonnene Freiheit. Auch hier stellt sich wieder die Frage: wie mit dem Widerspruch umgehen? Erneut gibt es keine einfache Antwort, aber dafür stoßen wir wieder auf das bereits mehrfach besprochene Denkmuster der Abspaltung. Jedenfalls ist es ein in der Philosophie der Moderne immer wieder erhobener Einwand gegen die Aufklärung und ihren angeblichen Rationalismus, dass sie das Naturhaft-Sinnliche im Menschen abgespalten und unterdrückt habe. Seit dem Kampf des Odysseus mit den alten mythischen Mächten, so der Vorwurf, hat sich die Aufklärung, gestützt auf den Primat der Selbsterhaltung, stets einseitig auf die Seite der Vernunft gestellt und dadurch einen Prozess in Gang gebracht, der heute in Gestalt der durchrationalisierten Industriegesellschaft auf die Menschen zurückschlägt. Lassen wir an dieser Stelle die Frage beiseite, ob die historische Aufklärung wirklich intellektualistisch gesinnt war – die Fakten sprechen eher für das Gegenteil –, und konzentrieren wir uns ganz auf die Behauptung, die Abspaltung des Naturhaften im Menschen sei die Quelle allen Unheils und damit das eigentlich Inhumane. Tatsächlich ist die berühmte Formel vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“ immer wieder als Aufforderung zur Rückbesinnung auf die natürlichen Anteile in der conditio humana verstanden worden. Das Körperliche, Triebhafte, Sinnliche gilt dieser Auffassung als das von der Aufklärung Verschüttete, das es nicht nur in der Theorie, sondern auch in einer entsprechenden Praxis neu zu entdecken gelte. Eine solche Praxis würde Schluss machen mit der Repression der inneren Natur, in ihr dürfte der Mensch endlich wieder Mensch sein und würde nicht länger auf die klägliche Rolle eines rational seinen Nutzen kalkulierenden Automaten reduziert. Kurzum, die Maxime lautet: Wiedergewinnung der Humanität durch Rückbesinnung auf das Naturhafte in uns. Ist das die neue Zauberformel? Wenn ich mir erlaube, hier Bedenken anzumelden, so in der Überzeugung, dass die Rede von der Natur im Subjekt höchst ambivalent ist und der Differenzierung bedarf. Rückbesinnung auf das Leibliche und Naturhafte in

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der Verfassung des Menschen – das kann durchaus das wohl tuende und dringend erforderliche Korrektiv zu einer aus dem Ruder gelaufenen Praxis sein, in der sich das Prinzip der Selbsterhaltung zur totalen rationalen Kontrolle der inneren und äußeren Natur verselbständigt hat. Wo der Geist die Natur nur noch als Feind wahrnimmt, da ist in der Tat eine Besinnung notwendig. Der Mensch bleibt durch seine Leiblichkeit der Natur auf Dauer verbunden, und so besteht die Aufgabe darin, den Impulsen des Leibes nach Maßgabe des kulturell Akzeptablen Freiraum zu verschaffen, statt sie unter dem Einfluss eines asketischen Ideals permanent zu unterdrücken. Als These formuliert: keine Humanität auf dem Boden von Leibfeindlichkeit. Aber das ist nur die eine Seite der Problematik. Von der anderen Seite legt einmal mehr die Erzählung von Stevenson Zeugnis ab, in der es unverkennbar Mr. Hyde ist, der seine leiblichen Impulse eher zu ihrem Recht kommen lässt. Gleich nach der ersten Verwandlung berichtet Dr. Jekyll: „I felt younger, lighter, happier in body“6, und durch alle viktorianische Zugeknöpftheit hindurch gibt die Erzählung zu erkennen, dass sich ihr Protagonist in der Gestalt des Mr. Hyde gern und extensiv körperlichen Gelüsten hingibt; die Verfilmungen des 20. Jahrhunderts werden in diesem Punkt wie so oft überdeutlich und lassen Teile der Handlung kurzerhand in einem Bordell spielen. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass sich die Entstehung des Mr. Hyde allererst den Problemen des überkultivierten Dr. Jekyll mit seiner inneren Natur verdankt; vor lauter moralischem Anstand findet Jekyll kein Ventil mehr für das Animalische, das, wie die Evolutionstheorie plausibel macht, immer noch wesentlich zum Menschen gehört. So erzeugt er den Mr. Hyde, nicht ahnend, dass bei ihm das Animalische mangels zivilisatorischer Zügel ins Bestialische pervertiert ist. Die Schwierigkeiten hätten sich vermeiden lassen, wenn er seine innere Natur frühzeitig als Teil seiner selbst anerkannt und seiner Sehnsucht nach Vergnügungen („pleasures“) in Maßen nachgegeben hätte. Das Problem steckt freilich in dem „in Maßen“. Wer bestimmt das Maß und nach welchen Kriterien? Sind Vergnügungen nicht erst dann amüsant, wenn sie potentiell ekstatisch, also gerade maßlos sind? Und ist nicht auch die Natur zumindest im Detail maßlos, nämlich ungehemmtes, exponentielles Wachstum, allseitiges Wuchern, dem seine Grenzen erst von außen

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Stevenson, Dr. Jekyll and Mr. Hyde, S. 82.

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durch den Gleichgewichtszustand in einem Ökosystem gesetzt werden? Wenn dem so ist, dann müssen wir Mr. Hyde attestieren, gerade in seinen inhumanen Zügen der Natur näher zu stehen als Dr. Jekyll; ja, in dieser spezifischen Hinsicht ist das Zerrbild Hyde der Naturanteil des Urbildes Jekyll. So war das mit dem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ sicher nicht gemeint! Der Begriff der Natur offenbart hier seine radikale Ambivalenz: so sehr Natur in bestimmten Zusammenhängen das ganzheitliche Korrektiv zu all dem Einseitigen und Artifiziellen meint, das die Kultur oftmals auszeichnet, so sehr ist sie in anderen Zusammenhängen gleichbedeutend mit dem gnadenlos Selbstbezogenen. Im ersten Fall handelt es sich sozusagen um die Natur aus dem Bioladen, und wir dürfen Ausgewogenheit und gesunde Vielfalt assoziieren; im zweiten Fall ist es eher die Natur aus dem darwinschen Kampf ums Dasein, in dem für Humanitätsduselei kein Platz ist und in dem übrigens auch nur das Gesunde überlebt (insofern steht der Begriff der Gesundheit merkwürdigerweise auf beiden Seiten des Gegensatzes). Meine These lautet nun, dass sich die Ambivalenz nicht auflösen lässt. Die Natur ist in problematischer Weise beides, friedliche Harmonie und unbarmherziger Kampf. Jeder Versuch, die Spannung nach einer der beiden Seiten hin abzutragen, führt unweigerlich zum Reduktionismus. Dem Denken erwächst daraus die Aufgabe, den Widerstreit auszuhalten und ihn als treibende Kraft philosophischer Reflexion fruchtbar zu machen, statt nur das Aporetische an ihm zu sehen.7

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Der Leser wird sich fragen, warum ich die Quelle der Formel vom Eingedenken der Natur im Subjekt so hartnäckig verschweige. Hier die Begründung: an der einzigen Stelle der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, wo die Formel auftaucht, steht eine dritte Bedeutungsschicht des Begriffs Natur im Vordergrund: Natur als ewig gleicher Kreislauf, als blinder Zwangsmechanismus, als besinnungsloser Vollzug (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 45-47). Die These der Autoren lautet, dass dort, wo die Vermögen des Subjekts – einst der ganze Stolz der Aufklärung – zur instrumentellen Vernunft regrediert sind, nichts anderes stattfindet als eine Fortsetzung des tumben Mechanismus der Natur. Der Ausdruck ,Natur im Subjekt‘ hat also an dieser Stelle nichts mit Naturkost-Romantik zu tun und ist im Gegenteil pejorativ besetzt. In der Rede vom Eingedenken wiederum geben die Autoren ihrer fast verzweifelten Hoffnung Ausdruck, dass das Denken auch in seiner regredierten Gestalt diese Zusammenhänge zu durchschauen in der Lage ist, worin sie einen ersten

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Ein erster Schritt hierzu besteht darin, die Figur der radikalen Ambivalenz in die Frage nach der Humanität hineinzutragen und den Menschen seinerseits als von Widersprüchen durchzogenes Wesen zu begreifen. Was den Menschen auszeichnet und was ihn vom Tier – zumal dem nicht domestizierten – unterscheidet, ist, dass in ihm eine Pluralität gegenstrebiger Kräfte waltet, die nicht a priori auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Es gibt keine übergeordnete Instanz, die die zahlreichen Facetten in eine hierarchische Ordnung bringen und eine von ihnen – sei es die Vernunft, sei es der Trieb oder eine religiöse Überzeugung – zum obersten Prinzip erklären könnte. Folglich gibt es, überspitzt formuliert, gar kein „Wesen“ des Menschen. Niemand kann im Voraus festlegen, wie sich die widerstreitenden Kräfte zueinander verhalten, vielmehr stehen jedes Individuum und jede Gesellschaft vor der Aufgabe, für sich ein entsprechendes Arrangement zu finden. Das ist der Grund dafür, dass, wie zu Beginn dieses Kapitels zitiert, das Menschsein eine Angelegenheit ist, die nicht mit der bloßen Gattungszugehörigkeit erledigt ist. Der Mensch führt einen historischen Index mit sich, der ihn dazu nötigt, stets von Neuem zu bestimmen, wer er eigentlich sein will. Dass er bei dieser Entscheidung vielfältigen Zwängen ausgesetzt ist, macht die Sache nicht gerade leichter.

Schritt zur Umkehr erblicken. In Wirklichkeit ist die Wendung „Eingedenken der Natur im Subjekt“ also die formelhafte Verkürzung eines Gedankens, den die Autoren in der gleichen Passage ausführlich wie folgt formulieren: „Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus.“ (Ebd. S. 45 f.) Die Pointe ist, dass die romantisierende Lesart der Formel, an jener Stelle hermeneutisch nicht haltbar, gleichwohl ihre Berechtigung hat. Denn durch die zahlreichen Negationen hindurch geben die Autoren zu verstehen, dass sie die Hoffnung auf eine Versöhnung mit der Natur – der äußeren wie der inneren – nicht aufgegeben haben, dass sich also die durch den Geist vermittelten Anforderungen der Kultur und die naturhaften Impulse des Leibes doch noch miteinander verbinden lassen. Dann hieße Eingedenken der Natur im Subjekt in der Tat Selbstbescheidung der Vernunft zugunsten der natürlichen Anteile im Wesen des Menschen. Die Frage nach den Details der Versöhnung beantworten die Autoren freilich mit einem dialektischen Achselzucken bzw. mit dem Hinweis auf das Bilderverbot in der jüdischen Religion.

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Was ergibt sich aus all dem für die doppelte Frage nach der Humanität und dem Inhumanen? Es sollte deutlich geworden sein, dass das Humane und das Inhumane ineinander verflochten sind und beide gleichermaßen zur Verfassung des Menschen gehören. Auch das Inhumane ist zumindest als Tendenz im Menschen angelegt; zur conditio humana gehört, dass sie, mathematisch gesprochen, ihre eigene Negation als Teilmenge enthält. Das ist sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht ein erhebliches Problem, denn was da implizit gefordert wird, ist nichts Geringeres als eine Vereinigung des Unvereinbaren; das Problem wird auch nicht gelöst sondern eher noch verschärft, wenn die Teilmenge abgekapselt und isoliert wird, da dann das Inhumane seine volle zerstörerische Kraft entfaltet, wie wir am Beispiel des Mr. Hyde gesehen haben. Ein ganzes Bündel von Widersprüchen und Problemen also, das aber vielleicht seine therapeutische Wirkung hat. Denn wenn der Common sense intuitiv dazu neigt, Humanität emphatisch als Appell an das Gute im Menschen zu verstehen, so können wir diese scheinbar evidente Sichtweise jetzt entscheidend relativieren. Ein Engagement im Sinne der Menschenwürde müsste es als seine primäre Aufgabe ansehen, eine Dämonisierung des Bösen und Inhumanen zu vermeiden, und das geht nur, indem man ihm – und sei es als Tendenz – einen eigenen Stand zuerkennt. Das Humanitätsideal hat also ganz entschieden mit dem Inhumanen zu tun, und das nicht bloß in abwehrender Weise. Der Ansatz, den Zugang zur Frage nach der Humanität über die Thematisierung des Inhumanen zu suchen, erweist sich somit am Ende nicht nur als heuristisch zweckmäßig, sondern auch als inhaltlich fruchtbar. Die Frage nach der Bestimmung und der Würde des Menschen impliziert die Forderung, das mit einzubeziehen, was – gerade auch im Innern – dieser Würde abträglich ist. Das läuft wie gezeigt auf einen Widerspruch hinaus, ist aber die einzige der Sache angemessene Denkweise. Wer von Humanität sprechen will, darf vom Inhumanen nicht schweigen.

3. Für und wider die Ordnung Das Motiv der Öffnung

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S ECHS ARGUMENTE

Es dürfte in den ersten beiden Kapiteln deutlich geworden sein, dass die Überlegungen dieses Buches einem Ungenügen an der Ordnung entspringen, einem Verdacht gegen den Drang zur Systematisierung, und dass folglich in der Frage nach dem Jenseits der Ordnung die Hoffnung zum Ausdruck kommt – wie verschämt und verschleiert auch immer –, das Ausbrechen aus bestehenden Ordnungen möge neue Horizonte und Perspektiven eröffnen. Damit stellt sich aber die Frage, ob das Unbehagen an und in der Ordnung auf eine subjektive und flüchtige Befindlichkeit zurückzuführen ist, oder ob im Gegenteil der Zweifel auf sachbezogenen und damit dauerhaften Gründen beruht. Welche Argumente lassen sich auf einer grundsätzlichen Ebene für und wider die Ordnung ins Feld führen? Ist es ein Akt der Willkür, jedes Kategoriensystem, jede Form der Schematisierung einem Generalverdacht auszusetzen, oder gibt es gute Gründe, dem Ordnungswillen, welche Gestalt er auch annehmen mag, zu misstrauen? Vor allen weiteren Erörterungen müssen wir uns in diesem Punkt Klarheit verschaffen. Hier deshalb eine vorläufige Auflistung entsprechender Argumente; sie werden zunächst unabhängig voneinander angeführt, d. h. ungeachtet der Frage nach ihrer Vereinbarkeit. 1.) Das Chaos-Argument: „Die Unterstellung, es herrsche Ordnung, sei es im Denken oder in den gesellschaftlichen Verhältnissen, trifft gar nicht zu. Wie die Anarchie der kapitalistischen Warenproduktion und der Wildwuchs philosophischer Diskurse in Zeiten der Postmoderne hinlänglich

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beweisen, stehen wir vielmehr vor dem Chaos, und das Problem besteht nicht darin, angebliche Ordnungen aufzusprengen – das ist in der Moderne schon zur Genüge geschehen –, sondern darin, wieder ein Maß zu finden, das Orientierung verspricht.“ 2.) Das Ermüdungs-Argument: „Zumindest für den Bereich der Theorie kann man durchaus behaupten, dass Ordnung herrscht, in dem Sinne, dass die gegenwärtig diskutierten Theorieansätze sich nur an der Oberfläche unterscheiden und in der Tiefenstruktur große Ähnlichkeit aufweisen. Genau an dieser Struktur – dem Paradigma des zeitgenössischen Denkens – müsste nun aber die Kritik ansetzen. Zwar haben wir keine triftigen Argumente, die die bestehenden Denkmuster unmittelbar als falsch erweisen würden, aber offenkundig gibt das Paradigma nichts mehr her, es inspiriert niemanden mehr, ist erschöpft, verbraucht. Die Aufgabe besteht deshalb darin, das ausgelaugte Denken durch ein neues, innovatives zu ersetzen.“ 3.) Das Visions-Argument: „Die Vorherrschaft eines bestimmten Ordnungsdenkens ist nicht zu bestreiten, und man muss sogar einräumen, dass es – von wegen Ermüdung! – in voller Blüte steht. Dennoch: ich sehe ein anderes, reicheres Denken und ich sehe die bessere, gerechtere Welt, die ihm entsprechen würde. Zwar lässt sich der Inhalt meiner Vision theoretisch nicht stringent einholen, so dass die Beschreibung des anderen Denkens mit vielen Paradoxien behaftet sein wird. Diese Misslichkeit ist jedoch der Erhabenheit des Gegenstandes geschuldet; man wird Vertrauen zu mir haben und mir folgen müssen.“ 4.) Das Verarmungs-Argument: „Auch wenn zuzugeben ist, dass das Ordnungsdenken auf einem Minimalniveau funktioniert und sich insofern nicht widerlegen lässt, müssen wir es doch mit der Begründung zurückweisen, dass es zu einer erschreckenden Verarmung der Erfahrung führt. Jede Systematisierung wird mit dem Wegschneiden überschüssiger, widerspenstiger Qualitäten bezahlt, so dass wir am Ende nur noch einen zugerüsteten, ausgedünnten, reduzierten Gegenstand vor uns haben. Erforderlich ist ein anschmiegsames Denken, das dem Gegenstand in seiner Komplexität gerecht wird; erst dann wird auch der Mensch seine Anlagen (wieder) voll entfalten können.“ 5.) Das Herrschafts-Argument: „Gewiss, es herrscht Ordnung, aber die Betonung liegt in diesem Satz auf dem Verb. Das Funktionieren der gesellschaftlichen Prozesse in den Sphären Produktion, Distribution und Konsum verdankt sich einem hierarchisch-repressiven Aufbau des sozialen Körpers,

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der den Individuen unter dem Strich mehr nimmt als er ihnen gibt. Freiheit wird zwar immer wieder versprochen und ist de jure auch garantiert, de facto wird sie aber durch Systemzwänge empfindlich eingeschränkt. Kritik an der Ordnung heißt deshalb in erster Linie Aufbegehren gegen gesellschaftliche Herrschaft. Die Aufhebung der repressiven Ordnung ist die Voraussetzung für eine solidarische Einrichtung des Gemeinwesens.“ 6.) Das Zeichen-Argument: „Es ist zu fragen, ob die bestehende Diskursordnung in sich stimmig ist, oder ob sie nicht vielmehr an inneren Widersprüchen laboriert, die über kurz oder lang ihren Kollaps herbeiführen werden. Nehmen wir den für das Denken fundamentalen Begriff des Zeichens: hält die gängige und in der Logik des Zeichenbegriffs selbst angelegte Unterscheidung einer bezeichnenden und einer bezeichneten Schicht – Signifikant und Signifikat – einer strengen Prüfung stand? Führt ein konsequentes Durchdenken des Signifikationsprozesses nicht zu einem Verwischen der Grenze zwischen Signifikant und Signifikat und damit virtuell zu einer Auflösung des Signifikats? Wenn dem so ist, wenn also von einer ursprünglichen, vor aller Bezeichnung gegebenen Bedeutungsschicht keine Rede mehr sein kann, dann gerät die gesamte (Zeichen-) Ordnung ins Wanken – mit unabsehbaren Folgen für die Philosophie.“ So weit einige Argumente für und wider die Ordnung.1 Gehen wir sie der Reihe nach durch, um zu schauen, inwieweit sie für die Überlegungen dieses Buches von Bedeutung sind.

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C HAOS , E RMÜDUNG , V ISION

Die Beantwortung der Frage, ob die gegenwärtige Realität einschließlich ihres gedanklichen Über- bzw. Unterbaus durch ein Zuviel oder Zuwenig an Ordnung charakterisiert ist – also ob Überreglementierung oder im Gegenteil Chaos herrscht –, hängt stark vom Blickwinkel des Betrachters und von seinen theoretischen Vorannahmen ab, so dass eine allgemeingül-

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Die Liste ist keineswegs vollständig. Man kann den Willen zur Ordnung auch aus ästhetischen und sogar aus pragmatischen Gründen in Frage stellen. Es erscheint aber – wiederum aus pragmatischen Gründen – sinnvoll, dass wir uns erst einmal an der angeführten Sechser-Liste abarbeiten.

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tige Antwort unmöglich erscheint. In der Mehrzahl der Fälle hat die bisherige Philosophie ebenso wie die Wissenschaft ihre Aufgabe darin gesehen, den Wirrwarr, mit dem wir konfrontiert seien, zu ordnen, also die überbordenden Ströme zu einzudämmen, das Mannigfaltige zu strukturieren und den Gegebenheiten ein System abzumerken (oder gegebenenfalls überzustülpen). Linnés gigantische Tableaus aller Pflanzen- und Tierarten und Kants grandiose Architektonik der Vernunft sind eindrucksvolle Beispiele für diesen Typus von Ordnungsdenken. Das Streben nach Überblick und Kontrolle ist die Triebfeder hinter diesem – offenkundig aneignenden – Umgang mit der Realität; alles, was jenseits der Ordnung steht, wird als potentielle Gefahr perzipiert, als Bedrohung. Und scheinbar hat ein solches Weltverhältnis tatsächlich alle guten Gründe und damit die Vernunft auf seiner Seite: ist es nicht der aufgeklärte, d. h. wissenschaftlich-technische Umgang mit der Natur, der dem Menschen allererst das Überleben sichert und so die Grundlage für die Zivilisation bildet? Und sind nicht Selbstbeherrschung und Triebsublimierung als innere Ordnung des Individuums unverzichtbare Voraussetzungen für Kulturleistungen aller Art? Schließlich die Gesellschaft: setzt jede Form von Freiheit in ihr nicht zuallererst die Ordnung stiftende und Verlässlichkeit schaffende Kraft des Gesetzes voraus? Aus diesen Evidenzen müsste man den Schluss ziehen, dass alle Dysfunktionen – gleichviel ob in der Gesellschaft im Ganzen oder in den Lebensabläufen eines Individuums – auf einen Mangel an Ordnung zurückzuführen sind; dass also die Rationalisierung noch nicht alle Bereiche erfasst hat und Chaosreste ihr Unwesen treiben. Die Folgerung scheint unabweisbar, dass unsere Aufgabe nicht jenseits, sondern diesseits der Ordnung liegt: im vernunftgeleiteten Durchdringen des Gegebenen mit dem Ziel der umfassenden Systematisierung. – Wenn das vorliegende Buch an dieser Stelle die entgegengesetzte Richtung einschlägt, so in der Überzeugung, dass die historischen Erfahrungen der Moderne es verbieten, Ordnung und Vernunft unreflektiert mit Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität gleichzusetzen. Vor allem die Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben es in perfider Weise verstanden, rational kalkulierte Ordnung in den Dienst des Unrechts zu stellen, so dass wir von Ordnung um ihrer selbst willen kuriert sein sollten. Demokratie, wenn sie je verwirklicht werden kann, zehrt vom Element der permanenten Infragestellung, der Dissonanz, des Widerstrebens. Wo aber kann die dafür erforderliche Irritation herkommen? Auf welches subversive Potential kann sich die Insubordination (griech. ataxía)

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berufen? Genau das ist die Fragerichtung des Buches. Es wird also nicht geleugnet, dass wir, in welchen Zusammenhängen auch immer, ordnenden Kräften viel verdanken und dass sich mancher Missstand durch beherztes Aufräumen beheben lässt. Aber die These lautet, dass die Ordnung sich bisweilen gegen den Menschen kehrt und dass wir uns folglich nicht auf sie verlassen können. Eine menschengerechte Einrichtung der Verhältnisse bedarf auch des wachsamen und nie zur Ruhe kommenden Widerstandes – das ist der Kontrapunkt zum Chaos-Argument. Das Argument der Erschöpfung oder Ermüdung wird immer dann bemüht, wenn ein Theoretiker neue Wege beschreiten möchte, gleichzeitig aber nicht die Beweislast auf sich nehmen kann oder will, zunächst die etablierten Denkansätze mit Gründen zurückzuweisen. Die Weigerung, erst einmal mit den bestehenden Theorien abzurechnen, kann dabei in der Sache durchaus gerechtfertigt erscheinen. Wie Foucault und Kuhn unabhängig voneinander gezeigt haben, lässt sich die neuzeitliche Geistes- und Wissenschaftsgeschichte als eine Abfolge von Denkhaltungen verstehen – der Foucaultsche Terminus hierfür lautet „Episteme“, Kuhn spricht von „Paradigmen“ –, wobei der Übergang von einer Haltung zur nächsten eher als bloß historische Wachablösung denn als argumentativ erzwungener Fortschritt zu beschreiben ist. In gewisser Weise ist es den Paradigmen gar nicht möglich, sich gegenseitig zu widerlegen, da die gemeinsame Ebene fehlt, auf der sie in Konkurrenz zueinander treten könnten; sie betreffen fundamentale Grundannahmen, von denen ausgehend dann Argumentation möglich ist, sind selber damit aber einer argumentativen Überprüfung entzogen. Kuhn zeigt, dass beim Aufkommen eines neuen Paradigmas das alte nicht widerlegt wird, sondern einfach die Wissenschaftler, die es vertreten, nach und nach aussterben; analog diagnostiziert Foucault einen epistemologischen Bruch zwischen den Epistemen zweier Zeitalter, so dass Verdrängung stattfindet und nicht Auseinandersetzung. Aber man will sich durchsetzen; als Argument oder besser gesagt als Ersatz für ein Argument muss daher das Bild der Erschöpfung herhalten: das alte Paradigma sei uninteressant geworden, seine Inspirationskraft sei erloschen, es gebe nichts mehr her. So spricht Habermas ausdrücklich von Erschöpfungssymptomen: „Erschöpft ist das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie“2, und bei De-

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Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 346.

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leuze und Guattari heißt es an einer Stelle: „Aus eins wird zwei: jedesmal wenn wir dieser Formel begegnen, haben wir es [...] mit dem ältesten und am meisten ausgelaugten Denken zu tun.“3 Müde, erschöpft, ausgelaugt, uninteressant geworden, nicht länger inspirierend: was auffällt, ist die subjektive Komponente, die in diese Wertungen eingeflossen ist. Wenn eine Inspirationsquelle versiegt, so kann das zwar an der Quelle liegen, aber ebenso an der Ideenlosigkeit desjenigen, der sich von ihr Inspiration erhofft. Deshalb ist das Ermüdungs-Argument theoretisch gesehen schwach, kaum als Argument zu bezeichnen; es soll die Verlegenheit kaschieren, dass ein Theoretiker, an einer wichtigen Weggabelung angekommen, sich für eine von mehreren Alternativen entscheidet, ohne für seine Wahl triftige Gründe angeben zu können. Aus diesem Grund wird man im weiteren Verlauf dieses Buches Formulierungen wie die, das Denken in Termini der Ordnung sei ausgelutscht und verbraucht, vergebens suchen. Im Gegenteil wird die Vitalkraft jenes Denkens an keiner Stelle angezweifelt. Für die Entscheidung, ihm die Gefolgschaft zu verweigern, waren andere Gründe ausschlaggebend. Vielleicht eine Vision? Eine göttliche Offenbarung, kundgetan durch den Mund eines Propheten? Nein, gewiss nicht, auch wenn es stimmt, dass selbst im 20. Jahrhundert die Verkünder in der Philosophie nicht ganz ausgestorben sind. Zuletzt war es Lévinas, der seine Ideen zwar nicht von der Rhetorik4, dafür aber von der Argumentationsstruktur her mit seherischem Duktus vorgetragen hat, und man kann wetten, dass ihm andere nachfolgen werden, so charakteristisch ist die Art seines Vorgehens. Lévinas geht von zwei Denkmodi oder Erfahrungsweisen aus, die in einem eigentümlich asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen. Da ist zum einen die alltagspraktische Erfahrung, die sich in ihren Grundzügen mit der Erfahrung des szientifischen Empirismus deckt. Dieser Erfahrung geht es primär um verwertbare Einsichten – um die Aneignung eines widerspenstigen Gegenstandes, um die Selbstbehauptung des Menschen gegenüber 3 4

Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 14. Prophetische Rhetorik findet sich in Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra. Aufs Ganze gesehen führt Nietzsche jedoch, wie ein Blick in seine anderen Schriften und in den Nachlass verdeutlicht, keinen prophetischen oder visionären Diskurs, sondern einen ästhetischen. Das ist der Grund dafür, dass nicht er hier als Beispiel herangezogen wird, sondern Lévinas.

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einer als feindlich wahrgenommenen Natur, letztlich um nichts Geringeres als „die Eroberung des Seins durch den Menschen im Laufe der Geschichte“5. Es handelt sich also um eine Erfahrung, die die Wahrheit vom Erfolg und vom Nutzen her denkt und bei der die Zwecksetzung des Subjekts den Vorrang vor der tatsächlichen Beschaffenheit der Sache hat. Ihr steht die Erfahrung des anderen Menschen gegenüber, und zwar des Anderen in seiner Andersheit, das heißt als absolut Anderer. Lévinas’ These lautet, dass in der Beziehung zwischen Menschen ein Potential angelegt ist, das eine völlig neue Dimension eröffnet. Er leugnet nicht, dass die Individuen de facto oft strategisch miteinander umgehen, so dass doch wieder das Interesse und ein Nutzenkalkül die Oberhand gewinnen. Aber er sieht zumindest die Möglichkeit eines anderen Umgangs, einer Begegnung, in der der Andere mir „mit dem vollkommen Ungedeckten und der vollkommenen Blöße seiner schutzlosen Augen“6 entgegentritt, ich ihn jedoch gerade deshalb nicht ausnutzen und ihm erst recht nichts antun kann. Es handelt sich hierbei um eine ethische Erfahrung, die die gewöhnliche Logik des erfolgsorientierten Handelns außer Kraft setzt und in keiner Weise mit ihr kompatibel ist. Die Frage ist nun: woher weiß Lévinas von dieser Erfahrung, von der er zugeben muss, dass sie mit den Mitteln des Alltagsverstandes nicht fassbar ist? Wie rechtfertigt er sein Theorem von einer zweiten Dimension der Erfahrung, der dann auch noch die höhere philosophische Dignität zukommen soll? An einer Stelle bringt er das Argument der Scham: wer seine Freiheit dazu missbrauche, den Anderen auszunutzen oder ihm sogar Schaden zuzufügen, werde das früher oder später bereuen und sich dann schämen. „Es ist eine Scham, die die Freiheit über sich empfindet, weil sie entdeckt, dass sie in ihrer Ausübung selbst mörderisch und usurpatorisch ist.“7 Bei allem Respekt vor dem tragischen Schicksal der Person Emmanuel Lévinas – während er in Frankreich interniert war, wurde seine Familie in Litauen von der Gestapo ermordet – erlaube ich mir, diesen Satz des Philosophen Lévinas in Frage zu stellen. Wie die Eichmann-Protokolle und viele andere Zeugnisse verdeutlichen, haben nur wenige Nazi-Täter später Scham oder Reue angesichts ihrer Verbrechen

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Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 186. Ebd. S. 198. Ebd. S. 204.

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empfunden. Die meisten haben verstockt daran festgehalten, ihre (Un-) Taten seien „im Grunde richtig“ oder „notwendig“ gewesen, zumal sie „nur Befehle ausgeführt“ hätten. Nein, mit dem Argument der Scham ist das für die Entdeckung des Anderen als Anderen erforderliche Unrechtsbewusstsein nicht zu erklären. Finden sich aber bei Lévinas andere Argumente? Eine mögliche Lesart seiner Texte – nicht die einzige – ist, dass es ihm in diesem Punkt gar nicht um Argumentation geht. Auf gut phänomenologisch bemüht er sich, etwas zu sehen, unbekümmert darum, ob sich das Erspähte auch logisch-diskursiv einholen lässt. Entsprechend sind seine Texte in geradezu deiktischer Weise von aufweisender Art, aber sie beweisen nichts. Für diese Lesart, die das visionäre Moment in der Lévinasschen Philosophie hervorhebt, finden sich durchaus Belege in seinen Schriften; so heißt es an einer wichtigen Stelle: „Die Ethik ist eine Optik“8. Im Unterschied hierzu bemühen sich die Überlegungen des vorliegenden Buches, jede seherische Geste zu vermeiden und Behauptungen jederzeit diskursiv einzulösen. Es geht nicht um die Vision einer anderen, besseren Ordnung, sondern um die Frage, ob nicht jedes Denken – auch eines in Termini der Ordnung – von sich aus auf einen Bereich jenseits der Ordnung verweist. Dieser Bereich soll mit äußerster Vorsicht erschlossen werden; der Verdacht ist, dass es einem von Visionen geleiteten Zugang an einer derartigen Behutsamkeit mangelt.9 So weit ein Kommentar zu den ersten drei Argumenten für und wider die Ordnung, von denen sich gezeigt hat, dass sie für die Überlegungen dieses Buches nicht sonderlich hilfreich sind. Es zeichnet sich ab, dass sich die anderen drei Argumente als ergiebiger erweisen werden, so dass sie eine ausführlichere Behandlung erfordern.

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Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 23. Ich möchte betonen, dass diese optische Lektüre der Lévinasschen Texte nicht die einzig mögliche ist. Man kann auch die in ihnen enthaltenen Denkfiguren ins Zentrum stellen – wie ich es weiter unten praktizieren werde.

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D IE V ERARMUNG

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E RFAHRUNG

Das Argument von der Verarmung der Erfahrung geht davon aus, dass der Mensch ursprünglich zur Welt in ihrer qualitativen Vielgestaltigkeit existiert – dass also die Realität aus einem unermesslichen Reichtum an Nuancen und Unterschieden besteht und unsere Sinne scharf genug sind, um hier sehr fein zu differenzieren –, dass es de facto jedoch unzulässig ist und Schönfärberei wäre, zu behaupten, der Reichtum werde auch nur annähernd ausgeschöpft. Im Gegenteil – so das Argument – ist allenthalben eine aberwitzige Reduktion zu bemerken: im Zuge der Ordnungsprozesse wird ein Großteil der Qualitäten weggeschnitten, und das Mannigfaltige wird auf einen Nenner gebracht, in Schemata gezwängt, kategorisiert. Der Vorgang des Organisierens und Verwaltens interessiert sich gerade nicht für das Einzelne in seiner Besonderheit, d. h. in der Einzigartigkeit seiner Merkmalskombination und in seiner Divergenz vom allgemeinen Typus. Statt dessen gilt das Hauptaugenmerk dem, worin sich ähnliche Dinge gleichen, so dass man sie gemeinsam beim Schopf packen und in eine Schublade stecken kann. Aus einem qualitativ reichhaltigen Besonderen wird so der kümmerliche Repräsentant eines Allgemeinen – das ist die Metamorphose der Dinge unter der Knute des Willens zur Ordnung. Der Vorwurf lautet, dass diese Verwandlung unseren Horizont in unnötiger Weise einengt und den Raum des Erfahrbaren begrenzt. Der Grund für die planmäßig herbeigeführte Verarmung ist unschwer darin zu erkennen, dass nur in der reduzierten Gestalt die Dinge beherrschbar sind. Wo es um Kontrolle geht, da können Besonderheiten und Abweichungen nur stören. Um der Effizienz willen besteht die Aufgabe darin, von qualitativen Nuancen zu abstrahieren und statt dessen den Gegenständen ihre „wesentlichen“ Merkmale abzulesen, d. h. diejenigen, anhand derer sie sich ordnen, klassifizieren und schließlich regulieren lassen. Der Auslöser für die Nivellierung der Unterschiede ist mit anderen Worten die Angst vor dem Eigenleben der Dinge. Diese Angst kann sich phylogenetisch auf die Notwendigkeit der Naturbeherrschung berufen: in der Ur- und Frühgeschichte der Menschheit, als es darum ging, sich erst einmal dem Naturzusammenhang zu entwinden, waren überfeine Differenzierungen nicht nur müßig, sondern sogar schädlich, und es galt, sich auf die für das Überleben wichtigen Unterscheidungen – harmlos vs. gefährlich, genießbar vs. ungenießbar – zu konzentrieren. Da die Rationalität in derartigen Zusammen-

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hängen entstanden ist, verwundert es nicht, dass sie von Grund auf den Charakter des Vergröbernden und Kategorisierenden hat und stets auf Herrschaft ausgerichtet ist: die Fähigkeit, Naturvorgänge zu begreifen und ihre Regelmäßigkeit planvoll auszunutzen, verschaffte dem Menschen in der Evolution den arterhaltenden Vorsprung vor anderen Tierarten. Die Begriffe sind die Reißzähne des Menschen, wie man so schön sagt. Allerdings stellt sich die Frage, ob im Zeitalter des wissenschaftlich-technischen Fortschritts das Argument vom Primat der Naturbeherrschung noch zu überzeugen vermag. Ist die Position des Menschen gegenüber der Natur weiterhin so fragil, dass alles auf Unterjochung abgestellt sein muss? Haben wir nicht längst einen Grad der Sicherheit erlangt, der es uns ermöglichen sollte, endlich die Früchte der äonenlangen Arbeit zu ernten und der Natur anders denn als Ausbeuter und Nutznießer gegenüberzutreten? Offenkundig ist es der Herrscherblick, der die Reduktion bewirkt: wo der Endzweck aller Wahrnehmung in Kontrolle und Regulierung besteht, da ist es den vielfältigen Qualitäten des Gegenstandes versagt, in unser Blickfeld zu treten. Umgekehrt eröffnen gerade die Erfolge von Wissenschaft und Technik, die der Natur in vielen Hinsichten ihren Schrecken genommen haben, die Perspektive eines nicht länger herrschaftlichen Umgangs mit dem, was uns begegnet. Die Furcht könnte der Gelassenheit weichen. Hier stellt sich also die Befreiung von der Ordnung erstmals als erstrebenswertes Ziel dar, sofern dadurch das Mannigfaltige endlich in seinem qualitativen Reichtum freigegeben würde. Ein erster Schritt hierzu wäre die Überwindung der Angst vor dem Andersartigen, die Öffnung in Richtung auf das Fremde. Diese Öffnung haben Adorno und Lévinas unabhängig voneinander in vergleichbaren Formulierungen beschrieben. Adorno: „Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sei Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt.“10 Lévinas: „Die Ferne ist nur radikal, wenn das Begehren nicht das Vermögen hat, das Begehrenswerte vorwegzunehmen, wenn es das Begehrenswerte nicht im vorhinein denkt.“11 Für beide Autoren geht es darum, mit dem Fernen

10 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 192. 11 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 37. Auch von Imperialismus spricht Lévinas an einer Stelle (Die Spur des Anderen, S. 199).

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und Fremden in Kommunikation zu treten, ohne ihm jedoch durch Aneignung die Andersartigkeit zu nehmen. Sie sehen darin eine lange vernachlässigte und deshalb in der Gegenwart so dringliche Aufgabe der Philosophie. Als Lohn winkt ein Blick auf die facettenreiche Vielgestaltigkeit der Dinge und eine Begegnung mit dem Anderen, in der ich im emphatischen Sinne eine Erfahrung – ihrerseits im Sinne einer Öffnung – machen kann. Das Wegschneiden der Qualitäten hingegen, die Transformation der Gegenstände – auch der Naturdinge12 – in Gerätschaften und Utensilien führt dazu, dass sich die ursprünglich offene Vielfalt der Welt zu einem Systemzusammenhang schließt. Jedes Detail erhält seinen Ort und Wert im großen Ganzen; die Dinge sind bereits in sich funktional aufgebaut; Überraschungen sind so gut wie ausgeschlossen. Lévinas führt für diesen universalen Nexus den Ausdruck Totalität ein, Adorno spricht vom Identitätszusammenhang. Der Gedanke ist bei beiden Autoren derselbe: die Welt, in die wir hineingeboren werden, ist bereits eine verformte, zugerüstete, mit sanfter oder bisweilen auch roher Gewalt vereinheitlichte, und scheinbar gibt es aus diesem System wie aus einer geschlossenen Anstalt keinen Entrinnen. Die gigantische Identifikations- und Totalisierungsmaschine hat alles bearbeitet und kommensurabel gemacht, nichts löckt mehr wider den Stachel, weder in der Natur noch in der von Menschen gemachten Welt. Aber wie bereits deutlich wurde, handelt es sich bei der derart hergestellten Ordnung um ein durch Annexion erworbenes Imperium, das auf die Dauer auf den Menschen zurückschlagen wird. Die Verarmung beraubt uns essentieller Erfahrungen, die für eine menschengerechte Einrichtung der Gesell-

12 Die Metamorphose eines Naturgegenstandes in ein Gebrauchsding erläutert Heidegger sehr plastisch an einem Beispiel: „Das Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut. Er ist, was er jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks.“ (Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 19) Das Walten der modernen Technik tangiert das Wesen eines Naturgegenstandes, hier des Rheins, und verwandelt ihn in gebrauchsfertiges Zeug. Heidegger zufolge gelingt es am ehesten noch Hölderlin in seiner Hymne Der Rhein, den Strom als Naturding zu evozieren, ihn also – wie man transponierend sagen könnte – in seiner Nichtidentität (Adorno) bzw. „von sich her und nicht von der Totalität her“ (Lévinas) anzusprechen. [Das Lévinas-Zitat ist Totalität und Unendlichkeit, S. 23].

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schaft ebenso unerlässlich sind wie für einen friedfertigen Umgang miteinander. Adorno und Lévinas führen deshalb übereinstimmend aus, dass das Denken auf das gerichtet sein muss, was jenseits von Identität und Totalität liegt. Ihre Hoffnung heftet sich an jenes Widerspenstige und Irreduzible, das vom großen Zusammenhang noch nicht erfasst ist und dadurch die Möglichkeit einer Veränderung bezeugt. In den Worten von Adorno: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen. [...] Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet.“13 Aber liegt in dieser Hoffnung nicht etwas Verzweifeltes? Kann Denken denn anders als begrifflich und damit identifizierend vorgehen? Und impliziert nicht der Begriff der Totalität, dass er die Wirklichkeit lückenlos abdeckt? Diese Fragen rühren an eine fundamentale Aporie, mit der das Verarmungs-Argument zu kämpfen hat. Wenn es stimmt, dass der Systemzusammenhang geschlossen ist und dass das menschliche Bewusstsein in seinen grundlegenden Vollzügen ihn stets aufs Neue reproduziert, so ist nicht zu sehen, auf welche Instanz sich die Rede von einem Anderen und Nichtidentischen berufen könnte. Es hat den Anschein, als sei der Widerstand zum Scheitern verurteilt, weil der archimedische Punkt fehlt, von dem aus das System aus den Angeln gehoben werden könnte. An welcher Norm wird denn die angeblich verarmte Erfahrung gemessen? Bei der Beantwortung dieser Frage trennen sich die Wege der beiden genannten Autoren. Lévinas setzt der Geschlossenheit der Totalität schroff die ethische Erfahrung des Anderen entgegen und hebt, um dessen völlige Alterität zu sichern, den „Bruch mit der Totalität“14 hervor, den diese Erfahrung voraussetze. Er verschmäht die Dialektik, weil er sie verdächtigt, die Annexion alles Fremden gezielt voranzutreiben und den „Umschlag der Andersheit der Welt in Identifikation des Selbst“15 womöglich als Erfolg zu 13 Adorno, Negative Dialektik, S. 19 f. Vergleichbar heißt es bei Lévinas: „Die Eschatologie setzt uns in Beziehung mit dem Sein jenseits der Totalität. [...] Sie ist Beziehung zu einem Mehr, das immer außerhalb der Totalität ist, als ob die objektive Totalität nicht das wahre Maß des Seins erfüllte.“ (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 22, Kursivdruck gemäß Original) 14 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 38. 15 Ebd. S. 42.

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feiern. Im letzten Punkt würde ihm Adorno sogar zustimmen, jedenfalls was die Hegelsche, d. h. idealistische Variante der Dialektik anbelangt. Hierin sind sich die beiden einig, dass Hegel dem Prozess der Totalisierung und Identifikation wie kaum ein anderer Vorschub geleistet hat. Aber während Lévinas daraus die Konsequenz zieht, dialektisches Denken toto coelo zu verabschieden, sieht Adorno noch entscheidende Korrekturmöglichkeiten und hält explizit an der Dialektik fest, freilich unter umgekehrten, nämlich materialistischen Vorzeichen. Seine These lautet, dass Hegel bei einer wichtigen Weichenstellung zu Beginn seiner Konzeption eine scheinbar minimale, in Wahrheit jedoch entscheidende Differenz übersehen habe und dadurch ins Gleis eines positiven Idealismus geraten sei. Für sich selber beansprucht er, den Einstieg in eine negative Dialektik gefunden zu haben, die der Falle von Identifikation und Totalisierung entgehe und dadurch in der Lage sei, eine argumentativ ausgewiesene Kritik an der Verarmung der Erfahrung zu liefern. Die besagte Differenz betrifft das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung oder von Subjekt und Objekt. Adorno zufolge trägt in der Hegelschen Dialektik die Vermittlung den Sieg davon: die Einsicht, ein schlechthin Unmittelbares sei nicht denkbar, weil Denken grundsätzlich ein Moment von Vermittlung beinhalte, werde zum Theorem von der Ubiquität der Vermittlung hypostasiert: „Der Triumph, das Unmittelbare sei durchaus vermittelt, rollt hinweg über das Vermittelte und erreicht in fröhlicher Fahrt die Totalität des Begriffs, von keinem Nichtbegrifflichen mehr aufgehalten.“16 Für Adorno ist das System des reifen Hegel, wie es in der Enzyklopädie niedergelegt ist, der Extremfall eines geschlossenen Vermittlungszusammenhangs, der kein Außen mehr kennt und autistisch nur noch mit sich selber beschäftigt ist. Was er dem nun entgegenhält, ist nicht bloß der Hinweis darauf, dass jede Vermittlung ihrerseits auf ein Unmittelbares geht, das vermittelt wird – das ist auch von Hegel nie geleugnet worden –, sondern dass die Vermittlung in anderer Weise ein Unmittelbares voraussetzt als umgekehrt das Unmittelbare die Vermittlung. Ein Vermittlung ohne zu vermittelndes Unmittelbares – ein Subjekt ohne Objekt, oder mit Husserl zu sprechen eine Noesis ohne Noema – ist buchstäblich nichts, ein leeres Gedankending bar jeder Sachhaltigkeit. Ohne Unmittelbares findet

16 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 174.

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eine Vermittlung in Wahrheit gar nicht statt. Umgekehrt gilt das Entsprechende jedoch nicht: das Fehlen einer Vermittlung tangiert das Unmittelbare nur in seiner Denkbarkeit, also für uns, nicht jedoch in seiner Existenz, d. h. an sich. Ein Objekt, das sich jeder Vermittlung sperrt, ist zwar für das Denken eine harte Nuss, aber nicht per se ein Widerspruch in sich. „In Unmittelbarkeit liegt nicht ebenso deren Vermitteltsein wie in der Vermittlung ein Unmittelbares, welches vermittelt würde. Den Unterschied hat Hegel vernachlässigt. [...] Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes; Unmittelbarkeit selbst aber steht für ein Moment, das der Erkenntnis, der Vermittlung, nicht ebenso bedarf wie diese des Unmittelbaren.“

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Dieses Ungleichgewicht im Prozess der Vermittlung – dass also das Subjekt mehr und anders auf das Objekt angewiesen ist als umgekehrt – ist die entscheidende Entdeckung, die einer materialistischen Dialektik allererst eine Grundlage verschafft; einzig mit ihrer Hilfe gelingt es Adorno, sich dem Hegelschen System zu entwinden. Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist das Motiv der Öffnung, wie es im Aufweis des beschriebenen Ungleichgewichts angelegt ist. Die Relativierung der Vermittlung führt dem Subjekt vor Augen, dass es nicht endogam in sich selber kreisen kann, sondern im Gegenteil auf sein Gegenüber zugehen und sich ihm öffnen muss. Ein Denken, das sich seiner Autarkie rühmte, wäre steril; das Ziel aller Erkenntnis muss deshalb darin bestehen, Fühlung mit dem Gegenstand aufzunehmen. Gelingt es, so resultiert daraus Erfahrung im emphatischen Sinne: Verständigung zwischen Differentem, dergestalt, dass in der Beziehung die Differenz unangetastet bleibt. Ausgehend von dieser Einsicht können wir jetzt genauer bestimmen, was „Verarmung der Erfahrung“ eigentlich heißt: es bedeutet, dass unter dem Primat der Naturbeherrschung das Subjekt den Gegenstand mehr abwehrt als ihn an sich heranzulassen, ihn verformt statt sich ihm anzuschmiegen, seinen Anspruch missachtet; mit der Folge, dass er immer weiter zurückweicht

17 Ebd. S. 173 f.; vgl. ebd. S. 184. – Es versteht sich von selbst, dass nun das Unmittelbare nicht seinerseits hypostasiert werden darf; die Kritik an der alten intentio recta verliert keineswegs ihre Gültigkeit.

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und wir am Ende nur eine leere Hülle – das Allgemeine und Exemplarische an ihm, jeder Besonderheit beraubt – in Händen halten. Im Identifikationsprozess schiebt sich die subjektive Ordnung vor die Erfahrung der Sache. Erforderlich ist deshalb, die Ordnung zu durchbrechen, in der Hoffnung, jenseits ihrer auf den Gegenstand – freilich nun als nichtidentischen – zu stoßen. Diese Öffnung in Richtung auf das Nichtidentische ist ein Motiv der negativen Dialektik, an das die Ataxiologie anknüpfen kann. Adorno legt überzeugend dar, dass wir die Ebene von Identität und Ordnung verlassen müssen, wenn wir in einer ungeschmälerten Erfahrung an den unverzerrten Gegenstand rühren wollen. Freilich gilt es, den Status der Rede von der Nichtidentität genauer zu prüfen; unklar ist vor allem, ob sich das Nichtidentische erst im Zuge der Öffnung und aufgrund ihrer konstituiert, oder ob es schon vorher „da“ ist. Es gibt in der Negativen Dialektik Passagen, die, indem sie die ursprüngliche Gegebenheit des Objekts in Frage stellen, für die erste Möglichkeit zu sprechen scheinen. Besonders ein Abschnitt, der sprechend „Objekt kein Gegebenes“ überschrieben ist, enthält Äußerungen in dieser Richtung, etwa: „Was Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv, unmittelbar vorhanden.“18 Erinnert dieser Satz nicht an das Diktum von Saussure, in der Sprache gebe es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder?19 Und müsste man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass für Adorno das Objekt ursprünglich eine amorphe Masse ist, ein formloser, unbestimmter und ziemlich ekelhafter Klumpen, der erst im Zusammenspiel mit dem Subjekt Gestalt annimmt und sinnliche Qualitäten gewinnt? Ist Adorno also ein „Konstruktivist“? Ein Blick in den Kontext der zitierten Äußerung zeigt, dass wir hier nicht vorschnell urteilen dürfen. Die These, das Objekt sei uns nicht einfach gegeben, richtet sich an Ort und Stelle gegen eine positivistische Wissenschaftspraxis, die ihre Gegenstände auf protokollierte Sinnesdaten reduziert. Gegen diesen (Trivial-) Sensualismus hebt Adorno mit Recht hervor, dass Empirie im anspruchsvollen Sinne, verstanden als Erfahrung mit dem Gegenstand, der reflektierenden Tätigkeit des Geistes bedarf. Aber damit ist nicht gesagt, dass sich der Gegenstand in einer solchen Reflexion allererst konstituieren würde; im Gegenteil erklärt der Text

18 Ebd. S. 187-190, hier S. 189. 19 Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 143 f.

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ausdrücklich, die Sache selbst sei „keineswegs Denkprodukt“20. Will heißen: auch wenn uns der Gegenstand nicht in der Weise unmittelbar vorliegt, dass wir ihn nur abzubilden brauchten, kommen ihm gleichwohl seine Bestimmungen an sich zu und werden ihm nicht erst vom Subjekt angeheftet (etwa als „sekundäre Qualitäten“). In einer nicht verarmten Erfahrung würde sich deshalb das Subjekt in reflektierender Weise auf den Gegenstand einlassen und vorsichtig tastend seiner vorhandenen, wenngleich „zugehängten“21 Qualitäten gewahr werden. Da dies kein konstruierender, sondern ein mimetischer Vorgang ist, darf man den Begriff der Nichtidentität keinesfalls konstruktivistisch missverstehen. Bleibt abschließend die Frage: was steht eigentlich einer ungeschmälerten Erfahrung im Wege? Adorno zufolge die Realität selber. Es sind die vielfältigen gesellschaftlichen Zwänge, die uns vom Gegenstand in seiner unverzerrten Gestalt trennen und die Suche nach Wahrheit zu einem utopischen Unterfangen werden lassen. Theorie der Erkenntnis kann sich deshalb nicht bei sich selber beruhigen, sie muss in Gesellschaftskritik übergehen. An dieser Stelle kommt folglich das Herrschafts-Argument ins Spiel: wenn sich die geschichtlich gewordene Ordnung als repressiv erweist, so kann nur eine unnachgiebige Herrschaftskritik den Bann lösen.

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M ACHT

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Dass die bestehende gesellschaftliche Ordnung von Herrschaft geprägt ist, hat für die traditionelle „linke“ Theorie ökonomische Ursachen. Dieser Denkansatz sieht seit Marx (und bis hin zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule) die Vorgänge der wirtschaftlichen Produktion als die Basis einer Gesellschaft an, auf der sich die Gesetze und politischen Institutionen einerseits, die kulturellen Errungenschaften andererseits wie ein Überbau erheben. Die Herrschaft kommt dadurch ins Spiel, dass die für die Naturbeherrschung erforderliche Arbeitsteilung in Verbindung mit dem Privatbesitz an Produktionsmitteln die Gesellschaft in zwei Klassen spaltet – Bourgeoisie und Proletariat –, die einander unversöhnlich gegenüberstehen und

20 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 189. 21 Vgl. ebd.

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deren eine ihre Macht zur Ausbeutung der anderen ausnutzt. Ganz konkret manifestiert sich die Ausbeutung in der Aneignung des vom Lohnarbeiter produzierten Mehrwerts durch den Bourgeois, eine Aneignung, die jedoch durch die Gegebenheiten des Marktes – beispielsweise die Notwendigkeit fortwährender Innovation – erzwungen ist. Die Herrschaft ist also der Theorie zufolge systembedingt, das heißt, ihre Ursache liegt nicht im subjektiven Profitinteresse des Kapitalbesitzers, sondern in der objektiven Konkurrenzsituation in der kapitalistischen Warenwirtschaft; folglich ist ihr nicht moralisch beizukommen durch eine Läuterung des Kapitalisten, sondern nur politisch durch einen Umsturz. Den oben angedeuteten Zusammenhang zwischen Gesellschaftstheorie und Erkenntniskritik hat für die Kritische Theorie Alfred Sohn-Rethel ausgearbeitet, dessen Arbeiten in den dreißiger Jahren großen Eindruck auf Adorno gemacht haben, auch wenn sie erst viel später publiziert werden konnten. In einer charakteristischen Engführung von Philosophie und Ökonomie, insbesondere von Kant und Marx zeigt Sohn-Rethel, dass Warenform und Denkform in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Seine These lautet, dass „die begrifflichen Erkenntnisformen [...] formell ableitbar sind aus [...] der Ebene der gesellschaftlichen Existenz“, und er begründet seine Behauptung mit dem Aufweis, dass die virtuelle Abstraktion im Denken „der Einwirkung der gesellschaftlichen Realabstraktion der Tauschhandlung geschuldet“ ist.22 Mit anderen Worten: dem Kantischen Modell der Synthesis des reinen Verstandes liegt unbewusst die gesellschaftliche Synthesis im Tausch zugrunde. Sohn-Rethel kommt so zu dem Schluss, „daß das rationale Denken als gesellschaftlich notwendig bedingtes Denken erklärbar ist, so, daß seine gesellschaftliche Bedingtheit sich als der Grund seines Geltens erweist“23. Der Vorgang, dass auf dem Markt Waren den Besitzer wechseln, ist also deshalb paradigmatisch, weil die Individuen darin ein Verhalten einüben, das auf ihre kognitiven Prädispositionen zurückwirkt. Insbesondere findet im Tausch jene Abstraktion von den Besonderheiten der Sache, ihre Reduktion auf den nackten Marktwert statt, die auch für die identifizierenden Akte der wissenschaftlich-technischen Denkweise kennzeichnend ist, die gleichfalls die Vielzahl der Quali-

22 Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 15 /21. 23 Ders., Warenform und Denkform, S. 74 (Hervorhebungen gemäß Original).

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täten wegschneidet und die Sache auf ihren verwertbaren Nutzen reduziert. In beiden Fällen wird Verschiedenartiges gewaltsam auf einen Nenner gebracht. In einer späteren Formulierung von Adorno: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.“

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Bei dieser Äußerung hat es nun zunächst den Anschein, als würde Adorno lediglich das Modell von Sohn-Rethel fortschreiben. Ein genauerer Blick offenbart jedoch, dass hier eine Verschiebung stattgefunden hat: während Sohn-Rethel eine Kausalbeziehung zwischen Warenform und Denkform veranschlagt, sieht Adorno ein Verhältnis der Wechselwirkung. Die Relevanz dieser Differenz liegt darin, dass Sohn-Rethel, indem er die gesellschaftlich-ökonomische Ebene als Grundlage ansetzt und die Erkenntnisformen für daraus ableitbar hält, am Modell von Basis und Überbau festhält. Er erklärt die ökonomischen Vorgänge in der bürgerlichen Gesellschaft – die Kapitalbildungs- und -verwertungsprozesse, das Schicksal der großen Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, auf dem Markt die einzige Ware feilzubieten zu müssen, die ihnen im Zuge von Industrialisierung und Verstädterung geblieben ist, nämlich ihre Arbeitskraft, schließlich das Phänomen der Aneignung des Mehrwerts durch den Unternehmer – auf gut marxistisch zum Fundament, von dem die Phänomene des kulturellen Überbaus – Kunst, Wissenschaft, Weltanschauung, Brauchtum – jederzeit abhängig seien. Demgegenüber geht Adorno von einer Mehrzahl gleichberechtigt nebeneinanderstehender Sphären aus, die sich in einer Weise gegenseitig bedingen und beeinflussen, dass keine von ihnen den Primat beanspruchen kann. Er leugnet keineswegs die Bedeutung der angeführten ökonomischen Phänomene und betont im Gegenteil oft genug das Leiden, dass sie verursachen. Aber er bestreitet, dass sich die Kultur in ein einsinniges Abhängigkeitsverhältnis von der Ökonomie bringen lässt, und verabschiedet damit implizit die Theorie von Basis und Überbau. Die besagte

24 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 149.

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Differenz impliziert also, dass Adorno sich – jedenfalls im Vergleich zu Sohn-Rethel – stillschweigend von originär marxistischen Positionen entfernt. Ähnliches gilt für das Theorem von der Klassenstruktur der Gesellschaft. Während Marx selber, den Zeitumständen entsprechend, von der für den Frühkapitalismus charakteristischen krassen Zweiteilung in Bourgeoisie und Proletariat ausging und noch Georg Lukács in seinem für den Marxismus des 20. Jahrhunderts so bedeutsamen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein an der Vorstellung vom Proletariat als revolutionärer Klasse mit weltgeschichtlicher Mission festhielt, ist für Adorno der Differenziertheit der heutigen Sozialstruktur mit dem simplen Modell eines ZweiKlassen-Antagonismus nicht beizukommen. Folglich lässt er stillschweigend das Motiv fallen, dass der Impuls zur Veränderung von einer bestimmten Klasse ausgehen müsse. Vollends ist für ihn die Verelendungstheorie anathema, die Marx seinerzeit allzu unbedenklich von Ricardo übernommen hatte; selbst der gegenwärtig beliebte Versuch, sie auf den Nord-Süd-Konflikt zwischen reichen und armen Ländern zu übertragen, scheitert angesichts der Komplexität der Verhältnisse. Die Konsequenz kann nur sein, Herrschaft nicht länger als Beziehung zwischen zwei Gruppen – Herrschenden und Beherrschten – zu verstehen, sondern als Struktur, als Ordnungsprinzip des sozialen Körpers. Es geht nicht um die Frage, wer von der Herrschaft profitiert und wer unter ihr leidet, sondern um den Aufweis, dass die bestehende Ordnung insgesamt die Beziehungen zwischen den Menschen verhext und eine gerechte Einrichtung des Ganzen unmöglich macht. In der Tat gibt es bei Adorno Ansätze zu einer derartigen Generalisierung des Herrschaftsbegriffs, beispielsweise in dem Lexikonartikel ,Gesellschaft‘, einer komprimierten Fassung seiner Gesellschaftstheorie: „Die Abstraktheit des Tauschwerts geht vor aller besonderen sozialen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen.“25 Diese Äußerung lässt sich durchaus als Absage an das Klassentheorem verstehen, insofern die Herrschaft einem Fluch ähnelt, der auf dem Gemeinwesen im Ganzen lastet. Um den Bann zu brechen bedarf es nicht des Kampfes einer Klasse gegen eine andere – ein solcher Kampf würde im Gegenteil per se schon

25 Adorno, Art. ,Gesellschaft‘. Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 13 f.

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die Herrschaftsstrukturen reproduzieren –, sondern einer Anstrengung aller zur gemeinschaftlichen Überwindung des falschen Systems. Allerdings ist festzustellen, dass Adorno gelegentlich doch wieder auf das alte Denkschema der Mächtigen und der ihnen Unterworfenen zurückgreift; so heißt es im selben Artikel wenig später: „Subjektiv verschleiert, wächst objektiv der Klassenunterschied vermöge der unaufhaltsam fortschreitenden Konzentration des Kapitals an. [...] Während die Konsumgebräuche einander sich annähern – von je bändigte die bürgerliche Klasse, außer in gelegentlichen Gründerzeiten, die Ausgaben zugunsten der Akkumulation –, ist die Differenz von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht größer wohl als je zuvor.“26 Hier wird der Klassenbegriff eigentümlich unreflektiert übernommen. Dieses Schwanken Adornos in seinem Verhältnis zur Theorie des Klassenkampfes ist wohl nur psychologisch zu erklären (nämlich, wie im Fall der Psychoanalyse, mit seiner Bewunderung für große Theorien, wider bessere Einsicht); in der Sache ist es in keiner Weise gerechtfertigt. Eindeutig hingegen und gänzlich unabhängig von der marxistischen Doktrin ist seine Haltung in der Frage nach einer aktiven Veränderung der Gesellschaft. Die Abschaffung von Entzweiung, Ausbeutung und Repression ist für ihn wie für jede linke Theorie das Ziel aller kritischen Bemühungen, aber nach seiner Einschätzung sind wir von der Möglichkeit wirkungsvoller Eingriffe zur Zeit so weit entfernt, dass uns der unmittelbare Übergang zur Praxis versagt ist. „Wer nichts tun kann, ohne dass es, auch wenn es das Bessere will, zum Schlechten auszuschlagen drohte, wird zum Denken verhalten. [...] Praxis [sc. ist] auf unabsehbare Zeit vertagt.“27 Was Adorno zufolge dem kritischen Intellektuellen gegenwärtig einzig bleibt, ist, mittels schonungsloser Analyse wieder und wieder die Negativität des Bestehenden aufzuzeigen und kraft seiner mahnenden Stimme das Bewusstsein für die Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte, wachzuhalten. Praktische Veränderungen hingegen und fröhlicher Aktivismus sind zum Scheitern verurteilt. Das liegt daran, dass jedes Eingreifen – der Versuch lokaler Verbesserung – notwendig partikular bleibt, das fundamentale Problem aber in der Falschheit des Ganzen liegt; und eben dieses Ganze gleicht zur Zeit einem monolithischen Block, an dem jeder Versuch einer

26 Ebd. S. 15 f. 27 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 243 f. und S. 15.

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Veränderung wirkungslos abprallt und zerschellt. Für den naheliegenden Einwand, seine Haltung sei resignativ, hat Adorno die passende Retourkutsche parat: Resignation sei bei denjenigen zu diagnostizieren, die sich mit kleinen örtlichen Zugeständnissen – oder, wie manche Akteure der 68-er Studentenrevolte, mit noch weniger: der „Aktion“ selber – zufriedengeben und darüber das große Ziel, die Versöhnung, aus den Augen verlieren. Das Standhalten gegen die Herrschaft beginnt für Adorno im Denken und empfängt von dort auch die Maßstäbe für seinen Erfolg. Primat der Ökonomie, Doktrin des Klassenkampfes, Übergang zur Praxis: drei Punkte, in denen sich Adorno vom orthodoxen Marxismus einerseits, von den diffusen linken Strömungen der sechziger Jahre andererseits merklich unterscheidet. Die Pointe ist jedoch, dass bei allen Differenzen die drei Ansätze sich im zentralen Punkt einig sind: sie sehen die bestehende soziale Ordnung als repressiv an. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, so die übereinstimmende These, ist auch dort, wo sie ihre Mitglieder scheinbar untadelig versorgt, von einer menschengerechten Einrichtung weit entfernt. Das liegt daran, dass die enormen Potentiale, die die Menschheit durch das Zusammenwirken von Industrialisierung und wissenschaftlich-technischem Fortschritt angehäuft hat, nicht dazu genutzt werden, dem Individuum einen größtmöglichen Freiraum zu verschaffen und den auf ihm lastenden Druck zu minimieren. Im Gegenteil besteht der Zwang zu Leistung und Anpassung unvermindert fort, und eine ausgewogene Verteilung des Reichtums ist nicht in Sicht, weltweit betrachtet noch nicht einmal die Beseitigung unmittelbarer Lebensnot. Die drei Ansätze sind sich überdies einig, dass derartige Missstände und Fehlentwicklungen nicht zufällig oder vorläufig, sondern dem kapitalistischen System eingeschrieben sind. Folglich hieße auf dessen Selbstheilungskräfte zu vertrauen den Bock zum Gärtner zu machen. Zielscheibe der Kritik ist deshalb die bürgerliche Ordnung selber. Diese gilt ob ihrer repressiven Grundtendenz als unreformierbar und damit abschaffungswürdig. Dass es sich hier um einen ataxiologisch bedeutsamen Befund handelt, liegt auf der Hand. Wir haben es mit einer vehementen Spannung zu tun: zwischen der faktisch-geschichtlichen Unhintergehbarkeit einer Ordnung auf der einen Seite und ihrer rabiaten Grundsatzkritik auf der anderen. Das erste Opfer dieser Spannung ist die Kontemplation: das Denken kann von nun an nicht mehr beschaulich in sich selber ruhen, es drängt von innen heraus zu seiner praktischen Umsetzung. Marx hat in seinen Feuerbachthesen dies als erster innerviert. Wie

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freilich die konkreten Schritte zur angestrebten Fundamentalrevision der Gesellschaft aussehen könnten; ob die bestehende Ordnung durch eine andere ersetzt oder jegliche Ordnung überhaupt überwunden werden soll, dazu gibt es im linken Spektrum nur recht vage Auskünfte (von den einst etablierten kommunistischen Parteien einmal abgesehen). Insbesondere die Kritische Theorie hat sich in diesem Punkt merklich zurückgehalten und unter Berufung auf das jüdische Bilderverbot jeden Versuch unterlassen, die Utopie vorzeitig auszupinseln. Der Schwerpunkt lag immer auf der Kritik der bestehenden Ordnung, deren repressiver Charakter nie angezweifelt wurde; was jenseits ihrer sein mochte, das konnte oder durfte nicht antizipiert werden. Allein, ist die Repressivität der Ordnung wirklich evident? Foucault hat in seinen Arbeiten der siebziger Jahre diese scheinbar unstrittige These in Frage gestellt. Seine Analytik der Macht zielt auf den Nachweis, dass die Vorstellung naiv und unhaltbar ist, wir hätten es auf der einen Seite mit einem unbändigen, vor Leben und Energie überschäumenden Individuum zu tun und auf der anderen Seite mit einer tristen, rigiden Verbotsmacht, deren einziges Ziel darin besteht, sämtliche Lebensäußerungen zu unterdrücken. Seine Gegenthese, die er in einer Geschichte der Sexualität anhand von historischem Material zu erhärten versucht (und die er vielleicht ein wenig missverständlich formuliert), lautet, dass seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine starke Zunahme von „positiven Machttechnologien“28 festzustellen sei, die sich nicht lange mit Verboten und Zensurmaßnahmen aufhalten und statt dessen selber produktiv werden. Seine Lieblingsreferenz ist das berühmt-berüchtigte Viktorianische Zeitalter, dessen Prüderie ja sprichwörtlich geworden ist und das insofern ein Musterbeispiel für die Repressionshypothese zu sein scheint. Was liegt näher als die Behauptung, dass unter dem Zeichen der englischen Königin die sexuellen Praktiken starken Beschränkungen unterliegen und das Sprechen über den Sex zumindest in bestimmten Gesellschaftsschichten sogar völlig tabuisiert wird? De facto findet jedoch, was das zweite betrifft, für Foucault das genaue Gegenteil statt, nämlich die Anreizung zu Diskursen: „Um den Sex herum zündet eine diskursive Explosion.“29 Er hat hier die Sexual-

28 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, S. 102. 29 Ebd. S. 27.

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medizin, -psychologie und -pädagogik im Sinn, drei im 19. Jahrhundert aufkommende Disziplinen, die anfangs noch verschämt und nach Worten ringend auftreten, sich dann aber rasch etablieren und schließlich im 20. Jahrhundert mit der Psychoanalyse die vollendete Diskursivierung der Sexualität hervorbringen. Statt Zensur und Schweigen also eine neue Beredsamkeit. Entscheidend ist nun, dass es sich bei all diesen Diskursen um Machteffekte handelt und somit an ihnen die Produktivität der Macht hervortritt. Die Entstehung der genannten Disziplinen im 19. Jahrhundert ist kein Zufall, sondern aus einer spezifischen Machtkonstellation heraus zu begreifen: die Notwendigkeit einer staatlichen Kontrolle der Geburtenrate, das dafür erforderliche Wissen über das Sexualverhalten, die aus diesem Wissen erwachsende Möglichkeit regulierender Eingriffe etc. In solchen Konstellationen äußert sich Macht weniger in sterilen Verboten, als dass sie selber aktiv und sogar schöpferisch wird. Um dieses produktive Moment auch terminologisch anzuzeigen verwendet Foucault den Ausdruck Macht (pouvoir) statt Herrschaft (domination). Das angedeutete mögliche Missverständnis bezieht sich auf die Rede von der Positivität der Macht, eine Formulierung, die auf eine affirmative Haltung Foucaults schließen lassen könnte. Offenbaren seine Ausführungen eine heimliche Bewunderung für „die Macht“? Nein, in keiner Weise; seine kritische Grundhaltung ist im Gegenteil über jeden Zweifel erhaben. Zwar stimmt es, dass in der Analytik ein Außerhalb der Macht nicht vorgesehen und die Macht somit überall ist, aber diese Ubiquität impliziert in keiner Weise, dass der Mensch ihr hilflos ausgeliefert wäre (was dann, psychologisch nur allzu verständlich, in Bewunderung umschlagen würde). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass er zwei konkurrierende Auffassungen auf einmal bekämpft. Auf der einen Seite wendet er sich gegen die Vorstellung eines vermeintlich unversehrten Freiraums jenseits aller Machtbeziehungen. Mit Nietzsche hält er diese Vorstellung für eine Illusion, und für eine schlechte obendrein. Eine herrschaftsfreie (Privat-) Sphäre ohne soziale Zwänge – das ist ja gerade das Trugbild, mit dem in der bürgerlichen Gesellschaft Machtverhältnisse drapiert werden, um ihnen Akzeptanz zu verschaffen. Jede Ideologiekritik hat hier leichtes Spiel, die gesellschaftliche Vermitteltheit aller Beziehungen aufzuzeigen, auch der vermeintlich privaten. Auf der anderen Seite bekämpft Foucault aber ebenso die konträre Position, die den Menschen ausweglos in den Netzen der Macht gefangen sieht (etwa nach dem Motto: „Ihr seid ja immer

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schon in der Falle“).30 Seine Gegenthese zu dieser Position: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“31 Im Unterschied zur Herrschaft, die immer hierarchisch gedacht wurde, entfaltet Macht ihre Wirkungen nicht bloß in eine Richtung – vom Herrn zum Knecht, vom Zentrum zur Peripherie, vom Kapital zur Arbeit –, sondern sie kommt „von unten“, wuchert in unüberschaubarer Vielfalt, verzweigt sich in alle Richtungen und bildet schließlich ein Geflecht. Sie äußert sich in erster Linie in lokalen Kämpfen, dort, wo Differenzen in Kraft und Einfluss direkt ausgetragen werden. Der primäre Bezugspunkt der Analytik ist deshalb die molekulare Ebene („Mikrophysik der Macht“). Molare hegemoniale Strukturen wie etwa staatliche Institutionen sind demgegenüber sekundär, weil sie durch Zusammenballung vieler winziger Machteffekte entstanden sind. Gerade auf der Ebene des Kleinen und Kleinsten aber treffen Machtäußerungen ständig auf ihnen entgegengesetzte Kräfte, d. h. auf Widerstand. Dadurch, dass sie anarchisch durcheinanderwuchern, lassen sie Konfrontationen unvermeidlich werden. Daraus folgt zum einen, dass der Widerstand nicht das Andere der Macht ist und nicht außerhalb ihrer steht, sondern selber Macht ausübt, wenn auch in reagierender Weise. Und zum anderen wird jetzt deutlich, warum Foucault keinesfalls als Fatalist oder Pessimist der Macht tituliert werden darf: die Allgegenwart der Macht bedeutet nicht, dass der Mensch hilflos in ihr gefangen wäre; im Gegenteil impliziert sie die Möglichkeit von lokalem Widerstand und damit die Aussicht auf Befreiung. Gerade weil die Macht von überall ausgeht und nicht bloß von der fernen Spitze einer Hierarchie, ist es möglich, ihr an Ort und Stelle etwas entgegenzusetzen. Freilich erfordert diese Sichtweise eine Revision des Freiheitsbegriffs: es geht nicht um Freiheit von der Macht, sondern um Befreiung in Machtverhältnissen; die Ziele des Widerstands sind relativ zu den Gegebenheiten zu formulieren, nicht absolut im Hinblick auf ein Ideal oder eine Utopie. Foucault zieht hieraus die Konsequenz und entwickelt eine neue Konzeption von praktischem Eingreifen; insbesondere entwirft er ein verändertes Bild des engagierten Intellektuellen. Der klassische Intellektuelle, der von Zola bis Sartre als Mahner auftrat, als Sprachrohr des kollektiven Gewissens, als Anwalt derjenigen, die sich nicht selber Gehör verschaffen

30 Vgl. dazu ebd. S. 103. 31 Ebd. S. 116.

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können, ist für ihn nicht länger tragbar. Das liegt daran, dass dieser Typus – Foucault spricht vom Universalintellektuellen – einen umfassenden Anspruch erhebt, der in groteskem Verhältnis zu seinen Kompetenzen steht. In der Regel sind es ja Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, die sich in der beschriebenen Weise medienwirksam engagieren, also Personen des öffentlichen Lebens, die sich ursprünglich durch Romane, Kunstwerke, wissenschaftliche Arbeiten oder dergleichen eine bestimmte Reputation verschafft haben. Zu Intellektuellen werden sie, indem sie das derart angehäufte „symbolische Kapital“ (Bourdieu) auf dem Terrain des Politischen zur Geltung bringen, es also gleichsam reinvestieren. Sie äußern sich normativ zu Fragen und Problemen, die aktuell in der öffentlichen Meinung diskutiert werden (oder diskutiert werden sollten), pochend auf die moralische Autorität, die ihnen durch Nobelpreise und andere Auszeichnungen zugewachsen ist. Das Problematische an dieser Art von Engagement ist, dass oft nur eine lockere Beziehung besteht zwischen dem Feld, auf dem der Betroffene seine Meriten erworben hat, und den praktischen Fragen, zu denen er Stellung bezieht. Seinen Äußerungen haftet oftmals etwas Dilettantisches an. Die Crux ist der umfassende Anspruch, der dazu führt, dass der Universalintellektuelle potentiell zu jeder öffentlich diskutierten Frage seine Wertungen kundgibt. In einigen Arbeiten zu Beginn der siebziger Jahre fordert Foucault deshalb den spezifischen Intellektuellen, der nur in solche Debatten eingreift, zu denen er aufgrund von Fachkenntnissen kompetente Beiträge liefern kann. Sein Beispiel ist der Atomphysiker Oppenheimer, dessen demonstrative Weigerung, bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe mitzuwirken, auf anerkannten fachlichen Qualifikationen beruhte und so in den fünfziger Jahren eine neue Dimension von Glaubwürdigkeit erschloss. Der spezifische Intellektuelle ist ein lokaler Experte, der sein thematisch begrenztes Fachwissen öffentlich auf seine gesellschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen hin befragt, im Unterschied zum Schriftsteller mit seiner laienhaften Universalkompetenz. – Gegen Ende der siebziger Jahre ist Foucault aber auch mit dieser Konzeption unzufrieden und geht noch einen Schritt weiter. Seine Kritik richtet sich nun allgemein gegen die Figur eines Wortführers (porte-parole), der mit flammenden Plädoyers die angeblich träge Masse in Bewegung zu versetzen sucht (und sich ganz nebenbei selber mächtig in Szene setzt). Das Gegenmodell, das er anbietet, geht im Einklang mit der Machtkonzeption davon aus, dass auch Engagement und Widerstand „von unten“ kommen müssen und dass folg-

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lich das zählt, was in sozialen Bewegungen an der Basis geschieht, und nicht das Pathos eines narzisstischen Vorredners. Intellektueller zu sein heißt jetzt, als jemand, der in lokale Kämpfe involviert ist, handlungsrelevante Denkanstöße zu geben. Mit der traditionellen Wortführerschaft hat das wenig zu tun, denn worauf es ankommt, ist nicht die Medienpräsenz, sondern die Partizipation. Statt eines Reichs der Freiheit jenseits der Macht also „nur“ die Erfahrung des Kampfes im lokalen Widerstand, statt brillanter öffentlicher Auftritte des Intellektuellen seine unscheinbare Teilnahme an sozialen Bewegungen – im Foucaultschen Ansatz waltet ein Moment von Bescheidenheit. Was nun die ataxiologische Fragestellung betrifft, hat es zunächst den Anschein, als würde die Analytik der Macht zur Frage nach dem Jenseits der Ordnung nichts beitragen. Schließt nicht die These von der Allgegenwart der Macht eine jenseitige Dimension kategorisch aus? Das stimmt, aber man darf Macht und Ordnung nicht verwechseln. So sehr die Vorstellung eines Freiraums außerhalb der Macht zu negieren ist32 und jede Verfestigung der Machtbeziehungen bestehende Ordnungsmuster verstärkt und prolongiert, ist doch durch die prinzipielle Ansetzung von Widerstandspunkten im Machtnetz die Ordnung virtuell von Anbeginn transzendiert. Einerseits beruht jede soziale Ordnung auf Macht, andererseits ist in der Verflechtung von Macht und Widerstand die Fragilität derselben Ordnung bereits inbegriffen. Das Bedeutsame an der Analytik der Macht ist deshalb, dass sie erlaubt, ein Jenseits der Ordnung zu denken, ohne an die Wunschvorstellung einer machtfreien Idylle zu appellieren. Das Jenseits kommt in den Machtbeziehungen paradox formuliert gleichsam im Innern vor: jeder Widerstand impliziert ein Aufbegehren, das zwar nicht die Macht, wohl aber die Ordnung in Frage stellt, unter Umständen radikal. Die Gedankenfigur, die hier am Werk ist, erinnert an einen rätselhaften Satz von Derrida: 32 „Il n’y a pas de hors-pouvoir“ (Es gibt kein Außerhalb der Macht), wie man versucht ist zu sagen. Dieser Satz stammt jedoch nicht von Foucault, sondern von Derrida, und lautet bei ihm: „Il n’y a pas de hors-texte.“ („Ein Text-Äußeres gibt es nicht.“ Derrida, Grammatologie, S. 274 [frz. De la grammatologie, S. 227, im Original hervorgehoben]) Die sich an dieser Stelle aufdrängende Frage nach einer Strukturanalogie zwischen den philosophischen Entwürfen von Foucault und Derrida erörtert Kai Hochscheid in seinem Aufsatz Philosophie und Kunst (S. 25 ff.).

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„Ihr Rand war an ihrem eigenen Körper gekennzeichnet.“33 Es geht um einen Rand, einen Saum, ein Ufer, aber es handelt sich nicht um eine Abgrenzung nach außen im gewöhnlichen Sinne. Letzteres ist in der marxistischen Theorie der Fall, wo ja bürgerliche und sozialistische Gesellschaft durch klare Markierungen voneinander abgegrenzt sind, sei es in zeitlicher Hinsicht (der Tag der Revolution, von Benjamin mit der Ankunft des Messias in Verbindung gebracht), sei es im Hinblick auf das ökonomische System der Gesellschaft (Kapitalismus vs. freie Assoziation der Produzenten). Noch Adornos Rede von der Versöhnung bedient sich der Figur der äußerlichen Gegenüberstellung zweier deutlich verschiedener Zustände. In der Analytik der Macht hingegen verläuft die Grenze im Innern. Ähnlich wie im Zusammenhang mit der Erfahrung findet eine Öffnung statt, aber diesmal nicht extrinsisch in Richtung auf das schlechthin Andere (das Objekt, die herrschaftsfreie Gesellschaft, Gott etc.), sondern intrinsisch mit dem Ziel, die in der Macht selber angelegten Gegenkräfte zur Geltung kommen zu lassen. Dadurch wird die Ordnung auf neuartige Weise in Frage gestellt: der allerorten und permanent sich regende Widerstand untergräbt ihr Fundament und bringt sie ins Wanken. Dieses Motiv der intrinsischen Öffnung ist ein wichtiger Fingerzeig für die ataxiologische Fragestellung. Die Analytik der Macht zeigt, dass es keines eigenständigen Reichs der Freiheit bedarf, um in Fragen der Gesellschaftskritik praktisches Engagement auf eine theoretische Grundlage zu stellen. Dadurch, dass beide, die Macht und der ihr korrespondierende Widerstand, dezentral gedacht werden, entfällt die Notwendigkeit eines äußeren Orientierungspunktes, und die Aufmerksamkeit kann sich auf die lokalen Auseinandersetzungen richten. Auch wenn es daher zur Macht kein Außerhalb gibt, ist in den Kämpfen ein Jenseits der Ordnung jederzeit virulent. Summa summarum haben wir es bei der Foucaultschen Machtanalytik einerseits und den kritischen Gesellschaftstheorien von Marx bis Adorno andererseits mit zwei verschiedenen Varianten des Herrschafts-Arguments zu tun. Diese beiden Varianten sind sich einig, dass die bestehende Gesellschaftsordnung einer Veränderung bedarf und dass die Veränderung nur durch praktisches Eingreifen bewirkt werden kann; ferner, dass Philosophie

33 Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 154.

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nur so lange legitim ist, wie sie im Horizont ihrer Möglichkeiten – denen von Theorie und Kritik – grundsätzlich auf ein Engagement in der Praxis bezogen bleibt. In beiden Varianten richten sich die Invektiven gegen die (bürgerliche) Ordnung als solche, deren relativer Nutzen zwar angesichts ihres derzeitigen Funktionierens anerkannt, der aber vorgeworfen wird, von der Verwirklichung ihrer eigenen, in der Aufklärung wurzelnden Ideale weit entfernt zu sein. Der Unterschied zwischen den Varianten lässt sich am Gegensatz von extrinsischer und intrinsischer Öffnung festmachen: in den Theorien, die in der Tradition von Marx stehen, werden negative Gegenwart und verheißungsvolle Zukunft äußerlich einander gegenübergestellt, als unterschiedliche Zeitalter, unterschiedliche Gesellschaftssysteme etc., mit der Revolution als entscheidendem Wendepunkt; hier findet zwar eine öffnende Abkehr von der bestehenden Ordnung statt, aber es handelt sich, was die Gedankenfigur betrifft, ganz konventionell um eine Öffnung nach außen. Bei Foucault hingegen geschieht die Öffnung wie gezeigt nach innen: da die Analytik einerseits ein Außerhalb der Macht leugnet (da zeigt sich der Einfluss Nietzsches), andererseits aber von einem kritischen Impuls getragen ist (da schlägt das Marxsche Erbe durch), bleibt nur, zur Subversion der Ordnung jene Gegenkräfte zu mobilisieren, die in der Macht selber angelegt sind. Beiden Varianten geht es um die Befreiung des Menschen, um die Abschaffung ungerechter und inhumaner Verhältnisse, aber hinsichtlich der Mittel des Kampfes gehen die Vorstellungen auseinander. Das liegt an den sehr verschiedenen Begriffen von Macht bzw. Herrschaft: während für die Kritische Theorie die repressive Ordnung wie ein Fluch auf den menschlichen Verhältnissen lastet und infolgedessen die Beseitigung jeglicher Herrschaft angestrebt wird – Adornos sehnsüchtiger Wunsch ist, „[...] daß der Bann der Gesellschaft einmal doch sich löse“34 –, findet für Foucault jede Entfaltung menschlicher Fähigkeiten innerhalb von Machtverhältnissen statt, denen es folglich nicht zu entfliehen sondern subversiv zu widerstehen gilt. Im Weiteren werden wir diese Mehrschichtigkeit des Herrschafts-Arguments im Blick behalten müssen.

34 Adorno, Art. ,Gesellschaft‘, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 19.

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E) IM

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S IGNIFIKANTEN

Das sechste Argument, das letzte unserer Liste, handelt von den Zeichen und ihrer Ordnung. Hier ist aus der Warte des Common sense, im Einklang mit der philosophischen Tradition, zunächst kein Problem zu erkennen. Was spricht dagegen, das Zeichen als Repräsentation des Bezeichneten zu verstehen? So dass die Ordnung der Dinge und die Ordnung der Zeichen im schönsten Adäquationsverhältnis stehen? In der Tat haben sich die Philosophen während vieler Jahrhunderte auf dieses Entsprechungs- und Referenzmodell verlassen. Sie haben es lediglich in einem Punkt verfeinert und zwischen das Zeichen und die Sache die vermittelnde Instanz des Begriffs eingeschoben. Der Grund hierfür ist leicht einzusehen: wenn wir die Sache umstandslos mit dem Referenten, also dem je einzelnen Gegenstand gleichsetzen, dann erfasst die Theorie nur eine spezifische Art von Zeichen, nämlich die Eigennamen. Wir haben dann immer nur Zeichen vom Typus ,Sokrates‘ und niemals vom Typus ,Mensch‘. Diese Beschränkung entfällt, sobald wir als das zu Bezeichnende die Begriffe annehmen: verallgemeinerungsfähige Vorstellungen, die eine ganze Klasse von Gegenständen umfassen. Wir gelangen so zu dem dreistelligen Modell Zeichen - Begriff Gegenstand. Nimmt man dann noch das auch dem Common sense geläufige Faktum hinzu, dass Zeichen variieren können – von einer Nationalsprache zur anderen, von einem Alphabet zum anderen etc. –, dann liest sich das beispielsweise bei Aristoteles wie folgt: „Und wie nicht alle dieselben Schriftzeichen haben, so sind auch ihre stimmlichen Verlautbarungen nicht dieselben: worauf diese Zeichen freilich allererst verweisen, das sind bei allen gleiche Seelenzustände, und ebenso sind die Dinge, denen diese entsprechen, für alle vorweg die gleichen.“

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Der Ausdruck ,Seelenzustand‘ weist auf den Umstand hin, dass es sich bei dem vom Zeichen Bezeichneten, dem Begriff, um etwas Mentales oder Geistiges handelt. Zum Phänomen der Bezeichnung gehört somit beides, die Materialität des Zeichenkörpers (die Tinte des geschriebenen, die Luftschwingung des gesprochenen Wortes) und die Idealität der bezeichneten

35 Aristoteles, De interpretatione I, 16a.

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Sache. Diese Dualität wiederholt sich in der mittelalterlichen Gegenüberstellung von signans (Bezeichnendes) und signatum (Bezeichnetes), mit dem signans als der materiellen (sinnlichen) und dem signatum als der geistigen (intelligiblen) Seite. Auch in der Philosophie der Neuzeit wurde das beschriebene dreistellige Modell lange Zeit als evident angesehen. Kanonisch geworden ist eine Formulierung von John Locke, der zufolge „Wörter Zeichen für Vorstellungen im Bewusstsein sind, Vorstellungen aber Zeichen für Gegenstände der Welt außerhalb des Bewusstseins, die mit den Wörtern ,gemeint‘ sind“36. Erneut ist die mentale Komponente das tragende Element. Selbst mit der Semiologie Ferdinand de Saussures kommt vorerst nicht wirklich Bewegung in die Zeichenkonzeption. Zwar lehnt Saussure die Gleichsetzung der Sprache mit einer Nomenklatur ab, also die Vorstellung, die Sprache würde lediglich bereits gegebene, wohldefinierte Bewusstseinsinhalte im Nachhinein mit Bezeichnungen versehen.37 Nach seiner Auffassung spielt das Zeichen bei der Begriffsbildung eine nicht bloß abbildende, sondern konstitutive Rolle; sein Gegenmodell ist deshalb eine Theorie der Artikulation, der zufolge anfangs ein amorpher, unartikulierter Bewusstseinsstrom und eine ebenso undifferenzierte Lautmasse einander gegenüberstehen und das Zeichen hier nun Gliederungen einführt und so durch Grenzziehung und Konturierung ein Einzelnes hervortreten lässt – und zwar simultan im Bewusstseinsstrom und in der Lautmasse: „Wir können also die Sprache in ihrer Gesamtheit darstellen als eine Reihe aneinander grenzender Unterabteilungen, die gleichzeitig auf dem unbestimmten Feld der vagen Vorstellung (A) und auf dem ebenso unbestimmten Gebiet der Laute (B) eingezeichnet sind. [...] Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, dass deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden 38

Abgrenzungen von Einheiten führt.“

36 Locke, Versuch über den menschlichen Verstand [1689], Bd. II, Hamburg 4 1981, S. 5. 37 Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 76 38 Ebd. S. 133 f.

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Das Zeichen steht demnach nicht in einem Verhältnis der Nachträglichkeit zum Bezeichneten, sondern wirkt aktiv bei dessen Konstituierung mit. Trotzdem läuft das Saussuresche Modell, wie die Rede von „einander entsprechenden Abgrenzungen“ verdeutlicht, letztlich doch wieder auf ein Adäquationsverhältnis hinaus. Bezeichnender Laut39 und bezeichnete Vorstellung, Signifikant und Signifikat sind eindeutig einander zugeordnet und entsprechen sich insofern. Ist das Repräsentationsmodell am Ende womöglich alternativlos? Keineswegs, und Saussure weist uns auch den Weg zu einem Gegenentwurf. Freilich müssen wir, um die Alternative in den Blick zu bekommen, sein Zeichenmodell vorübergehend auf sich beruhen lassen und statt dessen seine eigentlichen semiologischen Entdeckungen ins Zentrum unserer Überlegungen rücken: (1) die Ebene der langue und (2) den Begriff des sprachlichen Wertes (valeur). (1) Saussures wichtige Ausgangsthese lautet, dass sich die Sprachwissenschaft nicht lange bei der Vielzahl der individuellen sprachlichen Äußerungen aufhalten darf, sondern zügig zum dahinterstehenden System vordringen muss. Hierfür führt er die Termini parole und langue ein. Parole steht für die empirische Seite der Sprache, die Masse des tatsächlich Gesagten und Geschriebenen. Langue steht für das Regelwerk, das den vielfältigen Redehandlungen ermöglichend zugrunde liegt und dem jeder Sprecher – ohne sich dessen notwendig bewusst zu sein – gehorcht. Die langue ist systematisch verfasst und deshalb der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft. Sie ist nicht unmittelbar der Beobachtung zugänglich, lässt sich aber aus ihren Wirkungen – den faktischen Äußerungen, die sie gleichsam aus dem Untergrund steuert – zuverlässig erschließen. Sie ist sozial konstituiert, d. h. die Regeln entspringen einerseits der Konvention (sie sind also nicht in der Sache selbst begründet), andererseits lassen sie sich nicht ohne Weiteres durch einen Akt individueller Willkür verändern. Mit der Unterteilung der Gesamtheit sprachlicher Phänomene (langage) in parole und langue und der anschließenden Fokussierung auf die langue vollzieht Saussure in der Zeichentheorie den Wechsel vom elementaristischen zum holistischen Paradigma. Fortan geht die Semiologie weniger von den einzelnen Zeichen aus als vielmehr von dem System, in das sie ein-

39 Genauer: bezeichnendes Lautbild, image acoustique, das mentale Korrelat zum Laut.

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gebettet sind. In Verbindung mit der Theorie der Artikulation ergeben sich aus dem Paradigmenwechsel weitreichende Konsequenzen: wenn das einzelne Zeichen in seinem Funktionieren von der Gesamtheit des Zeichensystems abhängt und zugleich der Gehalt eines Zeichen aus einem Prozess der Konturierung, d. h. der Abgrenzung gegen andere Zeichen resultiert, so spielt der Bezug auf den je gemeinten Gegenstand nicht länger die Hauptrolle. Wichtig wird statt dessen das Beziehungsgefüge der Zeichen untereinander. (2) Saussure zieht hieraus die Konsequenz und führt den Begriff des sprachlichen Wertes (valeur) ein, der den Begriff der Bedeutung aus seiner Zentralstellung verdrängt. Der Ausdruck ,Wert‘ soll hierbei andeuten, dass sich der Sinngehalt eines Zeichens seiner Stellung (seinem Stellenwert) im Zeichensystem verdankt, seiner Position im Netzwerk (im Unterschied zur Referenz auf eine externe Sache). Wenn die Zeichen wie angedeutet ihre Bestimmtheit der ständigen Vergleichung mit- und Abgrenzung gegeneinander verdanken, dann zirkulieren sie ähnlich wie Münzen. Diese Bewegung in einem mehrstelligen Beziehungsgeflecht vermag der Begriff des Wertes viel besser auszudrücken als der Begriff der Bedeutung. Freilich folgt aus dem Gesagten, dass das Zeichen vor dem Zirkulationsprozess und außerhalb des Verweisungsgefüges buchstäblich nichts ist und keine Bedeutung hat. Das ist in der Tat die Konsequenz, die Saussure zieht: „Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. [...] Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der anderen 40

Zeichen um dieses herum gelagert ist.“

Diese Thesen und Schlussfolgerungen bedeuten insofern einen Einschnitt in der abendländischen Zeichentheorie, als mit ihnen das Referenz- und Repräsentationsmodell des Zeichens, das wie gezeigt während vieler Jahrhunderte maßgebend war, obsolet geworden ist. Wenn es weder auf der Vorstellungs- noch auf der Lautseite ursprüngliche Positivitäten gibt und

40 Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 143 f.

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statt dessen jede Bestimmtheit einem Spiel von Differenzen entspringt, so verdankt ein Zeichen seinen konstanten und kommunizierbaren Gehalt weniger dem Bezug auf eine zu repräsentierende Sache – die ja vor dem Signifikationsprozess selber noch unstrukturiert und amorph und insofern noch gar nicht vorhanden ist – als vielmehr seiner gleichbleibenden Stellung in jenem durch Verschiedenheiten konstituierten System. Folglich haben wir es bei der Saussureschen Semiologie mit einem zeichentheoretischen Ansatz zu tun, der die Tradition mit einem Schlag hinter sich lässt. Das Problem besteht freilich darin, dass Saussure seine avancierten Einsichten nicht mehr auf sein anfängliches Zeichenmodell rückbezieht. Eben das ist aber vonnöten, um die philosophische Tragweite seiner Thesen ermessen zu können. Erinnern wir uns: er bestimmt das Zeichen als Zusammensetzung aus Lautbild und Vorstellung, Signifikant und Signifikat, und hebt die Untrennbarkeit der beiden Seiten hervor – vergleichbar einem Blatt Papier mit dem Denken als der Vorder- und dem Laut als der Rückseite.41 So weit, so gut. Die Frage lautet nun: wie verträgt sich die Rede von Signifikant und Signifikat mit der Erkenntnis, dass die Sprache differentiell funktioniert, d. h. auf der Grundlage von Verschiedenheiten ohne vorgängige positive Einheiten? Diese Frage erfordert zwei verschiedene Antworten. Beim Signifikanten lassen sich die beiden Ebenen, Zeichenmodell im engeren Sinne und Netzwerk-Modell der Sprache im allgemeinen, durchaus in Einklang bringen. Denn wenn im Netzwerk jedes Element auf seine Nachbarn angewiesen ist, dann resultiert daraus jener Verweisungscharakter, der für den Signifikanten als das Bezeichnende insgesamt kennzeichnend ist. Dem Signifikanten ist es gleichsam in die Wiege gelegt, nicht in sich zu ruhen. Für das Signifikat hingegen gilt die analoge Behauptung nicht. Es liegt nicht in seinem Begriff, aktiv auf etwas anderes außerhalb seiner zu verweisen. Eine derartige Verweisung drängt nun aber massiv in den Zeichenbegriff, sobald wir das Differenzmodell der Sprache zugrunde legen, und zwar im Hinblick auf den Signifikanten wie gleichermaßen auf das Signifikat. Paradoxerweise nimmt dadurch das Signifikat selber Züge eines Signifikanten an. Eben dieser Widerspruch ist es nun, der in seinen Konsequenzen jedes Modell, welches das Zeichen aus Signifikant und Signifikat zusammensetzt, zum Einsturz bringt.

41 Vgl. ebd. S. 134.

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Es ist das Verdienst von Derrida, diese internen Schwierigkeiten der Semiologie herausgearbeitet zu haben, und das bezeichnenderweise nicht durch eine von außen herangetragene Kritik, sondern durch ein immanentes Verfahren, das Saussure über weite Strecken folgt und seine zentralen Einsichten so stark wie möglich macht, um erst ganz am Ende die fatalen Konsequenzen für sein Zeichenmodell aufzuzeigen. Für diese Lektürepraxis, die konstruktive und destruierende Momente in sich vereint, hat Derrida die sprechende Bezeichnung Dekonstruktion eingeführt. Gerade im Fall Saussures wird die strategische Zweigleisigkeit seines Vorgehens überaus deutlich: einerseits hebt er die „ganz entscheidende kritische Funktion“42 dessen hervor, was Saussure zum differentiellen, formellen und arbiträren Charakter des Zeichens herausarbeitet, und man versteht, dass seine eigenen Überlegungen hieran anknüpfen. Andererseits führt er dann aber aus: „Er [sc. Saussure] erfüllt die klassische Forderung nach einem, wie ich es genannt habe, ,transzendentalen Signifikat‘, das von seinem Wesen her nicht auf einen Signifikanten verweist, sondern über die Signifikantenkette hinausgeht, und das von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr die Funktion eines Signifikanten hat.“43 Der entscheidende Punkt ist, dass der Verweisungscharakter der Bedeutungskonstitution – die Emergenz von Sinn aus reinen Differenzen – zu einer Verkettung der Signifikanten führt, in einer Weise, dass kein Ort mehr für ein reines, in sich ruhendes, gleichwohl aber gehaltvolles Signifikat bleibt. Jeder vermeintlich positive Inhalt gerät in den Sog der Verweisung. Damit ist aber der Begriff des Signifikats abgründig problematisch geworden und untergraben.44 So sehr sich Derrida also Fingerzeige von Saussure geben lässt, um gedanklich aufzusteigen, muss er doch – um ein Bild Wittgensteins aufzugreifen – oben angekommen die Leiter wegwerfen. Wie ist nun „oben“ die Aussicht? Wenn dort die traditionelle Zeichenordnung nicht mehr gilt, herrscht dann das Chaos? Oder regiert im Universum der Signifikanten eine andere, womöglich noch rigidere Ordnung? Um

42 Derrida, Semiologie und Grammatologie, S. 141. 43 Ebd. S. 143. 44 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 17: „Das Signifikat fungiert darin [sc. in der Bewegung der Sprache] seit je als ein Signifikant. [...] Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme.“

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diese Fragen beantworten zu können, gilt es zunächst zu erkennen, wie unter den angeführten Prämissen die Konstitution von Bedeutung vor sich geht. Derrida führt zu diesem Zweck den Terminus Spur ein. Der Gedanke: wenn es im Spiel der multiplen Verweise keine ursprünglichen Positivitäten gibt und statt dessen jede Konturierung vielfältigen Differenzen entspringt, so hinterlässt jedes Element Spuren in den anderen Elementen. Und umgekehrt konstituiert es sich seinerseits aus den Spuren, die die anderen in ihm hinterlassen haben.45 In Abwesenheit eines äußeren Referenten als Sinngaranten avanciert somit das Beziehungsgeflecht der Signifikanten untereinander zur Quelle von Bedeutung. Jede Bestimmtheit – Grundvoraussetzung für die Entstehung von Sinn – verdankt sich den Spuren im Spiel der Differenzen. Was sich hier abzeichnet, ist nichts Geringeres als eine neuartige Theorie der Bedeutung, eine Theorie, die aus der Saussureschen Einsicht in den differentiellen Charakter des Zeichens die philosophische Konsequenz zieht und die Vorstellung eines schlechthin gegebenen Signifikats verabschiedet. Freilich deuten sich an dieser Stelle auch bereits die enormen gedanklichen Schwierigkeiten an, mit denen eine solche Theorie zu kämpfen hat. Eine von ihnen besteht darin, dass man den Ausdruck Spur hier nicht im Sinne eines Abdrucks im Schnee oder Sand verstehen darf. Denn ein solcher Abdruck würde auf einen einfachen Urheber verweisen in Gestalt des Fußes, der durch den Schnee oder Sand gegangen ist, und Derrida geht es gerade um die Abwesenheit eines jeglichen Urhebers oder Ursprungs (da die Annahme einer derartigen Instanz ja doch wieder eine positive Gegebenheit in die Theorie einführen würde). Die Schwierigkeit lässt sich nicht beheben, jedenfalls nicht mit den Mitteln der herkömmlichen Logik, sie lässt sich lediglich markieren. Derrida bezeichnet deshalb die Spur (trace) gelegentlich auch als Ur-Spur (archi-trace)46 – ein widersinnig anmutender Ausdruck, denn liegt es nicht im Begriff der Spur, dass sie niemals ein Erstes sein kann? Gerade dieses Paradox zeigt jedoch an, worum es eigent45 „Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen. [...] Aus dieser Verkettung folgt, daß sich jedes ,Element‘ aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert.“ (Derrida, Semiologie und Grammatologie, S. 150) 46 Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 42; ders., Grammatologie, S. 107 f.

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lich geht: um ein Denken, das von keinem Ersten ausgeht und die Annahme eines Ursprungs verwirft. Was macht eigentlich die Figur, aus einem Ursprung oder Prinzip heraus zu denken, für viele Ansätze aus der philosophischen Tradition – vermeiden wir den Kollektivsingular „die abendländische Metaphysik“, den Derrida allzu unbedenklich von Heidegger übernimmt – so attraktiv? Es ist die Perspektive, mit Hilfe eines solchen Prinzips eine universale Kontrolle auszuüben. Ein Prinzip führt in ein Feld eine Ordnung ein und macht es damit überschaubar und beherrschbar. Das unbändige Wuchern von Einzelelementen und Subsystemen wird vermieden, und statt dessen sind alle Strukturen auf einen ausgezeichneten Punkt ausgerichtet, auf ein Zentralgestirn, von dessen wärmenden Strahlen noch das peripherste Element in seinem Gedeihen abhängig ist. Insofern eröffnet der Ursprung zwar ein Feld und ermöglicht damit überhaupt erst die Zirkulation der Elemente; zugleich setzt er aber derselben Zirkulation eine Grenze, indem er Kriterien der Kohärenz einführt und so ein Innen vom Außen scheidet. Die Annahme eines Prinzips bietet also die Möglichkeit, jedes divergierende Element auf einen Punkt der Gewissheit zurückzuführen – welch beruhigende Option! Derrida geht so weit, dem Streben nach Übersicht und Kontrolle psychologische Beweggründe zu unterstellen: „Von dieser Gewissheit her kann die Angst gemeistert werden, die stets aus einer gewissen Art, ins Spiel verwickelt zu sein, vom Spiel gefesselt zu sein, [...] entsteht.“47 Wenn ein Denkansatz sich an ein Prinzip klammert und sein Heil in Systematisierungen jedweder Art sucht, so dürfen wir demzufolge als auslösendes Motiv annehmen, dass das freie, ungezügelte, wilde Zirkulieren der Elemente als Bedrohung empfunden wird, als Gefahr, die es zu meistern gilt. Dem Drang nach Bändigung und Zähmung des Materials liegt das Bedürfnis nach Sicherheit zugrunde. Ein angstfreier Zustand der Geborgenheit und des Vertrauens wiederum setzt für diese Art von Denken zwingend Ordnung voraus, das heißt, alle Elemente müssen erfasst, klassifiziert und in ihren Bewegungen im Voraus berechenbar sein, und umgekehrt muss ein Ereignis im starken Sinne, verstanden als der Einbruch von etwas Unvorhersehbarem, das sich in keiner Weise steuern lässt, absolut ausgeschlossen sein.

47 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 423.

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Kehren wir vor diesem Hintergrund zu der Frage zurück, wie es die Dekonstruktion mit der Ordnung hält. Insofern Derrida das Spiel der Differenzen gerade keinem regulierenden und begrenzenden (Ordnungs-) Prinzip unterwerfen will, hat es zunächst den Anschein, als liefe sein Modell auf eine Anarchie der Signifikanten hinaus, denen es gestattet ist, zügellos hierhin und dorthin zu wuchern und sich in alle Richtungen auszubreiten. Die Zirkulation der Elemente, so könnte man meinen, führt immer nur zu transitorischen Sinneffekten, denen mangels eines Ursprungs ein wirklicher Halt versagt bleibt. Die Dekonstruktion wäre dann eine veritable Theorie des Chaos, und zwar nicht bloß – wie die mathematisch-physikalische Chaostheorie – im Sinne des genitivus objectivus, sondern im Sinne des genitivus subjectivus. Auf der anderen Seite zeichnet sich gleichwohl im Gewebe der Signifikanten etwas ab, das sich als Ordnung zweiten Grades erweisen könnte. Denn so sehr es ein heroischer Akt gewesen sein mag, den Gott und die Götter (in Gestalt des transzendentalen Signifikats) vom Thron zu stoßen, ist doch nicht zu übersehen, dass nach ihrem Sturz ein einziger homogener Raum übrig bleibt, konstituiert durch das Spiel der gleichberechtigten Differenzen und ausgefüllt vom Netzwerk der ebenso gleichberechtigten Oppositionen. Dieser Raum, in dem alle Zirkulation stattfindet und den wir auch als Text bezeichnen können, insofern er zugleich der Raum des Denkens und alles Denken wiederum sprachlich verfasst ist – dieser Raum kennt per definitionem kein Außerhalb und kein Jenseits. Die zirkulierenden Elemente stoßen idealiter nirgends an eine Grenze, der Sprung in eine andere Dimension, in jenseitige Gefilde bleibt ihnen versagt. Derridas Überlegungen münden deshalb folgerichtig in die These: „Ein TextÄußeres gibt es nicht.“48 In Anbetracht einer solchen Behauptung müssen wir uns nun aber fragen, ob die Dekonstruktion als Denkfigur für die Frage nach dem Jenseits der Ordnung überhaupt von Relevanz ist. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Linien des Derridaschen Denkens in einem Monismus konvergieren, der der ataxiologischen Fragestellung zuwiderläuft. Um den Verdacht auszuräumen, müssen wir auf den Begriff der clôture rekurrieren, der intermittierend in Derridas Texten auftaucht, meist in Bemerkungen zur Metaphysik. In den deutschen Übersetzungen wird der

48 Derrida, Grammatologie, S. 274 (im Original hervorgehoben).

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Ausdruck meist mit „Geschlossenheit“49 wiedergegeben, gelegentlich auch mit „Abschluss“50 oder „Vollendung“51; zu bemerken ist als erstes, dass er keineswegs freundlich konnotiert ist. Clôture zeigt die Bewegung einer Schließung an, den Verzicht auf Variationsmöglichkeiten zugunsten endgültiger Festlegung. Impliziert ist der Vorwurf an die Metaphysik, dass sie dazu tendiert, durch Bezugnahme auf einen archimedischen Punkt, etwa einen absoluten Ursprung, das Spiel der Begriffe einzudämmen und zu begrenzen. Statt den Prozess der Signifikation offenzuhalten und womöglich noch anzukurbeln, strebt sie feste Identitäten in einer stabilen Ordnung an. Was bei dieser Art von Abschluss jedoch verloren geht, ist das Überraschungsmoment. Von nun an kann es de jure nichts Neues mehr geben, da die Ordnung als solche nicht mehr in Frage gestellt wird und folglich der systematische Ort jedes potentiellen Elements im Voraus bereits feststeht. Die Übersetzung „Vollendung“ trifft diesen Punkt sehr genau, vorausgesetzt, man hört den ironischen, beinahe sarkastischen Unterton: Vollendung in dem Sinne, dass nichts anderes mehr kommen darf. In der Tat hat clôture etwas Abschottendes, vom Wortstamm her Klösterliches (vgl. im Englischen cloister). Diametral entgegengesetzt geht es Derrida um ein Denken, „das treu und aufmerksam auf eine unaufhaltsam kommende Welt gerichtet ist, die, jenseits der Geschlossenheit (clôture) des Wissens, sich der Gegenwart kundtut“52. Sein Sinn und seine Sinne sind auf das Ereignis gerichtet, das sich anschickt, die bestehende Ordnung umzustoßen, und das im Übrigen bereits seine Schatten vorauswirft. Insofern gibt es bei Derrida zwar kein Jenseits des Textes, wohl aber ein Jenseits der Ordnung, zumal der von ihm metaphysisch genannten. Der Vorwurf des ängstlichen und sterilen Monismus trifft viel eher auf das traditionelle Denken zu, das dadurch, dass es sich – unter welchem Titel auch immer – an ein Prinzip oder einen Ursprung klammert, dem Ereignis die Türen verschließt (clôture). Weit davon entfernt, in einem nivellierten homogenen Raum bloß das Immergleiche zu reproduzieren, reserviert die Dekonstruktion also im Gegenteil eine Systemstelle für den Einbruch des Unvorhersehbaren. Sie

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Ebd. S. 14, 166, 169 u. ö. Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 170. Derrida, Grammatologie, S. 28. Ebd. S. 15 (Hervorhebung nicht im Original).

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arbeitet der Mumifizierung des Denkens entgegen, die in jedem Abschluss und jeder Vollendung angelegt ist, und bewahrt sich mit Erfolg ein Ohr für das Neue. Und so finden wir hier das Motiv der Öffnung wieder, das uns in unterschiedlicher Form bereits bei Adorno und Foucault begegnet ist. Derrida wendet sich mit Nachdruck gegen jene Schließungsbewegung, in deren Sog jeder Ansatz gerät, der sich im Ausgang von einem Prinzip oder Ursprung entfaltet. Was er dem entgegenhält, ist das freie Flottieren der Signifikanten, ungegängelt von einem die Struktur organisierenden Zentrum. Das Spiel der Begriffe darf nicht angehalten werden, weil nur so das Denken sich die Offenheit für die Erfahrung dessen bewahrt, was erst noch kommt und vielleicht immer im Kommen bleiben wird. Wie Adorno geht es auch Derrida wesentlich darum, das Abschlusshafte des Identitätsdenkens zu vermeiden, und wie Foucault sieht er, dass die Öffnung sich von innen heraus, d. h. intrinsisch vollziehen muss. Man wird fragen, welches denn das Ereignis ist, auf das hier in mysteriösen Bemerkungen angespielt wird. Von wo nimmt es seinen Ausgang, wer löst es wann aus, und welche Folgen bringt es mit sich? Müssen wir es fürchten wie einen Meteoriteneinschlag, oder sollen wir es erhoffen wie die Ankunft des Messias? Die Antwort kann nur lauten, dass all dies hier offenbleiben muss. Auf die angeführten Fragen eine inhaltliche Antwort geben hieße sich in einen performativen Widerspruch verstricken. Denn jede Festlegung sei es in der einen, sei es in der anderen Richtung würde dem Ereignis seine Unvorhersehbarkeit und damit seine Ereignishaftigkeit nehmen. Es ist deshalb folgerichtig, wenn Derrida darauf beharrt, ein Ereignis im starken Sinne setze „einen Einbruch oder einen Ausbruch voraus, der den Horizont sprengt. [...] Was stattfindet, darf sich nicht bereits als möglich oder notwendig ankündigen, wenn anders das Ereignis seines Hereinbrechens nicht im voraus neutralisiert sein soll.“53 Auch bei Adorno und Foucault findet sich dieser Gedanke. Bei Adorno heißt es: „Im richtigen Zustand wäre alles, wie in dem jüdischen Theologumenon, nur um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste lässt sich so vorstellen, wie es dann wäre.“54 Und Foucault beschreibt das philosophische Denken als Erfahrung im emphatischen Sinne, das heißt als intellektuellen Prozess mit

53 Derrida, Die unbedingte Universität, S. 72/74. 54 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 294.

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unvorhersehbarem Ausgang, dessen wichtigstes Moment in einer Figur der Öffnung besteht.55 In allen drei Fällen also die entschiedene Weigerung der festlegenden Vorwegnahme. Nicht einmal in seinen schemenhaften Konturen können wir das Ereignis antizipieren. Um dieser Einsicht gerecht zu werden ist aber, wie die drei genannten Autoren unabhängig voneinander verdeutlicht haben, eine radikal veränderte Grundhaltung vonnöten. Wo es in der traditionellen Philosophie um einen archimedischen Punkt der Gewissheit geht, um ein fundamentum inconcussum, das im Idealfall eine für alle Zeiten uneinnehmbare Festung darstellt, da erweist sich jetzt eine Figur der Öffnung als entscheidend, durch die das Denken das, worauf es ankommt, allererst auf sich zukommen lässt, fern aller Beherrschbarkeit und Kontrolle.

55 Vgl. etwa seine Gegenüberstellung von einem „Erfahrungs-Buch im Gegensatz zu einem Wahrheits-Buch oder einem Beweis-Buch“ (Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, S. 34).

4. Grundlinien der Ataxiologie

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Es mag paradox klingen, aber die Frage nach dem Jenseits der Ordnung schließt notwendig die nach ihrem Diesseits ein. Denken kann, wenn überhaupt, nur dann auf das gehen, was die Ordnung übersteigt, wenn es sich zuvor über die Funktionsweise von Ordnungsprozessen Klarheit verschafft. Dementsprechend fragen wir jetzt: was heißt es, in ein Feld eine Ordnung einzuführen, welche Mechanismen greifen bei diesem Vorgang? In welchem Zustand befindet sich das Material, bevor und nachdem es geordnet wurde? Worin bestehen die Voraussetzungen ordnender Eingriffe, und welche Leistungen und Resultate dürfen wir legitimerweise von ihnen erwarten? Dies sind mehr oder weniger affirmative Fragen zum Wesen und Walten von Ordnung. Es erscheint sinnvoll, ihnen von vornherein eine kritische Perspektive als Korrektiv zur Seite zu stellen und zu untersuchen, ob in den Ordnungsvorgängen nicht auch fragwürdige Tendenzen zu erkennen sind. Ist das zu Ordnende vielleicht deformierenden Einwirkungen ausgesetzt? Erweist sich angesichts der Erfahrung, dass Ordnungen oftmals mittels Herrschaft etabliert und aufrechterhalten werden, der Preis für die (unzweifelhaft vorhandenen) Leistungen als angemessen? Angenommen, er ist deutlich zu hoch, so führt uns das zu einem dritten Problemkomplex: welche Gegenkräfte zu bestehenden Ordnungen, seien sie nun legitim oder nicht, zeichnen sich ab? Wie steht es um ihre Effektivität: prallen sie wirkungslos ab, oder können sie es mit der Ordnung aufnehmen? Sollten sie sich als wirkmächtig erweisen, so wäre zu prüfen, ob sie ihre Kraft einer immanenten Revolte verdanken, oder ob sich ihre Energie aus außerhalb liegenden Quellen speist. Schließlich noch, auf einer anderen Ebene, eine

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vierte Gruppe von Fragen: welche Denkfiguren und Argumentationsmuster sind bei alldem am Werk? Sind die gedanklichen Mittel, die auf dem Boden der Ordnung entworfen und erprobt wurden, ausreichend, um auch dem Feld jenseits der Ordnung theoretisch gerecht zu werden? Oder müssen dafür völlig neue Konzepte entwickelt werden? Dieses Bündel von Fragen und Problemen eröffnet das Feld, in dem sich die nachfolgenden Überlegungen bewegen. Wobei sich bereits abzeichnet, dass im Weiteren recht unterschiedliche, ja heterogen anmutende Inhalte zu thematisieren sein werden: erkenntnis- und gesellschaftstheoretische, sprach- und kulturphilosophische etc. Insbesondere die Grenze zwischen theoretischer und praktischer Philosophie werden wir mehrfach überschreiten müssen. Man wird jedoch, wie ich hoffe, dieses Vorgehen nicht mit einem unentschlossenen und konzeptlosen Lavieren verwechseln. Dass ein ganzes Spektrum an Themen aufgeboten wird, ist der Reichhaltigkeit der Sache geschuldet; die Kohärenz des Feldes ist dabei jederzeit durch die ataxiologische Fragestellung gewährleistet. Das Skandalon ist daher nicht die vermeintliche Disparatheit der Inhalte, sondern die allenthalben dominierende Departementalisierungswut, die den Geist in möglichst viele Segmente zu unterteilen bestrebt ist. Sie entspringt einem Ordnungsdenken, das hier gerade unterlaufen werden soll. – Nach dieser methodologischen Vorbemerkung können wir jetzt beginnen. Dass der Umgang mit Gegenständen, ganz gleich ob in theoretischer oder in praktischer Absicht, zumindest rudimentärer Formen der Ordnung bedarf, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Wir könnten einen Gegenstand nicht erkennen, ja ihn noch nicht einmal anschauen, wenn nicht die Möglichkeit eines Vergleichs mit anderen Gegenständen bestünde, worin bereits der Anfang eines Klassifikationssystems angelegt ist; wir könnten nicht mit ihm hantieren, wenn er sich nicht einerseits in Kausal-, andererseits in Zweckzusammenhänge einbetten ließe, beides Arten von Strukturierung; und schließlich könnten wir über ihn nicht kommunizieren (und ihn vermutlich nicht einmal denken) ohne sprachliche Sinneinheiten, was die Anfänge eines Zeichensystems impliziert. Deshalb macht es keinen Sinn, von einem Gegenstand außerhalb jeder Ordnung zu sprechen. Ohne die Möglichkeit einer sei es auch schemenhaften Systematisierung hätten wir gar keine Beziehung zu ihm. Was nun die genannten Ordnungstypen – also Kausal- und Finalzusammenhänge, Zeichen- und Klassifikationssysteme – für die Konstitution des Gegenstandes leisten, ist vielfältig und spielt sich

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auf mehreren Ebenen ab. Durch die Ordnung erhält er eine stabile Identität und einen festen Platz im Ganzen. Er nimmt Beziehungen zu seiner Umgebung auf, die wiederum auf seine Bestimmtheit zurückwirken. Aus einem anfangs nur vage bestimmten amorphen Klumpen wird so ein Objekt mit spezifischen Eigenschaften, dessen Wiedererkennung durch seine eindeutige Form gewährleistet ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob man annimmt, dass die Ordnung lediglich die Konturen eines an sich gegebenen und seine Bestimmungen bereits enthaltenden Gegenstandes schärft, oder ob man ihr, wie beispielsweise in der Transzendentalphilosophie, sogar die ursprüngliche Konstitution desselben zuschreibt. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob man hier unter Ordnung ein äußeres Gefüge versteht, in das der Gegenstand eingepasst wird, oder ob man jene Ordnung im Blick hat, die er aufgrund seiner inneren Statur ist. Worauf es ankommt, ist, dass die Ordnung unauflöslich mit der Gegenständlichkeit des Gegenstandes verbunden ist und diese ohne jene nicht denkbar wäre. Wenn Kleider Leute machen, dann macht die Ordnung den Gegenstand. Des Weiteren gilt, dass in dem Maße, wie die Ordnung einen Gegenstand konturiert (bzw. konstituiert), sie zugleich – da er ja nicht eine isolierte Entität, sondern einen Teil eines Beziehungsgefüges darstellt – eine Welt konstituiert. Es entsteht ein Geflecht oder eine Textur, worin die Elemente vielfältig miteinander verwoben sind und wechselseitig aufeinander verweisen. Erneut spielt es keine Rolle, ob man den Elementen eine ursprüngliche Positivität zuerkennt, oder ob man die (strukturalistische) These unterschreibt, dass sie jegliche Bestimmtheit allererst ihren Differenzen untereinander und damit ihrer Position im Netzwerk verdanken. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass sich eine geordnete Totalität abzeichnet, die allem und jedem einen wohldefinierten Ort zuweist. Die Welt selber wird zum System. Davon profitiert nicht zuletzt das Subjekt: es hat von nun an einen festen Halt, da sich die Ordnung als archimedischer Punkt erweist, der Gewissheit verschafft und Orientierung bietet. Freilich ist die derart gewonnene Sicherheit, Klarheit und Eindeutigkeit teuer erkauft. Denn wie die Erfahrung lehrt, passen die Dinge von sich aus nicht so ohne Weiteres in die Schubladen eines Klassifikationssystems. Sie müssen erst passend gemacht werden, und das geschieht durch eine tendenziell gewaltsame Zurüstung, deren Ursachen und Folgen bereits oben im Abschnitt über die Verarmung der Erfahrung besprochen wurden. Gegenstände in ein Schema einzuordnen, sie wie geometrische Figuren in ein

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Koordinatensystem einzutragen bedeutet immer, sie über einen Kamm zu scheren, das Spezifische und – aus der Sicht des Schemas – Widerborstige an ihnen wegzuschneiden, und das ist nur durch eine Reduktion möglich, die die Erfahrung auf lange Sicht austrocknet. Auch die Einordnung in Kausal- und Zweckzusammenhänge bedeutet eine Verarmung, insofern nur das am Objekt wahrgenommen wird, was dem subjektiven Nutzen dient: es interessiert sozusagen nur noch der Griff, an dem sich die Dinge packen lassen. Alles andere wird ausgeblendet. Sowenig daher zu leugnen ist, dass Ordnungsprozeduren sich oftmals als ausgesprochen effizient erweisen, darf doch nicht vergessen werden, dass ihre Leistungsfähigkeit vielfach einer Deformierung des Gegenstandes entspringt, die mit dem (Wahrheits-) Anspruch philosophischen Denkens nicht zu vereinbaren ist. Ihre Rekonstruktion muss deshalb von Anfang an von einem kritischen Blick begleitet sein. Als Ursache für den Drang zur Systematisierung und Vereinheitlichung ist uns bereits mehrfach das Motiv der Angst begegnet. Das Subjekt empfindet das Eigenleben der Objektwelt als unheimlich, potentiell bedrohlich, und so ergreift es die Flucht nach vorn und versucht, durch Präventivmaßnahmen einem befürchteten Angriff zuvorzukommen. Die Frage stellt sich, ob hier eine rational vertretbare Handlung vorliegt oder eine Fehlleistung mit paranoiden Zügen. In gewisser Hinsicht hat es zunächst den Anschein, als handelte es sich um ein natürliches Verhalten im Dienst der Selbsterhaltung. Ist es nicht das Spezifikum des Menschen, dass er im Unterschied zum Tier nicht in den Naturzusammenhang eingebettet ist und folglich selber für sein Auskommen sorgen muss, zwangsläufig gegen die Natur? Stellen Naturkräfte wie z. B. Sturmfluten nicht faktisch eine Bedrohung dar, so dass uns gar nicht anderes übrig bleibt, als Dämme zu errichten? Gewiss, aber es wäre verhängnisvoll, das Zutreffen dieser Argumente zu einer grundsätzlich herrschaftlichen Haltung der Natur gegenüber zu hypostasieren. Die Dämme an der Küste dürfen nicht bis ins Denken verlängert werden. Eine feindselige Abschottung von der Natur ist schon deswegen sinnwidrig, weil der Mensch ihr durch seine Leiblichkeit auf Dauer verbunden bleibt. Statt die Natur zum Dämon zu stilisieren gilt es daher, ihre Ambivalenz im Blick zu behalten. Sie ist Quelle des Lebens und des Todes, zugleich Ort der vollendeten Regelhaftigkeit und dasjenige, was mitunter zerstörerisch in den regelhaften Alltag der Menschen hereinbricht. Folglich ist die dämonisierende Vorstellung von der Natur als einem Abgrund des

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Grauens im gleichen Maße zu verwerfen wie die romantisierende Vorstellung eines Einklangs mit ihr. Jeder Versuch, das Verhältnis des Menschen zur Natur auf eine eindeutige Formel zu bringen, ist theoretisch zum Scheitern verurteilt und führt in der Praxis nur zu Unheil. Das wiederum nährt den Verdacht, dass es sich bei der Disposition, die eigene Umgebung prinzipiell als Bedrohung aufzufassen, weniger um eine allgemein menschliche als vielmehr um eine spezifisch bürgerliche Eigenschaft handelt. In der Tat ist ja in der bürgerlichen Konkurrenz jeder und jedes Andere eine mögliche Gefahr; das hat als erster Hobbes gesehen, der dadurch zum Urvater der bürgerlichen Gesellschaftstheorie wurde. Homo homini lupus: jeder Einzelne hat Grund, sich ständig von den anderen bedroht zu fühlen. Dass es nicht mehr unpersönliche Naturkräfte sondern menschliche Individuen sind, die Furcht einflößen, spielt eine untergeordnete Rolle – das Argument ist von der Struktur her dasselbe. Erneut haben wir es mit einer Abwehrhaltung zu tun, die von ihrem Gegenüber das Schlimmste erwartet und deshalb bei Techniken der Beherrschung und Domestizierung Zuflucht sucht, bei Hobbes in Gestalt der Errichtung einer übermächtigen staatlichen Zentralgewalt. Und erneut liegt eine Deformierung vor, insofern der zur Befriedung der Gesellschaft eingesetzte Leviathan Herrschaftsstrukturen etabliert, die die Beziehungen zwischen den Menschen nachhaltig verzerren und beschädigen. Bei Licht besehen zeigt sich nämlich, dass in der bürgerlichen Gesellschaft auch nach Abschluss des Vertrages aller mit allen nicht echter Friede im Sinne einer Versöhnung einkehrt. Der Konflikt zwischen den Individuen wird nicht wirklich gelöst, sondern lediglich auf eine andere Ebene transformiert: auf die Ebene des Ökonomischen. Hier tobt er in Gestalt der allseitigen Konkurrenz unvermindert fort und bringt krasse Unterschiede in den Macht- und Besitzverhältnissen hervor. Von einer menschenwürdigen Einrichtung des Gemeinwesens ist die bürgerliche Ordnung demnach strukturell weit entfernt, gemessen an ihren eigenen aufklärerischen Idealen der Gleichheit und Gerechtigkeit. Die bürgerliche Politik versucht – anscheinend bestätigt durch das Scheitern sozialrevolutionärer Modelle –, durch regulierende Maßnahmen wie Sozialgesetze den Konflikt einzudämmen und ihm seine Schärfe zu nehmen; über ihren Erfolg zu befinden ist hier nicht der Ort. Eine dritte Bedrohung neben dem Eigensinn der (Natur-) Dinge und der Unsicherheit in der ökonomischen Konkurrenz, und damit eine dritte Quelle der Angst liegt im Individuum selber. Dessen Selbsterhaltung setzt vor-

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aus, dass es jederzeit rational seinen Nutzen kalkuliert und sich von keinen Verlockungen vom rechten Weg abbringen lässt, seien sie noch so reizvoll. Es muss stets seine langfristigen Ziele im Blick haben und darf sich von nichts betören lassen. Horkheimer und Adorno haben in ihrer Dialektik der Aufklärung am Beispiel des Odysseus gezeigt, welche enormen Anstrengungen in Gestalt von Ordnungsleistungen dies erfordert, und wie hoch der Preis für den Erfolg ist. Der Mensch wird nicht als Subjekt geboren, sondern er macht sich allererst dazu. Daraus resultiert einerseits seine Überlegenheit gegenüber der Tierwelt; andererseits fordert der Prozess der Subjektwerdung beträchtliche Opfer, vor allem die Knüppelung zahlreicher „irrationaler“ Antriebe und Bestrebungen. Odysseus’ Fernziel, seine nur mit dem rationalen Mittel der List zu erfüllende Aufgabe ist die Rückkehr nach Ithaka, wo ein Königsthron und eine treue Gattin auf ihn warten. Aber der Weg dorthin wird von zahlreichen Ablenkungen gesäumt, deren verführerische Kraft so groß ist, dass er sich Fesseln anlegen muss, um ihnen nicht zu verfallen. Resultat der Fesselung ist ein kühl berechnendes, zielstrebiges, identisches Subjekt, der Prototyp des zivilisierten Menschen. Erkauft wird der Erfolg mit der Unterdrückung etlicher von den Sinnen angeregter Bestrebungen, psychoanalytisch gesprochen mit Triebaufschub und Triebverzicht. Diesen repressiven Zug der Subjektwerdung meinen Horkheimer und Adorno noch an der gegenwärtigen Menschheit wahrzunehmen. Noch immer bestehe eine fast panische Angst vor den sinnlichimpulsiven Kräften im eigenen Innern, und noch immer wisse man keinen besseren Rat, als sie mittels verschiedener Arten von Ordnung zu bändigen. Wenn ihre Analyse zutrifft, dann haben wir es einmal mehr mit der Struktur zu tun, dass eine Bedrohung, sei sie nun eingebildet oder real, das Gefühl der Furcht erzeugt und der Mensch hierauf in der Weise reagiert, dass er in ein mehrdimensionales Feld systematisch Unterscheidungen einführt und dadurch Ordnung schafft. Was aber liegt jenseits der Kultur mit ihren vielfältigen Einschränkungen und Zwängen – ein Paradies der Sinnenfreude und des ungetrübten Genusses? Wohl kaum. Das Jenseits der kulturellen Ordnung ähnelt dem, was ihr vorgelagert ist, dem dumpfen und auf seine Art repressiven Einerlei des Naturkreislaufs, dem sich der Mensch zu Recht entwinden möchte. Der Gedanke, aus dem Prozess der Kultur auszusteigen, dabei die Forderung nach Sublimierung als Zumutung zurückzuweisen und auf die sofortige Erfüllung aller Bedürfnisse und Begierden zu pochen, beinhaltet nicht die

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ultimative Freiheit, sondern nur eine andere Art von Unfreiheit. Erneut kann eine Episode aus der Odyssee den Sachverhalt verdeutlichen. Auf einer seiner Stationen begegnet Odysseus den Lotophagen, den Lotosessern. Ihr einziges Bedürfnis besteht darin, die im Überfluss vorhandenen Lotosblumen zu verzehren. Sie kennen keine Entbehrung, sie werden zu keinerlei Sublimierung oder Triebverzicht gedrängt, sie scheinen vollkommen glücklich zu sein. Dennoch lehnt der Bürger Odysseus das Angebot ab, bei ihnen zu bleiben und einer der ihren zu werden, und ausnahmsweise stehen die unversöhnlichen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, Horkheimer und Adorno, einmütig auf seiner Seite. Für sie ist die Idylle der Lotophagen „der bloße Schein von Glück, dumpfes Hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere. Im besten Falle wäre es die Absenz des Bewußtseins von Unglück. Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid. So ist der Dulder im Recht, den es bei den Lotophagen nicht duldet.“

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Selbst wenn die Kultur dem Individuum manchen Zwang und manches Opfer auferlegt, so kann es doch nicht darum gehen, dem Zivilisationsprozess als solchem abzuschwören und sich ins Jenseits beispielsweise einer drogeninduzierten Rauschwelt zu verabschieden. Es gehört zum Humanum des Menschen, sich Ziele zu setzen und erhebliche Anstrengungen in Kauf zu nehmen, um sie zu erreichen. Es mag sein, dass nicht alle Opfer, die die Kultur uns abverlangt, unabdingbar sind, zumal im bürgerlichen Zeitalter. Aber das ändert nichts daran, dass alle gelingenden Momente menschlicher Existenz nur auf dem Boden der Kultur möglich sind. Das Verhältnis des Menschen zur Kultur ist nicht weniger ambivalent als – wie oben dargelegt – sein Verhältnis zur Natur. Die Besprechung der drei Ängste – vor den Naturgewalten, vor der Konkurrenz und vor den Impulsen aus dem eigenen Innern – hat uns wichtigen Aufschluss über die Mechanismen von Ordnungsprozeduren gegeben. Das Schaffen von Ordnung geschieht in den seltensten Fällen ohne Anlass und von Ungefähr, vielmehr stellt es in der Regel eine Reaktion dar. Aus-

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Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 70.

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gelöst wird sie von einem Gegenstandsbereich, der sich uns zum einen amorph und ungeschlacht darbietet und von dem zum anderen bestimmte Gefahren ausgehen, oft in unvorhersehbarer Weise. Diese Kombination aus undefinierbarer Gestalt und potentieller Bedrohung führt dazu, dass uns der Gegenstandsbereich unheimlich vorkommt. Wir sehnen uns nach Klarheit und Kontrolle. Die Klarheit soll dafür sorgen, dass wir seine Grenzen erkennen und die einzelnen Objekte in ihm besser unterscheiden können; die Kontrolle über jedes Ereignis, das in und von ihm ausgelöst wird, soll die (mehr oder weniger objektive) Gefahr bannen. Beides zusammen ergibt im Idealfall ein Gefühl der Sicherheit. Die Funktion der Ordnung besteht also darin, die gewünschte Übersichtlichkeit und Berechenbarkeit herzustellen. Dabei beinhaltet der Ordnungsvorgang selber eine Reihe von Tätigkeiten: eine Bestandsaufnahme aller relevanten Objekte und Ereignisse, die in dem Feld vorkommen, einschließlich ihrer Eigenschaften; eine Gruppierung der Objekte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden mit dem Ziel, Klassen zu bilden und die Vielfalt überschaubar zu machen, sie nach Möglichkeit sogar zu reduzieren; schließlich die Untersuchung von Regelmäßigkeiten im Ablauf der Vorgänge, um Kausalbeziehungen zu erkennen und Ereignisse vorhersagen zu können. Wichtig ist, dass all diese Tätigkeiten nicht um ihrer selbst willen ausgeübt werden, sondern von spezifischen Interessen geleitet sind, und dass folglich die Resultate zumindest partiell von jenen Interessen abhängen. Wenn es beispielsweise darum geht, einen bestimmten Gegenstand zu beherrschen, so ist es in der Regel gar nicht vonnöten und eher kontraproduktiv, ihn bis in die letzten Feinheiten zu erfassen. Es genügt völlig, die für die Bändigung relevanten Eigenschaften zu erkennen; seine zahlreichen anderen Qualitäten können getrost ignoriert werden. Das ist der Grund dafür, dass Ordnung vielfach mit Reduktion einhergeht. Ordnungsmaßnahmen stehen grundsätzlich im Dienst von bestimmten Zielen. Noch offen ist bislang die Frage, in welchem Zustand sich das zu ordnende Material vor der Erfassung durch ein Schema oder Kategoriensystem befindet. Wir haben es oben als amorph bezeichnet; diesen Ausdruck gilt es jetzt näher zu bestimmen. Amorph bedeutet, dass keine klaren Konturen zu erkennen sind und dass daher ein Prozess der Formung einsetzen muss. Die Schematisierung bildet also keine bereits bestehende Ordnung bloß ab – das würde auf ein Repräsentationsmodell hinauslaufen –, sondern sie greift aktiv ein und stellt die Ordnung allererst her. Der Formungsprozess wie-

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derum findet im Medium des Begriffs statt. An dieser Stelle sind nun aber zwei widerstreitende Varianten denkbar: (1) das Material könnte absolut amorph sein; dann müssten sich die Konturen aus dem Spiel der Begriffe untereinander ergeben und die resultierende Ordnung wäre im strengen Sinne arbiträr; (2) die Material könnte bloß relativ amorph sein, das heißt, es würde schwache, kaum vernehmbare Signale für Unterscheidungen und Gewichtungen aussenden; die Konturen würden sich in diesem Fall aus dem Wechselspiel zwischen Begriff und Gegenstand ergeben und die Ordnung wäre mimetisch. Es ist offenkundig, dass wir hier an einer entscheidenden Weggabelung angekommen sind. Verweilen wir also an diesem Punkt und prüfen wir beide Möglichkeiten ausführlich, bevor wir weiter voranschreiten.

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Im ersten der beiden Fälle haben wir es gleichsam mit einer wabernden Masse zu tun, die keine markanten Punkte aufweist und keinerlei Grenzlinien erkennen lässt. Nichts hebt sich vom anderen ab, alles fließt ineinander, es gibt keine Figur und keinen Grund. Es muss nicht unbedingt ein Grau in Grau sein, es mag sogar leuchtende Farben geben, aber die Übergänge sind vollkommen kontinuierlich, so dass das Material selber uns kein Motiv an die Hand gibt, um an einem bestimmten Punkt des Spektrums eine Grenze zu ziehen und zwei Farben zu unterscheiden. Wenn also Unterscheidungen eingeführt werden – und denken heißt unterscheiden –, so geschieht das willkürlich, beliebig, unmotiviert, arbiträr. Wobei diese Ausdrücke allerdings nicht missverstanden werden dürfen. Wenn es heißt, die Einteilungen seien willkürlich und beliebig, so bedeutet das nicht, dass wir sie nach Gutdünken wieder verändern könnten. Im Gegenteil haben die Systeme, mit denen wir heute hantieren, beispielsweise das Zeichensystem der Sprache, durch ihr historisches Gewachsensein längst ein solches Beharrungsvermögen entwickelt, dass sie jedem Versuch einer Veränderung eine schier unüberwindliche Trägheit entgegensetzen. Die These lautet lediglich, dass die ersten Grenzziehungen mangels eines Anhaltspunktes in der Sache irgendwo vorgenommen werden mussten. (Was allerdings bereits die Behauptung impliziert, dass sich auch heutige Veränderungsversuche nicht auf eine „Natur“, ein „Wesen“ oder Vergleichbares berufen können.)

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Analog leugnet der Ausdruck „unmotiviert“ nicht, dass es Interessen und insofern Motive gibt, genau diese und keine anderen Unterscheidungen vorzunehmen; wir haben ja im letzten Abschnitt gesehen, dass jede Ordnungsmaßnahme von einem Interesse geleitet ist. Behauptet wird allerdings, dass die Motive nicht in der Sache liegen, sondern von außen herangetragen werden. Vor dem Hintergrund dieser Klarstellungen ist die These zu verstehen, dass die Einteilungen, auf die es hier ankommt, arbiträr sind, d. h. auf Vereinbarung und Konvention beruhen. Für den Vorgang, in einem ursprünglich formlosen Material Grenzen zu ziehen und Gliederungen vorzunehmen, hat Saussure den Ausdruck Artikulation (von lat. articulus, Glied) eingeführt.2 Von ihm stammt auch der Hinweis auf die Arbitrarität der Einteilungen, also dass sie wie gesagt nicht durch Vorgaben in der Sache motiviert sind, sondern vereinbart werden. Ferner hat er, zumindest in Ansätzen, bereits die wichtige Konsequenz gezogen, dass wir es hier mit der eigentümlichen Denkfigur einer Differenz ohne Differente, genauer: einer netzwerkartigen Verkettung multipler Differenzen ohne vorgängig gegebene (d. h. positive) differierende Einzelglieder zu tun haben. Der Grund hierfür: durch die Unterscheidungen werden die Elemente – in der Semiologie die Zeichen – ja allererst artikuliert und damit konstituiert; folglich sind sie in keiner Weise „früher“ als das System der Differenzen, d. h. die Sprache. Die Emergenz von Sinn ist deshalb nur negativ zu verstehen, nämlich als Resultat der vielfältigen Abgrenzungen und Negationen, die in der amorphen Masse allmählich Konturen hervortreten lassen. Die Annahme eines positiven Anfangspunktes hingegen, beispielsweise in Gestalt einer gegebenen Sache, die durch die Begriffe repräsentiert wird, würde dem Netzwerkgedanken widersprechen. Die Pointe ist, dass dieser „Mangel“, das Fehlen einer ursprünglichpositiven Schicht, das System keineswegs daran hindert, bestens zu funktionieren. Das Spiel der Begriffe untereinander erzeugt Bedeutungen, die sich als hinreichend stabil erweisen. Und so können wir festhalten, dass die 2

„Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. [...] Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird [sc. im Zuge der Zeichenbildung] gezwungen, sich durch Gliederung zu präzisieren. [...] Man könnte die Sprache das Gebiet der Artikulation nennen.“ (Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 132 f.)

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Theorie der Artikulation in ihrem Kern als ein Modell für die Entstehung von Ordnung zu verstehen ist. Auch die zweite Variante ist von einem schlichten Repräsentationsmodell denkbar weit entfernt. Erneut wird angenommen, dass die Begriffe nicht bloß abbilden, sondern selber aktiv werden und durch Formung eines Materials Ordnung herstellen, und erneut besteht, wie sich zeigen wird, ein ganz wesentlicher Punkt im Übergang vom Singular des einzelnen Begriffs zum Plural eines Netzwerks vieler Begriffe. Allerdings wird die begriffliche Tätigkeit diesmal kritisch beäugt und als potentielle Deformierung des Gegenstandes angesehen. Dahinter steht die Annahme, dass, sowenig wir der Sache unmittelbar, d. h. durch einfache begriffliche Identifikation habhaft werden können, sie gleichwohl an ihr selbst nicht völlig unbestimmt ist und folglich die Gliederungen nicht arbiträr vorgenommen werden dürfen. Die Aufgabe besteht darin, mit ihr in Kommunikation zu treten und einfühlsam die Hinweise aufzunehmen, die von ihr ausgehen. Fraglich ist allerdings, ob der Begriff angesichts seiner zupackenden Art hierfür das geeignete Mittel ist. Es zeichnet sich ein Widerspruch ab: einerseits verspricht uns der Begriff die Sache als das, was er selbst nicht ist, andererseits schneidet er uns durch seinen identifizierenden Charakter von ihr ab. Die Sache entzieht sich ihm und bleibt gleichwohl sein Telos. Wie können wir dann aber an sie rühren, gesetzt, dass unserem Denken keine anderen Mittel als die Begriffe an die Hand gegeben sind? Um dem Dilemma zu entgehen, benötigen wir ein Gegengewicht zum aneignenden Zugriff. Ein derartiges Korrektiv ist nun erstens im bereits angesprochenen Übergang vom Singular zum Plural angelegt. Sowenig sich dem einzelnen Begriff die identifikatorische Tendenz austreiben lässt, so sehr kann es helfen, mehrere Begriffe in einem konfigurativen Feld derart zu arrangieren, dass sie sich nicht nur ergänzen, sondern wechselseitig korrigieren. Was es zu vermeiden gilt, ist der direkte Zugriff eines Einzelbegriffs auf die Sache, da in einem solchen Fall die Identifikation kaum zu vermeiden ist. Von einer kreisenden Bewegung hingegen einer Mehrzahl von Begriffen um die Sache herum ist durchaus Aufschluss über sie zu erwarten. Dem Leser wird nicht entgangen sein, dass in diesem Buch zwar viel von der Ordnung die Rede ist, aber keine Definition von ihr gegeben wird, und dass der terminus ad quem der Ataxiologie sogar ohne eigene Bezeichnung auskommen muss. Dieses Vorgehen ist der Überzeugung geschuldet, dass die Begriffe, wenn überhaupt, nur indirekt und vermittelt an die Sache rühren.

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Zweitens ist ein Gegengewicht zur identifikatorischen Tendenz des Begriffs in der Sache selbst angelegt, die einem aufmerksamen Beobachter durchaus den einen oder anderen Wink gibt, welche Einteilungen und Gliederungen angemessener sind als andere. Freilich setzt dies auf der Seite des Betrachters eine gewisse Sensibilität voraus, einen Sinn für feine qualitative Differenzen. Jedes imperiale Gehabe, das beispielsweise more scientifico auf Quantifizierung pocht, ist zu vermeiden. Platon beschreibt an einer Stelle im Phaidros die hier geforderte Erkenntnishaltung sehr anschaulich: das Denken müsse „imstande sein, beim Zerlegen in Unterarten den Schnitt nach den Gelenken zu führen, der Natur entsprechend, und nicht versuchen, nach der Weise eines schlech3

ten Kochs, irgendein Glied zu zerbrechen“ .

Stand im ersten Fall die arbiträre und insofern etwas grobschlächtige Artikulation bei der Modellbildung Pate, so ist es jetzt das feinfühlige Tranchieren. Es gilt, die Gliederungen aufzuspüren, die, wie unmerklich auch immer, in der Sache angelegt sind. Man wird einwenden, zum einen, dass bei derlei Bemühungen dem Denken die eigene Begrifflichkeit immer wieder in den Rücken fällt, und zum anderen, dass in dem angeführten Zitat die Rede von der Natur aus moderner Sicht reichlich unbefangen wirkt. Beide Einwände sind nicht aus der Luft gegriffen. Gleichwohl besteht kein Grund zu verzagen; wie sich zeigen wird, lassen sie sich durchaus mit Argumenten zurückweisen. In der Geschichte der Philosophie ist es Adorno gewesen, der dies geleistet hat. Gegen die nicht zu vermeidende Identifikationstendenz des Einzelbegriffs hat er die Idee einer Konstellation der Begriffe in die Waagschale geworfen, womit gemeint ist, dass durch ein geschicktes Arrangement der Begriffe in einem Feld der Fehler des einzelnen Begriffs ausgeglichen werden soll: „Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.“4 Und gegen die Hypostasie-

3 4

Platon, Phaidros, 265. Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 164 f. – Vgl. auch ebd. S. 62.

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rung der Natur zu einem schlechthin Ersten hat er, lange vor Derrida, jede Form von Ursprungsphilosophie kritisiert, mit dem Argument, dass das vermeintlich Erste in Wirklichkeit bereits in sich vermittelt sei.5 Schließlich hat er aus alldem die vielleicht radikalste Konsequenz gezogen und die Aufnahme einer mimetischen Komponente ins Denken gefordert. Freilich nicht im Sinne einer Rückkehr zum naiven Realismus, der sich unbedarft dem Objekt ausliefert. Hinter das in der Moderne gewonnene Reflexionsniveau der Erkenntnistheorie darf der Gedanke nicht zurückfallen. Aber die Erkenntniskräfte des Subjekts dürfen nun ihrerseits nicht zu einem Eigenständigen verabsolutiert werden: in dem Maße, wie das Denken sich autark wähnt, gerät es in den Sog der Identitätsphilosophie. Wie aber soll das Denken vorgehen, wenn es weder auf den direkten Zugriff noch auf die Reflexion pochen kann? Adornos Ausweg aus dem Dilemma besteht in der Idee, „daß Denken einem Objekt sich anschmiegen muss, auch wenn es ein solches noch gar nicht hat, gar es zu erzeugen meint. [...] Gedanken, die wahr sind, müssen unablässig sich aus der Erfahrung der Sache erneuern, die gleichwohl in ihnen sich erst bestimmt.“6 Eine merkwürdige Denkfigur: das Denken soll sich mimetisch zu einer Sache verhalten, die es als so bestimmte noch gar nicht gibt. Wir können von einer inversen Mimesis sprechen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Figur durchaus ihre Berechtigung hat. Denn im Problemfeld von Begriff und Sache ist es nur eine der beiden Hauptfragen, ob der Begriff (in Gestalt einer Begriffskonstellation) der Sache entspricht. Die andere lautet, ob die Sache dem Begriff entspricht, also ob sie jene Ansprüche erfüllt, die zumindest in emphatischen Begriffen enthalten sind. Und wenn wir nun Grund zu der Annahme haben, dass die bürgerliche (Konkurrenz-) Gesellschaft von einer menschengerechten Einrichtung weit entfernt ist, also ihrem Begriff beileibe nicht entspricht; wenn zugleich aber eine der zentralen Aufgaben des Denkens darin besteht, eben diese Gesellschaft theoretisch zu bestimmen – und zwar durch Fühlungnahme mit der Sache, nicht durch identifizierende Festlegung –, dann haben wir in der Summe die Figur eines mimetischen Verhaltens zu einem Gegenstand, den es in gewisser Weise erst noch zu

5 6

Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 14-17 und S. 30-33. Adorno, Stichworte. Gesammelte Schriften, Bd. 10 (2), S. 602/604.

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konstituieren gilt. Dabei ist das geforderte emphatische Moment in fast allen Begriffen enthalten, gerade auch in denen des Alltags. Das hat Adorno in seinen Minima Moralia gezeigt, philosophisch-essayistischen Reflexionen aus dem bürgerlichen Leben, die an vielen Beispielen die Deformierung der Gegenstände, mit denen wir tagtäglich umgehen, aufzeigen. Konstellation, Kritik der Ursprungsphilosophie, inverse Mimesis – wir haben bei Adorno eine Reihe von Motiven gefunden, die die hier unter dem Titel Tranchieren vorgestellte Erkenntnishaltung näher bestimmen, gerade auch in ihrer Differenz zur Theorie der Artikulation. Es dürfte deutlich geworden sein, dass beide Ansätze sich auf Augenhöhe begegnen: beide bieten ein Modell dafür an, wie durch die Formung von Material ein theoretischer Mehrwert in Gestalt von Sinn, Wahrheit oder Erkenntnis gewonnen werden kann. Sie haben sogar eine wichtige Gemeinsamkeit, insofern die Kritik an der Ursprungsphilosophie auch ein zentrales Anliegen von Saussures philosophischem Erben Derrida ist. Gleichwohl bleiben sie natürlich unvereinbar, bedingt durch die gegensätzlichen Ausgangspunkte: die Theorie der Artikulation nimmt eine völlige Gestaltlosigkeit des Materials an und muss daher alle Ordnungsmaßnahmen für arbiträr erklären; das Tranchiermodell hält gerade das für den größten Fehler und fordert ein mimetisches Vorgehen, das von der Annahme unmerklicher Bestimmungen der Sache ausgeht. Wie wollen wir mit diesem Widerstreit umgehen? Eine Möglichkeit wäre, sich mit Argumenten einem der beiden Ansätze anzuschließen. Aber welchem? Eine Entscheidung herbeiführen kann wohl nur ein philosophischer Hahnenkampf, d. h. die wechselseitige Kritik der beiden Denkrichtungen.

C)

N AIVE K RITIK , HEIMLICHE P HÄNOMENOLOGIE

Wenn sich die beiden Ansätze im Motiv einer Kritik der Ursprungsphilosophie treffen, so heißt das noch lange nicht, dass sie diese Kritik aus den gleichen Motiven durchführen und sie mit den gleichen Argumenten bestreiten. Und vor allem ist nicht ausgeschlossen, dass sich jeder von ihnen aus der Warte des jeweils anderen selber als eine Variante von Ursprungsphilosophie erweist. Wir werden also in unserem Vergleich behutsam vorgehen müssen und dürfen von ähnlichen Formulierungen nicht vorschnell auf inhaltliche Übereinstimmungen schließen. Ich konzentriere

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mich in diesem Abschnitt von vornherein auf Adorno und Derrida als die beiden Hauptvertreter der hier zur Diskussion stehenden theoretischen Richtungen. Derrida spricht eher selten von Identität und viel häufiger von (Metaphysik der) Präsenz, aber es wird schnell deutlich, dass seine Metaphysikkritik in mehreren Hinsichten ähnlich angelegt ist und dieselbe Stoßrichtung hat wie Adornos Identitätskritik. Beide Autoren sind sich einig, dass die abendländische Philosophie in den meisten ihrer Ausprägungen bestrebt war, die Vielfalt des Gegebenen auf einen Ursprung zurückzuführen, und übereinstimmend sehen sie darin den Kardinalfehler des traditionellen Denkens. Die Rückführung auf einen Ursprung, wiewohl psychologisch verständlich als Wunsch nach Übersicht und Kontrolle, ist in praktischer Hinsicht gleichbedeutend mit Begrenzung und Verarmung, und in theoretischer Hinsicht erweist sie sich bei genauer Analyse sogar als inkonsistent. Schauen wir uns für den letztgenannten Vorwurf die Argumente einmal im Einzelnen an: Für Derrida ist das Setzen eines Ursprungs ein ambivalenter Schritt: einerseits wird dadurch ein Feld eröffnet und das Spiel oder die Permutation der Elemente in ihm wird ermöglicht; andererseits ist das Spiel aber von Anfang an begrenzt, insofern der Ursprung selber von ihm ausgenommen ist. Der Ursprung gibt also einer Bewegung eine Stätte, ruht aber selber wie der unbewegte Beweger des Aristoteles in sich und ist damit ganz bei sich, d. h. präsent. Diese Annahme einer (Selbst-) Präsenz ist nun aber mit der Saussureschen Einsicht in den differentiellen Charakter des Zeichens nicht vereinbar. Ein transzendentales Signifikat, das der Bewegung des Signifikationsprozesses enthoben wäre, ist, wenn man aus der Theorie der Artikulation die philosophische Konsequenz zieht, ein Ding der Unmöglichkeit: „Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, dass zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen.“7 Kein Zeichen (und damit kein Gedankeninhalt) ist je ganz bei sich. Denn es muss ja, damit sein Sinn bestimmt ist, virtuell durch die Gesamtheit aller anderen

7

Derrida, Semiologie und Grammatologie, S. 150.

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Zeichen hindurchgegangen sein. Es kommt also im Verhältnis zu sich selbst immer schon zu spät, es ist – so paradox es klingen mag – ursprünglich verspätet. Darüber hinaus ist es auch in dem Sinne nicht ganz bei sich, als es stets die Spuren der anderen Zeichen in sich trägt, derer es zu seiner Konstitution bedarf. Seine Identität ist von diesen anderen erborgt, die freilich ihrerseits nur geborgte Identitäten aufweisen. Damit ist aber jedem Denken eines Ursprungs der Boden entzogen. Denn von einem Ursprung zu reden macht nur Sinn, wenn er erstens dem Entsprungenen sei es zeitlich, sei es logisch vorangeht und wenn er zweitens in seiner Konstitution nicht von ihm abhängt. Folgerichtig sind die basalen Termini der Philosophie Derridas – Spur, différance etc. – gerade als Gegenentwurf zu traditionellen Ursprungsbegriffen konzipiert. Adornos These lautet, dass jeder vermeintliche philosophische Ursprung durch eine kritische Reflexion als Chimäre entlarvt werden kann. Denn ein solcher Ursprung müsste, um seine Fundierungsfunktion zu erfüllen, rein und unvermittelt sein. Ein schlechthin Unmittelbares ist aber in der Philosophie spätestens seit Hegel nicht mehr zu haben. Das Denken muss statt dessen mit der Vermitteltheit auch seiner Fundamentalbegriffe rechnen; folglich kann es nicht mehr auf einen ersten Anfang vertrauen.8 Diese Zurückweisung eines Ersten und Ursprünglichen ist explizit auch Derridas Position, der somit bis hierhin völlig einverstanden wäre, auch wenn er seine Argumentation bevorzugt vom Saussureschen Differenz- statt vom Hegelschen Vermittlungsmodell her entfaltet. Adorno geht nun aber einen entscheidenden Schritt weiter und problematisiert neben der Unvermitteltheit auch die Reinheit des Ursprungs: „Kein Sein ohne Seiendes. Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, doch durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Abstraktion des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen.“9 Der Ursprung ist 8

9

„Ein jegliches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr erstes reflektieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner Zufälligkeit überführt werden will. [...] Selbst der Empirismus könnte kein einzelnes jetzt und hier Seiendes, kein Faktum als Erstes reklamieren, sondern einzig das Prinzip von Faktischem überhaupt. Als Begriff ist das Erste und Unmittelbare allemal vermittelt und darum nicht das Erste.“ (Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Ges. Schriften, Bd. 5, S. 15 f.) Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 139.

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demnach auch insofern eine Illusion, als er den Gedanken einer reinen und absoluten Form voraussetzt, der sich jedoch als nicht haltbar erweist. Für Adorno muss das Denken auf Sachhaltigkeit bedacht sein und sich immer wieder aus der Erfahrung der Sache erneuern. Das stimmt mit seiner Annahme überein, dass die Sache, obwohl sie sich der naiven intentio recta entzieht, dennoch an ihr selbst nicht völlig bestimmungslos ist. Unmerklich leitet sie das Denken, jedenfalls eines, das rezeptiv genug ist. Und mögen die Bestimmungen nur als Forderungen, ja als utopische Forderungen gegeben sein, so dass von der Sache vorerst nur im Futur bzw. im Konjunktiv gesprochen werden kann, so bleibt doch die These, dass ein Denken, das sich auf den Gesichtspunkt der Form konzentriert und jeden Inhalt ausblendet oder „einklammert“ (Husserl), zum Scheitern verurteilt ist. Bei dieser These würde Derrida nun aber die Gefolgschaft verweigern. Zum einen ist für ihn die Differenz von Form und Inhalt bei anschließender Konzentration auf die Form zentral; das wird im Weiteren noch überaus deutlich werden. Zum anderen würde er im Adornoschen Konjunktiv ein Präsens und damit eine Präsenz zweiten Grades wittern. In der Tat beinhalten ja Adornos Andeutungen darüber, wie es wäre, wenn die Versöhnung gelänge, bei aller Vorsicht auch immer ein Moment von Darstellung und Präsentation. Zwar weigert er sich, bisweilen unter Berufung auf das jüdische Bilderverbot, die Utopie auszupinseln und wie Thomas Morus und manche Frühsozialisten die schöne neue Welt bis ins Detail zu beschreiben. Aber das bloße Vorhandensein eines utopischen Motivs in seinen Überlegungen bedingt so manchen Ausgriff auf das Jenseits der bürgerlichen Tristesse und damit auf den Stand der Versöhnung. Nehmen wir als Beispiel die Äußerung: „Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist.“10 Sosehr dieser Satz die Prätention vermeidet, den utopischen Zustand oder auch nur den Weg dorthin ex cathedra festschreiben zu können, beinhaltet er gleichwohl umrisshaft eine erste Aussage: dass jenseits des Identitätsbanns keine gestaltlose Masse auf uns wartet, sondern eine Mannigfaltigkeit von Objekten, denen bei aller Offenheit für nachfolgende Bestimmungen – auch normativer Art – allein durch ihre Unterschiedenheit eine gewisse Bestimmtheit zukommt. Eben diese Bestimmtheit, wie vage sie auch sein

10 Ebd. S. 18.

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mag, ist dann ja der Ansatzpunkt für den mimetischen Impuls. Für die Dekonstruktion ist all dies jedoch die konjunktivisch drapierte Verlängerung des Präsenzdenkens. Um ihm zu entrinnen genügt es nicht, den Augenblick der Wahrheit in eine utopische Zukunft zu verschieben, vielmehr müsste man – und selbst das ist nur ein notwendige, keine hinreichende Bedingung – die Rede von der „Sache selbst“ vermeiden. An eben diesem Ausdruck hält die Negative Dialektik aber ausdrücklich fest; er ist der Anker, der sie davor bewahrt, in idealistisches Fahrwasser zu geraten, wo das Denken nur noch in sich selber kreist und alle Bestimmungen meint aus sich hervorbringen zu können. In seinen eigenen Worten, für Adorno ist „die Sache selbst keineswegs Denkprodukt; vielmehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch. Solche Nichtidentität ist keine [Platonische, Hegelsche] ,Idee‘; aber ein [durch die realen gesellschaftlichen Verhältnisse] Zugehängtes.“11 In konsequenter Fortführung seines materialistischen Ansatzes nimmt Adorno an, dass die Sache, derer wir im Zuge eines langwierigen und in sich reflektierten Erkenntnisprozesses ansichtig werden sollen, im Grunde schon da ist, nur eben verhüllt und nicht unmittelbar zugänglich. Dieses Da-sein der Sache kann nun jedoch von der Dekonstruktion mit Recht als Präsenz gebrandmarkt werden: wenn etwas zugehängt ist, dann ist es bereits gegeben, mögen seine Bestimmungen auch im Einzelnen noch nicht erkennbar sein. Aus der Sicht Derridas bleibt daher in der negativen Dialektik ein Rest Naivität. Es spricht für Adornos Redlichkeit, dass er dieses naive Moment in seiner Theorie freimütig einräumt: „Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, daß es der Philosophie doch möglich sei; daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivetät, an der sie krankt.“12 Er versucht gar nicht erst zu vertuschen, dass in seinem Ansatz eine Lücke klafft zwischen der unnachgiebigen Kritik am begrifflich-identifizierenden Denken und der Einsicht, dass nur Begriffe uns die Sache näher bringen. Techniken zur Korrektur der begrifflichen Verzerrungen – Konstellation, inverse Mimesis – können die Lücke zwar verkleinern, aber nicht gänzlich schließen. Ador-

11 Ebd. S. 189. 12 Ebd. S. 21.

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no kommt also nicht umhin, eine gewisse Eigenbestimmtheit der Sache anzunehmen, und da hat die Dekonstruktion nun leichtes Spiel, auf die Rudimente eines transzendentalen Signifikats in dieser Annahme hinzuweisen: die Rede von der „Sache selbst“ impliziert die Setzung eines Moments, das über die Signifikantenkette hinausgeht. Aus der Warte Derridas bleibt die negative Dialektik deshalb bei aller Kritik an der Ursprungsphilosophie doch an einem Fallstrick derselben hängen. Das leitet zu der Frage über, wie Derrida selber mit der Problematik zurechtkommt: gelingt es ihm, sich stringent dem Ursprungsdenken und damit der Metaphysik zu entwinden? * Ein wesentliches Element in der Grammatologie ist der Begriff der vereinbarten Spur (trace instituée), in dem Derrida einige der Motive bündelt, die er bei Saussure vorgefunden und produktiv weiterentwickelt hat. Der Ausdruck Spur soll dabei andeuten, dass das Denken keine gegebenen Entitäten, keine „positiven Einzelglieder“ (Saussure) annehmen darf, auf die es sich verlassen könnte, etwa um sie als bequeme Ausgangspunkte zu wählen. Vielmehr ist das Differenzmodell zugrunde zu legen, dem zufolge alle Positivitäten – beispielsweise in Gestalt von Sinneffekten – das Resultat eines Prozesses sind, genauer des Spiels von Unterschieden, Abgrenzungen und Verweisen. Hierbei hat der Ausdruck Spur natürlich den Nachteil, dass bei ihm zumindest in der Alltagssprache doch wieder eine positive Entität mitschwingt, in Gestalt der Sache, die eine Spur oder einen Abdruck hinterlassen hat. Derrida beeilt sich deshalb hinzuzufügen, dass er einen anderen Begriff von Spur meint, in dem die Spur nicht auf ein Etwas, sondern auf andere Spuren verweist, die ihrerseits nur weiter verweisen etc. „Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.“13 In die zuvor in diesem Kapitel verwendete Terminologie übersetzt: jede Vorstellung von einer Sache verdankt sich einer Artikulation, die in ihrem Kern negativ ist, weil sie aus Differenzen und Abgrenzungen hervorgeht. Wo aber kommen die Grenzen her, die die Voraussetzung für das Spiel der Verweise und Vergleiche sind? Der Hinweis, die Spur sei vereinbart – eine Reformulierung von Saussures Ausdruck ,arbiträr‘ –, deutet es an: sie kommen jedenfalls nicht aus der

13 Derrida, Grammatologie, S. 82.

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Natur der Sache, denn die Annahme einer solchen Natur würde ja dem Spiel eine Schranke setzen und dadurch in die Metaphysik der Präsenz zurückfallen. Die Grenzen entspringen vielmehr der Konvention, sie wurden in einem Sprachraum oder in einem Kulturkreis vereinbart, und zwar im Laufe eines langen historischen Prozesses. Sie stehen keineswegs ein für allemal fest, da sie ja einst willkürlich gesetzt wurden, aber jeder heutige Veränderungsversuch muss mit der Trägheit des Althergebrachten rechnen und darf nicht glauben, sich mir nichts, dir nichts darüber hinwegsetzen zu können. An diesem Punkt könnten wir aber stutzig werden: hat sich Derrida nicht soeben in einen performativen Widerspruch verstrickt? Verstößt er nicht gegen eine von ihm selbst aufgestellte Forderung, wenn er auf der einen Seite verlangt, die überkommenen Wortbedeutungen zu respektieren, sich auf der anderen Seite aber die Freiheit herausnimmt, den Ausdruck Spur unvermittelt in einer wesentlich verschobenen Bedeutung zu verwenden? In der Tat stehen wir hier vor einem Problem. Zwar ist es verfrüht, von einem Widerspruch zu reden, aber Derrida steht auf einmal unter Zugzwang, seine Verwendung des Terminus Spur zu rechtfertigen. Seine Begründung operiert mit der Behauptung, dass der Begriff der Spur (wie übrigens andere Termini auch) gleichsam auf zwei Ebenen spielt, von denen die Alltagssprache nur eine abdeckt. Für sich selber nimmt Derrida in Anspruch, die andere Ebene philosophisch erschlossen zu haben; er bemüht sich, sie als die in theoretischer Hinsicht fundamentale zu erweisen. Fingerzeige für seine Pionierarbeit erhielt er von verschiedenen Linguisten des 20. Jahrhunderts, nicht nur von Saussure, sondern beispielsweise auch von Vertretern der Kopenhagener Schule. So findet sich bei Hjelmslev eine Reflexion über das Phänomen der Parallelität und Unabhängigkeit von gesprochener und geschriebener Sprache (Phonem und Graphem); Hjelmslev folgert aus der Unmöglichkeit, die eine schlüssig auf die andere zurückzuführen – die Schrift hat keine Zeichen für die Akzentuierungen, in der Rede entspricht nichts den Wortzwischenräumen –, dass die eigentliche Sprache ein Drittes sein muss, das den beiden anderen vorgeordnet ist. Dieses Dritte zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm keine positive Substanz waltet, sei sie phonischer oder graphischer Natur, sondern allein das formale Spiel der Differenzen. Das hat einerseits zur Folge, dass die theoretischen Betrachtungen an Anschaulichkeit verlieren und sich ihr Gegenstand dem intuitiven Zugriff entzieht; andererseits wird dem Saussureschen

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Diktum, die Sprache sei eine Form und keine Substanz, in besonderer Weise Genüge getan. Derrida sieht in derlei Überlegungen den richtigen Weg eingeschlagen. Für ihn gilt es, die Ebene zu finden, auf der sich die Verweisstruktur ungehindert entfalten kann, was an erster Stelle die Ausschaltung aller substanzhaften Positivitäten erfordert, da es sich bei den Verweisen um ein negatives und formales Spiel von Abgrenzungen handelt. Schon bei Saussure gibt es erste Schritte in diese Richtung. Einmal durch die Unterscheidung von alltäglicher Rede (parole) und zugrunde liegendem Sprachsystem (langue); hierbei wird ja, freilich noch etwas grob, die ganze empirische Seite der Sprache der parole zugeschlagen und somit aus den weiteren Überlegungen ausgeschlossen. Vor allem dann aber, feiner und präziser, durch die Gegenüberstellung von Laut und Lautbild (son objectif und image acoustique); in dieser Unterscheidung sieht Derrida den entscheidenden Schritt zur Entsubstanzialisierung, der die vorherige Gegenüberstellung einer empirischen und einer systematischen Seite der Sprache allererst auf eine theoretische Grundlage stellt: „Ohne diese Reduktion des Lautmaterials bliebe die für Saussure bestimmende Unterscheidung zwischen Sprache (langue) und gesprochenem Wort (parole) ohne jede Stringenz.“14 Was genau geschieht hier? Machen wir uns den Vorgang im Einzelnen klar: Saussure steuert auf einen Zeichenbegriff zu, der Bezeichnendes und Bezeichnetes umfasst und gleichwohl eine Einheit bildet. Damit Letzteres gewährleistet ist, muss aber die Ebene der kruden Materialität verlassen werden, denn es ist nicht zu sehen, wie der Klang, also z. B. die Schallwellen des Wortes ,Elefant‘, und die Materie des entsprechenden Rüsseltiers je eine Einheit bilden könnten. Auf der Seite des Bezeichneten ist der Übergang einfach: der wirkliche Elefant wird durch die entsprechende Vorstellung (concept) ersetzt bzw. vertreten. Signifikat ist also nicht der materielle Referent, sondern ein Allgemeinbegriff, etwas Geistiges. Auf der Seite des Bezeichnenden muss nun ein analoger Übergang stattfinden. Leider bietet uns aber die gewöhnliche Sprache hier keinen passenden Ausdruck an: für das geistige Pendant zum realen Laut gibt es kein Wort. Saussure führt deshalb gleichsam als Notbehelf die Bezeichnung ,Lautbild‘ ein und erläutert den Ausdruck wie folgt: „[Das Lautbild] ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas

14 Ebd. S. 93.

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Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen.“15 Ähnlich wie das Signifikat ist also auch der Signifikant keine Instanz in der äußeren Realität; das ist der Grund für die innere Einheit des Zeichenbegriffs. Wie steht nun Derrida zu alldem? Seine Haltung ist zwiespältig: einerseits begrüßt er die Ausschaltung der materiellen Substanz und alles Realen und Empirischen; er sieht darin die Voraussetzung, um die Ebene des formalen Spiels zu erreichen. Andererseits kritisiert er aber massiv, dass Saussure jedes Argument für den Übergang vom Laut zum Lautbild, also von der materiellen zur formalen Ebene schuldig geblieben sei. Die alles entscheidende Differenz werde nur thesenhaft eingeführt, es fehle der philosophische Unterbau. Für den Sprachwissenschaftler Saussure mag das verzeihlich sein, aber gemessen an den theoretischen Ansprüchen Derridas klafft hier natürlich eine empfindliche Lücke, die es unbedingt zu schließen gilt. In der Grammatologie, in der dieses bei Saussure bestehende Defizit am prägnantesten herausgearbeitet wird, schließt Derrida nun die Lücke auf überraschende Art und Weise: durch einen Rückgriff auf die Husserlsche Phänomenologie. Überraschend ist das deshalb, weil er in dem im gleichen Jahr (1967) erschienenen Buch Die Stimme und das Phänomen die Phänomenologie erfolgreich dekonstruiert zu haben schien; der Verlag der deutschen Übersetzung preist das Buch im Klappentext als „Paradebeispiel einer dekonstruktiven Lektüre“ an. Danach schien es undenkbar, dass originär phänomenologisches Gedankengut noch einmal eine tragende argumentative Rolle in einem Text von Derrida würde spielen können. Genau das ist jetzt aber der Fall. Es wird Saussure sozusagen vorgeworfen, nicht genügend Husserlianer gewesen zu sein. Der fehlende Übergang vom Laut zum Lautbild wird hergestellt, indem Husserl Saussure aufgepfropft wird. „Das Lautbild ist das Vernommene: nicht der vernommene Laut, sondern das Vernommen-Sein des Lautes. Das Vernommen-Sein ist seiner Struktur nach phänomenal und gehört einer Ordnung an, die von der Ordnung des wirklichen Lautes in der Welt vollständig verschieden ist. Diese geringfügige, aber entscheidende Verschie-

15 Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 77.

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denartigkeit kann nur durch eine phänomenologische Reduktion hervorgehoben werden. Letztere ist somit für die Analyse des Vernommen-Seins des Lautes [und 16

damit für das Denken der Spur] unerlässlich.“

In diesen Zeilen legt Derrida, wie mir scheint, die Karten auf den Tisch. Der entscheidende Übergang von der inhaltlich-substanziellen Ebene (des Lautes) zur formalen Ebene (des Lautbildes), der der Art und Weise, wie Derrida den Ausdruck Spur verwendet, allererst einen Sinn verleiht, – dieser Übergang verdankt seine philosophische Stringenz eben jener Denkfigur, die auch am Anfang aller Husserlschen Überlegungen steht: der phänomenologischen Reduktion. Ohne die Reduktion würden die Spuren nicht in einem unbegrenzten Spiel aufeinander verweisen, sondern jede würde für sich den Stempel oder Fuß oder was auch immer repräsentieren, dessen Abdruck sie ist. Ohne Reduktion keine différance. Die Funktion, die die Reduktion dabei zu erfüllen hat und die sie für die Grammatologie unverzichtbar macht, besteht darin, den Diskurs zu entlasten und von all dem empirischen und substanzhaften Ballast zu befreien, der das freie formale Spiel der Differenzen behindert und immer wieder an eine Grenze führt. Sie ist gleichsam der Steigbügelhalter für den Sprung auf die grammatologische Ebene, für den Übergang von der empirischen zur reinen Spur. Derrida lässt keinen Zweifel daran, dass für diesen Registerwechsel die Ausschaltung oder Einklammerung der gesamten inhaltlichen Dimension erste Voraussetzung ist: „Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt.“17 Dass es sich dabei um ein typisch phänomenologisches Vorgehen handelt, muss wohl nicht eigens betont werden. Es mag befremdlich erscheinen, dass die Dekonstruktion hier so in die Nähe der Phänomenologie gerückt wird. Ist Derrida nicht in mancher Hinsicht der schärfste Kritiker Husserls? Hat er nicht durch seine dekonstruktive Lektüre der Logischen Untersuchungen (in dem bereits genannten Band Die Stimme und das Phänomen) die Phänomenologie im Ganzen aus den Angeln gehoben? Ich räume ein, dass er alles andere als ein Husserl-

16 Derrida, Grammatologie, S. 111 (Hervorhebung nicht im Original). 17 Ebd. S. 109 (Hervorhebung nicht im Original).

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Epigone ist und dass es zahlreiche und einschneidende Differenzen zwischen der Dekonstruktion und der Phänomenologie gibt (man denke nur an Husserls Rede von der „lebendigen Gegenwart“ und im Kontrast dazu an Derridas Invektiven gegen die Metaphysik der Präsenz). Aber ich behaupte, dass es im hier interessierenden Punkt, der phänomenologischen Reduktion, einen kontinuierlichen Weg von Husserl zu Derrida gibt. Vor ihr macht die Dekonstruktion Halt. Mein Verdacht ist, dass das notwendig geschieht, aber vorsichtshalber will ich meine Behauptung auf die Grammatologie einschränken. Darin freilich gibt es eindeutige Belegstellen, die verdeutlichen, dass Derrida – dessen Redlichkeit an dieser Stelle hervorzuheben ist – bei aller Kritik an der Phänomenologie nicht recht von ihr loskommt: „Das Denken der Spur kann deshalb so wenig mit einer transzendentalen Phänomenologie brechen wie auf sie reduziert werden.“18 Mit der Berufung auf ein Gedankenmotiv der Phänomenologie bietet Derrida nun aber der Kritik eine überraschend große Angriffsfläche. Zum einen ist nicht zu sehen, auf welcher Ebene die Konventionen, die der Rede von der vereinbarten Spur allererst einen Sinn verleihen, abgeschlossen werden können; durch die Ausblendung aller Inhalte ist die entsprechende Dimension zur Gänze weggeschnitten. Und zum anderen hat nicht zuletzt Adorno gezeigt, dass die phänomenologische Reduktion eine Reihe äußerst traditioneller Denkfiguren fortschreibt, etwa den Form-Inhalt-Dualismus. Ein Denken unter dem Wahrzeichen der Reduktion befördert unweigerlich und geradezu ungeniert jene Missachtung des Einzelnen und Besonderen, jene Degradierung der Qualitäten, die für Adorno das Charakteristikum des Hauptstroms der abendländischen Philosophie ist und der er mit einiger Überzeugungskraft den „Primat inhaltlichen Denkens“19 entgegensetzt. Derridas Privilegierung der Form, seine Ausschaltung und Einklammerung der gesamten inhaltlichen Dimension more phaenomonologico mutet deshalb bedenklich und überdies traditionell an. Das Pathos seiner Texte zehrt ja von der Perspektive, das Denken aus den eingefahrenen metaphysischen Bahnen herauszuführen und neue Horizonte zu erschließen. Wenn sich jetzt herausstellt, dass er selber eine der klassischsten Denkfiguren an den An-

18 Ebd. S. 108 (im Original komplett hervorgehoben). 19 Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 9. Vgl. auch S. 20 und passim.

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fang stellt, so ist das nicht gerade ermutigend. Man wünscht sich eine Dekonstruktion des Form-Inhalt-Dualismus; aber gerade die bleibt aus und muss auch ausbleiben, weil die Dekonstruktion (oder zumindest die Grammatologie, um noch einmal die genannte Einschränkung zu praktizieren) eben jenen Dualismus voraussetzt.20 Unser philosophischer Hahnenkampf lässt somit zwei in ihrem Stolz zwar ungebrochene, aber ansonsten doch arg gerupfte Gockel zurück. Adorno hat sich als kritischer Denker entpuppt, der bei aller Negation gleichwohl gezwungen ist, ein Moment von Naivität in seine Theorie einfließen zu lassen; und bei Derrida hat sich erwiesen, dass die bewundernswerte Stringenz seines Differenzmodells durch die Voraussetzung der phänomenologischen Reduktion teuer erkauft ist. Ich stelle noch einmal die Frage vom Ende des letzten Abschnitts: welchem der beiden Ansätze wollen wir uns anschließen?

D)

D ER W IDERSTREIT

Vielleicht kann man diese Frage nur mit einer Gegenfrage beantworten: müssen wir denn einem der beiden Ansätze den Vorzug geben? Welcher Wille zur Ordnung ist da am Werk, dass eine Aporie nicht als solche stehen bleiben kann? Wäre es für eine Ataxiologie nicht ein Zeichen äußerster performativer Konsequenz, ein Moment von Unentscheidbarkeit in die Konzeption aufzunehmen? Es scheint an der Zeit, das Motiv des Widerstreits in die Überlegungen einzubeziehen. In der Geschichte der Philosophie hat dieses Motiv bereits mehrfach ein tragende Rolle gespielt. In der Kritik der reinen Vernunft ist es das zentrale Element im Kapitel über die kosmologischen Antinomien: Kant beweist 20 Wenn ich recht sehe, kommt Derrida in späteren Texten nicht mehr auf Husserl und die phänomenologische Reduktion zurück, jedenfalls nicht in derart affirmativer Weise. Statt dessen versucht er in immer neuen Anläufen und konsequenter als zuvor, alle binären Oppositionen im Denken zu unterlaufen. Liegt darin das implizite Eingeständnis, dass die Grammatologie noch dem Dualismus von (reiner) Form und (empirischem) Inhalt verhaftet bleibt? Wenn ja, wäre zu untersuchen, ob es den späteren Schriften gelingt, einen Denkraum jenseits dieses Dualismus zu besetzen.

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mit derselben Stringenz und im Ausgang von denselben Voraussetzungen, dass die Welt einen Urheber und keinen Urheber hat, dass in ihr eine Kausalität aus Freiheit und keine Kausalität aus Freiheit anzunehmen ist etc. Es handelt sich, so Kant, um einen Streit der Vernunft mit sich selbst. In ihn gerät sie ohne ihr Verschulden, da er Fragen bzw. Punkte betrifft, die einerseits nicht abweisbar, andererseits aber keines Beweises fähig sind. Wie geht Kant nun mit dem Widerstreit um? Bei Lichte besehen lässt er die von ihm herausgearbeiteten Aporien nicht wirklich als solche stehen. Zwar löst er sie nicht schlechthin auf, aber er nimmt ihnen doch die Schärfe, indem er sie auf eine andere Ebene transponiert. So bleibt von der Antithetik bezüglich der Willensfreiheit am Ende kaum mehr, als dass das Individuum qua Erscheinung, d. h. als Naturwesen oder empirischer Charakter, vollständig den Gesetzen der Natur unterworfen und insofern in seinem Handeln determiniert ist; als Ding an sich oder intelligibler Charakter hingegen steht es außerhalb der Naturgesetze, so dass hier eine Willensfreiheit anzunehmen zumindest denkmöglich ist. Die ursprüngliche Antinomie wird also in die Dualität von Ding an sich und Erscheinung überführt, und damit handelt es sich nicht mehr um einen Widerstreit im engeren Sinne. Aus diesem Grunde geht es Lyotard, der die Thematik des Widerstreits unter sprach- bzw. diskurstheoretischen Vorzeichen wieder aufnimmt, in erster Linie darum, jede Überführung oder Aufhebung als unmöglich zu erweisen. Seine These lautet, dass es Fälle gibt, in denen sich Diskurse völlig inkommensurabel gegenüberstehen und kein Ausgleich zwischen ihnen möglich ist. Was da aufeinanderprallt, sind nicht bloß entgegengesetzte Meinungen und Standpunkte, sondern divergierende Typen des Denkens und Sprechens, die bereits in ihren Grundannahmen so verschieden sind, dass es keinen Metadiskurs gibt, der zwischen ihnen vermitteln könnte. Der einzige Konsens, der je erzielt werden kann, ist der Konsens über den Dissens. Jeder Urteilsspruch, der von einer dritten Instanz über den Widerstreit gefällt wird, lässt mindestens einer der beiden Streitparteien Unrecht widerfahren, weil er bestenfalls den Diskursregeln der jeweils anderen Streitpartei gehorcht. Stellt die dritte Instanz ihre eigenen Regeln auf, tut sie sogar beiden Streitparteien Unrecht.21

21 „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen ent-

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Auf die naheliegende Frage, wie angesichts der Inkommensurabilität der Ausgangspunkte der Widerstreit überhaupt manifest werden kann, d. h. auf welcher (Sprach-) Ebene der Dissens zu Tage tritt, antwortet Lyotard mit der Unterscheidung von Satz-Regelsystemen und Diskursarten. Die Sätze mit ihren Regelsystemen – als Beispiele nennt er „Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen“22 etc. – bilden dabei die Elemente, aus denen die Diskurse zusammengesetzt sind. Das Problem entsteht nun dadurch, dass es keine (Meta-) Regel gibt, die einen Satz eindeutig einem bestimmten Diskurs zuordnen würde. Im Gegenteil kann derselbe Satz in verschiedenen Diskursen und Diskursarten auftauchen, und daraus resultiert dann letztlich der Widerstreit. Die „Begegnung“ findet also auf der Ebene der Sätze statt; die Unvereinbarkeit entsteht dadurch, dass durch die Einbettung in unterschiedliche Diskurse die Sätze jeweils eine völlig andere Rolle und Funktion erhalten. Ein Beispiel mag den Sachverhalt verdeutlichen. In einer Episode des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil machen der Protagonist Ulrich und seine Cousine Diotima eine Fahrt über Land. Sie kommen durch einen dunklen Fichtenwald, dessen Schönheit die Cousine dazu inspiriert, den Vers zu zitieren: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben …“ Diktion und Kontext lassen keinen Zweifel, dass es sich hier um eine rhetorische Frage handelt, die keinerlei Antwort erheischt. Ulrich macht sich nun aber einen Spaß daraus, sie als echte Frage zu verstehen (bzw. misszuverstehen), und antwortet: „Die Niederösterreichische Bodenbank. [...] Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie, ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.“23 Auf den ersten Blick wird man diese Replik als neckische Spielerei abtun, als scherzhaft gemeinte Provokation. Aber angenommen, beide Gesprächspartner beharren auf ihrer Position – wofür sich gute Gründe anführen lassen –, so wird deutlich, dass hier zwei Denk- oder Sichtweisen aufeinanderprallen, zwischen denen zu vermitteln unmöglich ist. Diotima führt einen romantisch-ästhetischen

schieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.“ (Lyotard, Der Widerstreit, S. 9) 22 Ebd. S. 10. 23 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 280.

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Diskurs, Ulrich einen ökonomisch-zweckorientierten. Beide Diskurse sind in sich stimmig, und beide betreffen denselben Realitätsausschnitt, nämlich den Wald in seiner Beziehung zum Menschen. Aber es gibt keinen Ausgleich und keine Verständigung zwischen ihnen, da die (impliziten) Regeln des einen Diskurses auf den jeweils anderen Diskurs nicht anwendbar sind. Das Einbringen schnöder Nützlichkeitserwägungen würde der empfindsamen Träumerei abrupt ein Ende bereiten, und umgekehrt würden ästhetische Kriterien in der Forstwirtschaft die Gewinnmaximierung und damit die Konkurrenzfähigkeit gefährden. Ein unparteiischer Dritter, sei er Beobachter oder Richter, könnte nur achselzuckend die Unvereinbarkeit der beiden Diskurse feststellen und müsste sich eines Urteils enthalten. Gleichwohl besteht durchaus ein Kontakt, insofern es ein Element gibt – die Frage nach dem Urheber des Waldes –, das in beiden Diskursen vorkommt. Diese Überlappung ist von entscheidender Bedeutung, denn sie schneidet die Möglichkeit weg, die Diskurse einfach als gleichgültig verschieden anzusehen. Dadurch wird aus einem beziehungslosen Nebeneinander ein Widerstreit. Man wird einwenden,24 dass es sehr wohl ein Drittes oder eine Vermittlung gibt in Gestalt der Situation, die die Diskursteilnehmer gemeinsam erleben – in diesem Fall die Überlandfahrt im Auto –, und dass jede Situation immer auch eine Interaktion beinhaltet. Findet da zwischen Ulrich und Diotima nicht erheblich mehr statt als bloß der Austausch von Worten, nämlich ein komplexes und unter Umständen konfliktträchtiges Spiel von Sympathie und Antipathie? Sind die zitierten Sätze überhaupt für bare Münze zu nehmen? Betreibt man nicht die sprachtheoretische Verkürzung eines vielschichtigen Sachverhalts, wenn man die Äußerungen zu Diskursen stilisiert und von allen Begleitumständen absieht? Dem Einwand ist insofern recht zu geben, als dass sich in der Tat von außen immer eine Ebene der Vermittlung finden oder konstruieren lässt. Aus der Beobachterperspektive ist jede kommunikative Situation eine Begegnung von Individuen oder Gruppen, deren Interaktion im Hinblick auf ihren psychologischen, sozialen oder ökonomischen Unterbau analysiert werden kann. Aber aus der Teilnehmerperspektive stellt sich der Fall anders dar: hier geht es für jeden Einzelnen erst einmal darum, gehört und in seinem inhaltlichen

24 Dank an Martin Heintze für diesen Einwand.

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Anliegen ernst genommen zu werden. Ein jeder empfindet es als ein Unrecht, wenn sein Diskurs an den falschen Maßstäben gemessen wird, nämlich an denen eines anderen Diskurses. Ob aber die Maßstäbe angemessen sind, lässt sich nur auf der Diskursebene feststellen, die sich somit als unverzichtbar erweist. Im Beispiel wird das ein wenig von dem Umstand überdeckt, dass die Äußerung von Ulrich auch ironisch und damit unernst gemeint sein könnte; um das entscheiden zu können, ist in der Tat ein Rekurs auf den situativen Kontext unumgänglich. Aber man kann zum einen sicher sein, dass in der realen Forstwirtschaft die Ulrichsche Definition tagtäglich praktizierter Ernst ist. Und zum anderen sind ja zahlreiche Fälle bekannt, in denen eine kulturelle, ethnische oder soziale Minorität darum kämpft, in ihrer Besonderheit anerkannt zu werden; und hier kann nur das Herausarbeiten der irreduziblen Differenz, des nicht zu entschärfenden Widerstreits verhindern, dass die Gruppe um ihr Eigenrecht betrogen wird und ihr dadurch ein Unrecht widerfährt. Immer wenn ein Widerstreit als Rechtsstreit verkannt wird, ist es kaum zu vermeiden, dass die stärkere Partei sich durchsetzt – auf Kosten nicht nur der schwächeren, sondern auch der Gerechtigkeit als solcher. Die Betonung des Widerstreits hat also bei Lyotard die ethisch-politische Dimension, Minderheitsdiskursen Gehör zu verschaffen, und dafür ist die Hervorhebung der Verschiedenheit und Heterogenität die erste Voraussetzung. Es ist nun leicht einzusehen, dass das Tranchiermodell und die Theorie der Artikulation ebenfalls in einem Verhältnis des Widerstreits stehen. Ihre Unvereinbarkeit ist darauf zurückzuführen, dass im einen Fall dem Inhalt der Primat zugesprochen wird, im anderen der Form. Im Zentrum des Tranchiermodells steht mit der Erfahrung der Sache – mag sie auch verstellt oder zugehängt sein – die inhaltliche Dimension. Als Aufgabe der Theorie wird angesehen, den Impulsen, die von der Sache ausgehen, gedanklich gerecht zu werden; wir haben oben gesehen, dass das oft nur in quasi mimetischen Denkakten möglich sein wird. Diametral entgegengesetzt beginnt die Theorie der Artikulation gerade mit der Einklammerung alles Inhaltlichen und Substanzhaften. Die Konturen der Elemente, semiologisch gesprochen die Bedeutung der Zeichen ergibt sich ihr zufolge nicht direkt aus dem Bezug auf vorab gegebene Positivitäten, sondern indirekt und negativ aus dem vielfältigen Spiel der Abgrenzung der Elemente gegeneinander. Eben dieses Verweisungsspiel findet nun aber, wie Saussure gezeigt hat, auf der formalen Ebene statt, so dass der Ausgang von der

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Artikulation notwendig die Privilegierung der Form beinhaltet.25 – Zwischen einem streng inhaltlich und einem ebenso streng formal ausgerichteten Ansatz ist nun aber kein Ausgleich und keine Vermittlung möglich. Denn bei der einen Dimension als der primären anzusetzen impliziert notwendig, die jeweils andere philosophisch abzuwerten. Radikal verschieden ist darüber hinaus die Auffassung der Konstitution von Sinn und Bedeutung: für die Theorie der Artikulation resultieren die dafür erforderlichen Konturen aus dem Spiel der Begriffe untereinander, während für das Tranchiermodell der Funke dem Wechselspiel zwischen Begriff und Gegenstand entspringt. Auch hier also eine irreduzible Differenz. Folglich gibt es zwischen beiden Ansätzen keine mittlere Position und erst recht kein laues Sowohl-als-auch. Sie schließen sich wechselseitig aus, und damit haben wir das erste Moment eines Widerstreits, die Unvereinbarkeit. Wie steht es mit dem zweiten Moment, der Berührung, die aus den differierenden Parteien konkurrierende macht? Gibt es ein Element, das in beiden Diskursen vorkommt? Offenkundig ja, in Gestalt der Frage, in welchem Zustand das zu ordnende Material sich vor der Erfassung durch ein Schema oder Kategoriensystem befindet. Die divergierenden Antworten auf diese Frage – das Tranchiermodell sieht das Material als relativ amorph an, für die Theorie der Artikulation ist es absolut amorph – waren ja der Auslöser für unsere Überlegungen. So unterschiedlich und unvereinbar die Antworten sind, beziehen sie sich doch auf dieselbe Frage und gehören deshalb demselben Untersuchungsbereich an. Daraus resultiert dann die Konkurrenz zwischen den Modellen, und aus der unverbindlichen Verschiedenheit wird ein veritabler Widerstreit. Jenseits der Ordnung gibt es also – so müssen wir an dieser Stelle mit Lyotard vermuten – keine Eindeutigkeit mehr in dem Sinne, dass von zwei entgegengesetzten Theorien die eine mit Gründen zurückgewiesen und die andere als gültig angesehen werden könnte. Vielmehr wird ein und dasselbe Feld von mehreren Theorien besetzt, bei denen uns angesichts ihrer Gleichrangigkeit nicht anderes übrig bleibt, als sie trotz ihrer Unvereinbarkeit nebeneinanderstehen zu lassen. – Aber das Theorem vom Widerstreit ist doch seinerseits ein philosophisches Modell, zu dem es folglich Konkur-

25 „[Die Sprache ist] eine Form, keine Substanz.“ (Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 134)

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renzmodelle geben muss, gerade auch solche, die jenes Theorem bestreiten und für Entscheidbarkeit votieren. Was für ein Verhältnis liegt in einem solchen Fall vor – handelt es sich ebenfalls um einen Widerstreit? Eine genaue Betrachtung zeigt, dass das Modell vom Widerstreit hier in ein paradoxes double bind läuft: einerseits muss es die Konkurrenzmodelle als gleichwertig anerkennen, da es sonst nicht in einem Verhältnis des Widerstreits zu ihnen stehen würde, andererseits muss es ihnen eben diese Anerkennung verweigern, da sie ja ihrerseits den Widerstreit nicht anerkennen und einem antiquierten Fundamentalismus huldigen. Anders gesagt, als Beobachter muss das Theorem vom Widerstreit seinen Konkurrenten gleiche Rechte zugestehen, als Teilnehmer muss es sich hingegen überlegen fühlen. Zweifellos ein typisches Problem – bei relativistischen Positionen besteht ja oftmals die Schwierigkeit, sie auf sich selber anzuwenden. Wie geht Lyotard mit der Paradoxie um? Er versucht der Problematik gerecht zu werden, indem er die Diskurse als Inseln im Meer deutet und sich selbst als Seefahrer zwischen ihnen: „Was machen wir hier anderes, als zwischen den Inseln zu navigieren, um paradoxerweise erklären zu können, dass ihre Regelsysteme oder Diskursarten inkommensurabel sind?“26 Die Vielzahl von Theorien, Modellen und Paradigmen im Feld des Wissens gleicht diesem Bild zufolge einem Archipel, einer Gruppe von Inseln einerseits in nautischer Reichweite, andererseits aber durch die fehlende Landverbindung eindeutig voneinander getrennt. Der Philosoph als Bezeuger des Widerstreits hat die Aufgabe, von einer Insel zur anderen zu fahren und in der Rolle eines Gutachters jeder ihre Autonomie zu bescheinigen. So weit, so gut. Lyotard ist sich nun aber nicht ganz schlüssig, wie er die Figur des Gutachters/Navigators näher bestimmen soll. Er deutet ihn mal als Reeder oder Admiral, dann wieder als Richter. Ein derartiges Schwanken zeigt in philosophischen Texten meist ein Problem in der Sache an – ist das auch hier der Fall? In der Tat können wir feststellen, dass die genannten Charakterisierungen sich als problematisch erweisen. Beginnen wir mit den ersten beiden: „Jede der Diskursarten wäre gleichsam eine Insel; das Urteilsvermögen wäre, zumindest teilweise, gleichsam ein Reeder oder Admiral, der von einer Insel zur

26 Lyotard, Der Widerstreit, S. 225.

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anderen Expeditionen ausschickte. [...] Die Interventionsmacht, Krieg oder Handel, besitzt keinen Gegenstand, keine eigene Insel, sondern erfordert ein Medium, das Meer, den Archipelagos, das Ur- oder Hauptmeer, wie einst die Ägäis genannt 27

wurde.“

So eingängig das Bild ist, das uns hier angeboten wird, müssen wir uns doch fragen, ob ein Fahrensmann, der entweder eine kapitalistische Handelsmacht oder eine militärische Streitmacht in seinem Rücken weiß, wirklich geeignet ist, jeder Insel ihr Eigenrecht zu garantieren. Produziert der Kapitalismus nicht im Gegenteil eine große Gleichförmigkeit, nämlich das Einerlei der Warenwelt mit ihren glitzernden Scheindifferenzen? Ist ein expandierendes Unternehmen, das sich bei der Eroberung neuer Märkte im Konfliktfall auf eine militärische Schutzmacht verlassen kann, nicht eher eine Gefahr für Verschiedenheit und Heterogenität? Es erscheint naiv, darauf zu vertrauen, dass ein Seefahrer, der unweigerlich eigene Interessen verfolgt, in seiner Vermittlungstätigkeit28 die Autonomie jeder Insel unangetastet lassen könnte. Hinzu kommt noch das Problem, dass – um im Bild zu bleiben – sowohl friedlicher Handel als auch kriegerische Intervention stets einer Basis bedürfen. Der Navigator hat jedoch per definitionem keine eigene Insel; er kommt irgendwie aus dem Nichts und zirkuliert lediglich zwischen den Territorien. Summa summarum vermag deshalb der Vorschlag, einen Reeder oder Admiral zwischen den (Diskurs-) Inseln vermitteln zu lassen, nicht recht zu überzeugen. Lyotard scheint die Figur des sei es Handel treibenden, sei es militärische Stärke demonstrierenden Seefahrers selber nicht ganz geheuer zu sein. Er beeilt sich, die Figur des Richters nachzuschieben, offenbar um dem Einwand zuvorzukommen, ein Vermittler dürfe nicht durch eigene Interessen in die Konflikte involviert sein. Freilich bleibt auch beim Richter unklar, wo er eigentlich herkommt und was genau sein Status ist. Lyotard schreibt: „Der Richter bietet Ersatz für einen fehlenden allgemeinen Ge-

27 Ebd. S. 218 f. 28 „Vermittlung“ hier und im Weiteren nicht im Hegelschen Sinne. Es geht Lyotard nicht darum, die Spannung zwischen zwei Diskursen aufzuheben, ganz im Gegenteil. Gleichwohl wirft er das Problem der Kommunikation zwischen den Diskursen auf.

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richtshof oder ein ausbleibendes Jüngstes Gericht, vor dem die Regelsysteme [...] zwar nicht versöhnt – das werden sie niemals sein –, aber wenigstens gemäß ihrem Unterschied gesichtet, geordnet und nach Zwecken bestimmt werden könnten.“29 Die Frage stellt sich: wenn der Richter selber nicht Herr über eine Insel ist, sondern rastlos zwischen den Inseln hin- und herfährt, um einerseits legitime Gebietsansprüche abzustecken, andererseits Verbindungen und Übergänge zwischen anerkannten Territorien herzustellen, was unterscheidet seinen Diskurs dann von einem übergeordneten Metadiskurs, wie er vom Modell des Widerstreits gerade ausgeschlossen wird? Es zeichnet sich ab – hierauf hat schon W. Welsch hingewiesen30 –, dass das Bild des Archipels einerseits Lyotards Gedanken äußerst anschaulich illustriert, dass es aber andererseits mit dem Theorem vom Widerstreit nicht wirklich vereinbar ist bzw. dessen interne Schwierigkeiten offenbart. Auf der einen Seite ist es konsequent, dass Lyotard die Figur des zwischen den Inseln navigierenden Richters einführt, weil er selber diese Rolle von Anfang an in Anspruch nimmt und als Theoretiker des Widerstreits auch in Anspruch nehmen muss. Auf der anderen Seite ist das Inselmodell insofern irreführend wenn nicht gar falsch, als es die Berührungen oder Überschneidungen vernachlässigt, die aus differierenden Diskursen allererst widerstreitende machen. Inseln sind naturgemäß isoliert, sie überlappen sich nicht. Folglich steuert der Richterphilosoph sie von außen an. Bei den Diskursen hingegen haben wir gesehen, dass der Widerstreit zwischen ihnen immanent zutage tritt, nämlich in der Weise, dass bestimmte Sätze von mehreren Diskursarten als ihnen zugehörig beansprucht werden. Darin liegt die Ungereimtheit im Verhältnis zwischen dem Bild des Archipels und dem Theorem vom Widerstreit, wobei noch einmal zu betonen ist, dass das Modell des zwischen den Inseln navigierenden Richters (oder ein Äquivalent) insofern für Lyotard unverzichtbar ist, als es sein eigenes Vorgehen treffend beschreibt. Insgesamt spielt das Theorem vom Widerstreit im Hinblick auf die hier angestellten Überlegungen eine zwiespältige Rolle. Einerseits hat es uns vor Augen geführt, dass wir uns bei Frontstellungen wie der zwischen dem Tranchiermodell und der Theorie der Artikulation durchaus nicht für eine

29 Ebd. S. 223. 30 W. Welsch, Vernunft, S. 335-338.

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der beiden Seiten entscheiden müssen. Im Gegenteil können wir den Entscheidungsverzicht als ein wichtiges Merkmal eines Denkens jenseits der Ordnung hervorheben – allerdings darauf pochend, dass er nicht mit einem Denkverzicht einhergeht!31 Andererseits ist das von Lyotard vorgeschlagene Modell wie gezeigt mit internen Schwierigkeiten behaftet. Im Bild des Archipels führt Lyotard mit dem fahrenden Richter einen Dritten in den Widerstreit ein, bei dem unklar bleibt, wo er herkommt und wer ihm seine Autorität verliehen hat. Das Problem besteht im Kern darin, dass sich das Modell des Widerstreits nicht auf sich selber zurückfalten oder -beugen lässt. Da eine derartige Re-flexion in der Philosophie aber unabdingbar ist, bleibt hier eine Lücke, die wenn nicht zu schließen, so zumindest zu kennzeichnen und theoretisch einzukreisen wäre.

E) IM

D ENKRAUM

Trotz der aufgezeigten immanenten Probleme ist das Theorem vom Widerstreit insofern ein Schritt in die richtige Richtung, als es auf eine Ebene heterogener Pluralität zielt, die wir als Schicht jenseits der Ordnung ansetzen dürfen. Es gehört zum Grundansatz der Ataxiologie, mit Ambivalenzen und Unvereinbarkeiten zu rechnen, die sich nicht so ohne Weiteres und schon gar nicht mit den Mitteln der traditionellen Logik auflösen lassen. Die Aufgabe besteht darin, sich von dem, was auf den ersten Blick wie eine platte Aporie anmutet, nicht abschrecken zu lassen und im Gegenteil die neuen und unvorhersehbaren Denkwege zu erkunden, die gerade durch Konstellationen scheinbarer Ausweglosigkeit eröffnet werden.

31 Es ist ein alter Traum der abendländischen Philosophie, eine Kontinuität zwischen Denken und Entscheiden herzustellen, also die Entscheidungen unmittelbar aus hinreichenden gedanklichen Gründen folgen zu lassen. Das Gegenteil wurde immer „Dezisionismus“ gescholten. Was aber, wenn es keine vollkommen hinreichenden Gründe – und folglich zum „Dezisionismus“ keine Alternative gibt? Gehört nicht zu einer Entscheidung im strengen Sinne ein gedanklich nicht vollständig einholbarer Sprung? Dieser Ruck, der in eins mit der Kontinuität auch mit der Ordnung bricht, wäre ein Gegenstand für weitere Untersuchungen.

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Vor diesem Hintergrund möchte ich mich jetzt einem Konzept zuwenden, das unter dem Titel Denkraum von Kai Hochscheid ausgearbeitet worden ist.32 Zur Erläuterung sei vorausgeschickt, dass sich der Ausdruck ,Denkraum‘ bereits bei anderen Autoren findet; allerdings wird er dort nicht immer in einer Weise verwendet, dass die hier angestellten Überlegungen nahtlos daran anknüpfen könnten. So ist für Marcelo Stamm ein Denkraum durch einen „theoretischen beziehungsweise argumentativen Kern bestimmt“33, das heißt, er wird durch eine zentrale Übereinstimmung der in ihm in Konstellation tretenden Ansätze konstituiert. Das ist nicht nur von dem Widerstreit, wie er sich im Zuge unserer Überlegungen zwischen dem Tranchiermodell und der Theorie der Artikulation herauskristallisiert hatte, denkbar weit entfernt, es gelangt letztlich auch über den Horizont einer konventionellen Ideengeschichte nur unwesentlich hinaus. Dirk Quadflieg geht deshalb in seiner Arbeit über die Trias Hegel–Wittgenstein–Derrida einen entscheidenden Schritt weiter und lässt die Idee eines argumentativen Zentrums fallen. Zwar arbeitet er eine Reihe von übereinstimmenden Motiven bei den von ihm behandelten Autoren heraus, „doch im direkten Vergleich, so könnte man mit Wittgenstein sagen, gibt es nicht Eines, was ihnen allen gemeinsam wäre“34. Es besteht eine „Familienähnlichkeit“35 zwischen den Ansätzen, aber es gibt keine Schnittmenge, die sich als inhaltlicher oder methodischer Kern analytisch explizieren ließe. Der Denkraum wird so zu einer Begegnungsstätte für heterogene Diskurse, die in der Begegnung auch heterogen bleiben, und daran wird die Ataxiologie anknüpfen wollen. Freilich liegt bei Quadflieg, so sehr er der Versuchung widersteht, Differenzen einzuebnen, der Akzent doch auf der Konvergenz der von ihm behandelten Entwürfe. Das liegt an der Intention seiner Arbeit, überhaupt erst einmal Verbindungslinien zwischen den so disparat erscheinenden Ansätzen von Hegel, Wittgenstein und Derrida aufzuweisen und damit zu zeigen, dass sich zwischen ihnen ein Denkraum aufspannen lässt. Dass dieser Nachweis überzeugend gelingt, ist der Arbeit angesichts der Isoliertheit vieler heutiger akademischer Debatten hoch anzurechnen. Aber

32 33 34 35

Kai Hochscheid, Grund-Erfahrungen des Denkens, S. 256-264 und passim. Marcelo Stamm, Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil, S. 35. Dirk Quadflieg, Differenz und Raum, S. 317. Ebd. S. 318, 335 u. ö.

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es hat eben auch zur Folge, dass die Aufmerksamkeit vornehmlich den Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen den Autoren gilt, also den konvergierenden Momenten, die es beispielsweise erlauben, die Ansätze unter dem Obertitel ,Differenzphilosophie‘ zusammenzuführen. Widerstreitende Momente werden zwar nicht geleugnet, stehen aber nicht im Fokus der Untersuchung, gerade auch in den Passagen, die explizit vom Denkraum-Konzept handeln. Es bedeutet daher einen Schritt in eine neue Richtung, wenn Kai Hochscheid sich in seiner Dissertation schon bei der Auswahl der Autoren, die er untersuchen möchte, nicht vom Gesichtspunkt der Ähnlichkeit leiten lässt. Die Arbeit behandelt mit Fichte, Schelling, Heidegger und Derrida vier Autoren, zwischen deren Ansätzen schon auf den ersten Blick beträchtliche Spannungen bestehen. So werden Fichte und Schelling, obwohl ihrerseits untereinander uneins, von Heidegger und Derrida unterschiedslos und in pejorativem Sinne zur traditionellen Metaphysik gerechnet; das Verhältnis von Derrida zu Heidegger wiederum ist hochgradig ambivalent etc. Dabei geht es der Arbeit nun nicht um die Äußerungen etwa von Schelling über Fichte oder von Derrida über Heidegger. Vielmehr werden die vier Ansätze unter einer leitenden Fragestellung zunächst je für sich dargestellt, um so einen Denkraum aufzuspannen, in dem dann im Schlussteil der Arbeit die Differenzen zwischen den Ansätzen zum Austrag gelangen können. Das hat zur Folge, dass neben den konvergierenden jetzt vor allem auch die divergierenden Momente zur Sprache kommen. Die Differenzen zwischen den Autoren werden nicht nur nicht eingeebnet, sondern sogar noch hervorgehoben, und das in einer Weise, dass gerade der Reibung zwischen ihnen der Funke für weiter gehende Reflexionen entspringt. Kurz und etwas salopp gesagt: Hochscheid „bringt keine Ordnung“ in das Geviert seiner Autoren, und das macht sein Konzept vom Denkraum für die hier angestellten Überlegungen so interessant. Unter diesen Auspizien möchte ich jetzt näher darauf eingehen.36

36 Es geht im Weiteren um die Sachfrage, inwieweit das Denkraum-Konzept für die Ataxiologie hilfreich ist. Um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken erkläre ich ausdrücklich, dass die folgenden Ausführungen an die Überlegungen von Kai Hochscheid anknüpfen; andererseits sind sie nicht als getreues Referat seiner Auffassung zu lesen.

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Beginnen wir mit einem naheliegenden Einwand: wenn der Denkraum eine Begegnungsstätte für heterogene Diskurse ist oder „eine Darstellungsweise, in der sich verschiedene Theorien […] gegenseitig beleuchten und ein Geflecht aus wechselseitigen Ähnlichkeiten aufbauen“37, dann läuft das, so könnte man argwöhnen, auf einen faden Eklektizismus hinaus. Ist die Rede vom Denkraum vielleicht nur eine Verlegenheitslösung, um die eigene Ideen- und Ratlosigkeit zu bemänteln? Nein, ganz im Gegenteil ist zu bemerken, dass mit den Ansätzen etwas geschieht, die sich in einem Denkraum begegnen. Allerdings tritt dieses Geschehen erst hervor, wenn man die Betonung statt auf die Ähnlichkeit auf die Verschiedenheit der Ansätze legt: dann wird deutlich, dass sie sich gerade durch ihre Inkongruenz wechselseitig konturieren. Erst durch die Differenz zu Konkurrenzmodellen – die sich übrigens nicht selten in erbitterter Kritik niederschlagen wird – gewinnen die Umrisse eines einzelnen Entwurfs die erforderliche Schärfe. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass ein Ansatz außerhalb des Denkraums – blank für sich genommen – vage, substanzlos und unbestimmt bleibt; eine vollkommen autarke Einzeltheorie ist wie eine Wittgensteinsche Privatsprache ein Ding der Unmöglichkeit. Die Bestimmungen eines theoretischen Entwurfs entspringen erst der Differenz zu Alternativmodellen.38 Gegen den Eklektizismus-Verdacht wird hier also die These vertreten, dass der Denkraum die zur Debatte stehenden Ansätze insofern nicht unberührt lässt, als sie in ihm zu zirkulieren beginnen; der Zirkulation wiederum verdanken sie allererst ihre Konturen. Freilich ist es von größter Wichtig-

37 Dirk Quadflieg, Differenz und Raum, S. 335. 38 Vgl. dazu das kongenial modifizierte Saussure-Zitat: „Eine Verschiedenheit einzelner Theorieentwürfe setzt im allgemeinen positive Einzelglieder oder geschlossene bzw. abschließbare Einheiten voraus, zwischen denen sie besteht; aus der Perspektive des Denk-Raums aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. Ob man den einzelnen Denkansatz oder verschiedene Denkmotive nimmt, der Denk-Raum enthält nichts, das gegenüber der gegenwendigen Bewegung der Bezugnahme präexistent wäre, sondern nur begriffliche, axiomatische und paradigmatische Verschiedenheiten, die sich aus der gegenwendigen Bewegung der Bezugnahme ergeben.“ (Kai Hochscheid, GrundErfahrungen des Denkens, S. 261 f.) Der originale Wortlaut der Äußerung von Saussure wurde in diesem Buch bereits im dritten Kapitel zitiert (S. 72).

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keit, dass wir uns über die Implikationen des Gesagten im Klaren sind: durch das Aufstellen dieser These hat das Denkraum-Konzept gleichsam seine philosophische Unschuld eingebüßt. Zuvor hätte die Rede vom Denkraum noch als unverbindliches Anhängsel durchgehen können, als Beschreibung aus der Beobachterperspektive ohne eigenen theoretischen Anspruch. Mit der These hingegen ist eine Positionierung verbunden; dadurch wird aus dem Beobachter ein Teilnehmer und aus der zunächst so harmlos erscheinenden Rede vom Denkraum ein Theorem. Das hat weitreichende Konsequenzen. Denn zu jedem Theorem gibt es gerade nach dem zuvor Ausgeführten konkurrierende Entwürfe, in diesem Fall beispielsweise solche, die das plural-heterogene Motiv im Denkraum-Konzept wegen der relativistischen Konsequenzen für gefährlich halten und die Philosophie auf eindeutige, nach Möglichkeit normativ gehaltvolle Stellungnahmen verpflichten wollen. Wie deutet das Theorem vom Denkraum sein eigenes Verhältnis zu derartigen Alternativen? Gibt es sich auch hier „tolerant“, obwohl doch seine eigene Substanz angegriffen wird? Offenbar geraten wir hier in ein ähnliches Dilemma, wie es sich oben im Zusammenhang mit dem Theorem vom Widerstreit ergeben hatte. Als Beobachter der Differenz muss das Denkraum-Konzept um der eigenen Konturierung willen die Alternativen willkommen heißen und ihnen gleiche Rechte zugestehen; als Teilnehmer am Konflikt hingegen muss es sich ihnen überlegen fühlen und ihnen vorhalten, die fundamentale Rolle von Heterogenität und Differenz zu verkennen. Nach meiner Einschätzung handelt es sich hier um eine Problematik, die für die Philosophie seit dem „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard) insgesamt charakteristisch ist: seither geht der Einsatz auf der Teilnehmerebene nicht mehr mit einer Überlegenheitsgeste auf der Beobachterebene einher. Das war bei den philosophischen Entwürfen früherer Zeiten einschließlich der Moderne anders. So konnte zum Beispiel Heidegger seinen eigenen Ansatz der Fundamentalontologie glänzend mit einer Generalabrechnung mit „der“ abendländischen Metaphysik verbinden. Er warf allen Philosophen von Platon bis Nietzsche Seinsvergessenheit vor und nahm für sich selber in Anspruch, das Sein oder zumindest die Seinsfrage nach zweieinhalb Jahrtausenden wiederentdeckt zu haben. Ein solche Haltung triumphierender Überlegenheit liegt der Ataxiologie fern. Vielmehr ist sie sich ihrer Vulnerabilität bewusst, die daraus resultiert, dass es ihr nicht gelingt (und aus den genannten Gründen nicht gelingen kann), ein bruchlo-

G RUNDLINIEN

DER

A TAXIOLOGIE | 119

ses Kontinuum zwischen ihrem philosophischen Einsatz auf der Sach- bzw. Hauptebene und ihren reflektierenden Einsichten auf der Metaebene herzustellen. Die eigene Positionierung wird nicht mehr aus einer historischen Konstruktion auf der Beobachterebene deduziert, sondern durch Verankerung in einem Ethos lediglich plausibilisiert. Sicherlich im Vergleich zu früheren Vorgehensweisen ein weitaus fragilerer Ansatz, denn das Ethos – vorzugsweise eine kritische Haltung – kann zwar explizit ausgewiesen, mangels einer philosophischen Letztbegründung aber seinerseits nicht mehr legitimiert werden. Die Alternative wäre indes, einen antiquierten Fundamentalismus wiederauferstehen zu lassen. Angenommen, es gelingt nun, ein derartiges Ethos mit einiger Überzeugungskraft zu präsentieren: was genau geschieht, wenn das Tranchiermodell und die Theorie der Artikulation sich im Denkraum begegnen? Hier ist zu berücksichtigen, dass die Unentscheidbarkeit zwischen ihnen in gewisser Hinsicht ein sekundäres Problem darstellt; zunächst und vor allem haben wir es mit Unentscheidbarkeiten innerhalb beider Ansätze zu tun. Beim Tranchiermodell verbirgt sich die Aporetik in der oben beschriebenen Figur der inversen Mimesis: wenn das Nichtidentische keine fixierbare Entität ist, sondern der Name für die Öffnung des Denkens in Richtung auf das Unvorhersehbare, dann haben wir kein unverzerrtes Urbild, an dem das zugerüstete Identische zu messen wäre, und folglich können wir nicht letztgültig angeben, woran sich ein nicht identifizierendes Denken anschmiegen soll. Dadurch, dass die Mimesis das Nachzuahmende in gewisser Weise erst hervorbringt, wird die Frage nach einem Kriterium, das über Erfolg und Misserfolg entscheidet, abgründig problematisch. In der Theorie der Artikulation ist es die paradoxe Rolle des die Struktur organisierenden Zentrums, die das Denken in eine Ausweglosigkeit führt: einerseits muss um der ungehinderten Zirkulation der Elemente willen das Ziel darin bestehen, jede Zentrumsvorstellung aus dem Denken zu verbannen, andererseits „stellt eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar“39, da ohne ein Minimum an Organisation und Verlässlichkeit das Spiel oder die Permutation ins Beliebige abgleiten würde und keine Sinneffekte erzeugen könnte. Nicht ohne Zentrum also, aber auch nicht mit ihm. Man sieht: der Widerstreit zwischen dem Tranchiermodell und der Theorie der

39 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 422.

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Artikulation setzt bloß die Reihe der internen Probleme beider Ansätze fort. Das wiederum erlaubt uns, dem Zwist mit großer Gelassenheit zu begegnen, denn offenkundig sind die angeführten Probleme keine Artefakte schlecht konzipierter Theorien, sondern Anzeichen von Schwierigkeiten in der Sache selbst. Der Denkraum ist insofern der geeignete Ort, den Problemen nachzugehen, als er es erlaubt, verschiedene Perspektiven einzunehmen und denselben Sachverhalt nacheinander aus der Warte verschiedener Theorieansätze zu beleuchten. Die daraus resultierende Heterogenität ist nur aus dem Blickwinkel der traditionellen Logik ein Problem; wir dürfen sie getrost als Kennzeichen eines postmetaphysischen Denkens ansehen. Abschließend noch der Hinweis, dass es an dieser Stelle ein Fehler wäre, den Denkraum als transzendentalen Ermöglichungsgrund misszuverstehen. Er geht den in ihm zirkulierenden Ansätzen nicht voraus – weder in zeitlicher noch in logischer Hinsicht –, und er stellt folglich auch nicht die Bedingung ihrer Möglichkeit dar. Vielmehr öffnet sich durch die Differenz zwischen verschiedenen Ansätzen allererst der Spalt, der sich anschließend zum Denkraum weitet. Unser Ausgangsproblem, die Unentscheidbarkeit, erweist sich somit weniger als Sackgasse, als dass von ihr im Gegenteil vielfältige gedankliche Bewegungen ihren Ausgang nehmen. Deren ataxiologische Relevanz wiederum liegt darin, dass der Denkraum, insofern er von keinem strukturierenden Prinzip beherrscht wird, das Denken an die Grenzen der Ordnung führt (und darüber hinaus). Im Denkraum erhalten auch solche Komplexitäten Gelegenheit zur Entfaltung, die vom traditionellen Denken als vermeintlich unfruchtbare Aporien gemieden werden.

5. Identität, Angst, Ambivalenz

A)

K RITIK

DER I DENTITÄTSPHILOSOPHIE

Wenn die strukturalistische These zutrifft, dass sich der Sinn eines Zeichens oder einer Theorie nicht so sehr positiv der Referenz auf einen äußeren Gegenstand als vielmehr negativ der Abgrenzung gegen andere Zeichen bzw. Theorien verdankt, dann scheint es geboten, den Gegenspieler der Ataxiologie einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie steht es um jenes Denken in Termini der Ordnung, das so viele Epochen der abendländischen Philosophiegeschichte beherrscht hat? Worauf beruhte sein Erfolg, und warum scheint es in der Gegenwart seine paradigmatische Kraft einzubüßen? Wie sich implizit bereits mehrfach andeutete (und im Folgenden seine ausdrückliche Bestätigung finden wird), besteht das Spezifische dieses Denkens in einer bestimmten Art der Setzung von Identität, so dass es sich anbietet, von Identitätsphilosophie zu sprechen. Zu untersuchen ist, in welcher Weise, mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken die Identität gesetzt wird, worin also die Grundannahmen der Identitätsphilosophie bestehen. Ebenso sollte angegeben werden, warum sich ein Denken jenseits der Ordnung mit diesen Annahmen nicht einverstanden erklären kann – und welche alternativen Optionen bestehen. Erstes Kennzeichen der Identitätsphilosophie ist, dass sie von festen Einheiten ausgeht. Das ist gleichbedeutend mit der Annahme klar abgegrenzter Objekte, wohldefinierter Begriffe und eines sich selbst durchsichtigen Ich. Die Objekte, also die Gegenstände der Welt sind, so die Annahme, als kompakte Entitäten gegeben und bieten sich sei es den Sinnen, sei es dem Verstand zur Repräsentation an; im ersten Fall handelt es sich um die empiristische, im zweiten um die rationalistische Ausprägung. Die

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Begriffe sind klar umrissen und zudem von Anfang an mit positiven Inhalten gefüllt, wobei die Inhalte erneut entweder der Sinneswahrnehmung oder vernünftigem Raisonnement entspringen. Das Ich schließlich gilt als Herr im eigenen Hause und kann sich deshalb Klarheit über seine Rolle im Erkenntnisprozess verschaffen, sei es unmittelbar durch Introspektion, sei es – das ist die raffiniertere Variante – durch eine transzendentale Reflexion. Bereits diese ersten Charakterisierungen verdeutlichen, dass sich die Identitätsphilosophie keineswegs als monolithischer Block präsentiert und im Gegenteil in einander widerstreitende Richtungen und Schulen zerfällt. Aus ataxiologischer Perspektive handelt es sich jedoch beispielsweise bei dem Streit zwischen Empirismus und Rationalismus um ein Oberflächenphänomen, unter dem ein fundamentaler Konsens durchscheint. Zwar herrscht Uneinigkeit darüber, was als Element und Medium des Erkenntnisprozesses anzusetzen ist, im einen Fall die Masse der Sinneseindrücke, im anderen Fall all das, was der Verstand clare et distincte erkennt. Aber als Ziel des Erkenntnisvorgangs wird in tiefer Übereinstimmung die Bildung stabiler Identitäten angenommen, auf der Subjekt- wie auf der Objektseite. De facto geht es sowohl dem Empirismus als auch dem Rationalismus um beharrende Gegenstände, eindeutige Begriffe und ein transparentes Ich. Folglich sind beide Ansätze Varianten der Identitätsphilosophie; das gilt übrigens auch für ihre Zusammenführung in der Transzendentalphilosophie. An der Annahme bzw. Postulierung stabiler Identitäten entzündet sich nun aber die ataxiologische Kritik. Was die Vorstellung abgegrenzter, in sich ruhender Gegenstände betrifft, haben wir gesehen, dass in Wirklichkeit die Dinge in Konstellationen stehen, beispielsweise durch ihre Einbettung in historische Zusammenhänge; überdies „gibt“ es Objekte in gewisser Weise nur in Interaktion mit einem Subjekt. Deshalb ist die Annahme einer gegebenen Substanz als Nachklang des naiven Realismus abzulehnen. Analog sind auch die Begriffe keine kompakten und mit einer ursprünglichen Fülle gesegneten Einheiten. Im Gegenteil hat sich ja gezeigt, dass Sinneffekte aller Art der Verweisstruktur innerhalb eines Netzwerks entspringen, das keine positiv gegebenen Elemente voraussetzt. Folglich steht kein Begriff als autarkes Signifikat für sich sondern ist in eine Signifikantenkette eingeschrieben, die allererst seine Bedeutung generiert. Gegen die Annahme eines souveränen Ich schließlich lassen sich psychoanalytische, politökonomische und soziokulturelle Gründe anführen. Die Entdeckung

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des Unbewussten hat die Vorstellung, wir seien uns selber in völliger Transparenz gegeben, als Illusion entlarvt; die Analyse des Kapitalverhältnisses hat die Abhängigkeit des Individuums von ökonomischen Zusammenhängen vor Augen geführt; und die Erforschung der kulturellen Sozialisation des Einzelnen hat gezeigt, dass Autonomie bestenfalls als späte Frucht eines – individuellen wie kollektiven – Emanzipationsprozesses zu begreifen ist. In allen Fällen also die Figur der Zurückweisung von Identität, jedenfalls sofern darunter ein ursprüngliches, philosophisch bedeutsames und zugleich evidentes Fundament verstanden wird. In der Tat: was die Ataxiologie im Kern verwirft, ist die Vorstellung eines archimedischen Punktes – ganz gleich, ob man ihn am Subjekt- oder am Objektpol verortet –, von dem das Denken seinen Ausgang nimmt und auf den es sich im Zweifelsfall immer wieder zurückziehen kann. Jenseits der Ordnung denken heißt, sich auf das Abenteuer einzulassen, auf einen solchen Punkt der letzten Gewissheit zu verzichten. Zweites Kennzeichen der Identitätsphilosophie ist ein hierarchisches Denken, typischerweise in Gestalt der Annahme eines obersten Prinzips, aus dem alles Weitere folgt. Dieses Prinzip ist gleichsam die Ur-Identität, die Sonne, von deren wärmenden Strahlen noch das niederste Geschöpf in seinem Gedeihen abhängig ist. Es begründet alles andere, ist selber aber einer Begründung weder fähig noch bedürftig. Der berühmte Unbewegte Beweger des Aristoteles veranschaulicht exemplarisch diese Denkform, insofern er durch die Impulse, die von ihm ausgehen, sämtliche innerweltlichen Kausalreihen initiiert, selber aber von dem Spiel der sich fortsetzenden Anstöße ausgenommen ist und unbeweglich in sich ruht. Interessanterweise ist es gar nicht so einfach, den Ort dieses ersten Verursachers anzugeben: einerseits ist er nicht absolut extramundan, da er ja in die Welt hineinwirkt, andererseits befindet er sich aber auch nicht in ihr, da er selbst nicht in Bewegung ist und nicht verursacht wurde. Diese Paradoxie hinderte das hierarchische Denken jedoch lange Zeit nicht daran, bestens zu funktionieren und über Jahrhunderte als alternativlos zu gelten. Das ist daran zu erkennen, dass über weite Strecken der abendländischen Philosophie immer nur das Prinzip ausgetauscht wurde, die zugrunde liegende Denkform aber unverändert dieselbe blieb. Ganz gleich, ob man die Platonischen Ideen, den Gottesbegriff der Scholastik, die Ratio des Rationalismus oder die Materie des Materialismus nimmt: überall dieselbe Figur des einen Ursprungs, aus dem alles hervorquillt.

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Die Ataxiologie unterstellt dem Ursprung jedoch vor allem die Funktion, eine Ordnung zu konstituieren, und damit gerät er ins Kreuzfeuer der Kritik. Der Vorwurf lautet, dass er in dem Moment, wo er dem Bestehenden übergestülpt wird, dieses austrocknet und reduziert. Der Rückbezug auf ein Prinzip schränkt die freie Zirkulation der Elemente ein, die von nun an wie Planeten auf regelmäßigen Bahnen um ein Zentralgestirn zu kreisen haben, statt sich ungehindert bewegen zu können. Die Kreisförmigkeit der Bahnen verdeutlicht, dass unter dem Banner (und dem Bann) der Ordnung nichts anderes möglich ist als die identische Wiederkehr des Immergleichen. Eine Veränderung oder ein Ereignis im emphatischen Sinne ist ausgeschlossen. Gesetzt nun aber, dass die gegenwärtige, von Herrschaft bestimmte Realität eine Veränderung dringend nötig hat; angenommen ferner, dass ein tiefgreifender Wandel seinen Anfang im Denken nehmen muss, so wird deutlich, dass es Aufgabe aller Theorie sein muss, dem Ereignis eine Stätte zu bereiten. Der Mangel des Ursprungs- oder Identitätsdenkens besteht darin, dass es in seiner Affirmation des Bestehenden eben dieser Aufgabe nicht gerecht wird. Drittes Kennzeichen der Identitätsphilosophie ist die Schließung zum System, die von ihr angestrebt wird. Im Idealfall kann das Denken mit seinen Prinzipien alles erfassen und sämtliche Elemente seinen Kategorien zuordnen; es bleibt kein Rest, der wider den Stachel löckt. Nicht nur hängt im Innern wohlgeordnet alles mit allem zusammen, sondern es gibt auch kein Draußen, das das Ganze auf irgendeine Art in Frage stellen und gefährden könnte. Die großen Systementwürfe des Deutschen Idealismus sind Ehrfurcht gebietende Beispiele für ein derart auf Schließung bedachtes Denken. – Für die Ataxiologie haben wir im dritten Kapitel ein Motiv der Öffnung herausgearbeitet, das der Tendenz zur Schließung diametral entgegengesetzt ist. Der Versuch, jenseits der Ordnung zu denken, erfordert einen Sinn für all das, was dem System entgeht, für das Unvorhersehbare, Aufsässige und Irreduzible. Nicht lückenlose Erfassung und totale Kontrolle sind das Ziel, sondern eine geradezu systemsprengende Aufmerksamkeit für das Dissonante, das sich, obzwar unendlich leise, dem Denken von der Sache her zuspricht. Ein viertes Kennzeichen ist die Annahme klarer Einteilungen. Die Identitätsphilosophie ist nicht nur bestrebt, alles ihr Begegnende zu sortieren, sie untersagt überdies, ist ein Klassifikationssystem erst einmal aufgestellt, jegliche Art von Grenzüberschreitung. Jedes Element gehört genau einer

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Klasse an, und die Trennwände zwischen den Schubladen sind undurchlässig und zudem unveränderbar. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose … So gelten, um ein Beispiel aus der Philosophie zu nennen, Erkenntnistheorie und Gesellschaftskritik als zwei getrennte Bereiche, die nicht vermischt werden dürfen. Fragen der Erkenntnis gehören zur theoretischen, Fragen der Gesellschaft zur praktischen Philosophie; im ersten Fall wird man vorwiegend deskriptiv, im zweiten eher normativ arbeiten. Die Identitätsphilosophie errichtet hier Grenzwälle und stellt Verbotsschilder auf: wer an Problemen der wahren Erkenntnis arbeitet, darf sich im Zuge dieser Untersuchungen nicht wertend zu Fragen der richtigen Einrichtung der Gesellschaft äußern, et vice versa. Die Einteilung muss beachtet werden. – Nun hat aber, was die beiden genannten Disziplinen betrifft, die Kritische Theorie überzeugend dargelegt, dass sich analytische Fragen der Erkenntnis und kritische Fragen der Gesellschaft nicht voneinander trennen lassen. Hinter diese Einsicht darf die Ataxiologie nicht zurückfallen. Will die Frage nach der Wahrheit nicht in Belanglosigkeiten abgleiten, dann können ihr die Inhalte der Erkenntnis nicht gleichgültig sein. Folglich steht sie vor der Problematik, ob das, was sie als zutreffend herausfindet, auch sein soll, ob also die bestehenden Verhältnisse dem Anspruch auf eine menschenwürdige Einrichtung gerecht werden. Umgekehrt ist jede Gesellschaftskritik zunächst auf eine zutreffende Analyse und Diagnose des Bestehenden angewiesen. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es in diesem Bereich eine wertneutrale Wahrheit nicht gibt und im Gegenteil hinter jeder Erkenntnis ein Machtanspruch steht, sei es zur Affirmation der bestehenden (Herrschafts-) Verhältnisse, sei es im Hinblick auf einen zu formierenden Widerstand. Diese Einsicht führt zur Forderung nach der Offenlegung der erkenntnisleitenden Interessen. Wie das im Einzelnen geschehen kann, braucht an dieser Stelle nicht verhandelt zu werden; entscheidend ist, dass wir in jedem Fall eine mannigfache Verschränkung von Problemen der Erkenntnis- und der Gesellschaftstheorie feststellen können. Eine radikale Trennung beschädigt beide Bereiche und wird der Sache in keiner Weise gerecht. Ein anderes Beispiel für eine klare Einteilung ist die Annahme eines Wesens- oder Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur. Hier hat zuletzt Jürgen Habermas unter Berufung auf die angebliche „Ausdifferenzierung der Wertsphären“ eine Lanze für die Identitätsphilosophie gebrochen. Seine These lautet, dass Wissenschaft und Philosophie einer-

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seits, Kunst und Literatur andererseits gänzlich verschiedene Geltungsansprüche erheben, erstere einen Anspruch auf theoretische Wahrheit, letztere einen Anspruch auf expressive Wahrhaftigkeit. Ihm zufolge dürfen hier keine Vermischungen oder Übergriffe stattfinden: theoretische Texte sollten sich ganz auf die Sachaussagen konzentrieren und das rhetorische Moment in den Ausführungen so weit wie möglich zurückschrauben, und umgekehrt genießen fiktionale Texte zwar nach der Devise l’art pour l’art größtmögliche künstlerische Freiheit, haben sich aber auf das Ausdrücken subjektiver Regungen und Empfindungen zu beschränken und dürfen keinen objektiven Wahrheitsanspruch erheben. Man bemerke das unverhohlen normative Moment in diesen Thesen: kommt das Modell der auseinanderdriftenden Wertsphären zunächst wie eine unverfängliche und durchaus plausible Beschreibung der geistigen Situation der Zeit daher, so entpuppt es sich schließlich als der Taktstock von Kapellmeister Habermas, der nach seinen ganz speziellen Vorstellungen den philosophischen und ästhetischen Diskurs der Moderne dirigiert. – Ganz davon abgesehen, ob die Trennung von Philosophie und Literatur – oder analog innerphilosophisch von Logik und Rhetorik – wünschenswert ist, stellt sich die Frage, ob sie sich von der Sache her überhaupt aufrechterhalten lässt. Die Annahme eines philosophischen Logos, der auf kein rhetorisches oder literarisches Moment angewiesen ist, setzt ein eigentlichen Sprechen voraus, das durch keine Metapher verunreinigt, durch keine Sinnübertragung in Vibration versetzt wird. Eben diese Annahme ist nun aber vor dem Hintergrund der im vierten Kapitel besprochenen Theorie der Artikulation zu bezweifeln. Die Vorstellung eines reinen, gänzlich unmetaphorischen Sprechens setzt eben jenes autarke und über jeder Signifikantenkette stehende Signifikat voraus, das sich als Chimäre erwiesen hat. In Wirklichkeit entspringt jeder Bedeutungsinhalt einer dynamischen Verweisungsstruktur, die sich als Ökonomie wechselseitiger Abgrenzungen realisiert. Das damit entstehende Netzwerk nimmt seinen Ausgang nicht von präexistenten positiven Einzelgliedern, vielmehr ist alle Positivität – jeder Sinn – Resultat der Zirkulation der Elemente und der mit den Austauschprozessen einhergehenden vielfältigen Übertragungen. Damit ist aber die Metapher ins Denken selber eingewandert. Das Charakteristikum metaphorischen Sprechens, die Evokation von Sinngehalten durch Übertragung, erweist sich als das Funktionsprinzip sprachlicher Bedeutungserzeugung überhaupt. Sofern nun aber auch der philosophische Logos sich nur in der Weise artikulieren kann, dass er in der Sprache Be-

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deutungen generiert, ist er unabdingbar auf ein metaphorisches Moment angewiesen. Das Ideal eines reinen, durch keine Metapher belasteten Sprechens erweist sich als Trugbild oder, wenn man so will, als schlechte Metaphysik. Von den unabsehbaren Konsequenzen dieser Einsicht interessiert im gegenwärtigen Zusammenhang nur die eine, dass die strikte Trennung von Logik und Rhetorik oder von Philosophie und Literatur nicht länger haltbar ist. Wenn sich jede Sinnbildung einem im Kern metaphorischen Prozess verdankt, dann kommunizieren die angeblich getrennten Bereiche unterirdisch miteinander. Das bedeutet auf der anderen Seite nicht, dass sie ineinanderstürzen, im Gegenteil gibt es weiterhin gute Gründe, zwischen typisch philosophischen und typisch literarischen Texten zu unterscheiden. Aber die Zuordnung zu diesen Typen findet jetzt eher nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit statt als durch Rubrizierung unter voneinander abgeschottete Wertsphären. Damit können wir zum einen die (übrigens recht anmaßende) Direktive von Habermas, Kunst und Literatur dürften keinen Anspruch auf objektive Wahrheit erheben sondern müssten sich mit subjektiver Wahrhaftigkeit begnügen, zurückweisen. Zum anderen zeichnet sich ein prekäres und ambivalentes, gerade deshalb aber höchst interessantes Arbeiten im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Literatur ab; vgl. in diesem Buch den „Versuch über das Inhumane“, mit einer Erzählung von Stevenson als literarischem Anknüpfungspunkt. Und drittens muss man sich fragen, ob nicht über die Brücke des irreduzibel metaphorischen Moments weitere literarische Motive und Elemente in den philosophischen Diskurs einwandern. Enthalten die großen Entwürfe der abendländischen Philosophie nicht immer auch eine starke narrative Komponente? Und ist die (offenkundig idealtypisch gemeinte) Rede von „der“ Identitätsphilosophie nicht sogar fiktional, insofern kein tatsächlich vertretener Ansatz dem Idealtypus vollkommen entspricht? Beides scheint in der Tat der Fall zu sein, jedoch sollte man sogleich hinzufügen, dass damit der Wahrheitsoder Erkenntnisanspruch der Philosophie in keine Weise eingeschränkt ist. Man könnte sogar sagen, dass gerade durch die narrativen Momente die Philosophie ihrer Aufgabe, die Welt zu deuten, gerecht wird. Offenbar macht die Kombination von argumentativen und (ohnehin unvermeidlichen) nicht-argumentativen Anteilen den Reichtum eines Denkens aus und sorgt für den Diskussionsstoff, der uns noch heute Platon und Aristoteles lesen und debattieren lässt.

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Ein fünftes Kennzeichen der Identitätsphilosophie ist die Fokussierung aufs Allgemeine. Identifizierende Akte heben stets das an einem Gegenstand hervor, was er mit anderen seiner Art teilt, das Gemeinsame und Vergleichbare. Das liegt daran, dass das Ziel aller Identifikation in der Kategorisierung besteht, in der Einordnung des Vorfindlichen in ein Klassifikationssystem. Da ist das Spezifische des Gegenstandes, also das, worin er vom allgemeinen Typus abweicht (sein „Fehler“, statistisch gesprochen), eher ein Hindernis, ein Störfaktor, den es durch Abstraktion zu eliminieren gilt. Gelingt es, das Widerspenstige zu zähmen und alle Differenzen einzuebnen, dann bleiben die Objekte als bloße Fälle zurück, als identische Exemplare, die sich jeder Typologie fügen. – Diametral entgegengesetzt geht es der Ataxiologie gerade um das Einzelne in seiner Singularität, um das, was ein Individuum in besonderer Weise auszeichnet. Sie hält es für den entscheidenden Fehler, alles über einen Kamm zu scheren, und pocht statt dessen auf die Unverwechselbarkeit des Einmaligen. Sie sieht im Reichtum des Individuellen ein Gegengewicht zu der Reduktion, die mit allem Einordnen und Identifizieren einhergeht. Überdies wittert sie im Aufsässigen und Unbotmäßigen des jeweils Spezifischen die Keimzelle eines Widerstands, der, mikrologisch beim Einzelnen ansetzend, den Impuls gibt für die (Makro-) Transformation des Ganzen. Letzteres leitet über zu einem sechsten Kennzeichen: die Identitätsphilosophie strebt jederzeit nach Kontrolle, ein Drang, der rasch in die Affirmation des Bestehenden übergeht. Das Einordnen in Klassifikationssysteme geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern mit dem Ziel, das, was uns begegnet, beherrschbar zu machen, sei es die Natur oder ein Mensch, seien es Gegenstände oder eigene Triebregungen. Nun hat sich die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung in puncto Kontrolle und Regulierung in vielen Hinsichten als höchst effizient erwiesen; das erklärt den affirmativen Grundzug der Identitätsphilosophie, ihren stillschweigenden Pakt mit dem Bestehenden. Nicht Veränderung ist ihr oberstes Ziel, sondern Beibehaltung des Status quo unter Abmilderung diverser Härten, die in den Griff zu bekommen noch nicht ganz gelungen sei. Eine Totalrevision des Systems, wie sie von der bürgerlichen Aufklärung und später vom Marxismus angestrebt und verwirklicht wurde – über den Erfolg lässt sich streiten –, ist für sie tabu. Statt dessen wähnt sie die Gegenwart im richtigen Gleis, so dass Missstände und Unrechtsverhältnisse wie Moorlandschaften anmuten, die es nach und nach auszutrocknen gilt. – Für die Ataxiologie hat die beste-

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hende Gesellschaft bei allen Errungenschaften keinen Grund, sich auf die Schulter zu klopfen und die Füße hochzulegen. Ordnung tendiert immer dazu, sich gegenüber den Menschen zu verselbständigen und die Verhältnisse zwischen ihnen zu verzerren. Gegen diese Form der Kolonialisierung hilft kein ein für allemal eingerichtetes „demokratisches System“, sondern nur eine fortgesetzte und stets aufs Neue erfochtene Demokratisierung. Veränderung ist daher das Leitmotiv, Widerstand die dahinterstehende Triebkraft. Freiheit ist kein Zustand sondern allenfalls eine Momentaufnahme im Kampf gegen mannigfache Fesseln, Behinderungen und Einschränkungen. Fortschritt – nicht einfach der technischen Fähigkeiten und Kenntnisse des Menschen, sondern der gerechten Einrichtung des Gesellschaftsganzen – bedarf des nimmermüden Engagements und darf sich vor allem nicht der Illusion hingeben, je am Ziel angekommen zu sein. Siebtens schließlich zeichnet sich die Identitätsphilosophie durch das Streben nach Eindeutigkeit aus. Alles Ambivalente und Paradoxe ist ihr zutiefst suspekt; klar und deutlich wünschte sich nicht nur Descartes die Einsichten der Vernunft. Wann immer ein Gedanke ins Schweben kommt oder gar mit den ehernen Grundsätzen der Logik in Konflikt gerät, gelten fortan alle philosophischen Bemühungen dem Ziel, die verloren gegangene Kohärenz und Einheit wiederzugewinnen; diesem Prinzip hat sich die Fühlungnahme mit der Sache unterzuordnen. Ein solches Vorgehen setzt sich natürlich dem Vorwurf aus, die subjektiven Bedingungen des Denkens über die objektiven Bedingungen der Erfahrung zu stellen. Die Replik der Identitätsphilosophie ist jedoch leicht zu antizipieren: wo die Tatsachen und damit die Welt eindeutig feststehen – gesetzt, die Welt sei alles, was der Fall ist –, da kann auch das Denken darauf verpflichtet werden, das Gegebene eindeutig und widerspruchsfrei wiederzugeben. Klare Repräsentation klarer Verhältnisse, so ließe sich das Ideal auf eine Formel bringen. – Im Unterschied hierzu rechnet die Ataxiologie mit Uneindeutigem und Widersprüchlichem schon in der Sache, was sich dann entsprechend als Unentscheidbarkeit im Denken und seinen Begrifflichkeiten niederschlagen wird. Nicht dass ihr Ambivalenzen und Paradoxien zum Selbstzweck werden (das wäre gleichsam geistiger Masochismus), aber sie weicht ihnen nicht aus, wenn sie sich beim Durchdringen der Sache ergeben, und sie hält es für den größten Fehler, um der Stringenz der eigenen Darstellung willen das Dargestellte zu glätten. Gegen Reduktion und Schönfärberei. Ich werde in den folgenden Abschnitten am Beispiel des Angstphänomens

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zeigen, wie sich der ataxiologische Umgang mit Uneindeutigkeiten in der Sache gestaltet. Zuvor aber noch der Hinweis, dass diese Beschreibung der Identitätsphilosophie wie angedeutet idealtypisch (im Sinne Max Webers) gemeint ist. Wohl kein Ansatz aus der Philosophiegeschichte wird alle sieben hier aufgelisteten Kriterien vollkommen erfüllen. Das hängt u. a. damit zusammen, dass die besprochenen Kennzeichen, wiewohl oft benachbart, sich nicht gegenseitig bedingen; aus diesem Grunde habe ich sie auch nacheinander aufgelistet, statt das eine aus dem anderen herzuleiten. Es erscheint aber nicht vermessen zu behaupten, dass mit den angeführten Merkmalen der Hauptstrom der abendländischen Philosophie charakterisiert ist. Von den Weltbildern der Antike bis zur Dogmatik der mittelalterlichen Scholastik, von den Errungenschaften der philosophischen Neuzeit bis zu den Systementwürfen des Deutschen Idealismus reicht die Vorherrschaft eines Denkens, das nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit als Identitätsphilosophie bezeichnet werden kann und dessen wichtigste Züge hier idealisierend und typisierend nachgezeichnet wurden. Erst durch die berühmte Trias Marx–Nietzsche–Freud ist diese Vorherrschaft gebrochen worden. Die Ataxiologie versteht sich als Fortsetzung des derart inaugurierten Gegendiskurses.

B)

D IE AMBIVALENZ

DER

ANGST

Als Ursache für das identitätsphilosophische Bestreben, Berechenbarkeit herzustellen und Kontrolle zu erlangen, ist uns in diesem Buch ein ums andere Mal das Motiv der Angst begegnet. Der Versuch, im Denken durch Klassifikation und Systematisierung Ordnung zu schaffen, wird offenbar aus dem Gefühl heraus unternommen, dass jede wilde und nicht kanalisierbare Stoffmasse eine Gefahr darstellt, die es abzuwehren gilt. Diese defensive Haltung ist nur so zu erklären, dass das Heterogene und Anarchische, das man jenseits der Ordnung wittert, als unheimlich oder sogar bedrohlich empfunden wird. Damit entpuppt sich die Reduktion alles Dissonanten und Divergenten auf ein systematisches Gefüge als Versuch, der Angst Herr zu werden. Ein wichtige Konsequenz: dem Jenseits der Ordnung wird kein positiver Stand in sich zuerkannt, nach Möglichkeit soll es zum Verschwinden gebracht werden. Die einzige Weise, mit ihm zu kommunizie-

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ren, ist die des Bekämpfens – also gerade die Verweigerung von Kommunikation. Dabei wird übrigens nicht vorausgesetzt, dass die Kanalisierung der überbordenden Ströme in einem Zug erfolgen kann. Ebenso besteht die Möglichkeit, auf ein rekursives Verfahren auszuweichen, das mit Inseln beginnt und die Techniken der Trockenlegung iterativ auf den immer kleiner werdenden Rest appliziert. Auf diese Weise ist zumindest die stetige Annäherung an das Ziel, die Kontrolle des Ganzen, gewährleistet. Die Frage, die sich freilich bei all dem stellt, ist die nach dem tatsächlichen Ausmaß der Gefahr. Könnte es nicht sein, dass die Bedrohung bloß auf Einbildung beruht? Besteht die einzig angemessene Antwort auf Devianz in dem Versuch ihrer Beseitigung? Dass auch andere Reaktionen möglich sind, zeigen Ansätze aus verschiedenen Nebenströmungen der Philosophiegeschichte und vor allem aus dem genannten Gegendiskurs, die unerschrocken versucht haben, das Ungeordnete als solches zu denken und dafür eigene Denkfiguren zu entwickeln. Das, was sich keiner Ordnung fügt, avanciert hier vom Pudendum zum Faszinosum – an ihm wird die Weite eines theoretischen Horizonts gemessen. Es gilt als Quelle von Komplexität, als immer neue Herausforderung, die an das Denken ergeht. Das Ziel besteht nicht darin, es auf eine Ordnung zurückzuführen, sondern ihm vielmehr als solchem gedanklich gerecht zu werden. Dass dafür eigenständige theoretische Mittel erforderlich sind, versteht sich von selbst. Wenn wir mehr über das Ungeordnete – seine Äußerungsformen, seinen theoretischen Status – erfahren wollen, werden wir den philosophischen Hauptstrom verlassen und auf Ansätze der zuletzt beschriebenen Art rekurrieren müssen. Freilich bleiben alle Wege versperrt, solange Chaos und Anarchie als abzuwehrende Gefahr perzipiert werden. Ein erster wichtiger Schritt besteht deshalb darin, ihnen das Beängstigende zu nehmen. Erst wenn sie nicht länger verunsichern, wird es dem Denken gelingen, sich auf die Dissonanzen und Turbulenzen, in denen sie sich äußern, produktiv einzulassen. Aber wie die Blockade lösen? Ein Zugang, der sich an dieser Stelle nicht zufällig anbietet, ist die Thematisierung der Angst selber. Denn wenn das Ungeordnete Angst auslöst, dann dürfen wir uns umgekehrt von einer Analyse der Angst in besonderer Weise Aufschluss über das Jenseits der Ordnung erhoffen. Offenkundig kommunizieren die Begriffe Angst und Unordnung miteinander; darin deutet sich eine Konstellation an, die es für die Ataxiologie nutzbar zu machen gilt.

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Unter diesen Auspizien möchte ich mich jetzt den Angstanalysen von Sören Kierkegaard zuwenden. In ihnen steht, wie ich zeigen möchte, gerade das im Zentrum, was sich dem systematisierenden Zugriff entzieht und einer aneignenden Hermeneutik widersteht. Kierkegaard vermeidet jeden Reduktionismus und lässt das, was sich nicht ordnen lässt, bewusst als Ungeordnetes stehen. Dadurch drängen sich seine Analysen förmlich als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen auf. Hinzu kommt, zum einen, dass er in exemplarischer Form die Maxime realisiert, dass ein philosophisches System an den entscheidenden Stellen offen sein muss (wodurch es natürlich den Systemcharakter einbüßt), und zum anderen, dass er mit der Ambivalenz eine theoretische Figur einführt, die den besonderen Anforderungen an ein Denken jenseits der Ordnung gerecht wird. All das unterstreicht die ataxiologische Relevanz seiner Untersuchungen. Kierkegaards Überlegungen zum Begriff der Angst sind Teil einer Konzeption der menschlichen Existenz, die von der biblischen Schöpfungsgeschichte ihren Ausgang nimmt. Als Urbild des Menschen gilt ihr die Figur des Adam im Paradies, noch vor dem Sündenfall. Der Mensch ist in diesem Stadium noch eins mit seiner Natur, unschuldig, unwissend und unentfaltet. Er lebt in verträumter Glückseligkeit. Allerdings ist die Harmonie nur von begrenzter Dauer: die Genesis nennt sehr bald, noch vor der Erwähnung Evas, dasjenige Element, das im Garten Eden wider den Stachel löckt und den Sphärenklängen einen Misston hinzufügt. Es ist das göttliche Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, einschließlich der damit verbundenen Strafandrohung, bei Zuwiderhandlung werde Adam „des Todes sterben“1. Dieses Verbot bringt bekanntlich den Stein ins Rollen: die von ihm ausgehende Verlockung erweist sich als so stark, dass sie geradezu zwangsläufig den Sündenfall nach sich zieht, mit dem wiederum die historische Zeit beginnt. Wir haben also eine anfängliche Ordnung, die aber mit dem Verbot (und den aus ihm resultierenden Folgen) schon recht bald aus den Fugen gerät. Genauer gesagt: das ist die traditionelle Lesart des Mythos von der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradies. Kierkegaards Originalität

1

Genesis 2, 17. Von der Erschaffung Evas (und der damit einhergehenden geschlechtlichen Differenzierung des Menschen) wird erst fünf Verse später berichtet.

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beginnt dort, wo er diese herkömmliche Deutung in Frage stellt und mit eigenen Ideen zu einer neuartigen, von ihm „psychologisch“ genannten Analyse der biblischen Erzählung gelangt. Seine Kritik richtet sich gegen die Überbetonung der Bedeutung des Verbots. Stellt man das Verbot ins Zentrum und lässt von ihm die Begehrlichkeit (concupiscentia) wecken, so ergibt sich eine Kausalkette, an deren Ende mit quasi unausweichlicher Konsequenz der Sündenfall steht. Denn die Reize, die von dem Verbotenen ausgehen, summieren sich, so dass Adam à la longue gar nichts anderes übrig bleibt, als das Verbot zu übertreten. Damit verliert aber der qualitative Sprung von der Unschuld zur Sünde seine Kraft: „Der Sündenfall wird zu etwas Sukzessivem.“2 Das ist für Kierkegaard deshalb inakzeptabel, weil er von einer prinzipiellen Indeterminiertheit des Menschen ausgeht.3 Für ihn lässt sich eine Handlung niemals mit derselben Strenge wie ein Naturvorgang erklären, stets bleibt ein Sprung vom Motiv zum Akt. Die Theorie soll zwar versuchen, sich dem Sprung so weit wie möglich anzunähern, aber sie darf keine kausale Komponente einführen, die menschliches Handeln zur Resultante von Wirkursachen degradieren würde. Ihr Ziel ist eine ambivalente Deutung, die, auch wenn sie die psychische Verfassung des Handelnden vor der Handlung weitestgehend ausleuchtet, gleichwohl auf den Versuch verzichtet, hinreichende Gründe für die Handlung anzugeben. Paradox ausgedrückt: es geht um eine nicht-erklärende Erklärung. Um eine solche Erklärung geben zu können, bedarf es einer genauen Analyse der anfänglichen Existenz Adams vor aller äußerlichen Entzweiung, also noch bevor das Verbot ausgesprochen wurde. Wie gesagt befindet er sich in einem Zustand der Unschuld und der Eintracht mit der Natur. Bedeutet das das Fehlen eines jeden gegenstrebigen Moments? Kierkegaard macht die Entdeckung, dass bereits hier im Anfang ein Kontrapunkt zu vernehmen ist, wenn auch noch unendlich leise. Zwar „ist Friede und Ruhe; aber es ist zu gleicher Zeit etwas anderes da“4. Dieses Andere bleibt zu-

2 3

4

Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 40. Ausgedrückt findet sich diese Basisannahme in dem (keineswegs tautologischen) Satz: „Die Sünde kam durch eine Sünde in die Welt.“ (Ebd. S. 31; im Original hervorgehoben) Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 41.

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nächst völlig unbestimmt. Es ist noch nicht einmal Unfriede und Streit, „denn es ist ja nichts da, womit sich streiten ließe“5. Was also ist das Andere? Es ist, als das schlechthin Unbestimmte, das Nichts; das hat Kierkegaard bei Hegel gelernt.6 Was aber bei Hegel nicht zu lernen war, das wird von ihm jetzt hinzugefügt: mit dem Nichts hat es durchaus seine existenzielle Bewandtnis. Konkret: „Es gebiert Angst.“7 Bereits der Adam vor dem Sündenfall ist von der Ahnung erfüllt, dass es mehr gibt als die paradiesische Harmonie, und dieses Mehr ängstigt ihn, nicht trotz sondern wegen seiner völligen Unbestimmtheit. Mit dem Begriff der Angst ist die Analyse nunmehr auf jenem psychologischen Terrain angekommen, auf dem allein sich die geforderte nichterklärende Erklärung für den Sündenfall und damit für menschliches Handeln überhaupt geben lässt. Zu klären ist, was Kierkegaard genau im Sinn hat, wenn er von Angst spricht. Kanonisch geworden ist seine Unterscheidung von Angst und Furcht, wie sie von Heidegger und Sartre übernommen wurde. Demnach wird die Furcht von einem konkreten innerweltlichen Gegenstand ausgelöst; Furcht habe ich beispielsweise vor einem Tiger, der hungrigen Blickes und anscheinend von keinem Hindernis mehr aufzuhalten auf mich zuprescht. Die Angst ist nicht in der gleichen Weise objektbezogen, sie geht ins Offene. Sie richtet sich weniger auf das bestimmt Wirkliche als vielmehr auf das unbestimmt Mögliche. Damit rückt vorübergehend der Begriff der Möglichkeit in den Vordergrund. Das leuchtet auch ein im Hinblick auf die Verbindung zur Unbestimmtheit: der Raum der Möglichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass er im Vergleich zur Wirklichkeit viel weniger bestimmt ist. Weniger evident ist hingegen, dass die Möglichkeit Angst auslösen und bedrücken soll. Ist es nicht im Gegenteil erfreulich, ja erhebend, sich einer Fülle von Möglichkeiten gegenüberzusehen und wählen zu dürfen? Das wäre der Fall, wenn es hier um Möglichkeiten im Sinne eines Warenhauskataloges ginge, wenn ich also eine bunte Vielfalt vor mir hätte und souverän entscheiden könnte, was ich davon 5 6

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Ebd. Sogar vom Sein gilt, dass es Nichts ist, bevor ihm irgendeine Bestimmung zugesprochen wird: „Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik. Theorie Werkausgabe, Bd. 5, S. 83) Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 42.

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möchte. Was Kierkegaard im Blick hat, ist jedoch etwas grundlegend Verschiedenes: die Angst betrifft die „Möglichkeit für die Möglichkeit“8, also sozusagen die Möglichkeit mit großem „M“. Es geht darum, dass der Mensch als Existierender in einen offenen Raum der Möglichkeit hineingestellt ist. Das Beängstigende daran ist, dass es darin keinen sicheren und vorherbestimmten, gleichsam metaphysisch garantierten Ort für ihn gibt. Im Gegenteil wird er selber von der Unbestimmtheit erfasst und fühlt den Boden unter seinen Füßen schwanken – die Angst stellt die Selbstgewissheit des Ich in Frage. Kierkegaard drückt es in einem Bild aus, das später von Sartre aufgenommen worden ist: der Mensch steht an einem Abgrund, und wenn er hinabschaut, erfasst ihn der Schwindel.9 Das Bild vom Abgrund hat den Vorzug, die geforderte Ambivalenz plastisch zum Ausdruck zu bringen. Denn der Schwindel wird nicht von der Tiefe allein hervorgerufen; ebenso sehr bedarf er des Blicks hinunter. Warum wird aber der Blick von der Tiefe geradezu magisch angezogen? Offenkundig ist die Angst, die mich am Abgrund überkommt, durch und durch zweideutig. Einerseits würde mich ein selbstmörderischer Sprung hinab aller Seinsmöglichkeiten berauben, und darin liegt das Entsetzliche; andererseits würde er mich aber zugleich der Last des Daseins entheben – eine Option, von der unter Umständen eine gewisse Verlockung ausgehen kann.10 Darüber hinaus ist in einer Zusatzannahme ein Abgrund denkbar, bei dem ein steiler, unbefestigter Pfad hinabführt und der Schlund nicht einzusehen ist. Hier sind es dann Gefahr und Abenteuer, die in einer prekären Mischung das psychologisch Zweideutige ergeben. Kierkegaard bringt diese Ambivalenzen auf den Begriff der „süßen Beängstigung“: „Angst ist sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie.“11 Das Beängstigende übt bei aller Bedrohlichkeit oder Unheimlichkeit immer auch eine gewisse Faszination aus, woraus sich eine Doppelbewegung von Anziehung und Abstoßung ergibt. Zugleich wird deutlich, dass die Angst in irreduzibler Weise mich als Einzelnen betrifft:

8 Ebd. 9 Ebd. S. 64. Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 71-75. 10 Der Lastcharakter des Daseins wird von Heidegger hervorgehoben (Heidegger, Sein und Zeit, S. 134). 11 Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 42.

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am Abgrund steht der Mensch nicht als Gattungswesen, sondern als Individuum. Beziehen wir diese Einsichten zurück auf die Situation Adams im Paradies. In seine Unschuld und Unwissenheit mischt sich, wie wir gesehen haben, die Ahnung eines Anderen, das freilich so unbestimmt bleibt, dass es Nichts ist, gleichwohl kein leeres, wirkungsloses Nichts, sondern ein beängstigendes. Um was für eine Angst kann es sich hier handeln? Der Begriff Angst bezeichnet gewöhnlich einen psychischen Zustand mit charakteristischen physiologischen Begleiterscheinungen. Offenkundig gehen aber die Überlegungen von Kierkegaard in eine andere Richtung. Er hat weniger die empirischen Symptome und Krankheitsbilder im Blick als vielmehr die spezifische strukturelle Disposition, die sich am Phänomen der Angst ablesen lässt: das Hineingestelltsein des Menschen in eine Offenheit, die ihm auf der einen Seite eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet, die ihn auf der anderen Seite aber zugleich fordert und insofern bedrückt und beengt. Bereits Adam ist als Mensch dieser Doppeldeutigkeit ausgesetzt, noch bevor er das Verbot, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu genießen, vernommen hat. Selbstverständlich hat er kein Bewusstsein der Doppeldeutigkeit, aber schleichend unterwandert sie doch seine Eintracht mit der Natur und nimmt ihm nach und nach die innere Ruhe. Schon vor dem Sündenfall ist das Paradies für ihn zur Hölle geworden. So steht am Ende die Übertretung des Verbots, zu der es gleichwohl noch ein qualitativer Sprung ist, da Angst und Unruhe beide vor-bewusst bleiben (so dass die biblische Erzählung als zusätzlichen Grund die Verführung durch die Frau bzw. durch die Schlange hinzufügt). Das methodologische Fundament der Position Kierkegaards ist die Denkfigur der Ambivalenz. Sie erlaubt es ihm, eine triviale Ursprungserzählung, etwa der Art: am Anfang war die göttliche Harmonie, die später durch die Sündhaftigkeit der Menschen gestört wurde, zu vermeiden. Zwar nimmt er durchaus einen Anfangszustand der Unschuld und Unwissenheit an, relativiert aber den derart gesetzten Ursprung sogleich selber, indem er Unruhe und Bewegung mit in den Anfang hineinnimmt. Das unabweisbare Andere schwingt von Beginn an mit: „Das ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, dass sie zu gleicher Zeit Angst ist.“12 Diese Formulierung bringt

12 Ebd.

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präzise seine Weigerung zum Ausdruck, sich eindeutig auf einen Anfang entweder aus der Ordnung oder aus ihrem Gegenteil festzulegen. Genauer betrachtet haben wir es sogar mit mehreren Ambivalenzen auf verschiedenen Stufen zu tun: meinte Ambivalenz zunächst auf der Phänomenebene das zugleich Abschreckende und Anziehende des Nichts der Angst, so ist sie jetzt in die Grundlagen der Theorie eingesickert und bezeichnet das Axiom, dass das Denken des Menschen und seiner Existenz zugleich von einem Moment der Ruhe und der Unruhe auszugehen habe. Wichtig ist, dass beide Momente ihr Recht haben und nicht etwa das eine dialektisch in das andere „überführt“ wird.13 Nur dann ist gewährleistet, dass die Handlungstheorie in die geforderte nicht-erklärende Erklärung mündet: eine Erklärung, die den entscheidenden Punkt, nämlich wie es zum Sündenfall kommt, offenlässt, gerade dadurch aber der menschlichen Freiheit einen Platz reserviert. Auf dem Gedanken der Ambivalenz baut Kierkegaard im Weiteren die Konzeption auf, auf die seine Überlegungen im Kern ausgerichtet sind: eine Pädagogik der Angst in religiöser Absicht. Die Grundidee ist, dass die Ambivalenz – ganz gleich auf welcher Stufe – statt zur Wirklichkeit „nur“ zur Möglichkeit führt, dass aber gerade die Möglichkeit die Chance eines charakterlichen Bildungsprozesses enthält, in dem der Mensch zu seiner höchsten Entfaltung käme. „Wer durch die Angst gebildet wird, der wird durch die Möglichkeit gebildet; und erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird, wird nach seiner Unendlichkeit gebildet.“14 Die Angst führt den Menschen an die Extreme dessen, was möglich ist, sie macht ihn im Geist mit dem Entsetzlichen vertraut. Dabei ergreift sie ihn mit einer Gewalt, dass sogar die Gefahr des endgültigen Versinkens in ihr besteht (Selbstmord). Gelingt es ihm aber, wieder aufzutauchen, so kehrt er gestärkt in die Wirklichkeit zurück, vor allem gelassener. Denn die Angst „ängstigt das Endliche und Kleinliche aus ihm hinaus“15, d. h. sie löst ihn von der beschränkten Fixierung auf die Nichtigkeiten des Alltags. Darin liegt Kierke13 Vgl. hierzu erneut Hegels Logik, in der das Andere – und zwar nicht etwa das Andere des Etwas, sondern das Andere für sich – in einem freilich aufregenden Denkprozess als „mit sich identisches Etwas“ identifiziert wird (Hegel, Wissenschaft der Logik. Theorie Werkausgabe, Bd. 5, S. 127). 14 Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 172. 15 Ebd. S. 175.

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gaards Bildungsideal: die Angst öffnet unseren Geist für das Hohe und Erhabene; all die Banalitäten, an die unser Narzissmus sich heftet, sinken mit einem Mal nieder. Den resultierenden Geisteszustand der Gelassenheit und der Versöhnung mit dem Schicksal bezeichnet er als Glauben, womit die religiöse Intention explizit benannt ist. Die Denkfigur der Ambivalenz bürgt für eine höhere Komplexität als eine simple Ursprungserzählung. Sie erlaubt es, ein Moment der Unruhe in die anfängliche Harmonie zu integrieren. Damit öffnet sie den Spalt, aus dem dann die menschliche Freiheit entspringt: weder ist der Sprung in die Sündhaftigkeit ein Akt der blinden Willkür, da er ja durch die Angst vorbereitet wird, noch lässt er sich auf eine sei es logische, sei es kausale Notwendigkeit zurückführen, da auch die abgründigste Angst allein nicht in der Lage ist, ihn hervorzubringen. Kierkegaards Freiheitsbegriff ruht wesentlich auf dieser doppelten Negation.16 Der Gewinn all dieser Überlegungen für die Ataxiologie liegt auf der Hand. Wie wir gesehen haben, bezieht sich die Angst auf das Offene, Unbestimmte, nur Mögliche, nicht Gesicherte. Das bedeutet aber: sie ist im Kern Angst vor der Unordnung. Das Entscheidende bei Kierkegaard ist nun, dass er keinen Leitfaden zu ihrer Überwindung – also zur Rückführung des Ungesicherten und Unbestimmten auf eine wie immer fragile Ordnung – anbietet. Im Gegenteil schätzt er ihre pädagogische Funktion und versucht eher, den Menschen zu ihr hin- als von ihr wegzuführen. Die Angst (und damit die Unordnung) ist bei ihm etwas Positives; es gilt, sich ihr zu stellen; er räumt ihr einen irreduziblen Ort in seinem Denken ein. Methodologisch abgesichert ist dieser Ansatz durch die Denkfigur der Ambivalenz, mit der eine Alternative zur traditionellen Logik des tertium non datur präsentiert wird. Statt eine Entscheidung entweder für das Diesseits oder für das Jenseits der Ordnung zu fordern arbeitet Kierkegaard die Gleichursprünglichkeit beider Momente heraus. Was bei alldem freilich nicht hinreichend geklärt wird, ist die Frage nach dem Verhältnis der beiden Pole der Ambivalenz, Unschuld und Angst

16 „Die Angst ist keine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch nicht der Freiheit; sie ist eine verstrickte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern verstrickt, nicht in die Notwendigkeit, sondern in sich selbst.“ (Ebd. S. 50) Die multiple Negation macht diesen Satz so verwickelt.

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bzw. Ruhe und Unruhe. Wir haben gesehen, dass als Kennzeichen der Angst das simultane Auftreten von Sympathie und Antipathie, von Anziehung und Abstoßung bestimmt wird. Ein solcher symmetrischer Gegensatz führt in der Regel zu einem relativ ruhigen Verhältnis, sei es des mittleren Abstandes, sei es der gleichförmigen Oszillation. Die Angst selber ist aber in einen asymmetrischen Gegensatz eingebunden: zwischen ihr und der Unschuld gibt es keinen Ausgleich, keinen Kompromiss, vielmehr stürzt das eine in das andere. Durch den Sündenfall verliert der Mensch seine anfängliche Unschuld, und umgekehrt ist im Glauben die Angst überwunden – sie hat nichts Beängstigendes mehr, der Gläubige „heißt sie willkommen“17. Welchen Typus von Gegensatz meint Kierkegaard, wenn er von Zweideutigkeit spricht? Offenkundig ist er sich über den Unterschied in keiner Weise im Klaren. In der Sache liegt hier aber ein bedeutendes Problem, denn beide Arten von Gegensätzen zeitigen höchst unterschiedliche Folgen. Ist ein symmetrischer Gegensatz in einem Gleichgewicht der Kräfte oder in einem mittleren Abstand zur Ruhe gekommen – ein Beispiel hierfür ist Schopenhauers Parabel von den Stachelschweinen18 –, so können wir von einer Ordnung zweiten Grades sprechen: eine Ordnung, die bestimmte Momente des Unruhigen und Gegenstrebigen in sich aufgenommen hat. Auch bei den verschiedenen Formen des Oszillierens dominiert der Gesichtspunkt der Ordnung, was daran abzulesen ist, dass sich viele von ihnen mathematisch beschreiben lassen. Verwickelter sind die Dinge bei asymmetrischen Gegensätzen. Das Fehlen einer Mitte führt zu einer Dynamik, in der – in anthropomorpher Redeweise – jede Seite die andere gleichsam zu vernichten strebt: die Unschuld will keine Angst aufkommen lassen, die Angst will die Unschuld zur Sünde verführen. Der wechselseiti17 Ebd. S. 175. 18 „Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“ (Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Sämtliche Werke Bd. 5, S. 765.)

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ge „Hass“ beider Pole, die überbordende Spannung zwischen ihnen entlädt sich in einer Bewegung, die die gesamte Konstellation erfasst und schon bald außer Kontrolle gerät. Konsequenz: die Ordnung löst sich auf, der Gegensatz als solcher wird instabil. Bricht er – Triumph des Chaos – vollends zusammen, so entsteht eine neue Qualität: in der Schöpfungsgeschichte der Sündenfall, der von Kierkegaard zu Recht als qualitativer Sprung ausgelegt wird. Die Pointe ist, dass nach dem Sprung mit dem ursprünglichen Gegensatz auch Bewegung und Dynamik wie weggewischt sind. Wir erleben eine Rückkehr zu Stabilität und Ordnung: nach der Vertreibung aus dem Paradies richten sich die Menschen auf der Erde ein, sie bauen sich ihre Hütten, stellen Gesetze auf etc. Diese Entwicklung lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass Unordnung, sofern sie sich nicht als bloßer Kontrapunkt in eine Ordnung einfügen will, stets nur etwas Transitorisches darstellt. Ordnung und Unordnung bilden selber ein asymmetrisches Gegensatzpaar: es gibt keine Unordnung an sich, sie bleibt stets auf eine Ordnung bezogen, der freilich all ihre Angriffe gelten.

C)

D ER EXISTENTIELLE V ERLUST

DER

O RDNUNG

Es muss wohl nicht eigens hervorgehoben werden, dass die Art und Weise, wie Kierkegaard die Angst zum Gegenstand einer Analyse macht, massiv gegen die Prinzipien der Identitätsphilosophie verstößt. Allen voran das Postulat der Eindeutigkeit wird durch die Annahme, die Angst sei von einer in keiner Weise zu behebenden Ambivalenz durchzogen, selbstbewusst ignoriert. Das für die Angst charakteristische Aufbrechen einer scheinbar festgefügten Ordnung – mit der Folge einer existentiellen Krisensituation – ist nun beileibe nicht nur von Kierkegaard thematisiert worden. Bereits im 17. Jahrhundert hat Pascal, wenngleich unter einem anderen Titel, das Phänomen beschrieben, und im 20. Jahrhundert ist Heidegger am Leitfaden seiner existenzial-ontologischen Fragestellung darauf zurückgekommen. Da es sich um einen für die Ataxiologie paradigmatischen Vorgang handelt, lohnt es sich, hier noch länger zu verweilen. Bei Pascal steht eine Befindlichkeit im Zentrum, die im Französischen ennui heißt und in der Momente von Lebensüberdruss, Langeweile, Trägheit und Melancholie zusammenfließen. Seine Ausgangsthese lautet: „Alles

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Unglück der Menschen rührt von einer einzigen Ursache her: nicht unbeschäftigt in einem Zimmer sitzen zu können.“19 Das bedeutet: dem ennui verfallen in der Regel Personen, die von jeder erfüllenden Tätigkeit abgeschnitten sind – zu Pascals Zeiten oft Aristokraten – und die deshalb ihrem Leben keinen Sinn mehr zu verleihen vermögen. Das Gegenstück zum ennui ist das divertissement, die Zerstreuung, die hier nicht nur kurzweiligen Zeitvertreib umfasst, sondern jede Art von Tätigkeit – gerade auch berufliche –, die den Einzelnen in Anspruch nimmt und ihn davon abhält, sich über Gebühr mit sich selber zu befassen. Für Pascal gibt es demnach zwei Arten von Menschen: die einen, die nach außen gewandt Ziele verfolgen und sich in Projekte stürzen, wodurch es sich für sie erübrigt, die Sinnfrage zu stellen, und die anderen, die grübelnd und zweifelnd in sich selber kreisen. Letztere verfallen dem ennui. Was genau geschieht nun im ennui? Zum einen tut sich durch den Sinnentzug eine unendliche Leere auf: da ist keine Ordnung, die Halt verleiht, keine Substanz, die den Existenzraum füllt. Der Mensch des ennui ist ohne Möglichkeit der Zuflucht dem Nichts ausgesetzt. Zweitens kann man von einer Entwirklichung sprechen: durch die fehlenden Sinnbezüge erscheint das Reale eigentümlich fern, gleichsam irreal. Der ennui macht aus einem menschlichen Individuum „einen wandelnden Schatten, ein Gespenst, das denkt“ (Flaubert).20 Drittens findet eine Vereinzelung statt: der ennui tritt – nicht bei Pascal, aber in späteren Zeitaltern – oft im Gefolge der Auflösung vormoderner Gruppenidentitäten auf. Statt fraglos in eine Gemeinschaft eingebunden zu sein, sieht sich der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen, mit der Möglichkeit des Scheiterns. – Was bei alldem aufhorchen lässt, ist, dass die angeführten Merkmale der Leere, Entwirklichung und Vereinzelung nicht nur den ennui, sondern gleichermaßen die Angst charakterisieren. Auch die Angst konfrontiert den Menschen mit einem leeren Raum bar aller Sinnbezüge, wie wir im Zusammenhang mit Kierkegaard gesehen haben. Ferner lässt sie die Alltagswelt zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, was aller Erfahrung den Stempel des Quasi-Irrealen aufdrückt. Und

19 Pascal, Pensées, Nr. 644 (Sellier) / Nr. 62 (Brunschvicg). Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach: Bürger, Das Verschwinden des Subjekts, S. 45. Zur Thematik des ennui vgl. bei Bürger auch die Seiten 44-48, 132-150 und 220 f. 20 Zitiert nach Bürger, Das Verschwinden des Subjekts, S. 137 f.

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schließlich wird in ihr der Abstand zum Mitmenschen so unermesslich groß, dass nur noch von Vereinzelung gesprochen werden kann. Obwohl also Angst und ennui, was das subjektive Erleben betrifft, recht verschieden sind, erweisen sie sich doch in ataxiologischer Hinsicht als sehr ähnlich. In beiden Fällen geht es um den existentiellen Verlust der Ordnung, d. h. um den Zusammenbruch von Strukturen, die bis dato dem Leben eines Individuums Halt verliehen haben. Heideggers Ausführungen zur Angst fügen sich hier nahtlos ein, was damit zusammenhängt, dass sie sich zu erheblichen Teilen einer intensiven Pascal- und Kierkegaard-Lektüre verdanken. Wir finden bei ihm alle drei genannten Merkmale wieder: (1) dadurch, dass die Angst in ihrem Wovor notwendig unbestimmt bleibt (denn sonst handelte es sich um Furcht), stellt sie uns in einen leeren Raum, dessen Weite und Dunkelheit uns unheimlich vorkommt. „Die Angst offenbart das Nichts.“21 (2) Indem sie durch Ausstreichen der Sinnbezüge die Welt entleert, entwirklicht sie sie zugleich: „In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die ,Welt‘ vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer.“22 Der letzte Halbsatz dieses Zitats verweist bereits auf den nächsten Punkt: (3) was in der Angst verloren geht, ist jeglicher Halt in einer Gemeinschaft; Sein und Zeit prägt hierfür die Formel vom „existenzialen Solipsismus“23. Heidegger fasst seine Überlegungen in den Sätzen zusammen: „Die Angst [...] holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ,Welt‘ zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen.“



Dieser Passus, der sich augenscheinlich auf den ennui übertragen lässt, bringt den ataxiologischen Kern der Thematik auf den Punkt: worum es 21 Heidegger, Was ist Metaphysik? S. 32. 22 Heidegger, Sein und Zeit, S. 187. Vgl. ders., Was ist Metaphysik? S. 32: „Die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir selbst – diese seienden Menschen – inmitten des Seienden uns mitentgleiten.“ Die Entwirklichung betrifft nicht nur die Welt, sondern ebenso das Subjekt. 23 Vgl. dazu Heidegger, Sein und Zeit, S. 188. 24 Ebd. S. 189.

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geht, ist die Implosion jeglicher Ordnung. Das scheinbar Festgefügte erweist sich als haltlos und stürzt ein. Wo gestern noch stolze Konstruktionen aus Stahl, Beton und Glas in den Himmel ragten, da stehen wir heute vor einem Feld übersät mit Trümmern und Staub. Aber anders als am 11. September 2001 sind es keine äußeren Einwirkungen, die den Kollaps herbeiführen (in Gestalt der entführten Düsenflugzeuge, die in die Türme des World Trade Center gesteuert wurden), vielmehr zerbröckelt die Ordnung von innen heraus und sackt in sich zusammen. Es stellt sich heraus, dass sie von Anfang an auf Sand gebaut war. Das Ordnungsstreben der Wissenschaft und übrigens auch das geschäftige Treiben des Alltags erweisen sich als Flucht vor der Einsicht, wie schwankend der Grund ist, auf dem die menschliche Existenz ruht. Angst und ennui stellen keinen „Unfall“ dar, nach dessen Reparatur alles wieder im Lot wäre, sondern sie bringen eine fundamentale Fragilität zum Vorschein, die es philosophisch in Rechnung zu stellen gilt. Die angeführten Autoren (Pascal, Kierkegaard, Heidegger, hinzu kommt noch Sartre) sind sich einig, dass für den Durchschnittsbürger die genannte Flucht der Regelfall ist, sei es in die Zerstreuung wechselnder Ablenkungen, sei es in den Trott eines beruflichen Alltags. Sie machen jedoch geltend, dass in der Angst bzw. im ennui eine höhere Wahrheit aufscheint. Diese Wahrheit ist keine bloß theoretische Einsicht, die wir distanziert von außen betrachten könnten wie ein Insekt in Bernstein. Vielmehr erschüttert sie uns bis ins Mark und birgt sogar existentielle Gefahren, wie die pathologischen Formen von Angst und ennui, Paranoia und Depression, verdeutlichen. Gleichwohl versuchen die genannten Autoren, die Leser ihrer Schriften zu ihr hinzuführen, mit dem Argument, wir müssten uns durch das mit ihr verbundene Leid hindurchkämpfen, um am Ende des Weges zu einer neuen und ausgezeichneten Stufe des Menschseins zu gelangen. Die verstörenden und bedrückenden Erfahrungen sind gleichsam der Preis, der zu entrichten ist, um zu einer Dimension der humanitas vorzudringen, die im Alltag verstellt und verdeckt ist. In der derart beschriebenen Theoriestruktur stimmen die vier Autoren überein; Unterschiede gibt es in der inhaltlichen Präzisierung des angestrebten Ziels. Für Pascal und Kierkegaard ist der schmerzliche, letztlich aber doch heilsame Weg, auf den ennui und Angst uns schicken, der Weg zu Gott. Das Leiden ist nicht sinnlos, weil es an das Versprechen einer Erlösung gekoppelt ist, die nicht nur für alles Erlittene entschädigt, sondern mit höchster Erfüllung gleichge-

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setzt werden kann. Bei Flaubert findet sich analog der Gedanke, den ennui ästhetisch nutzbar zu machen, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen kann die Schriftstellerei, um ihrer selbst willen betrieben, durchaus einen therapeutischen Effekt haben: „Die Lustlosigkeit des Daseins drückt unsere Schultern nicht, wenn wir schreiben.“25 Zum anderen kann die Entwirklichung, die mit dem ennui einhergeht, Auslöser für eine besondere Erfahrung sein: „Der Abstand zwischen mir und dem Rest der Welt ist jetzt so groß, dass mich die natürlichsten und einfachsten Dinge, die ich höre, seltsam anmuten. [...] In dem Maße, wie ich alles zu verstehen versuche, versetzt alles mich in einen traumähnlichen Zustand.“26 Beide Punkte zusammengenommen führen zu einer ästhetischen Produktion, die sich nicht mehr, wie die klassische Kunst, als Teil eines Ganzen versteht und die Schönheit der Welt preist, sondern die die spezifisch moderne Erfahrung der Entfremdung in ihre Werke hineinträgt. In der Moderne steht die Kunst der Welt gegenüber und offenbart deren Risse und Schründe. Eine völlig neue Rolle für die Kunst; die treibende Kraft hinter dieser Umwälzung sind ennui und Angst. Das gilt übrigens nicht nur für die Literatur, sondern ebenso für die Malerei, wie etwa das berühmte Gemälde Der Schrei von Edvard Munch veranschaulicht. Bei Heidegger finden sich Ehrfurcht gebietende Titel für die angesprochenen Phänomene. Das Aufgehen des Durchschnittbürgers in einem geregelten Leben aus Beruf und Freizeit heißt bei ihm „Verlorenheit in das Man“; es handelt sich um eine Existenzweise, die mit Attributen wie „abkünftig“ und „uneigentlich“ nicht gerade freundlich dargestellt wird. Ganz anders das Gegenteil, die „Eigentlichkeit“: auch wenn Heidegger jeden Bezug zur Moral leugnet und ausschließlich die existenzial-ontologischen Strukturen aufzuweisen vorgibt, spricht er von ihr doch mit unverhohlenem Pathos. In der Eigentlichkeit verliert sich der Mensch nicht mehr in Existenzformen, die ihm von der Gesellschaft gleichsam „von der Stange“ angeboten werden, sondern er ergreift, durch die Angst geläutert, die ihm eigenen Möglichkeiten. Vor allem blickt er der äußersten Möglichkeit seiner Existenz, dem Tod, unerschrocken und illusionslos ins Auge. Der Tod wiederum wird in Sein und Zeit ausdrücklich als „unbezügliche“ Mög-

25 Zitiert nach Bürger, Das Verschwinden des Subjekts, S. 140. 26 Ebd. S. 141.

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lichkeit des Daseins herausgearbeitet, das heißt, wir sind darin ganz auf uns allein gestellt: „In ihm sind alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst.“27 Das verdeutlicht noch einmal, was es mit dem existenzialen Solipsismus auf sich hat: in Momenten der Eigentlichkeit, in denen sich der Mensch seine eigenste Möglichkeit, den Tod, schonungslos vergegenwärtigt, sieht er sich ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Es handelt sich also um Augenblicke radikaler Vereinzelung; dafür erreicht er in ihnen eine Erfüllung, von der sich die alltägliche und durchschnittliche Existenz noch nicht einmal einen Begriff machen kann.28 In der Angstanalyse Sartres spielt ähnlich wie bei Kierkegaard der Begriff der Möglichkeit eine zentrale Rolle. Für Sartre ist es der Sprung oder Abgrund zwischen Motiv und Akt, der Angst auslöst: jemand kann sich klar machen, dass bei der Alternative zwischen den Handlungen A und B alles für A und nichts für B spricht, und dennoch wird ihm im selben Moment bewusst, dass es für ihn bloß möglich ist, A zu tun und B zu unterlassen. Es ist nicht determiniert – obwohl er es in manchen Situationen gern wäre –, und so kann er sich nicht sicher sein, ob er gemäß seinen Motiven und Interessen handeln wird. Die daraus resultierende Unsicherheit und 27 Heidegger, Sein und Zeit, S. 250. 28 Der Lohn für das Wagnis, der Angst standzuhalten, statt vor ihr in die Annehmlichkeiten des divertissement zu fliehen, steht bei Heidegger unter dem Titel ,Entschlossenheit‘: „Entschlossenheit bedeutet Sich-aufrufen-lassen aus der Verlorenheit in das Man. [...] In der Entschlossenheit geht es dem Dasein um sein eigenstes Seinkönnen.“ (Heidegger, Sein und Zeit, S. 299) In struktureller Hinsicht leuchten diese Bestimmungen auch ein; im Hinblick auf die inhaltliche Dimension fragt man sich allerdings, wozu jemand entschlossen ist, wenn er durch die Angst hindurchgegangen ist. Diese Problematik wird nun von Heidegger merkwürdig einsilbig behandelt; im Grunde bleibt er eine Antwort schuldig. Scheinbar lässt sich das damit rechtfertigen, dass es in Sein und Zeit um die existenzial-ontologischen Strukturen gehe und dass man es dem Buch als Verdienst anrechnen müsse, nicht Zuflucht bei religiösen oder ästhetischen Inhalten zu suchen. Gegen eine solche Argumentation spricht jedoch, dass Heidegger die hier angedeutete Leere selber als Mangel wahrgenommen hat, was sich daran ablesen lässt, dass er um 1933 eine Zeitlang versucht hat, sie mit nationalen Motiven zu füllen („unser deutsches Dasein“). Diese peinliche Entgleisung wäre nicht möglich gewesen, wenn die existenzial-ontologische Analyse keinerlei Defizite aufweisen würde.

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Ungewissheit ist für Sartre die Quelle der Angst. Sein von Dostojevski inspiriertes Beispiel ist das des Spielers, der beschlossen hat, nicht mehr zu spielen, der sich aber gleichsam magisch angezogen fühlt, wenn er in die Nähe eines Roulettetisches kommt. In diesem Augenblick wäre der Spieler gern an seinen früheren Entschluss gebunden und durch ihn determiniert, er ruft ihn sogar an und erbittet seinen Beistand. Jedoch vergebens: „Was er dann in der Angst erfasst, ist gerade die totale Unwirksamkeit des vergangenen Entschlusses.“29 Er kann sich ein Gerüst aus Argumenten zimmern, die alle für die Beendigung und gegen die Fortsetzung der Spielleidenschaft bzw. -sucht sprechen (drohender Ruin, Verzweiflung der Angehörigen), er kann sich sogar sagen: ich weiß genau, dass ich nicht mehr spielen will – und dennoch ist es nicht sicher, dass er tatsächlich aufhört. Im Augenblick der Entscheidung bricht das Gerüst zusammen; deshalb handelt es sich um einen Augenblick der Angst. Auch bei Sartre also das Phänomen des existentiellen Verlusts der Ordnung. Insgesamt haben wir dadurch in diesem Abschnitt mehrfach einen Mechanismus beobachten können, der für die Betroffenen schmerzlich sein mag, für die Ataxiologie hingegen paradigmatisch ist. Er zerfällt in drei Stadien. Im ersten Stadium baut sich der Mensch eine Ordnung auf, um seiner Existenz Struktur und Halt zu verleihen. Auf der Basis von Verständigung und Kooperation schafft er gemeinsam mit anderen ein verlässliches System aus Regelmäßigkeiten, das zudem durch Einbettung in einen institutionellen Rahmen auf Dauer gestellt wird. Resultat dieser Bemühungen ist im Normalfall jene geregelte und abgesicherte, tendenziell aber auch eintönige Existenz, wie sie für die gegenwärtige Gesellschaft typisch ist, mit den beiden Hauptbereichen Beruf und Privatleben. Im zweiten Stadium wird die Normalität mit einem Mal brüchig. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob alle Individuen dieses Stadium durchlaufen oder nur einige wenige, sicher ist, dass den Betroffenen gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Urplötzlich gibt es auf die Sinnfrage keine zufriedenstellende Antwort mehr, statt dessen tut sich eine Leere auf, deren Unheimlichkeit beängstigt und bedrückt. Die Alltagswelt ist in so große Ferne gerückt, dass sie eigentümlich unwirklich erscheint und keinen Halt mehr bietet. Auch die Beziehungen zu den Mitmenschen sind gestört, so

29 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 75.

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dass sie denjenigen, den die Krise ereilt, nicht mehr aufzufangen vermögen. Bei alldem kann der Anlass für die Krise nichtig sein; das ändert nichts daran, dass der von ihr Betroffene unter einem Gefühl völliger Entfremdung – von seiner Mit- und Umwelt, ja von sich selber – leidet. Dieses Leiden wird nun im dritten Stadium zur Quelle neuer Energie und Inspiration, sei es, dass die Entfremdung in einem gleichsam ozeanischen Gefühl des Einsseins mit dem Kosmos aufgehoben wird, sei es, dass sie zwar als Entfremdung bestehen bleibt, sich aber in Kontexten ästhetischer Produktivität als fruchtbar erweist. Eine neue Sinnachse entsteht, die jedoch etwas Momenthaftes hat – man denke an die Augenblicke religiöser Ekstase30 oder künstlerischer Inspiration – und die dadurch mit dem institutionalisierten, auf Dauer gestellten Sinn des ersten Stadiums nicht zu vergleichen ist. Obwohl auf dieser dritten Stufe nicht das blanke Chaos regiert, wird man auch nicht sagen können, dass Ordnung herrscht. Zu fragil sind die Konstellationen, in denen ein Funken Wahrheit aufblitzt, zu schnell zerfallen sie bereits wieder. Das Geschehen des dritten Stadiums spottet jeder Systematisierung, es ist in keiner Weise wissenschaftsfähig. Das bedeutet aber nicht, dass man es für die Philosophie verloren geben müsste. Ataxiologie ist der Versuch, dieser Dimension des Menschseins – die gänzlich zu verleugnen einen fortgeschrittenen Grad an Borniertheit erfordert – im Denken eine Stätte zu bereiten.

30 Vgl. hierzu Berninis um 1650 entstandene Statue Die Verzückung der Heiligen Theresa in der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom. Bernini bringt den erotischen Subtext, der ja bereits in dem Bericht der Heiligen nicht zu übersehen ist, meisterhaft zur Geltung.

6. Modell (II): Leonard Leben jenseits der Ordnung

Als Horkheimer und Adorno während des Zweiten Weltkriegs im kalifornischen Exil ihre Dialektik der Aufklärung schreiben, suchen sie nach einer literarischen Figur, die die Ambivalenzen und Widersprüche der Aufklärung am eigenen Leibe erfährt. Sie finden sie in Odysseus, dem Helden des homerischen Epos, der auf seiner Irrfahrt den Prozess der Subjektwerdung prototypisch durchläuft und dadurch zum Urbild des aufgeklärten Bürgers wird. An ihm lassen sich die Errungenschaften, freilich auch die enormen Kosten des aufklärerisch-zivilisatorischen Prozesses in exemplarischer Weise ablesen. Ich möchte im Folgenden Leonard Shelby als analoge Leitfigur der Ataxiologie vorstellen. Leonard ist die Hauptfigur von Memento, einem amerikanischen Independant-Film, der 2000 in die Kinos kam.1 Der Film zeigt Leonard in einer Phase, da sein Leben völlig durcheinandergeraten ist. Zwar leidet er an diesem Zustand und versucht mit allen erdenklichen Mitteln, sich Orientierung und Gewissheit zu verschaffen. Aber seine Versuche scheitern in charakteristischer Weise, und das macht ihn für die hier angestellten Überlegungen so interessant. Da ich bei Memento nicht den gleichen Bekanntheitsgrad voraussetzen kann wie bei der Odyssee, möchte ich zunächst etwas ausführlicher die Filmhandlung wiedergeben. 1

Memento – USA 2000. Buch und Regie: Christopher Nolan. Darsteller: Guy Pearce (Leonard), Carrie-Ann Moss (Natalie), Joe Pantoliano (Teddy) u. a. – Ich möchte Jasmin Elagy danken, die mir eine Fülle von Material zu dem Film zur Verfügung gestellt hat.

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Leonard ist ein Mann mittleren Alters, der, wie er selber immer und immer wieder erzählt, durch ein traumatisches Ereignis aus der Bahn geworfen wurde: Einbrecher haben eines Nachts seine über alles geliebte Frau vergewaltigt und ermordet. Bei einem Rettungsversuch konnte er einen der beiden Täter töten; dem anderen gelang es jedoch, ihm von hinten einen Schlag auf den Kopf zu versetzen und zu fliehen. Seither leidet Leonard an einer Gedächtnisstörung, genauer an anterograder Amnesie: zwar kann er sich an sein früheres Leben und insbesondere an seine Frau erinnern, aber er kann das, was ihm seitdem widerfährt, nicht mehr abspeichern. Namen und Gesichter von Personen, die er nach dem Ereignis kennenlernt, hat er binnen weniger Minuten wieder vergessen.2 Das wiederum macht ihn zu einem unglaubwürdigen Zeugen für die Polizei, die ihm die Behauptung von einem zweiten Täter nicht abnimmt, sich mit dem einen (getöteten) Täter zufriedengibt und die Ermittlungen einstellt. Leonard versucht nun auf eigene Faust, den zweiten Täter zu finden und Rache zu üben. Hilfe bekommt er von dem zwielichtigen Polizeispitzel Teddy, der freilich auch eigene Ziele verfolgt, und von der Barkellnerin Natalie, die ebenfalls nicht abgeneigt ist, persönlichen Vorteil aus der Situation zu ziehen. Seinem Hauptproblem, der immer wieder verblassenden und zerfallenden Erinnerung an soeben Erlebtes, begegnet er mit einem System aus Notizen und beschrifteten Polaroidfotos. Besonders wichtige Ergebnisse seiner Ermittlungen – „facts“, wie er sie nennt – lässt er sich auf Brust und Gliedmaßen tätowieren.3

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3

Man stelle sich einen Computer vor, bei dem Prozessor und Arbeitsspeicher funktionieren und der auch Daten von Speichermedien korrekt einliest, der jedoch nichts mehr auf der Festplatte aufzeichnen kann – und bei dem alle halbe Stunde wegen Stromausfall ein Neustart erforderlich ist. Mehrfach codiert ist hierbei die Polaroidtechnik. Zum einen liegt die Entwicklungszeit innerhalb der Zeitspanne, in der Leonard sich noch erinnert, so dass er das Bild noch beschriften kann. Zum anderen kann man sich das Verblassen der Erinnerungsinhalte als den umgekehrten Entwicklungsprozess eines Polaroidfotos vorstellen. Dazu passt die Eröffnungssequenz des Films: in ihr hält Leonard ein Polaroidbild in der Hand und wedelt mehrfach damit. Er scheint auf die Entwicklung zu warten. Tatsächlich verblassen jedoch die Farben und Konturen bis zur Unkenntlichkeit, wie der Zuschauer einigermaßen verwirrt feststellt. Die Erklärung hierfür folgt auf dem Fuße: in dieser Eingangsszene läuft der Film

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Aufsehen erregt hat Memento bei seinem Erscheinen durch die ungewöhnliche Schnitttechnik: die Szenen sind in umgekehrter Reihenfolge, also gegenchronologisch montiert. Zwar läuft (von der in der Fußnote genannten Ausnahme abgesehen) innerhalb jeder Szene der Film vorwärts, aber insgesamt wird die Handlung von hinten nach vorn erzählt. Der Grund hierfür ist offenkundig: auch der Zuschauer soll gleichsam in einen Zustand anterograder Amnesie versetzt werden. Wie für den Protagonisten beginnt auch für uns jede Szene bei Null, da wir aufgrund der unkonventionellen Montage nicht wissen, was vorher passiert ist und wie es zu einer Situation kam. Auf diese Parallele zwischen dem Geschehen auf der Leinwand und im Kinosaal hat es der Regisseur offenbar abgesehen. Übrigens folgt ihr sogleich eine zweite: wie der Zuschauer durch den Schnitt gleichsam zum Detektiv wird, der in seinem Kopf ein Puzzle zusammensetzt, versucht auch der Protagonist der Filmhandlung, in der Art eines Privatdetektivs dem Mörder seiner Frau auf die Spur zu kommen. Um genau zu sein gilt das Prinzip der gegenchronologischen Montage jedoch nur für die Farbszenen des Films. Zwischen zwei Farbszenen ist nun jeweils eine Schwarz-Weiß-Szene geschnitten, und die Schwarz-WeißSzenen ergeben in ihrer Summe einen zweiten Handlungsstrang, der konventionell chronologisch erzählt wird. Hier sehen wir Leonard in einem Hotelzimmer, wie er am Telefon einem Polizisten – vermutlich Teddy – seinen Fall schildert. Wir erfahren wichtige Details über sein früheres Leben: er war Versicherungsagent und hatte in Schadensfällen die Ersatzansprüche zu prüfen. An einen Fall erinnert er sich besonders, an den eines gewissen Sammy Jankis, der nach einem Unfall an, ja, anterograder Amnesie litt. Leonard gelang es seinerzeit darzulegen, dass das Problem ein psychisches und kein physisches sei, so dass die Versicherung nicht zahlen musste. Ein großer beruflicher Erfolg; Konsequenz war allerdings, dass die Frau von Sammy Jankis, eine Diabetikerin, glaubte, ihren Mann auf die Probe stellen zu können: sie ließ sich, indem sie mehrfach die Uhr verstellte, von ihrem Mann innerhalb kurzer Zeit mehrmals Insulin verabreichen. Die Probe endete tragisch und Sammy Jankis im Sanatorium.

rückwärts. Um dem Zuschauer den Geisteszustand seines Protagonisten gleich zu Beginn symbolisch vorzuführen, nimmt der Regisseur die Missachtung des Zeitpfeils in Kauf.

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In der letzten Szene des Films – also nach der Logik des Schnitts in der Mitte der Filmhandlung – konvergieren die beiden Handlungsstränge.4 Leonard scheint wichtige Informationen bekommen zu können und verabredet sich mit seinem Informanten in der Lobby des Hotels. Dort trifft er Teddy, der seinen Verdacht auf einen Drogendealer namens Jimmy lenkt. Teddy fädelt ein Treffen auf einem verlassenen Industriegelände ein, bei dem (wie von ihm offenbar kalkuliert) Leonard Jimmy tötet. Unmittelbar nach der Tat erscheint auch Teddy auf der Szene. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen ihm und Leonard, aus dem hervorgeht, dass Jimmy gar nicht der Gesuchte war und Teddy ihn aus anderen Gründen hat töten lassen. Auch wird deutlich, dass Leonard auf diese Weise bereits mehrfach den Tod seiner Frau gerächt hat, freilich ohne bleibende Erinnerung. Schließlich wird sogar das Rachemotiv selber fragwürdig: Teddy behauptet, dass Sammy Jankis nie verheiratet war und dass es Leonards Frau gewesen sei, die Diabetes gehabt habe; im Übrigen habe sie den Anschlag überlebt. Das mit dem Diabetes seiner Frau wird zwar von Leonard umgehend bestritten, und angesichts der Zwielichtigkeit von Teddy sind auch seine übrigen Behauptungen keinesfalls für bare Münze zu nehmen. Aber es sind doch Zweifel gesät an der Version der Ereignisse, wie Leonard sie den Film über erzählt – die Geschichte vom Eheglück, das nur durch äußere Eindringlinge zerstört wurde. Offenkundig hat ein traumatisches Ereignis stattgefunden, aber was genau geschehen ist und ob Leonard Täter oder Opfer war, wird zunehmend unklar. Klar ist nur, dass er am Ende der Szene bewusst und in voller Absicht falsche Spuren legt, Spuren, von denen er absehen kann, dass sie ihn, nach dem unvermeidlichen Vergessen, zu Teddy als dem vermeintlichen Mörder seiner Frau führen werden. In der Tat schildern die Farbszenen des Films, wie Leonard später diesen Spuren nachgeht, so dass er am Ende der Filmhandlung, also in der chronologisch letzten Farbszene – also am Anfang des Films – Teddy tötet. – So weit zum Plot. 4

Um den Übergang von den Schwarz-Weiß- zu den Farbaufnahmen so fließend wie möglich zu gestalten, greift der Regisseur wieder auf die Polaroidtechnik zurück. Innerhalb dieser letzten Szene, die in Schwarz-Weiß beginnt, macht Leonard ein Foto und hält es in einer Großaufnahme so, dass der Zuschauer Zeuge des Entwicklungsprozesses wird. In dem Maße nun, wie auf dem Bild die Farben hervortreten, wird im Hintergrund auch der Film nach und nach farbig. Das ist im Kino freilich nur bei höchster Aufmerksamkeit zu bemerken.

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Die Komplexität von Memento liegt unter anderem darin begründet, dass der Film nicht nur auf der Handlungsebene eine Geschichte erzählt (von einem ehemaligen Versicherungsangestellten, der in einem Jaguar kreuz und quer durch die Stadt fährt, um in einem Mordfall Spuren zu suchen), sondern dass teils durch die Telefongespräche und Dialoge, teils durch Voice-over-Kommentare von Leonard dem Zuschauer gleich auch noch eine Deutung des Geschehens mitgegeben wird (dass sein Zustand Folge eines nächtlichen Überfalls ist, der ihn sein Erinnerungsvermögen und seine Frau das Leben gekostet hat). Die Pointe ist nun, dass der Film mit zunehmender Dauer diese Deutung selber untergräbt, indem er vermeintlich unzweifelhafte Erinnerungen als mögliche (Selbst-) Täuschungen entlarvt. Am Ende wissen wir als Zuschauer gar nicht mehr, was oder wem wir glauben sollen. Uns wird also nahegelegt, eigene Erklärungsversuche anzustellen. Hierfür erhalten wir auch eine Fülle von Anhaltspunkten und Spuren, aber sie sind kunstvoll so arrangiert, dass nicht eine bestimmte Gegendeutung sich als die richtige erweist, sondern mehrere Alternativen möglich erscheinen, von denen jedoch keine gänzlich zu überzeugen vermag und die sich auch nicht kombinieren lassen. So bleiben schließlich mehr Fragen als Antworten: a) Ist Leonards Frau von den Einbrechern wirklich getötet worden? Leonard hat eine Kopie des Polizeiberichts, aber einige Seiten fehlen, zahlreiche Stellen sind geschwärzt. b) Angenommen, der Insulin-Test habe wirklich stattgefunden, wer war das Opfer? Der Film zeigt uns einmal Sammy Jankis, ein anderes Mal Leonard beim Vorbereiten der Spritze. c) Wer endet im Sanatorium, Sammy oder Leonard? Erneut bietet der Film uns beide Varianten an; Leonard könnte im Übrigen auch ausgebrochen sein.5 d) War Leonards Ehe so harmonisch, wie er stets

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Im Film gibt es zwei Einstellungen von mehreren Sekunden Länge, die Sammy im Gemeinschaftsraum eines Sanatoriums zeigen. In der zweiten Einstellung geht jedoch eine Person durchs Bild, und danach ist es für den Bruchteil einer Sekunde Leonard, der an Sammys Stelle sitzt. (Ein sog. subliminal image – im Kino kaum bewusst wahrzunehmen.) – Zur Möglichkeit des Ausbruchs: die Internet-Seite www.otnemem.com gibt neben den Polaroid-Fotos aus dem Film einen (wohl fingierten) Zeitungsartikel wieder, der über die polizeiliche Durchsuchung des Hotelzimmers eines gewissen Leonard Shelby berichtet und dann fortfährt: „Little is known about Shelby himself, but a man by the same name

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beteuert? Seine Frau kommt in mehreren Flashbacks vor, vorwiegend in idealisierenden Erinnerungsbildern; die einzige Szene, in der sie spricht, zeugt aber nicht gerade von ehelicher Eintracht. – Die Liste solcher Fragen lässt sich fast beliebig verlängern; keine von ihnen ist eindeutig zu beantworten. Und so bleibt auch das Hauptproblem ungeklärt: ist Leonards Gedächtnisstörung auf eine Hirnverletzung zurückzuführen, die er durch den Schlag auf den Kopf erlitten hat, oder handelt es sich um eine psychisch bedingte, gleichsam hysterische Amnesie, die ihn davor bewahren soll, noch schlimmeren Wahrheiten als der Ermordung seiner Frau durch Einbrecher ins Auge zu sehen? Der Film ist so konstruiert, dass wir nicht umhinkommen, diese Frage zu stellen, dass es andererseits aber keine hinreichend begründete Antwort gibt.6

6

was reported missing from a Bay-area psychiatric facility in September of 1998.“ Unternehmen wir, um diese These zu untermauern, doch noch einmal einen Versuch, die genannte Frage eindeutig zu beantworten. Gewöhnlich haben Patienten, die an anterograder Amnesie leiden, kein Krankheitsbewusstsein und können sich und ihrer Umwelt keinerlei Rechenschaft über ihren Zustand ablegen – jede Erklärung vergessen sie gleich wieder. Leonard hingegen ist dazu in der Lage: er erkundigt sich (natürlich x-mal) bei seinen Gesprächspartnern, ob sie informiert sind („I guess I already told you about my condition.“ – „Oh well, only every time I see you.“). Das scheint zu beweisen, dass seine Gedächtnisstörung nicht organisch bedingt ist, denn die Information darüber kann er erst nach der Verletzung erhalten haben, so dass auch sie dem Vergessen anheimfallen müsste. – Das Argument ist jedoch nicht schlüssig. Denn Leonard hatte ja in seinem früheren Leben als Versicherungsagent mit einem Fall von anterograder Amnesie zu tun. Und just die Erinnerung daran hat er sich so auf die linke Hand tätowiert, dass sein Blick immer wieder darauf fallen muss: „Remember Sammy Jankis.“ Wir können also davon ausgehen, dass auch er immer wieder vergisst, dass ihn aber das Tattoo stets von Neuem über seinen Zustand aufklärt. Die Frage, ob sein Leiden körperlicher oder seelischer Natur ist, bleibt unbeantwortbar. – Es gibt eine Kurzgeschichte mit dem Titel Memento, die vom Bruder des Regisseurs stammt und die offenkundig den Film in mancher Hinsicht inspiriert hat. In ihr ist der Fall klar: es handelt sich um einen physischen Hirnschaden. Insgesamt besteht jedoch nur eine lockere Verbindung zwischen Geschichte und Film, genauer: der Film geht weit über die Erzählung hinaus. Deshalb kann sie nicht als „Beweis“ herangezogen werden.

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Beide Punkte, die Unausweichlichkeit der Frage und die verweigerte Antwort, machen zusammengenommen den ataxiologischen Kern von Memento aus. Die Notwendigkeit der Frage sät auf der Inhaltsebene Zweifel am Bild der vollkommenen Ehefrau („To me, she seemed perfect“) und damit insgesamt an Leonards Version der Ereignisse. Die Unmöglichkeit der Antwort versetzt den Film auf der Deutungsebene in einen Schwebezustand ohne Fixpunkte. Das Paradigmatische an diesem Zwiespalt besteht darin, dass in ihm ein subversives Moment angelegt ist: wo uns eine Frage aufgezwungen, gleichzeitig aber die Antwort vorenthalten wird, da gerät das Denken in eine unabschließbare Bewegung, die jede Ordnung untergräbt. Unsere Erklärungsversuche oszillieren zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, ohne je in einem Anfangs- oder Endpunkt zur Ruhe zu kommen. Memento als Film reißt den Zuschauer damit in eben jenen Strudel, der auch das dynamische Moment der Ataxiologie ausmacht. Das ist aber noch nicht alles. Nicht nur dem Zuschauer wird der Boden unter den Füßen weggezogen, dasselbe gilt für den Protagonisten des Films, der ebenfalls ohne verlässlichen Halt auskommen muss, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht. Damit durchlebt Leonard das, was hier unter dem Titel Ataxiologie als philosophische Theorie präsentiert wird. Für ihn ist es reale Erfahrung, sich auf nichts verlassen zu können und jede mühsam errichtete Ordnung einstürzen zu sehen. Das meinte ich zu Beginn dieses Kapitels mit der Behauptung, nicht mehr Odysseus, sondern Leonard sei der Prototyp des (post-) modernen Menschen. Zur Erläuterung möchte ich diese zentrale Aussage in drei Thesen auffächern: (1) Leonards Frau fungiert in Memento als transzendentales Signifikat. (2) Er ist traumatisiert von ihrem (wie auch immer zu erklärenden) Verlust. (3) Das Trauma der Moderne ist der Tod Gottes, das heißt der Verlust aller transzendentalen Signifikate. Gehen wir die Thesen der Reihe nach durch: (1) Seine Frau – sie bleibt übrigens im Film ohne Namen – ist der Anker, an den sich Leonard klammert, der Fixpunkt, der ihm Orientierung verschafft und seinem Leben einen Sinn verleiht. Ohne die Erinnerung an sie und das daraus resultierende Motiv der Rache würde er antriebslos im Sanatorium dahinsiechen. Zugegeben, mit einer wirklichen Ehefrau haben die idealisierten Erinnerungen, in denen er schwelgt, recht wenig zu tun; der Kameramann von

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Memento setzt denn auch in den Flashbacks gezielt ein WeichzeichnerObjektiv ein. Gerade die Loslösung von der realen Signifikantenkette verdeutlicht aber, dass die Figur der Frau zum transzendentalen Signifikat hypostasiert wird. Der Film markiert hier die Stelle eines absoluten Ursprungs. (2) Leonards Frau – als Ursprung bzw. Signifikat – zeichnet sich aber im Film durch Abwesenheit aus, und das gleich in doppelter Hinsicht. Einmal schlicht dadurch, dass sie außerhalb der Erinnerungsszenen nicht auftritt und von ihr stets im Imperfekt die Rede ist. Vor allem dann aber dadurch, dass uns auf der Deutungsebene zwar zunächst ein Ersatz-Signifikat angeboten wird – in Gestalt einer Erklärung für ihre Abwesenheit –, diese Erklärung aber im Verlauf des Films wie erwähnt ins Wanken gerät. Leonards Sehnsucht nach Sicherheit, nach einem archimedischen Punkt als Grundlage seiner Existenz wird also auf allen Ebenen enttäuscht. Folge ist die Traumatisierung, die ihn zu einer so desolaten Figur werden lässt. (3) Die Tatsache, dass uns zunächst ein Ersatz-Signifikat angeboten, dieses aber noch im Film dekonstruiert wird, verdeutlicht, dass es in Memento nicht einfach darum geht, Fixpunkte auszutauschen und den einen durch den anderen zu ersetzen. Thema ist vielmehr das Chimärenhafte aller transzendentalen Signifikate. Leonard macht die schmerzliche Erfahrung, dass in einer Welt, in der alle göttlichen (und übrigens auch alle dämonischen) Kräfte aus der Realität verschwunden sind, die Menschen ihren Mut und ihre Zuversicht aus sich selber schöpfen müssen. Wehmütig gedenkt er der Zeiten, da es noch metaphysischen Trost gab, aber ihm dämmert, dass sie unwiederbringlich vorbei sind. Mehr noch als die grotesken Irrtümer während seiner Recherchen zwingen ihm diese Momente der Einsicht ein Leben jenseits der Ordnung auf. * Durch die fehlenden Anhaltspunkte hat Leonards Irren durch die amerikanische Stadtlandschaft etwas Odysseisches. Die Pläne und Karten, die er erstellt, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er im Grunde nicht weiß, wo er ist und was er tut, ähnlich dem Helden des homerischen Epos, der ebenfalls die Orientierung verloren hat und sich, auf die Hilfe wohlgesinnter Götter vertrauend, nur noch den Fluten überlassen kann. Überhaupt sind einige Übereinstimmungen zwischen Leonard und Odysseus festzustellen. Bei beiden ist die Trennung von der Ehefrau der Stachel im

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Fleisch, der sie auf ihrer Irrfahrt keine Rast einlegen lässt; sie wird dann in der Erinnerung realitätsfern idealisiert (die Realität ist Penelopes Misstrauen bei der Rückkehr des Odysseus bzw. der angedeutete Streit zwischen Leonard und seiner Frau). Beide ergeben sich nicht ihrem Schicksal, sondern ergreifen die Initiative und versuchen unentwegt, ihre Ziele zu erreichen, wobei sie mit beträchtlicher Brutalität vorgehen; gleichwohl überwiegt bei beiden aus einer Beobachterperspektive der Eindruck, dass sie der Spielball höherer Kräfte und Mächte sind, Odysseus der untereinander streitenden Götter, Leonard ihn ausnutzender Gestalten wie Teddy und Natalie. Und schließlich kämpfen beide einen recht einsamen Kampf, Odysseus, weil er infolge der Gefahren (Skylla, Polyphem) nach und nach alle Gefährten verliert, Leonard, weil er aufgrund seiner Gedächtnisstörung nicht mehr in der Lage ist, geregelte Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen. Auf der anderen Seite steht diesen Gemeinsamkeiten ein fundamentaler Unterschied gegenüber: es gibt in Memento kein Ithaka, nicht als Ziel, da selbst die wiederholte Rache das traumatische Ereignis nicht ungeschehen machen kann, und noch nicht einmal als Ausgangspunkt, da sich die erinnerte Idylle am Ende als fragwürdig erweist. Während also der Seefahrer Odysseus bei allen Hindernissen, auf die er stößt, doch wenigstens jederzeit weiß, wo er herkommt und wohin er zurück will, ähnelt ausgerechnet der Landbewohner Leonard einem Kapitän, dessen Schiff auf hoher See kreuzt, ohne je einen Hafen anlaufen zu können. Im Vergleich zur Odyssee radikalisiert Memento folglich den allgemeinen Sicherheits- und Orientierungsverlust. Ähnlich ist denn auch das Verhältnis der Ataxiologie zur Kritischen Theorie. Während Horkheimer und Adorno in ihrem theoretischen Entwurf noch ein Ithaka haben in Gestalt der zwar niemals auszupinselnden, aber zumindest funktional doch präzise bestimmbaren Utopie, beginnt die Ataxiologie analog zum Schicksal Leonards mit dem Tod Gottes, das heißt dem Verlust eines jeden Ursprungs und Ziels. Wie Leonard umherirrt, ohne sich auf irgendetwas oder irgendjemanden verlassen zu können – am wenigsten auf die „facts“, die er sich tätowieren lässt –, so muss auch ein Denken jenseits der Ordnung ohne Gewissheit und ohne archimedischen Punkt auskommen. Wenn die Dialektik der Aufklärung zurecht als Schlüsseltext der Moderne gilt, so versucht sich die Ataxiologie an der Diagnose einer Gegenwart, die deswegen Postmoderne genannt zu werden verdient, weil in ihr der Tod Gottes als Ereignis (genauer: die Tötung Gottes als Tat)

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nicht nur geschehen, sondern auch angekommen ist.7 Deshalb die Fokussierung auf Leonard: er kämpft nicht mehr wie Odysseus mit den alten mythisch-metaphysischen Mächten, sondern lebt in der Leere ihrer Abwesenheit. Zwar kann er nicht von dem Versuch lassen, das Sinnvakuum mit Inhalten zu füllen (in Gestalt von Erinnerungen an die heile Welt vor dem Ereignis), aber das groteske Scheitern seiner Bemühungen verdeutlicht um so mehr den tatsächlichen Stand der Dinge. Er selber sehnt sich nach den früheren Zeiten zurück, aber die Umstände machen ihn zum Vorkämpfer eines neuen Zeitalters. Wird auch das Ersatz-Signifikat vom Sockel gestoßen (wie im Film durch die Eröffnung Teddys, Leonards Erinnerungen an seine Frau und an den Überfall seien verzerrt), so ist der postmoderne Mensch darüber nicht lange betrübt und beginnt alsbald, Orientierungsmarken willkürlich zu setzen. Gewiss, Leonard leidet an der Einsamkeit, in die er gestoßen wurde. Er hat ein deutliches Bewusstsein davon, dass die Unfähigkeit, neue Erinnerungen abzuspeichern, ihm die Trauerarbeit über den Verlust seiner Frau unmöglich macht: „How am I supposed to heal if I can’t feel time?“ Dadurch, dass die Ereignisse nach dem traumatischen Erlebnis stets wieder wie weggewischt sind, ist es für ihn so, als habe alles erst gestern stattgefunden. Aber auch wenn ihm das so manchen melancholischen Abend beschert, stürzt es ihn doch nicht in eine Depression, die ihn handlungsunfähig machen würde. Im Gegenteil sehen wir ihn aktiv und energisch zu Werke gehen. Der geschniegelte Versicherungsagent und biedere Ehemann von einst definiert sich neu als klassischer Privatdetektiv eines film noir, inklusive Verfolgungsjagden und Schlägereien, einem One-Night-Stand mit Natalie etc. Durch das traumatische Ereignis seines Lebenssinns beraubt, erfindet Leonard kurzerhand einen neuen. Dass er dabei kräftige Anleihen bei einem bekannten Filmgenre macht, ist vielleicht nicht nur ein Artefakt von Memento als Film, sondern dürfte insgesamt für die Mediengesellschaft der Gegenwart nicht untypisch sein.

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„Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat [sc. die Ermordung Gottes] ist ihnen [den Menschen] immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan.“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Abschnitt 125. Werke, Bd. 2, S. 127)

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Besonders frappierend ist hierbei natürlich, dass Leonard in der entscheidenden letzten Filmszene bewusst falsche Spuren legt und dadurch die angeblichen Fakten fälscht. Er macht auch kein Hehl aus seiner Motivation: er brauche einen Grund zum Weiterleben, er brauche eine Aufgabe, ein Ziel, mag es noch so absurd sein. Es geht ihm also nicht darum (wie von manchen Kommentatoren vermutet), in Teddy einen unliebsamen Mitwisser auszuschalten – das könnte er gleich an Ort und Stelle erledigen. Vielmehr kommt es ihm auf die Recherche an: auf die Kombination von Indizien zu einem Verdacht, die Erhärtung des Verdachts durch das Anzapfen von Polizeiquellen, die Festlegung auf einen bestimmten Täter („He’s the one. Kill him.“), schließlich das Planen und Durchführen einer Racheaktion. Die Ziellosigkeit der postmetaphysischen Leere ist für Leonard so unerträglich, dass er sich selber belügt, um nur ja wieder eine (Pseudo-) Aufgabe zu haben. Auch in dieser Hinsicht bringt er wie kein zweiter die Signatur des Zeitalters zum Ausdruck. Durch die Amnesie wird Leonards posttraumatische Existenz in Episoden zerstückelt, die für ihn nicht zusammenhängen. Immerhin ist er sich aber der zeitlichen Fragmentierung bewusst, und er erfindet mit den Tätowierungen ein System, um sie wenigstens teilweise zu überwinden. Die Tattoos haben die Funktion, ihn immer wieder über die Ursachen seines Zustandes aufzuklären („John G. raped and murdered my wife“) und ihn an seine Aufgabe zu erinnern („Find him and kill him“). Manche sind auch mahnende Lebensweisheiten („Don’t trust your weakness“), andere haben eher praktische Bedeutung („buy film“, für die Polaroidkamera). Freilich haben sie alle gemeinsam, dass sie – von der Ausnahme „Remember Sammy Jankis“ abgesehen – im normal bekleideten Zustand nicht sichtbar sind. Das führt im Film zu einer Reihe von Entkleidungs- und Spiegelszenen, in denen Leonard teils allein, teils gemeinsam mit Natalie seinen eigenen Körper im Spiegel betrachtet. Die dadurch mögliche Synopse hebt die Zerstückelung vorübergehend auf und verleiht Leonard eine neue Identität. Man könnte sagen, dass die Traumatisierung ihn auf das von der Psychoanalyse beschriebene Spiegelstadium zurückwirft: der Anblick des eigenen Körpers macht aus seiner fragmentierten Existenz eine Ganzheit.8

8

Vgl. hierzu Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion [1949], in: ders., Schriften, Bd. 1, S. 63-70. Lacan bestimmt Identifikation als

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Freilich verdeutlichen die Tattoos auch, wie imaginär die dergestalt konstituierte Identität ist. Bei „Fact 6: car license number SG13 7IU“ wird der Zuschauer unmittelbar Zeuge der willkürlichen Fälschung; bei der Aufforderung, den Mord an seiner Frau zu rächen, sind durch die Eröffnungen von Teddy zumindest Zweifel gesät. Leonards konstruierter Entwurf seiner selbst als rastloser Rächer trägt alle Züge der von Lacan beschriebenen „wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen“9. Sicher geben ihm die falschen Spuren und selber gestellten Rätsel eine Aufgabe und verleihen damit seinem Leben vorübergehend einen Halt. Aber durch die doppelte Vergeblichkeit der Rache – weder bringt sie das verlorene Objekt zurück, noch hinterlässt der Racheakt als solcher eine bleibende Erinnerung – ist das Tun letztlich sinnlos und das Töten unmenschlich. Diese Einsicht lässt sich auch ins Positive wenden: Memento evoziert die Idee einer Freiheit, in der der Mensch sich von der Ordnung imaginärer Entwürfe loskettet und in der Realität der sozialen Welt seine Erfüllung sucht. Eine besondere Bewandtnis hat es mit einem Tattoo, das erst gegen Ende des Films auftritt. Es besagt „I’ve done it“ und erscheint an der Stelle auf Leonards Brust, die dem Anschein nach den Film über dafür reserviert blieb. Das ist jedoch in doppelter Hinsicht widersinnig: zum einen erscheint es in einer Farbszene; da die Farbszenen jedoch gegenchronologisch montiert sind, müssten es nach und nach weniger Tattoos werden, nicht mehr (was ansonsten auch der Fall ist). Zum anderen sind in der fraglichen Szene alle Tattoos zu erkennen, also u. a. auch „John G. raped and murdered my wife“; gleichzeitig liegt Leonard jedoch mit seiner Frau im Bett, und sie streicht über das Tattoo. Das ist nun mit der Logik des Films gar nicht mehr zu vereinbaren, so dass man für eine Deutung weit ausholen muss. Drei Vorschläge: 1.) Es handelt sich um eine Wunschvorstellung mit infantilen Zügen; Leonard scheint sich einreden zu wollen: wenn ich nur genügend John G.s umgebracht habe, dann bekomme ich meine Frau zurück. Dann wäre es ein Film über die Vergeblichkeit von Rache, mit einer vorweggenommenen Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem

9

„eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung“ (S. 64). Ebd. S. 67.

L EONARD – LEBEN

JENSEITS DER

ORDNUNG | 161

11. September 2001. 2.) Leonards Frau hat sowohl den Anschlag als auch den Insulin-Test überlebt und ist nach dem Mord an Teddy zu Leonard zurückgekehrt. Eine mögliche, aber unbefriedigende Deutung, weil uns der Film dann viele Antworten schuldig bliebe. 3.) Das Tattoo ist nicht auf der Inhalts-, sondern auf der Meta-Ebene zu lesen: „I“ ist der Regisseur, „it“ der Film.10 Dann handelt es sich um eine augenzwinkernde postmoderne Selbstreferenz. – Erneut gibt uns der Film keine Handhabe, zwischen den drei Varianten zu entscheiden, zumal weitere Deutungen nicht auszuschließen sind. Gerade dadurch eröffnet er uns aber einen Blick auf die Sphäre jenseits der Ordnung von Logik und Zeit. In Memento sind viele der Mechanismen ausgehebelt, die nach traditioneller Vorstellung dem Wirklichen Struktur und Halt verleihen. Eigentümlicherweise wirkt der Film deshalb aber nicht artifiziell; im Gegenteil dämmert dem Zuschauer, dass in dem so absonderlich erscheinenden Schicksal Leonards die Wahrheit über das gegenwärtige Zeitalter aufscheint.

10 Für diesen Hinweis danke ich Dirk Quadflieg.

7. Das Überschreiten der Ordnung

„Die Wahrheit des selbständigen Bewusstseins ist [...] das knechtische Bewusstsein.“ Das Denken von Georges Bataille lässt sich als Versuch begreifen, diesen Satz Hegels1 in seiner ganzen Tragweite zu ermessen. Für Bataille ist die Geltung des Satzes über jeden Zweifel erhaben – „Des öfteren scheint mir Hegel die Evidenz zu sein [...]“ –, gleichwohl mag er sich mit ihm nicht abfinden und versucht, seiner Unausweichlichkeit zu entrinnen: „[...] die Evidenz aber ist schwer zu ertragen.“2 Die Wahrheit des Satzes liegt darin, dass er einen Grundzug der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck bringt: Das Streben nach Prosperität – sei es in ökonomischsozialer, sei es in geistig-kultureller Hinsicht – impliziert eine Projektbezogenheit der individuellen Existenz, die gleichbedeutend ist mit der Unterordnung der Gegenwart unter die Zukunft. Den darin zutage tretenden servilen Charakter bezeichnet die Hegelsche Rede vom knechtischen Bewusstsein. Der Versuch Batailles, dem einen Kontrapunkt entgegenzusetzen, schließt umgekehrt die Idee ein, einen Ort jenseits der bürgerlichen Ordnung zu besetzen. Der Mensch muss aus den Alltagskonventionen ausscheren und sogar die herkömmliche Logik hinter sich lassen, will er volle Souveränität erlangen. Dazu ist freilich, was den philosophischen Leitstern betrifft, der Wechsel von Hegel zu Nietzsche erforderlich. Während das Hegelsche System in seiner Geschlossenheit, die nichts dem Zufall überlässt, vollständig der

1 2

Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe, Bd. 3, S. 152. Bataille, Le coupable, S. 146; dt. Übersetzung zitiert nach: Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 380.

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knechtischen Welt der Arbeit und des Projekts verpflichtet bleibt, findet Bataille bei Nietzsche im Moment der Unbekümmertheit, in der vorbehaltlosen Affirmation des Augenblicks sowie im Willen zur Chance entscheidende Motive, die ihn die Hegelsche Evidenz übersteigen lassen. Nicht dass Hegel damit „widerlegt“ wäre – ein solches Ansinnen würde Bataille als lächerlich zurückweisen3 –, aber es tut sich eine Dimension jenseits der dialektischen Selbstbewegung des Begriffs auf, die sich durch einen eigenen Einsatz, eine eigene Wahrheit und eigene Intensitäten auszeichnet. Zwischen beiden Sphären gibt es keinen stetigen Übergang, der womöglich in einer Theorie einzuholen wäre. Vielmehr gelangt man nur durch einen Sprung von der einen zur anderen, einen philosophischen Satz im doppelten Sinne, der bei Bataille unter dem Titel transgression steht. Wo er gelingt, führt er für Momente in einen Bereich jenseits von Zweck- und Nutzenerwägungen, wo sich der Mensch ganz dem Augenblick hingibt und alle Erwartungen abstreift, die an ihn gerichtet werden, sei es von anderen oder von ihm selber. Die These, die ich im Folgenden entfalten möchte, lautet: die transgression ist die Überschreitung der Ordnung. Bataille ist insofern ein Gewährsmann für die Ataxiologie, als er in seinem Denken jederzeit das im Blick hat, was jenseits des Regulären, Normalen und Geordneten liegt. Überdies zeichnen sich seine Texte dadurch aus, dass sie nicht nur inhaltlich die entscheidenden Fragen thematisieren, sondern auch methodisch immer wieder reflektieren, inwieweit philosophisches Denken vom Jenseits der Ordnung handeln kann, ohne einer kruden Metaphysik zu verfallen.

A)

D ER K NECHT

UND SEIN

T RIUMPH

Warum ist es eigentlich die knechtische Gesinnung, die in der Dialektik des Selbstbewusstseins den Sieg davonträgt? Bataille war mit Hegel hauptsäch-

3

Oder aber als Lebensaufgabe glorifizieren: „J’imagine que ma vie – ou son avortement, mieux encore, la blessure ouverte qu’est ma vie – à elle seule constitue la réfutation du système fermé de Hegel.“ (Bataille, Œuvres complètes, Bd. 5, S. 369 f.) Beides läuft übrigens auf dasselbe hinaus: billig ist die Verabschiedung Hegels nicht zu haben.

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lich durch die Vorlesungen vertraut, die Alexandre Kojève von 1933 bis 1939 in Paris über die Phänomenologie des Geistes gehalten hatte. Kojève hatte, von Marx beeindruckt, das Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft ins Zentrum seiner Lektüre gestellt, und hier knüpft Bataille zunächst an. Für Kojève geht Hegel von zwei plausiblen Annahmen aus: zum einen, dass der Mensch, um sich seines Menschseins als würdig zu erweisen, sich nicht um jeden Preis ans animalische Leben klammern darf, und zum anderen, dass die derart gewonnene Würde der Bestätigung durch andere bedarf. Das Erste besagt, dass es für den Menschen höhere Werte gibt als das nackte Überleben, mit der Konsequenz, dass es in Extremsituationen seine Aufgabe sein kann, sein Leben aufs Spiel zu setzen, „oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Dasein geknüpft, an die allgemeine Einzelheit des Daseins überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft zu sein“4. Während das Tier ohne Rest im blinden Selbst- oder Arterhaltungstrieb aufgeht, ist die menschliche Existenz in die zuzeiten konfliktträchtige Spannung zwischen Leben und Würde eingelassen. Das Zweite besagt, dass die Würde ähnlich wie Prestige und Ehre eine intersubjektive Komponente enthält und sich daher nur im sozialen Feld der Anerkennung konstituieren kann: „Das Selbstbewusstsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein.“5 Es ist keine Privatangelegenheit eines isolierten Einzelnen, die Differenz zum animalischen Dasein zu manifestieren, vielmehr ist er auf die Bestätigung durch seinesgleichen angewiesen. Führt die skizzierte Ausgangslage zu einem demokratischen Miteinander von Gleichberechtigten, die sich wechselseitig ihrer Wertschätzung und Anerkennung versichern? Das Gegenteil ist bei Hegel der Fall: statt auf Kooperation läuft sein Modell auf Konfrontation hinaus. Die eigentümliche Spannung der Situation, dass die einander Begegnenden die Bestätigung durch den anderen höher schätzen müssen als das eigene Leben, entlädt sich in einem unheilvollen Konflikt: „Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein[e] ist also so bestimmt, dass sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren.“6 In diesem Kampf geht es um etwas, das dem animalischen Leben unbekannt ist: Ehre. Daraus ist von zahlrei-

4 5 6

Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe, Bd. 3, S. 148. Ebd. S. 144. Ebd. S. 148 f.

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chen Kommentatoren ist die Unausweichlichkeit des Kampfes abgeleitet worden, teilweise unter Berufung auf aristokratische Motive: „Die Ehre lässt sich nur im Kampf mit seinesgleichen unter Beweis stellen; vorher ist sie bloß behauptete Ehre. Hegel denkt menschliches Selbstbewusstsein also zunächst im Bilde des ,feudalen‘ Ehrbegriffs.“7 Gegen derartige Rechtfertigungsversuche ist allerdings daran zu erinnern, worauf die Hegelsche Konstruktion im Resultat hinausläuft: auf den zutiefst bürgerlichen Zustand der allseitigen Konkurrenz. Der Kampf auf Leben und Tod ähnelt eher dem Hobbesschen Krieg aller gegen alle als einem ritterlich-höfischen Zweikampfritual. Das wird in dem Moment wichtig, wo man die Frage nach einer Alternative stellt. Unterschreibt man die Hegelsche These von der Unausweichlichkeit des Kampfes,8 so gibt es kein Entrinnen aus den Fängen der Dialektik. Ganz anders sieht es aus, wenn man seine Notwendigkeit anzweifelt und etwa die Gegenthese vertritt, auch durch eine freiwillige, demokratisch organisierte Kooperation könne sich der Mensch mit Erfolg und Würde über das animalische Dasein erheben. Dann verliert die vermeintliche Evidenz Hegels rasch ihre Überzeugungskraft und mutiert zur kontingenten Apologie des Bestehenden.9 Wie dem auch sei, Hegel stellt den Kampf als notwendig dar, und Kojève schließt sich ihm an: der Mensch erhebt sich über das Tier, „indem er freiwillig die Todesgefahr in einem reinen Prestigekampf auf sich nimmt“10. Das bedeutet nun nicht, dass der Konflikt bis zum bitteren Ende ausgetragen werden müsste, also bis zum physischen Tod eines der beiden Kontrahenten. Im Gegenteil wäre das bloß die abstrakte Negation der animalitas, die plumpe, geist- und folgenlose Auslöschung. Ihr stellt Hegel die „Negation des Bewusstseins“ gegenüber, „welches so aufhebt, dass es das 7 8

P. Bürger, Ursprung des postmodernen Denkens, S. 19. „Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen und an ihnen selbst erheben.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe, Bd. 3, S. 149) 9 Zum Gedanken der Kooperation als Grundlage einer kritischen Gesellschaftstheorie vgl. die Dissertation von Alfred Flacke: Selbsterhaltung oder Anerkennung? Untersuchungen zur Theorie des sozialen Konflikts unter dem Aspekt der Herrschaft. 10 Kojève, Hegel, S. 229.

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Aufgehobene aufbewahrt und erhält und hiermit sein Aufgehobenwerden überlebt“11. Konkret auf die Situation des Kampfes angewendet bedeutet das: schon bald nach Beginn der Kampfhandlungen, wenn die Todesdrohung Gestalt annimmt, wird jedem der beiden Kämpfenden klar, „dass ihm das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewusstsein ist“12, weil er ja, wenn er umkäme, das eine wie das andere verlieren würde. Vor allem wird das dem Schwächeren der beiden klar, der schließlich aus seiner Unterlegenheit die Konsequenz zieht und sich unterwirft. Dadurch bewahrt er einerseits sein Leben; andererseits zahlt er für seine Rettung den hohen Preis des Ehrverlusts und muss fortan als Knecht dem Sieger des Kampfes, der von nun an der Herr ist, dienen.13 Mit der Unterwerfung scheinen zunächst alle Probleme gelöst, denn zum einen ist das physische Überleben der Beteiligten gesichert, zum anderen hat der Knecht die Überlegenheit des Herrn anerkannt. Aber die Denkbewegung treibt unaufhörlich weiter, und schon bald entdeckt Hegel das dialektische Haar in der Suppe: wir haben es hier mit einer Schwundstufe von Anerkennung zu tun. „Zum eigentlichen Anerkennen fehlt das Moment, dass, was der Herr gegen den Anderen tut, er auch gegen sich selbst, und was der Knecht gegen sich, er auch gegen den Anderen tue. Es ist dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden.“14 Der Sieg des Herrn erweist sich als Pyrrhussieg, sofern ihm das, wofür er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte: die volle Anerkennung, versagt bleibt. Zwar ist er als Herr anerkannt, aber nicht von seinesgleichen, sondern bloß vom Knecht, also gerade von demjenigen, dem im Kampf das animalische Leben wichtiger war als Ehre und Würde. Hinwiederum macht ihn die Aner11 Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe, Bd. 3, S. 150. 12 Ebd. 13 Mit dem Akt der Unterwerfung beendet der Unterlegene die Todesdrohung nicht nur für sich selber, sondern auch für seinen Gegner. Dennoch ist es nicht korrekt, wenn Derrida formuliert: „Hegel hatte die Notwendigkeit klar herausgestellt, dass der Herr das Leben, das er der Gefahr aussetzt, erhalten müsse.“ (Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 387) Vor der Unterwerfung gibt es weder einen Herrn noch einen Knecht, sondern nur zwei Kontrahenten, und von ihnen muss sich vor allem der Schwächere, der spätere Knecht, Sorgen um sein Überleben machen. 14 Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe, Bd. 3, S. 152.

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kennung im Bewusstseins des Knechts, so uneigentlich sie auch sein mag, allererst zum Herrn, das heißt, in ihr hat er seine Wahrheit; das erklärt die eingangs bereits zitierte Formulierung Hegels: „Die Wahrheit des selbständigen Bewusstseins ist [...] das knechtische Bewusstsein.“ Dieser Satz ist jedoch nicht nur die Quintessenz der bisherigen Überlegungen, er ist zugleich ein Ausblick auf das, was folgt. Denn wenn sich der Einsatz des Herrn als letztlich vergebens herausgestellt hat, so ist es nun der Knecht, der genauer betrachtet zu werden verdient. An ihm fallen zunächst die negativen Bestimmungen auf: er ist der Schwächere, der von nun an zu dienen hat; in der Auseinandersetzung klammerte er sich ans Leben und ans Sein, das sich dadurch als die „Kette“ erwies, „von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte“15. Im Dienst muss er fortan Dinge bearbeiten, ohne die Früchte seiner Arbeit selber genießen zu können, vielmehr muss er den Genuss dem Herrn überlassen. Schließlich hat er keinen eigenen freien Willen, sondern ist gezwungen, zu gehorchen. Eine stattliche Anzahl wenig schmeichelhafter Bestimmungen; gleichwohl ist es der Knecht, der im weiteren Gedankenverlauf die Entwicklung trägt und auf den sich deshalb die Hegelsche Darstellung konzentriert. Das liegt vor allem an der Arbeit, die ihm einen eigenen, dem Herrn unbekannt bleibenden Bereich erschließt. Zwar geschieht sie zunächst auf Anordnung, das heißt unter unfreien Bedingungen. Aber dennoch macht er in ihr eine Erfahrung mit den Dingen, und das bedeutet: sie enthält ein Moment von Bildung.16 Indem der Knecht durch die Bearbeitung dem Gegenstand eine Form aufzwingt, formt er sich zugleich selber und gewinnt Selbständigkeit: „Das Formieren hat [...] diese positive Bedeutung, dass das dienende Bewusstsein sich darin als reines Fürsichsein zum Seienden wird.“17 Dadurch hat er ein schier unermessliches Potential, während der Herr auf einer frühen Stufe stehen bleibt und im Genuss verblödet.18 Es verwundert daher nicht, dass der Knecht auf die Dauer den Herrn überflügelt. Hegel selber hat wohl die bürgerliche Revolution von 1789 als den Zeitpunkt angesehen, an dem durch eine kollektive

15 Ebd. S. 151. 16 „Die Arbeit [...] ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet.“ (Ebd. S. 153) 17 Ebd. S. 154. 18 Vgl. P. Bürger, Das Denken des Herrn, S. 58.

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historische Tat das Joch der Herrschaft abgeschüttelt wurde; der guillotinierte Körper des Herrn landete auf dem Müllhaufen der Geschichte. Einmal mehr gilt jedoch an dieser Stelle der Satz, die Wahrheit des selbständigen Bewusstseins sei das knechtische Bewusstsein. Denn es ist zu bedenken, wer bzw. was in der bürgerlichen Revolution de facto den Sieg davongetragen hat: die Ausrichtung des Lebens auf Arbeit und Leistung, mithin jene protestantische Werkethik, die Max Weber später als Geist des Kapitalismus entziffern wird. Der Umsturz ist aus einer knechtischen Gesinnung heraus angezettelt worden, und das sieht man der von ihm inaugurierten Weltordnung auch jederzeit an – überall herrschen Arbeitszwang, Leistungsdruck und Effizienzdenken. Es gibt keine Kultur der pompösen Verschwendung mehr, wie sie noch für das Feudalzeitalter charakteristisch war. Der Knecht triumphiert, schon bei Hegel, um so mehr im Marxismus mit seiner Anthropologisierung der Arbeit. Das ist genau der Punkt, an dem Bataille ansetzt. Nicht dass er eine Restitution des Hegelschen Herrn wünscht – die Naivität einer solchen Vorstellung wird von ihm von Anfang an durchschaut. Aber seine Intuition sagt ihm, dass das kapitalistische Arbeitsethos nicht alles sein kann und darf.

B)

D IE S OUVERÄNITÄT

UND DAS

F RAGILE

Batailles Alternative zur knechtischen Gesinnung ist nicht, wie ein gewisser Buchtitel suggeriert, das Denken des Herrn,19 sondern eine Haltung jenseits von Herrschen und Dienen, für die er den Titel Souveränität einführt. Die Gegenüberstellung von Herrschaft und Knechtschaft bleibt nach seiner Einschätzung unvollkommen und stellt einen bloß relativen Gegensatz dar, da es auch einem herrschaftlichen Auftreten nicht gelingen will, sämtliche Züge des Knechtischen abzustreifen. Erst die Souveränität vollziehe den radikalen Bruch mit dem Moment des Sklavischen und Servilen. Für die Rekonstruktion ergibt sich daraus die Aufgabe, sorgfältig zwischen Herrschaft und Souveränität zu unterscheiden.

19 P. Bürger, Das Denken des Herrn – Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus.

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Wie Hegel gezeigt hatte, benutzt der Herr seinen Sieg im Prestigekampf dazu, den Unterlegenen fortan als Knecht für sich arbeiten zu lassen. Die Unterwerfung des anderen ermöglicht ihm, sich dem Müßiggang hinzugeben und den beschwerlichen Aspekt der menschlichen Existenz, die Bearbeitung der Naturgegenstände, auf den Knecht abzuwälzen. So weit hat es den Anschein, als handelte es sich um zwei grundverschiedene, komplementäre Daseinsweisen: hier der Genuss der Annehmlichkeiten des Lebens, dort das Elend der Fronarbeit. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass es – übrigens unabhängig von der Hegelschen Dialektik – einige Gemeinsamkeiten zwischen Herr und Knecht gibt, durch die in der Folge der Unterschied zwischen ihnen verwischt. Zum einen kann das System von Herrschen und Dienen nur funktionieren, wenn auch der Herr bestimmte Rollenerwartungen erfüllt, beispielsweise die, Befehle zu erteilen. Zwar hat er im Unterschied zum Knecht seine Rolle freiwillig übernommen, ist aber gleichwohl künftig an sie gebunden und insofern nicht mehr völlig ohne Verpflichtung. Zweitens implizieren Befehle in aller Regel einen auf die Zukunft ausgerichteten Plan. Folglich ist die Seinsweise des Herrn in keiner Weise geeignet, eine Alternative zur Projekthaftigkeit der menschlichen Existenz zu eröffnen, worin abermals eine Einschränkung der Souveränität liegt, sofern diese die Option beinhaltet, sich ganz dem Augenblick hinzugeben. Und drittens müssen Befehle, um ausgeführt werden zu können, verstanden werden, setzen also ein funktionierendes System der Sinnerzeugung voraus. Hier hat Derrida gezeigt, dass die Bindung an den Sinn ein Moment von Subordination enthält, das mit dem Batailleschen Ideal völliger Unabhängigkeit nicht vereinbar ist.20 So sehr der Herr also von seiner Überlegenheit profitiert, bindet er sich doch in mannigfacher Weise. Besitz und Macht als weithin sichtbare Zeichen seiner besonderen gesellschaftlichen Stellung verpflichten ihn zu einem standesgemäßen Auftreten.21 Im Gegensatz hierzu erhebt die Souve20 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 380-421; insbesondere S. 396: „Als Manifestation des Sinns ist der Diskurs [...] der Verlust der Souveränität. Die knechtische Gesinnung ist folglich nur die Begierde nach Sinn.“ 21 So musste im Feudalzeitalter auch ein hochrangiger Aristokrat jederzeit fürchten, sich durch ungebührliches Handeln zu kompromittieren. Ein Beispiel ist die Figur der Marquise de Merteuil in den Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos, der es gelingt, ihren Gegner, den Comte de Gercourt, durch eine raffi-

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ränität keine Ansprüche: sie fordert kein eigenes Reich und verzichtet auf jede Art von Repräsentation. Eher stiftet sie zur Subversion der Insignien von Überlegenheit an als sich mit ihnen zu schmücken. Dadurch wird sie einerseits eigentümlich ungreifbar, da positive Erkennungsmerkmale fehlen; andererseits treten ihr Grundzug, das Streben nach völliger Autonomie, und infolgedessen die Differenz zur Herrschaft um so deutlicher hervor. „Die Souveränität ist Revolte, sie ist nicht Ausübung von Macht. Die authentische Souveränität verweigert sich …“22 Die Verweigerungshaltung manifestiert sich unter anderem in der Geringschätzung materieller Werte. Eine souveräne Einstellung klammert sich niemals an irgendwelche Güter und ist im Gegenteil jederzeit bereit, zur Verfügung stehenden Reichtum sinnlos zu vergeuden. Dieses Phänomen des Wegwerfens und Verprassens hat Bataille zeitlebens beschäftigt, und er hat seine Überlegungen nach und nach zu einer Ökonomie der Verschwendung ausgebaut. Ihren Ausgang nimmt diese Theorie von ethnologischen Studien über Rivalitätsgeschenke und Opferzeremonien in außereuropäischen Kulturen. Eine wichtige Quelle für Bataille, der selber keine Feldforschung betrieben hat, war hier die klassische Untersuchung von Marcel Mauss über Formen des Schenkens in archaischen Gesellschaften.23 Mauss hatte das Phänomen des Potlatsch bei den Ureinwohnern Nordwestamerikas beschrieben: um einen Rivalen bloßzustellen und ihn zu demütigen, wird ihm in aller Öffentlichkeit ein wertvolles Geschenk überreicht. Durch die Annahme der Gabe erkennt der Empfänger die Überlegenheit des Schenkenden an, er ordnet sich ihm in der gesellschaftlichen Hierarchie unter. Die einzige Möglichkeit, einen eigenen Führungsanspruch anzumelden, besteht darin, sich seinerseits mit einem noch wertvolleren Geschenk zu revanchieren. Dadurch ist eine Eskalation in Gang gesetzt, die – den Beschreibungen von Mauss zufolge – exorbitante Ausmaße annehmen kann. Mauss selber hatte nun die Funktion des Austausches und die Technik des Machterwerbs ins Zentrum seiner Betrachtungen gestellt. Bataille leugnet diese Seite des Potlatsch, das Moment des Kalküls, keineswegs, richtet sein

nierte Falle der Lächerlichkeit preiszugeben, die sich am Ende aber selber in den Netzen ihrer Intrigen verfängt und jegliches gesellschaftliche Ansehen verliert. 22 Bataille, Die innere Erfahrung [hier: Methode der Meditation], S. 262. 23 M. Mauss, Essai sur le don [1923/24]; dt.: Die Gabe.

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Augenmerk aber auf die Phänomenalität des Vorgangs, die Veräußerung von Wertgegenständen. Im Potlatsch trennt sich der Gebende, ohne einen unmittelbaren Gegenwert zu erhalten, von Dingen, die, da in ihnen oft mühevolle Arbeit akkumuliert ist, für ihn und sein soziales Umfeld Reichtümer darstellen. Darin liegt zweierlei: zum einen die innere Erfahrung eines Weggebens, das rechnerisch gesehen einen Verlust darstellt, wenngleich es Würde und Erhabenheit ausdrückt; und zum anderen – da die Gaben vielfach überdimensioniert sind und es sich in manchen Fällen nicht einmal mehr um Geschenke, sondern um das ostentative Vernichten von Reichtum handelt24 – die unproduktive Verausgabung, d. h. das Abschöpfen von Überschüssen, die in gesellschaftlicher Hinsicht nicht für die Reproduktion erforderlich sind. Bataille verfolgt beide Aspekte durch die Zeiten und Kulturen. Vor allem für das Phänomen der gesellschaftlichen Verschwendung sucht er nach weiteren Beispielen und führt etwa die aztekische Gesellschaft an, die in aufwendigen und nach heutigen Maßstäben grausamen Opferritualen ihre erwirtschafteten oder erbeuteten Reichtümer – Wertgegenstände oder Sklaven – vernichtet; oder auch die lamaistische Gesellschaft Tibets, die mangels Wachstumsperspektiven ihre gesamten Überschüsse an die unproduktive Klasse der Mönche in den Klöstern abführt. Die Relevanz dieser ethnologischen Befunde liegt darin, dass sie einen Baustein zur Präzisierung des Begriffs der Souveränität beisteuern: Souveränität ist ein Potlatsch ohne Kalkül. Souverän sein heißt geben statt nehmen, sinnlos vergeuden statt rational wirtschaften, den Augenblick über das langfristige Projekt stellen. Im Unterschied zur kapitalistischen Akkumulation, die, von Nutzenerwägungen geleitet, stets auf größere Zeiträume ausgerichtet ist – Investitionen müssen sich amortisieren –, pfeift die Souveränität auf das planmäßige Anhäufen und ökonomische Einsetzen von Ressourcen. Folglich ist sie gar nicht herrschaftsfähig: ihr fehlt völlig das strategische Moment, ohne das sich keine Herrschaft auf Dauer etablieren kann. Nichts widerspricht dem Geist der Souveränität so sehr wie ein Machtkalkül zur langfristigen Durchsetzung von Interessen. Statt dessen bedeutet Souveränität die ursprüngliche und niemals ganz auszuradierende

24 Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie [hier: Der verfemte Teil], S. 98 f., unter Berufung auf Beispiele von Mauss.

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Möglichkeit des Einzelnen, über sich und sein Leben frei zu verfügen und sich zumindest für Augenblicke von allen Bindungen loszusagen. Für Bataille gibt es keinen Zweifel am „fundamentalen Verlangen des Menschen [...], sich selbst zu finden, d. h. eine souveräne Existenz zu haben jenseits eines nützlichen Handelns, das er nicht umgehen kann“25. Impliziter Ausgangspunkt ist hier die Erfahrung der Einengung unseres Daseins in der bürgerlichen Wirklichkeit; als Konsequenz wird die Souveränität ex negativo als Aufbegehren gegen derartige Beschränkungen bestimmt: „Souveränität kommt allein demjenigen zu, der prinzipiell alles negiert, was die Autonomie seiner Entscheidungen einschränkt.“26 Äußerungen dieser Art richten sich nicht zuletzt gegen den neuzeitlichen Freiheitsbegriff, der in Theorie und Praxis nur zu oft zusammenfällt mit dem „freiwilligen“, weil „vernünftigen“ Sichfügen ins Unvermeidliche. Letzterem, also der Selbsterhaltung durch gesellschaftlich organisierte Arbeit, steht die Souveränität als Ausbruch aus der kalkulierenden Zweckrationalität gegenüber: „Unsere souveränen Augenblicke, wo nichts zählt als das, was da ist, was in der Gegenwart empfunden wird und entzückt, sind das Gegenteil von Zukunftserwägungen und Berechnungen, die die Basis der Arbeit bilden.“27 In der so verstandenen Souveränität realisiert der Mensch sein Wesen bis an die Grenzen des Möglichen. Mehr noch, er überschreitet die Grenzen und sprengt damit den Rahmen des bis dato Denk- und Vorstellbaren. Umgekehrt besteht die entscheidende Gemeinsamkeit von Herrschaft und Knechtschaft darin, dass beide in Begriffen der Ordnung befangen bleiben. Der Herr etabliert stabile Machtstrukturen wie z. B. das mittelalterliche Lehnswesen, um möglichst lange und ungefährdet die Früchte seiner Überlegenheit genießen zu können. Dem Knecht wird die Ordnung anfangs aufgezwungen; aber auch später, nachdem er durch eine Revolution das Joch des Feudalismus abgeworfen hat, bleibt er an sie gekettet, wie die entstehende bürgerliche Welt der Arbeit und der Kapitalherrschaft vor 25 Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie [hier: Der verfemte Teil], S. 170. 26 Bataille, Die Souveränität, S. 48. – Autonomie nicht im Kantischen Sinne, sondern im Sinne einer Spontaneität, die noch die Bindung an die Vernunft als Zumutung zurückweist. 27 Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie [hier: Kommunismus und Stalinismus], S. 262.

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Augen führt. Erst die Souveränität bricht in eigentümlich gewaltloser Weise die Dominanz der Ordnung und eröffnet einen Bereich, der alles Reguläre übersteigt. Sie sprengt die Fesseln des Alltags und der Normalität und führt den Menschen zumindest für Augenblicke zur höchsten Erfüllung. Es verwundert daher nicht, dass sie im Œuvre Batailles den Rang eines obersten Wertes einnimmt. Freilich ist die derart umrissene Souveränität mit einem gravierenden Nachteil behaftet: sie lässt sich nicht institutionalisieren. Jeder Versuch, ihr eine dauerhafte Gestalt zu verleihen, lässt sie unweigerlich in Herrschaft umschlagen. Tatsächlich ist in der Geschichte der Menschheit immer wieder der Versuch unternommen worden, die Souveränität gesellschaftlich zu verankern. Beispielsweise durch Einsetzen einer sakralen Person: wenn der Erhalt der sozialen Ordnung es verbietet, allen Mitgliedern eines Gemeinwesens volle Souveränität zuzugestehen, so soll es wenigstens einen Auserwählten geben, der stellvertretend für alle die Souveränität verkörpert. Dieser wird dann verschwenderisch mit allem erdenklichen Pomp ausgestattet, ihm werden Attribute wie heilig und unnahbar zugesprochen, und er wird als religiöses Oberhaupt verehrt. Wir können von repräsentativer Souveränität sprechen, müssen jedoch feststellen, dass spätestens seit der Aufklärung ihr Zauber verflogen ist. Die rationale Grundausrichtung des wissenschaftlichen Zeitalters lässt für sakrale Ausnahmegestalten keinen Platz, seien sie noch so charismatisch. Das gilt auch für den gegenwärtigen Dalai Lama, der zwar als Popstar enormen Zulauf hat, aber nicht wirklich als Verkörperung der Souveränität wahrgenommen wird. Im 20. Jahrhundert ist versucht worden, die repräsentative Souveränität durch den Führerkult um bestimmte faschistische und kommunistische Diktatoren wiederaufleben zu lassen, aber die Versuche scheiterten kläglich: es ließ sich nicht verheimlichen, dass der Kult von Anfang an im Dienst eines Machtkalküls stand. Um sie von diesen verunreinigten, teilweise sogar pervertierten Formen abzugrenzen lässt Bataille die Souveränität in seinen Schriften häufig in Begleitung von Attributen auftreten, etwa als „ursprüngliche“, „authentische“ oder „volle und unangreifbare Souveränität“.28 Für das Problem der

28 „Ursprünglich“: Bataille, Die Souveränität, S. 62; „authentisch“: Bataille, Œuvres complètes, Bd. 12 [hier: Hegel, la mort et le sacrifice], S. 336; „voll und

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fehlenden Institutionalisierung – das übrigens analog bei Derrida besteht: auch die différance „beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus. Sie kündigt sich durch keine Majuskel an“29 – hat er zwar keine Lösung, aber immerhin eine begriffliche Klärung anzubieten: in der Methode der Meditation, einem Nachtrag zu seinem Werk Die innere Erfahrung, führt er den Begriff des Soliden zur Kenzeichnung dessen ein, was es in der Transgression zu überschreiten gilt. „In der gemeinen Erkenntnis (über die die Philosophie hinausgeht, an die sie jedoch gebunden ist) bezieht jeder Denkgegenstand sich auf ein Solides. Dieser Ausgangspunkt ist von der Art, dass kein anderer denkbar ist: die Erkenntnis geht vom Soliden aus, das als das Erkannte gesetzt ist, mit dem man das vergleicht, was noch nicht erkannt ist, um es zu erkennen.“

30

Das Solide ist das Greifbare, Dauerhafte und Verlässliche, in der Terminologie Adornos das Identische; der bevorzugte Gegenstand einer positiven Wissenschaft. Dazu gehören neben den sog. harten Fakten auch alle identifizierenden Denkakte und die aus ihnen hervorgehenden Ordnungsmuster. All das lässt die Überschreitung hinter sich. Sie öffnet die Denkerfahrung für das, was mangels Härte und Festigkeit aus den Systemen herausfällt und von der Ordnung unterdrückt wird: das Ephemere, Fragmentarische, Verletzliche. Bataille führt keinen Gegenbegriff für das Solide ein, aber das können wir jetzt aus der Sicht der Ataxiologie nachholen und vom Fragilen sprechen. Das Fragile – trotz Derridas Majuskel-Kritik erlaube ich mir, an

unangreifbar“: Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie [hier: Der verfemte Teil], S. 231 (exemplarische Nachweise). 29 Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 51. 30 Bataille, Die innere Erfahrung [hier: Methode der Meditation], S. 251. Vgl. ebd. S. 254: „Die Solidität verdankt ihre Autonomie [...] einer Vorenthaltung, einem Prinzip der Erhaltung. Und diese Erhaltung des Soliden hat ihren Sinn in festgesetzten Zwecken: sie ist die Bedingung der Aktivität. In der Souveränität geht die Autonomie dagegen aus einer Verweigerung des Erhaltens hervor, aus einer maßlosen Verschwendung. Der Gegenstand in einem souveränen Augenblick ist keine Substanz, da er sich verliert. Die Souveränität unterscheidet sich in nichts von einer grenzenlosen Vergeudung der ,Reichtümer‘, der Substanzen. [...] Dieser nutzlose, unsinnige Verlust ist die Souveränität.“

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der Großschreibung festzuhalten – ist das Flüchtige, das der Ordnung entgeht, das Poröse, das in ihr zerbricht. Man kann nur mit besonderer Vorsicht von ihm sprechen, denn wenn wir sagen, jenseits der Ordnung regiere das Fragile, müssen wir zur Klärung gleich hinzufügen, dass es als das Fragile zum Regieren oder Herrschen denkbar ungeeignet ist. Das Überschreiten der Ordnung gründet kein neues Reich, es etabliert keine neue Gewissheit und stiftet keinen neuen Sinn. Streng genommen leistet es nichts. Allerdings stachelt es zur Subversion eines jeden Reiches an und sät Zweifel an allen Gewissheiten, worin man je nach philosophischer Sozialisation eine philosophische Leistung ersten Ranges erblicken wird. Das Fragile ist insofern kein Fundament, auf dem wir aufbauen könnten, keine Instanz, die irgendetwas legitimieren würde. Es besitzt keine Autorität. Gleichwohl ist es kein Nichts, da von ihm unentwegt Vibrationen und Irritationen ausgehen. Es zeigt die Grenzen an, an die ein Denken in Begriffen der Ordnung unweigerlich stößt. Das Fragile ist gar nicht in der Lage, ein eigenes Imperium zu gründen, da es dann den symmetrischen Widerpart zum Soliden bilden würde, während es die Ataxiologie, wie wir in unseren Untersuchungen immer wieder gesehen haben, mit asymmetrischen Gegensätzen zu tun hat. Um so mehr stellt sich die Frage, welche Mittel uns zur Verfügung stehen, um ihm als dem Fragilen gedanklich gerecht zu werden. Auf jeden Fall lässt es sich nicht identifizieren, und damit ist es inkompatibel zu gängigen wissenschaftlichen Fragestellungen. Aber das darf für die Philosophie kein Kriterium sein; sie muss nach Wegen Ausschau halten, um auch dem Flüchtigen, Ungreifbaren und Bruchstückhaften Anerkennung im Denkraum zu verschaffen. Welche andere Möglichkeit besteht noch? Wenn die Identifikation, also der aneignende Zugriff ausgeschlossen ist, dann bleibt nur die Evokation: ein Sprechen vom Fragilen, das vermeidet, es auf eine Substanz oder einen stabilen Kern festzulegen. Ein solches Sprechen muss selber ein gewisses Maß an Fragilität aufweisen, um sich nicht den Vorwurf der performativen Widersprüchlichkeit einzuhandeln. Zweifellos eine Gratwanderung: es gilt, das Fragile aufzurufen und seinem Anspruch Gehör zu verschaffen, ohne es jedoch anzutasten und unter Hand in ein Solides zu verwandeln. Das erfordert eine ausgeprägte theoretische Sensibilität, ein Gespür für das, was für das Denken in einer Grenzerfahrung gerade noch erreichbar ist. Philosophieren hat, wie Adorno einmal anmerkt, herzlich wenig mit dem Abschnurren logischer Schlüsse zu tun. Es bedeutet viel-

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mehr, sich von der reflektierten Erfahrung der Sache ansprechen und in Schwingung versetzen zu lassen. Dafür ist aber eine Empfänglichkeit vonnöten, die weit über das hinausgeht, was Kant als Rezeptivität der Anschauung beschreibt. Die Transzendentalphilosophie begnügt sich damit, das Material der Empfindung, die Masse der Sinneseindrücke, als Grundstock für bestimmte Formungsprozesse anzusetzen, die am Ende die Erkenntnis hervorbringen. Die Ataxiologie erhebt den viel weiter gehenden Anspruch, dem herkömmlichen Empirismus den Begriff der Erfahrung streitig zu machen und das Denkgeschehen selber als einen empirisch relevanten Vorgang zur Geltung zu bringen. Ein Beispiel ist die im dritten Kapitel beschriebene Figur der Öffnung: wenn es uns gelingt, die Abkehr vom systematisch Geordneten zu vollziehen zugunsten einer Hinwendung zum Widerstrebenden und Dissonanten, dann ist das gleichbedeutend mit einer Denkerfahrung, die getrost als philosophisches Ereignis bezeichnet werden darf. Im Zuge der Öffnung geschieht etwas mit dem Denken selber. Theoretische Sensibilität bedeutet, für ein solches Geschehen einen Sinn zu entwickeln, wie ephemer und fragil es auch sein mag. Befremdlich bleibt bei alldem natürlich, dass das Fragile kein Gegenstand im engeren Sinne ist, jedenfalls nicht nach Maßgabe des Soliden. Als das Ephemere entzieht es sich dem annektierenden Zugriff und ähnelt mehr einem Fluchtpunkt als einem Objekt. Darin trifft es sich einerseits mit dem Nichtidentischen, andererseits mit der différance. Es scheint die Bestimmung eines Denkens jenseits der Ordnung zu sein, von Dingen zu handeln, die für das Denken insofern eine harte Nuss darstellen, als bereits ihre Dinghaftigkeit zutiefst problematisch ist. – Kompensiert wird diese Befremdlichkeit zumindest teilweise durch die bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen theoretischem Gehalt und methodischem Vorgehen in den Schriften Batailles. Sie zeigt sich insbesondere am zentralen Punkt in seinem Denken, der transgression. Inhaltlich lautet die These, dass der Mensch, um zur vollen Intensität seiner Existenz zu gelangen, zumindest für Augenblicke alle Grenzen überschreiten und alle Schranken hinter sich lassen muss. In methodischer Hinsicht ist Bataille nun so konsequent zuzugeben, dass diesem Augenblick jenseits der Grenzen kein adäquates Denken und Sprechen korrespondiert. Die Überschreitung sprengt den Rahmen der Sprache und der theoretischen Reflexion und wird erst dadurch ihrem Namen wirklich gerecht. „Die Überschreitung zur Grundlage der Philosophie machen (das ist das Unterfangen meines Denkens), heißt, die

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Sprache durch eine schweigende Kontemplation ersetzen.“31 Man sieht: die transgression hat ihren Preis. Der Versuch, von ihr zu sprechen, kämpft mit dem Paradox, dass der philosophische Diskurs als sprachgebundener noch auf der Seite der Arbeit und der Zwecktätigkeit steht und damit nicht wirklich an sie heranreicht. Foucault hatte ein klares Bewusstsein dieses Widerspruchs, als er seinen wichtigen Aufsatz über Bataille „Vorrede zur Überschreitung“ betitelte: zur Überschreitung gibt es allenfalls eine Hinführung, im eigentlichen Sinne thematisieren lässt sie sich nicht.32

C)

D ER Ü BER -N IETZSCHE

Überlegungen zum Fragilen als einem ausgezeichneten Topos philosophischer Reflexion scheinen den Intentionen Nietzsches diametral entgegengesetzt zu sein, der bekanntlich detaillierte Anweisungen gab, „wie man mit dem Hammer philosophiert“33. Es hat den Anschein, als könnten Nietzsche und Bataille folglich nur Antipoden sein: wo Bataille sorgfältig zwischen Herrschaft und Souveränität unterscheidet und sein Ideal eines souveränen Vorgehens von allen Formen aktiver und passiver Unterwerfung abgrenzt, da propagiert Nietzsche unverblümt den Willen zur Macht und entlarvt das Ressentiment in der Sklavenmoral der Unterlegenen. Und wo Bataille zugunsten eines sozialistischen Gesellschaftsideals Partei ergreift – „Er [sc. der Kommunismus] reklamiert im Namen jedes Individuums ein Lebensrecht, um das das geltende juridische Systems es teilweise bringt“34 –, da macht Nietzsche aus seiner Verachtung für die „sozialistischen Tölpel und Flachköpfe“35 kein Hehl. Könnte es einen größeren Gegensatz geben? 31 Bataille, Die Erotik, S. 266. 32 Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 28-45. – Vgl. analog die Feinheit, dass das Buch von Derrida, das im Deutschen den Titel Grammatologie trägt, im französischen Original De le grammatologie heißt: das Buch handelt von der Theorie der Schrift und führt vielleicht zu ihr hin, verkörpert sie aber nicht. Die Grammatologie ist nach herkömmlichen Maßstäben als Wissenschaft nicht möglich. (Dasselbe gilt für die Ataxiologie.) 33 Es handelt sich um den Untertitel von Nietzsches Schrift Götzendämmerung. 34 Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche, S. 260. 35 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 203. Werke, Bd. II, S. 662.

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In Wirklichkeit ist Bataille jedoch ein glühender Anhänger Nietzsches. Ungeachtet der genannten inhaltlichen Differenzen hat eine NietzscheLektüre für ihn die Bedeutung einer existentiellen Erfahrung, der gegenüber die bloß theoretische Evidenz der Schriften Hegels zur Irrelevanz verblasst. Nietzsche ist für ihn nicht der Urheber einer abstrakten Philosophie, sondern ein Verkünder, eine Art Prophet, dessen Wort den Menschen eine neue Dimension erschließt und ihnen eine Aufgabe gibt. Er liest die Texte nicht distanziert mit dem Verstand, sondern versucht, sich selber in ihnen wiederzufinden. Seine Anhängerschaft grenzt an Identifikation: „Niemand kann Nietzsche authentisch lesen, ohne Nietzsche zu sein.“36 Die Kriterien wiederum für eine authentische Lektüre sind nicht eben leicht zu erfüllen, wie sein Diktum, Nietzsche sei ohne Nachkommenschaft gestorben, verdeutlicht: „Niemand nach ihm unterhielt das Feuer, das er entzündet hatte.“37 Kurz gesagt, die Beschäftigung mit Nietzsche ist für Bataille alles andere als eine akademische Angelegenheit. Es geht ihm nicht darum, treffliche Dispute über die richtige Auslegung seiner Schriften zu führen, sondern er will sein Werk lebendig halten. Was ihn von Anfang an fasziniert, ist die Leidenschaft, mit der Nietzsche zu Werke geht. Philosophie hat für beide Denker nichts mit dem vordergründigen Interesse an rein geistigen Problemen zu tun,38 vielmehr geht es ihnen darum, sich von ihr bis in die Grundfeste der eigenen Existenz erschüttern zu lassen: „Man muss die großen Probleme mit Leib und Seele erleben wollen.“39 Entscheidend sind die Intensitäten, die mit einem engagierten Denken verbunden sind. Ob zu dieser Übereinstimmung die vergleichbare Stellung beider Autoren außerhalb des akademischen Betriebs beigetragen hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Sicher ist, dass sich Nietzsches Schilderung der Inspiration, der er seinen Zarathustra verdankt, wie eine vorweggenommene Beschreibung der Batailleschen transgression liest:

36 Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche, S.263. 37 Ebd. S. 261. 38 „Ich weiß nicht, was ,rein geistige‘ Probleme sind.“ Nietzsche, KSA, Bd. 9, S. 170. 39 Ebd. Bd. 12, S. 195.

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„Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen [...]. Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbe40

dingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ...“

Hier redet kein seiner selbst mächtiges Subjekt, dessen Existenz in geordneten und jederzeit kontrollierten Bahnen verläuft, sondern ein erlebendes Individuum, das von der Wucht seiner Denkerfahrung über alle Ordnung hinausgetragen wird. Vergleichbares hat Bataille im Sinn, wenn er von Überschreitung als innerer Erfahrung spricht, und so verwundert es nicht, dass er von den Formulierungen Nietzsches wie elektrisiert ist. Auf der anderen Seite bleibt freilich die fundamentale Differenz in der Bewertung von Macht und Herrschaft. Bataille weiß sich in diesem Punkt in Opposition zu Nietzsche: „Der Mangel Nietzsches besteht meiner Auffassung nach [...] darin, dass er den Gegensatz von Souveränität und Macht nicht gesehen hat.“41 Das Machtstreben ist deshalb als Grundlage für ein souveränes Denken ungeeignet, weil Macht stets in Zweck-MittelRelationen und damit in ein Kalkül eingebunden bleibt. Interessant ist nun, wie Bataille mit dieser Differenz umgeht: er versucht, einen Standort jenseits des Willens zur Macht zu besetzen, indem er mit Nietzsche gegen Nietzsche argumentiert. Als Referenz bietet sich die erste große Rede Zarathustras an, überschrieben „Von den drei Verwandlungen“. In diesem Lehrstück tritt der Geist in drei Gestalten auf, zunächst als Kamel (der tragsame Geist), dann als Löwe (der freie, kritische Geist) und schließlich als Kind (der unschuldig spielende, Werte schaffende Geist). Der „Trick“ besteht nun darin, den Willen zur Macht lediglich auf der Stufe des Löwen anzusiedeln. Dazu kann man sich auf den Text berufen: „Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen. / Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brü-

40 Nietzsche, Ecce Homo [Also sprach Zarathustra, 3]. Werke, Bd. 2, S. 1131. 41 Bataille, Œuvres complètes, Bd. 8 [hier: La souveraineté], S. 401 Anm. Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach G. Bergfleth, Nietzsche redivivus, S. 335. – Vgl. Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 26.

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der, bedarf es des Löwen.“42 Kein Zweifel: der Löwe hat den Willen zur Macht. Im Unterschied zum Kamel, das nur Lasten auf sich nimmt (wenngleich die schwersten), ist er nicht bereit, sich von Autoritäten ein „Du sollst!“ vorschreiben zu lassen. Allen kategorischen Imperativen setzt er ein geradezu trotziges Nein entgegen; sogar mit Drachen und Göttern nimmt er den Kampf auf. Freilich bliebt der Löwe ein Kritiker und Neinsager. Was ihm abgeht, ist die Fähigkeit, neue Werte zu schaffen. Über ihm steht deshalb bei Nietzsche noch das Kind, das in seinem unschuldigen Spiel ohne Grund und Zweck Neues schafft, einfach nur so, von ungefähr. Offenkundig ist nun für das Kind kein Machtwille kennzeichnend – es verfolgt mit seinem Tun überhaupt keine Absichten. Im Gegenteil erfüllt sein unbekümmertes Handeln das oberste Kriterium der Souveränität, nämlich sich in einem Augenblick zu vollziehen, „der um seiner selbst willen erlebt wird“43, fern aller Projekte. Wenn daher auf der Ebene des Löwen der Wille zur Macht die treibende Kraft ist, so auf der Ebene des Kindes ein Wille zur Chance.44 Chance freilich nicht im Sinne des statistischen Zufalls, sondern im Sinne der Intentionslosigkeit einer Handlung, die außerhalb aller Zweckzusammenhänge steht. Der Wille zur Chance sprengt die Fesseln aller Sinn generierenden Zukunftsentwürfe. Insofern aber die Verwandlung vom Löwen zum Kind eine Höherentwicklung darstellt, steht folglich auch der Wille zur Chance auf einer höheren Stufe als der Wille zur Macht. Mit dieser Argumentation hat sich Bataille eine Basis geschaffen, um an der Unterscheidung von Souveränität und Macht festhalten zu können, ohne seine Kandidatur für die Nietzsche-Nachfolge – oder seine imaginierte Gemeinschaft mit Nietzsche45 – aufgeben zu müssen. Mit der Umdeu42 Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den drei Verwandlungen. Werke, Bd. 2, S. 294. 43 Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche, S. 242. 44 Den entsprechenden französischen Ausdruck volonté de chance hat Bataille als Untertitel für sein Buch Sur Nietzsche gewählt. 45 „Mein Leben in der Begleitung Nietzsches ist eine Gemeinschaft, mein Buch [sc. Sur Nietzsche] ist diese Gemeinschaft.“ (Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 41) Statt von Gemeinschaft hätte Bataille übrigens auch von Reinkarnation (!) sprechen können, denn bekanntlich war es Nietzsches Wunsch, „dass ich noch einmal als Franzose zur Welt komme“ (Nietzsche, Kritische Studienausgabe sämtlicher Briefe, Bd. 8, S. 535).

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tung des Willens zur Macht zum Willen zur Chance geht er sogar einen entscheidenden Schritt über sein Vorbild hinaus. Das wiederum hat zu dem Vorschlag geführt, den Titel seines Nietzsche-Buches – Sur Nietzsche – nicht nur als Bezeichnung für das Buch, sondern zugleich als Selbsteinschätzung des Autors zu lesen.46 Wenn Nietzsches Philosophie den Schritt vom Homme zum Surhomme ins Auge fasst, vom Menschen zum Übermenschen, so bleibt Bataille – nach dem Tod Nietzsches – vielleicht nur die Rolle des Über-Nietzsche, des Sur-Nietzsche – das könnte den genannten Titel erklären. Es ist zu bedauern, dass der deutsche Übersetzer einen Titel gewählt hat, bei dem dieser Doppelsinn verloren gegangen ist. Man wird einwenden, dass der Versuch, auf den Willen zur Chance eine Sozialphilosophie aufzubauen, abenteuerlich anmutet. Spottet nicht die Unvorhersehbarkeit, die in dem Augenblick, da man sich auf Chance und Zufall verlässt, unausweichlich ist, jeder Verantwortung? Bedarf es nicht einer soliden Grundlage, um ein gelingendes Miteinander zu fundieren? Dem Einwand ist zu entgegnen, dass gerade die genannte Unvorhersehbarkeit als Moment aus der menschlichen Existenz nicht wegzudenken ist, da sie die Differenz zur kausalen Determiniertheit der Naturkreisläufe markiert. Es gehört wesentlich zum Menschen, dass sein Verhalten, auch wenn es zahlreiche Regelmäßigkeiten aufweist, nicht völlig vorherbestimmt ist und dass er im Gegenteil jederzeit aus den Ordnungen, in denen er sich eingerichtet hat, auszuscheren vermag. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass Regularität und Normalität wichtige Stützpfeiler des Sozialen darstellen. Aber auch das Überschreiten der Ordnung darf zumindest als Moment nicht fehlen, da die verabsolutierte Norm, ohne Korrektiv zum alleinigen Maßstab erhoben, die ihr Unterworfenen ohne Ausweg in ein geschlossenes System zwängen würde. Georges Bataille ist der Philosoph dieser anderen, vielleicht dunklen Seite des Menschen, und das macht ihn für die Ataxiologie zu einem wichtigen Gewährsmann. Die Lehre von der transgression verdeutlicht beispielhaft, dass Ordnung um der Ordnung willen den Menschen tendenziell entwürdigt. Bürgerliche Freiheit, als Autonomie eines vernünftigen Subjekts verstanden, ist zwar eine keinesfalls gering zu schätzende Errungenschaft der Moderne. Es muss jedoch klar sein, dass in einer

46 Vgl. Rebecca Comay, Gifts without Presents. Economies of „Experience“ in Bataille and Heidegger, S. 70.

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bestimmten Hinsicht auch sie an ihre Grenzen stößt, nämlich sofern sie am Ideal authentischer Souveränität gemessen wird – und souverän ist der Mensch nur dort, wo er den Nutzenkalkül der bürgerlichen Ordnung überschreitet.

8. Modell (III): Jackson Pollock Kunst jenseits der Ordnung

Verfasserin dieses Kapitels ist Dorea Weihrauch

Proportion, Symmetrie, Komposition, Perspektive, Struktur – Begriffe wie diese bilden das fundamentale Handwerkszeug zur Beschreibung von Kunstwerken. Es sind strukturierende Begriffe, die dazu dienen, ein Kunstwerk greifbar zu machen und dessen Inhalt aufzuschließen. Wie mit einem Raster oder einer Schablone beginnt man nach Mustern, Wiederholungen, Anordnungen zu suchen, um das Kunstwerk in irgendeiner Form einordnen zu können. Zweifelsohne ist ein Bild oder eine Skulptur ein System mit Struktur. Die Struktur eines Bildes hält zusammen, gibt Festigkeit und Bestand. Sie kann zugleich Basis und Wegweiser sein, aber auch Grenze und Gefängnis. Einordnung – Ordnung: unser Umgang mit Kunst – unser Denken überhaupt ist von einem Drang zur Ordnung geprägt. Komplexitäten, Unverständliches oder Unfassbares werden dadurch auf ein erträgliches Maß gebracht. Dies geschieht nicht ohne Kosten: das Zurechtstutzen des Nichthandhabbaren, das Abschneiden oder Vernachlässigen des Unzugänglichen sind zwangsläufig mit einer Reduktion des Gegenstandes verbunden. Der Gegenstand (oder das Kunstwerk) wird zwar handhabbar, „verständlich“, aber er büßt auch ein an Facettenreichtum, Aussagekraft, vielleicht Quintessenz. Kunst erschöpft sich nicht in Struktur und Ordnung. Es gibt in der Kunst ein Darüberhinaus – ein Jenseits der Technik und Struktur, ein Jenseits der Ordnung. Kunst sprengt zu fest gewordene Strukturen und schafft Freiräume. Kunst überschreitet die Grenze, betritt neues Terrain.

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Ein völlig neues Gebiet der Kunst jenseits der Grenzen von Struktur und Ordnung hat der amerikanische Actionpainter Jackson Pollock (19121956) in den 1950er Jahren mit seinen Drip-Paintings betreten. Die Malerei Pollocks dekonstruiert nicht nur einen traditionellen Kunstbegriff, indem sie Komposition, Objekt und Struktur hinter sich lässt, sondern in ihr spiegeln sich ein Kunstverständnis und eine Form des Denkens, die auch aus philosophischer Perspektive interessant sind. Die Kunst Pollocks schließt ein zuvor abgeschlossenes System der Kunst auf und erweitert es in eine zuvor nicht denkbare Richtung. Dieses Kapitel soll einen Versuch darstellen, den Öffnungsvorgang, den der Kunstbegriff durch Pollock erfahren hat, auf seine Parallelen zu einem Öffnungsvorgang des Denkens jenseits von Ordnung und Abgeschlossenheit zu untersuchen. Exemplarisch möchte ich das Bild Number 32 beschreiben und im Blick auf einen neuen Möglichkeitsraum der Kunst analysieren und interpretieren. Hierbei werde ich einige Parallelen zur Philosophie von Jacques Derrida ziehen. Die Unabgeschlossenheit und die grundsätzliche Negation von Fixpunkten und Grenzen in Pollocks Kunst erweisen sich meines Erachtens in Bezug auf ein Denken jenseits von Ordnungsstrukturen als fruchtbar.

A)

O RDNUNGSSTRUKTUREN UND IHRE Ü BERWINDUNG IN DER M ALEREI Das Schöne ist gewissermaßen eine Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Ungeformtem und Erstarrtem. Es ist weder das eine noch das andere. F. Cramer

Obwohl das Schöne meist mit Symmetrie und Ordnung assoziiert wird, wurden in der Kunst schon früh Bewegung, Turbulenz, auch Abartigkeit der Körper thematisiert. Seit mythischer Vorzeit sind in der Kunst das Schöne und das Erhabene, Faszination und Schrecken, Ordnung und Chaos, Form und Formauflösung immer wieder in unmittelbare Nachbarschaft gerückt worden. Nur schwer lässt sich in der Welt der Kunst ein Geburtsdatum der Unordnung festlegen, so dass schon Aristoteles fragte, warum

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uns in der Kunst manchmal das besonders anzieht, was uns normalerweise abstößt. In den Platonischen Dialogen findet sich hingegen ganz klar die Theorie, dass das Schöne durch Ordnung, Maß und Symmetrie gekennzeichnet sei. In der florentinischen Renaissance des 15. Jahrhunderts kam es dann zur Gleichsetzung des Schönen mit dem Kunstschönen. „Schönheit sollte nur Kunstschönheit und wahre Kunst nur schöne Kunst sein.“1 Kunst und Schönheit wurden seit der Renaissance mit solcher Überzeugungskraft zusammengedacht, dass sich daraus eine Doktrin formte. Indem das Kunstwerk zum genuinen Ort des Schönen wurde, wurde die Schönheit gleichermaßen zur Sache des Künstlers, die dieser bewusst anstrebte. Kunsttheoretische Abhandlungen über Proportion, Perspektive und Kompositionsmittel dienten dem Künstler als Hilfsmittel und Richtlinie, indem sie ihn darüber informierten, nach welchen Maßstäben ein Kunstwerk zu ordnen, zu komponieren sei.2 Dass es in der Renaissance – und natürlich auch vorher und später – immer wieder Künstler gegeben hat, die sich um solche theoretischen Betrachtungen mitsamt den darin enthaltenen Forderungen nach Ordnung und Schönheit nicht kümmerten, wird beispielsweise durch die plastischen Werke Donatellos oder die Studien Leonardos zu hässlichen Gesichtern eindrücklich belegt. Der klassische Künstler bevorzugte zwar Symmetrie und Ordnung; wurde er sich aber der Unvollständigkeit dieser Repräsentation der Welt bewusst, so versuchte er zudem das Asymmetrische, Bewegte, Unordentliche, Chaotische in sein Schaffen mit einzubeziehen. Dabei scheint mit größer werdender Autonomie von Künstler und Kunstwerk die Seite des Jenseits von Kompositionsregeln, Schönheit und Harmonie zunehmend gesucht worden zu sein. Die Negation der Ordnung bezog sich allerdings nur auf das Sujet der Darstellung (Natur oder Mensch), nicht auf

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Vgl. Perpeet, Kulturphilosophie, S. 10. Vgl. Pöltner, Philosophische Ästhetik, S. 69. Am Beginn der kunsttheoretischen Betrachtungen in der Renaissance steht der italienische Architekt, Schriftsteller, Dichter und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1404-1472). Alberti hat bereits 1435 Della pittura libri tre verfasst, die eine Proportionslehre enthalten und über Grundbegriffe der perspektivischen Konstruktion informieren.

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die Technik der Darstellung. Das Objekt konnte geordnet oder chaotisch sein, die Zeichenstruktur aber blieb geordnet.3 Hier setzt mit der Moderne ein Umdenken ein. Die klassische Moderne trat explizit mit dem bewussten Anspruch auf, die bisherige Kunst zu überwinden und neue Ausdrucksformen zu suchen. Unzählige Maler beschritten zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollkommen neue Wege, indem sie die traditionelle Gestaltungsweise hinter sich ließen, die grundsätzlich die Abbildung gegenständlicher Motive zum Inhalt hatte. Mit der gegenstandslosen Kunst, etwa bei Wassily Kandinsky oder Paul Klee, wurde die Nichtlesbarkeit der Bilder für den Betrachter zur Normalität. Mit dem Verlust, genauer mit der Aufgabe des Gegenstandsbezugs im Bild wurde gleichsam die bildexterne, „geliehene“ Ordnung der Welt der Dinge und Lebewesen, die nachgeahmt wurde, aufgegeben.4 Ein wichtiges Anliegen der klassischen Moderne – und der Moderne überhaupt – war die Überwindung einer normativen Ästhetik, also einer Ästhetik, die sich in bewährte, formulierbare und womöglich moralisch bewertete Regeln fassen lässt. Martin Damus beschreibt das grundlegende Bestreben der gegenstandslosen Malweise folgendermaßen: „Informelle Maler vermieden jede Form von Illusion und Darstellung. Sie vermieden, was von Malern bisher immer erwartet wurde, ein Bild von oder für etwas zu entwerfen, eine bildliche Vorstellung von etwas zu geben.“5 Für die Kunst der Postmoderne ist der Anspruch der Avantgarde, im ständigen Bruch mit der Tradition zu arbeiten, das Gewohnte zu verlassen und etwas darüber hinaus zu schaffen, längst Gemeingut geworden. Für Lyotard gilt: „Die Künstler – die noch postmoderner sind als die Wissenschaftler – produzieren pausenlos ,das Daneben‘. Die Maler, die Schriftsteller, die Filmemacher erfinden außerhalb jeglichen Bezugsystems.“6 In einer Epoche schwindender Eindeutigkeit sei einer Kunst, die sich am Ideal der Schönheit orientiere, längst die Grundlage entzogen.

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Vgl. Wildgen, Chaos und Ordnung in der abstrakten Kunst der Moderne, S. 12. Vgl. ebd. S. 12, 28. Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 251. Lyotard, Gespräch mit C. Descamps, in: Le Monde 14.10.1989, zitiert nach: Gehring, Innen des Außen – Außen des Innen, S. 242.

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B)

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Jackson Pollock gilt als einer der Hauptvertreter des Action Painting , einer Ausformung des Abstrakten Expressionismus, der sich seit den vierziger Jahren in den USA ausbreitete. Pollock, der stark von dem in die USA emigrierten Künstler Max Ernst beeinflusst worden war, strebte die restlose Ausschaltung der Komposition an. Zu diesem Zweck entwickelte er Ende der 40er Jahre das „Dripping“Verfahren. Die „gegossenen Bilder“ verliehen ihm bald den Spitznamen „Jack the Dripper“7, was auf bezeichnende Weise das Unbehagen ausdrückt, das seine Gegner gegenüber seiner Malerei verspürten. Die Werkphase der Drip-Paintings beschreibt die Periode zwischen Winter 1946/47 und 1951. Pollocks Entwicklung hin zu dieser Werkgruppe beschreibt die Lösung „von der Einzelfigur zugunsten einer rhythmischen Gesamtstruktur“8 auf monumentalen Leinwänden. Die Farbe wird hierbei entweder aus einer sich drehenden durchlöcherten Dose mit großer Geschwindigkeit auf die Leinwand befördert, oder durch Farbspritzer mit Pinseln oder ähnlichen Werkzeugen aus der Distanz auf die Leinwand appliziert. Vorbilder für die Technik des Drip-Paintings waren u. a. der Mexikaner David Alfaro Siqueiros, aber auch die Technik der peinture automatique der Surrealisten steht in direktem Bezug zu Pollocks Entwicklung. Number 32, 1950 ist eins der drei monumentalen Drip-Paintings aus dem Spätsommer 1950, die allein aus der Technik des Drippings und Pourings ohne weitere Pinseltechnik entstanden sind. Die beiden weiteren diese Schaffensphase ergänzenden Arbeiten sind One: Number 31, 1950 und Autumn Rhythm: Number 30, 1950, wobei die drei Arbeiten keine Serie gestalten, sondern jeweils Unikate darstellen. Im Vergleich ist Number 32, 1950 mit Ausnahme einiger kleiner farbiger Flecken in der linken Bildhälfte am unteren Rand das einzig monochrom gehaltene Kunstwerk. Number 32, 1950, das einzige in Europa zugängliche Hauptwerk, befindet sich seit 1964 aus einer Spende des WDR im Besitz der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Es hat die Maße 269 x 457,5 cm und wird mit

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Vgl. Tilkorn, Zufallswelten, S. 100. Vgl. Essers, Jackson Pollock, S. 34.

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einem schmalen Holzrahmen und einer rückwärtigen Verkleidung gezeigt. Das Bild war während des Malens etwas größer als es jetzt gezeigt wird, denn ein Teil der Leinwand ist für das Aufspannen umgeschlagen worden. Auf der Rückseite ist es signiert und datiert. Schwarzer Industrielack, Lack des amerikanischen Autolackherstellers Duco, ist unregelmäßig auf der ungrundierten Leinwand verteilt. Die Kleckse, Spritzer und Farbbahnen sind deutlich differenzierbar. Die Leinwand ist nicht grundiert, so dass deren Eigenfarbe – sehr hell beige – erhalten ist. Da das Netz aus schwarzen Linien und Flecken sehr locker ist, hat die Farbe der Leinwand entscheidenden Anteil am Bild. Ein paar bräunliche und rosa Spritzer sowie ein blau-grüner, alle am unteren Bildrand, fallen kaum auf. Überall sind die Farbspritzer zu finden, das heißt, es gibt keine Aussparung, keine Stelle, die der Maler für eine bestimmte Farbe reserviert hat. Das Auge findet eine Überfülle an möglichen zu beschreitenden Wegen vor, Wege, die sich ständig mit anderen Wegen überschneiden, jedoch nicht auf eine übersichtliche, ununterbrochene, Halt gebende Weise, sondern vielmehr so, dass es unmöglich ist, eine anfangs verfolgte Linie nach der Überschneidung wieder aufzunehmen. „Dieses Dilemma ist weder in Nahnoch in Fernsicht zu ,N° 32‘ aufzuheben.“9 Der letzten Endes eingeschlagene Weg bleibt so ein nicht vorhersehbarer, nicht zielorientierter. Es gibt keinen Weg, der so bereits von vielen Betrachteraugen gewählt wurde, den man einfach nachgehen könnte. Die Farbverteilung und die einzelnen sichtbaren Linien bilden zusammen ein Dickicht, das jeder auf eigene Faust erkunden muss. Die Farbspuren bilden Verlaufsformen, lassen sich jedoch nicht zu einer Figur-Grund-Konstellation artikulieren. Sie finden statt (als Bewegungen) oder sind vorhanden (als Farben) auf dem Malgrund, ohne irgendwo einen eindeutigen Anfang oder ein endgültiges Ende zu markieren. Auf der Bildfläche sind Formen entstanden, die man als Kleckse, Spritzer oder Fließspur bezeichnen kann. Mit solchen Benennungen ist zugleich gesagt, dass sich die Formen und damit das Bild als etwas Gemachtes, etwas Gemaltes darstellen. Zwar ist jedes Bild gemacht, doch ist dies nicht in jedem Bild anschaulich, nicht in jedem Bild ist dieser Sachverhalt thematisch. Die

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Hoppe-Sailer, Natur im Bild, S. 46.

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Kleckse zeigen nicht nur, dass sie gemacht sind, sie zeigen auch, durch welche Malaktion sie entstanden sind: durch einzelne, aufeinander in zeitlichen Intervallen folgende Aktionen. Die einzelnen Aktionen unterscheiden sich voneinander, bestimmte Größen sind ständig verändert worden: die Menge der Farbe, die Raumkurve, die das Malgerät durchlaufen hat, und die Heftigkeit, mit der die Farbe bewegt wurde. Gemeinsam war allen Aktionen, dass sie über der waagerecht liegenden Leinwand stattfanden und dass das Malgerät die Leinwand nicht berührt hat. All das ist ablesbar an dem Neben- und Übereinander der Formen, an der Breite der Fließspuren, der Größe der Kleckse und Spritzer, den faserigen Ausläufern der größeren Formen.10 Tatsächlich sehen wir nichts anderes als den Entstehungsprozess des Werks. Wir sehen die Bewegung des Arms über der Leinwand. Wir sehen die Geschwindigkeit, mit der die Farbe auf die Leinwand geschüttet wird, die Höhe, aus der die Farbe auftrat, Pollocks Tanz um das Rechteck, um die Leinwand. Die Darstellung von Bewegung stellt für das an sich unbewegte Medium der Malerei eine altbekannte Schwierigkeit dar. Lessing kommt in seiner Abhandlung über Malerei und Poesie zu dem Schluss, dass das unbewegte Bild für die Darstellung eines bewegten Ereignisses den berühmten fruchtbaren Augenblick wählen müsse, welcher als statisch instabiler Moment eine Bewegung suggeriert.11 Pollocks Bild aber geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: es ist selbst die Spur einer Bewegung. Wir sehen die Choreografie des Malers, die nichts anderes als sich selbst zum Ergebnis hat, die nichts ihr Fremdes darzustellen versucht, keine Repräsentation von etwas ist, sondern nur sie selbst. Die Technik des Künstlers besteht darin, uns den Vorgang des Entstehens nicht zu verdecken, sondern ihn transparent zu machen. Die Schwierigkeiten, die sich beim Beschreiben des Gemalten ergeben, zeigen vor allem eins: das Gemalte stellt eine konsequent bis an die Grenze gehende Verweigerung dar – die Weigerung jedes zielstrebigen Abbildens. Auch der Titel lockt den Betrachter nicht auf die Suche nach etwas, was nicht da ist. Lee Krasner, Pollocks Frau sagt: „[…] he simply numbers them. Numbers are neutral. They make people look at a picture for what it

10 Vgl. Putz, Jackson Pollock, S. 216 f., sowie Schürmann, Zeitlichkeit, S. 102. 11 Vgl. Tilkorn, Zufallswelten, S. 102.

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is – pure painting.“12 Pollock selbst fügt hinzu, dass abstrakte Malerei abstrakt sei – dass der Betrachter nicht nach etwas suchen solle, nicht ein subjektives Thema oder eine vorgefasste Idee an das Bild herantragen solle. Das Erscheinungsbild des Bildes kann – genauso wie es ist – weder vom Künstler vorhergesehen, noch vom Rezipienten geändert werden, denn es zeigt keinerlei wiedererkennbare Gestalt. Alles, was man an Ordnung oder Gestalt erwarten könnte, sucht man vergeblich. Und gerade deshalb findet man in der Offenheit des „immer-anders-Möglichen“ einen konsequenten Zusammenhang, der die Bildfläche bei aller Verneinung dennoch charakterisiert. Paradoxerweise ist es gerade das Gegenteil jeder Ordnung, die das Bild organisiert.13 Das Werk schickt den Betrachter auf einen Weg, der beim Durchlaufen vor allem eins zur Folge hat: neue Wege zu beschreiten und trotzdem nie an ein begrifflich endgültiges Ziel zu gelangen.

C)

P OLLOCK UND D ERRIDA – D EKONSTRUKTION UND Ö FFNUNG

(1) Überwindung von Komposition und Objekt. – Aufgrund des gegenüber jeder Tradition radikal veränderten Herstellungsverfahrens dieser Bilder ergeben sich weitgehende Konsequenzen für den Kompositionsbegriff, aber auch für den Kunstbegriff als solchen. Pollocks Drippings stellen das Gegenteil von traditionellen Tafelbildern dar, da sie sich sowohl inhaltlich als auch formell über deren traditionelle Grenzen hinwegsetzen. Die Drippings haben zwar wie die abstrakten Gemälde zum Beispiel Kandinskys keinen Gegenstand, sie unterscheiden sich von diesen jedoch in einem zentralen Punkt: Pollocks Arbeiten zeigen keine konzipierte Ordnung von farbigen und grafischen Elementen. Die Farbschlieren und Kleckse sind nicht mehr Elemente einer sorgsam durchdachten Komposition, sondern Spuren der Malaktion. Das Werk Pollocks löst sich damit gänzlich aus der Tradition der Malerei; es befreit sich nicht nur von gegenständlichen Abhängigkeiten, also Mimesis und Fiktion, sondern

12 Zitiert nach Tilkorn, Zufallswelten, S. 102. 13 Vgl. Schürmann, Zeitlichkeit, S. 102 f.

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auch von den Gesetzmäßigkeiten der Komposition. Allein sein Malverfahren läuft jeder Vorstellung einer vorgängigen Komposition zuwider. Pollock dekomponiert seine Bilder und hebt damit den Begriff der Komposition auf.14 Es ist gar nicht einmal nur das Schütten und Tropfen, das Pollock so sehr von aller Malerei davor unterscheidet, sondern sein Entschluss, die Farbströme nicht in körperhafte Formen zusammenfließen zu lassen. In den Drippings wollte Pollock weder Gegenstand noch Komposition. An die Stelle der durchdachten Bildkonstruktion tritt bei den Drippings der Zufall. Damit wird, wie Arnold Gehlen bemerkt, „[…] die Vorstellung des Bildes als eines geschlossenen Systems preisgegeben.“15 Aus dieser Unabgeschlossenheit folgt konsequenterweise, dass das Kunstwerk bei Pollock nicht in dem anzufertigenden „ästhetischen Objekt“ besteht, sondern in der Malaktion, die es entstehen lässt. Das Werk ist nicht der Gegenstand, sondern der Prozess seiner Herstellung. In dieser Aktionsmalerei befreit sich das Kunstwerk zu einem erheblichen Teil von seinem Objekt. Es erschöpft sich nicht in dem sinnlich erlebbaren Kunstgegenstand, es hat seinen Sinn als Spur des lebendigen Schaffensprozesses, des Malaktes selbst.16 Indem der künstlerische Schaffensakt zum zentralen Bestandteil des Werkes wird, bricht die Aktionsmalerei grundlegend mit der Trennung von Kunst und Leben und damit mit dem herkömmlichen engen Kunstverständnis. Mit dem Schaffen Pollocks ist der Punkt erreicht, an dem der traditionelle Kunstbegriff seine Gültigkeit zu verlieren beginnt, beziehungsweise an dem die Vorstellung von Kunst als geschlossenem ästhetischem Gegenstand ihre ausschließliche Relevanz einbüßt. Kunstwerk und Schaffensprozess werden eins. (2) Kein Anfang, kein Ende, kein Zentrum. – „Weder Anfang noch Ende“ – diese ursprünglich negativ gemeinte Bezeichnung der Bilder Pollocks durch einen Kritiker hat der Künstler selbst als Kompliment und zutreffend für seine Bilder empfunden.17

14 15 16 17

Vgl. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 36. Zitiert nach Wall, Das unmögliche Museum, S. 105. Vgl. ebd. Vgl. Pollock, Zeichnungen, S. 19.

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Zu einem Reporter sagt Pollock darauf, seine Bilder hätten nicht nur weder Anfang noch Ende, sondern zudem kein Zentrum. Jede Stelle eines Bildes erfordere so viel Interesse wie jede andere auch. Diese beiden Charakteristika von Pollocks Bildern lassen sich aufeinander beziehen und bezeichnen gemeinsam einen elementaren Kern seiner Kunstauffassung: die Negation von Fixpunkten.18 Die Leugnung von Anfang und Ende ist zugleich die Leugnung von Fixpunkten und damit auch von Zentren, denn ein Zentrum ist eine spezielle Form des Fixpunktes. Das Problem, das Pollock mit Fixpunkten in der Kunst hat, ist, dass bestimmbare Anfänge, Enden und Zentren eine hierarchisch organisierte Struktur des Kunstwerkes implizieren. Ein Zentrum konstituiert eine hierarchische Rangordnung für die auf das Zentrum bezogenen Formen. Die Rangordnung lässt sich an der Entfernung der jeweiligen Form zum Inneren des Zentrums ablesen. Ein Anfang oder ein Ende würde einen ersten Ursprung oder ein Ziel des Bildes bedeuten. In allen Fällen würde sich das Kunstwerk als etwas Geschlossenes, Abgeschlossenes darstellen. Es würde die Idee von einem Ganzen vermitteln. Pollock weigert sich jedoch vehement seine Kunst als etwas Abschließbares zu verstehen. Diesem Abgeschlossenheitsdenken verweigert sich auch Jacques Derrida, der dafür den französischen Ausdruck clôture einführt. Angelehnt an die strukturalistische Zeichentheorie de Saussures übernimmt er die These, dass Sprache als ein Netzwerk von Differenzbeziehungen zu verstehen ist und dass dieses Netzwerk keine positiven Einzelglieder voraussetzt. Der Wert eines Zeichens entsteht aus Differenz, bzw. dem NichtZusammenfallen mit anderen Zeichen und nicht aus Repräsentation. Ebenso ist für Pollock ein Kunstbegriff, der sich der Repräsentation verschreibt, überholt. Der Wert des Zeichens kann im Relationssystem der Sprache verglichen und dadurch bestimmt werden. Durch den Vergleich positioniert sich das Zeichen im Gesamtgefüge des Systems Sprache, und erst aus dieser Position ergibt sich seine Bedeutung. Wenn jedes Zeichen nur deshalb einen Wert hat, weil es sich von anderen Zeichen unterscheidet, diese anderen Zeichen ihrerseits aber auch nur durch Differenzen zu weiteren Zeichen bestimmt werden können, führt dies zwangsläufig zu einem unendlichen Spiel der Verweise. So etwas wie Sinn kann dann nie eindeutig

18 Vgl. Putz, Jackson Pollock, S. 118 f.

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bestimmt werden, weil es nur ein unbegrenztes Verweisen von Zeichen auf Zeichen gibt. Folglich erweist sich die Sprache eben nicht als ein stabiles, abschließbares Ganzes, sondern als eine ursprungs- und endlose offene Kette von Bedeutungszuordnungen. Ein endgültig fixierbares, in sich geschlossenes Bedeutungssystem kann sich demnach niemals ergeben. Daraus folgert Derrida, dass „die bezeichnete Vorstellung, der Begriff, nie an sich gegenwärtig ist, in hinreichender Präsenz, die nur auf sich selbst verwiese. Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder ein System eingeschrieben […].“19 Nur wenn ein einzelnes Element aus dem System herausgenommen werden könnte, ohne dass es seine Sinnhaftigkeit verlieren würde, dann könnte von so etwas wie Präsenz gesprochen werden. Ein solches Element bezeichnet Derrida als transzendentales Signifikat: ein Signifikat, „das von seinem Wesen her nicht auf einen Signifikanten verweist, sondern über die Signifikantenkette hinausgeht“20. Derrida kritisiert die Annahme eines transzendentalen Signifikats, das als Bezugsobjekt außerhalb der Signifikantenkette steht – folglich lehnt er Präsenz in jedweder Form ab. Pollocks Zentrumsbegriff ähnelt dem transzendentalen Signifikat Derridas. Das transzendentale Signifikat ist der Kern der abendländischen Metaphysik. Je nach Ansatz wird von einem Prinzip ausgegangen, das einfach „da“ ist und damit seine Legitimität als Ursprung hat. Von diesem Zentrum aus strukturiert sich das System, setzt dem unbegrenzten Spiel der Verweise eine Grenze und in gewisser Weise auch ein Ende. Ebenso sieht Pollock in Fixpunkten eines Bildes eine „künstliche“ Grenze, die den Möglichkeitsraum der Kunst einschränkt. Durch Pollocks Negation von Fixpunkten bieten seine Bilder eine grundsätzlich offene und unendliche Möglichkeit imaginativer Bezugsnahmen. Gerade weil sich das Bild der Repräsentation von etwas entzieht, gestaltet sich ein Möglichkeitsraum deutender Bezüge in einer nicht eingrenzbaren Offenheit. „Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“21 Die Abwesenheit eines Zentrums, eines Anfangs, eines Ziels erweitert die Möglichkeiten der Kunst

19 Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 40. 20 Derrida, Semiologie und Grammatologie, S. 143. 21 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 424.

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über ihre Grenzen hinweg. Bewusst nutzt Pollock seine Technik des Drippings, um die Begrenzungen und Fixpunkte, die „transzendentalen Signifikate“ seines Bildes zu bestreiten, zu ignorieren, zu negieren. Er selbst sagt, seine Bilder hätten „no limits, just edges“22. Die Farbspuren seiner Bilder beschränken sich nicht auf die als Leinwand zur Verfügung stehende Fläche, sie gehen darüber hinaus. Zwar sind es nur die auf die Leinwand gebrachten Farbspuren, die letztlich ins Museum wandern. Dennoch wird deutlich, dass das Kunstwerk über diese faktische Begrenzung hinausgeht. Im Prozess des Entstehens ist der Rand als Grenze nicht existent. Die Farbspuren unterscheiden nicht zwischen Leinwand und Boden. Die Bildränder würden das Kunstwerk, insofern Pollock sie als Grenzen betrachten würde, von seiner Umgebung absondern. Negiert Pollock die Bildränder aber als Grenzen, nimmt das Kunstwerk mit der seitlichen Wandfläche Kontakt auf. Das Bild stellt sich dann als potentielles Wandbild dar und setzt sich dort fort. Nicht umsonst nutzt Pollock in erster Linie riesige Formate. Dem Betrachter wird dadurch im Anschauen jede Ortgewissheit und jede Zielorientierung verweigert und er wird fortwährend aufgefordert, einen neuen Versuch ihrer Bestimmung zu unternehmen. Die Größe der Bilder trägt beim Maler wie beim Betrachter dazu bei, „im Bild zu sein“23. Diese bildliche Formulierung Pollocks, im Bild zu sein, negiert einen hervorgehobenen Standpunkt des Betrachters. Er ist quasi Teil eines unendlichen Spiels. Es ist kein Ende in Sicht, auch kein Zentrum oder Ziel. Aber das Bild, die Kunst erschließt sich im wahrsten Sinne des Wortes den Raum und ermöglicht so einen völlig neuen Bezug von Bild und Betrachter. Auch Derrida richtet sich gegen die Schließung (clôture), gegen die Grenze, die die Struktur als geschlossen definieren würde. Durch die Offenheit und Ursprungslosigkeit von Derridas Strukturverständnis ist auch ein hierarchisches Denken nicht möglich. Es gibt keinen Ursprung, kein erstes Element und daraus folgend auch keine Hierarchie. Das Kunstwerk Pollocks ist Prozess und damit im eigentlichen Sinne nie abgeschlossen. „Das Kunstwerk wird der Idee nach nicht fertig“24, wie

22 Zitiert nach Davidson, Gestus auf kleinem Format, S. 17. 23 Zitiert nach Klingbeil, Die Bilder wechseln, S. 182; vgl. Hoppe-Sailer, Natur im Bild, S. 45. 24 Zitiert nach Wall, Das unmögliche Museum, S. 106.

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Gehlen schreibt. Das gemalte Bild ist beim Action Painting kein fixes Endprodukt, es ist eher ein manifester Zwischenbestandteil – eine Spur der eigentlichen Kunst.25 Die Malerei hat ganz elementar mit dem Erzeugen von Spuren zu tun. Der Pinsel hinterlässt eine Spur von Farbe. Die Spur hat auch bei Derrida eine wichtige Bedeutung. Derrida spricht allerdings von Spuren von Spuren. Auch Pollocks Spur ist die Spur einer Spur. Die Farbspur auf der Leinwand ist zum einen ihrer Unmittelbarkeit entrückt, da das Malgerät die Leinwand nicht berührt, zum anderen ist sie die Spur der Geste des Malers über der Leinwand. Aber diese Geste ist nicht die letzte Referenz. Die Sache gestaltet sich anders: die Geste, die Spur Pollocks hat, um mit Derrida zu sprechen, „keine Fülle“, auch sie ist nur ein Zwischenschritt des Prozesses Kunst, der nach der Definition Pollocks nie abgeschlossen ist. Die Bildgenese bei Pollock ähnelt der Lektürestrategie der Dekonstruktion bei Derrida. Die Verschränkung von Destruktion und Konstruktion, die Derrida als elementar für die von ihm begründete Philosophie der Dekonstruktion beschreibt, lässt sich anhand der Bildfindung Pollocks nachzuvollziehen. Pollock kehrt die gewohnten Prinzipien der Bild- und Kompositionsgenese um. Darüber hinaus ersetzt er die Komposition nicht einfach durch Dekomposition, sondern stellt dem Ganzen zudem einen neuen Werkbegriff, ein neues Kunstverständnis gegenüber, das seinen Gegenstand eben nicht auf der Leinwand findet, sondern den Prozess der Bildgenese zum eigentlichen Kunstwerk erhebt. Insofern macht sich Pollock in dem Maße zum Gegner des klassischen Kunstbegriffs, wie sich Derrida zum Gegner der klassischen Identitätsphilosophie macht. * Die Geschichte der Kunst zeigt, dass es die genuine Aufgabe des Künstlers ist, die Grenze zwischen Chaos und Ordnung auszuloten, ständig gegen die Schranken eines statischen Weltbildes anzurennen und sie zu überwinden. Die Kunst hat der Ordnung in dem Moment eine Absage erteilt, in dem sie

25 Vgl. ebd.

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sich der Unzulänglichkeit dieser bewusst wurde. Die Kunst hat das Jenseits der Ordnung, das Abgeschnittene bewusst gesucht. Die Malerei hat der Repräsentation eine Absage erteilt in dem Moment, in dem sie die Gegenständlichkeit verließ. Die Kunst hat der Komposition eine Absage erteilt in dem Moment, in dem sie sie als Einschränkung empfand. Aus diesem Grunde sind Künstler häufig in der Lage, Entwicklungen um Jahrzehnte vorauszuahnen und darzustellen. Man sagt ja auch, Kunst komme nicht nur von können, sondern auch von künden. Ich lese Pollocks Malerei als eine Verbildlichung einer Idee, eines Denkens, das wie die Philosophie Derridas nicht auf ein substituierendes Zentrum angewiesen ist, das eine Abwesenheit eines solchen Zentrums nicht fürchtet und dessen Grenzenlosigkeit, Bodenlosigkeit nicht in die Tiefe stürzt, sondern in die Weite führt. Für mich zeigt sich anhand der Kunst Pollocks und seiner Auswirkungen auf unseren heutigen Kunstbegriff, dass aus der zunächst unangenehmen Offenheit und Grenzenlosigkeit, dem Verzicht auf Ordnung und Fixpunkte ein Zugewinn an Freiheit resultiert, der konstruktiv ist. In der Kunst ist mit Pollock etwas gestorben, wie mit Nietzsche Gott und mit Derrida die Präsenz gestorben ist. Das traditionelle Kunstverständnis wurde begraben, Komposition, Gegenständlichkeit, ja sogar das Kunstobjekt als solches. Doch aus diesem Moment des Verlusts von gewohntem Boden, aus diesem Schritt in das Jenseits der Ordnung ist der Kunst etwas Fruchtbares erwachsen: das offene Kunstwerk, Performance, Fluxus, Happening und vieles mehr. Kunst findet nicht mehr nur auf der Leinwand statt. Sie hat sich im wahrsten Sinne des Wortes neuen Raum erschlossen. Pollock schafft nicht einfach nur Chaos. Er sagt selbst: „No chaos – damn it!“ Aber er setzt sich mit seiner Kunst über das Gewohnte, Geordnete hinweg, betritt einen Bereich jenseits davon. Pollock verliert sich nicht im Wabernden, Unbestimmten, Chaotischen, sondern nutzt einen Raum, der immer schon „da“ war, und erweitert dadurch den Kunstbegriff. Pollock bedeutet nicht nur Rebellion, Destruktion, sondern eben auch etwas Konstruktives. Pollock ist nicht einfach nur das symmetrische Gegenteil der Ordnung, ist nicht einfach gleichzusetzen mit Chaos oder Unordnung, sondern bedeutet Möglichkeit und Raum. Vielleicht ist die Kunst ein gutes Beispiel dafür, dass neues Terrain, dass ein Denken jenseits des Gewohnten, jenseits der Ordnung nicht nur bedrohlich und Angst einflößend ist, sondern dass gerade aus diesem Denken heraus Neues entsteht, dessen

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Wert wir aus dem Diesseits der Ordnung gar nicht erschließen können. Die Öffnung der Kunst hat sich meines Erachtens als konstruktiv erwiesen. Warum soll dies bei einer Öffnung des Denkens nicht auch der Fall sein?

9. Jenseits der Ordnung

ataxía (WD[dD) – Unordnung; Zuchtlosigkeit, Insubordination Langenscheidts Taschenwörterbuch Altgriechisch-Deutsch

Wenn ein Mensch mit geöffnetem Mund auf einer Brücke steht und die Hände in die Nähe seines Kopfes hält; wenn hinter ihm ein sonntäglich gekleidetes Ehepaar über die Brücke schlendert und am Horizont die Farben der Landschaft mit dem Rot des Abendhimmels einen malerischen Kontrast bilden – dann scheint es sich um eine Momentaufnahme aus dem bürgerlichen Leben zu handeln, gewöhnlich und nicht weiter der Rede wert: alles in bester Ordnung. Wenn wir jedoch erfahren, dass die Beschreibung sich nicht auf eine beliebige Szene, sondern auf das 1893 entstandene Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch bezieht, dann verfliegt der Anschein der Banalität, und die Ordnung offenbart ungeahnte Risse. Zwar bleiben die Details identisch – derselbe Mensch, dieselbe Brücke, dasselbe Ehepaar –, aber offenkundig ist es Munch gelungen, etwas zu evozieren, das in seinem Bild nicht unmittelbar präsent ist. Eine borniert positivistische Haltung könnte dieses Etwas leugnen mit dem Argument, es sei nicht direkt sichtbar. Aber einen solchen Trivialsensualismus wird niemand im Ernst vertreten, und so geht es lediglich um die Frage, worin das Etwas besteht. Einer gängigen Deutung zufolge handelt es sich um die Abgründe der menschlichen Existenz, in die das Bild einen Blick zu werfen erlaubt: der Schrei drückt das Entsetzen einer Person aus, die von der plötzlich aufblitzenden Einsicht in die Sinn- und Haltlosigkeit unseres Daseins überwältigt wird. Das Gerüst, das uns im Alltagsleben Sicherheit verleiht,

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stürzt unerwartet ein; alles fliegt auseinander, sogar der eigene Kopf, so dass, wie es scheint, die Hände ihn zusammenhalten müssen. Der Mensch auf der Brücke – unmöglich zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt – hat außer dem Mund auch die Augen weit aufgerissen; das hat zur Folge, dass wir wie in einem Vexierbild zugleich ein höchst lebhaftes Gesicht und einen erstarrten Totenschädel sehen. Bei alldem gibt es keine konkrete Bedrohung, vor der sich der Schreiende fürchten müsste, vielmehr ist es eine unspezifische, aber um so beklemmendere Daseinsangst, die ihn gepackt hat. Das Gemälde von Munch erlaubt es, das Problem zu benennen, von dem alle ataxiologischen Überlegungen ihren Ausgang nehmen: eigentlicher Auslöser für den Schrei ist die Erschütterung der Ordnung. Der Schreiende entstammt, wie wir vermuten dürfen, derselben bürgerlichen Welt wie das im Hintergrund flanierende Ehepaar. Aber diese Welt bietet ihm urplötzlich keinen Halt mehr, alles erscheint mit einem Mal eigentümlich irreal, sinnlos und dadurch beängstigend. Sicherlich ist eine solche Wahrnehmung die Ausnahme, in der Regel geht im Alltag alles seinen geordneten Gang. Aber das Bild von Munch beweist, dass es diese Ausnahme gibt und dass sie ernst genommen werden muss. Zur menschlichen Realität gehört mehr als das systematische Erfassen der Welt und die souveräne Kontrolle über sie, ebenso gibt es einen Bereich jenseits geregelter Bahnen und überschaubarer Ordnungen. Ihm wendet die Ataxiologie ihre Aufmerksamkeit zu. „Der Schrei“ eröffnet die Möglichkeit der Erschließung eines bislang wenig beachteten philosophischen Feldes. An die Grenzen der Ordnung (und des Willens zur Ordnung) stößt das Denken auch an anderen Stellen und in anderen Hinsichten. Die entsprechenden Punkte bilden den Problemfundus, aus dem sich die Relevanz der ataxiologischen Fragestellung speist; es erscheint angezeigt, die wichtigsten von ihnen noch einmal aufzugreifen. Ein besonders gravierendes Problem ist das der Verarmung der Erfahrung in der bürgerlichen Wirklichkeit. Die identifizierenden und klassifizierenden Akte des wissenschaftlich-technischen Weltverständnisses ordnen die Gegenstände bloß in Schemata ein und degradieren sie damit zu Exemplaren, statt sie in ihrer qualitativen Vielfalt zur Geltung kommen zu lassen. Dadurch gehen gerade die Eigenschaften verloren, die in der Sache wider den Stachel löcken und die, indem sie eingeschliffene Denk- und Sichtweisen in Frage stellen, eine Erfahrung im emphatischen Sinne ermöglichen. Gegen diese Reduktion, die Abschot-

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tung von der Sache selbst durch Ausblendung ihrer überschießenden Bestimmungen, setzt die Ataxiologie auf eine Figur der Öffnung, die den objektiven Qualitäten und dem eigenen Anspruch der Dinge den Vorrang einräumt vor ihrer Indienstnahme durch subjektive Interessen. Es geht mit anderen Worten darum, sich quasi mimetisch der Sache anzunähern, statt sie einem Nutzenkalkül zu unterwerfen. Freilich darf die Annäherung nicht nach dem Modell der asymptotischen Approximation verstanden werden, und vor allem darf sie nicht von der naiv-realistischen Annahme ausgehen, der Gegenstand sei bereits fix und fertig gegebenen und müsse nur noch repräsentiert werden. Vielmehr lautet das ataxiologische Credo, dass nur eine inverse Mimesis in die Nähe der Sache zu gelangen vermag: ein Anschmiegen, das in dem Bewusstsein vollzogen wird, seinen Gegenstand partiell allererst zu konstituieren, sofern dieser nämlich Resultat eines Wechselspiels subjektiver und objektiver Bestimmungen ist. Der Gegenstand steht in einem Feld vielfältiger Konstellationen teils historischmaterieller, teils begrifflich-ideeller Art. Erkennen ist nicht der einmalige Akt des Identifizierens, sondern die fortgesetzte Bewegung in diesem Feld. Als Lohn winkt eine Erfahrung in einem Sinne, der weit über den verarmten Erfahrungsbegriff des Empirismus hinausgeht: eine Transformation der Koordinaten des Feldes auf der Subjekt- wie auf der Objektseite. Das im Begriff der Transformation mitschwingende Motiv der Veränderung leitet über zu einem zweiten, mit dem ersten vielfältig verbundenen Problemkomplex: die Gefahr einer überreglementierten Gesellschaft. George Orwell hat in seinem utopischen Roman Nineteen Eighty-Four exemplarisch vorgeführt, wie in einem rational durchorganisierten Gemeinwesen Überwachung, Kontrolle und Lenkung der Individuen derart überhandnehmen können, dass von einer menschenwürdigen Existenz keine Rede mehr sein kann, auch wenn oberflächlich betrachtet Frieden herrscht. Zum Begriff des Menschen gehören Freiräume, in denen er sich entfalten kann, sowohl in Differenz zu anderen als auch in Devianz zum Gesamtsystem. Die Niederhaltung von Konflikten auf Kosten dieser Freiräume verdient die Bezeichnung Frieden nicht. – Nun wird angesichts zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen und angesichts der immanenten Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise ohnehin niemand den gegenwärtigen Weltzustand als friedvoll bezeichnen. Gleichwohl enthält Orwells Gedankenexperiment einen wichtigen Fingerzeig: augenscheinlich müssen die Menschen immer wieder und in jeder Generation von Neuem

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um ihre Entfaltungsmöglichkeiten ringen. Sie werden in einen institutionellen Rahmen hineingeboren bzw. -sozialisiert, der sie tendenziell einschränkt und seinem Rhythmus unterwirft. Freiräume gibt es nicht geschenkt, sie entstehen nur durch Aufbegehren und Insubordination. Die Ataxiologie plädiert daher für eine kritisch-engagierte Haltung, die sich gegen die zahlreichen Formen der Kolonialisierung aktiv zur Wehr setzt. Es gilt, der herrschenden Ordnung eine Zuchtlosigkeit entgegenzusetzen, die sich nichts unhinterfragt bieten lässt. Auf der anderen Seite ist jedoch die Idee einer geschichtlichen Kehrtwende im Sinne einer Erlösung in messianischen Dimensionen dem ataxiologischen Ansatz fremd. Maßstab für ein erfolgreiches Eingreifen ist nicht das Erreichen eines paradiesischen Zustandes, bei dem das Engagement an seinem Ziel angekommen wäre und einzig der Rückfall auf frühere Stufen verhindert werden müsste. Die Messlatte derart hoch zu legen läuft Gefahr, die Betroffenen zu entmutigen und praktische Eingriffe zu erschweren. Die Ataxiologie votiert deshalb dafür, die Ziele bescheidener bzw. „diesseitiger“ zu formulieren und statt auf die eine Makroveränderung des Ganzen auf Myriaden von Mikroveränderungen zu setzen, davon ausgehend, dass effizienter Widerstand ohnehin von unten kommt und dass auch eine geringfügig anmutende Erschütterung der Ordnung signifikante Freiräume zu schaffen vermag. Dabei darf jedoch die Bescheidenheit keinesfalls mit Resignation verwechselt werden. Die Absage an die große historische Umwälzung bedeutet nicht, sich mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen abzufinden (und sie dadurch insgeheim zu stützen); im Gegenteil geht es gerade darum, ihnen einen nicht nachlassenden Widerstand entgegenzusetzen. Aber dieser Widerstand wird fehlgeleitet, solange er sich am Bild eines erreichbaren oder gar bereits erreichten Idealzustandes orientiert. Im Kern geht es um überhaupt keinen Zustand – heiße er nun „Reich der Freiheit“ oder „funktionierende Demokratie“ –, sondern um ein Aufbegehren, das in seiner Unaufhörlichkeit keinerlei Verknöcherung zulässt. Die Freiräume, auf die es ankommt, können nicht in Gestalt von Systemstrukturen ererbt werden, da auch bei einer freiheitlichen und demokratischen Grundanlage des Systems dieses in seiner Eigendynamik stets dazu tendiert, sie einzuschränken. Es gilt vielmehr, sie in einer permanenten Demokratisierung immer wieder neu zu erringen. Das erforderliche Unruhepotential für diesen niemals endenden Kampf ist die Infragestellung der Ordnung.

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Die Unruhe betrifft nicht nur die äußere soziale Ordnung, sie hat durch die Dezentrierung des Ich in der Psychoanalyse auch die innere psychische Ordnung der Individuen erfasst – ein dritter Problemkomplex, der den beiden ersten eine wichtige Dimension hinzufügt. Bedeutende Teile der Philosophie des 20. Jahrhunderts lassen sich als Versuch verstehen, den Freudschen Satz, das Ich sei nicht Herr im eigenen Hause, philosophisch einzuholen. Der Subjektbegriff der Aufklärung, der vom Menschen als einem sich selbst durchsichtigen, verantwortlich handelnden Vernunftwesen ausging, hat seine Evidenz eingebüßt. Statt dessen ist deutlich geworden, dass wir auch dort, wo wir uns autonom wähnen, von vielfältigen, oft unbewussten Motiven gelenkt werden, die massiven Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Tun haben. Gleichwohl ist es nicht erforderlich, den Subjektbegriff gänzlich über Bord zu werfen. Mit bestimmten Einschränkungen kann er weiterhin gute Dienste leisten, nur muss klar sein, dass das Subjekt keine ursprüngliche Instanz ist und weder eine unversehrte Natur noch ein reines Cogito repräsentiert. Vielmehr konstituiert es sich unter erheblichem äußerem Druck in einem Gefüge von Machtbeziehungen. Man könnte sogar so weit gehen, es zunächst als Funktion oder Resultante dieser Beziehungen zu begreifen. Allerdings wäre sogleich hinzuzufügen, dass die Machtwirkungen, die es später, im „erwachsenen“ Stadium selber entfaltet, einen signifikanten Eigenanteil aufweisen, so dass sich in seinen Handlungen keineswegs bloß die bestehenden Machtverhältnisse reproduzieren (wie man argwöhnen könnte). Das Subjekt ist in der Lage, gegen seine eigenen Entstehungsbedingungen zu arbeiten, ihnen einen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Die innere psychische Ordnung, die für die Sozialisation zunächst unabdingbar ist und von deren fragiler Genese die Psychoanalyse Zeugnis ablegt, ist nicht ein für allemal festgeschrieben. Die im engeren Sinne ataxiologische Frage lautet hierbei: wie kann das Subjekt seine ursprünglich von außen induzierte Selbstidentität in Frage stellen, ohne sich selber den Boden unter den Füßen wegzuziehen? Wie kann es einen Ort im Machtgefüge besetzen, ohne jene Herrschaftsstrukturen fortzuschreiben, die ihm in die Wiege gelegt wurden? Wie man sieht, ist der Prozess der Subjektwerdung zutiefst ambivalent. Die These lautet, dass er ohne ein Moment von Devianz zu keinem befriedigenden Ergebnis führt. Die drei angeführten Beispiele aus dem Problemfundus der Ataxiologie haben, wie ich hoffe, den Sinn und die Berechtigung eines philosophischen Unternehmens erwiesen, das auf ein Denken jenseits der Ordnung zielt.

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Hervorzuheben ist nun, dass ein solches Denken angesichts seines von Grund auf problematischen Gegenstandes sich nicht auf die eingeschliffenen Verfahren der Philosophie verlassen kann, sondern eine eigene Methodologie entwickeln muss. Die Denkfiguren des Hauptstroms der abendländischen Philosophie sind in aller Regel darauf ausgerichtet, Ordnung herzustellen, sei es durch Wiedergabe bestehender Regelmäßigkeiten, sei es durch systematisierendes Aneignen des Vorgefundenen. Folglich verfehlen sie fast zwangsläufig das, worum es der Ataxiologie im Kern geht. – Ein Kardinalfehler ist hierbei die Annahme stabiler und symmetrischer Gegensätze. Vernunft und Aberglaube, Sein und Sollen, Sinnlichkeit und Verstand – diese und viele andere Gegenüberstellungen schaffen Ordnung, indem sie Bereiche dauerhaft voneinander abgrenzen. Die Departementalisierung bewirkt Übersicht und Verlässlichkeit, sie erleichtert und vereinfacht das Denken. Gerade diese Simplifizierung führt jedoch dazu, das genuine Feld der Ataxiologie zu übersehen. Denn angenommen, wir würden den Gegenpol zur Ordnung unter Titeln wie ,Unordnung‘ oder ,Chaos‘ reifizieren und zwischen beiden Sphären ein Verhältnis der stabilen und symmetrischen Opposition annehmen. Was wäre geschehen? Ein Denken, das auszog, sich dem Jenseits der Ordnung zu öffnen, hätte dieses gleich zu Beginn mit dem ältesten aller Ordnungsschemata, der Dichotomie, überzogen und es dadurch de facto verschlossen – ein performativer Widerspruch par excellence. Deshalb darf die Ataxiologie das, worum es ihr geht, unter keinen Umständen zu einer Entität hypostasieren und es dergestalt einfangen. Statt dessen muss sie davon ausgehen, dass zwischen der Ordnung und ihrem Widerpart ein instabiles und asymmetrisches Verhältnis besteht. Das macht die Dinge erheblich komplizierter, lädt aber gleichzeitig dazu ein, die dynamischen Prozesse nachzuzeichnen, die aus der Instabilität resultieren. So ist klar – um ein Beispiel zu nennen –, dass das oben angesprochene Bild von Munch eine Momentaufnahme darstellt und keinen Dauerzustand wiedergibt. Der Schrei als Manifestation panischer Angst ist eine Dissonanz, die nach Auflösung drängt, sei es durch einen Sprung von der Brücke in den Abgrund (bzw. die Verhinderung des Sprungs durch Einweisung in die Psychiatrie), sei es durch ein Ergreifen des Geländers als Symbol für Sinninseln im Meer des Sinnlosen. Man könnte sagen, dass sich das Bild von Munch selber verzehrt: der Schrei lässt sich nicht unendlich prolongieren, die Situation des Schreienden nicht auf Dauer stellen. Der (Rück-) Sturz in die Ordnung ist vorprogrammiert, entweder in die des Todes oder

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in die der bürgerlichen Gesellschaft. Darin liegt gerade die irreduzible Asymmetrie, dass der Widerpart zur Ordnung durch seine Instabilität etwas Flüchtiges und Temporäres hat, im Unterschied zur Ordnung mit ihrer Tendenz zur Dauerhaftigkeit. Einmal mehr ist aber darauf zu beharren, dass es diesen Widerpart gibt, wie das Bild von Munch beweist, und dass er mit seinen Nadelstichen die Ordnung wie ein Doppelgänger durch die Geschichte begleitet. Ein weiteres methodologisches Spezifikum der Ataxiologie ist die Sensibilität für Fälle von Unentscheidbarkeit. Das herkömmliche Denken geht davon aus, dass sich prinzipiell feststellen lässt, ob etwas gilt oder nicht, und es hat seine Dichotomien, um der Geltung Ausdruck zu verleihen: wahr – falsch, wissenschaftlich – unwissenschaftlich, rational – irrational. Zwar mag es im empirischen Einzelfall schwierig sein, hier und jetzt zu bestimmen, was zutrifft und was nicht, weshalb in der Wissenschaft das traditionelle Verifikationsprinzip durch das Falsifikationsprinzip ersetzt wurde. Aber das Misstrauen richtet sich dabei gegen das menschliche Erkenntnisvermögen, nicht gegen die Sache selbst, von der angekommen wird, dass sie im Wesentlichen eindeutig bestimmt ist (von Ausnahmen wie der Heisenbergschen Unschärferelation einmal abgesehen). Im Gegensatz hierzu argwöhnt die Ataxiologie, dass sich das Pochen auf Entscheidbarkeit in vielen Fällen als Ordnungsschema entpuppt, das einer im Kern ambivalenten Sachlage gewaltsam übergestülpt wird. Die Annahme, dass es im Fall von einander widerstreitenden Diskursen eine übergeordnete Instanz gibt, die ein Urteil zugunsten eines der beiden Kombattanten fällen könnte, setzt die Existenz eines Metadiskurses voraus, der, selber nicht involviert, aus einer Beobachterperspektive Recht zu sprechen vermag. Was aber, wenn sich die (Wunsch-) Vorstellung eines unparteiischen Beobachters als Chimäre erweist? Wenn es nur involvierte Teilnehmer gibt? Jeder Diskurs funktioniert nach Regeln; in einen Widerstreit geraten zwei Diskurse dann, wenn sie einerseits auf dieselbe Sachlage Bezug nehmen (z. B. in entsprechenden Protokollsätzen), sich andererseits aber nicht über ein gemeinsames Regelwerk verständigen können (indem beispielsweise in einem Streitgespräch der eine Teilnehmer einen moralischen, der andere einen ästhetischen Diskurs führt). Der Metadiskurs kann sich nun, was die Regeln betrifft, auf eine der beiden Seiten schlagen (dann tut er der jeweils anderen Unrecht), oder er kann seine eigenen Regeln zum Maßstab erheben (dann tut er beiden Unrecht). Was er dagegen mangels Universalstandards für

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einen Schlichterdiskurs nicht kann, ist, beiden Seiten gleichzeitig gerecht zu werden. Entsprechende Bemühungen ähneln dem Versuch der Quadratur des Zirkels. Hinzuzufügen ist allerdings, dass die Annahme oder, genauer, die Hinnahme von Unentscheidbarkeit keinesfalls dem Menschen die Handlungsfähigkeit abspricht und etwa einer fatalistischen Haltung das Wort redet. Um ein Beispiel zu nennen: die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse als höchst zwiespältig einzuschätzen impliziert nicht, sie als unveränderbar zu akzeptieren. Im Gegenteil bietet gerade die Ambivalenz Ansatzpunkte für ein auf Veränderung ausgerichtetes Engagement. Freilich beruft sich das Engagement jetzt nicht mehr auf die „richtige“ Theorie, die entschieden und angeblich lückenlos die Notwendigkeit sei’s von Reformen, sei’s eines Umsturzes erweise. Vielmehr ist die Grundlage fortan eine kritische Haltung, die sich eher als Ethos begreift denn als Gralshüterin der Wahrheit. Entsprechende Aktionen führen folglich den Index mit sich, den Geist dieses Ethos zu repräsentieren. Darin liegt eine erhebliche Einschränkung des Geltungsanspruchs, die sich aber in einem postmetaphysischen Zeitalter ohnehin nicht vermeiden lässt. Drittens zeichnet sich die Ataxiologie in methodologischer Hinsicht dadurch aus, der in der Gegenwartsphilosophie allseits erhobenen Forderung nach einem dezentrierten Theorieansatz in besonderer Weise gerecht zu werden. Es ist nicht schwer zu sehen, dass sich Ordnung vielfach einem Zentrum verdankt, wenn wir darunter den Gravitationspunkt verstehen, der einer Zusammenstellung Kohärenz verleiht. Das Zentrum sorgt dafür, dass die Elemente einer Struktur nicht in beliebiger Streuung vorliegen, sondern auf einen ausgezeichneten Punkt ausgerichtet sind, wie Kompassnadeln auf einen nahen Magneten oder mathematische Lehrsätze auf ein Axiomensystem. Die Verteilung an der Peripherie unterliegt so gewissen Einschränkungen; die daraus resultierende Vorhersehbarkeit ist gerade das, was den Nutzen von Ordnung ausmacht. Freilich hat der Nutzen auch seinen Preis: die freie Zirkulation der Elemente wird eingeschränkt, ihr Flottieren erfährt eine Gängelung. Wenn in einem Feld die Elemente sich nicht mehr in beliebiger Kombination aufeinander beziehen können, sondern jedes von ihnen ausschließlich auf das Zentrum bezogen ist (wie beispielsweise im Benthamschen Panopticon, einer ringförmigen Gefängnisarchitektur, in der die Häftlinge voneinander abgeschottet sind, hingegen jede Zelle vom zentralen Wachturm aus eingesehen werden kann), so liegt darin eine Re-

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duktion und Verarmung, die Herrschaftsinteressen dienlich sein mag, mit der Idee einer freien Entfaltung des Menschen jedoch nicht vereinbar ist. Die Forderung, jede Zentrumsvorstellung aus dem Denken zu verbannen und an ihre Stelle ein dezentrales Netzwerk zu setzen, hat daher viel mit Freiheit zu tun. Die Ataxiologie kommt ihr insofern nach, als sie allen Begriffen eines strukturierenden Mittelpunktes entgegenarbeitet. Der Ausdruck ,Jenseits der Ordnung‘ zeigt kein zweites Zentrum in einem bisphärischen Weltbild an, sondern die permanente Infragestellung jenes Zentrums, das mehr oder weniger gewaltsam der sozialen Welt eine Ordnung aufzwingt. Statt um Festschreibung des Status quo geht es um Öffnung und Durchlässigkeit. Die Zirkulation soll nicht durch Fixierung auf ein Zentrum eingeschränkt, sondern im Gegenteil durch Abbau von Hemmnissen angekurbelt werden. Wenn überhaupt, dann ist das freie Flottieren der Elemente nur jenseits der Ordnung denkbar. Gesetzt, es sei gelungen, durch Nennung von je drei Beispielen aus ihrem Problemfundus und aus ihrem methodologischen Arsenal die Idee der Ataxiologie in Ansätzen zu umreißen, so stellt sich die Frage nach möglichen Bedenken und Einwänden. Sie zu diskutieren ist schon deshalb wichtig, um durch Abgrenzung die Konturen des hier Vorgestellten detaillierter herauszuarbeiten. Der erste Einwand lautet: brauchen wir überhaupt die Öffnung zum Jenseits der Ordnung? Setzen wir damit nicht gesellschaftliche Errungenschaften fahrlässig aufs Spiel? Und lassen sich die Defizite, die die bestehende Gesellschaft eingestandenermaßen aufweist, nicht am ehesten dadurch beheben, dass die entsprechenden Bereiche noch stärker unter die Obhut der Ordnung genommen werden? Als Replik sei angeführt, dass es sicherlich gesellschaftliche Gruppen gibt, die an der Aufrechterhaltung des Status quo ein Interesse haben, aber das sind, wenn der Eindruck nicht täuscht, vorwiegend diejenigen, die von der Herrschaft profitieren. Global betrachtet gibt es erschreckend viele Menschen, die auf erschreckend wenige Errungenschaften Rücksicht nehmen müssen; folglich ist die gegenwärtige Weltordnung nicht gerade über jeden Zweifel erhaben. Zugegeben hat auch die Ataxiologie keine Patentrezepte zur raschen Kurierung der gesellschaftlichen Pathologien anzubieten. Aber vieles spricht dafür, dass es im Hinblick auf ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit nicht darauf ankommt, das System zu stabilisieren, sondern im Gegenteil Sand ins Getriebe zu streuen in Gestalt von Widerstand auf allen Ebenen. Die Ataxiologie wird von der Intuition getragen, dass sich Entfaltungsspielräu-

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me für Menschen oftmals dort öffnen, wo der Betrieb ins Stocken gerät und die Möglichkeit des Ausscherens aus vorgezeichneten Bahnen besteht. Das Ziel eines gesellschaftlichen Engagements besteht darin, solche Augenblicke herbeizuführen. Ein zweiter, ganz anders gearteter Einwand lautet: ist die Ataxiologie nicht bloß ein Aufguss jener Chaostheorie, die vor zwanzig Jahren einmal en vogue war? Hierzu ist zunächst anzumerken, dass es die Chaostheorie als einheitlichen, stringenten und philosophisch elaborierten Ansatz nie gegeben hat. Was es gab, war eine Fülle von Untersuchungen und Modellen mathematischer und physikalischer Provenienz mit einer Anzahl von Leitmotiven und allerdings bemerkenswerten Visualisierungen. Ein erstes Leitmotiv in dieser Forschungsrichtung war die Figur der Rekursion: eine mathematische Funktion wird immer wieder auf sich selber angewandt, dergestalt, dass die Endwerte eines Durchgangs die Ausgangswerte für den Folgedurchgang sind. Dies führte zur Entdeckung des sog. Schmetterlingseffekts: geringfügige Schwankungen in den Ausgangsbedingungen, wie sie sich in experimentellen Anwendungen aufgrund von Messfehlern nie ganz ausschließen lassen (von der realen Welt ganz zu schweigen), führen bereits nach wenigen Durchgängen zu gravierenden Abweichungen in den Werten. Die Differenzen wachsen exponentiell, so dass unter geeigneten Umständen der Flügelschlag eines Schmetterlings in Afrika Auslöser für einen tropischen Wirbelsturm ein halbes Jahr später in der Karibik sein kann. Chaos meint hier Unvorhersehbarkeit: auch wenn ich eine bestimmte Kurve exakt kenne, kann ich eine zweite, von der ersten in den Ausgangswerten nur minimal abweichende nicht vorhersagen, da sie schon nach kurzer Zeit einen ganz anderen Verlauf nimmt. Ähnliche Ursachen zeitigen unähnliche Wirkungen. – Die Rekursion erfordert einen enormen Rechenaufwand, deshalb war es in den 1980er Jahren mit Hilfe der soeben entwickelten Computertechnologie erstmals möglich, sie in einer hinreichenden Anzahl von Schritten durchzuführen. Dabei bot es sich an, die Ergebnisse nicht nur numerisch, sondern auch grafisch ausgeben zu lassen – mit durchschlagendem Erfolg. Von den faszinierenden Bildern, die damals zum ersten Mal auf den Monitoren zu sehen waren, ist das Apfelmännchen von B. Mandelbrot zur Ikone der gesamten Bewegung geworden; daneben gelang es aber auch, Wolkenformationen und Küstenlinien zu modellieren. Dies führte zur Entdeckung eines zweiten Leitmotivs: das der Selbstähnlichkeit. Jeder Ausschnitt einer Küstenlinie entpuppt sich, wenn man an ihn

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heranzoomt, seinerseits als Küstenlinie; die „Hände“ des Apfelmännchens sind nichts als maßstabgetreu verkleinerte Apfelmännchen etc. Allgemein formuliert: im Chaos ist jeder Teilabschnitt eines scheinbar irregulären Phänomens eine Miniatur des Ganzen. Auch dort, wo das menschliche Auge keinerlei Regelmäßigkeit zu erkennen vermag, gibt es de facto ein im Hintergrund waltendes Prinzip. Wie es ein Kommentar seinerzeit auf den Punkt brachte: „Chaos ist kein völlig ungeordneter Wirrwarr, sondern ein durch Rekursion erzeugtes ,geregeltes‘ Durcheinander.“ (Kursbuch 98, November 1989, S. 79) Wenn wir uns erlauben, diese Formulierung philosophisch ernst zu nehmen, springen nun aber die Differenzen zur Ataxiologie ins Auge. Der Chaosforschung geht es um methodisch erzeugte und damit letztlich kontrollierte Unordnung, der überdies im Prinzip der Selbstähnlichkeit ein Moment des Identitären anhaftet. Das ist deutlich verschieden von den Ambitionen der Ataxiologie, die bestrebt ist, abseits vom Identitätsdenken Bereiche zu erkunden, in denen die Kontrolle entgleitet. Übereinstimmungen bestehen deshalb nur an der Oberfläche. Während die Chaostheorie von absichtlich hergestellter Unordnung handelt, die sich zudem einer Rekursion, das heißt der wiederholten Anwendung des Selben verdankt, geht es in der Ataxiologie um Momente, in denen unwillkürlich ein Anderes in eine Existenz einbricht und deren Ordnung erschüttert. Während in der Chaostheorie durch die Figur der Selbstähnlichkeit die Identität des Gegenstandes jederzeit gewährleistet ist, zielt die Ataxiologie auf Erfahrung im emphatischen Sinne einer gedanklichen Öffnung für Alterität. Diese Gegenüberstellungen dürften die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen hinreichend verdeutlichen. Bildlich gesprochen betreibt die Chaosforschung Küstenschifffahrt: so sehr das Irreguläre und Unberechenbare sie lockt, traut sie sich doch nicht wirklich aufs offene Meer hinaus. Verglichen hiermit begibt sich die Ataxiologie auf hohe See: ihr geht es gerade um die Augenblicke, wo jeglicher Halt sich als imaginär erweist, dafür aber neue Horizonte erschlossen werden können. Bleibt abschließend die Frage nach der Durchführbarkeit der Ataxiologie. Sie lässt sich pointiert so formulieren: ist das, was der Terminus Jenseits der Ordnung anzeigt, überhaupt denkbar? Streng genommen müssten wir diese Frage verneinen: nein, es ist nicht denkbar, es lässt sich nicht denken, da es zur begrifflichen Ordnung inkompatibel ist, bekanntlich aber unserem Denken keine anderen Mittel zur Verfügung stehen als die Begrif-

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fe. Was immer jenseits der Ordnung sein mag, es lässt sich vom begrifflichen Denken nicht einfangen. Die Ataxiologie handelt also von einem Gegenstand, der sich entzieht, das heißt, in gewissem Sinne hat sie gar keinen bzw. einen unmöglichen Gegenstand. Ist das ein Problem? Aus identitätslogischer Sicht ja: jede Wissenschaft, jeder theoretische Ansatz definiert sich – neben einem eigenen methodischen Instrumentarium – vor allem über den Gegenstand, auf den die Methoden angewendet werden. Wenn der Ataxiologie ein solcher Gegenstand fehlt, dann hängt sie eigentümlich in der Luft, und sie scheint die Schwelle zu einem philosophisch relevanten Ansatz nicht zu überschreiten. Auf der anderen Seite versteht sie sich aber gerade als Alternative zur herkömmlichen Identitätslogik; folglich muss es uns nicht beunruhigen, wenn sie deren Sinnkriterien nicht erfüllt. Die Frage lautet vielmehr: wie gelingt es dem – begrifflich nicht fixierbaren – Jenseits der Ordnung, dem Denken Impulse zu verleihen, ihm sogar eine neue Dimension zu erschließen? Wie kann etwas, das im strengen Sinne gar kein Etwas ist sondern fragil und flüchtig bleibt, die ehern anmutende Ordnung erschüttern, in einer Weise, dass daraus aller Theoriebildung eine neue Perspektive erwächst? Wie kann das Undenkbare das Denken revolutionieren? Von den verschiedenen Facetten dieser Fragen möchte ich an dieser Stelle nur die eine hervorheben, dass die Ataxiologie nichts Geringeres verlangt als eine tief greifende Wende in der Philosophie (genauer die Fortführung der von Autoren wie Nietzsche, Adorno und Derrida eingeleiteten Wende). Wenn das Jenseits der Ordnung eine Nuss ist, die das Identitätsdenken vergeblich zu knacken versucht, zugleich aber der Hauptstrom der abendländischen Philosophie bis in die Gegenwart hinein identitätslogisch ausgerichtet ist, so bleibt der Ataxiologie nichts anderes übrig, als mit zahlreichen eingeschliffenen Argumentationsmustern zu brechen. Zwei besonders prominente und erprobte philosophische Verfahren, die im Zuge dieser Entwicklung auf der Strecke bleiben, sind einmal der transzendentale und dann der dialektische Denkansatz. Der Transzendentalphilosophie erteilt die Ataxiologie eine Absage, weil es ihr nicht wie jener um eine Instanz geht, die, selber dem Spiel der Signifikanten enthoben, anderem eine Stätte gibt, an der es zirkulieren und sich als Bedeutungsträger konstituieren kann. Das Jenseits der Ordnung ist kein clandestiner Ermöglichungsgrund für eine Struktur oder ein System, sondern der Sand im Getriebe des Bestehenden, die Quelle für ein Aufbegehren. Von der Dialektik wiederum wendet sie sich ab, weil sie das Jenseits der Ordnung

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nicht wie jene als Negativität begreift, die es wegzuarbeiten und in einem vielstufigen Prozess in die Ordnung aufzuheben gilt. Vielmehr sieht sie all das, was wider den Stachel löckt, als produktives Korrektiv an, das gern auf Dauer zur (Un-) Ordnung rufen darf. Der eigene Weg der Ataxiologie sieht deshalb so aus, dass sie überall dort anknüpft, wo die Wirklichkeit Risse offenbart und eine mögliche Öffnung sich abzeichnet. Oft sind derartige Stellen überhaupt erst einmal aufzuspüren; die Begrifflichkeiten der Alltags- wie der philosophischen Sprache stellen hierbei wie gezeigt eher ein Hindernis als eine Hilfe dar. Ist eine Stelle gefunden – ein Beispiel wäre das eingangs erörterte Gemälde von Munch –, so besteht die nächste Aufgabe darin, eine Ausdrucksweise zu finden, die das soeben Entdeckte nicht gleich wieder identifiziert – etwa durch Beschränkung auf das (vermeintlich) Wesentliche, Ausblenden aller überschießenden Eigenschaften, Festlegung auf einen eindeutigen Kern –, sondern die es in seinem Reichtum und in seiner Vielschichtigkeit bewahrt. Schließlich gilt es, in einem Diskurs die verschiedenartigen, oft widerstrebenden Elemente zum Schwingen zu bringen. Ein mühseliges Verfahren, das aufgrund der Ambivalenzen in der Sache und aufgrund der reifizierenden Tendenz der begrifflichen Sprache stets mit Paradoxien zu kämpfen hat. Aber nur, wenn sie sich derartigen Problemen stellt, kann die Ataxiologie ihr Vorhaben verwirklichen, die Philosophie aus dem Gefängnis der Identität zu befreien; nur dann wird sie ein Ohr für das haben, was sich dem Denken von jenseits der Ordnung zuspricht. Es gilt, jede unnötige Reduktion von Komplexität zu vermeiden und statt dessen der Sache in ihrer Vielschichtigkeit Gehör zu verschaffen. Einem solchen Anspruch kann nur ein Denken gerecht werden, dem die Differenz wichtiger ist als die Identität, die Dissonanz wichtiger als die Harmonie, die Subversion wichtiger als die Ordnung.

Danksagung

Mein erster Dank gilt Kai Hochscheid, der die Entstehung des Buches begleitet und mit zahlreichen Ratschlägen und Kommentaren gefördert hat. Den Gesprächen mit ihm verdanke ich mehr Hinweise, als sich in Fußnoten anzeigen ließ. Eine Fülle von Anregungen habe ich über die Jahre von den Mitgliedern des Bremer Lesekreises Philosophie und Literatur(theorie) erhalten. Bedanken möchte ich mich bei Karen Struve, Peter Herr, Dirk Quadflieg, Elke Richter und Christiane Solte-Gresser. Hinweise und Anregungen erhielt ich auch von den Teilnehmern des Gesprächskreises Philosophie und Psychiatrie in Bremen. Mein Dank gilt Martin Heintze und Joachim Loch-Falge. Brigitte Sändig hat Teile des Manuskripts gelesen und hilfreich kommentiert; dafür möchte ich ihr herzlich danken. Dorea Weihrauch hat mir einen Essay über Jackson Pollock zur Verfügung gestellt, der jetzt das achte Kapitel dieses Buches bildet.

Literaturverzeichnis

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Namenregister

Adorno, Theodor W. 14 f., 38, 50-61, 67 f., 79, 86 f., 92-98, 104 f., 149, 157, 176, 212 Aristoteles 14, 69, 95, 123, 127, 186 Bachtin, Michail 15-20 Bataille, Georges 163 f., 169183 Benjamin, Walter 67 Bernini, Gian Lorenzo 147 Bourdieu, Pierre 65 Bürger, Peter 87, 141, 144, 166, 168 f. Choderlos de Laclos, Pierre 170 Deleuze, Gilles 9 f., 12, 46 Derrida, Jacques 7, 13-15, 66 f., 74-79, 93-105, 115 f., 119, 163, 167, 170, 175, 178, 186, 192-198, 212 Descartes, René 129 Dostojevski, Fjodor 146 Eichmann, Adolf 47 Flacke, Alfred 166 Flaubert, Gustave 141, 144 Foucault, Michel 13, 45, 62-68, 79 f., 178

Freud, Sigmund 36, 130 Guattari, Félix 9 f., 12, 46 Habermas, Jürgen 45, 125, 127 Hegel, Georg W. F. 52-54, 96, 115, 134, 137, 163-170, 174 Heidegger, Martin 13, 51, 76, 116, 118, 134 f., 140-145, 182 Hjelmslev, Louis 100 Hobbes, Thomas 85 Hochscheid, Kai 66, 115 ff., 215 Hölderlin, Friedrich 51 Horkheimer, Max 14, 38, 86 f., 149, 157 Hugo, Victor 16 Husserl, Edmund 53, 97, 102 f., 105 Kant, Immanuel 10, 57, 105, 177 Kierkegaard, Sören 132-145 Kojève, Alexandre 165 f. Kuhn, Thomas 45 Lacan, Jacques 27, 159 f. Lévinas, Emmanuel 11-13, 15, 46-52

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Locke, John 70 Lukács, Georg 59 Lyotard, Jean-François 106-114, 118, 188 Marx, Karl 56 f., 59, 61, 67, 130, 165 Mauss, Marcel 171 f. Morus, Thomas 97 Munch, Edvard 144, 201 f., 206, 213 Musil, Robert 107 Nietzsche, Friedrich 19-30, 46, 63, 118, 130, 158, 163, 178181, 198, 212 Oppenheimer, Robert 65 Orwell, George 25, 203 Pascal, Blaise 140-143 Platon 14, 92, 118, 127 Pollock, Jackson 185-198

Quadflieg, Dirk 115, 117, 161, 215 Ricardo, David 59 Sändig, Brigitte 35, 215 Sartre, Jean-Paul 64, 134 f., 143, 145 f. Saussure, Ferdinand de 55, 7075, 90, 95 f., 99-102, 109 f., 117 Schopenhauer, Arthur 139 Sloterdijk, Peter 22 Sohn-Rethel, Alfred 57 f. Stevenson, Robert L. 32-34, 37, 127 Weber, Max 169 Weihrauch, Dorea 185, 215 Welsch, Wolfgang 113 Wittgenstein, Ludwig 74, 115 Zola, Émile 64

Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen Mai 2011, 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7

Rita Casale Heideggers Nietzsche Geschichte einer Obsession 2010, 374 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1165-6

Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.) Formen kulturellen Wandels Juli 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1870-9

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Edition Moderne Postmoderne Michael Fisch Werke und Freuden Michel Foucault – eine Biografie September 2011, 576 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1900-3

Oliver Flügel-Martinsen Jenseits von Glauben und Wissen Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne Januar 2011, 144 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1601-9

Anke Haarmann Die andere Natur des Menschen Philosophische Menschenbilder jenseits der Naturwissenschaft April 2011, 146 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1761-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Christian Dries Die Welt als Vernichtungslager Eine kritische Theorie der Moderne Februar 2012, ca. 560 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1949-2

Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.) Philosophie in Experimenten Versuche explorativen Denkens Juni 2011, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1681-1

Fernand Mathias Guelf Die urbane Revolution Henri Lefèbvres Philosophie der globalen Verstädterung 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1511-1

Diana König Das Subjekt der Kunst: Schrei, Klage und Darstellung Eine Studie über Erkenntnis jenseits der Vernunft im Anschluss an Lessing und Hegel Oktober 2011, 338 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1901-0

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel März 2012, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Peter Nickl, Georgios Terizakis (Hg.) Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit? Philosophische Ergründungen. Texte zum ersten Festival der Philosophie in Hannover 2008

Mathias Richter Freiheit und Macht Perspektiven kritischer Gesellschaftstheorie – der Humanismusstreit zwischen Sartre und Foucault Juli 2011, 636 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1769-6

Sibylle Schmidt, Sybille Krämer, Ramon Voges (Hg.) Politik der Zeugenschaft Zur Kritik einer Wissenspraxis Januar 2011, 358 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1552-4

Tatjana Schönwälder-Kuntze Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung und der Effekt Kantischer Moralphilosophie 2010, 314 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1366-7

Maurice Schuhmann Radikale Individualität Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche November 2011, 396 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1719-1

Detlef Staude (Hg.) Methoden Philosophischer Praxis Ein Handbuch 2010, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1453-4

Nikolaus Urbanek Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente 2010, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1320-9

2010, 244 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1268-4

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